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German Pages 455 [456] Year 2010
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Arnd Beise
Geschichte, Politik und das Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wölk, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jürgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Sonja Koroliov Satz: Kornelia Grün
ISBN 978-3-11-023412-1 e-ISBN 978-3-11-023413-8 ISSN 0948-6070 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
„Schon vor mehrern Jahren führten mich innerer Beruf und äussere Veranlassung zu [diese]r Untersuchung […]; es entstand hieraus der Plan zur Ausarbeitung eines Werkes, welches nach dem Maas meiner Kräfte in historischer, politischer und [literaturwissenschaft]licher Hinsicht diesen großen würdigen Gegenstand vollkommen umfassen sollte. Schon war vieles gelesen, gesammelt, gedacht, mehreres in dem ersten Feuer der Gedanken entworfen und bearbeitet; als die dringenden Pflichten meines […] Berufs jede Kraft und auch das kleinste Theilchen meiner Zeit in Anspruch nahmen. Seitdem ruhten jene Papiere unter so vielem andern, was mir werth ist, sie wurden vernachlässigt, [wenn auch nie ganz] vergessen […]. Erst vor einigen Monaten brachte mir der Zufall meine Manuscripte wieder unter die Augen; ich blätterte, las und fand, daß die vor mir liegenden Bruchstücke ziemlich gut aneinander gereiht und zu einem, wenn gleich weniger umfassenden, Ganzen verbunden werden könnten; dabei überraschte mich der Gedanke, als sey es Bedürfniß der Zeit, dieses in so vielfältigen Beziehungen äusserst wichtige Thema, welches zwar schon manchmal in Teutschland berührt, aber, so viel mir bekannt, noch nirgend aus dem gehörigen Gesichtspunkte betrachtet oder mit der ihm gebührenden tieferen Aufmerksamkeit erwogen worden, in dem Rathe der teutschen Gelehrten umständlich zur Sprache zu bringen. […] Sogleich ward zum Werke geschritten; was noch roh vor mir lag, wurde verarbeitet, das schon Bearbeitete gefeilt, geordnet, mit dem übrigen verschmolzen, und so erscheinen nun die Bruchstücke jenes größeren unvollendeten Werkes als [Studien zu Geschichte, Politik und dem Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts] vor dem Publikum. Sie treten mit keinem stolzen Anspruche auf, sie bringen nur den Wunsch mit, daß das Gesagte erwogen und daß demselben gründlicher Beifall oder gründliche Widerlegung zu Theil werden möge. Die Geschichte des Werks wird seine Fehler zwar nicht rechtfertigen, doch entschuldigen.“ Die vorliegenden Studien sind zum größten Teil um die Jahrtausendwende entstanden und danach verschiedentlich überarbeitet und ergänzt worden. Dass sie nicht früher erschienen, kann ich nicht anders und jedenfalls nicht besser begründen als Paul Johann Anselm Feuerbach dies 1813 in der „Vorrede“ zu seinen Betrachtungen über das Geschworenen-Gericht tat. Während der Arbeit an den Studien zum Drama des 17. und 18. Jahrhunderts und insbesondere der Volksdarstellung im Drama der Aufklärung wurde ich von vielen Menschen und Institutionen unterstützt, die ich unmöglich alle namentlich aufführen kann. Ihnen sei pauschal gedankt. Erwähnen will ich jedoch das Land V
Hessen, das Istituto degli Studi filosofici in Neapel und die Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mich zeitweilig mit Stipendien unterstützten; das Graduiertenkolleg „Kunst im Kontext“ und die Forschungsstelle „Georg Büchner – Literatur und Geschichte des Vormärz“ der Philipps-Universität Marburg bzw. die Arbeitsstelle „Büchnerausgabe“ der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, die mir durch Mitarbeiterstellen immer wieder für eine bestimmte Frist die Grundlage für den Lebensunterhalt boten. Burghard Dedner gab den ersten Anstoß zur Erarbeitung des Themas und unterstützte mich ausdauernd. Jörg Jochen Berns verdanke ich mein Wissen über die Frühe Neuzeit. Vielen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden habe ich für anregende Gespräche zu danken, ebenso den Studierenden meiner Seminare in Marburg, Gießen, Leipzig und Karlsruhe für Manches zurecht rückende Diskussionen über verschiedene, auch diese Arbeit berührende Themen. Jürgen Erich Schmidt danke ich endlich, dass er mich ‚nötigte‘, meine Studien zu sammeln, zu bearbeiten und zu feilen, die fehlenden Stücke zu ergänzen und das in einen Zusammenhang Gebrachte als Habilitationsschrift dem Fachbereich „Germanistik und Kunstwissenschaften“ der Philipps-Universität 2007 einzureichen. „So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das möglichste getan hat“, meinte Goethe (Italiänische Reise, 16. März 1787). Dem Direktorium des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg danke ich für die Aufnahme einer gekürzten Fassung der Habilitationsschrift in die „Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung“. Meinen Magdeburger Hilfskräften Christin Thiel und Ulrike Noetzel danke ich für eine Korrektur des Typoskripts. Die Schlussredaktion des Bands lag in den Händen von Sonja Koroliov. Ich widme die vorliegenden Studien meiner Frau Katja Kauer und unserem Sohn Jan-Jakob Kauer. Magdeburg, im April 2009 Arnd Beise
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Inhalt
Drama, Geschichte, Volk. Einleitung Geschichtsdrama und Poetik . . . . Volk in Geschichte und Drama . . Gang der Untersuchung . . . . . . .
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Drama und theatralische Volksdarstellung im 16. und 17. Jahrhundert Geschichtsdrama als Voraussetzung des politischen Schauspiels . . Hermann Schottennius’ Bauernkriegs-Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . Topoi der Volksdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Welt gibt es nur Pöbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Gründe für den Aufstand der Untern gegen die Obern . . . . . . .
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27 29 34 43 47 50
Der Volksaufstand in ausgewählten politischen Dramen des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pedro Calderón de la Barca . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jesuitentheater, insbesondere Jakob Masens . . . Pierre Corneille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Racine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Casper von Lohenstein . . . . . . . . . . . . . . . . Historisch-politische Schauspiele . . . . . . . . . . . . . .
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Der Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen in Christian Weises frühaufklärerischem Welttheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtsphilosophischer Optimismus und Realismus . . . . . . . Meinungen über das Volk und des Volks . . . . . . . . . . . . . . . . Unbesiegbarkeit des Volks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie man den Aufruhr des Volks wieder stillt . . . . . . . . . . . . Voraussetzung der Unbesiegbarkeit des Volks . . . . . . . . . . . Gegenseitige Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Volk mag die Herren nicht und umgekehrt . . . . . . . . . . Das Volk in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassung des Volks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für das Volk, politisch aktiv zu werden . . . . . . . . . . Der Traum von einem besseren Leben . . . . . . . . . . . . . . . . .
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116 121 130 131 136 143 149 153 158 158 161 163 VII
Das Volk in der Revolte . . . . . . . . . . . . Ausländerhass als Grund zum Aufruhr Das Volk regiert: Masaniello . . . . . . . Die Revolution des Volks scheitert . . .
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Der Armen Schutz, der Unterdrückten Freund Gottscheds klassizistische Sittenlehre . . . . . . . . . . . . Das Volk in Gottscheds Dramen . . . . . . . . . . . . . Sterbender Cato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Parisische Bluthochzeit . . . . . . . . . . . . . . . Agis, König von Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gemeine Wohlfahrt befördern? . . . . . . . . . . Ein ‚Gottschedianer‘: Georg Behrmann . . . . . . . . Bodmers Überschreibung von Behrmanns Timoleon
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Lessings Projekt eines vom Staatsinteresse befreiten Trauerspiels . Samuel Henzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brutus und Masaniello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spartacus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Missbrauch der Aufklärung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Republikanismus und Revolte in den politischen Trauerspielen Johann Jakob Bodmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ungedruckten Zürich-Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Scheitern von Rudolf Stüssi und Rudolf Schöno . . . . . . Öffentliche Politik und individuelles Gewissen: Rudolf Brun . Volksdarstellungen in Stüssi und Brun im Detail . . . . . . . . . Arnold von Brescia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Tell und der Gründungsmythos der Eidgenossenschaft Republikanische Antikenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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„Das Volk stürmt herein. Die Türe in Trümmer.“ Volksdarstellungen beim jungen Friedrich Schiller . . . . Die Räuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschwörung des Fiesko zu Genua . . . . . . . . . Kabale und Liebe (Fassung 1784) . . . . . . . . . . . . . Dom Karlos, Infant von Spanien (1785/87) . . . . . . . Das spanische Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das niederländische Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . VIII
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Im Taumel des Wahnsinns. Goethes (vor)revolutionäres Volk . . Geschichte Gottfriedens von Berlichingen […] dramatisirt . . Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel Egmont. Ein Trauerspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschätzungen und Sphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begegnungen mit dem Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schützenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auseinandersetzung auf dem Platz in Brüssel . . . . . . . . . . Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachspiel (Satyros oder der vergötterte Waldteufel) . . . . . . .
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Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX
Drama, Geschichte, Volk. Einleitung
Aristoteles hatte die fiktionale Literatur für philosophischer gehalten als die historiographische, und als Philosoph hielt er daher Dichtung für ein „ernsthafteres“ Geschäft als Geschichtsschreibung.1 Diese Ansicht herrschte in der europäischen Wissenschaftsgeschichte bis weit in die Neuzeit vor, denn bekanntlich galt Aristoteles als unanfechtbare Autorität, die erst durch aufklärerisches Denken in Frage gestellt wurde. Allerdings konkurrierte die Abwertung der Geschichtsschreibung mit der religiös fundierten Ansicht, dass sich in den Begebenheiten der Welt die ordnende Vernunft Gottes offenbare, ein Gedanke, der in säkularisierter Form noch jeder Geschichtsteleologie zu Grunde liegt. Versteht man aber Geschichte als Offenbarung einer höheren Vernunft, so wächst der Historiographie eine Bedeutung zu, die sich nur mit der Exegese der Bibel vergleichen lässt. Im Zeitalter der Aufklärung, das insofern in der Frühen Neuzeit durch eine „Krise des europäischen Geistes“ eingeleitet wurde,2 als dass den denkenden Menschen alle Gewissheit über die göttliche Verfassung dieser Welt abhanden kam, so dass am Ende Gott nur noch als moralisches Postulat weiter existierte, wurde dementsprechend auch die Rolle der Literatur in jeglicher Form fraglich. Für skeptische Denker wie Georg Christoph Lichtenberg war auch die Historiographie nur eine Form von Fiktion, so etwa wenn er 1773 feststellte, die Menschen könnten „nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, sondern nur wie sie meinen, daß sie sich zugetragen hätte“.3 Diese modern scheinende Einsicht in die Fragwürdigkeit historischer Erkenntnismöglichkeit setzte sich jedoch trotz der schon vorausgegangenen PyrrhonismusDebatte4 zunächst nicht allgemein durch, sondern wurde durch vermehrte Anstren1 2 3 4
Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 28–31 (Kap. 9, 1451b). Vgl. Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes 1680–1715. Übers. v. Harriet Wegener. 5. Aufl. Mit einer Einf. v. Carlo Schmid. Hamburg [1965]. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. 4 in 6 Bdn. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967–1992, Bd. 1, S. 223 (Sudelbuch C 373). Nach dem antiken Philosophen Pyrrhon von Elis (etwa 360–270 v. Chr.), der lehrte, dass alle menschlichen Urteile ebenso berechtigt wie unberechtigt seien und ihr Wert nur auf Konvention beruhe, so dass objektive Erkenntnis unmöglich sei, nannte man alle Skeptiker, die „wanken, zweifeln, und forschen, aber sich von nichts versichern, und sich von nichts überzeugt halten“ (Michel de Montaigne: Essais […] ins Deutsche übers. v. Johann Daniel Tietz. 3 Bde. Zürich 1996, Bd. 2, S. 149), Pyrrhonisten. Im Pyrrhonismus-Streit um 1700 ging es um die Frage, ob wahre geschichtliche Erkenntnis überhaupt möglich ist oder ob allenfalls mehr oder weniger plausible Wahrscheinlichkeiten verhandelt werden könnten. Im 18. Jahrhundert wurde „Pyrrhonismus“ zum Synonym für „übertriebenen Skeptizismus“ (David Hume: Eine Untersu-
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gungen, fiktionale und faktische Texte zu scheiden, aufzufangen gesucht. Aristoteles’ schon genannte Unterscheidung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung wurde um 1800 wieder aktualisiert und die implizite Wertung zu einem in der Dichtungstheorie des 19. Jahrhunderts viel diskutierten Problem, trotz der Warnung Goethes: „Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden; sie konkurrieren nicht miteinander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.“5 Die im 19. Jahrhundert vorwaltende Ideologie der sogenannten historischen Schule (Wilhelm von Humboldt, Leopold von Ranke und ihre Nachfolger), die sich zutraute sagen zu können, „wie es gewesen ist“, und sich zugleich aber auch auf die „einfache Darstellung“ des „Geschehenen“ beschränken will, degradierte entweder die Dichtung zu einer Gehilfin der Geschichtswissenschaft oder trennte sie ganz von ihr ab, indem sie prinzipiell ahistorische Themen (das Ewig-Menschliche) zum Gegenstand der Poesie erklärte. Die hervorragendsten Autoren des 19. Jahrhunderts betonten denn auch immer wieder die Unabhängigkeit der Dichtung von der Geschichte, indem sie zum Beispiel erklärten, der Dichter sei kein „Auferstehungsengel der Geschichte“, und historische Fakten dienten ihm allenfalls als „ein Vehikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen“ (Friedrich Hebbel),6 oder indem sie behaupteten, „Zweck der Kunst“ sei „der Ausdruck der innersten, zum Typus erhobenen Wesenheit des dargestellten Gegenstandes“ (Gerhart Hauptmann)7 und ähnliches mehr. „Was geht uns denn in der Poesie die Geschichte als Geschichte an“, fragte 1852 Hermann Hettner und meinte: „Auch im historischen Drama fragen wir nur nach Poesie, und einzig nach dieser.“8 Zur gleichen Zeit aber erlebte die Gattung des ‚Historischen Dramas‘ eine Blüte sondergleichen. Es waren Autoren, die die andere Rolle der Poesie, nämlich Dienerin der Geschichte zu sein, freiwillig auf sich nahmen und größtenteils jene „epigonenhaften ‚Oberlehrerdramen‘, welche die Bezeichnung ‚historisches Trauerspiel‘ trugen und durch einen Firnis gelehrter Bildung über ihre dichterische Un-
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8
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chung über den menschlichen Verstand. Hg. v. Raoul Richter. 6. Aufl. Leipzig 1907, S. 188); vgl. auch Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Giorgio Cusatelli u.a. (Hg.): Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 219– 239, hier insb. S. 223. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München 1981, Bd. 12, S. 390 (Maximen und Reflexionen, Nr. 190; nach Max Hecker: Nr. 270). Friedrich Hebbel: Mein Wort über das Drama. In: Ders.: Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. München 1963–1967, Bd. 3, S. 550. Gerhart Hauptmann: Gedanken über das Bemalen von Statuen. In: Ders.: Sämtliche Werke. (Centenar-Ausgabe.) Hg. v. Hans-Egon Hass. Bd. 6: Erzählungen. Theoretische Prosa. Frankfurt a.M. 1963, S. 896. Zit. nach Klaus Hammer (Hg.): Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. Berlin 1987, Bd. 2, S. 627.
zulänglichkeit hinwegtäuschen wollten“,9 fabrizierten. Er habe „nach mehrjährigen Versuchen“ bemerkt, schrieb der im Vormärz außerordentlich erfolgreiche Dramatiker Ernst Raupach in der Vorrede zum Hohenstaufen-Zyklus, „daß die historischen Stoffe bei den Gebildeten den meisten Anklang fänden und selbst bei den Mindergebildeten durch die Idee, ‚das auf der Bühne Vorgehende sei doch wahre Geschichte‘, Teilnahme erregten“. Das Theater war für ihn „eine Schule der Volksbildung“, die Geschichte sei „unsre beste Lehrerin“, die dramatische Form ein gutes Mittel, Erkenntnisse auch bei denen zu verbreiten, die nicht in der Lage wären, Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen zu lesen oder zu verstehen, was in etwa wieder auf den nicht nur frühneuzeitlichen Topos von der Poesie als Zucker, mit dem man die bittere Arznei der Wahrheit verabreichen könne, hinauslief.10 Beiden skizzierten Denkschulen – den Volksschullehrern im Dienste Klios sowohl wie den Kündern ewiger Wahr- und Wesenheiten – gemeinsam war die Überzeugung, dass es eine objektive geschichtliche und auch übergeschichtliche Wahrheit gibt, um die man sich bemüht oder nicht bemüht, die aber prinzipiell erkennbar wäre. Diese Überzeugung ist im 20. Jahrhundert vielfach in Frage gestellt oder rundheraus abgelehnt worden, zuletzt vehement durch postmodernistische Autoren. Einher ging damit eine unterschiedliche Wertschätzung literarischer Gattungen. Hatte der positivistisch orientierte Materialismus, den man allen Lippenbekenntnissen zu höheren Werten zum Trotz als herrschende Mentalität des beginnenden und frühen 20. Jahrhunderts annehmen darf, die Dichtkunst zunehmend marginalisiert und in die Kategorie der tendenziell anrüchigen Luxusgüter eingeordnet, so schätzte die postmoderne Theorie die Literatur wieder außerordentlich hoch, und zwar weil sie nach Verabschiedung der wissenschaftlich orientierten „großen Legitimationserzählungen“11 die ganze Welt als ein mehr oder minder chaotisches System von Texten behandelte; und diese Texte in Hinsicht auf ihren Wahrheitsgehalt oder nach Gattungen ordnen und unterscheiden zu wollen, sei sinnlos. Der Begriff der Literatur wurde in der Universalisierung der Literatur aufgehoben. Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Dichtung und Historiographie war damit endgültig hinfällig, seine Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen, das jene darstelle, und dem Besonderen, das diese zum Thema habe, ohne Belang. Schon einmal vor der „idealistische[n] Periode“,12 die in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts begann, war Aristoteles’ Differenzierung und Wertung ohne
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12
Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 1. Zit. nach Hammer (Hg.): Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 431. Jean-François Lyotard: Randbemerkungen zu den Erzählungen. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 49–53. Georg Büchner: „Lenz“. Marburger Ausgabe, Bd. 5. Hg. v. Burghard Dedner u. Hubert Gersch. Darmstadt 2001, S. 19, 37 bzw. 60.
3
großen Belang gewesen, nämlich für die Anhänger eines pragmatischen Geschichtsbilds, die zumindest während der heroischen Jahrzehnte der Aufklärung in Deutschland theoretisch führend waren. Gottsched zum Beispiel sah den Unterschied zwischen Dichtung und Philosophie nicht darin, dass die eine das nach Maßgabe des Philosophischen Mögliche darstelle, während die andere das faktisch Geschehene berichtete; für ihn – und hier unterscheiden sich seine Positionen grundsätzlich von denen des Aristoteles, so gern Gottsched diesen sonst auch als Gewährsmann anführte – war der Gegenstand sowohl der Historiographie wie der Philosophie die „Wahrheit“. Die „Wahrheit“ der Historie sei empirisch, die der Philosophie dagegen moralisch – und bloß so unterschieden sich die Gattungen. Beide Wahrheiten aber waren für Gottsched real vorhanden und nicht nur möglich oder spekulativ vermutbar. Beide Gattungen präsentierten ihre Wahrheit allerdings „nackt“, was vor allem dem „großen Haufen“ nicht gefalle. Die Dichtung nun bekam die Aufgabe zugewiesen, in gefälliger Form sowohl empirische wie moralische Wahrheit zugleich zu (re)präsentieren. Sie liefere so dem Gelehrten ein moralisch abgesichertes ästhetisches Vergnügen (was für Gottsched persönlich entgegen landläufigem Vorurteil das Wichtigste war) und dem Ungelehrten einen „beliebten und lehrreichen Zeitvertreib“, der ihn unter der Hand mit geschichtlichen und moralischen Wahrheiten bekannt mache.13 Dichtung und speziell natürlich das Drama täten dies mittels „Nachahmung“, was Gottsched irreführend mit dem nicht mehr traditionell verstandenen Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ bezeichnete; die sei nämlich „nichts anders, als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur“.14 Also nicht: Was in der Realität geschehen könnte; sondern: Was zu geschehen pflegt. Außerdem war für Gottsched das Wesen der Poesie überhaupt „Nachahmung […] aller natürlichen Dinge“,15 das heißt: die Abschilderung von Dingen, die es in der Realität gibt. Nun können wir von einem Vorgang erst dann sagen, dass es ihn wirklich gibt oder gab, wenn er geschehen ist. Mithin kann Dichtung eigentlich nur historische Vorgänge thematisieren; jedenfalls galt das für die Tragödie oder das Trauerspiel. Georg Büchners Auffassung, dass „der dramatische Dichter“ (so in einem Brief an seine Eltern) „nichts als ein Geschichtsschreiber“ sei, aber „über letzterem dadurch“ stehe, „daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere und statt Beschreibungen Ge-
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4
Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4. Aufl. Leipzig 1751, S. 167. Zur nackten Wahrheit der Historiographie vgl. ebd., S. 354; zur nackten Wahrheit der Philosophie ebd., S. 486. Die Dichtung verpacke beide Wahrheiten „in eine Fabel, die allen angenehm seyn“ könne (ebd., S. 486f.). Ebd., S. 198. Ebd., S. 97f.
stalten gibt“,16 war auch die Auffassung der Geschichtsdramatiker im 18. Jahrhundert; mit der Einschränkung freilich, dass Büchners romantisches Konzept der historischen Einfühlung erst am Ende des Jahrhunderts, in der Zeit des sogenannten Sturm und Drang wichtig wurde. Wesentlich war der stete Bezug zur eigenen Gegenwart, den der Dramatiker herstellen könne wie kein anderer, denn „er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht“.17 Dass die Leute aus der Geschichte lernen mögen, ist Grundanliegen der Aufklärung. „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel voran“, formulierte Friedrich Nicolai einmal prononciert;18 und Christoph Martin Wieland erklärte 1785, warum es notwendig sei, sich mit der Vergangenheit zu befassen, wenn man die Zukunft gestalten will: historische Kenntniß der vernünftigen Erdebewohner ist die Grundlage aller ächt filosofischen Wissenschaft, welche […] das allgemeine Beste des menschlichen Geschlechtes, zum Gegenstande hat. Um heraus zu bringen, was dem Menschen möglich ist, muß man wissen, was er wirklich ist und wirklich geleistet hat. Um seinen Zustand zu verbessern und seinen Gebrechen abzuhelfen, muß man erst wissen, wo es ihm fehlt, und, woran es liegt, dass es nicht besser um ihn steht. Im Grunde ist also alle ächte Menschenkenntniß historisch.19
In Wielands Worten ist der grundsätzlich kritische Impuls aufgeklärter Geschichtsbetrachtung schon nicht mehr zu überhören: Es ging um den gegenwärtig schlechten Zustand der Gesellschaft und um die zukünftige Verbesserung der Lage. Anders als die Herrschenden hatte also die aufklärerische Opposition, so sehr sie sich auch um einen Kompromiss mit dem Absolutismus bemühte, kein Interesse daran, etwa im Festspiel die Gegenwart historisch zu beglaubigen. Trotz der subversiven Schreibstrategien, die auch in dieser Gattung mitunter genutzt wurden, war in der sogenannten Barockliteratur diese Tendenz noch stärker ausgeprägt. Der letzte „Reyen“ in Lohensteins Sophonisbe (1669/1680) zum Beispiel stellt den politischen Bezug der dramatisierten Episode aus dem zweiten Punischen Krieg zur Gegenwart des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unter Leopold II. her, indem dieser aus den Händen des „Verhängnüs“ und der vier Erdteile den „Siegs-Krantz“ der Geschichte erhält: Als ein „Herr der Welt“ wird er als Ziel- und Endpunkt der Geschichte gefeiert.20
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Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Pörnbacher u.a. München 1988, S. 305. Ebd., S. 306. Friedrich Nicolai: Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreutzer und Freymaurer. Berlin 1806, S. 27. Christoph Martin Wieland: Rechte und Pflichten der Schriftsteller. In: Sämmtliche Werke. 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde. Leipzig 1794–1811, Bd. 30, S. 141. Daniel Casper von Lohenstein: Sophonisbe. Trauerspiel [1680]. Hg. v. Rolf Tarot. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1996, S. 122f.
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Das aufklärerische Geschichtsdrama aber war nie ein „Freudenspiel“, sondern stets ein „Trauerspiel“, weil es um der besseren Zukunft willen nötig ist, die schlimmen Dinge zu erinnern. Man kann den Menschen die Verbrechen und die Katastrophen, die durch unsinnige Streitigkeiten verursacht wurden, nicht oft genug vor Augen halten. Es steht fest, dass man ihre Wiederkehr verhindern kann, wenn man sie sich immer wieder ins Gedächtnis zurückruft,
meinte Voltaire in der Encyclopédie.21 Daher erklärt sich die Tendenz der aufklärerischen Geschichtsschreibung zur Gegengeschichtsschreibung, wie sie auf großartige Weise von Gottfried Arnold in Deutschland inauguriert wurde. In seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) beschrieb er die eintausendsiebenhundertjährige Geschichte der christlichen Kirchen als Geschichte einer repressiven Institution, letztlich vor allem, um der Amtskirche seiner Zeit die Legitimierung durch die Geschichte zu entziehen und sie zu kritisieren. In der Darstellung der Ereignisse des dritten Jahrhunderts steht denn auch der Satz: So hat man auch exempel gnug in diesem seculo, dass die bischöffe sich ungescheut in andere weltliche händel mit gemenget, und schon damals, wie man redet, den einen fuß auff der cantzel, den andern auff dem rathhauß gehabt.22
Arnold stellte sich konsequent auf den Standpunkt der von der Amtskirche unterdrückten und verfolgten sogenannten Ketzer und revidierte derart historische Verurteilungen. Auch dass Lessing 1773 eine 584 Reimpaarverse umfassende Flugschrift mit dem Titel Die Nachtigall aus den Beständen der Wolfenbütteler Bibliothek edierte, hing mit dem Bedürfnis nach historischer Gerechtigkeit und dem Wunsch, auch einmal den anderen Teil sprechen zu lassen, zusammen. Die Nachtigall handelt von den sogenannten Grumbachschen Händeln, die 1557–1567 Franken in Atem hielten. Der Ritter Wilhelm von Grumbach führte einen zehnjährigen Kampf um ehemalige Lehensgüter gegen die Bischöfe von Würzburg, an deren Ende aber seine Hinrichtung stand. Da „fast alle Geschichtsschreiber, in Erzählung der Grumbachschen Händel, dem Hubertus Languetus blindlings folgen“, der aber als „vertrauter Diener des Kurfürsten Augustus; welcher leider in dieser Sache, Partei und Richter spielte“,23 kaum objektiv genannt werden könne, fühlte sich Lessing verpflichtet, diese Flugschrift als Material für Historiker zur Verfügung zu stellen, die eben auch einmal die Position der anderen Partei kennen lernen wollten. Darüber hinaus wollte er die Flugschrift aber nicht nur als Dokument für eine mögliche 21 22 23
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Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Übers. v. Theodor Lücke. Ausw. u. Einf. v. Manfred Naumann. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1985, S. 528. Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auff das Jahr Christi 1688. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1700, Bd. 3, S. 163 (§ 7). Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 5, S. 626f.
Gegengeschichtsschreibung aus Sicht der unterlegenen Partei, sondern auch als Dokument einer Geschichtsschreibung von unten gewürdigt wissen. Es war die Nachricht von der öffentlichen Verbrennung dieser Druckschrift durch den Henker in Leipzig, die Lessing auf die Suche nach dem Dokument gehen ließ. „Hoffentlich bin ich der Meinung nicht allein, dass es auf alle Weise erlaubt ist, ein von Obrigkeits wegen, auch aus triftigsten Gründen, verbranntes Buch wieder herzustellen“, eröffnete Lessing einen noch heute lesenswerten Abschnitt über das Problem des Autodafés.24 (Er war der Meinung nicht allein; Lichtenberg notierte später einmal sogar: „Wenn eine Geschichte eines Königs nicht verbrannt worden ist, mag ich sie nicht lesen“.)25 Lessing hielt es nicht nur für erlaubt, sondern nachgerade für die Pflicht des Historikers, auch diesen Stimmen wieder Gehör zu verschaffen, ja nicht nur auch, sondern gerade den Ansichten, „auf die man den Scharfrichter [hat] antworten lassen, weil sich sonst niemand sie zu beantworten getrauet“.26 Die Erinnerung aber an die Geschichte nicht der Sieger, sondern der Verlierer wach zu halten, war ein Akt des Widerstands gegen gegenwärtige Unterdrückung, der weit über das bloße Bemühen, in der Geschichte Exempel für zukünftige Probleme zu finden, hinausgeht. Der historischen Erinnerung an sich wurde in der Aufklärung ein widerständiges Potenzial zugetraut. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war das Konzept der widerständigen Erinnerung noch gänzlich individualisiert. Christian Weise schrieb seine historischen Dramen in erster Linie zur Vorbereitung seiner Schüler auf den Staatsdienst und befand sich damit vollkommen im Einklang mit den neuen Bedürfnissen des absolutistischen Staats. Johann Jakob Schmauß schrieb in einem Gutachten zur Gründung der Göttinger Universität: Mit der Historie ist nicht weniger eine merkliche Veränderung vorgegangen, indem solche nicht mehr wegen der Exempel der vermeintlichen Göttlichen Gerichte über die Gottlosen in der Welt, zu den Predigten und Postillen gebraucht, sondern als eine Schuld [= Pflicht] der Staats-Leute angesehen ist.27
Das in diesen Worten zum Ausdruck kommende gemeinsame Interesse der Aufklärung und des Absolutismus wurde bei Weise aber noch ergänzt durch seine Parteinahme für den Einzelnen, der sich immer als Opfer der Geschichte fühlen konnte, da es bekanntlich aufs Ganze gesehen wenig auf den Einzelnen ankommt und die Geschichte auch gern über ihn hinweggeht. Das ist ein schlechtes [= einfaches] Werk, wenn man chronologice viel Sachen nacheinander fassen kann. Denn man siehet wohl, was die göttliche Providence bei vielen gefährlichen Anschlägen im Ausgange vor eine Direction gebrauchet hat. Allein, was viel Personen dabei ge-
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Ebd., S. 608. Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 171 (Sudelbuch G 223). Lessing: Werke, Bd. 5, S. 609. Zit. nach Götz von Selle: Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737–1937. Göttingen 1937, S. 21f.
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litten, verloren und vergebens gesuchet haben, das wird erst bekannt, wenn allerhand Specialia hinzukommen,
schrieb Weise 1708 in seinem dramaturgischen Testament (Vorrede zur LiebesAlliance).28 Er begründete hier eine Aufgabe der Dichtung, die über ihre Nutzanwendung im Unterricht hinausgeht und die noch heute bedenkenswert ist. In kühner Umkehrung des gewöhnlichen Topos von der Historiographie als Beschreibung des Besonderen und der Dichtung als Sprechen vom Allgemeinen definierte Weise als Aufgabe der Dichtung gerade die „Specialia“, die „bey dem Geschichtsschreiber, als unnöthig ausgelassen“ wurden (Zittauisches Theatrum).29 Aufgabe des Dramas war also unter anderem, aber nicht zuletzt, die Erinnerung an die Leiden des Einzelnen, die für die Geschichte im Großen ganz irrelevant sind, wach zu halten. Das ist, glaube ich, bis heute eine Qualität der Dichtung, die sie der Historiographie voraus hat. Dasselbe Ziel verfolgte auch Goethe mit seinem Götz von Berlichingen, wenn er 1771 über die Arbeit an diesem Stück brieflich gegenüber seinem Bekannten Salzmann äußerte: Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andencken eines braven Mannes […]. Wenn’s fertig ist sollen Sie’s haben, und ich hoff Sie nicht wenig zu vergnügen, da ich Ihnen einen edeln Vorfahr |: die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen :| im Leben darstelle.30
Über Weise hinausgehend aber verknüpfte Goethe das individuelle Scheitern seines Helden mit den politisch-historischen Gegebenheiten des 16. Jahrhunderts, wobei in der Forschung umstritten ist, ob Goethe sich mit seinem Stück auf die Seite des alten oder auf die Seite des neuen Rechtszustandes stellte. In meinen Augen ist es kein Manko, sondern ein Vorteil des Stücks, dass sich für beide Ansichten Belege finden lassen; das Stück ist von hoher historischer Objektivität und daher genauso vielseitig interpretierbar wie die Geschichte selbst. Der Unterschied zwischen Weise und Goethe war also, dass ersterer für den Einzelnen in der Geschichte Partei ergriff, ohne den durch die „Providence“ bestimmten Gang der Geschichte in Frage zu stellen, während Goethe sich nicht mehr so sicher zu sein schien, ob die Geschichte wirklich so laufen musste und muss, wie sie es tat und tut, auch wenn er einmal von dem „notwendigen Gang des Ganzen“ sprach, mit dem die „prätendierte Freiheit“ des Einzelnen kollidiere.31 Beide aber betätigten sich als „Auferstehungsengel“ der Geschichte und behaupteten das 28
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Zit. nach Klaus Hammer (Hg.): Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Berlin 1968, S. 11; vgl. Christian Weise: Sämtliche Werke. 25 Bde. Hg. v. John D. Lindberg (bis 1988) bzw. Hans-Gert Roloff (ab 1989). Berlin 1971ff., Bd. 15, S. 319–325. Christian Weise: Masaniello. Trauerspiel. Hg. v. Fritz Martini. Stuttgart 1972, S. 9. Der junge Goethe in seiner Zeit. 2 Bde. u. CD-ROM. Hg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Frankfurt a.M. 1998, Bd. 1, S. 649. Ebd., Bd. 2, S. 363.
Recht des Einzelnen auf sein Leben unabhängig vom Gang der großen Geschichte („Da steht er wieder auf, der edle Todte, in verklärter Schöne geht er aus den Geschichtbüchern hervor und lebt mit uns zum andernmahle“, schwärmte Jakob Michael Reinhold Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater),32 indem sie sein individuelles Leiden und Streben dramatisch verteidigen. Sie legten auf die Versöhnung des individuellen Leids mit der Harmonie der teleologisch begriffenen Geschichte noch keinen Wert, wie es der deutsche Idealismus und sein legitimer Erbe, der orthodoxe Marxismus, taten. Die „Versöhnung“ mit der Weltordnung, die Hegel in den Vorlesungen zur Ästhetik als das Wesen der Tragödie begriff,33 was ein wenig so klingt, als ob der tragische Held sich stellvertretend für die Leser oder die Zuschauer die Hörner abzustoßen habe, damit letztere desto friedlicher ihr unheroisches Schicksal annehmen, ist prinzipiell nicht unterschieden von dem Bemühen vieler Barockdramatiker, die Menschen durch Darstellung „so vielen Creutzes und Ubels das andern begegnet ist“ derart zu konditionieren, dass wir „das unserige, welches uns begegnen möchte, weniger fürchten und besser erdulden“ (Martin Opitz).34 Dahinter steht der konservative Gedanke, dass die Welt notwendig so ist, wie sie ist, und dass die Geschichte notwendig den Gang nehmen musste, den sie nahm. Die Aufklärung einschließlich des Sturm und Drangs verabschiedete dagegen entweder den „notwendigen Gang des Ganzen“ als zu verteidigendes Prinzip oder verzweifelte am Widerstand, den das so vehement verteidigte Recht des Einzelnen und des Besonderen auf seine Individualität und Einmaligkeit dem Vorsehungsglauben entgegensetzt. Regelmäßig wurde der beharrlich festgehaltene und schließlich in die idealistische Identitätsphilosophie überführte Glaube an die Theodizee durch den pragmatischen Blick auf geschichtliche Ereignisse erschüttert; man kennt die Diskussionen, die sich nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 entfaltet hatten.35 Interessanter in meinem Zusammenhang ist aber ein anderes Phänomen. Als Lessing ein Drama von Christian Felix Weiße über Richard III. von England besprach, musste er eingestehen, dass ein Blick in die Historie die Sinnlosigkeit all der „Greuel“ des „abscheulichen Bösewichts“ Richard zu bestätigen scheint. Die Tugend und die Unschuld mussten leiden und der Verbrecher wurde dafür nicht einmal wirklich zur Rechenschaft gezogen, sondern durfte „als ein Mann, auf dem Bette der Ehre“, das heißt den „schönen“ Soldatentod, sterben. Diese Ungerechtigkeit war in Lessings Augen geeignet, den Glauben an den un32 33 34
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Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig 1774, S. 53. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bde. Hg. v. Friedrich Bassenge. 3. Aufl. Berlin 1976, Bd. 2, S. 573–582 u. 586. Zit. nach Martin Opitz: Vorrede zur Übersetzung von Senecas Trojanerinnen. In: Ders.: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe. Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 114. Vgl. Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung. Berlin 1994.
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aufhaltsamen Fortschritt der menschlichen Geschichte in Frage zu stellen, führte also zum „Murren wider die Vorsehung“ und zur „Verzweiflung“. Das aber durfte nicht sein, denn das Drama „sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein“ und „uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“. Weil aber für das menschliche Erkenntnisvermögen nicht deutlich werde, welchen „guten Grund in dem ewigen Zusammenhange aller Dinge“ die Grausamkeit Richards hat, empfahl Lessing, generell derartige Stoffe, wo ein „blindes Geschick“ zu herrschen scheine, nicht zu nutzen: „Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!“36 Der letzte Satz offenbart auf einen Schlag das schwierige Verhältnis eines Dramatikers wie Lessing, der an dem Projekt einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ hin zur Humanität arbeitete und sich dabei im Einklang mit der Vorsehung wähnte, zur Geschichte. Weil die überlieferte Geschichte nicht immer oder kaum die Theodizee bestätigt, empfahl er das gezielte Vergessen widerstrebender Fakten. Dieses Problem hatten Realisten wie Christian Weise und der junge Johann Wolfgang Goethe nicht. Sie wollten in ihren Dramen nicht die zukünftige Auflösung der Geschichte „zum Besten“ antizipieren, sondern die Erinnerung an die Leiden der Menschheit in Gestalt Einzelner bewahren. Die daraus zu ziehenden Lehren blieben den Rezipienten aufgegeben. Die Dramenhandlung selbst propagierte nicht unbedingt die Versöhnung mit der Geschichte. Götz von Berlichingen stirbt in Goethes Drama in dem Bewusstsein, seine Frau „in einer verderbten Welt“ zurückzulassen und mit dem Ruf nach „Freyheit!“ (V/14). Ob die am Ende des Dramas noch uneingelöste Forderung nach Freiheit inzwischen eingelöst wurde, müssen die Leser selbst entscheiden, indem sie sich auf ihre Gegenwart besinnen. Sie können es aber nur, wenn sie die alte Forderung erinnern. Der letzte Satz des Stücks: „Wehe der Nachkommenschaft, die dich [Götz] verkennt!“,37 meint zugleich: Wehe der Nachkommenschaft, die dich, Götz, vergisst! Der Dramatiker sorgte dafür, dass wir ihn weder vergessen noch verkennen. Ist dies aber eine besondere Leistung des Dramatikers? Kann nicht auch der Romancier oder der Sachbuchautor oder jeder andere Schriftsteller diese Leistung vollbringen? Prinzipiell natürlich schon. Doch der Dramatiker (oder sein Nachkomme, der Filmemacher) hat den Vorteil, dass er sich als „Auferstehungsengel“ betätigen und die Revision eines historischen Urteils in unmittelbare Anschauung übersetzen kann: Wenn er sich denn als „Auferstehungsengel“ versuchen will und sich nicht wie Lessing anstatt um „zufällige Geschichtswahrheiten“ lieber um „notwendige Vernunftwahrheiten“ kümmert,38 oder gar das Drama wie Hebbel nur
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Lessing: Werke, Bd. 4, S. 597–599 (Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück). Goethe: Werke, Bd. 4, S. 175; Der junge Goethe, Bd. 1, S. 326. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 12.
als „ein Vehikel zur Verkörperung [eigener] Anschauungen und Ideen“ begreift,39 weil es „keine Erlebnisse, als das Erlebnis des eigenen Wesens“ gebe, wie sich Hofmannsthal 1902 einmal ausdrückte.40 Wenn ich in den vorstehenden Thesen zwischen den Realisten (Positivisten), die sich als „Auferstehungsengel“ begriffen, und den Idealisten (Symbolisten), die dies strikt ablehnten, unterschied, so darf man diese Begriffe nicht zu philosophisch verstehen. Sie bezeichnen hier lediglich zwei unterschiedliche Weisen, sich der historischen Wirklichkeit zu nähern: Die einen bedienen sich geschichtlicher Personen und Ereignisse lediglich, um zum Beispiel moralische, jedenfalls aber überhistorische Ideen anschaulicher gestalten zu können – so schrieb Goethe 1820 über Alessandro Manzoni: „Für den Dichter ist keine Person historisch, es beliebt ihm seine sittliche Welt darzustellen, und er erweist zu diesem Zweck gewissen Personen aus der Geschichte die Ehre, ihren Namen seinen Geschöpfen zu leihen“,41 die andern dagegen bedienen sich der Geschichte nicht, sondern die Geschichte ist ihr eigentlicher Zweck; in einer Art dramatischer Trauerarbeit halten sie den historisch uneingelösten Anspruch auf irdisches Glück für alle Menschen aufrecht. Besonders schön hat August von Platen diese Aufgabe 1833 im Nachwort zur Liga von Cambrai in Worte gefasst: es ist eine Hauptaufgabe, des tragischen Dichters, zu zeigen, dass die Welt immer so schlecht war, wie sie noch jetzt ist, und dass gerade die edelsten Menschen, sobald sie tätig in den Weltlauf eingreifen, der mächtigen Bosheit zum Opfer werden. Diese Lehre ist traurig, aber wahr, und jeder mag sich danach richten. Es gilt hier fast immer der letzte Vers aus Voltaires Mahomet: ‚Die Welt ist für Tyrannen; lebe du!‘ Aber der Geschichtsschreiber, der Dichter, ist berufen, diejenigen, die mit einem solchen Wahlspruch gefallen sind, zu feiern und den frohlockenden Sieger zu brandmarken.42
Man kann beide Haltungen der Geschichte gegenüber nicht einfach bestimmten Epochen zuordnen. Ich halte verbreitete Thesen etwa der Art, die Aufklärung sei die Epoche der größtmöglichen Freiheit des Dichters von der Geschichte,43 während das 19. Jahrhundert als Epoche des Historismus die Geschichte besonders geschätzt habe, für falsch. Im Gegenteil beförderte der pragmatische Zugriff auf Geschichte sogar ‚wahre‘ historische Erkenntnis, während der Historismus als Seitentrieb des deutschen Idealismus ahistorischem Denken Vorschub leistete, denn geschichtliche Erkenntnis blieb hier relativ beliebig.
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Hebbel: Werke, Bd. 3, S. 550. Hugo von Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller. Bd. 7: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt a.M. 1979, S. 486. Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Literatur. Einf. u. Textüberwachung v. Fritz Strich. München 1977, S. 822. August Graf von Platen: Sämtliche Werke. 12 Bde. Hg. v. Max Koch u. Erich Petzet. Leipzig 1910, Bd. 10, S. 209. So etwa Sengle: Das historische Drama in Deutschland, S. 17.
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Grundsätzlich aber bleibt zu bedenken, dass es beide Haltungen in beiden Epochen gab, vielleicht sogar immer gibt, und dass es der gründlichen Analyse des Einzelfalls bedarf, um die einzelnen Phänomene richtig einzuordnen. Das heißt zum Beispiel zu erkennen, dass Gottsched trotz gegenteiliger theoretischer Verlautbarungen als Pragmatiker einer der geschichtstreuesten Autoren seiner Zeit war, was Lessing 1759 schon verärgert feststellte,44 die literaturwissenschaftliche Forschung aber bis heute meist nicht wahrhaben will, weil sie die Dramen Gottscheds aus dem unbegründeten Vorurteil heraus, sie seien langweilig, entweder gar nicht liest oder als Emanationen irgendwelcher Theoreme aus dem Versuch einer Critischen Dichtkunst begreift, anstatt sie als selbstständige Dichtungen zunächst einmal ernst zu nehmen und sie nötigenfalls auch gegen entstellende Selbstinterpretationen des Autors in Schutz zu nehmen.
Geschichtsdrama und Poetik Die These, dass der Zugriff der Dramatiker auf die geschichtliche Überlieferung nicht notwendig oder in allen Punkten abhängig ist von dem allgemein jeweils herrschenden Geschichtsbild, soll nicht heißen, dass sich das mehrheitliche Verhältnis bestimmter Zeiten zur Geschichte nicht formulieren ließe. Es ist auffällig, dass sich in der Mitte des in den vorliegenden Studien vor allem ins Auge gefassten Untersuchungszeitraums, also um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in der Theorie der Geschichte ein signifikanter Umbruch ereignete. In diesen Jahrzehnten geht das Zeitalter der Vorherrschaft zyklischer Geschichtstheorien zu Ende45 und es entsteht allmählich eine Geschichtsphilosophie, die verlangt, aus den unterschiedlichsten Ereignissen eine vernünftige Erzählung zu formen, die dem, was man seit Mitte des 18. Jahrhunderts ‚historische Vernunft‘ zu nennen gewohnt ist,46 gehorchen sollte. Die philosophischen bzw. theoretischen Rahmenbedingungen, unter denen Schriftsteller an ihren Dramen arbeiteten, änderten sich zwar, jedoch ohne dass dies im Einzelfall immer die gleichen Auswirkungen auf die Gestaltung der literarischen Werke hatte. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens sind die Geschichtsdramatiker der Frühen Neuzeit weit unabhängiger von herrschenden Theorien der Geschichte als etwa ihre Kollegen im 19. Jahrhundert, die sich weitgehend dem Diktat der historistischen Geschichtsphilosophie unterwarfen. Dass dies in der Literaturwissenschaft bislang noch kaum gesehen 44 45
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Lessing: Werke, Bd. 5, S. 209. Vgl. Jochen Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung. München 1980. Vgl. Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006.
wurde, liegt an dem Missstand, dass bis weit in die 1980er Jahre hinein Friedrich Sengles Buch über „das deutsche Geschichtsdrama“, mit dem er 1942 habilitiert wurde und das 1952 in einer ‚politisch korrigierten‘ Fassung erstmals im Druck erschien, als selten hinterfragtes Standardwerk galt. Sengles Untersuchung war jedoch einseitig an dem Paradigma Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand orientiert und stand selbst im nicht hinterfragten Bann der historistischen Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts, so dass vor der ‚Epoche‘ des deutschen Sturm und Drang entstandene Geschichtsdramen ausgeblendet blieben; ebenso natürlich die Geschichtsdramatik nach 1945, die nicht nur deshalb nicht vorkam, weil sie nach der Erarbeitung der Untersuchung entstanden ist, sondern auch andernfalls nicht vorgekommen wäre, weil sie von dem darin entwickelten Gattungsbegriff in der Tat nicht mehr abgedeckt wurde. Daher sahen weder der Autor noch der Verlag, noch irgend ein Anderer die Notwendigkeit, die Thesen dieser Habilitationsschrift einer gründlichen Revision zu unterziehen. Die letzte „unveränderte“ Auflage des Buchs erschien 1974. Inzwischen hat sich die Situation in der Literaturwissenschaft allerdings verändert. 2005 erschien Dirk Niefangers Buch über Das Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, das den historistisch geprägten Gattungsbegriff verabschiedete und mit einer pragmatischen „Arbeitsdefinition“ aufwartete, welche die vor allem seit Ende der 1980er Jahre publizierten Diskussionsbeiträge einbezieht. In einer von Niefanger selbst angefertigten Zusammenfassung lautet die Definition: Theatertexte sind als Geschichtsdramen zu analysieren, wenn sie Zeichen enthalten, die eine historische Authentizität des Dramengeschehens setzen. Das heißt natürlich nicht, daß die Geschichtsdramen die Geschichte ‚objektiv‘ abbilden. Sie müssen lediglich ‚Authentizität‘ behaupten. Die Handlung sollte zudem als nicht nur irgendwie vergangenes, sondern als historisches Geschehen identifizierbar werden. Voraussetzung für ein ‚Geschichtsdrama‘ ist ebenfalls, daß das Geschehen auf der Bühne nicht bloß als von temporärer Bedeutung vorgestellt wird und der Handlungsbereich des Dramas (auch) in der politisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit liegt bzw. für diese relevant wird. Außerdem kann davon ausgegangen werden, daß ein ‚Geschichtsdrama‘ historiographische Textverfahren des jeweils geltenden Geschichtsdiskurses variierend übernimmt.47
Nicht ganz zufällig ähnelt diese Definition derjenigen, die aus der Beschäftigung mit nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Geschichtsdramen gewonnen werden kann. Die letzte vorbürgerliche und die erste nachbürgerliche Epoche entsprechen sich in mancherlei Hinsicht. Ingo Breuer betonte in seiner 2004 veröffentlichten Untersuchung des „deutschsprachigen Geschichtsdramas seit Brecht“ auch, dass das Geschichtsdrama keine wesensmäßig bestimmbare Gattung sei, sondern 47
Dirk Niefanger: Krieg und Frieden in Geschichtsdramen des 17. Jahrhunderts. In: Klaus Garber u.a. (Hg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 1063–1075, hier S. 1066f. Etwas ausführlicher ist diese nicht an literarischen Verfahrensweisen oder an thematischen Aspekten, sondern an „Merkmalen der Textorganisation“ orientierte Definition formuliert in ders.: Das Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 40.
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sich ausschließlich durch „Signale für die Geschichtlichkeit des Dargestellten“ auszeichne, also der Historiographie ähnelnde „Verfahren“ aufweise, die intertextuell auf einen jeweils vorgegebenen Geschichtsdiskurs referieren („mediatisierte Geschichte“).48 Diese relativ vagen Definitionen habe ich in Hinsicht auf den dramatischen Umgang mit der Geschichte in den vier einleitenden Thesen zu präzisieren gesucht. Im Folgenden wird darauf aber nicht mehr explizit rekurriert, auch wenn diese Ausführungen meinen Studien zu Grunde liegen. Gegenstand meiner Studien ist keine systematische oder gattungstheoretische Frage. Vielmehr handelt es sich um Fallstudien, die thematisch orientierte Fragestellungen verfolgen, nämlich Fragen nach der Rolle von Geschichte, Politik, Gewalt und Didaxe in verschiedenen Dramentexten bzw. der Darstellung des Volks als Subjekt der Geschichte in Geschichtsdramen der Frühen Neuzeit. Zweitens sind die Geschichtsdramatiker der Frühen Neuzeit weit unabhängiger von den Regeln der zeitgenössischen Poetik als gemeinhin angenommen wird. Albrecht Schöne schrieb, seine Anthologie Das Zeitalter des Barock (1968) einleitend, dem Dichter des 17. Jahrhunderts sei „Originalitätsdenken“ fremd gewesen: „Er unterwarf“ alles „allgemeinen Ordnungen und überpersönlichen Formen: er fügte sich den Gesetzen der Gattung“. Die „gesetzgebenden“ Lehrbücher der „Poetik“ seien „das absolutistische Literaturreglement für dieses normativ gesinnte Dichtungsjahrhundert“ gewesen, die „dem poetischen Schaffen“ in jedem Fall „voraus“ gingen.49 Diese Feststellungen sind indes sehr fragwürdig. Zwar wurden die Poetiken häufig mit dem Anspruch verfasst, normative Regeln des Dichtens zu formulieren, doch schon die Zeitgenossen wussten sehr gut, dass dieser Anspruch nichtig war. „Es ist […] die Poeterey eher getrieben worden, als man je von derselben art, ampte vnd zuegehör, geschrieben: vnd haben die Gelehrten, was sie in den Poeten […] auffgemercket, nachmals durch richtige verfassungen zuesammen geschlossen“, meinte Martin Opitz 1624 in seiner Poetik.50 Siebzig Jahre später bestätigte Christian Weise diesen Befund: „Wir haben Regeln, und die Welt macht in praxi lauter exceptiones“,51 weitere sechzig Jahre danach Johann Gottlob Benjamin Pfeil: „Man ist gewohnt nicht eher von einer Gattung der Poesie gute Regeln zu geben, bis man gute Muster von ihr erhalten hat“.52 Und auch Mercier in Frank-
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Ingo Breuer: Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht. Köln 2004, S. 73, 75 u. 78. Albrecht Schöne (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. 3., verb. Aufl. München 1988, S. VIIf. u. XII. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 13. Christian Weise: Politische Fragen, Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica. 2. Aufl. Dresden 1698, S. 407. Johann Gottlob Benjamin Pfeil: Lucie Woodvil, ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Handlungen [1756] / Vom bürgerlichen Trauerspiele [1755]. Mit einem Nachw. hg. v. Dietmar Till. Hannover 2006, S. 109.
reich wusste, dass „alle Poetiken […] nur nach den ersten Versuchen in der Kunst gemacht“ wurden.53 Tatsächlich sind die literarischen Produkte des 17. wie des 18. Jahrhunderts keine praktischen Beispiele zu den Regeln der Poetik, sondern eigenständige Reaktionen auf die Herausforderungen der Zeit und Umwelt, die entsprechend jenseits aller Dichtungs-Theorie erst einmal als literarische Gebilde für sich ernst genommen werden müssen, bevor sie nachher auf poetologische Regeln bezogen werden können. Die Autoren von Trauerspielen konnten es sich gar nicht leisten, lediglich den Regeln nachzuschreiben, wenn sie die Würde der Tragödie als traditionell „fürnehmste art der Poeterey“54 wahren wollten. Besonders deutlich wird dies an der Rolle des Volks im Drama, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen ist.
Volk in Geschichte und Drama Nach einem immer noch verbreiteten Vorurteil sind die Volksmassen erstmals 1789 als politisches Subjekt in die Geschichte eingetreten, „als die von Elend, Armut, Unterdrückung und Erniedrigung getriebenen Frauen und Männer mit dem Sturm auf die Bastille zugleich die politische Bühne eroberten, um sie nicht wieder zu verlassen“.55 Zweifellos ist die Französische Revolution in der Geschichte des politischen Subjekts ‚Volk‘ ein bedeutender Einschnitt. Seither nämlich ist das „Phänomen der mobilisierbaren Massen“ aus der soziologischen Theorie „nicht mehr wegzudenken“.56 Die Geschichte und die Literatur jedoch kannten das Phänomen schon länger. Einer der Gründungsväter der modernen Soziologie, Alexis de Tocqueville, wusste dies auch noch. Er erklärte die Hilflosigkeit, mit der das Ancien Régime auf den Volksaufstand von 1789 reagierte, allerdings nicht ganz zutreffend damit, dass „das Volk keinen einzigen Augenblick seit hundertundvierzig Jahren auf dem Schauplatz der öffentlichen Angelegenheiten erschienen war“, und so hätte „man ganz und gar aufgehört zu glauben, daß es sich jemals wieder dort zeigen könne“.57 Tocqueville spielte damit auf die Zeit um 1650 an, als das Volk in der Zeit der Fronde auch in Frankreich eine eigenständige politische Rolle spielte. Doch sogar
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Louis-Sébastien Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Übers. v. Heinrich Leopold Wagner. Leipzig 1776, S. 131. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 114. Sidonia Blättler: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Berlin 1994, S. 7. Ebd., S. 12. Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution. Übers. v. Theodor Oelckers, durchges. v. Rüdiger Volhard. Mit einem Nachw. u. Anmerkungen hg. v. Jacob P. Mayer. München 1978, S. 179.
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Tocqueville hatte aus den Augen verloren, dass auch zwischen 1650 und 1780 das Volk durchgängig politisch präsent war. Inzwischen ist auch das Protestverhalten vorindustrieller Unterschichten in der historischen Forschung breit dokumentiert und aufgearbeitet worden. Auch Gebiete, die früher als „aufstandsfrei“ galten, konnten durch die neuere Forschung als „unruhig“ bewiesen werden.58 Dabei lassen sich Beispiele für die beiden denkbaren Extremtypen nachweisen, zum einen der spontane und eigenständige Volksaufruhr und zum zweiten Unruhen, bei denen das Volk von politischen Eliten in ihrem Kampf um Machtpositionen instrumentalisiert wurde. Die meisten Aufstände stellten freilich eine Mischung dieser beiden Formen dar, wie der amerikanische Historiker William Beik am französischen Beispiel zeigte.59 In jedem Fall aber wurde die Revolte innerhalb des Volks „als normaler, ja legitimer Zustand erlebt“, wie Arlette Farge herausarbeitete.60 Der Aufstand war „eine herkömmliche soziale Form“ im Leben der Unterschichten.61 In der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts kam diese „herkömmliche soziale Form“ des Volkslebens jedoch fast nicht vor.62 Bei den prominenten „Staatsdenkern“ herrschte vielmehr Thomas Hobbes’ Meinung vor, dass das aufständische Volk nicht als Kollektiv anzusprechen sei, sondern als bloße Menge revoltierender Untertanen, da der Regent selbst als – im wörtlichen Sinn – Verkörperung des Staats auch das „Volk“ politisch verkörpere.63 Andreas Gestrich hat am Beispiel von Pierre Charron zu zeigen versucht, warum die traditional gebundene Theoriebildung um 1600 nicht in der Lage war, die „Gesten des Volksaufstands“64 zu lesen.65 Zu stark waren die philosophischen Denker einer deduktiven Methodik verhaftet, die erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts während eines heute als ‚Wis58 59 60 61 62 63
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Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800. München 1988, S. 34f. William Beik: Urban protest in seventeenth-century France. The culture of retribution. Cambridge 1997. Arlette Farge: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989, S. 304. Arlette Farge u. Jacques Revel: Die Logik des Aufruhrs. Die Kinderdeportationen in Paris 1750. Frankfurt a.M. 1989, S. 60. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Neumairs von Ramsla Traktat vom Auffstand der Untern wider ihre Regenten und Obern; vgl. unten S. 52–57. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1984, S. 131–135 (17. Kapitel: Von den Ursachen, der Erzeugung und der Definition des Staates) sowie S. 125f. (16. Kapitel): „Einheit“ könne „bei einer Menge“ nur repräsentativ entstehen, wenn sie durch einen „Vertreter“, und zwar durch „nur eine Person, verkörpert“ werde. Visualisiert ist diese Verkörperung in dem bekannten Titelkupfer zum Leviathan, vgl. dazu Horst Bredekamp: Thomas Hobbes’ visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits. Berlin 1999. Farge: Das brüchige Leben, S. 305. Andreas Gestrich: Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Zur Rechtfertigung des Hofzeremoniells im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, S. 57–73.
senschaftsrevolution‘ bezeichneten Paradigmenwechsels durch eine stärker empirisch-induktive Methodik abgelöst wurde, zunächst in der Naturforschung und verhältnismäßig zögerlicher in den philosophischen Wissenschaften. Die Dichtung arbeitete hier vor. Der philosophischen Theorie nach war von dem „tollen“, „unverständigen“, „unverschämten, verstockten Pöbel“66 schlechterdings kein eigenständiges oder selbstverantwortetes Handeln zu erwarten. Die von manchen Historikern des 20. Jahrhunderts herausgearbeitete ‚andere‘ Rationalität des Volksaufstands schien damals nicht theoretisierbar gewesen zu sein, obwohl man die gesamte „westeuropäische Kultur“ mit Sigmund Freud als Produkt der „Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten“ bezeichnen könnte.67 Die Dramatiker derselben Zeit hatten allerdings auf die „Gesten des Volksaufstands“ zu reagieren, besonders die Trauerspiel-Dichter, denn wer „Tragoedien schreiben wil“, so stellte 1663 Johann Rist fest, „muß die […] Politica […] gründlich wissen, nicht aber allein wissen, sondern auch verstehen, denn, in Tragoedien handelt man nicht von gemeinen Dingen, sondern von den allerwichtigsten Reichsund Welt-Händlen“.68 Das Trauerspiel galt im 17. Jahrhundert als „Schul der Könige“69 und ihrer Vollzugsorgane; d.h. dass das Trauerspiel, das zu dieser Zeit überwiegend Schuldrama war, die für den Staatsdienst auszubildende Jugend auf ihre Tätigkeit als ‚Politici‘ vorzubereiten hatte. Als Staatsbeamte und Politiker wurden sie aber zwangsläufig mit der täglichen Revolte der Unterschichten konfrontiert. Zu lehren war daher unter anderm, „wie dergleichen Auffrühre zu verhüten: oder wenn sie einmahl entstanden, zeitig zu stillen seyn möchten“, wie es 1701 Hiob Ludolph formulierte.70 Das ging aber nur, wenn man die „Gesten des Volksaufstands“ nicht nur wahrnahm, sondern auch dramatisch analysierte. In der Tat nahmen die Dramatiker des ausgehenden 17. Jahrhunderts diese Herausforderung an und produzierten Tragödien, die an der politischen wie poetischen Theorie ihrer Zeit vorbei das ‚Volk in der Revolte‘ ernst nahmen und in actu präsentierten. Selbst in der Dramatik des 18. Jahrhunderts, die sich vor allem in den vier Jahrzehnten zwischen 1730 und 1770 durch eine „fast konsequente Enthaltsamkeit von
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Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. 10 Bde. u. ein Register-Bd. Hg. v. Kurt Aland. Neuausgabe. Göttingen 1991, Bd. 3, S. 341, Bd. 4, S. 128, Bd. 7, S. 67, 165, 211; (vgl. Bd. 5, S. 105;) Bd. 2, S. 213; Bd. 6, S. 245; vgl. auch Bd. 9, S. 190: „Der Pöbel aber ist der Satan. […] Denn wenn er [Gott oder der Satan] aus dem Herzen des Volkes Furcht und Ehrerbietung vor der Obrigkeit wegnimmt, dann wird es aufsässig.“ Sigmund Freud: Studienausgabe. 10 Bde. u. 1 Ergänzungs-Bd. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frankfurt a.M. 2000, Bd. 9, S. 233. Johann Rist: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Eberhard u. Helga Mannack. Berlin 1967–1982, Bd. 5, S. 378. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischen Trichters zweyter Theil. Nürnberg 1648, S. 80 (vgl. Poetik des Barock. Hg. v. Marian Szyrocki. Stuttgart 1982, S. 121). Hiob Ludolph: Allgemeine Schau-Bühne der Welt, Oder: Beschreibung der vornehmsten WeltGeschichte, Des Siebenzehenden Jahr-Hunderts, Zweÿter Theil. Frankfurt a.M. 1701, Sp. 1425f.
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aller sozialen Thematik“ auszeichnete,71 stellten sich die hervorragendsten Dramatiker dieser Herausforderung, hatten aber wegen des verinnerlichten klassizistischen Dogmas große Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Problems und scheiterten häufig. Mit größerem Erfolg nahmen Dramatiker der Sturm und DrangBewegung das revoltierende Volk in ihre Dramen auf. Selbst zur individuellen Rebellion geneigt, lernten die Stürmer und Dränger erneut, die „Gesten des Volksaufruhrs“ zu lesen und sich anzuverwandeln. Anders als die Dramatiker im 17. Jahrhundert akzeptierten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts zwar das Volk als politische (Bezugs-) Größe, doch meist ohne es als politisches Subjekt anzuerkennen. Vielmehr fragte man sich, „wer eigentlich das Volk war und wer für es sprechen sollte“.72 Vorweg sollte vielleicht auch noch ausdrücklich vermerkt werden, dass der Begriff des „Volks“ in diesen Studien verhältnismäßig weit gefasst ist. Ich benutze das Wort nicht wie einen naturwissenschaftlichen Begriff, dessen Bedeutungsgrenzen klar definiert sind, sondern auf gewissermaßen umgangssprachliche Art, bei der das Zentrum des Begriffs festgelegt ist, ohne dass die Grenzen eindeutig bezeichnet werden könnten.73 Das macht ihn nicht weniger präzise,74 sondern im Gegenteil außerordentlich geeignet, die „grosze masse einer bevölkerung im gegensatz zu einer oberschicht“ bzw. die „beherrschte masse, im gegensatz zur regierenden gewalt“ (wie es das Grimmsche Wörterbuch ausdrückt)75 unabhängig von ihrer historisch konkreten sozialen Zusammensetzung zu bezeichnen. Damit entspricht meine Verwendung des Begriffs in etwa der der Frühen Neuzeit. Allerdings sind im 18. Jahrhundert Bedeutungsverschiebungen zu konstatieren. Zu Beginn des Aufklärungszeitalters gehörten Bürgerliche fast in jedem Fall zum „Volk“, während dies gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Frage der Perspektive war. Präsident von Walter in Friedrich Schillers Kabale und Liebe (1784) etwa zählt die Musikerfamilie und die ganze „Bürgerkanaille“ (I/5) ohne weiteres zum anonymen „Gesindel“ und „Pöbel“, während sich der Musikus selbst hier nicht mehr einordnet, sondern sich mit dem wiederholten Hinweis darauf, dass er Miller heiße, von
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Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Stuttgart 1987, S. 80. Roy Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung. Übers. v. Ebba D. Drolshagen. Berlin 1991, S. 44. Vgl. Ulf Bichel: Problem und Begriff der Umgangssprache in der germanistischen Forschung. Tübingen 1973, S. 308f. Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl. München 1993, S. 267 („Anmerkung 1993“ über die heuristische Brauchbarkeit von Begriffen ohne „Randschärfe“ aber mit „Kernprägnanz“); vgl. auch Ludwig Wittgensteins Überlegung, dass der „Begriff“ ein Feld mit „unscharf“ begrenzten Rändern sei, was auch für wissenschaftliche Definitionen gelte (Tractatus logico-philosophicus / Philosophische Untersuchungen. Hg. v. Peter Philipp. Leipzig 1990, S. 144: PU I, § 76; vgl. ebd., S. 145f. u. 161: §§ 79 u. 117). Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin u.a. München 1984, Bd. 26, Sp. 462 bzw. 467; vgl. ebd., Sp. 457.
der namenlosen „Menge“ abzuheben versucht (I/1 bzw. II/6).76 Die Perspektive, unter der das „Volk“ gesehen wird, ist natürlich immer auch eine des politischen Standpunkts, des der literarischen Figuren ebenso wie des Autors. „Im weitesten Verstande“ ist in einem Staat „[a]ußer dem Oberherrn“ zunächst einmal „alles Volk“, wie Johann Christoph Adelung in seinem Wörterbuche feststellte, dabei aber betonend, dass vor allem „die untersten Classen im Staat“ „Volk“ genannt würden. „Einige neuere Schriftsteller“ hätten versucht, „dieses Wort in der Bedeutung des größten, aber untersten Theiles einer Nation oder bürgerlichen Gesellschaft wieder zu adeln“, schrieb Adelung weiter: „es ist zu wünschen, daß solches allgemeinen Beyfall finde“.77 Nun ist aber gegenüber Adelung zu betonen, dass der Versuch, das Wort zu „adeln“, keineswegs immer in Hinblick auf die Interessen „des größten, aber untersten Theiles einer Nation“, sondern von Autoren wie Johann Gottfried Herder78 oder Gottfried August Bürger („Volk! Nicht Pöbel! In den Begriff des Volkes aber müssen nur diejenigen Merkmale aufgenommen werden, worin ungefähr alle, oder doch die ansehnlichsten Klassen überein kommen“)79 gerade unter Absehen des bei Adelung noch konstitutiven sozialen und ständischen „Nebenbegriffes“ unternommen wurde. Joachim Heinrich Campes und Johann Wolfgang Goethes Vorschlag, wegen „des dem Worte Volk in den meisten Fällen anklebenden verächtlichen Nebenbegriffes“ (Adelung) für das von Herder und Bürger anvisierte Abstraktum den Begriff „Volkheit“ zu gebrauchen,80 setzte sich aber nicht durch. Das Bedürfnis, „Volk“ als ‚Nation‘ zu verstehen, hatte seinen Ausgangspunkt 1765 in Thomas Abbts Schrift Vom Verdienste. Der „Geist und der Geschmack einer Nation sind nicht unter ihren Gelehrten und Leuten von vornehmer Erziehung zu suchen“, hieß es da, sondern „unter dem Teile der Nation liegen sie, der von fremden Sitten und Gebräuchen und Kenntnissen noch nichts zur Nachahmung sich bekannt gemacht hat“.81 Indem Abbt die nationalen Eigentümlichkeiten der Deutschen, Franzosen, Engländer, Italiener usw. nicht in den kosmo-
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Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann, Klaus Harro Hilzinger u.a. Frankfurt a.M. 1988–2004, Bd. 2, S. 577, 568 u. 606–608. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Tle. Mit D. W. Soltau’s Beyträgen, revid. u. bericht. v. Franz Xaver Schönberger. Wien 1811, Bd. 4, Sp. 1225. Vgl. unten S. 412. Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang von Wurzbach. Leipzig 1902, Bd. 3, S. 160 (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Gedichte). Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Tle. Braunschweig 1807–1811, Bd. 5, S. 435; vgl. Goethe, Werke, Bd. 8, S. 470 bzw. Bd. 12, S. 385 („Aus Makariens Archiv“; „Maximen und Reflexionen“). Zit. nach Paul Kluckhohn (Hg.): Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Berlin 1934, S. 1. Zu dem Komplex insgesamt vgl. zuletzt Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000.
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politisch orientierten Bildungsschichten zu finden versuchte, sondern in der untersten Gesellschaftsschicht, eben dem gemeinen Volk, setzte er eine Aufwertung des Begriffs in Gang, die in dem emphatischen Volksbegriff der sogenannten „deutschen Bewegung“ gipfelte und „Volk“ jeder sozialen Konnotation entkleidete. Um 1800 hat der Begriff des „Volks“ ebenso viel oder wenig mit dem realen „Volk“ zu tun wie der „bon sauvage“ mit den Eingeborenen irgendwelcher Südseeinseln. Am Ende ist der Begriff in der völkischen Bewegung, der legitimen Erbin der deutschen Bewegung, derart sentimentalisiert worden, dass Brecht vorschlug, „eine Zeitlang nicht mehr vom Volk“ zu reden, sondern nur noch von der „Bevölkerung“.82 In meinem Zusammenhang ist diese Bezeichnung freilich nicht zu gebrauchen, weil dabei die für die Zeit vor 1789 wichtige Bedeutungskomponente des an der Herrschaft nicht beteiligten niedrigen Standes wegfiele. Also wird im Folgenden, gegebenenfalls näher eingegrenzt, der Terminus „Volk“ ohne Anführungszeichen in der schon oben skizzierten Bedeutung des Ancien Régimes („das gemeine Volk, der große Haufe, gemeine Leute, die untersten Classen im Staat“)83 gebraucht. Im Übrigen darf man sich unter dem Volk kein homogenes Kollektiv vorstellen. Es war dies weder in der historischen Realität noch in der Literatur jemals. Gelegentlich wurden die verschiedenen Volksfiguren in einem Stück scharf kontrastiert, so wie etwa in Jakob Michael Reinhold Lenz’ Jugenddrama Der verwundete Bräutigam (1766), wo dem rebellischen Tigras der konforme Gustav gegenüber steht. Baron Schönwald hat seinen Diener Tigras geprügelt und wird vor dessen Rache aus gekränkter Ehre gewarnt; doch er antwortet: „Rächen! Er sich an mir rächen! Das ist lächerlich“ (I/8).84 Schönwalds Ansicht, dass ein Diener sich rächen wolle, sei lächerlich, war die gewöhnliche Meinung in der Oberschicht des Ancien Régime, die Leuten aus dem Volk gern jedes Ehrgefühl absprach, obwohl es gerade die gekränkte oder verletzte „Ehre“ ist, die Einzelne oder Viele aus dem Volk zum Widerstand gegen ihre Unterdrücker reizte, wie die neuere historische Forschung weiß.85 Dass dem so ist, ließ sich auch schon bei Shakespeare lernen: 82 83 84 85
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Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hg. v. Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1982, Bd. 20, S. 313. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1225. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Frankfurt a.M. 1992, Bd. 1, S. 18. Vgl. Farge: Das brüchige Leben, S. 28f.: „Jenseits des sehr klaren populären Bewußtseins, zum gemeinen Volk zu zählen, d.h. zu einer unterschiedslosen Menge, Objekt königlicher Machtentfaltung, liegt ein anderes Bewußtsein, das Bewußtsein, einen Raum zu besetzen, den Raum eines inneren Dialogs mit sich selbst, der ermöglicht, sich voneinander zu unterscheiden, einen Namen zu tragen, einen Rang und Platz einzunehmen, die den Einzelnen in den Augen des Quartiers existieren lassen. Wenn man jedoch die Chronisten und Memoirenautoren liest, scheint das Volk kaum so etwas wie Ehre zu besitzen: auf seiner Unterwerfung gründet sich die Ehre der Großen; man streitet ihm die Ehre ab, weil man es immer als gesichtslose Masse sieht und nicht als denkendes Subjekt betrachtet. Die Realität sieht anders aus, sie bildet innerhalb der Unterschichten zahlreiche, subtile Abstufungen und schafft zwischen den zu ihnen gehö-
Der gute Name, ist bei Mann und Frau, Mein bester Herr, Das eigentliche Kleinod ihrer Seelen. Wer meinen Beutel stiehlt, nimmt Tand… ’s ist etwas Und nichts! … mein war es, ward das Seine nun, Und ist der Sklav’ von Tausenden gewesen. Doch wer den guten Namen mir entwendet, Der raubt mir das, was ihn nicht reicher macht, Mich aber bettelarm.86
Auch in Lenz’ Drama besteht der rebellische Bediente Tigras darauf, eine „Ehre“ zu haben, die ihn bei aller Ungleichheit des Besitzes als Mensch doch seinem Herrn gleich mache: Bin ich denn ein Hund, daß ich mich zu seinen Füßen krümmen soll? – Ich diene nicht bloß um Geld. Ich diene ehrenhalber. – Nimmt mir mein Herr meine Ehre, so nimmt er mir alles. […] Ich bin ein freier Mensch. Sein Geld unterscheidet ihn bloß von mir (I/5).87
Gustav, der als treuer Diener das Weltbild seines Herrn verinnerlicht hat, empfindet schon dies als ungeheuerlichen Angriff auf die herrschende Sozialordnung: Das kann nie gut gehn. – Der Mensch wird zu unbändig. […] – Wie er auf seine Ehre pochte! Der Kerl wird zuletzt gar über die übrigen Bedienten herrschen wollen. – Gedemütigt muß er werden. – Sobald die Gäste weg sind, will ich’s dem Herrn sagen (I/6).88
Dass sein Kollege auf „seine Ehre pochte“, ist Gustav ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Tigras Herrschgelüste habe, denn er teilt die Meinung seines Herrn, dass nur Leute von Stand eine Ehre haben können. Im Unterschied aber zu seinem Herrn findet Gustav einen auf seine Ehre pochenden Diener nicht lächerlich, sondern gefährlich und schätzt damit seinen Standesgenossen richtiger ein. Tigras nämlich verübt in der nächsten Nacht mit dem Argument: „Es ist meine Pflicht, meine Ehre zu retten – und sollte ich auch selbst darüber unglücklich werden“ (II/1),89 einen Mordanschlag auf den Baron Schönwald.90
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renden eine ganze Reihe von heimlichen Einverständnissen, Gegensätzen und Konflikten, bei denen es oft um das lebenswichtige Problem der Ehre und des guten Rufs geht.“ William Shakespeare: Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 17578f. (Othello III/3, V. 155ff.); im Original ebd., S. 5131: „Good name in Man, & woman (deere my Lord) / Is the immediate Iewell of their Soules; / Who steales my purse, steales trash: / ’Tis something, nothing; / ’Twas mine, ’tis his, and has bin slaue to thousands: / But he that filches from me my good Name, / Robs me of that, which not enriches him, / And makes me poore indeed.“ Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 1, S. 15. Ebd., Bd. 1, S. 16. Ebd., Bd. 1, S. 19. Nach 1789 hätte Baron Schönwald seinen lebensgefährlichen Irrtum, den Zorn eines gekränkten Bedienten für lächerlich statt für gefährlich zu halten, nicht mehr begehen können, ohne selbst zur lächerlichen Figur zu werden. Vor der Revolution aber ist es eine gängige Ansicht, dass Leute aus dem Volk lächerlich und ungefährlich seien. Man hielt sie in der Aufklärung gern für – wenn man Glück hat: „gutmütige“ – „Tölpel“ (Lessing: Werke, Bd. 1, S. 703). Die
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So verschieden wie die beiden Diener Tigras und Gustav in Lenz’ Stück sind die Volksfiguren und auch verschiedene Volkskollektive in den Dramen der Frühen Neuzeit. Insofern sind Fragen nach dem Wesen des Volks als dramatis figura an und für sich verfehlt.91
Gang der Untersuchung Die in meiner Arbeit untersuchten Texte entstammen fast alle dem literarischen Theater des 16. bis 18. Jahrhunderts, das zwar im Bewusstsein der zeitgenössischen Intellektuellen wie der heutigen Literaturgeschichtler eine bedeutende Rolle spielte und spielt, doch in Wahrheit das Verständigungsmedium einer recht kleinen Schicht war. Noch 1784 war für Johann Pezzl zum Beispiel das „literarische“ Drama nur eine, vielleicht sogar marginale Form im Theaterbetrieb, wenn er definiert: „Unter den Komödien begreife ich alle weltliche und geistliche Schauspiele. Dazu gehören Gaukler, Taschenspieler, Seiltänzer, Marionetten, Komödien, Tragödien, Charfreitagsprozessionen, Mirakelwirkereien etc. etc. etc“.92 Dennoch ge-
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Ansicht, Unterschichtler seien nicht ernst zu nehmen, ist selten so deutlich als Herren-Meinung markiert wie bei Lenz oder Christian Weise (Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 584), der die Titelgestalt seines Stücks Die boßhafte und verstockte Prinzessin Ulvilda aus Dennemarck (1685) vermuten lässt, ihre Kammerzofe (sie nennt sie „ein unverständig Thier“) wisse wegen ihres niedrigen Stands nicht, was Liebe sei, worauf diese zu Recht beleidigt, „ad spectatores“ gewandt, erklärt (IV/7): „Ja Qvarckkäße, gemeine Leute seyn auch nicht Narren, sie verstehen sich wohl so gut auf den Handel, als Fürstliche Personen“. Das Wesen der dramatis figura ‚Volk‘ zu bestimmen, war Schlaffers Anliegen in ihrer Studie Dramenform und Klassenstruktur (Stuttgart 1972). Sie definierte es als „Fähigkeit, sich und seine Umwelt und Situation zu kommentieren und zu reflektieren“ (S. 107), woraus sie eine utopische politische Kraft ableitete: das Volk tendiere „zur Revolution. Die Aktivität von Volk ist grundsätzlich-politisch. Das Forum des Theaters ist seiner Darstellung daher angemessen. […] Volk handelt nie zur Verteidigung von Normen, sondern nur im Kampf um Zukünftiges.“ (S. 108f.). Schlaffer ging von einer im Grundsatz einsinnig gerichteten Entwicklung sowohl literarischer wie gesellschaftlicher Phänomene aus und hielt literarische Werke für „Realabstraktionen“ des „gesellschaftlichen Seins“, also für Erscheinungen des „Verblendungszusammenhangs“, der dafür verantwortlich sei, dass der Spätkapitalismus noch immer leidlich funktioniere, obwohl er von Marx wegen schon an seinen Widersprüchen hätte zerbrechen müssen. Die „formgenetische Analyse“ der literarischen Werke helfe die „Widersprüche und Illusionen“, die die bürgerliche Gesellschaft am Leben erhielten, zu „enthüllen“ und sei somit ein Beitrag zu deren Überwindung, meinte Schlaffer (S. 6f.). Die solcherart zu einem nachrangigen Überbauphänomen gemachte Literatur musste sich gefallen lassen, allen materialistischen Phrasen zum Trotz auf das Prokrustesbett eines geschichtsphilosophischen Idealismus gespannt zu werden. Schlaffer untersuchte Dramen von Goethe bis Brecht. Die Studie gipfelte in der absurden Behauptung, bei Hauptmann und Brecht sei „die fiktive Gestalt [‚Volk‘] an ihr Ende gekommen, da sie den sozialen Gehalt, den sie bisher poetisch nur umspielte, ganz getroffen und zur Darstellung gebracht“ habe (S. 109). Zit. nach Reinhart Meyer: Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12 Bde. Hg. v. Rolf Grimminger. 2., durchges. Aufl. München 1984, Bd. 3, S. 186–216, hier S. 186; vgl.
hört das literarische Drama auf Grund seiner Schriftlichkeit zu dem zentralen Ort der Ideologieproduktion der beiden in Frage stehenden Jahrhunderte, so dass es sowohl für die Zeitgenossen als auch für die Nachgeborenen die anderen, quantitativ bedeutsameren Bereiche des Theaters zu überlagern, ja zu dominieren im Stande war. Daher ist die Beschränkung auf das literarische Drama in einer Arbeit, die literatur- und ideologiegeschichtliche Fragestellungen verfolgt, legitim. Der Reigen der folgenden Studien wird eröffnet, indem ich die Voraussetzungen für die Darstellung des Volks in der dramatischen Literatur benenne: Die (Neu-) ‚Erfindung‘ des historischen Dramas im Humanismus um 1500; die Möglichkeit, damit auf die zeitgeschichtlichen Herausforderungen zu reagieren (zum Beispiel auf den Bauernkrieg, der in einem herausragenden Stück des aus Hessen stammenden, in Köln lehrenden Hermann Schotten schon 1526 zum Thema wurde); die überlieferten und neu begründeten Topoi der Rede über das Volk in Literatur und Philosophie; sowie eine enzyklopädische Reflexion auf den Aufstand des Volks im 17. Jahrhundert. Der Aufruhr war in der Frühen Neuzeit nahezu die einzige Möglichkeit für die Unterschichten, als politisches Subjekt in Erscheinung zu treten. Dies reflektierten die Dramatiker der Zeit natürlich, und ich will die Untersuchung der Möglichkeiten dazu im 18. Jahrhundert durch die Präsentation ausgewählter Beispiele aus der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts vorbereiten. Dabei zeigt sich, dass kein ernstzunehmender Dramatiker – gleich welcher ästhetischen Schule er angehörte – das Phänomen des revoltierenden Volks ignorierte oder die Möglichkeiten dieses Motivs in einem politisch-historischen Schauspiel verschenkte. Ich zeige dies an ausgewählten Beispielen von Shakespeare, Calderón, Masen, Corneille, Racine und Lohenstein, also den anerkanntesten Autoren des literarischen Kanons ihrer Zeit. Ein kurzer Blick auf die historisch-politische Gebrauchsdramatik, die an den Höfen des ausgehenden 17. Jahrhunderts in Deutschland entstand, leitet über zu einer ausführlichen Untersuchung der Volksdarstellung in den Dramen Christian Weises, der nicht zu Unrecht um 1700 als præceptor Germaniæ verehrt wurde. Seine Dramen schließen sich insgesamt zu einer comedia politica zusammen, in der die zeitgenössische Welt umfassend repräsentiert ist. In diesem frühaufklärerischen Welttheater par excellence spiegelt sich das eklektizistische Zeitbewusstsein um 1700 in einer sonst kaum zu findenden Vollständigkeit und Vielfältigkeit ab, weil Weise unbekümmert um epistemische Brüche versuchte, die politische Welt seiner Zeit in ihrer ganzen verwirrenden Polyphonie wiederzugeben. Alle Facetten der Volksdarstellung, wie sie aus dem 17. Jahrhundert bekannt sind und wie sie im 18. Jahrhundert partiell wieder aufgenommen wurden, finden sich hier vereinigt. In dem Kapitel über Weise versuche ich dies in systematischer Ordnung zu entfalten. Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1992, S. 2.
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In den folgenden Kapiteln konzentriere ich mich ebenfalls jeweils auf das dramatische Œuvre eines Autors, jedoch dem Charakter ihrer Produktion entsprechend untersuche ich die Stücke einzeln und nicht als Teile einer übergreifenden comedia politica. Den Anfang machen die drei Trauerspiele, die Johann Christoph Gottsched vorlegte und in denen er versuchte, in genauer Kenntnis der literarischen Tradition des 17. Jahrhunderts, die klassizistischen Dramenregeln mit den Anforderungen an ein politisch brisantes Theater zu versöhnen. Dies gelang ihm insbesondere in seinem dritten Trauerspiel Agis, König von Sparta auf eine geradezu mustergültige Weise, wie zu zeigen sein wird. Welche Probleme der streng geregelte Klassizismus mit dem politischen Volk allerdings grundsätzlich hatte, wird an der Gegenüberstellung von Behrmanns Timoleon und Bodmers Überschreibung desselben Stücks deutlich. Noch deutlicher wird dies in der Untersuchung der Dramenfragmente Gotthold Ephraim Lessings, der mehrfach versuchte, auch politische Phänomene wie das aufrührerische Volk in seine Dramatik zu integrieren, ohne dass ihm dies auch nur einmal zufriedenstellend gelungen wäre. Lessings gedankliche Strenge ließ es nicht zu, durch irgendwelche ideologischen Tricks oder ästhetische salti mortali eine dramatische Einheit zu prätendieren, die nicht durch ein gleichsam mathematisches Kalkül in jedem Punkt gerechtfertigt gewesen wäre. Entgegen seinen theoretischen Anstrengungen, die klassizistischen Dramenregeln in ihrer Verbindlichkeit zu erschüttern, blieb Lessing ihnen praktisch weit mehr verpflichtet als üblicher Weise angenommen wird. Da für ihn aber der Gegenstand des Trauerspiels nicht mehr nur ausschließlich die Sphäre der Politik war, ja, weil er aus wirkungsästhetischen Gründen von der Politik sogar ausdrücklich Abstand nahm, scheiterte er in den wenigen Fällen, wo er private Schicksale und Staatsinteresse zu verknüpfen trachtete, jedes Mal an den Aporien seiner Weltanschauung. Unbekümmert um alle klassizistischen Regeln revitalisierte Johann Jakob Bodmer in Zürich ein Theater, dessen Zweck allein die politische Unterweisung war. Bodmer arbeitete allerdings zielgruppenbewusst, d.h. er präsentierte der allgemeinen Öffentlichkeit des Deutschen Reiches nicht die gleichen Probleme wie dem engeren Kreis republikanisch gesinnter Freunde und Gesinnungsgenossen, die er mit Dramen versorgte, die in ihrer ambivalenten Faktur an die besten Beispiele politischer und historiographischer Polyphonie der Frühen Neuzeit heranreichen. In der Forschung war dies bisher noch nicht bekannt, weil Bodmer diese Dramen nicht drucken ließ. Meiner Untersuchung liegen die von mir erstmals vollständig transkribierten und zur Veröffentlichung vorbereiteten Manuskripte aus dem Nachlass zu Grunde. Sie erlauben einen differenzierten Blick auf den bis heute zu Unrecht gescholtenen Dramatiker Johann Jakob Bodmer. Bodmers „pièces à tiroir“ waren Vorwegnahmen dessen, was in der Epoche des sogenannten Sturm und Drang gang und gäbe wurde, nämlich die Aufgabe der geschlossenen Dramenform zu Gunsten episodisch gebauter Stücke, in denen nicht mehr notwendig jeder Handlungsstrang mit allen anderen verknüpft sein musste, 24
woran Lessing in seinen politischen Dramen meistens scheiterte. Exemplarisch für die Dramatik der Stürmer und Dränger, auch insofern sie sich von ihren ‚wilden‘ Anfängen entfernten und einer klassischen Kunstdoktrin zustrebten, werden in den letzten beiden Kapiteln die ‚vorrevolutionären‘, d.h. vor 1789 entstandenen und gedruckten Texte von Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe untersucht. Im Sinne einer nachvollziehenden Lektüre, die streckenweise einem Kommentar gleichen mag, stelle ich die durchaus bemerkenswerte Rolle, die das Volk in den Räubern, Fiesko, Kabale und Liebe sowie Dom Karlos bzw. Gottfried von Berlichingen, Götz von Berlichingen, Egmont und Satyros spielt, dar. Wichtig für das Gelingen dieser Stücke war der Rückgriff auf frühneuzeitliche Muster, nicht unbedingt deutscher Dramen dieser Zeit, sondern der Epoche im Allgemeinen. Sowohl Schiller wie Goethe beschäftigten sich angelegentlich mit der Geschichte des 16. Jahrhunderts, beide hatten mit Shakespeare das Vorbild eines der größten Dramatiker an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert vor Augen, beide nutzten die historische Überlieferung zur ästhetischen Revolte gegen eine als kleinmütig und schwach empfundene Gegenwart. Interessant zu beobachten ist die unterschiedliche Ausprägung der Volksdarstellung in den beiden Dramen zum niederländischen Freiheitskampf, welche die beiden zum – später gemeinsam betriebenen – KlassikProjekt tendierenden Autoren Schiller und Goethe in den 1780er Jahren vorlegten: die Konventionalität des revolutionären Schiller in Dom Karlos verglichen mit der polyphonen Subtilität des Fürstendieners Goethe im Egmont. Freilich: Den großartigsten Hymnus auf das Volk als revolutionäres Subjekt sang Schiller in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. Die in diesem Band versammelten Studien sind so angelegt, dass sie sich alle einzeln lesen lassen und einen in sich geschlossenen Text bieten. Verknüpft werden sie – außer durch die gelegentlich in den Anmerkungen gegebenen Verweise auf andere Teile des Buchs – auch durch einige wiederholte gedankliche Motive oder Belege, die ich mit Bedacht mehrfach anführe, eben um die Geschlossenheit auch der einzelnen Kapitel zu gewährleisten. Dass die Kapitel nicht in der Art einer linearen Erzählung aufeinander aufbauen, sondern gewissermaßen in Form eines dreidimensionalen Polyeders miteinander verknüpft sind, ergibt sich aus meinem Ansatz der „diskontinuierlichen Literaturgeschichtsschreibung“,93 mit dem ich der Einsicht Rechnung trage, dass die Kunst überhaupt, und damit natürlich auch die Literatur, keine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte kennt, sondern geprägt ist von Diskontinuitäten (Brüche, Sprünge, Wiederaufnahmen, nicht notwendig bewusst), ohne dass ein Ziel der Geschichte erkennbar wäre. Daraus folgt, was das Vorgehen im Einzelnen betrifft, dass hier keine deduktiven Lektüren geliefert werden, bei denen literarische Texte zu Belegen einer metaliterarischen These oder, noch schlimmer, zu Illustrationen etwelcher Theoreme oder Theorien degradiert werden. Mein Vorgehen ist durchweg induktiv; zunächst gilt es, das literari93
Vgl. Arnd Beise: Marats Tod 1793–1993. St. Ingbert 2000, S. 12–16.
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sche Werk im Einzelnen zu verstehen, bevor von dem primären Text ausgehend die Paratexte und Kontexte zur literarhistorischen Situierung der Befunde herangezogen werden. Für eine Untersuchung literarischer Texte der Frühen Neuzeit ist es noch immer ein ungewöhnliches Verfahren, die Dramen nicht als Produkte poetologischer Maximen zu lesen, sondern als vortheoretische ‚Versuche‘, mitunter gar als Medien der Theoriebildung in kultureller (anthropologischer, politischer, ästhetischer) Hinsicht. Mein Ehrgeiz ist dabei nicht, die Literaturgeschichte umzuschreiben, neu zu periodisieren oder die Texte theoretisch auf allgemeine Thesen zur Frühen Neuzeit festzulegen, die ohnehin schon bekannt wären. Vielmehr geht es um eine möglichst genaue, im Sinne der Cultural Poetics: „dichte“,94 und nicht von theoretischen Vorannahmen verblendete Lektüre mitunter sogar recht bekannter Dramen, durch die bislang übersehene Facetten dieser Texte zum Vorschein kommen. Immerhin handelt es sich bei den vorliegenden Studien um die erste umfassende Abhandlung zur dramatischen Volksdarstellung in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit und überhaupt um die erste, die die dramatis figura ‚Volk‘ nicht auf das Prokrustesbett einer teleologisch-entelechetisch orientierten Geschichtstheorie spannt.
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„Thick Description“ lautete die von Clifford Geertz geprägte Formel für kultursemiotische Analyseverfahren, die das Gewebe der Kultur kontextuell begreifen und daher auch in der Beobachtung von Randphänomenen die Episteme einer Epoche aufdecken können, ohne zu Verallgemeinerungen von großer Reichweite greifen zu müssen. Geertz’ ethnographischer Ansatz wurde im New Historicism für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht (vgl. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt a.M. 1995; Hartmut Böhme, Peter Matussek u. Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek 2000).
Drama und theatralische Volksdarstellung im 16. und 17. Jahrhundert
ȋȅ. ȕĮȡİϧĮ į' ΦıIJЗȞ ijȐIJȚȢ ȟϿȞ țȩIJУ įȘμȠțȡȐIJȠȣ į' ΦȡκȢ IJȓȞİȚ ȤȡȑȠȢ. ǹī. ijȒμȘ Ȗİ μȑȞIJȠȚ įȘμȩșȡȠȣȢ μȑȖĮ ıșȑȞİȚ. (Aischylos: Agamemnon)1
Wie Peter Burke in seinem Buch Popular Culture in Early Modern Europe aus dem Jahr 1978 gezeigt hat, gab es zwischen 1500 und 1800 in Europa eine grundsätzliche Dissoziierung von Oberschicht und ,Volk‘. Um 1500 verachteten die Oberen das ,gemeine Volk‘, aber sie hatten noch Teil an seiner Kultur. Innerhalb dieses Prozesses wäre noch einmal die Sonderrolle der Gelehrten genauer zu betrachten. Verallgemeinernd lässt sich wohl sagen, dass ihre anfängliche Bindung an die machthabende Oberschicht ebenfalls nachließ, so dass sich allmählich ein weiterer ,Stand‘ zwischen den traditionellen Geburts-Eliten und dem ,Volk‘ herausbildete.2 Die kulturelle Orientierung an der Oberschicht machte aber für diesen Stand im gleichen Maße, wie sich die Verbindung zur Macht lockerte, eine soziale Abgrenzung auch nach unten notwendig. Die fundamentalistische Neuausrichtung der nunmehr moralisch begründeten und nicht mehr an pragmatischer Teilhabe orientierten Politica musste, wenn sie den Anspruch erringen wollte, für den Menschen überhaupt und nicht für Parteien sprechen zu wollen, sich von der aristokratischen wie popularen Kultur gleichermaßen distanzieren. In der politischen Geschichte Frankreichs führte dies bekanntlich zu der Anbindung eines zunächst akademischen Interesses an die soziale Wirklichkeit des inzwischen schärfer konturierten bürgerlichen Mittelstandes, was letztlich 1789 in 1
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Aeschyli Tragoediae cum incerti poetae Prometheo. Ed. Martin L. West. Stuttgart 1990, S. 214 u. 236 (̝ȖĮμȑμȞȦȞ, V. 456f. u. 938). In der durch „Doppel- und Dreifachübertragungen“ sich auszeichnenden Übersetzung von Peter Stein, die den „verschiedenen Lesarten und unterschiedlichen Interpretationen“ Rechnung tragen wollte und die „dem Sinn des aischyleischen Textes näher ist und seine gedankliche Komplexität vollständiger und eindringlicher entfaltet als jede andere deutsche Übersetzung“, wie Bernd Seidensticker meinte, lesen sich die Verse so: „Schwer wiegt die Stimme / der erbitterten Bürger. / Gefährlich ist der Volkszorn. / Wer den Volkszorn nicht achtet, / verfällt seinem Fluch. / Das Volk verlangt Buße. / Wer sie nicht zahlt, / verfällt seinem Fluch. […] Die öffentliche Meinung / ist eine große Macht. / Die Stimme des Volkes / fällt schwer ins Gewicht.“ (Die Orestie des Aischylos. Übers. v. Peter Stein. Hg. v. Bernd Seidensticker. München 1997, S. 35 u. 57 sowie S. 227 u. 223.) Vgl. Philippe Ariès / Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 5 Bde. Frankfurt a.M. 1989–1993, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Hg. v. Philippe Ariès und Roger Chartier. Dt. v. Holger Fliessbach u. Gabriele Krüger-Wirrer. Frankfurt a.M. 1991, S. 14: „Die […] Phase […] vom 16. bis zum 18. Jahrhundert […] ist gekennzeichnet durch die Etablierung mittlerer Schichten, die weder dem Hof noch dem einfachen Volk zugehörten.“
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die Epoche machende Behauptung des Abbé de Sieyes mündete, dieser ,dritte Stand‘ oder „tiers état“ vertrete eigentlich das allgemeine Interesse. Dazu mag beigetragen haben, dass auch schon zu Zeiten von Ludwig XIV. „die politische Wirklichkeit“ nie „ganz in Einklang mit der absolutistischen Lehre“ stand,3 und dass hier auch schon sehr früh neue gesellschaftspolitische Interessen mit der Entwicklung neuer literarischer Formen parallel gingen – man denke etwa an den Roman bourgeois (1666) von Antoine Furetière oder an die Diskussionen, die noch die Romane von Pierre Carlet de Marivaux in den 1730er Jahren auslösten. In den deutschsprachigen Ländern gab es die Engführung von intellektuellen, sozialen und politischen Interessen oder Ideologemen mit literarischen Formen so nicht. Hier blieb die dramatische Form während des 18. Jahrhunderts die vornehmste Gattung der in literarische Darstellung überführten Reflexion, und auch der Anspruch, als Angehöriger einer ,bürgerlichen‘ Mittelklasse für das Ganze sprechen zu dürfen, wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts offensiv formuliert, obwohl er subkutan schon die ganze Zeit spürbar war. Dass es auch in Deutschland schon früh die angesprochene Notwendigkeit und das Bedürfnis gab, sich sozial nach unten abzugrenzen, wird im Laufe der folgenden Ausführungen deutlich werden. Interessant ist immerhin, dass erst im sogenannten Sturm und Drang die Differenzierung von Volk und Pöbel auch theoretisch explizit wurde.4 Und es blieb Hegel vorbehalten, diese Differenz politisch zu definieren, indem er den Mittelstand (in Verlängerung seines berüchtigten Satzes, dass das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich sei)5 gleichsam wieder an das Interesse der kulturell usurpierten Obrigkeit knüpfte, wenn er behauptete, dass man den „Pöbel“ dadurch vom „Bürger“ unterscheiden könne, dass jener immer das Gefühl habe, alles „was im Interesse der Regierung und des Staates geschehe“, richte sich gegen „das Interesse des Volkes“, während dieser aus Erkenntnis oder Verantwortung zu Recht mit dem Staats-Interesse, das als allgemeines Interesse hypostasiert wurde, konform gehe und das Interesse des gesamten Volkes – nunmehr im Sinne von Nation – mit seinem identifiziere.6 Um 1800 war die kulturelle Oberschicht der populären Kultur schon so weit entfremdet, dass sie die Popularkultur als exotische Anregung nicht nur wieder
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Martin Göhring: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich (vom Mittelalter zu 1789). 2. Aufl. Tübingen 1947, S. 117. Vgl. Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang von Wurzbach. Leipzig 1902, Bd. 3, S. 19: „Unter Volk verstehe ich nicht Pöbel“ (Von der Popularität der Poesie, 1784). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969–1979, Bd. 7, S. 24; Bd. 8, S. 47 (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, „Vorrede“; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817, „Einleitung“ § 6). Ebd., Bd. 4, S. 477 (Heidelbergische Jahrbücher der Literatur 1817, Nr. 66–69 u. 73–77: „Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816“).
ernst zu nehmen begann, sondern sogar anfing, „das ,Volk‘ zu bewundern, das diese seltsame und so andere Kultur hervorgebracht hatte“.7 Zwischen Aufklärungsgelehrten und der Volkskultur entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur ein fruchtbarer Austausch, sondern schließlich sogar eine „elektrisierende Spannung“.8 Was dazwischen geschah, will ich im Folgenden darstellen, und zwar anhand der dramatischen Literatur. Die dramatische Literatur und besonders die Tragödie behauptete seit der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert hinein eine prioritäre Stellung im poetologischen Gattungsgefüge.9 Hier ging es um das Ganze; und wer als politischer Literat sich profilieren wollte, musste mindestens einmal in dieser Gattung brillieren.
Geschichtsdrama als Voraussetzung des politischen Schauspiels Die Voraussetzung dafür schuf allerdings erst die Neu-Erfindung des historischpolitischen Schauspiels in der Renaissance,10 zum gleichen Zeitpunkt, als die Politik anfing, sich von der Religion zu emanzipieren. Auch die Geschichte war zuvor keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern im Rahmen des Triviums der Rhetorik zugeordnet. Wenn sie nicht der bloßen Übung der (lateinischen) Ausdrucksfähigkeit diente, so stand sie im Dienst der Verherrlichung Gottes. Sie war dem heilsgeschichtlichen Geschehen untergeordnet, was letztlich auf eine Enthistorisierung der Geschichte hinauslief: Für Gott existierte Zeit nicht, und Ziel des
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Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Hg. v. Rudolf Schenda. München 1985, S. 299. Roy Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung. Übers. v. Ebba D. Drolshagen. Berlin 1991, S. 63. Vgl. Conrad Celtes: Ars versificandi (zit. nach David E. R. George: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. München 1972, S. 48); Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Stuttgart 1968ff., Bd. 2, S. 431; Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bde. Hg. v. Joachim Birke bzw. P. M. Mitchell. Berlin 1968–1987, Bd. 9.2, S. 494; Lessing an Nicolai, 26. Mai 1769 (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001, Bd. 11.1, S. 610); Hegel: Werke, Bd. 15, S. 474; Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988, Bd. 1, S. 335; Friedrich Hebbel: Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u.a. München 1963–1967, Bd. 1, S. 307 sowie Bd. 3, S. 545 u. 582. Noch Joachim Camerarius (De Tragico Carmine, 1534; zit. nach George: Deutsche Tragödientheorien, S. 61) meinte: „Argumenta autem Tragoediarum quae quasi materia sunt, non modo à veritate, sed etiam similitudine veri abhorrent“ („Die Fabeln der Tragödien aber, gewissermaßen ihr Stoff, sind nicht nur von der Wirklichkeit, sondern auch von einer Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit weit entfernt“). Dagegen beobachtete ein gutes halbes Jahrhundert später Jacobus Pontanus (Institutio Poetica, 1594; zit. nach ebd., S. 76), dass „tragoediae argumentum saepius […] ab historia […] petitur“ („die Tragödie ihren Stoff häufiger aus der Geschichte […] holt“).
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Menschen war es, schon im Diesseits der göttlichen Allgegenwart möglichst teilhaftig zu werden.11 Das Drama des Mittelalters war unter solchen Bedingungen natürlich auch nicht an der politischen oder historischen Realität um ihrer selbst willen interessiert. Ohnedies war das Theater im frühen Christentum dem grundsätzlichen Verdacht ausgesetzt, den Seelenfrieden der Gläubigen zu gefährden und wurde von den Kirchenvätern auf das Schärfste bekämpft. An die Stelle äußerlicher Spektakel sollte ein inneres Seelentheater treten, das weder mit dem antiken noch dem modernen Drama eine Verwandtschaft aufwies.12 Erst etwa ab dem späten neunten Jahrhundert entstand ein genuin christliches Schauspielwesen, das sich aus dem kirchlichen Festkalender ergab (Weihnachts-, Oster- oder Fronleichnamsspiele; gelegentlich Heiligen- und Legendenspiele). Auch die im emphatischen Sinn als Dramen zu bezeichnenden Stücke von Hrotsvit von Gandersheim (ca. 935 bis nach 973), die vermutlich als Lesedramen intendiert waren und möglicherweise niemals aufgeführt wurden, blieben „Legendendramen“,13 die nach dem formalen Vorbild des Terenz entstanden, aber dessen ,Schamlosigkeiten‘ für den Unterricht durch erbaulichere christliche Inhalte ersetzten. Überdies stand Hrotsvit allein: „sie übte damit keine Wirkung aus“.14 Für die geistlichen Spiele galt insgesamt, dass sich Zuschauer und Spielende „im dienst Gotts bsamlett“ hätten, wie es im Luzerner Osterspiel (V. 106) heißt. Noch viel später entstanden die weltlichen Spiele (Fastnachtsspiele etc.), die in der städtischen Festkultur verankert waren. Über ihre Entstehung ist nichts bekannt, allein im 15. Jahrhundert waren sie schon weit verbreitet. Ihre thematische Spannweite war „nahezu unbegrenzt“, wie Erika Fischer-Lichte sehr allgemein feststellte, doch hauptsächlich waren sie karnevalsgemäß „auf Intensivierung der Lebensfreude aus“, oder konkreter: Es ging „um Fressen und Saufen und eine entsprechend ungeheure Ausscheidung […] und immer wieder ums Kopulieren.“ Es gehörte zu den Lizenzen des Karnevals, alles mögliche Unbotmäßige und Anstößige heraus zu lassen, und das konnte auch die politische Gegenwart betreffen. Also wurde vereinzelt „im Fastnachtsspiel auch eine allgemeine gesellschaftliche Kritik im Sinne einer Zeitsatire geübt.“ Zum Beispiel knüpfte der Nürnberger Büchsenmacher Hans Rosenplüt (ca. 1400–1473) in Des Turken Vasnachtspil 11
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Vgl. ausführlicher Arnd Beise: Die eine Göttin, die wir noch gelten lassen können. Über das historische Verhältnis von Erinnerung, Gedächtnis und Geschichte. In: Handlung Kultur Interpretation 12 (2003) H. 1, S. 119–140, hier bes. S. 123. Vgl. Jörg Jochen Berns: Inneres Theater und Mnemonik in Antike und Früher Neuzeit. In: Christina Lechtermann u. Carsten Morsch (Hg.): Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Bern 2004, S. 23–43. Fidel Rädle: Hrotsvit von Gandersheim. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, 10 Bde. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 1: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur 750–1320. Hg. v. Ursula Liebertz-Grün. Reinbek 1988, S. 84–93, hier S. 90. Karl Langosch: Nachwort zu Hrotsvitha von Gandersheim: Dulcitius / Abraham. Zwei Dramen. Übers. u. hg. v. dems. Stuttgart 1964, S. 60.
(1455) „an aktuelle politische Ereignisse an und kritisierte die allgemeine Rechtsunsicherheit sowie die Unfähigkeit von Kirche, Kaiser und Reich, der Türkengefahr erfolgreich zu begegnen“.15 Gleichwohl blieb es vorerst bei einer relativ allgemeinen Gesellschaftskritik in komödiantischem Kleid und das historische Trauerspiel noch unbekannt. Geschuldet ist dies dem jahrhundertelangen Verlust der antiken Überlieferung. Die Poetik des Aristoteles war dem gesamten Mittelalter allenfalls indirekt oder durch Hörensagen bekannt; eine erste Teilübersetzung erschien 1481. Die beiden einzigen überlieferten Geschichtsdramen der Antike, nämlich Aischylos’ Perser und die dem Seneca zugeschriebene Octavia, erschienen im Druck erst 1484 (Octavia) bzw. 1518 (Perser), was natürlich nicht heißt, dass sie in Humanistenkreisen nicht schon vorher mitunter abgeschrieben und diskutiert wurden; sie waren aber nicht allgemein zugänglich und blieben das Arkanwissen Einzelner.16 Am Ende des 15. Jahrhunderts war ein zeitgeschichtlich interessiertes politisches Trauerspiel noch eine solche Seltenheit, dass Jacob Locher, genannt Philomusus (1471–1528), der ,Vater des humanistischen Dramas‘ in Deutschland, sich in der Vorrede zu einer Aufführung seiner 1497 erstmals gedruckten Tragedia de Thurcis et Suldano („Tragödie von den Türken und vom Sultan“) an der noch sehr jungen Freiburger Universität ausdrücklich rechtfertigen zu müssen glaubte. „Gerunzelter Stirn und verfinstertem Blick“ der gelehrten Versammlung zum Trotz wolle er „eine bisher bei uns Deutschen ungebräuchliche Dichtungsgattung eröffnen“, sagte Locher: „ein Bühnen- und Schauspiel, bei dem berühmteste Personen auftreten“, nach „Art der Tragiker“, aber ohne Verse und Pathos, sondern strikt auf die Tugend orientiert, „den Knaben als Belehrung, den Jünglingen als Lebensnorm und den Alten als glückliche Erholung und ersehnte Ruhe. Ich möchte eine nützliche Dichtung vortragen.“17 Lochers weltliche Sache in „einem sehr vergnüglichen Schauspiel“ vorzutragen, war neu. Nicht religiöse Erbauung, sondern politische Agitation war das primäre Ziel: Der Aufruf an die „Völker Europas“, zu den Waffen zu greifen, „damit wir den Ruhm unseres Namens und das Ansehen dessen, den wir bekennen, an den grausamen Feinden rächen“ (I. Akt); ein Aufruf also zu einem nur vordergründig religiös motivierten Feldzug gegen das expandierende Osmanische Reich, das zu diesem Zeitpunkt bereits den gesamten Balkan unterworfen hatte.18 15 16 17
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Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen 1993, S. 34f. Für die Einschätzung des mittelalterlichen Stands der Kenntnisse bleibt die Quellensammlung von David George (Deutsche Tragödientheorien, 1972) unverzichtbar (vgl. hier S. 15–41). Der deutsche Renaissancehumanismus. Abriß, Auswahl, Übersetzung, Anmerkungen, Zeittafel, Nachwort, Literatur- und Personenverzeichnis von Winfried Trillitzsch. Leipzig 1981, S. 236. Der lateinische Text bei Cora Dietl: Die Dramen Jacob Lochers und die deutsche Humanistenbühne im süddeutschen Raum. Berlin 2005, S. 414–447, die zitierte Vorrede hier S. 414–416. Vgl. zu dem Stück insgesamt Dietl: Die Dramen Jacob Lochers, S. 109–136; sie betonte ebenfalls, dass es Locher um die „aktuelle Weltpolitik“ ging und dass das Stück auf die „Realisierung“ seiner Anliegen „außerhalb des Theaterraums“ zielte.
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Locher machte Schule. Das humanistisch reformierte Drama wurde zu einem Medium der Geschichtslehre und Zeitpolitik. Die sozialen Unruhen zu Beginn des 16. Jahrhunderts konnten niemanden kalt lassen und erschlossen dem humanistischen Zeitstück ein neues Thema: die ,inneren‘ politischen Konflikte auch der eigenen Gesellschaft. Ein Beispiel ist das Spiel von der edlen Römerin Lucretia und dem standhaften Brutus,19 das der junge Heinrich Bullinger (1504–1575) zwischen 1523 und 1528 als Lehrer an der Klosterschule zu Kappel verfasste.20 Zwar behauptet der „Proclamator“ in dem Epilog des Stücks, dass es keinerlei Gegenwartsbezug habe, sondern lediglich eine zweitausend Jahre alte Geschichte neu darstelle,21 doch ist natürlich das Gegenteil wahr, wie Jakob Baechtold bereits feststellte: Der „Gegenstand“ bot eine „große Aehnlichkeit mit damals obschwebenden Zeitfragen, namentlich mit der Zwinglischen Idee von der Gründung eines christlichen Staates.“ Das Stück habe „eine große politische Absicht und Bedeutung“ gehabt; es sollte „im Sinne der Reformation die Gemüter zur gedeihlichen Aufnahme einer neuen religiösen und politischen Aussaat vorbereiten“. Insbesondere „die scharfe Betonung der Einigkeit zwischen Stadt und Land ist für die damaligen Züricher Verhältnisse bezeichnend und unumgängliches Erfordernis zur Neugestaltung von Staat und Kirche“.22 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Bullinger über seine Quellen23 hinausgehend die Rolle des unterschichtlichen Volks besonders betonte. In seiner Vorrede vermerkte er eigens, dass er „ein gedicht von eim Buren hinzuogesetzt“ habe, „das weder in Liuio noch Dionisio stodt. Ist aber darumb hinzuo gsetzt, dz man inn eynem schimpff ein ernsthafft sach saehe, Naemlich, wie der Tyrannisch, Gottloß gwallt im rechten mit dem armen handle“.24 Der gewissermaßen ,private‘ Übergriff des Tarquinus Sextus (die Vergewaltigung Lucretias) schien Bullinger nicht ausreichend, die Tyrannei zu kennzeichnen; also erfand er 19
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In dem Erstdruck (Basel 1533) trägt das Stück den Titel Ein schön spil von der geschicht der Edlen Römerin Lucretiæ, vnnd wie der Tyrannisch küng Tarquinius Superbus von Rhom vertriben, vnd sunderlich von der standhafftigkeit Junij Bruti, des Ersten Consuls zuo Rhom. Neudrucke in Heinrich Bullinger / Hans Sachs: Lucretia-Dramen. Hg. v. Horst Hartmann. Leipzig 1973, S. 39–97; Schweizerische Schauspiele des sechzehnten Jahrhunderts. Bearb. durch das deutsche Seminar der Züricher Hochschule unter Leitung v. Jakob Bächtold. Hg. v. der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Bd. 1, Zürich 1890, S. 101–169. Jakob Baechtold vermutete, das Stück sei 1526 geschrieben worden, vgl. Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1919, S. 306. Bullinger/Sachs: Lucretia-Dramen, S. 95; Schweizerische Schauspiele, S. 166f. (V. 1537– 1545). Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz, S. 303 und 306f. Bullinger selbst nennt in seiner Vorrede „Zum Läßer“ das erste und zweite Buch des Titus Livius (Ab urbe condita) sowie das vierte und fünfte Buch der Antiquitates des Dionysios von Halikarnassos (Bullinger/Sachs: Lucretia-Dramen, S. 39; Schweizerische Schauspiele, S. 107); außerdem benutzte er wohl Boccaccios De claribus mulieribus (in der 1473 erschienenen Übersetzung von Heinrich Steinhöwel). Bullinger/Sachs: Lucretia-Dramen, S. 39; Schweizerische Schauspiele, S. 107.
die Geschichte des von der käuflichen Justiz betrogenen Bauern hinzu, um das Regiment der Tarquinier als Unrechtsregime zu brandmarken. Noch weiter ging Bullinger, als er die Revolution des römischen Staats an die tätige Mithilfe der aus eigenem Antrieb hinzutretenden Landbevölkerung band. Nach dem Selbstmord Lucretias ruft Brutus auf dem Forum die Römer zur Vertreibung der Tarquinier auf, doch den Erfolg der Revolution versichert erst die freiwillige Hilfeleistung der Bevölkerung „uß der Landtschafft“, die niemand agitierte. Ihr „Houptman“ erklärt stellvertretend: Ir Edlen Römer, […] Wir kummend üch zuohelffen haer Dann wir vernon hand klaeglich maer Namlich vom Mort das bschaehen ist […] So bald wir das vernummen handt Sind wir khon, mit gantzer yl Dann vns ouch vff dem Land gar vyl Der küng inn manch waeg geplaaget hatt […] Er hat vns zarmen lüdten gmacht […].25
Für die „Burgern vom land“ ist die Schändung Lucretias also nur der Anlass, mit dem ausbeuterischen Regime der Tarquinier, die in Bullingers Stück stellvertretend für „alle Tyranny vnd Oligarchi“ stehen, aufzuräumen. Ihr Motiv ist die Wut darüber, dass der König sie um die rechtmäßige Frucht ihrer Arbeit betrog, indem er sie „zarmen lüdten gmacht“ hat. Dazu passt, dass Bullinger in dem Stück vor allem gegen die Macht des Geldes polemisierte und im Gegensatz dazu eine Gesellschaft der Freien und evangelisch Gleichen propagierte, die am Ende in der Freilassung eines Sklaven (bei Bullinger: „knecht“) und die Bürgerrechtsverleihung an ihn gipfelt, weil dieser der neuen Ordnung gemäß handelt und den Verrat, der die eben begründete Republik gefährdet, anzeigt. Als Zürcher Reformator (bekanntlich wurde er 1531 Zwinglis Nachfolger als Antistes der Zürcher Gemeinde und zementierte in seiner langen Amtszeit dort die Reformation) und Propagator einer Republik, die eine „soelche gwallt, do wenig lüdt herren vndt meyster sind“,26 nicht mehr dulden wollte, könnte Bullinger als Ausnahmeerscheinung gelten, dessen demokratische Sympathie für das gemeine Volk der schweizerischen respektive Zürcherschen Sondersituation geschuldet ist. Um so mehr sollte es interessieren, dass es auch viel weiter nördlich im Alten Reich vergleichbare Tendenzen in der dramatischen Literatur gab, und zwar auch bei Autoren, die dem Volk eher ablehnend gegenüber standen.
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Ebd., S. 57f. bzw. S. 127. Ebd., S. 40 bzw. S. 107.
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Hermann Schottennius’ Bauernkriegs-Spiel Zeitgleich mit Bullingers Stück entstand 1526 ein herausragendes politisches Schauspiel, das auch für die Frage nach der Rolle des Volks im Drama von besonderem Interesse ist, nämlich der Ludus Martius sive bellicus („Mars- oder Kriegsspiel“) aus der Feder des in Köln lehrenden Humanisten Hermann Ortman, genannt Schottennius Hessus, der „Ursprung, Verlauf und Ende des Zwiespalts umfasst, der zwischen den Bauern und den Fürsten des östlichen Deutschland im Jahre 1525 stattfand“.27 Das Spiel beginnt nach einem kurzen Prolog mit allegorischen Szenen, in denen die aus der Unterwelt entsandte Kriegsgöttin Bellona der Friedensgöttin Pax die Weltherrschaft streitig zu machen sucht. Bellona geht aus dem Disput als Siegerin hervor, weil sie den geknechteten Menschen Freiheit und Erlösung von unerträglichen Steuerlasten verspricht (Bild I bis V). In der folgenden Szene leitete Schottennius die Handlung aus dem mythologischen Rahmen über in ein ,realistisches‘ Spiel, das die Geschehnisse zum größten Teil so abbilde, wie sie geschehen seien (Widmungs-Vorrede an Georg Lauer aus Würzburg, S. 591 bzw. S. 19).28 In Bild VI sehen wir die Bauern in einer Beratung noch zusammen mit Bellona, die die Klagen der Bauern entgegennimmt und Abhilfe verspricht, so dass man ihr treue Gefolgschaft schwört. Die Bauernschaft wird repräsentiert durch einen Dorfschulzen, einen Ackerbauern, einen Weinbauern, einen in Altersarmut lebenden, ausgemusterten Soldaten und einen Tagelöhner. Die Bauern denken angesichts der drückenden Verhältnisse sogleich an Waffengewalt, doch sogar Bellona rät zunächst zu Verhandlungen und erst, sollten diese scheitern, zu Gewalt. Nachdem dieser Beschluss gefasst ist, scheidet die allegorische Figur (fast ganz, d.h. mit Ausnahme des X. Bilds, wo Bellona aber nicht mehr entscheidet, sondern nur noch die Überlegungen des Dorfschulzen externalisiert) aus der Handlung aus. Die Bauern lassen einen Herold ihre Forderungen übermitteln (Bild VII): Seid gegrüßt, großmütige edle Fürsten, seid allesamt gegrüßt! Eure Bauern wünschen euch vielfaches Heil, und sie bestellen euch durch mich als Boten und wollen euch folgendes kund und zu wissen tun: Die Lasten an großen Steuern und Abgaben, von denen sie bisher durch euch beschwert und bedrückt und beinahe zum Verhungern gebracht wurden, wollen sie nicht länger tragen, weil sie es für unrecht halten, daß die mit ihrem Schweiß erworbenen Güter in eure Kassen fließen, während sie dann im eigenen Hause daran Not leiden. Wieviel gerechter wäre es, daß ihr ihnen gäbet, als etwas von den weniger Begüterten zu verlangen. Denn dem Bedürftigen muß man geben, und nicht dem, der viel besitzt, so lehrt es die Vernunft. Deshalb bitten sie, ihr mögt eure Kassen zuschlagen und verschließen und nicht weiter Forderungen an 27
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Ludus Martius sive Bellicus continens simulachrum, originem, fabulam, & finem dissidij habiti inter Rusticos & Principis Germaniæ Orientalis. Anno. 1525 Autore Hermanno Schottennio Hesso. Köln 1526. Im Folgenden wird mit Angabe der Seitenzahl die Übersetzung von Winfried Trillitzsch in der Anthologie Der deutsche Renaissance-Humanismus (Leipzig 1981) zitiert; zusätzlich angegeben ist die Seitenzahl der von Hans-Gert Roloff herausgegebenen Schottenius-Ausgabe (Bern 1990).
sie stellen. Denn euch fernerhin etwas abzugeben haben sie nicht die Absicht, noch könnten sie es, wenn sie wollten, denn ihre Geldbeutel sind erschöpft, von euren ständigen Räubereien geleert, so daß kaum auf dem Boden ihrer Truhe noch ein winziger Pfennig übrig ist. Hierzu wünschen sie von euren Durchlauchten Antwort zu erhalten. (253f./49)
Die Bauern treten also untertänig an ihre Fürsten heran, allerdings schon mit einer anmaßenden Formel, nämlich dem „kund und zu wissen tun“, das gewöhnlich die Dekrete fürstlicher Kanzleien einleitete,29 und mit dem sie nun ihrerseits den kollektiven Beschluss des Volks bekannt machen, sich also gewissermaßen eine ihnen nicht zustehende Souveränität aneignen. Freilich bringen sie ihren Beschluss, keine Abgaben mehr leisten zu wollen, noch im Gewand einer Bitte vor, auch wenn die unausgesprochene Drohung und der Vorwurf („Räubereien“) deutlich genug sind. Bemerkenswert ist die Begründung für ihr Vorgehen: Eine Fortdauer der bisherigen Zustände sei wider die „Vernunft“. Kein Wort davon, dass es etwa unchristlich sei, dem Armen zu nehmen, um dem Reichen zu geben; vielmehr sei es ungerecht. Die Argumentationsgrundlage der Bauern jedenfalls ist eine im weitesten Sinn naturrechtliche, säkulare Erwägung, wie die fehlende Berufung auf die Evangelien oder die Bibel überhaupt zeigt, die in den historischen Verlautbarungen der Aufständischen eine große Rolle spielte. Dass Schottennius die Bauern sich nicht mehr auf das „Göttliche Recht“ berufen ließ, könnte bereits eine subtile Vorverurteilung der Aufständischen sein, noch bevor sie sich im weiteren Verlauf des Stücks durch ungerechte Übergriffe selbst diskreditieren. Die ausschließliche Berufung auf die Vernunft und innerweltliche Empirie wurde zu jener Zeit oft mit Gottlosigkeit assoziiert, wie ich an anderer Stelle bereits dargestellt habe.30 Dennoch müssen wir die Argumentation der Bauern insofern aber auch ernst nehmen, als der Kampf um eine ,vernünftige‘ Weltordnung zu den zentralen Zielen der humanistischen Gelehrten nicht nur des 16. Jahrhunderts gehörte und die Liaison zwischen Gelehrtenrepublik und absolutistischem Fürstenstaat eine Angelegenheit des 17. Jahrhunderts war, an die Schottennius nicht dachte. Der Konflikt wird in dem Drama jedenfalls nicht als religiöser eingeführt, sondern primär als sozialer und juristischer. Vielleicht erschien Schottennius diese Ebene auch schon wesentlicher zu sein als die religiöse. Historisch markierte der Bauernkrieg einen „Wendepunkt“ bei der „Legitimation bäuerlicher Erhebungen“, wie die Forschung herausarbeitete: „Das Göttliche Recht als Legitimation bäuerlichen Widerstands“
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Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Tle. Wien 1811, Bd. 2, S. 1826. Vgl. Arnd Beise: Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: Markus Meumann u. Dirk Niefanger (Hg.): „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 105–124, hier insb. S. 108–110.
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fand „im Bauernkrieg seinen Höhepunkt“ und sein Ende; es wurde nach 1525 durch die Berufung auf das sogenannte „Alte Recht“ abgelöst.31 Möglicherweise wollte Schottennius die Bauern zu diesem frühen Zeitpunkt im Spiel auch noch gar nicht vorverurteilt wissen,32 sondern für sie sogar eine gewisse Sympathie erregen, weil sie zumindest anfänglich noch rechtmäßige Interessen verfolgen. Dafür spricht etwa die Reaktion der Fürsten. Auf die vorgetragene Petition reagieren sie ebenso „freundlich“, wie sie angesprochen wurden (254/51). Wie die Bauernschaft ist die Fürstenschaft in Schottenius’ Spiel durch verschiedene Typen repräsentiert. Sie müssen sich ebenso beraten wie das Volk, denn der Absolutismus des 17. Jahrhunderts ist auch ihnen noch unbekannt. Ihre Namen sind charakteristisch: Hannibal ist hochfahrend und draufgängerisch, befürwortet immer die brutalst mögliche Antwort, kann aber im rechten Moment noch einlenken. Aeneas ist vermittelnd und im Grunde gutwillig, er ist der eigentliche Entscheider der Fürstenfraktion. Odysseus ist schlau und verschlagen, ein Machiavellist und ein Feigling. Alle drei ziehen an einem gemeinsamen Strang: Es sollen die gemeinsamen „Interessen“ erhalten werden. Mit Härte oder mit List? Man entscheidet sich in Bild VIII für den Rat des Odysseus: „Wir wollen mit versöhnlichen Worten antworten, die auch das härteste Herz zu erweichen und zu rühren pflegen“ (255/53). An einer gewaltsamen Auseinandersetzung ist den Fürsten nicht gelegen. Ihr Abgesandter richtet den Bauern aus: Friede und Heil euch fleißigen und glücklichen Bauern und dem übrigen Landvolk meiner Fürsten […]. Sie sagen, die Abgaben wollten und könnten sie nicht beseitigen, denn davon leben sie, davon erhalten sie ihre Herrschaft, zu eurem und des ganzen Landes Vorteil. Davon ernähren sie das Heer, mit dem sie Wegelagerer und die Angriffe der Feinde abwehren und niederwerfen. Damit schützen sie das Vaterland; während ihr in den Federn liegt, müssen sie oftmals bei Regen und Schnee fechten und reiten, wenn die Wut des Kriegs tobt. (256/55)
Die Antwort der Fürsten (IX. Bild) antwortet primär auf die juristische Anfechtung der Abgaben seitens der Bauern. Man habe schließlich einen Vertrag, der die Herrschaft zum Schutz der Untertanen vor äußeren Angriffen verpflichte, dafür bedürfe es der Abgaben. Das Argument rekurriert auf den feudalistischen Schwur einer Gemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen. Die Bauern, in diesem Bild nur als kollektive Sprecherbezeichnung präsent (sie sprechen als Kollektiv mit einer Stimme), fragen erst einmal nach: „Und wer hat uns abgabepflichtig gemacht?“ Der Abgesandte der Fürsten antwortet: „Christus im Evangelium, wenn er befiehlt, ,dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist‘“. Die Bauern zwei-
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Peter Bierbrauer: Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht. In: Peter Blickle (Hg.): Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, S. 1–68, hier S. 57f. Über den Autor und seine persönlichen Einstellungen wissen wir so gut wie nichts; alles, was bekannt ist, nannte Roloff in der Einleitung (S. 8f.) zu seiner Neuausgabe von 1990.
feln, ob die Fürsten die zitierten Bibelstellen33 richtig auslegen. Nach einer kurzen Diskussion fallen folgende Repliken: BAUERN. Was aber haben wir daraus für Nutzen, wenn wir ihnen viele Güter zugeführt haben? ABGESANDTER. Friede und Sicherheit herrschen in diesem euren und unserem Lande durch den Schutz der Fürsten. BAUERN. Der Friede ist teuer erkauft, wenn er um Geld erkauft werden muß. ABGESANDTER. Aber ein teuer erkaufter Friede ist besser als ein umsonst erlangter Unfriede. BAUERN. Wir sind dessen nicht sicher. (257/57)
Damit sind alle Argumente ausgetauscht. Anschließend kommt es zur Kriegserklärung der Bauern an die Fürsten, die nach der Meinung der Bauern „mit versöhnlerischen Worten“ versuchen, das „alte Los und die Unfreiheit [beizu]behalten“ (X. Bild; 258/59). Abermals bemerkenswert ist Schottenius’ Kniff, die Fürsten mit Berufung auf die Evangelien und die Bibel argumentieren zu lassen, obwohl genau die angeführten Bibelstellen historisch mehr als umstritten waren. Der Zweifel der Bauern („Was aber haben wir daraus für Nutzen“) wird erst zweihundert Jahre nach Schottenius’ Spiel zu einer entscheidenden Frage. Hier dient sie noch zur Diskreditierung der Bauern, weil sie ganz diesseitig und materialistisch ist. Im X. Bild wird dies noch einmal deutlich, wenn der Dorfschulze, anstatt an sein Seelenheil zu denken, meint: „Wir können nichts Edleres und Wertvolleres verlieren als unser Leben“ (258/59). Nach der Kriegserklärung der Bauern versuchen es die Fürsten noch einmal mit Verhandlungen, denn sie wollen „nachsichtig sein mit“ dem „plumpen Verstand“ der Bauern (261/65). Odysseus bittet die Bauern um Verzeihung, falls „etwas Ungerechtes geschehen“ sein sollte; auch sei Friede […] viel besser als der Krieg, auch wenn er ganz unbillig wäre. Am Krieg ist nichts Ehrenvolles; der Sieger ist ein Mörder, und der Besiegte geht zugrunde. […] Unbedachter Eifer hat immer geschadet […]. Wer den Krieg heraufbeschwört, beschwört den Teufel; wer den Frieden predigt, predigt Gott. Zum Krieg verleitet euch nichts als Zorn und Ehrgeiz, die beide nichts Gutes raten. […] Wenn ihr das Signal zum Krieg gebt, wird der Tod euer Lohn sein; ihr lenkt eure Kräfte ohne Verstand. (261f./67)
Obwohl Odysseus sich sogar zu einer Entschuldigung herablässt und das Ethos der Ritterkaste verleugnet, indem er den Krieg als etwas Unehrenhaftes hinstellt, lassen sich die Bauern nicht beeindrucken: „Wir sind voll Zornesmut und ganz zum Kampf entschlossen. […] Wir werden uns nicht fürchten“ (262/67). Das XIV. Bild zeigt das Aufgebot der Bauern und den Abschied von zu Hause. Gleichsam in Vorwegnahme der – heute allerdings nicht mehr unbestrittenen –
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Vgl. NT Markus 12,17; Matthäus 22,21; Lukas 20,25; Schotten wollte sicher den im MatthäusEvangelium unmittelbar darauf folgenden Vers 22,22 mit erinnert wissen: „Da sie das hörten, verwunderten sie sich […].“
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Thesen des Bauernkriegshistorikers Günther Franz34 zeigt Schottennius, wie der Dorfschulze die Führung übernimmt, allerdings ist die Hierarchie flach und die Teilnahme an dem Feldzug gegen die Fürsten beruht auf Freiwilligkeit. Die Motive, sich anzuschließen, sind abermals rein materiell: Es ist die „Hoffnung auf Gewinn“ (69) und das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Die Führung des Kriegszugs ist nicht nach Befehl und Gehorsam strukturiert, sondern beruht auf dem Prinzip der gemeinsamen Beratung. „Wohin wollen wir uns zuerst wenden? Welchen Weg wollen wir einschlagen?“ fragt der Dorfschulze (79). Acker- und Weinbauer, der alte Landsknecht und der Tagelöhner machen Vorschläge, die dann gemeinsam beschlossen werden. Zunächst plündern die Bauern ein Kloster, dann rauben sie eine Kirche aus. Das geht dem Dorfschulzen dann doch zu weit. „Kirchen wollen wir nicht antasten, damit wir dem Zorn Gottes nicht verfallen“ (269/83), doch hören seine Leute nicht auf ihn.35 „Gott ist gnädig und pflegt zu verzeihen“ (270/83). Der Schulze resigniert: „Wenn ihr wollt, dann werft den Würfel, ich werde euch nicht hindern“ (ebd.). Gleichwohl muss es auch wohlmeinende Zuschauer des Spiels entsetzen, dass die Bauern „die Hostien“ wegwerfen bzw. mit dem „geweihten Öl“ ihre Schuhe einfetten (ebd.), um anschließend mit den Gefäßen von dannen zu ziehen. Danach überfallen sie ein Dorf und rauben „Arme Leute“ aus, und zwar mit der Begründung: „Wir sind Brüder, denen alles gemeinsam gehören muß!“ Die Ideologie der Egalität wird hier zum Vorwand für eine Anarchie, bei der „einer dem anderen seine Habe raubt!“ Begründet wird dies mit dem Kriegszustand, in dem „das Rauben erlaubt“ sei (XVII. Bild, 271/85). Im Folgenden geht es gegen die Schlösser der Fürsten. Die Bauern bereiten sich auf den Kampf gut vor. „Vorher wollen wir eine Abmachung treffen, wie wir plündern und uns verhalten wollen, wenn uns die Möglichkeit gegeben ist, in das Schloß einzudringen“, rät der ehemalige Landsknecht, und der Ackerbauer bittet den Dorfschulzen um „Anordnungen, die zu befolgen sind, damit nicht jeder nach seinem Kopf vorgeht und wir nicht irgendwann in unser Verderben rennen“ (XVIII. Bild, 271/87). Sie sind sich also dessen bewusst, dass sie streng auf ihre Einigkeit achten müssen, wenn sie obsiegen wollen. Doch der Dorfschulze versagt in dieser Hinsicht. Er zeigt Führungsschwäche und stellt den Hauptleuten und Anführern der einzelnen Haufen anheim, was sie tun werden. Nach dem Eindringen in das Schloss lassen sich die Bauern fürstlich bewirten im eigentlichen Wortsinn. Der Fürst öffnet seine Speisekammern und Weinkeller, 34
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Günther Franz: Die Führer im Bauernkrieg. In: Ders. (Hg.): Bauernschaft und Bauernstand 1500–1970. Limburg 1975, S. 1–16; ders.: Der deutsche Bauernkrieg. 10., verb. u. durch einen Bildanhang erw. Aufl. Darmstadt 1975. Das beklagte er auch schon vor dem Krieg: „Ich bin als Dorfschulze von den Fürsten eingesetzt, aber mir geht es schlecht. […] Die Bauern gehorchen mir kaum oder gar nicht, und dem Fürsten muß ich von meinem Schulzenamt mehr abgeben, als ich selbst davon gewinne“ (250/43).
um seine Haut zu retten; während des Banketts muss er die tafelnden Bauern bedienen. Verkehrte Welt und Höhepunkt der bäuerlichen Macht. ACKERBAUER. […] Wo ist denn nun deine Herrschaft? Mit einemmal bist du vom Herrn zum Knecht geworden. FÜRST. Meine Freunde, hört doch auf zu spotten, ich habe genug Unannehmlichkeiten, daß ich euch mein Gut austeile; ihr solltet mir mit Recht dankbar sein! WEINBAUER. Wir sollten dir dankbar sein? Gib du uns gute Worte, daß wir dir diese Burg nicht zerstören […]. FÜRST. Ich hoffe nicht, daß ihr so grausam sein werdet, mich völlig auszurauben, sondern hoffe, ihr werdet mir etwas zurücklassen. DORFSCHULZE. Wenn wir dich nicht kniefällig bitten sehen, wirst du von uns keinen Pfennig übrigbehalten. FÜRST. Ich bitte euch um meiner Kinder willen, seid recht gnädig! (274/91)
Auf die Hinrichtung des Fürsten verzichten die Bauern, weil dieser sie mit seinen Reisigen und mit Geld zu unterstützen verspricht. Einem Standesgenossen geht es weit weniger wohl. Ein despotischer Graf wird als „Leuteschinder und Räuber“ (95) bestraft.36 Seine Untertanen haben ihn bei den Aufständischen verklagt, und diese sprechen ihm das Urteil. Dabei übertreten sie die lokale Gerichtsorganisation der ständischen Gesellschaft. Sie halten ihren Auftrag für universal. GRAF. Wenn ich meinen Leuten irgendwie unrecht getan habe, werde ich mich mit ihnen einigen; ihr braucht euch nicht in unser Verhältnis und unsere Angelegenheiten einzumischen. DORFSCHULZE. Wir werden uns aber einmischen, ob du willst oder nicht. Wir haben uns versammelt und verschworen, alle die du uns hier siehst, die Lande zu durchziehen und alle Bauern von der Willkürherrschaft ihrer Herren zu befreien. (XIX. Bild; 275f./95–97)
Der Graf wird durch Spießrutenlaufen getötet. Das Volk verhält sich in dieser Szene tyrannisch. Die Strafe steht in keinem Verhältnis zum Vergehen. Es sind exemplarische Bestrafungen, die darauf zielen, Schrecken zu verbreiten. Die Bauern rechtfertigen sich damit, dass sie sich nicht anders als die Fürsten benehmen, nur den Spieß einmal umkehren. Wie es uns von seiten der Fürsten bisher zur Genüge geschehen ist, so werden wir mit ihnen und anderen auch verfahren. […] Gleiches muß man mit Gleichem vergelten und dem anderen heimzahlen, wie es uns ergangen ist. […] Wir handeln gerecht und werden weiter so handeln; wir werden unser Eigentum zurückverlangen. (XX. Bild; 278/101–103)
Spätestens an diesem Punkt haben die Bauern alle Sympathien, die sie womöglich zu Beginn des Spiels noch genossen, eingebüßt. Dass sie „Recht und Gesetz […] mit Waffengewalt wieder zum Leben erwecken“ wollen (279/103), widerspricht allzu sehr dem humanistischen Pazifismus, der in Schottenius’ Spiel durch gelegentliche Berufung auf die irenischen Schriften des Erasmus von Rotterdam, be-
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Vorbild dieser Szene waren Berichte über die Tötung des Grafen von Helfenstein, die auch in Goethes Gottfried von Berlichingen eine wichtige Rolle spielt (vgl. unten S. 365–371).
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sonders dessen Querela Pacis undique gentium ejectae profligataque (1517), „der ideologischen Hauptquelle des Schottennius“, wie Roloff meinte, präsent ist.37 Bei der entscheidenden Schlacht werden dann alle Bauern abgeschlachtet. Immerhin tröstet sich der Dorfschulze, der mit Vergil- und Horaz-Zitaten gefasst dem Tod ins Auge sieht, dass auch „viele“ von den Rittern gefallen sind, und er vertraut auf die Zukunft: „Unseren Tod und unser Blut werden unsere Kinder an euch und euren Nachkommen rächen“ (282/111). Darüber kann der Ritter Achilles nur lachen: „was kommen wird, wollen wir abwarten“ (ebd.). In der Tat aber entsprach die Zukunftsgewissheit des Dorfschulzen den realhistorischen Erfahrungen der Bauern. Im Volkslied wird dieser Sachverhalt so ausgedrückt: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechtens besser aus“.38 Angesichts der Parteilichkeit des Autors, der die Sache der Bauern im Verlauf seines Stücks so sehr ins Negative wendet, erstaunt möglicherweise die beinahe ebenso negative Schilderung der Adligen und Ritter. Sie werden als zynisch und beutegierig gezeigt (vgl. z.B. 284/113: „ACHILLES. Wie angenehm und erfreulich ist es, Beute wegzuschaffen und vom Raube zu leben“); die Restauration ihrer Herrschaft wird unmissverständlich als Unrecht gebrandmarkt. Das Gespräch zwischen den Fürsten und den Bauern im XXIV. Bild, wo beide Parteien jeweils im Kollektiv mit einer Stimme sprechen, steht unter der Überschrift: „Verschärfte Gewaltherrschaft der Fürsten gegen ihre Untertanen“ (287/121). Die Bauern bitten um Frieden und Verzeihung; sie seien verführt worden: „Wir als Masse sind leichtgläubig gegenüber dem Bösen. […] Wir wissen, daß wir falsch gehandelt haben; bitte verzeiht uns!“ (287/121). Doch die Fürsten wollen grausam strafen. Auch sie töten um des Schreckens willen: „Wir wollen erreichen, daß ihr künftig keinen eurer Fürsten keck herausfordert. […] Ihr suchtet die Freiheit, aber ihr werdet eine noch größere Knechtschaft zu erwarten haben“ (287f./123). Als die Fürsten untereinander beraten, wie mit den Bauern zu verfahren sei, sticht der Vorschlag des bisher am mildesten gesinnten Fürsten heraus, nämlich Aeneas, erst einmal Gnade walten zu lassen, um die Rädelsführer später unter irgend einem Vorwand hinrichten zu lassen. Vorderhand sei das „Verzeihen“ als „edelste Art von Strafe“ anzuwenden (289/125), denn:
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Nicht nur der Autor in seinen Rahmentexten (besonders im Epilog) beruft sich auf Erasmus, sondern auch die Bauern selbst zitieren den holländischen Humanisten (vgl. S. 292/131: „BAUERN. Erasmus sagt, im Krieg dünkt sich jeder ein Herkules zu sein“). Überhaupt sind die Bauern recht erudit: Sie zitieren Juvenal, Valerius Maximus, Ovid, Caesar, Livius, Vergil, Horaz oder Plautus, werden also mitnichten als tumbe Toren denunziert. Siehe auch Roloffs Einschätzung in der Einleitung zu Hermann Schottenius Hessus: Ludus Martius sive Bellicus. Bern 1990, S. 10; vgl. ebd. S. 145–189 für die Nachweise der meisten antiken und neulateinischen Quellen. Zit. nach Klaus Ebert: Thomas Müntzer. Von Eigensinn und Widerspruch. Frankfurt a.M. 1987, S. 235.
HANNIBAL. Es müssen auch einige Bauern am Leben bleiben, damit unsere Felder nicht unbebaut liegenbleiben und verwildern und wir alle miteinander am Hunger zugrunde gehen. ODYSSEUS. Du sprichst ein weises Wort damit aus. Von der Arbeit der Bauern und dem Ertrag ihrer Äcker leben wir alle. AENEAS. Den Acker zu bestellen sind die Christus geweihten Priester nicht gewillt und auch wir nicht, die wir nur im Reiten und Müßiggang, aber nicht darin geübt sind, dem gebogenen Pflug zu folgen. ODYSSEUS. Wir wollen ihnen also das Leben schenken, aber sie mit dem Zaumzeug des Gehorsams zügeln […], daß sie nicht den Mund aufzutun und gegen uns aufzumucken wagen. AENEAS. Zur gegebenen Zeit werden wir ihre Anführer […] bestrafen und foltern, nachdem diese Tollheit ein wenig in Vergessenheit geraten ist und sich etwas beruhigt hat. HANNIBAL. Du gibst einen guten Rat. Wenn sie dieses Blutvergießen wieder vergessen haben, dann werden wir […] ausforschen, wer unter ihnen das Signal zum Aufstand gegeben hat, und werden diese bei der geringsten Übertretung zum Tode verurteilen. ODYSSEUS. Man soll das Unkraut unter dem Weizen ausraufen, aber (erst) nachdem es herangewachsen ist, befiehlt Christus […]39 (289/125–127).
Für den humanistisch gebildeten Leser hatten die Fürsten aber schon vor der zynischen Restauration ihrer Despotie ihre Reputation verloren. Zweimal wird auf Äsops Fabel von dem Adler und dem Mistkäfer angespielt: Im XII. Bild glaubt Hannibal damit gleichnishaft belegen zu können, dass man als Fürst vor den Bauern keine Angst zu haben braucht: „Ach, was sollten wir Elefanten die Fliegen und Mücken fürchten oder wir Adler die Mistkäfer!“ (260/63) Nach der Niederlage der Aufständischen haben sich auch die anderen „Fürsten“ diese Interpretation zu eigen gemacht und fragen im Versöhnungsgespräch (XXVII. Bild) das Kollektiv der „Bauern“, ob sie sich eigentlich „nicht geschämt“ hätten, „ungehorsam zu sein? […] Hat auch nicht das Beispiel des Mistkäfers zu denken gegeben, der vom Adler besiegt wurde […]?“ (291f./131) Im ersten Fall wird zusätzlich zu der äsopischen Fabel von dem Adler und dem Mistkäfer auch die vom Löwen, Prometheus und dem Elefanten erwähnt, und beide behaupten die Macht des scheinbar Schwachen gegen den Starken, also das Gegenteil von dem, was der heroisch tumbe Hannibal sagen will. Wer will, mag es nachlesen, ich zitiere, weil ausreichend, jeweils nur das „fabula docet“: Die Fabel lehrt, man soll niemanden verachten, sondern bedenken, daß keiner so schwach ist, daß er sich nicht zu rächen vermöchte, wenn man ihn unwürdig behandelt. Du siehst, welche Kraft die Mücke besitzt, daß sie sogar den Elefanten zu schrecken vermag.40
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Inwiefern diese Berufung auf NT Matthäus 13,25–30 zu Recht auf die Situation nach der Niederlage der Bauern angewandt wird, wäre in einer ausführlicheren Diskussion des Stücks zu erörtern. Antike Fabeln in einem Band. Hg. u. übers. v. Johannes Irmscher. Berlin 1978, S. 13 bzw. 144 (= Äsop Nr. 3 bzw. 292; Konkordanz zu anderen Ausgaben: Irmscher, Hausrath u. Perry 3 = Halm 8, Chambry 5; Irmscher u. Hausrath 292 = Perry 259, Halm 261, Chambry 211). Schotten hatte selbstverständlich auch die Auslegung dieser Fabel („Scarabæum aquilam quærit“) in Erasmus’ Adagia (1515) im Hinterkopf (vgl. Margaret Mann Philipps: The „Adages“ of Erasmus. A Study with Translations. Cambridge 1964, S. 229–263); sie geriet zu einer scharfen Diatribe „gegen die Monarchen seiner Zeit. Der Adler, rücksichtslos, blutgierig und räuberisch,
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Bei der zweiten Stelle ist der Witz jedoch etwas subtiler, weil er in zwei MartialAnspielungen eingebaut wird. Vollständig lautet das Zitat der zweiten zitierten Replik der Fürsten nämlich so: Schämtet ihr euch nicht, uns ungehorsam zu sein? Wie hat den Kaiser Domitian (selbst) ein Elefant angebetet! Hat auch nicht das Beispiel des Mistkäfers zu denken gegeben, der vom Adler besiegt wurde, oder das Beispiel des Stieres, der einst einen Elefanten angriff und von diesem überwunden wurde? (291f./131)
Elefant und Stier zusammen treten in zwei Epigrammen aus Martials SpektakelBuch auf.41 Der Stier wütet zunächst in der Arena, findet aber seinen Meister im Elefanten. Dieser, obgleich das stärkste Tier auf Erden, beugt freiwillig sich vor der göttlichen Majestät des Kaisers: Quod pius et supplex elephas te, Caesar, adorat / hic modo qui tauro tam metuendus erat, / non facit hoc iussus, nulloque docente magistro, / crede mihi, nostrum sentit et ille deum. (Daß fromm und demütig ein Elephant dir, Caesar, huldigt, / der eben noch hier für den Stier so furchterregend war, / das tat er nicht auf Geheiß, und kein Dompteuer hatte es ihm beigebracht. / Glaube mir, auch er spürte unseren Gott.) (Lib. spect. 17.) Qui modo per totam flammis stimulatus harenam / sustulerat raptas taurus in astra pilas, / occubit tandem cornu maiore petitus, / dum facilem tolli sic elephanta putat. (Der Stier, der eben noch, von den Flammen wütend gemacht, durch die ganze Arena / die Strohpuppen packte und zu den Sternen emporwarf, / sank endlich, von einem größeren Horn getroffen, sterbend zu Boden, / während er noch glaubte, einen Elefanten könne man genauso leicht emporwerfen.) (Lib. Spect. 19.)
Ein jeder, sei er noch so stark oder wild wie ein Stier, hat sich der ihm vorgesetzten Obrigkeit zu unterwerfen – so weit wenden die Fürsten die Gleichnisse richtig an, vor allem weil das Volk im frühneuzeitlichen Europa gern als Rindvieh verunglimpft wurde („büffelhirniger Pöbel“ nennt es Harsdörffer einmal bei Gelegenheit). Doch Schottennius relativierte noch an dieser Stelle das vermeintliche Recht der Fürsten, nicht nur durch die eingelassene Fabel Äsops, die hier gewissermaßen das ausgefallene, höchst ambivalente Epigramm Lib. Spect. 18 vertritt,42 sondern
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ist ihr Symbol. Was er, Erasmus, von ihnen hält, verdient nur noch die Form blutigen Hohnes: ,Gegen Adler gilt überall auf der Welt dasselbe Gesetz wie gegen Wölfe und Tyrannen, daß nämlich dem eine Belohnung zusteht, der den Feind aller tötet.‘ Dagegen erscheint der Scarabæus in der Auslegung dieses Adagiums als Symbol des unverächtlichen Kleinen, den der Große nur zu seinem Schaden unterschätzt oder mißachtet.“ Allerdings erscheint in Erasmus’ Text der Scarabæus zugleich „als Symbol des hämischen Ressentiments gegenüber dem adlergleichen hochgemuten Genie“ (Anton J. Gail: Einführung zu Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines christlichen Fürsten. Einf., Übers. u. Bearb. v. Anton J. Gail. Paderborn 1968, S. 21). Marcus Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch–deutsch. Hg. u. übers. v. Paul Barié u. Winfried Schindler. Düsseldorf 1999, S. 20/21. Wenn dieses Epigramm auf den Bauernkrieg bezogen würde, billigte es dem geknechteten und dann aufständischen Volk eine edle Imago zu; es berichtet, dass der gefangene Tiger in der Knechtschaft mutiger als in Freiheit wurde und sogar den Löwen besiegte: „Lambere securi dextram consueta magistri / tigris, ab Hyrcano gloria rara iugo, / saeva ferum rabido laceravit
auch weil der im ersten Epigramm angesprochene Kaiser in dem Bauernkriegsspiel als Domitian identifiziert wird, also als einer der übelsten Despoten im ersten kaiserlichen Jahrhundert Roms.43 Schottenius’ Ludus Martius sive bellicus zeichnet sich trotz aller Verachtung des gemeinen Pöbels durch eine Unparteilichkeit aus, die dem Dichter von der Wirklichkeit aufgezwungen wurde. Zwar billigte er der poetischen Wahrscheinlichkeit eine höhere Dignität zu als der Wirklichkeit, doch betonte er gleichwohl, dass der größte Teil seiner Darstellung sich Augenzeugenberichten verdanke (591/19). Trotz aller Verachtung des gemeinen Mannes lebte der humanistische Schulmann noch so fern von der höfischen Aristokratie, dass er auch diese sich nicht wesentlich besser in Szene setzen ließ als die widerständigen Bauern.44 Unabhängig von seiner politischen Einstellung war der gelehrte Dichter des 16. Jahrhunderts durch die Macht des Faktischen gezwungen, dem Bauern-Volk eine durchaus eigenständige Rolle in seinem Spiel zuzubilligen, damit es zu einem gleichwertigen Antagonisten der Fürsten und Ritter wurde. Man verachtete das Volk und erwies ihm gezwungenermaßen im dramatischen Spiel Reverenz.
Topoi der Volksdarstellung Woher aber kam diese Verachtung des Volks? Sie war ein Erbteil der goldenen und silbernen Latinität, die auf die Humanisten einen bestimmenden Einfluss ausübte, die auch einigermaßen volksfreundliche Einlassungen des ansonsten sehr bewunderten Aristoteles in den Hintergrund treten ließ.45 Ohnedies konnte man mit
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dente leonem: / res nova, non ullis cognita temporibus. / ausa est tale nihil, silvis dum vixit in altis: / postquam inter nos est, plus feritatis habet.“ (Ebd.) Tatsächlich ist in dem zitierten Epigramm Martials Domitians Bruder und Vorgänger Titus gemeint, was Schotten vermutlich wusste; daher ist die absichtliche Vertauschung der beiden Namen programmatisch zu verstehen. Die späteren Epigramm-Bücher Martials enthalten allerdings wirklich „viele peinliche Huldigungen“ für Domitian, so dass der Dichter in den Ruf geriet, der „Speichellecker eines tyrannischen princeps“ zu sein (vgl. Niklas Holzberg: Martial. Heidelberg 1988, S. 74; Martialis: Epigramme, S. 1143), siehe Ep. I 104; IV 1, 3, 30; V 1, 5, 7, 19, 65; VI 2, 4, 10 u. 83; VII 5–8, 60f.; VIII 2, 4, 8, 11, 15, 36, 56 u. 65; IX 3, 5, 7, 20, 34, 36, 64f., 79, 91 u. 101). Vgl. zum Beispiel die ähnliche Haltung des Nürnberger Ratsherrn Caspar Nützler, der am 5. August 1525 an Herzog Albrecht von Preußen schrieb: „Dann obwol die armen plinten und unverstendigen Pauersleut mit irm ungeschicktem Furnemen zuvil ober die Schnuer gehauen, als auch war ist, und darumb das Wort Gotes, das inen allein Gehorscham und Underdenikeit zu leisten auflegt und alle Tat verpeut, so mein ich doch, nimand, der Vernunft hat, werde dagegen verneinen kunnen, wie unfuglich, unchristenlich und gar zu ubermessig sich die Oberkeit umb der Untertanen Har, die sie doch weidnen, fursehen, reigirn und nit schinden sollen, gerissen“ (Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Gesammelt u. hg. v. Günther Franz. Darmstadt 1963, S. 591). Aristoteles [1160b]: „Am wenigsten tief steht“ unter den verschiedenen Staatsverfassungen „die Demokratie, da sie nur in einem geringen Grade von der Form der Politie abweicht“ (Nikomachische Ethik. Übers. u. Nachw. v. Franz Dirlmeier. Anm. v. Ernst A. Schmidt. Bibliogr.
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Plato auch aus der griechischen Tradition einen prominenten Volksverächter anführen, der demokratische Verfassungen für eine Übertreibung der Freiheit („ΦțȡȠIJȐIJȘȢ πȜİȣșȘİȡȓĮȢ“) hielt und die Monarchie als „trefflichste Verfassung“ („țĮȜȜȓıIJȘ ʌȠȜȚIJİȓĮ“) anpries.46 „Odi profanum volgus et arceo“, eröffnete Quintus Horatius Flaccus das dritte Buch seiner Oden (III, 1): ,Ich hasse den gemeinen Pöbel und meide ihn‘. Der Dichter stellte hier klar, dass er keinesfalls für das gemeine Volk schreibe, sondern für einen elitären Kreis kunstsinniger junger Frauen und Männer („virginibus puerisque“), die seine neuartigen Lieder („carmina non prius audita“) zu würdigen wüssten. Horaz hielt sein Werk für so genial, dass es alle Zeitläufte überdauern würde – jedenfalls solange die lateinische Kultur in Erinnerung bliebe. Er knüpfte die Voraussage seines unsterblichen Ruhms bei den Nachgeborenen in der letzten Ode desselben Buchs (III, 30) zwar an den Jupiter-Kult, doch könnte man sein dichterisches Selbstbewusstsein mit einem nicht ganz seriös zusammengezogenen Zitat aus Martin Opitz’ Übersetzung dieser Ode besser so beschreiben: „Ich kann
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erg. Aufl. Stuttgart 1983, S. 231). Aristoteles hätte die „Democratie“, so erläuterte Christian Weise (Politische Fragen, Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica. Dresden 1698, S. 118f.), „Politiam, oder wie etliche reden, Statum Politicum genennet: Entweder, weil die Exempel gar selten vorkommen, daß man so keinen sonderlichen Namen erst erdencken darff; Oder weil es ein Zeichen der Vollkommenheit ist, wenn alle Personen in der Republique zum Regiment capable seyn“. In seinen Schriften zur Staatstheorie begründete Aristoteles [1281b], warum die Menge zu schätzen sei: „Denn da sie viele sind, kann jeder über einen Teil der Tugend und der Einsicht verfügen, und wenn sie zusammenkommen, kann die Menge werden wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und viele Sinneswerkzeuge hat und so auch im Hinblick auf die Wesensart und die Denkweise. Deshalb beurteilen die Vielen auch besser“ als ein Einzelner, „denn die einen beurteilen diesen, die anderen jenen Teil, alle aber alles“ (Politik. Schriften zur Staatstheorie. Übers. u. hg. v. Franz F. Schwarz. Stuttgart 1989, S. 177). Platon [558c]: „die Demokratie […] wäre wie es scheint eine anmutige regierungslose buntscheckige Verfassung , welche gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt“; [562a]: „Nun wäre uns mithin noch übrig, sprach ich, die trefflichste Verfassung und den trefflichsten Mann durchzugehn, die Tyrannei und den Tyrannen“; [563f– 564a]: „Dieselbe Krankheit, sprach ich, an welcher die Oligarchie, wenn sie davon betroffen wird, zu Grunde geht, diese, wenn sie sich auch hier einstellt, wo sie, weil jedem alles frei steht, noch weit häufiger und heftiger wird, verknechtet die Demokratie. Und in der Tat das Äußerste tun in irgend etwas, pflegt immer eine große Hinneigung zum Gegenteil zu bewirken bei der Witterung, bei den Gewächsen, bei den lebendigen Körpern und eben auch nicht weniger bei den Staaten. […] Also auch die äußerste Freiheit wird wohl dem Einzelnen und dem Staat sich in nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft. […] So kommt denn wahrscheinlich die Tyrannei aus keiner andern Staatsverfassung zu Stande als aus der Demokratie, aus der übertriebensten Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft“ (Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a. Hg. v. Karlheinz Hülser. Frankfurt a.M. 1991, Bd. 5, S. 621, 631 u. 635–637). Auf welche Art Platon in frühneuzeitlichen Dramen wirksam werden konnte, zeigt etwa das unten (S. 74) angeführte Zitat aus William Shakespeares Measure for Measure I/3 ( Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 414): „too much liberty […] So euery Scope by the immoderate vse / Turnes to restraint“.
nicht gar vergehn, man wird mich rühmen hören / So lange […] Römisch wird gelesen“.47 „Römisch“ oder lateinisch lasen und schrieben fast alle Gelehrten der Frühen Neuzeit. Horaz’ Dichterruhm überdauerte den Untergang des Jupiter-Kults. Er schien im 18. Jahrhundert nach Christi Geburt noch ebenso aktuell zu sein, wie am Ende des 1. Jahrhunderts vor der Zeitenwende. Mit seinem Dichterruhm überlieferte sich seine Abneigung gegen das ,gemeine Volk‘, vulgo: ,Pöbel‘. Cum grano salis gilt der Satz „Odi profanum volgus et arceo“ auch für die meisten Intellektuellen der Frühen Neuzeit. Das gemeine Volk gab es zwar, aber man vermied nicht nur persönlichen Kontakt, sondern ignorierte es schriftstellerisch. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein herrschte die Verachtung des geringen Volks. „Der Pöbel nicht recht judicirt / Weil man kein Weißheit bey ihm spürt“, reimte Anna Ovena Hoyers (1584–1655) in ihrem 1628 zuerst gedruckten Geistlich Gespräch zwischen Mutter und Kindt.48 Das ist nicht etwa die spezielle Meinung einer Tochter aus reichem Hause, Amtmannswitwe und religiösen Sektiererin, sondern opinio communis der bürgerlichen und adligen Oberschichten. Mit „der Auflösung der gesellschaftlichen Verbindungen, der Ausdifferenzierung und Separierung zweier Kulturen und der ihnen jeweils zugehörenden Codes schwand bei den oberen Schichten das Verständnis für die Sozialorganisation der unteren Schichten. Sie wurden nurmehr wahrgenommen als ein Chaos aus Triebhaftigkeit, Leidenschaften und Affekten“.49 Dass der Pöbel gänzlich beherrscht sei von tierischen Leidenschaften, die jeder Vernunft spotteten, meinte schon Erasmus von Rotterdam ein gutes Jahrhundert zuvor: „Hierher gehören Begehrlichkeit, Verschwendung, Mißgunst und ähnliche Krankheiten des Gemüts, die allesamt schmutzigen und ruchlosen Knechten gleichen, die mit Ketten gezwungen werden müssen, den Dienst nach Vermögen zu tun, der ihnen vom Herrn vorgeschrieben ist“. Es sei „nötig, daß der Einsichtige mehr Gewalt hat und der weniger Einsichtige gehorcht. Denn nichts ist törichter als das gemeine Volk und es soll daher der Obrigkeit gehorchen, aber nicht selbst die Verwaltung führen wollen.“ Denn wenn „das wilde Volk“, also „die aufrührerische Hefe der Bürgerschaft“, die Führung im Staate hätte, dann „geht alles dem Untergang entgegen“.50 Der Topos von „des Volkes Dummheit“51 ist uralt, wurde aber die längste Zeit als evidentes Argument ohne ausdrückliche Begründung benutzt. „Vulgus“ reimte 47
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Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch/Deutsch. 2 Bde. Hg. v. Hans Färber u. Wilhelm Schöne. 8. Aufl. München 1979, Bd. 1, S. 108 u. 176; Horst Rüdiger (Hg.): Lateinische Gedichte. Mit Übertragungen deutscher Dichter. München 1972, S. 98–101. Anna Ovena Hoyers: Geistliche und Weltliche Poemata. Amsterdam 1650, S. 34. Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1987, S. 300. Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Werner Welzig. Darmstadt 1967–1980, Bd. 1, S. 111–113. Antike Fabeln, S. 172.
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sich einfach zu gut auf „stultus“. Erst um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wurde diese vermeintliche Tatsache auch philosophisch begründet. Auf Grundlage der stoischen Philosophie, politischen Klimatheorien (à la Jean Bodin) oder einer humoralpathologischen Temperamentenlehre (à la Juan Huarte de San Juan) versuchte Pierre Charron in seinem Traktat De la Sagesse (1601; ²1604) wissenschaftlich zu belegen, warum der Pöbel notwendig dumm sein müsse. Er arbeitete dabei mit verschiedenen Kategorien zur Einteilung der Welt (jeweils vom niedriger zum höher Bewerteten: anorganisch, organisch, geistig; vegetativ, sensitiv, intellektuell; Gedächtnis, Vorstellungskraft, Verstand), die mit den Temperamenten, die sich aus Mischungen der vier Grundqualitäten heiß und kalt, trocken und feucht ergeben, kombiniert wurden. Danach stufte er die Ergebnisse auch noch geografisch (horizontal: Norden versus Süden) und sozial (vertikal: Oberschichten versus Unterschichten) ab. Das Ergebnis fiel wenig überraschend aus. Menschen seien „nach den Geistern“ mannigfaltiger zu unterscheiden „als nach den Leibern“, die bei allen ja mehr oder weniger ähnlich seien. In die niederste Ordnung werden gezählt die einfältige schwache Geister, so schier gar dem Tummen Viehe gleich: es rühre nun solches her daß die Vermischung des Gehirnes gar zu kalt und zu feucht bey ihnen: wie unter den Tieren die Fisch am geringsten und tumsten seyn, oder daß sie niemal bewegt und aufgemuntert, sondern gleichsam von dem Rost des Unverstands ganz zernichtet werden?
So sei „zu begreiffen der gering und gemeyne Pöfelmann: Welcher wachend schnarcht, hier lebendig todt ist, und gar kaumlich lebt und siehet“.52 Nur mit einem passiven Gedächtnis begabt, ohne Verstandeskräfte den Einbildungen hilflos ausgeliefert, von Leidenschaften gehetzt und durch ungegründete Meinungen regiert: Das war der gemeine Mann, und die Herrschenden sollten sich darauf einstellen und der mangelnden Rationalität des Volks Rechnung tragen. Der frühneuzeitliche Staat wurde daher (zum Beispiel von Ludovico Settala in seinem Werk Della Ragione di Stato) als „Bändiger des Pöbels“ dargestellt.53 „Stato é un dominio fermo sopra popoli“, definierte in aller Kürze Giovanni Botero, „perche il popolo è di nature sua instabile“.54 Justus Lipsius stellte in seiner Politica (IV, 5) das pöbelhafte Volk (abwechselnd bezeichnet als „vulgus“, „plebs“, „multitudo“) als ordnungsgefährdenden Unruhefaktor dar, der vom Staat gezügelt werden müsse. „Die vorgebliche Existenz eines unbeherrschten und 52
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Pierre Charron: Das Liecht der Weißheit, Zu Erforschung deß Ursprungs und wahrer Eigenschafften aller Dinge Den Weg zeigend. 3 Bücher in 2 Tln. Ulm 1668–1669, Bd. 1, S. 190; vgl. Andreas Gestrich: Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Zur Rechtfertigung des Hofzeremoniells im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, S. 57–73, hier bes. S. 66–73. Zit. bei Münkler: Im Namen des Staates, S. 300. Giovanni Botero: Della Ragione di Stato, Libri dieci. 4., veränd. Aufl. Turin 1596, S. 5 u. 107– 111.
wankelmütigen Pöbels ist eines der wichtigsten legitimatorischen Argumente für die Ausgestaltung des frühneuzeitlichen Staats zum Macht- und Ordnungsstaat“.55 Die Annahme sozial ungleich verteilter Fähigkeiten zum Verstandesgebrauch scheint „gewissermaßen zum unhinterfragten Grundbestand des sozialen Wissens der gesellschaftlichen Oberschichten jener Zeit gehört zu haben, die sich in der politischen Literatur zu einem literarischen Topos verdichtet hat“.56 Die Frage lautete angesichts des „dummen und unzuverlässigen Pöbels“ also oft: Handelt es sich um „Tiere oder Menschen?“57 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) fasste am Ende des 17. Jahrhunderts noch einmal bündig zusammen: Wenn man nun mich fragen will, was eigentlich der gemeine Mann sei, so weiß ich ihn nicht anders zu beschreiben, als daß er diejenigen begreife, deren Gemüth mit nichts anders als Gedanken ihrer Nahrung eingenommen, die sich niemals höher schwingen und so wenig sich einbilden können, was die Begierde zu wissen oder die Gemütslust vor ein Ding sei, als ein Taubgeborener von einem herrlichen Konzert zu urteilen vermag. Diese Leute sind ohne Erregung und Feuer; es scheint, sie seien zwar aus der adamischen Erde gemacht, allein der Geist des Lebens sei ihnen nicht eingeblasen worden. Sie leben in der Welt in den Tag hinein, und gehen ihren Schritt fort wie das Vieh; Historien sind ihnen so gut als Mährlein, die Reisen und Weltbeschreibung fechten sie nichts an, daher sie auch die Weisheit und Regierung Gottes wenig betrachten; sie denken nicht weiter als sie sehen; man wird auch sogar finden, daß sie denen Feind seien, so etwas weiter gehn und sich von diesem Haufen absondern wollen. Kommen solche Leute zusammen, so sind ihre Unterredungen oft nichts als Verleumdung ihres Nächsten und ihre Lust ist viehisches Saufen oder spitzbübisches Kartenspiel.58
Auf der Welt gibt es nur Pöbel Nur sehr wenige Gelehrte der Frühen Neuzeit wagten gegen die römische und humanistische Tradition öffentlich zu schreiben, dass dieses monströse Etwas, „der hochberühmte Pöbel“, wie ihn Gracián titulierte,59 möglicherweise gar nicht so Unrecht hatte sich zu erheben, auch gar nicht so dumm war, wie gern behauptet wurde, und dazu der Wahrheit und der Tugend prinzipiell zugeneigt. Einer der ersten und in dieser Hinsicht kühnsten Autoren war Niccolò Machiavelli (1469–1527). Seine Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Erstdruck 1532) sind bekanntlich eine Art assoziativer Kommentar zu – nicht nur 55 56 57
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Münkler: Im Namen des Staates, S. 303. Gestrich: Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk, S. 60. Vgl. Robert Muchembled: Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus. Übers. v. Peter Kamp. Reinbek 1990, S. 40. Gottfried Wilhelm Leibniz: Politische Schriften. 2 Bde. Hg. u. eingel. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a.M. 1966–1967, Bd. 2, S. 67. Baltasar Gracián: Criticón oder Über die allgemeinen Laster des Menschen. Übers. v. Hanns Studniczka. Mit einem Essay ,Zum Verständnis des Werkes‘ u. einer Bibliographie v. Hugo Friedrich. Hamburg 1957, S. 107; ders.: Das Kritikon. Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Nachwort v. Hans-Rüdiger Schwab. Zürich 2001, S. 425.
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den ersten zehn – Büchern der römischen Geschichte Ab urbe condita des Titus Livius (59 v. Chr. bis 17 n. Chr.), die für Machiavelli eine unbedingt glaubwürdige Quelle waren, „die er ohne Kritik für richtig“ hielt.60 Um so bemerkenswerter muss es erscheinen, dass Machiavelli sich im 58. Kapitel des I. Buches des genannten Werks zu einer grundsätzlichen Kritik seines Gewährsmanns aufschwang. Sie betrifft die seiner Ansicht nach grundsätzlich falsche Einschätzung des Volks in der antiken Tradition und in seiner Zeit. „Ea natura multitudinis est, aut servit humiliter, aut superbe dominatur“, schrieb Livius im 25. Abschnitt seines XXIV. Buchs. Dieses Vorurteil will Machiavelli, auch wenn es eine „harte“ und vielleicht „allzuschwierige Aufgabe“ sei, widerlegen. Ich sage also: Dieser Fehler, den die Schriftsteller dem Volk zur Last legen, kann allen Menschen und besonders allen Machthabern zur Last gelegt werden. Jeder, der nicht durch Gesetze im Zaum gehalten wird, wird dieselben Fehler begehen wie eine entfesselte Volksmasse. […] Die Natur der Volksmassen ist daher nicht schlechter zu beurteilen als die eines Machthabers.61
In seinem ungleich bekannteren Traktat Il principe geht Machiavelli sogar noch weiter und behauptet im 9. Kapitel, das Bestreben des Volkes ist ehrenhafter als das der Großen, insofern diese das Volk unterdrücken wollen, das Volk jedoch nicht unterdrückt werden will (in ogni città si trovono questi dua umori diversi; e nasce da questo, che il populo desidera non essere comandato né oppresso, da’ grandi, e li grandi desiderano comandare e opprimere il populo; […] quello del populo è piú onesto fine che quello de’ grandi, volendo questi opprimere, e quello non essere oppresso).62
Zwar fand auch Machiavelli, dass „der Pöbel“ sich „immer von dem Schein und dem Erfolg mitreißen“ lasse, so dass man ihm geben müsse, was er verdiene, nämlich wenigstens den Anschein von Recht und Billigkeit, Aufrichtigkeit und Anstand; doch verallgemeinerte er zugleich: „auf der Welt gibt es nur Pöbel“.63 60 61 62 63
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Rudolf Zorn: Einleitung zu Niccolo Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Hg. v. Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. XLII. Machiavelli: Discorsi, S. 148 und 150. Niccolò Machiavelli: Il Principe / Der Fürst. Italienisch/deutsch. Übers. u. hg. v. Philipp Rippel. Stuttgart 1986, S. 74–77. Machiavelli: Il principe / Der Fürst, S. 138–141. Einen schwachen Reflex dieser Ansicht, dass der Pöbel nicht durch physiologische Merkmale prädisponiert werde, sondern dass jeder Mensch im Grunde ,Mensch‘ und damit Pöbel sei, findet sich auch noch bei dem Zeremonielltheoretiker Johann Christian Lünig. Er begründete die Notwendigkeit des „Ceremoniels“ eben mit der anthropologischen Pöbelartigkeit des Menschen, oder genauer: „die meisten Menschen, vornehmlich aber der Pöbel, sind von solcher Beschaffenheit, daß bey ihnen die sinnliche Empfind- und Einbildung mehr, als der Witz und Verstand vermögen, und sie daher durch solche Dinge, welche die Sinne kützeln und in die Augen fallen, mehr, als durch die bündigund deutlichsten Motiven commovirt werden“ (Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale Historico-politicum, Oder: Historisch und politischer Schau-Platz Aller Ceremonien. 2 Bde. Leipzig 1719–1720, Bd. 1, S. 5; vgl. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur CeremonialWissenschafft Der Großen Herren. Hg. u. komm. v. Monika Schlechte. Weinheim 1990, [Neudruck der Ausgabe, Berlin 1733], S. 2; ders.: Einleitung in die Ceremoniel-Wissenschafft Der
Wenn es aber auf der Welt nur Pöbel gibt, wenn die Pöbelhaftigkeit des Menschen zu seiner anthropologischen Grundausstattung gehört, dann gibt es im Fall eines Kampfes zwischen Volk und Obrigkeit nicht per se eine Partei, die mehr Recht als die andere hat. Die Gegenmeinung ließ sich nur deduktiv begründen, wie es etwa Charron versucht hatte. Anders als die meisten so verfahrenden Gelehrten kam der empirische Wirklichkeits-Beobachter leichter zu desillusionierenden Schlüssen im Sinne Machiavellis. Die Lehre von der Gleichheit aller Menschen jenseits ihrer sozialen Lebensbedingungen gehörte zu den üblichen Provokationen der frühneuzeitlichen Moralistik. Obwohl zum Beispiel Montaigne in seiner Schutzschrift für Raimond de Sebonde behauptete, „der Pöbel“ sei „nicht fähig, die Sachen nach ihrer wahren Beschaffenheit zu beurtheilen“, so dass er gesonnen sei, ihn zu „übergehen“, kommt er schließlich doch zu dem Schluss: „wir gehören alle unter den Pöbel“.64 Eine solche Haltung kommt in der schönen Literatur vor allem dem Dramatiker zu, weil er sich nicht hinter einem Erzähler oder einer lyrischen Rolle verstecken kann. Er muss seine Figuren für sich selbst sprechen lassen, er muss nicht nur wissen, „wie einem Könige oder Fürsten zu muhte sey“, wie es Johann Rist 1663 formulierte, er muss auch wissen, wie dem gemeinen Mann „zu muhte sey“, wenn er ihn glaubwürdig als dramatis figura auf die Szene führen wollte. Dass der traditionellen Poetik zum Trotz der gemeine Mann auch in der Tragödie nicht völlig ignoriert werden konnte, dafür sorgte der Anspruch, dass das Trauerspiel sich mit „den allerwichtigsten Reichs- und Welt-Händlen“ zu beschäftigen habe, um noch einmal Rist zu zitieren, und auf der Bühne der Welt spielte der Pöbel nun einmal eine nicht unbeträchtliche Rolle. Immer und überall würde „auf die Regierung geschimpft, und zwar immer und unter allen Regimentern“, heißt es in Baltasar Graciáns Roman El Criticon, und: „dass ein Pöbelhaufe sich empört, ist ja ebenso alltäglich, wie es leicht geschieht“.65 Das war vollkommen richtig beobachtet. Die moderne Forschung hat Gracián bestätigt. Jean Delumeau konnte ohne Übertreibung feststellen, dass im vorindustriellen Europa „Revolten an der Tagesordnung waren“.66 Ein Blick in die Standardwerke der historischen Erforschung der Frühen Neuzeit genügt: Peter Bierbrauer listete 1980 in seinem Forschungsbericht nur zu den „bäuerlichen Revolten im Alten Reich“ 125 damals schon erforschte größere Aufstände zwischen 1300 und 1789 allein im deutschsprachigen Raum auf.67 „Die Zeit zwischen 1550
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Privat-Personen. Hg. u. komm. v. Gotthardt Frühsorge. Weinheim 1990, [Neudruck der Ausgabe Berlin 1728], S. 25. Michel de Montaigne: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz. 3 Tle. Zürich 1996 [Neudruck der Ausgabe Leipzig 1753/54], Bd. 2, S. 3, 146 u. 312. Gracián: Criticón, S. 100–107; Das Kritikon, 404–425. Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Reinbek 1985, Bd. 1, S. 200. Bierbrauer: Bäuerliche Revolten im Alten Reich, S. 62–68.
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und 1660 war eine Hoch-Zeit vor allem bäuerlicher, aber auch bürgerlicher und adeliger Protest- und Widerstandsaktionen, die sich nicht selten zu lokalen oder regionalen Revolten und Aufstandsbewegungen verdichteten“.68 Im 18. Jahrhundert hat David Mornet in Frankreich über 100 größere Aufstände gezählt und Georges Rudé sogar 275 Aufstände in England.69 Die Prämissen der genannten Untersuchungen mögen so unterschiedlich sein, wie sie wollen; Fakt ist, dass der Aufstand gegen die Obrigkeit „eine herkömmliche soziale Form“ der Unterschichten war und „als normaler, ja legitimer Zustand erlebt wurde“, wie Arlette Farge in verschiedenen Studien aufzeigen konnte.70 Die zeitgenössische Obrigkeit am Ende des 18. Jahrhunderts bestätigte übrigens den Befund: „Die Beispiele von Aufläufen, Empörungen, Aufruhr sind leider zu häufig, trotz der aktiven Wachsamkeit der Polizeÿ“.71
45 Gründe für den Aufstand der Untern gegen die Obern Eines der bemerkenswertesten Traktate der Frühen Neuzeit zu dieser Frage ist die gründliche, 755 Seiten lange Untersuchung über den Auffstand der Untern wider ihre Regenten und Obern, die der Jurist Johann Wilhelm Neumair von Ramsla als seine sechste Abhandlung während des Dreißigjährigen Kriegs vorlegte,72 und zwar zu dem End, daß beydes Regenten und Vnterthanen sich darinn vmbsehen und bespiegeln sollen: die Regenten vnd Obern, damit sie ihre von Gott anbefohlene Vnterthanen dermassen in acht nehmen, pflegen vnd regieren, daß sie dieselben bey guter Devotion, Trew vnd Gehorsam erhalten, vnd jhnen zu Zorn, Vngedult, Rachgier, Widersetzlichkeit, auch wol gar zu endlichem Abtritt nicht Vrsach und Anlass geben: die Vnterthanen aber, damit sie jhren Regenten allzeit
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Richard van Dülmen: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550–1648. Frankfurt a.M. 1982, S. 376. David Mornet: Les Origines intellectuelles de la Révolution française 1715–1787. 2. Aufl. Paris 1934, S. 443–446; George Rudé: The Crowd in History. A Study of Popular Disturbances in France and England 1730–1848. 2. Aufl. New York 1966, S. 35. Siehe Arlette Farge / Jacques Revel: Die Logik des Aufruhrs. Die Kinderdeportationen in Paris 1750. Frankfurt a.M. 1989; Arlette Farge: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989; dies.: Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993. Nicolas Toussaint LeMoyne Des Essart: Dictionnaire universel de police contenant l’origine et les progrès de cette partie importante de l’administration civile en France […]. 8 Bde. Paris 1786–90, Bd. 7 (1789): Article „Ouvrièrs“. Die fünf vorigen Traktate handelten 1. „Vom Krieg“ (worauf Neumair in der hier vorgestellten Untersuchung mehrfach verweist, weil ihm allzuoft der Aufstand als regulärer Krieg erschien; vgl. den Anfang des übernächsten Kapitels, unten S. 119ff.), 2. von Neutralität und ihrem Widerspiel, 3. von Bündnissen, 4. von Friedens- und anderen Verträgen in Kriegszeiten, und 5. von „Schatzungen und Stewern“.
devot, gehorsam, willig vnd getrew verbleiben, vnd ohne grosse hohe Vrsach vnd eusserste vnvermeidliche Noht jhnen nicht widerstreben vnd Auffstand erregen möchten.73
Der Ansatzpunkt der Untersuchung wird in der Beschreibung seiner Absicht schon deutlich. Es sind eigentlich immer die Herren, welche machen, dass das Volk aufrührerisch wird, und es ist ihre Aufgabe, es nicht so weit kommen zu lassen.74 Neumair fasst seine Auffassung in das Gleichnis vom Basilikum, das er bei einem „Rahtsherrn zu Genua“ borgte: Als Lodovico Sforza durch einen Legaten von der Stadt Genua „eine gute Summe Geldes“ forderte, brach bei einem gemeinsamen Spaziergang im Garten der Rahtsherr obbemeldt Kraut ab, vnd sagte zu dem Legaten, er solte solches ein wenig berüren, vnd daran riechen, der Legat thet es, antwortete hierauff, es hette gar ein herrlichen lieblichen Geruch, der Rahtsherr sagte ferner, er solte es ein wenig härter angreiffen, empfand also der Legat einen ganz vnlieblichen vnd vnanmutigen Geruch. Der Rahtsherr sprach, Herr, wann Hertzog Ludwig diese Stadt gelinde angreifft, so wird er sie willig und gehorsam haben, wird er sie aber zu hart drücken, so wird er gewiß einen widerwertigen Geruch einer Rebellion vnd Vngedult empfinden. Dieser Rahtsherr hette der Obrigkeit Gebühr vnd Schuldigkeit gegen jhre Vnterthanen nicht besser abbilden vnd beschreiben können, als mit diesem Gleichnis des Krauts Basilici. Dann es ist freilich an deme, wo ein Regent seine Vnterthanen liebet, für sie sorget, dieselben bey jhren Privilegien, Herkommen und Freyheiten erhelt, demjenigen, was er zusagt vnd verspricht, steiff vnd vnverbrüchlich nachlebet, jhnen Gericht vnd Gerechtigkeit ohn Ansehen schleunig mittheilen lest, die Müntz jhnen zu Schaden nicht verfälschet, jhre Nahrung befördert, sie mit vnnöthiger Newerung nicht beschweret, mit Schatzung, Stewr vnd Aufflagen nicht vbernimbt vnd presset, sie nicht verachtet vnd hintan setzet, nicht Gewalt vnd Muthwill an jhnen verübet, oder solches die Beampten vnd Diener thun lest, wie dann offt zu geschen pflegt, etc. so hat er von den Vnterthanen hinwieder alle Lieb, Gunst, Respect, Trew, Pflicht, Gehorsam, Hülff vnd Beystand zu gewaren, nach dem Sprichwort: Trewer Regent, Trewer Vnterthan: Hiergegen aber, wo das Widerspiel geschicht, so erfolget bey den Vntern anders nichts, als Vngedult, Zorn, Haß, Feindschafft, Vngehorsam, Auffstand Auffruhr, vnd endlich ein gefährlicher verbitterter böser Krieg. (S. [III]f.).
Neumairs Untersuchung ist in sechs Kapitel gegliedert: im ersten nennt er mögliche Ursachen für einen Aufstand des Volks; im zweiten, welcher mögliche Nutzen für beide Seiten „aus Auffstand vnd Auffruhr […] erfolgen kan“, zum Beispiel, dass ein zuvor unbarmherziger und grausamer Regent durch einen Aufstand „lernet […] fein in sich gehen, sein Leben zu bessern vnd gegen die Vntern sich gütiger, milder vnd barmherziger zu bezeigen“ (S. 81), oder dass die Aufständischen nach einem unglücklichen Ende der Empörung („wie gemeiniglich geschieht“) auch in sich gehen und „lernen […] alsdann vor fernerm Auffruhr sich hüten“ und „den Regenten oder Obern allzeit schuldigen Respect vnd Gehorsam“ 73
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Johann Wilhelm Neumair von Ramsla: Von Auffstand der Vntern wider ihre Regenten und Obern sonderbarer Tractat. Jena 1633, S. [IV]f. („Dedication“ an Christina von Schweden und der Cron Schwedens hochlöbliche Reichs-Räthe). Im Folgenden unter Angabe der Seite zitiert. Nur zwei gewissermaßen grundlose Aufstände nannte Neumair unter Punkt XLV: Anno 885 habe Gottfried von Friesland eine solche Rebellion angeführt; und Anno 1525 hätten Allgäuer Bauern aus Beutelust verschiedene Städte, Klöster und Schlösser geplündert (S. 70).
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zu leisten (S. 97f.). Im dritten Kapitel wird erörtert, was für „Schad, Nachtheil vnd Vngemach […] in gemein, zu entstehen pflegt“, zum Beispiel, dass „die Vnschuldigen der Schuldigen“ oft „mit entgelten“ müssen, „dann in Auffruhr handelt man nichts mit Vernunft, vnd muß gemeiniglich die Kuh mit dem Kalb, der Vnschuldige mit dem Schuldigen gehen“ (S. 139). Im vierten Kapitel verfolgte Neumair anhand von 16 Leitfragen das, was die Rebellen vor und während des Aufstands bedenken müssen; im fünften anhand von 26 Fragen, was es für die Oberen vor oder während eines Aufstands zu beachten gilt; im sechsten und letzten Kapitel werden 21 Arten aufgeführt, wie „Auffruhr vnd Auffstand der Vntern wider ihre Regenten vnd Obern auffhören oder sonst zergehen könne“ (S. 2–6). Bemerkenswerterweise gehörte für Neumair eine erfolgreiche Revolution nicht zu den möglichen Arten, wie ein Aufstand enden könne; allenfalls denkbar erschien ihm, dass „der Regent oder Ober den Vntern das jenige, was sie begehret, vnd vmb welches willen sie auffstehen wollen, oder allbereit auffgestanden sind, bewilliget, oder doch sich darzu erbeut“ (S. 747). Caput I (S. 7–70) ist von besonderem Interesse, weil Neumair hier 45 meistens gerechtfertigte Ursachen für Aufstände anführt, die er wie bei ihm üblich mit historischen Beispielen von der Antike bis zu seiner Gegenwart belegt. Nur zwei Gründe, die Neumair anführte, sind auch für ihn nicht akzeptabel: einen Aufruhr aus „Muthwill“ anzufangen, weil es einem zu gut geht (Nr. 16), oder einen Aufruhr zu starten, um der Bestrafung für einen anderen Aufruhr zu entgehen (Nr. 18). Ansonsten aber sammelte er bei aller wissenschaftlichen Neutralität, zu der er sich verpflichtet glaubte, die Aufstandsursachen nicht ohne Sympathie, wie man an der Identifikation bemerkt, die sich darin ausdrückt, dass er einmal von der obrigkeitlichen Grausamkeit „wider vns“ schrieb (S. 69, Nr. 44). Gerechtfertigt sind die Aufstände bei Neumair niemals in monarchomachischer Tradition, sondern in aller Regel aus landständischer Opposition gegen den säkularen Absolutismus. Zwei Ursachen erschienen Neumair besonders häufig zu sein: Nämlich erstens die Verfehlungen von Unterobrigkeiten, also von höheren oder niederen Staatsdienern (Nr. 9): „Dann Auffruhr vnnd Empörung des Volcks wird meistestheils durch der Beampten Vngerechtigkeit verursachet“ (S. 31); und zweitens Übergriffe gegen Frauen (Nr. 29): „Dann es ist kein Ding auff der Welt, welches den Menschen hefftiger zu Hertzen gehet, auch sie mehr bewegt, wider jhre Regenten zusammen zu schweren, als wenn jhnen die Weiber geschendet werden. Es sind auch mehr Könige vnd Regiment vmb dieser Vrsach willen zu Boden gangen, als vmb anderer willen, darüber sie sonst auch zu Grund zu gehen pflegen“ (S. 60). Am meisten Beispiele führte er für religiös motivierte Aufstände an; besonders interessant ist das unter anderem mit dem englischen Wat TylerAufstand und dem Bauernkrieg von 1525 belegte Bedürfnis nach libertärer Egalität (Nr. 24). Allerdings wies Neumair ausdrücklich darauf hin, dass es „gemeiniglich“ immer mehrere Ursachen sind, die bei einem Aufstand „concurriren können“; aber systematisch zerlegt, entstünden Revolten aus folgenden Ursachen, nämlich 52
I. Daß man die Vntern zu einer andern Religion […] zwingen wil (S. 3); II. Daß man newe Gebräuche, Statuta vnd Rechte, wider das Herkommen, einführen wil (S. 11); III. Daß man den Vntern jhre alte hergebrachte Privilegien […] etc. zu nicht machen, oder dieselben endern, oder wol gar auffheben […] wil (S. 12); IV. Daß die Vntern mit so gar vnauffhörlichen harten und schweren Diensten belegt werden (S. 14); V. Daß die Regenten […] den Nutz vnd Vortheil eines Dinges, welchen die Vntern haben sollen, aus Geitz zu sich ziehen (S. 15); VI. Daß der Justiz jhr rechter Lauff nicht gelassen […] wird (S. 16); VII. Daß man von den Vntern etwas fordert, […] so wider Gott, auch alle Recht vnd Billigkeit ist (S. 17); IIX. Daß man die Vntern mit […] vngewöhnlichen vnd vnerträglichen Schatzungen vnd Stewern […] beschweret, vnd aussauget, oder doch beschweren wil (S. 19); IX. Daß man von den Regenten oder […] Beampten vnd Dienern, Gewalt vnd Vnrecht leiden müssen (S. 31); X. Daß die Vntern von dem Regenten […] veracht vnd hintangesetzt, oder auch jhnen Frembde vnd Ausländische fürgezogen werden (S. 34); XI. Daß man von den Vntern weicht, oder sie sonst Hülfflos lest (S. 39); XII. Daß die Vntern von den […] Obern nicht erlangen können, was jhnen von Rechts vnd Billigkeit wegen gebürt (S. 39); XIII. Daß die Vntern von den Obern vbel vnd tyrannisch […] tractiret werden (S. 40); XIV. Daß man die Vntern mit Schmachworten […] hönet (S. 42); XV. Daß die Vntern von den Regenten […] vereussert, vnnd vnter eines andern Gehorsam oder Zwang gebracht werden [s]ollen (S. 43); XVI. Daß die Vntern in Vberfluß […] leben, oder so gar gelinde Obrigkeit haben, darüber sie stoltz vnd vbermütig werden (S. 45); XVII. Daß die Regenten […] mit der Müntz Enderung machen wollen (S. 45); XIIX. Daß sich die Vntern vor einer Straff fürchten, weil sie wider jhren […] Obern etwas Böses begangen (S. 47); XIX. Daß den Vntern von den Obern allerhand Schmach zugezogen wird (S. 48); XX. Daß man den Vntern nicht helt, worzu man sich gegen sie verpflichtet (S. 48); XXI. Daß man von des Regenten […] Vorfaren viel Vnrecht vnd Schmach leiden müssen, vnd also dergleichen sich von jhm auch besorget (S. 50); XXII. Daß man im Regiment fürnimmt, so wider das Herkommen und die alte Gewonheit (S. 50); XXIII. Daß die Vntern von andern zum Auffstand vnd Auffruhr angehetzt werden, als wann sie dadurch jhren Zustand verbessern köndten (S. 51); XXIV. Daß die Vntern vnter des Obern Gehorsam nit mehr seyn, sondern mit Gewalt sich davon losmachen, vnd hinfüro in Freyheit, vnd den Herren gleich leben wollen (S. 55); XXV. Daß den Vntern befohlen wird, wider jhren Rgenten auffzustehen […], weil er in Bann gethan, oder in die Acht erkleret ist (S. 56); XXVI. Daß die Vntern einen, den der Regent […] in der Custodi hat, […] wiederumb los vnd frey machen wollen (S. 57); XXVII. Daß man das gemeine Wesen verbessern, vnd die bösen Gebreuch endern wolle (S. 58); XXIIX. Daß der Regent oder Ober böse eigennützige vnd dem gemeinen Nutz schädliche Leut umb sich oder sonst in Diensten hat, die man abgeschaft haben wil (S. 59); XXIX. Daß man den Vntern jhre Weiber oder Töchter, oder ander nahe Blutsverwandte geschendet (S. 60); XXX. Daß die Vntern Hunger leiden (S. 61); XXXI. Daß der Regent oder Ober zur Regierung vntüchtig (S. 62); XXXII. Daß man die Vntern wider jhre Feinde hülfflos lest (S. 63); XXXIII. Daß man den Vntern nach dem Leben getrachtet (S. 63); XXXIV. Daß man den Vntern Kriegsvolk in Besa[tz]ung legen, oder einquartiren wil, welches sie vnterhalten sollen (S. 63);
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XXXV. Daß man den Vntern den Nutz vnd Genies eines Dinges, so sie allzeit vor sich gehabt, einem andern vbergeben wil (S. 65); XXXVI. Daß der Regent oder Ober dem gemeinen Wesen vbel fürstehet, vnd man jhn nicht lenger dulden wil (S. 65); XXXVII. Daß man den Vntern, welche sonst in grosser Freyheit gelebt, zu gäntzlichem Gehorsam bringen wil (S. 66); XXXIIX. Daß man etwas fürnimmt, daraus den Vntern grosser vnd vnwiederbringlicher Schad entstehen kan, […] insonderheit [… durch] einen vnnötigen Krieg (S. 67); XXXIX. Daß man der Vntern Eltern, Freunde oder Anverwandte umbgebracht (S. 67); XL. Daß der Ober eine böse That begangen (S. 68); XLI. Daß der Regent der Vntern Beschwerden nicht abhelffen wil (S. 68); XLII. Daß der Regent oder Ober eine grosse Niderlag erlitten (S. 68); XLIII. Daß man umb des allgemeinen Nutzes willen Auffstand macht (S. 69); XLIV. Daß man zu dem Ende Auffruhr erregt, weil der Ober so grausam wider vns wütet vnd tyrannisiret (S. 69); XLV. Endlichen haben zwar offtmal die Vntern gantz keine Vrsach, wider jhre Regenten vnd Obern sich zu rebelliren, suchen aber hierzu selbst Mittel vnd Gelegenheit, damit sie also entweder jhren Zustand verbessern, oder einem tertio hierdurch etwas zu willen seyn, oder rauben vnd plündern wollen (S. 69).
Die Geschichte lehrte Neumair die zahlreichen Gründe, die es für Aufstände der Untertanen gegen die Obrigkeit geben konnte; die Realität des permanenten Aufstands zwang ihm aus wissenschaftlichem Systemzwang sein theoretisch vielleicht heikelstes Kapitel ab: „Was Vntere zu bedencken haben, auch thun sollen, wann sie wider jhre Regenten vnd Obern auffstehen wollen, oder allbereit auffgestanden sind“ (Caput IV). Natürlich gebühre es den Unteren nicht, sich gegen die „von Gott fürgesetzte“ Obrigkeit aufzulehnen. Doch sehe man in der Wirklichkeit, dass es allenthalben zu Aufständen komme, und daher sehe Neumair sich genötigt, „nun zu sagen, was dann die Vntern zu bedencken haben, auch thun sollen, oder vielmehr zu thun pflegen“ (S. 147). Gegen jeden Verdacht, er könne mit dem Aufruhr liebäugeln, verwahrte sich Neumair natürlich: Es ist meine Meynung nicht, daß ich damit einigen Auffstand vnd Auffruhr der Vntern wider jhre Regenten vnd Obern approbiren, oder gut heissen, viel weniger jhnen Mittel vnd Wege zeigen wolle, wie sie jhre Rebellion vnd Auffstand auffn Fall anstellen, vnd hinaus führen sollen, sondern wil nur das jenige allhier beybringen, was so wol in den alten als newen Zeiten bey solchem Handel auff der Vntern Seiten fürgelauffen, auch noch fürzugehen pflegt. Welches dann den Vntern mehr zur Warnung, Furcht, Schrecken vnd Abschew, als zum Vortheil, Nutz vnd Vnterricht, den Regenten vnd Obern aber darzu dienen kan, damit sie auff begebende Fäll desto bes[ser] sich in acht nehmen, dem Vbel begegnen, vnd solchem remediren vnd helffen können. (S. 147f.)
Dieser Aufgabe widmete sich nun Neumair mit großem Fleiß und großer Hingabe, so dass potenzielle Revolteure dieses mit 280 Seiten ziemlich ausführliche Kapitel durchaus mit „Vortheil, Nutz vnd Vnterricht“ studieren konnten, wenn etwas „auffn Fall“ anstand. Noch ausführlicher aber fiel mit 311 Seiten das Kapitel aus, in dem Neumair seine Vorschläge für die Regenten und Obern ausbreitete. Sie laufen im Wesentlichen auf den Vorschlag hinaus, seine Untertanen nicht zu sehr zu drücken: 54
Es sol aber […] ein Regent die Mittel nicht vergessen, dardurch man die Vnterthanen allzeit bey gutem Willen vnd Gehorsam erhalten vnd jhre Gemüter gewinnen vnd an sich bringen kan, welche auch dem Regenten sonderbahre Lieb, Gunst vnd Trew bey jhnen erwecken vnd jhn angenehm machen. […] Die Mittel sind aber diese, daß er nemlich seine Vnterthanen liebe, nicht tyrannisire, sie bey jhren Freyheiten vnd alten Gebreuchen vnd Gerechtigkeiten erhalte, gütig vnd from sey, sie mit Steurn vnd Schatzungen nicht aussauge, sie der Beschwerungen wo nicht gar doch zum Theil entnehme, sich woltätig gegen sie bezeuge, jhnen Vortheil zur Nahrung vnd jhren Vnterhalt thue, sie in jhren Anligen gern höre, freundlich mit jhnen rede, Gericht vnd Gerechtigkeit jhnen schleunig mittheilen lasse, wider Gewalt vnd Vnrecht beschütze, jhnen in Nöhten beyspringe vnd helffe (S. 738).
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Der Volksaufstand in ausgewählten politischen Dramen des 17. Jahrhunderts
Die Dramatiker des 17. und 18. Jahrhunderts mussten auf die Tatsache, dass der Aufstand des Volks ein ,normaler Zustand‘ war, dass es gute Gründe dafür gab, irgendwie reagieren, wenn sie die Würde der Tragödie oder des Trauerspiels als vornehmste Gattung der Dichtkunst und Schule der Könige bewahren wollten. Wie dies bei den herausragenden Vertretern der Gattung geschehen konnte, soll an verschiedenen Beispielen der westeuropäischen Dramatik kursorisch aufgezeigt werden.
William Shakespeare What is the Citie, but the People? We must proceed as we do finde the People.1
William Shakespeares (1564–1616) Werk ist bekanntlich eine Fundgrube für volksfeindliche Sentenzen. Das berühmteste Zitat stammt aus dem zweiten Teil der Trilogie King Henry VI: „Das Volk, wie ein erzürnter Bienenschwarm, / Der seinen Führer mißt, schweift hin und her / Und fragt nicht, wen es sticht in seiner Wut“.2 Es lässt sich unschwer durch beliebige Zitate aus anderen Stücken vermehren. Als „Mückenschwarm“ und Ansammlung von „Schwindelköpfe[n]“ wird das Volk schon in Titus Andronicus verhöhnt; als Kollektiv ohne Geschichtsbewusstsein und als „verworrne Menge, die mit dem Aug’, nicht mit dem Urteil wählt“, im Hamlet verachtet; als etwas, das nur „gemeine Lästerung ersinnt“, in der Comedy of Errors bezeichnet; als ebenso „laute“ wie „ungestüme“ und „tör’ge Menge“ in Measure for Measure sowie als „urteilsleere Menge“ in Cymbeline verleumdet, als „immer streit’ge, wandelbare Menge“, als „Ungeheuer mit zahllosen Köpfen“ in 2 Henry IV gegeißelt, als mit einer „angeborne[n] Bosheit“ im Coriolanus ad acta gelegt.3 Solche Florilegien kranken zumeist daran, dass nicht berücksichtigt wird, wer gerade spricht. Shakespeares Dramen zeichnen sich grob gesagt dadurch aus, dass sie, je später entstanden, desto mehr dem jeweils gerade Sprechenden Recht zu 1 2 3
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William Shakespeare: Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 3824 u. 3921 (Coriolanus III/1 u. V/6). Shakespeare: Complete Works, S. 16113 (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel). Shakespeare: Complete Works, S. 16891, 17407, 12240, 14010, 14065, 14437, 15494 und 18333 (Übersetzungen von Wolf Baudissin, August Wilhelm Schlegel und Dorothea Tieck).
geben scheinen, so dass man mindestens in den späteren Dramen auf keinen Fall die Meinung des Autors in einzelnen Repliken findet. Die Meinung des Autors interessiert in meinen Untersuchungen ohnedies nicht, weil ich auf dramatische Konstellationen hinaus will; aber gerade in diesem Zusammenhang muss auffallen, dass die zuletzt in meiner Zitatenlese zitierte Äußerung über die ,angeborene Bosheit‘ des Volks nicht von einem Verächter des Volks stammt, sondern von einem seiner Vertreter, nämlich einem Volkstribunen. Shakespeare hat in einem seiner spätesten Stücke, obgleich inzwischen frei von jeder Rücksichtnahme, sowohl den Vertreter des Volks wie den Repräsentanten der alten Aristokratie mit volksfeindlichen Repliken ausgestattet. Ist das Ausdruck seines Volkshasses?4 The Tragedy of Coriolanus entstand vermutlich Anfang 1608; das Trauerspiel wurde 1623 das erste Mal gedruckt. Das Stück ist die letzte tragische Dichtung Shakespeares, es gilt als eines der reifsten und vielschichtigsten Werke seines Autors. Man hat Coriolanus psychologisch (sowohl was den Autor, als auch was die Titelfigur betrifft) gedeutet, als historische Allegorie für die Bauernaufstände der englischen Midlands von 1607 gelesen oder als Camouflage der Erzählung des Schicksals von Lord Walter Raleigh, und manche Interpreten haben es als dramaturgisches Meisterwerk seines Autors poetologisch ausgebeutet. Ich will es hier lediglich in Hinsicht auf seine Volksdarstellung ansehen. Das Stück beginnt einschlägig: „Enter a Company of Mutinous Citizens, with Staues, Clubs, and other weapons“; „Es tritt auf ein Haufe aufrührischer Bürger mit Stäben, Knütteln und anderen Waffen“ (S. 3725; 18271).5 Es ist die eine Hälfte der aufständischen Bürger, die entschlossen sind, den Senat dafür zur Verantwortung zu ziehen, dass er die „Teurung“ (S. 18274 u. 18287) nicht aufhalte und die einfachen Leute daher dem Hunger ausliefere. Es sei nicht „Durst nach Rache“, sondern „Hunger nach Brot“ (S. 18272), der sie in den Aufstand treibe, betont der Erste Bürger. Doch zugleich geht es um mehr: Man fordert auch eine ausgleichende Gerechtigkeit statt einer nur die Reichen begünstigenden Gesetzgebung durch die Senatoren: Make Edicts for Vsurie, to support Vsurers; repeale daily any wholsome Act established against the rich, and prouide more piercing Statutes daily, to chaine vp and restraine the poore […]; and there’s all the loue they beare vs (S. 3728). Verordnungen machen gegen den Wucher, um die Wucherer zu unterstützen. Täglich irgendein heilsames Gesetz gegen die Reichen widerrufen und täglich schärfere Verordnungen ersinnen, die Armen zu fesseln und einzuzwängen […]: das ist ihre ganze Liebe für uns. (S. 18274f.)
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Vgl. Michael Hattaway: Rebellion, Class Consciousness, and Shakespeare’s 2 Henry VI. In: Cahiers Elisabéthains 33 (1988), S. 13–22, S. 17: „It is still a commonplace to claim that Shakespeare, like Horace, hated the profane mob“. Zitiert wird im Folgenden die First Folio-Ausgabe mit der klassischen Übersetzung von Dorothea Tieck unter Angabe der Seitenzahlen von Shakespeare: Complete Works.
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Der Aufstand ist gefährlich genug, so dass der Senat auf zweifache Weise reagiert: Einerseits durch verstärkte ideologische Anstrengung – Menenius Agrippa beruhigt die eine Hälfte der Aufständischen durch ein „hübsches Märchen“ (S. 18275; 3729: „pretty Tale“), nämlich mittels der bekannten Fabel von dem Magen und den erzürnten Leibesgliedern6 – andererseits durch politische Zugeständnisse: Die andere, nicht leibhaftig auf die Bühne geführte Hälfte der Aufständischen ließ sich nur beruhigen, indem man ihnen fünf „Tribunen, / Um ihre Pöbel-Weisheit zu vertreten, / Aus eigener Wahl“ (S. 18281; 3735: „Fiue Tribunes to defend their vulgar wisdoms / Of their owne choice“), so formuliert es der volkshassende Cajus Marcius, bewilligt. Der letzte Rest innerrömischen Zwiespalts wird durch einen Einigkeit erzwingenden Krieg nach außen gekittet: Rom befindet sich, so erfahren wir am Ende der Szene, im Krieg gegen die Volsker. Diese erste Szene markiert zugleich den Beginn der tragischen Handlung, deren Zielpunkt, wie in den meisten Tragödien, der Tod der Titelfigur ist. Die letzten Worte des Stücks sind eine Szenenanweisung: „Exeunt bearing the Body of Martius. A dead March Sounded“; „Sie tragen die Leiche Coriolans fort. Trauermarsch“ (S. 3929; 18482). Coriolans Todesurteil wird in der ersten Szene ausgesprochen, und zwar vom aufständischen Volk: 1. CIT[IZEN]. First you know, Caius Martius is chiefe enemy to the people. ALL. We know’t, we know’t. 1. CIT[IZEN]. Let vs kill him, and wee’l haue Corne at our own price. Is’t a Verdict? ALL. No more talking on’t; Let it be done, away, away (S. 3725). ERSTER BÜRGER. […] Cajus Marcius ist der Hauptfeind des Volkes. ALLE BÜRGER. Wir wissen’s! Wir wissen’s! – ERSTER BÜRGER. Laßt uns ihn umbringen, so können wir die Kornpreise selbst machen. Ist das ein Urteilsspruch? ALLE BÜRGER. Kein Geschwätz mehr darüber. Wir wollen’s tun (S. 18271).
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Die antike Wanderfabel (vgl. Wilhelm Nestle: Die Fabel des Menenius Agrippa. In: Klio 21 (1927) S. 350–360) erhielt ihre bekannteste Ausformung durch einen „Aesopus Latinus“ genannten Dichter (sog. „Fabeln des Romulus“, Nr. 66; Antike Fabeln in einem Band. Hg. u. übers. v. Johannes Irmscher. Berlin 1978, S. 385); sie findet sich auch in Shakespeares Primärquellen (Plutarch: Lebensbeschreibungen. Gesamtausgabe in sechs Bänden. Übers. v. Johann Friedrich Kaltwasser, bearb. v. Hanns Floerke. Textrevision u. biogr. Anhang v. Ludwig Kröner. München 1964, Bd. 2, S. 9: „Coriolanus“ c. 6; Titus Livius: Römische Geschichte. 4 Bde. Übers. v. Konrad Heusinger. Hg. v. Otto Güthling. Leipzig 1884–1885, Bd. 1, S. 161f.: 2. Buch, Kap. 32), wurde aber ausführlicher in mehreren zeitgenössischen Werken nacherzählt und bearbeitet; überdies scheint dies die einzige Stelle zu sein, an der Shakespeare mehr als einer Quelle folgte (vgl. Kenneth Muir: Menenius’s Fable. In: Notes & Queries 198 (1953) S. 240–242; ders.: Shakespeare’s Sources. Teil 1. London 1957, S. 219–224), was ihre besondere Bedeutung anzeigt, abgesehen davon, dass Shakespeare sie ihrer ursprünglichen Lokalisierung (Menenius erzählt sie nach der Sezession des Volks auf dem Mons Sacer, was mit der Geschichte Coriolans nichts zu tun hat) beraubt und in anderem Kontext in der ersten Szene seines Stücks platziert. Die Fabel gibt mindestens zwei Leitthemen des ganzen Stücks vor, nämlich die Analogie zwischen politischem Körper und menschlichem Organismus sowie das prekäre Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft.
Cajus Marcius – oder Coriolan, wie er später bezunamt wird – soll als Hauptfeind des Volks für die Hungersnot, die der Senat und die Aristokratie insgesamt verantworte, beispielhaft zur Rechenschaft gezogen werden, sein Tod soll die gestörte Ordnung wieder herstellen. Die Tragedy of Coriolanus ist der permanent retardierte Vollzug dieses Urteils. In der letzten Szene des Stücks tritt der inzwischen auf die Seite der Volsker übergetretene Coriolan „vor das Volk“ in Antium, „in der Hoffnung, / Durch Worte sich zu rein’gen“ (S. 18473; 3920: „ t’ appeare before the People, hoping / To purge himselfe with words“). Doch auch hier bestätigt das Volk das schon zu Beginn über ihn gesprochene Verdikt: „ALL PEOPLE. Teare him to peeces, do it presently“; „DIE BÜRGER durcheinander. Reißt ihn in Stücke, tut es gleich!“ (S. 3927; 18480) Durch seinen ehemaligen und gegenwärtigen Feind, zwischenzeitlichen Freund, den volskischen Edlen Tullus Aufidius wird Coriolan vor den Augen des erschrockenen Gerichts gelyncht. Coriolan stirbt letztlich den Tod, den er selbst predigte. Wann immer er mit den einfachen Bürgern konfrontiert war, wann immer er an die „commons“ dachte, war sein ,cetero censeo‘, kurzen Prozess zu machen: „Let them hang!“ Oder noch knapper: „Hang’em!“ (S. 3734f., 3800, 3836) Doch am Ende wird mit ihm selbst kurzer Prozess gemacht. Der Weg des Protagonisten zu seinem Tod ist der Inhalt des Stücks wie in jeder anständigen Tragödie.7 Das Urteil des Volks zu Beginn des Dramas ist das Verdikt der Tragödie selbst. ,Vox populi, vox Dei‘ heißt es, und das stimmt, was Thema, Handlungsgang und Telos dieser Tragödie angeht; es heißt aber nicht, dass das Volk selbst als göttliche persona dramatis anzusehen wäre. Denn schon in der ersten Szene des ersten Akts wird vorgeführt, wie man ihm beikommen kann. Die Bürger haben guten Grund zum Aufstand (Hunger und ungerechte Gesetzgebung), sie sind sich ihrer Sache aber nicht so sicher, dass sie sich nicht durch schöne Worte blenden ließen. Anders als der nicht auf die Bühne geführte Teil der Bürgerschaft, dem die Senatoren und Cajus Marcius mit Verachtung und Härte begegneten und der das Zugeständnis des Volkstribunats ertrotzte, wird der sichtbare Teil der Aufständischen durch Menenius’ Erzählung einer Fabel merkwürdig unsicher, schwankend in seinem Urteil, augenblicklich beruhigt und umgestimmt. Vor der Fabel des Senators flieht der Mut der Volksmenge und versagt ihr „töricht[er]“ Verstand: „die Bürger schleichen sich fort“ (S. 18275, 18284; 3738: „Citizens steale away“). Die leichte Lenkbarkeit der Volksmenge thematisiert das Stück im weiteren Verlauf mehrfach, allerdings nicht immer in dem zu erwartenden Sinn. Am auffälligsten geschieht dies in den Szenen, in denen die Wahl Coriolans zum Konsul fehlschlägt. Die erste Szene des zweiten Akts führt unter anderem vor, wie das 7
Vgl. Gustav Adolf Seeck: Die griechische Tragödie. Stuttgart 2000, S. 229. Vgl. auch schon Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1. Band, 3. Buch, § 51): „Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich. Die […] Wege aber, auf welchen es vom Dichter herbeigeführt wird,“ seien „verschiedene“ (Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988, Bd. 1, S. 336).
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Volk dem Kriegshelden zujubelt. Sie zeigt zugleich, wie die Volkstribunen beschließen, eben diesen Triumphator zu Fall zu bringen. Die Tribunen vertrauen dabei auf Coriolans Arroganz, ihre Überredungskraft und des Volks „angeborne Bosheit“ (S. 18333; 3786: „their ancient mallice“). Die folgenden Szenen zeigen allerdings, dass mindestens zwei der Voraussetzungen falsch sind. Coriolan überwindet sich nämlich und fügt sich dem Herkommen, dass jeder Kandidat für das Konsulat bei den Bürgern um die Stimmen werben muss. Und so sauer es ihn ankommt: Er wirbt und gewinnt die Stimmen. Vor allem, weil zweitens das Volk eben nicht so bösartig ist, wie seine Vertreter meinen, sondern Verdienste anerkennt und „Undankbarkeit“ für „ungeheuer“ halten würde (S. 18346). Das Volk vergreift sich sogar einmal an seinem Tribunen Brutus, weil er es gegen Coriolan aufhetzte (V/4; S. 3916: „flye to your House, / The Plebeians haue got your Fellow Tribune, / And hale him vp and downe“). Shakespeare denunzierte das Volk in seiner letzten Tragödie also nicht an sich. Unsympathisch sind nicht die „Garlicke-eaters“ (S. 3885), die „Knoblauchfresser“ (S. 18438), wie der zunächst so beliebte Menenius Agrippa das Volk, das „aus dem Hals stinkt“,8 zu bezeichnen liebt, sondern seine Tribunen und die Aristokraten. Die Dramaturgie des Stücks bestätigt das Volk, auch wenn Einzelne daraus sich auffällig wankelmütig zeigen. Der „Gemeinen Fug und Recht“, die „Kraft in der gerechten Sache“ (S. 18396; 3845: „th’ right and strength a’th’ Commons“ […] And power i’th Truth a’th Cause“) setzt sich gegen die Wirrköpfe in der Volksmenge, gegen die Tribunen, gegen die Aristokraten durch. Emblematisch dafür steht die Figur des Ersten Bürgers, der sich in Szene I/1 noch so „empört / Und wild“ (S. 18431; 3879: „in wilde hurry“) gebärdete, wie man es von einem Mitglied aus dem „Schwarm“ des wütend rasenden Volks (S. 18379; 3828: „the Tagge […] whose Rage doth rend / Like interrupted Waters“) erwarten musste, aber seit dem II. Akt sich zu dem Gelindesten unter allen Personen auf der Bühne entwickelt und gelegentlich den Coriolan gegen seine nieder- wie hochgebornen Feinde verteidigt; also letztlich die Milde besitzt, die man Coriolan vergeblich anrät. In den sogenannten Römerstücken, allesamt spät entstanden, war Shakespeare in der Gestaltung von Geschichte und Politik viel freier als in den früher entstandenen, ,vaterländische‘ Geschichte darstellenden Histories. Diese liefen auf eine Verherrlichung der seinerzeit herrschenden Tudor-Dynastie hinaus – zu einem Zeitpunkt, als durchaus abzusehen war, dass sie nicht mehr lange dauern würde –, was den Schriftsteller in politischer Hinsicht disziplinierte. Die Römerdramen sind didaktisch wesentlich weniger profiliert. Obwohl sie durchaus ähnliche und ebenso aktuelle Themen behandeln („Tyrannenmord, Bürgerkrieg, Streben nach politi8
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Büchner, Georg: Danton’s Tod. Marburger Ausgabe, Band 3.2. Hg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000, S. 23 u. 63 bzw. 103 u. 138 (I/5 u. III/7, Repl. 163 u. 506); im ersten Fall charakterisiert Lacroix so das Volk, im zweiten den Tod.
scher Macht, die Frage nach der monarchischen oder demokratischen Staatsordnung, die Rolle des Volks“), boten ihre Stoffe dem Dichter einen großen Vorteil: „Der römische Geschichtshintergrund gibt Shakespeare die Freiheit, unbelastet von den Implikationen des Tudormythos das politische Verhalten empirisch zu erforschen, Politik als autonome Aktivität darzustellen“.9 Die Konzeption als „Fürstenspiegel“ verbot Shakespeare allerdings auch in den Histories, die empirische Realität zu Gunsten einer politischen Ideologie völlig aus den Augen zu verlieren. Die Staatslehre seiner Zeit wurde auf den Prüfstand dramatischer Analyse gestellt, und das Ergebnis ist bekanntlich „so ausgewogen, daß seine Stücke weder als revolutionär noch als doktrinär angesehen werden können“.10 Ein gutes Beispiel ist die Trilogie King Henry the Sixth (vmtl. 1590–1592). Dieses Stück ist als ein episodisches Geschichtspanorama konzipiert, das „am ehesten der Tudorvorstellung eines Geschichtsbuches“ entsprach. Doch gerade „an der Rolle des Volkes“ lassen sich schon in dieser frühen Phase „Veränderungen gegenüber der orthodoxen politischen Lehre beobachten. Der Volksaufstand“, so Monika Müller, „wurde in elisabethanischen Historienstücken gewöhnlich als unmotivierte Rebellion einer zügellosen Horde dargestellt, um vor solchen Auswüchsen zu warnen“. Der Aufstand unter Führung des Jack Cade wird zwar auch keinesfalls „entschuldigt“, aber als „motiviert“ dargestellt und im Grunde den Adligen zur Last gelegt.11 Im politischen Denken der Zeit war eine der gefürchtetsten ordnungsgefährdenden Kräfte der Aufruhr des Pöbels. In Shakespeares King Henry the Sixth-Trilogie jedoch erscheint als noch größere Gefahr die innere Entzweiung des Landes durch den Streit der Lords. König Heinrich klagt im ersten Teil der Trilogie (III/1): „welch ein Ärgernis für unsre Krone, / Daß zwei so edle Pairs, wie ihr, sich zanken! […] Ein gift’ger Wurm ist innerlicher Zwist, / Der nagt am Innern des gemeinen Wesens“. Er befürchtet zu Recht, „die tück’sche Zwietracht dieser Pairs“ könnte letztlich „das Reich zerstören“.12 Der Volksaufstand soll im Streit der Lords, in diesem Stück personifiziert durch den Vertreter der Adelsfronde, den Bischof von Winchester, und den Vertreter der königlichen Zentralregierung, den Protector Gloster, instrumentalisiert werden. Winchester versucht, trotz der mehrfach betonten Zuneigung des „common people“ zu Gloster, „das Land mit Aufstand [zu] überziehn“.13 Dazu muss er aber die Einmütigkeit des Volks aufbrechen. Welchen Weg er dabei gehen kann, zeigt die vor dem Tower spielende Streitszene I/3 von 1 Henry VI. Schultheiß und Bürger9 10 11 12 13
Monika Müller: Die Historien. Einleitung. In Ina Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit · der Mensch · das Werk · die Nachwelt. 2. Aufl. Stuttgart 1978, S. 376. Ebd., S. 379. Ebd., S. 380f. Shakespeare: Complete Works, S. 15921f., 15928 u. 15924 (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel). Ebd., S. 15984 (1 Henry VI V/1, S. 2778: „sacke this Country with a mutiny“).
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schaft standen prinzipiell auf der Seite des Protectors; Winchester sucht nun Zwietracht zu säen, indem er zunächst einmal Bürgerschaft und Gloster entzweit. Dabei nutzt er demagogisch die vorausgesetzte Friedenssehnsucht der Bürgerschaft aus und appelliert an die Geldbeutel des Volks („Sieh Gloster da, den Feind der Bürgerschaft, / Der immer dringt auf Krieg und nie auf Frieden, / Mit Steuern eure freien Beutel lastend“).14 Er rechnet dabei mit dem grundsätzlichen Misstrauen der Bürger gegen die Obrigkeit; und dieses will er für seine Sache instrumentalisieren. Zwar greift der Zwist der Großen zunächst noch nicht auf das Volk über, doch langfristig hat diese Strategie Erfolg. Schon bald zerfällt es in sich schlagende „Partei’n“. Als Londons Bürgermeister im Namen des Volks bei dem König um Hilfe gegen die Krawalle der „commons“ nachsucht (1 Henry VI III/1), ist der Zerfall des Volks in verschiedene Parteiungen besiegelt. Da beide ursprünglich auf der Seite Glosters und des Königs standen, zeigt die Dissoziierung von Schultheiß und Bürgerschaft, dass es Winchester gelang, die Einheitsfront gegen die Adelsfronde zu sprengen. Im folgenden Stück der Trilogie, 2 Henry VI, wird die Anatomie des Volksaufstands genauer untersucht. Ausgangspunkt ist die zunächst wieder vorausgesetzte Einheit des Volks als persona dramatis. Sie wird in drei unterschiedlichen Handlungssträngen analysiert. Zunächst wird die Macht des Volks in der Angst der Herrschenden vor dem Aufstand gespiegelt. „Staatszimmer im Palast“ lautet die Szenenbeschreibung zu I/1 in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Die anwesenden Lords analysieren die Lage nach den Verlusten der französischen Provinzen Anjou und Maine im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich. Hauptproblem der Opposition gegen den König ist, dass sein Protector oder Kanzler, der Herzog von Gloster, durch „das gemeine Volk“ begünstigt wird (I/1). Wie wir später erfahren, scheint dies daran zu liegen, dass Gloster entgegen den Behauptungen Winchesters stets „auf Englands Wohlfahrt“ sann und dafür „das dürft’ge Volk nicht wollte schatzen“ (S. 16093; 2880: „I would not taxe the needie Commons“).15 Für seine aristokratischen Gegner kommt es also darauf an, ihn auszuschalten, ohne dadurch zugleich das Volk zu provozieren. Entsprechend antwortet Winchester auf den Wunsch der Königin nach Glosters Tod. „Zwar, daß er sterb’, ist würd’ge Politik, / Doch braucht’s Beschönigung für seinen Tod. / Man muß ihn nach des Rechtes Lauf verdammen“ (S. 16099; 2886: „That he should dye, is worthie pollicie, / But yet we want a Colour for his death: / ’Tis meet he be condemn’d by course of Law“). Dies war stets ein probates Mittel, denn das Volk ist gerechtigkeitsliebend; ein ordentliches Gerichtsverfahren mit hinlänglichen Be14 15
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Ebd., S. 15875 (S. 2672: „Here’s Gloster, a Foe to Citizens, / […] O’recharging your free Purses with large Fines“). Zitiert wird im Folgenden, unter Angabe der Seitenzahl von Shakespeare: Complete Works, die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, gelegentlich ergänzt durch den englischen Text der First Folio-Ausgabe.
weisen mochte es von der Unwürdigkeit des Gegenstands seiner bisherigen Liebe und Verehrung überzeugen. Ein erster Vorstoß der Königin hatte gezeigt, dass das Volk seine Zuneigung auch zu entziehen bereit war. Glosters Frau hatte sich magischer Praktiken bedient, um den Erfolg ihrer ehrgeizigen Politik im Voraus einschätzen zu können; dabei war sie von Spionen der Adelsfronde auf frischer Tat ertappt und in einem anschließenden Prozess als Hexe überführt und verbannt worden. Das „häm’sche Volk“, oder wie sie es auch nennt: die „trunkene Schar“ des „Pöbel[s]“, zeigt „mit Fingern“ auf sie und „lacht“ ihrer „Schmach“ (sie wird „in einem weißen Hemde, Papiere auf dem Rücken geheftet, barfuß, und mit einer brennenden Kerze in der Hand“ ins Exil gebracht) (II/4, S. 16083).16 Doch entgegen den Hoffnungen seiner Widersacher hatte der Prozess gegen seine Frau Gloster selbst nicht geschadet, weder in den Augen des Königs noch des Volks; er konnte nämlich schon im Verhör glaubhaft machen, dass er von den Umtrieben seiner Frau nichts wusste und hatte sich von ihr losgesagt (II/1); nach ihrer Verurteilung sagt er denn auch zu ihr: „Das Recht hat, Leonore, dich gerichtet; / Rechtfert’gen kann ich nicht, wen es verdammt“ (II/3, S. 16077; 2863: „Elianor, the Law thou seest hath iudged thee, / I cannot iustifie whom the Law condemnes“). Das Hauptproblem der Adelsfronde besteht nun darin, dass sie gegen Gloster keine stichhaltigen Beweise in der Hand hat – Gloster weiß dies und fühlt sich entsprechend sicher: „hätt’ ich zwanzigmal so viele Feinde, / Und jeder hätte zwanzigmal mehr Macht, / Die alle könnten keine Noth mir schaffen, / So lang’ ich redlich bin, getreu und schuldlos“ (II/4, S. 16085). Daher gibt Suffolk in der entsprechenden Beratung auch zu bedenken, dass ein Gerichtsverfahren, wie von Winchester vorgeschlagen, kaum den erwünschten Erfolg haben würde, denn sie hätten „nur kahlen Grund, / […] des Tods ihn werth zu zeigen“; im Verlaufe des Verfahrens würde sich entsprechend der König „mühn für seine Rettung“ und das „Volk steht auf vielleicht für seine Rettung“ (III/1, S. 16099; 2886: „The Commons haply rise, to saue his Life“). Da man ihn durchaus aus dem Weg räumen will, beschließt man ihn heimlich zu ermorden. Schon in der nächsten Szene, der Tod Glosters ist gerade entdeckt, tritt das Volk mit Aplomb auf: „Draußen Getöse. […] Das Volk drängt sich zur Thüre herein.“ (III/2, S. 16113; 2900: „Noyse within. Enter […] many Commons“). Man will wissen, ob das Gerücht wahr ist, dass Gloster von Winchester und Suffolk „meuchlerisch ermordet“ worden sei. Die Untersuchung des Leichnams ergab tatsächlich Mord als Todesursache; als Mörder oder Auftraggeber der Mörder kommen nur Suffolk und Winchester in Frage. Winchester, der den Tod Glosters 16
Ebd., S. 2870: „Enter the Duchesse in a white Sheet, and a Taper burning in her hand, with the Sherife and Officers. […] ELIANOR. Come you, my Lord, to see my open shame? / Now thou do’st Penance too. Looke how they gaze, / See how the giddy multitude doe point, / And nodde their heads, and throw their eyes on thee. / Ah Gloster, hide thee from their hatefull lookes, / And in thy Closet pent vp, rue my shame, / And banne thine Enemies, both mine and thine.“
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vor dem Auftritt des Volks noch als eines der „heimlichen Gerichte Gottes“ (S. 16109; 2896: „Gods secret Iudgement“) gut hieß, wartet den Ausgang der Untersuchung gar nicht ab, sondern entzieht sich; verzeifelt nimmt er Gift und stirbt umnachtet und qualvoll einen „üble[n] Tod“, Gottes Verdammung gewärtig, wie folgende Szene nachträgt (III/3). Suffolk aber, der eigentliche Auftraggeber der beiden Mörder, wie die Zuschauer wissen, wird von Warwick als Täter bezeichnet, worauf jener ihn zum Zweikampf fordert. Eine solche Lösung des Falls duldet „das Volk“ indes nicht (III/2). Man schleppt beide wieder vor den König und begehrt: Vnlesse Lord Suffolke straight be done to death, / Or banished faire Englands Territories, / They will by violence teare him from your Pallace, / And torture him with grieuous lingring death. / They say, by him the good Duke Humfrey dy’de: / They say, in him they feare your Highnesse death; / And meere instinct of Loue and Loyaltie, / Free from a stubborne opposite intent, / As being thought to contradict your liking, / Makes them thus forward in his Banishment. / They say, in care of your most Royall Person, / […] And therefore doe they cry, though you forbid, / That they will guard you, where you will, or no (S. 2906f.). Wird nicht der falsche Suffolk gleich gerichtet, / Oder verbannt aus Englands schönem Reich, / So wollen sie aus eurem Schloß ihn reißen, / Und peinlich langsam ihn zu Tode foltern. / Sie sagen, daß der gute Herzog Humphrey [Gloster] / Durch ihn gestorben sei; sie sagen ferner, / Sie fürchten Euer Hoheit Tod von ihm, / Und bloßer Trieb der Lieb’ und treuen Eifers, / Von frecher widerspenst’ger Absicht frei, / Als wollten eurem Wunsch sie widersprechen, / Geb’ ihnen ein die Fordrung seines Banns. / Sie sagen, für eur hohes Wohl besorgt […], daß sie trotz Verboten / Euch hüten wollen, willig oder nicht. (S. 16120)
Das Begehren des Volks wird von Salisbury als Sprecher vorgetragen, doch sogleich macht sich die Volksmenge auch chorisch hörbar und fordert von „draußen“ sofortigen „Bescheid vom Könige, wir brechen sonst hinein!“ (S. 16121; 2908: „answer from the King, or wee will all breake in“). In dieser Zwangssituation beschließt der König, dem Volk zu willfahren, wenn auch unter wenigstens rhetorischer Behauptung seiner Autonomie: „Und, wär’ ich nicht von ihnen aufgefordert, / So hab’ ichs doch beschlossen, wie sie bitten“ (III/2, ebd.: „And had I not beene cited so by them, / Yet did I purpose as they doe entreat“). In diesem ersten Handlungsstrang tritt das Volk als geschlossenes Kollektiv dem in sich zerstrittenen Hochadel gegenüber und bewährt sich historisch-politisch als Hüter von Recht und Billigkeit, durchaus in Einklang mit Gottes Gerechtigkeit. Letzteres geschieht auch in dem zweiten, sehr kurzen Handlungsstrang um den Waffenschmiedemeister Thomas Horner und seinen Gesellen Peter Puff. Der Geselle überreicht in der Bittsteller-Szene I/3 eine Denunziation seines Meisters, der zu jener Partei gehöre, die König Heinrichs Herrschaft für illegitim halte und den Herzog von York als angeblich rechtmäßigen Erben der Krone von England unterstütze. Ein deswegen angestrengter Prozess endet mangels harter Beweise mit der Verhängung eines Gottesurteils noch am Ende derselben Szene. Das Gottesurteil wird in der Szene II/3 vollzogen. Wider Erwarten („Nie sah ich schlechter einen Kerl gemuthet, / […] als den Kläger, / Den Burschen dieses Waffenschmidts“) 64
besiegt der Geselle seinen – allerdings betrunkenen – Meister; dieser bekennt im Sterben seine „Verräterei“; „offenbart hat der gerechte Gott / Die Treu und Unschuld“ des Gesellen, meint der König, ohne die Weiterungen dieses Gottesurteils zu bedenken. Wie der Zuschauer seit der Szene davor (II/2) weiß, gibt es die Verschwörung, die dem Herzog von York die Krone Englands eintragen soll, wirklich. Und am Ende der Szene III/1, in der sich York das Oberkommando der englischen Truppen in Irland verschafft, erfährt der Zuschauer auch, wie York es anstellen will, dass ihm die Krone zufällt: nämlich mittels eines Volksaufstands in England starken Sturm erregen, / Der an zehntausend Seelen schleudern soll / Zu Himmel öder Höll’; und der soll toben, / Bis auf dem Haupte mir der goldne Reif […]. / Und als Werkzeug dieses meines Plans / Verführt’ ich einen strudelköpf’gen Kenter, John Cade als Ashford, / Aufruhr zu stiften, wie ers wohl versteht […]. / Der Teufel sei mein Stellvertreter hier […]. Setzt, ihm gelingts, wie’s allen Anschein hat, / Ja, dann komm’ ich mit meiner Macht von Irland, / Und ernte, was der Bube hat gesät (S. 16104–16106). Whiles I in Ireland nourish a mightie Band, / I will stirre vp in England some black Storme, / Shall blowe ten thousand Soules to Heauen, or Hell: / And this fell Tempest shall not cease to rage, / Vntill the Golden Circuit on my Head, / […] And for a minister of my intent, / I haue seduc’d a head strong Kentishman, / Iohn Cade of Ashford, / To make Commotion, as full well he can, / […] This Deuill here shall be my substitute; / Say that he thriue, as ’tis great like he will, / Why then from Ireland come I with my strength, / And reape the Haruest which that Rascall sow’d. (S. 2891–2893)
Bevor wir betrachten, wie sich das Volk im dritten Handlungsstrang, dem CadeAufruhr, verhält, soll noch einmal rekapituliert werden, welchen Eindruck die Zuschauer in 2 Henry VI von dem Volk bis zu Beginn des Cade-Aufstands, der das Hauptthema des vierten Akts ist, erhalten haben: In I/1 erscheint das „gemeine Volk“ als gefährliche Macht in den Kalkulationen der Mächtigen; sein erster Auftritt in I/3 zeigt es dagegen in Person einiger „Supplikanten“, die sich über die Unterdrückung namentlich durch Suffolk (Einschränkung „gemeiner Rechte“) und Winchester (willkürliche Übergriffe auf Eigentum und Ehre) beklagen, die aber von der Königin als „Halunken“ beschimpft und deren Klagen von ihr zerrissen werden. Überdies wird York mittels der Denuziation Horners durch Peter Puff indirekt des Verrats geziehen, eine Beschuldigung, die sich wie gezeigt als nur zu gegründet erweist. Auch Suffolk, Winchester und die Königin erweisen sich letztlich als Schurken. Der zweite leibhaftige Auftritt von Volksvertretern in Szene II/1 bestätigt das Volk aber mitnichten in seiner Bedeutung als gefährlichen Gegenspieler der Edlen bzw. als objektiven Träger der stückimmanenten Wahrheit, sondern zeigt es in seiner Erbärmlichkeit. Seine betrügerische Gesinnung und Leichtgläubigkeit werden an einem Einzelbeispiel gezeigt. Der kluge Regent Gloster entlarvt den Betrüger Sander Simpcox, indem er mittels verschärfter Prügel dessen Blindheit und Lahmheit kuriert; das umstehende Volk ist beeindruckt, „läuft nach und schreit: Ein Wunder!“ Der nächste Auftritt des Volks in II/4 zeigt es als schadenfrohe Menge, die die gefallene Herzogin von Gloster verhöhnt. 65
Dieser ambivalente Eindruck des Volks wird im III. Akt genutzt, um einerseits wahrscheinlicher zu machen, dass Yorks Plan, den Volksaufstand zu instrumentalisieren (III/1), gelingen könnte, denn trotz der in I/1 formulierten Furcht vor dem Volk sahen wir es bisher in überwiegend lächerlichen oder ohnmächtigen Aktionen und überdies leicht zu beeindrucken. Andererseits greift die Handlung um die Ermordung Glosters den Topos von dem gefährlichen Volk wieder auf und bestätigt dessen Gewalt und die von höheren Instanzen beglaubigte Wahrheit seiner Klagen und Urteile. Am Ende des dritten Akts steht das Volk als eigenständige Instanz, die den Verrat der Königin, Winchesters und Suffolks zunichte gemacht hat, dramaturgisch gleichgewichtig neben dem König und seinen Getreuen sowie dessen Widersacher York und seinen Getreuen. Letzterer versprach uns, dieses Volk mittels des Werkzeugs John Cade für seine Zwecke nutzbar zu machen. Wird es ihm gelingen? Der vierte Akt setzt ein mit der Bestätigung der Ehrenhaftigkeit des Volks, die sich noch bei den gemeinsten Schmugglern findet. Der entflohene Suffolk fiel bei dem Versuch, nach Frankreich überzusetzen, in die Hände von „Räubern“, die über die große Politik genauestens informiert sind und auch recht gebildet antike Beispiele herbeizitieren können. Sie begründen ihre Freibeuterei mit „Rache“ an den unterdrückerischen „Edelleuten“ und beschuldigen Suffolk speziell, als Günstling der Königin und Verschwörer gegen das Haus Lancaster an der Zerrüttung des Vaterlands hauptsächlich Schuld zu sein. Das Urteil des Volks aus der Szene III/2 wird durch sie vollstreckt. Zugleich aber wird in dieser Szene der Volksaufstand von Kent explizit als Zeichen der Staatszerrüttung durch den Freibeuter-Hauptmann gebrandmarkt. John Cades Auftritt in der nächsten Szene, sein Vorhaben, das Volk „für die Freiheit“ in den Aufstand zu führen, wird also zunächst nicht der besonderen Sympathie der Zuschauer empfohlen.17 Überdies wissen diese ja, dass Cade ein Werkzeug des Herzogs von York ist. Tatsächlich beginnt die Szene IV/2 eher burlesk. Die Handwerker Johann und Georg erwarten sich von dem Aufstand eine Umwälzung der Verhältnisse. Der Müßiggang, die Sünde und die Ruchlosigkeit der Edelleute sollen abgeschafft und stattdessen sollen „die Obrigkeiten […] Arbeitsleute sein“ (S. 16139; 2925: „let the Magistrates be labouring men“). Cade empfiehlt sich dem erwartungsvollen Volk als „Anführer“, groteskerweise indem er sich einer erfundenen aristokratischen
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Verallgemeinernd kann man sagen: „Die Sympathielenkung erfolgt widersprüchlich für und gegen Cade“; dies schlägt sich auch in der sprachlichen Gestaltung nieder: Cade „spricht abwechselnd Prosa und Verse, dadurch verdeutlichend, daß er sowohl der gehobenen als auch der niederen Ebene angehören will“, aber ebenso verdeutlichend, „daß Rangordnung auch umkehrbar ist“ (Barbara Puschmann-Nalenz: „ ,The World Turned Upside Down‘. Aufstand und Niederlage des Volkes in Shakespeares 2 Henry VI“. In: „Weine, weine du armes Volk“. Das verführte und betrogene Volk auf der Bühne. 2 Bde. Hg. v. Peter Csobádi u.a. Anif 1995, S. 131–142, hier S. 138).
Abstammung rühmt. Seine Mitstreiter Märten und Smith können darüber nur lachen (sie wissen es besser), allein sie lachen nur hinter vorgehaltener Hand und bestätigen („es ist wahrhaftig wahr“) seine Lügengeschichte, wenn es opportun ist: Denn sie brauchen Cade als charismatische Führungsfigur wegen seiner objektiven Schläue, Ausdauer und Tapferkeit. Dies war auch für den Herzog von York der entscheidende Grund, seine Sache Cade anzuvertauen. Cade bringt das Volk hinter sich, indem er ihm die „Abstellung der Mißbräuche“ (S. 16142) und eine egalitäre Gesellschaft (ebd.: „Das ganze Reich sollen alle in gemein haben“; S. 2927: „All the Realme shall be in Common“) unter seiner Allein-Herrschaft (ebd.: „when I am King, as King I will be“) verspricht. Die contradictio in adiecto soll Cade in den Augen der Zuschauer natürlich als Witzfigur entlarven. Dies geschieht auch in weiteren Szenen. Bei der Umwälzung der Verhältnisse soll man mit den Juristen beginnen, schlägt Cades wichtigster Berater, der Metzger Märten, vor; und sogleich zeigt sich das revolutionäre Rechtssystem als ebensolches Unrechtssystem wie das bestehende feudale: Der Schreiber von Chatham wird nur deswegen gehängt, weil er schreiben kann. Gleichwohl: Das Volk hängt Cade an („ALLE. Ja wohl, das thun wir“), weil es objektive Gründe für den Aufstand gibt: Die in I/3 zur Sprache gekommenen Ungerechtigkeiten und Übergriffe des Feudaladels; die in II/1 zur Sprache gekommene „Noth“, die so manchen in ein unehrliches Leben zwingt; die Verkommenheit der Obrigkeiten. Cades Losung stößt auf allgemeine Zustimmung beim gemeinen Volk: „Und ihr, des Volkes Freunde, folgt mir nach. / ’S ist für die Freiheit, zeigt euch nun als Männer; / Kein Lord, kein Edelmann soll übrig bleiben; / Schont nur, die in gelappten Schuhen gehen: / Denn das sind wackre, wirthschaftliche Leute, / Die, wenn sie dürften, zu uns überträten“ (IV/2, S. 16148; 2932f.: „And you that loue the Commons, follow me: / Now shew your selues men, ’tis for Liberty. / We will not leaue one Lord, one Gentleman: / Spare none, but such as go in clouted shooen, / For they are thrifty honest men, and such / As would (but that they dare not) take our parts“). Man hat darauf hingewiesen, dass Shakespeare hier den historischen Nachrichten über den Cade-Aufruhr auffälligerweise Episoden des Bauernaufstands von 1381 unter Wat Tyler zugesellt.18 Dies diente dem Autor vermutlich als Mittel der 18
Bei dem vom Frühjahr bis in den Herbst 1381 dauernden Aufstand unter der Führung des Kenter Ziegelbrenners Wat Tyler, bei dem es sogar zur Eroberung Londons kam, ging „es nicht ausschließlich um Lohn und Brot, sondern zudem um Freiheit und Gerechtigkeit; so wurde es auch formuliert.“ Der Prediger John Ball brachte die Forderungen der aufständischen Bauern im Südwesten Englands „in leidenschaftliche Formulierungen, wozu die Geschundenen selbst nicht in der Lage waren. Seine Forderungen – christliche Demokratie, Beachtung allgemeiner Menschenrechte, Gleichheit der Menschen – bedeuteten einen theoretischen Umsturz von Gottes Ordnung, waren damals des Scheiterhaufens würdig.“ Ball wurde nach der Niederschlagung des Aufstands „gerädert, gehenkt und gevierteilt“ (Hellmut Diwald: Anspruch auf Mündigkeit. Um 1400–1555. Frankfurt a.M. 1982, S. 29–31; vgl. auch Karl Georg Zinn: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert. Opladen 1989, S. 235–
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Diffamierung, denn aus einem Kampf um politische Teilhabe wird so ein plebejischer Klassenkampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern. Die in der Utopie Cades enthaltenen egalitären und demokratischen Elemente fand Shakespeare vermutlich hirnrissig; jedoch profilieren sie diesen Aufstand in Hinsicht auf jenen gefährlichen Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen, von dem die Gelehrten der Frühen Neuzeit häufig sprachen, stärker als es die treue Benutzung der Berichte über den historischen Cade-Aufstand (1450) ermöglicht hätte.19 Der grundsätzliche Widerspruch gegen die herrschenden Verhältnisse war denn auch die Ideologie, derer es bedurfte, den Aufstand so erfolgreich zu machen, wie er in dem Stück geschildert wird. Die Ritter Stafford führen das Heer des Königs gegen die Aufständischen und unterliegen in der Schlacht (IV/3). So ist der Weg frei für den Marsch auf London. Die Einnahme der Hauptstadt gelingt den Aufständischen relativ leicht. Die wohlhabenden Bürger fliehen, das „schlechte Volk“ tritt zu den „Rebellen“. Auf einem „Londoner Steine sitzend“ kann sich Cade als Sieger fühlen und zum „Herr[n] dieser Stadt“ („Lord of the City“) proklamieren (IV/6). Ein Entsetzungsangriff schlägt fehl, die zunächst geflohenen Bürger und die königlichen Truppen werden in einer zweiten großen Schlacht geschlagen. Cade verkündet nach dem Sieg das neue Grundgesetz: „hinfüro soll alles in Gemeinschaft sein“ (IV/7, S. 16159; 2942: „And henceforward all things shall be in Common“). Zugleich lauert in dieser Szene bereits der Keim des Untergangs. Cades Allmacht-Fantasien (ebd.: „my mouth shall be the Parliament of England; „mein Mund soll das Parlament von England sein“) wird von seinen Gefolgsleuten Johann und Smith zwar noch „beiseit“ (S. 16158f.), aber höhnisch genug glossiert. In dem Prozess gegen den menschenfreundlichen Lord Say, den man allerdings nicht ganz zu Unrecht des Verrats in Frankreich beschuldigt, verteidigt sich dieser so geschickt, dass Cade Mitleid mit ihm bekommt – und deswegen muss Lord Say sterben, weil der Despot die Regung des Mitleids in sich selbst bekämpfen muss. Damit richtet sich der Schrecken des neuen Regimes auch gegen sich selbst; und gegen seine Anhänger, wenn er dekretiert, dass sich „kein Mädchen […] verheirathen“ solle, „ohne daß sie“ ihm „ihre Jungferschaft bezahlt, eh ihr Liebster sie kriegt“ (IV/7). Cades Mission ist damit beendet, aus dem Anführer des Aufstands wird ein Tyrann und somit eine Gefahr für die eigenen Anhänger, auch weil sich die revolutionäre Gewalt verselbstständigt: „Aber ist dies nicht noch herrlicher? – […] Die Fischerstraße herauf! Die Sankt Magnus-Ecke hinunter! Todtgeschlagen! In die Themse geworfen!“ (IV/7–8, S. 16164f.; 2947–2949: „CADE. But is not this
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241). Für Johann Wilhelm Neumair von Ramsla (Von Auffstand der Vntern wider ihre Regenten und Obern sonderbarer Tractat. Jena 1633, S. 55–57) war die Tyler-Revolte eines der prominenten Beispiele für demokratisch-egalitäre Aufstandsbewegungen in der Geschichte; siehe oben S. 54. Vgl. Heiner Müller: Die Gestaltung des Volkes in Shakespeare Historiendramen, untersucht am Beispiel Heinrichs VI. In: Shakespeare-Jahrbuch 106 (1970) S. 127–175.
brauer: […] / Vp Fish streete, downe Saint Magnes corner, kill and knocke downe, throw them into Thames.“) In diesem Moment greift die Strategie des Königs, lieber zu verhandeln als Blut zu vergießen, die er gegen den Rat seiner Falken schon vor der zweiten großen Schlacht verfolgen wollte (IV/4). Er bietet all jenen aus dem Volk eine Amnestie an – großzügig wie Jesus am Kreuz meint er über das „Volk“: „es weiß nicht, was es tut!“ (S. 16153; 2937: „they know not what they do“)20 –, die rufen: „Gott erhalte seine Majestät!“ Angesichts der gegen sich selbst gerichteten Tyrannei Cades tun dies „Alle“. Wie so oft spricht der seines Rückhalts und seiner Macht beraubte ehemalige Tyrann dann wieder wahr: And you base Pezants, do ye beleeue him, will you needs be hang’d with your Pardons about your neckes? […] I thought ye would neuer haue giuen out these Armes til you had recouered your ancient Freedome. But you are all Recreants and Dastards, and delight to liue in slauerie to the Nobility. Let them breake your backes with burthens, take your houses ouer your heads, rauish your Wiues and Daughters before your faces (S. 2950). Und ihr, schlechtes Bauernvolk, glaubt ihr ihm? Wollt ihr denn durchaus mit eurem Pardon um den Hals aufgehängt sein? […] Ich dachte, ihr wolltet eure Waffen nimmer niederlagen, bis ihr eure alte Freiheit wieder erobert hättet; aber ihr seid Alle Abtrünnige und feige Memmen, und habt eine Freude daran, in der Sklaverei des Adels zu leben. So mögen sie euch denn den Rücken mit Lasten zerbrechen, euch die Häuser über dem Kopf wegnehmen, eure Weiber und Töchter vor euren Augen nothzüchtigen (S. 16166).
Tatsächlich schafft es Cade mit dieser Rede, in der er an die Not erinnert, derentwegen man den Aufstand begann, noch einmal, die Herzen zu wenden und das Volk wieder zu (im doppelten Wortsinn) seiner Sache zu bekehren. Doch des Königs Unterhändler Clifford vermag es, das Blatt ein weiteres Mal zu wenden. Geschickt instrumentalisiert er den Hundertjährigen Krieg gegen Frankreich und appelliert an die nationalen Gefühle der gemeinen Leute. Gemäß einer Maxime Heinrichs IV., die dieser seinem Sohn auf den Weg gab,21 lenkt er 20 21
Vgl. NT Lukas 23,34: „Jhesus aber sprach / Vater vergib jnen / Denn sie wissen nicht was sie thun“. Vgl. Shakespeare: 2 Henry IV (IV/4): Der sterbende König ermahnt seinen Sohn, wie er darauf zu achten, dass „Ruh und Stilleliegen“ die Leute „nicht zu nah“ die innenpolitischen Verhältnisse „prüfen ließ. Darum, mein Heinrich, / Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüther / Mit fremdem Zwist, daß Wirken in der Fern’ / Das Angedenken vor’ger Tage banne“ (Complete Works, S. 15636; 2455: „Least rest, and lying still, might make them looke / Too neere vnto my State. / (Therefore (my Harrie) / Be it thy course to busie giddy Mindes / With Forraigne Quarrels: that Action hence borne out, / May waste the memory of the former dayes“). Das Stück Henry V zeigt die erfolgreiche Anwendung der Maxime. Clifford beruft sich in seiner Rede an das Volk auch auf das Andenken Heinrichs V.; Cade beklagt sich zu Recht über die „giddy multitude“ (S. 2870), wie sie schon Leonore Gloster nannte: „Ist eine Feder wohl so leicht hin und hergeblasen als dieser Haufe? Der Name Heinrichs des Fünften reißt sie zu hunderterlei Unheil fort, und macht, daß sie mich in der Noth verlassen.“ (S. 16167); „Was euer Feather so lightly blowne too & fro, as this multitude? The name of Henry the fift, hales them to an hundred mischiefes, and makes them leaue mee desolate“ (S. 2951).
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von der elenden Lage des Volks die Aufmerksamkeit weg auf die angebliche Bedrohung von außen: Wer’t not a shame, that whilst you liue at iarre, / The fearfull French, whom you late vanquished / Should make a start ore-seas, and vanquish you? / Me thinkes alreadie in this ciuill broyle, / I see them Lording it in London streets, / Crying Villiago vnto all they meete. / Better ten thousand base borne Cades miscarry, / Then you should stoope vnto a Frenchmans mercy. / To France, […] you are strong and manly: / God on our side, doubt not of Victorie (S. 2951). Welch eine Schmach, wenn, während ihr euch zankt, / Die scheuen Franken, die ihr jüngst besiegt, / Die See durchkreuzten und besiegten euch? Mich dünkt, in diesem bürgerlichen Zwist, / Seh’ ich sie schon in Londons Gassen schalten, / Und jeden rufen an mit: Villageois! / Eh laßt zehntausend niedre Cades verderben, / Als ihr euch beugt vor eines Franken Gnade. / Nach Frankreich! […] ihr seid stark und mänlich: / Gott mit uns, zweifelt nicht an eurem Sieg (S. 16167).
Damit ist das Volk endgültig gewonnen, der Aufstand ist verloren. König Heinrich erweist sich anschließend als guter Regent, da er die versprochene Amnestie tatsächlich gewährt und die kapitulierenden Aufständischen „dankend und verzeihend“ in die „Heimath“ entlässt (IV/9). Gerade rechtzeitig, da er in diesem Augenblick die Nachricht von der Landung Yorks erhält: „Nur erst verjagt ist Cade, sein Volk zerstreut, / Und schon ist York bewehrt, ihm beizustehn“ (IV/9). Doch York – angeblich um Cades Aufstand sowie die Verräterei des Herzogs von Somerset zu bekämpfen – kommt zu spät. Cades Anhängerschar ist zerstreut, ihr Anführer erliegt nach fünftägigem Fasten „dem Hunger […], nicht der Tapferkeit“ (S. 16175; 2959: „vanquished by Famine, not by Valour“), d.h. er wird bei dem Versuch, einen Salat zu stehlen, von einer allerdings ziemlich unsympathischen Figur22 erschlagen (IV/10). In der marxistischen Literaturwissenschaft sah man Shakespeares Grenzen darin, dass er „weder in Kollektiven noch in Ideen zu denken vermochte“, sondern nur in Personen.23 Die kurze Präsentation der beiden Stücke 2 Henry VI und Coriolanus hat gezeigt, dass dies nicht stimmt. Das Volk ist als politisch handelndes Kollektiv in beiden Stücken präsent, vor allem wenn es von außen gesehen wird, d.h. in der Regel in der Perspektive der Oberschicht. In diesem Fall kann das Kollektivum sogar zum Träger der Dramaturgie oder des inneren Wesens der Tragödie werden. Shakespeares Darstellung der Realität aber – seine Stücke meinen stets das zeitgenössische England und seine jüngst vergangene Geschichte, egal ob sie in Rom oder Wien, in einem einsamen Wald oder auf einer abgelegenen Insel spielen – ist immer auch konkret. Er bietet uns Innenansichten des Kollektivums 22
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Genauer gesagt verwandelt sich Iden durch den Totschlag erst vollends in die unsympathische Figur: „the killing of Cade transforms Alexander Iden from a figure of pastoral content, selfsufficient within his walled garden, to a bloodthirsty participant in the process of history“ (Richard Hillman: Shakespearean Subversions. The trickster and the play-text. London 1992, S. 254). Vgl. Siegfried Melchinger: Geschichte des politischen Theaters. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1974, Bd. 1, S. 153.
Volk. Interessanterweise sind dessen einzelne Vertreter in aller Regel Spitzbuben oder Strudelköpfe, Tölpel oder Schläger; alle zusammen bilden aber das mitunter positiv gesehene oder eingesetzte Kollektiv ,Volk‘. Freilich gibt es auch bei den Volksfiguren Ausnahmen; in 2 Henry VI wäre hier an erster Stelle der SeeräuberHauptmann zu nennen, der sich durch außergewöhnliche Bildung, politische Übersicht und Königstreue auszeichnet; er ist aber als Robin-Hood-ähnlicher „Schiffshauptmann“ („Captaine“) auch Vertreter einer Hierarchie, ohne die in Shakespeares Weltbild bekanntlich alles im Chaos versinken würde.24 Der andere Volks„Anführer“, John Cade, nimmt seine Stellung nicht Kraft natürlicher Autorität ein, sondern als Usurpator auf Grund einer lügenhaften Geschichte, die ihm seine „Mitkönige“ (IV/2; S. 2932: „Fellow Kings“) nur solange glauben, wie es nützlich ist. Es ist seinen Anhängern klar, dass es wohl besser ist, wenn man ihm „die Zähne ausbricht“, sobald seine „Statuten“ und „Gesetze“ „beißend“ und „heillos“ werden (IV/7). Die Hierarchie ist innerhalb des Volks sehr flach; der Anführer ist unbedingt darauf angewiesen, dass das Kollektiv seine Führung stets von Neuem billigt. Das mehrfach artikulierte Ziel ist das einer egalitär strukturierten Gesellschaft, die festgefügte Hierarchien naturgemäß nicht kennt, sondern nur vorübergehende, sachlich begründete. Die Einschätzung der königlichen Gesandten, dass Cade das Volk „mißleitet“ habe (IV/8), entspricht nicht den Tatsachen. Die Gruppe der Aufständischen konstituiert sich vielmehr durch freie Beratung, wie man dem vorbestimmten Ziel der Abschaffung feudaler Übergriffe und Missbräuche sowie der Umkehrung gesellschaftlicher Wertung von Arbeit am schnellsten näher kommt. Dies diskutieren Georg Bevis und Johann Holland; und nach ihrer Beratung erst beschließen sie, sich zu den Aufständischen zu schlagen, und zwar noch bevor Cade seine Anführerschaft zu begründen sucht und die Menge agitiert. Der Aufstand von Cade und seinen Genossen gilt der (Wieder-) Herstellung einer egalitären Freiheit, die aber vom Autor seiner ordnungspolitischen Überzeugung gemäß als Anarchie denunziert wurde. Schon Cades Bemerkung: „Wir sind erst recht in Ordnung, wenn wir außer aller Ordnung sind“ (IV/2, S. 16148; 2933: „But then are we in order, when we are most out of order“), erledigt den Aufstand, denn: „Freiheit ohne Maß“ fände sich rasch in „Zwang verkehrt“.25 Dies ist eine der nie angezweifelten, sinngemäß wiederholten und als scheinbar evident nie begründeten Grundannahmen in Shakespeares Œuvre. Gleichwohl geht damit nicht eine grundsätzliche Missbilligung des zu egalitären, demokratischen und freiheitlichen Ideen neigenden Kollektivs ,Volk‘ einher; im Gegenteil kann dieses auch Träger der dramatischen Wahrheit sein, in Einzelszenen wie in einem gesamten Stück. Ebenso gilt für die einzelnen Figuren aus dem Volk, dass sie häufig 24 25
Vgl. die Rede von Ulysses über „Degree“ und „Order“ in The Tragedie of Troylus and Cressida I/3 (Shakespeare: Complete Works, S. 3564–3566). Shakespeare: Complete Works, S. 14018f. (Measure for Measure I/3; Übersetzung von Wolf Graf Baudissin); vgl. ebd., S. 414: „too much liberty, […] Liberty / As surfet is the father of much fast, / So euery Scope by the immoderate vse / Turnes to restraint“.
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in der grobianischen Tradition als komische Tölpel agieren, doch ebenfalls nicht grundsätzlich verworfen sind: „Denn so gering und schlecht ist euer keiner“, so spricht eine der großen Sympathiefiguren in Shakespeares Œuvre, Heinrich der Fünfte, zum „Landvolk“, als „Daß er nicht edeln Glanz im Auge trüg’“.26
Pedro Calderón de la Barca Spätestens seit Goethe gilt Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) im deutschen Sprachraum als der ideelle Antipode Shakespeares,27 der, wo dieser nichts als Natur in gleichsam ungekelterter Beere gebe, die Deutung eitler menschlicher Existenz sub specie aeternitatis in Form des von der Traube „abgezogenen, höchst rektifizierten Weingeists“ auf die Bühne bringe: „er gibt eine Quintessenz der Menschheit“.28 Deshalb würden Calderóns Stücke „der gebildeten und ungebildeten Masse das höchste Vergnügen“ gewähren,29 denn sie handeln angeblich von dem Menschlichen schlechthin, das dem Ärmsten wie dem Reichsten eigen ist. An solche Interpretationen anschließend wird gern betont, dass zum Beispiel eine Deutung, die Calderóns El Alcalde de Zalamea (1640) als Ausdruck von Sozialkritik ansieht, im Unrecht sei.30 Wenn der Alkalde aus dem Bauernstand gegen alle Obrigkeit auf der einen Gerechtigkeit, die für alle Menschen gelte, beharrt, dann sei das nicht als Einklagen einer demokratischen Rechtsgleichheit zu verstehen, sondern als symbolische Handlung, in der Bauer Pedro Crespo gewissermaßen zum Stellvertreter oder wenigstens Vollzugsorgan Gottes wird. Sein verfahrensrechtlich allerdings bedenkliches Vorgehen (er verurteilt einen Straftäter, über den er nach geltendem Feudalrecht nicht richten dürfte, von seiner Befangenheit einmal 26 27
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Shakespeare: Complete Works, S. 15731 (Henry V III/1); vgl. ebd., S. 2541: „For there is none of you so meane and base, / That hath not Noble luster in your eyes.“ Vgl. Goethe an Karl Friedrich Zelter, 18. April 1829: „wie Natur und Poesie sich in der neuern Zeit vielleicht niemals inniger zusammengefunden haben als bey Shakspeare, so die höchste Cultur und Poesie nie inniger als bey Calderon“ (Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 143 Bde in 4 Abt. Hg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919, 4. Abt., Bd. 45, S. 258). Eine Ausnahme war im 20. Jahrhundert Joseph Gregor (Das spanische Welttheater. Weltanschauung, Politik und Kunst der großen Epoche Spaniens. Vollst. überarb. Neuausg. München 1943, S. 442), der auch die Gemeinsamkeiten betonte: „Es ist nicht daran zu zweifeln, daß Calderón Shakespeare gekannt“ und benutzt habe. Im Verhältnis zur Geschichte jedoch sah auch Gregor einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Shakespeare und Calderón (vgl. unten S. 82f., Anm. 55). Goethes Werke in vierzehn Bänden. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München 1981, Bd. 12, S. 303–305 („Calderons Tochter der Luft“, 1822). Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, 4. Abt., Bd. 20, S. 16 (Goethe an Heinrich von Kleist, 1. Februar 1808). Z.B. Ingeborg Frank: El Alcalde de Zalamea. In: Kindlers Literatur Lexikon im dtv. 25 Bde. München 1974, Bd. 3, S. 889; auf der anderen Seite des Interpretationsspielraums findet sich etwa Vera Brigitte Bickert: Calderons El Alcalde de Zalamea als soziales Drama. Frankfurt a.M. 1977. Die wichtigsten Deutungsvarianten vergleicht Christoph Strosetzki: Calderón. Stuttgart 2001, S. 42–46.
ganz abgesehen) wird post festum vom König mit dem Argument bestätigt: „nichts tut ein Fehl im kleinern, / Wenn man nur den Hauptpunkt traf“ (Jornada III, Platz vor dem Gemeindehaus).31 Der „Hauptpunkt“ ist die Wiederherstellung der willkürlich verletzten göttlichen Ordnung, das „Kleinere“ ist das Verfahren. Das Argument des Königs selbst ist aber willkürlich und muss einem bürgerlichen Juristen alle Haare zu Berge stehen lassen. Denn wer bestimmt letztlich, was der „Hauptpunkt“ ist? Darf auf diese Art nicht jeder exaltierte Kopf das Recht in eigene Hände nehmen? Sind damit der Willkür, der Lynchjustiz, dem Privatterror nicht Tür und Tor geöffnet? Für Calderón stellten sich die Fragen nicht in der gleichen Schärfe wie für uns heute. Für ihn ist der „Hauptpunkt“ in der prästabilierten Harmonie Gottes gegeben. Trotzdem problematisierte er den Vorfall in einer Weise, die, sollte darin keine Sozialkritik stecken, mich fragen ließe, was denn dann Sozialkritik sein soll. Nicht umsonst knüpfte Calderón vor allem an einen Vorfall an, der sich während des spanischen Portugalfeldzugs 1581 wirklich ereignet hatte. Der hochadlige Hauptmann Alvaro de Ataide ist im Haus des gerade zum Alkalden ernannten reichen Bauern Pedro Crespo einquartiert. Der Offizier vergewaltigt Crespos Tochter und verhöhnt dessen Verlangen, die Ehre der Tochter durch Heirat wieder herzustellen; worauf der Vater den Offizier in seiner Eigenschaft als Dorfrichter einkerkern lässt und sich seinerseits weigert, den Delinquenten den Militärbehörden auszuliefern, obwohl der Hauptmann als Soldat und Aristokrat nur von Militärrichtern gleichen Standes verurteilt werden dürfte. Aus Angst, dass der General den rechtlichen Standpunkt mit Gewalt durchsetzt, lässt Crespo den Vergewaltiger seiner Tochter in einem Akt eindeutiger Amtsanmaßung hinrichten. Damit zeigt sich in erster Linie das Misstrauen des Bauern Pedro Crespo gegen die irdische Gerechtigkeit, die er als Alkalde allerdings auch zu vertreten hat. Crespo nimmt – vermutlich völlig zu Recht – an, dass die Vergewaltigung einer Bauerntochter durch einen adligen Offizier vor dem Standesgericht als Kavaliersdelikt kaum oder gar nicht geahndet würde. Da sowohl die damaligen wie heutigen Leser des Stücks denselben Verdacht haben dürften, haben wir Verständnis für Crespo, der den Vergewaltiger seiner gerechten Strafe zuführt, obwohl dies auf unrechtmäßigem Weg geschieht. Crespo klagt durch sein Handeln im Namen einer übermenschlichen und überzeitlichen Gerechtigkeit auch für Bauern und andere Angehörige der Unterschichten das Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde ein. Durch einen geschickten Appell an die Menschlichkeit des Königs vermag Crespo, der sich für sein Tun vor dem Landesherrn verantworten muss, auch diesen von seinem Standpunkt zu überzeugen. Er geht implizit davon aus, dass der König, will er den Titel eines gerechten Herrschers verdienen, am Ende zur selben Entschei31
Pedro Calderón de la Barca: Dramen. Übers. v. Johann Diederich Gries (weltliche Schauspiele) u. Joseph von Eichendorff (geistliche Schauspiele), mit einem Nachw. v. Edmund Schramm. München 1963, S. 723.
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dung hätte kommen müssen wie er, und fragt ihn: „Die Gerechtigkeit des Reiches / Hat nur einen Körper zwar, / Aber der hat viele Hände: / Sagt, was tut’s, wenn diese Hand / einen umbringt, der den Tod / Von der andern sollt empfahn?“32 Die bestätigende Antwort des Königs zitierte ich bereits. Dass der absolutistische Herrscher letztlich gegen geltendes Recht die illegale Handlung für legitim erklärt, ändert nichts daran, dass er absolutistische Willkür üben muss, um sich als gerechter König zu beweisen. Dass aber Recht nur willkürlich und unter Übergehung geltender Vorschriften durchgesetzt werden kann, offenbart auf einen Schlag den Unrechtscharakter der herrschenden Ordnung, in der es keine Rechtssicherheit gibt, und schon einmal gar nicht für Unterprivilegierte. Niemand weiß und wusste dies je besser als die Deklassierten selbst, die daher im nicht mehr erträglichen Einzelfall das Recht in die eigenen Hände zu nehmen gezwungen waren. Indem Calderón den Bauern Pedro Crespo als Sympathieträger wählte, dessen amtsanmaßendes Handeln allen Menschen nachvollziehbar ist, übte er in einer Schärfe, die ihresgleichen sucht, Sozialkritik.33 Weil sich der ,barocke‘ Dichter Calderón noch im christlichen Glauben geborgen wusste, konnte er das Spiel zu einem positiven Ende bringen. Der König heißt am Ende Crespos Vorgehen gut und belohnt ihn mit der Verlängerung seines Richteramts auf Lebenszeit. Eine solche Anerkennung kann es in der bürgerlichen Gesellschaft für jemanden, der das Recht in eigene Hände nimmt, nicht geben: Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1810) zeigt, dass das Unrecht erst durch die freiwillige Unterwerfung des Titelhelden unter das von ihm zur Durchsetzung der Gerechtigkeit verletzte Recht gesühnt wird, nicht aber in der Bestrafung des Übeltäters.34 In beiden Fällen zeigt sich im individuellen Zwang zum Unrecht die Unrechtmäßigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Erkenntnis aber muss der bürgerliche Kohlhaas tragisch bezahlen; Calderón dagegen erhöhte seinen Helden am Ende, weil es ihm unproblematisch erschien, über der irdischen (Un-) Rechtspflege noch eine göttliche Gerechtigkeit anzunehmen, die sich unmittelbar mitteilen könne. Dass aber ein Bauer, ein Unterschichtler, zum Vollzugsorgan Gottes werden kann, barg auch für die frühneuzeitliche Gesellschaft sozialpolitischen Zündstoff genug in sich. 32 33
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Ebd. Daher wurde das Stück auch unter dem Eindruck der Französischen Revolution von einem holländischen Autor, der die Bearbeitung von Collot d’Herbois übersetzte, 1795 revolutionär interpretiert; bei ihm „wird Pedro Crespo zum Symbol der liberté. Die Heirat zwischen der Bauerntochter und dem Hauptmann ist Beweis für die égalité und der General findet sich mit dem Bauern in versöhnlicher fraternité zusammen“ (Martin Franzbach: Untersuchungen zum Theater Calderóns in der europäischen Literatur vor der Romantik. München 1974, S. 96). Auch Kleist arbeitete wie Calderón zur Unterstützung seiner ideologischen Argumentation mit sympathielenkenden Mitteln, allerdings in umgekehrtem Sinn: die – verglichen mit dem ursprünglichen Unrecht – skandalöse Unverhältnismäßigkeit der Kohlhaas’schen Mordbrennerei macht den Titelhelden zunehmend suspekt.
Das sozialkritische Moment in einem Drama wie dem eben angesprochenen Alcalde de Zalamea ist handgreiflich genug gestaltet, um unmittelbar einzuleuchten. Anders sieht es dagegen bei einem anderen Drama Calderóns aus, das in der Regel vor allem als ein großes „symbolisches Stück“ über die conditio humana oder als „metaphysisches Bühnenstück“ gilt.35 Gemeint ist das wahrscheinlich schon zwischen 1627 und 1629 entstandene, 1630 uraufgeführte und 1635 zum ersten Mal im Druck erschienene weltliche Schauspiel La vida es sueño.36 Hier finden wir nicht eine Gestalt aus dem Volk, die provozierend genug zum Vollstrecker göttlichen Rechts wird, sondern das Volk als Ganzes wird zum Subjekt der Geschichte, weil es sein Interesse an der Gerechtigkeit auch in einem Bereich, der es zunächst nicht direkt betrifft, selbstständig handelnd durchsetzt. Der rechtmäßige und derzeit regierende König von Polen, Basilio, hat auf Grund eines Orakels seinen Sohn Segismundo in einen abgelegenen Turm verbannt. Von der Existenz dieses Sohns weiß zunächst niemand. Man hält Basilio, „der den Studien mehr […] als den Frauen blieb ergeben“, für einen „Witwer ohne Sohn“, auf dessen Nachfolge, die zu regeln, da „Fürst Basilius scheint ermattet“, nunmehr ansteht, sowohl die Nichte Estrella als auch der Neffe Astolfo gemeinschaftlich Anspruch erheben.37 Basilio aber bekennt kurz darauf die Existenz eines näher verwandten Thronfolgers und will, bevor er endgültig seine Nachfolge regelt, diesen aus seiner Verbannung holen und probeweise regieren lassen. Bei Bewährung soll Segismundo der nächste König werden, andernfalls aber die zu verheiratenden Astolfo und Estrella als nächste Anspruchsberechtigte (I. Akt). Das Experiment schlägt auf die bekannte Art fehl: Segismundo, von dem alle Kultur ferngehalten wurde, erweist sich als gewalttätiger „Tyrann“, als Bestie sogar, die „heraufwuchs mitten unter wilden Tieren“.38 Man überwältigt ihn wieder und sperrt ihn zurück in den Turm (II. Akt). Damit könnte das Schauspiel zu Ende sein, denn dass Segismundo in seinem Gefängnis durch einen Traum zur Erkenntnis seiner selbst und damit zur Demut gelangt, erfährt am Hof niemand – wenn jetzt nicht das Volk das Gesetz des Han-
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Vgl. Eduard Schramm in Calderón: Dramen, S. 854; Stefan Niessen: Traum und Realität – ihre neuzeitliche Trennung. Diss. Darmstadt 1989, S. 210 (nach Schopenhauer: Werke, Bd. 1, S. 49: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, 1. Buch, § 5). Das Thema stammt aus dem mittelalterlichen Roman Barlaam und Josaphat, von dem 1608 eine von Calderón wie vor ihm schon von Lope de Vega gebrauchte spanische Übersetzung erschien, wo die Episode allerdings im fernen Indien spielt; Calderón ,historisierte‘ den Stoff und versetzte ihn in ein mehr oder minder zeitgenössisches Polen (möglicherweise ließ sich Calderón von Ereignissen in Russland und Polen aus dem ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zusätzlich inspirieren, spekulierte Gregor: Das spanische Welttheater, S. 461). Vgl. zu dem Stück insgesamt Strosetzki: Calderón, S. 25–40. Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ist ein Traum. Schauspiel in drei Akten. Nachdichtung von Eugen Gürster. Stuttgart 1955, S. 19; ders.: Dramen, S. 156. Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 48; Dramen, S. 188f.
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delns in die eigene Hand nähme.39 Das Volk ist nicht bereit, nachdem die Existenz eines legitimen Thronfolgers erst einmal bekannt geworden ist, den Thron einem Usurpator, dazu noch einem ausländischen, zu überlassen.40 Gran príncipe Segismundo (Que las señas que traemos Tuyas son, aunque por fe Te asclamamos señor nuestro), Tu padre el gran rey Basilio, Temeroso que los cielos Cumplan un hado, que dice Que ha de verse á tus piés puesto, Vencido de tí, pretende Quitarte accion y derecho Y dársele á Astolfo, duque De Moscovia. Para esto Juntó su corte, y el vulgo, Pentrando ya y sabiendo Que tiene rey natural, No quiere que un extranjero Venga á mandarle. Y así, Haciendo noble desprecio
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Sigismund, du großer Fürst – (Wir erkennen: du bist’s wirklich, Wenn auch Überzeugung schon Dir als unserm Herrscher huldigt.) Fürst Basilius, dein Vater, Der des Schicksals Drohung fürchtet, Daß er als der Unterlegne Deinem Fuß sich beugen müsse, Recht und Anspruch dir zu nehmen Und Astolfen sie, dem Herzog Moskaus, zu verleihn; deswegen Rief er seinen Hof. Das Volk, Ahnend, wissend schon, es lebe Ihm ein angestammter König, Will nicht dulden, daß ein Fremder Ihm gebieten soll; und so, Mit großherzigem Verschmähen,
Wie in dieser Arbeit für die Frühe Neuzeit insgesamt argumentiert wird, war der Volksaufruhr auch speziell im spanischen Siglo de Oro nicht per se verwerflich, wie Robert A. Lauer (Bandos y tumultos en el teatro político de Siglo de Oro. In: Teatro, historia y sociedad. Seminario internacional sobre teatro del Siglo de Oro español. Murcia 1994, S. 123–138) zeigte. Aus diesem Grunde glaubte Hans-Joachim Müller (Zur Problematik der Eingliederung der sozial niederen Stände bei Calderón. In: Pedro Calderón de la Barca (1600–1681). Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. v. Titus Heydenreich. Erlangen 1981, S. 33–43, hier S. 39f.), das „Volk und besonders das Bauerntum“ in Calderóns Dramen als „unbeirrbare[n] Garant der alten feudalen Hierarchie“ bezeichnen zu können, wofür ihm insbesondere der Volksaufstand in La vida es sueño als Beleg diente. Doch übersieht diese Argumentation, dass der wortführende Soldat, der Segismundo aus dem Turm holt, am Ende gerade wegen seiner Nicht-Anerkennung der feudalen Hierarchie und den sich daraus ergebenden Verhaltensvorschriften zu eben diesem Turm verurteilt wird. Außerdem ist das Beharren auf altem Recht und Herkommen nicht nur in der Frühen Neuzeit stets der Anfang und wahrscheinlich sogar die Bedingung einer revolutionären Umwälzung (vgl. Arnd Beise: Revolution. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek 2001, S. 497f.). Am Beispiel verschiedener Schweizer Volksunruhen am Ende des 18. Jahrhunderts hat Rolf Graber (Rolf Graber: Vom Memorialhandel zu den Stäfner Volksunruhen. Landbürgertum und plebejische Bewegung. In: Helmut Holzhey u. Simone Zurbuchen (Hg.): Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussen- und Innenperspektiven. Zürich 1997, S. 83–99) nachvollzogen, wie die Forderung nach neuen bürgerlichen Freiheitsrechten und der Wunsch nach Wiederherstellung der altständischen Freiheit eine explosive, revolutionäre Mischung ergab, die „die Unterschichten […] in der Endphase des Konflikts als eigenständiges Subjekt in den politischen Auseinandersetzungen hervortreten“ ließ und den „endgültigen Bruch mit den Zielvorstellungen der bürgerlichen Führer“ bewirkte (S. 93).
De la inclemencia del hado, Te ha buscado donde preso Vives, para que asistido De sus armas, y saliendo Desta torre á restaurar Tu imperial corona y cetro, Se la quites á un tirano. Sal, pues; que en ese desierto, Ejército numeroso De bandidos y plebeyos, Te aclama: la libertad Te espera; oye sus acentos.41
Jener harten Schicksalsdrohung Sucht es dich in deinem Kerker, Auf daß du mit seinen Waffen Aus dem Turme schleunig ausbrichst, Zepter, Krone dir eroberst Und sie dem Tyrannen wegnimmst. Tritt hervor; in dieser Öde Huldigt dir ein großes Heer Von Verbannten und Plebejern – Und die Freiheit harrt auf dich.42
Segismundo übernimmt nach anfänglichem Zögern aus Pflichtbewusstsein die ihm vom Volk angetragene Aufgabe und zieht an der Spitze eines Heeres von Deklassierten gegen seinen Vater in den Bürgerkrieg. Das Volk, nicht etwa abstrakt als Staatsvolk, sondern konkret in den Soldaten, den „Verbannten und Gemeinen“ („bandidos y plebeyos“), die Segismundo befreiten, erklärt Basilio zum „Tyrannen“, weil er Recht bricht, in diesem Fall die dynastisch orientierte Thronfolgeregelung. Man hat offenkundig beschlossen, dieses Unrecht nicht hinzunehmen und den bisherigen Gewalthabern zu trotzen, d.h. die Gerechtigkeit zu erzwingen. Basilio und seine Gefolgsleute qualifizieren dieses Vorgehen von ihrer Warte aus ganz richtig als „Aufruhr“, „Tumult“, „Meuterei“ und „Verrat“.43 Dennoch gilt die Sympathie des Autors und der Leser eindeutig dem nunmehr geläuterten Segismundo, der von dem angeblichen „Pöbel“, der ihm, „an des Kerkers Schwelle, / Die Herrscherwürde nochmals angetragen“ hat, auf den Thron gekämpft wird. Segismundo, den das Volk als rechtmäßigen Fürsten anerkennt, behält die Oberhand, weil das Volk nahezu unbesiegbar ist, wie Basilio weiß: ¿Quién, Astolfo, podrá parar, prudente La furia de un caballo desbocado? ¿Quién detener de un rio la corriente Que corre al mar soberbio y despeñado? ¿Quién un peñasco suspender valiente De la cima de un monte desgajado? Pues todo fácil de parar se mira, Mas que de un vulgo la soberbia ira.44
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Wer kann, Astolf, in ihrem Laufe hemmen Des Rosses Wut, frei von des Zügels Zwange? Wer die Gewalt des stolzen Stromes dämmen , Der sich zum Meere wälzt in raschem Drange? Wer einem Bergsturz sich entgegenstemmen, Der niederkracht vom jähen Felsenhange? Doch alles dies läßt sich leichter zäumen Als eines Pöbels wütend-blindes Schäumen.45
Klassische Bühnendichtungen der Spanier. Hg. u. erkl. v. Max Krenkel. Bd. 1: Calderon, Das Leben ist Traum / Der standhafte Prinz. Leipzig 1881, S. 122f. (III/3, V. 89–118). Das Zitat mischt die Übersetzungen von Johann Diederich Gries und Eugen Gürster, vgl. Calderón: Dramen, S. 219; Das Leben ist ein Traum, S. 66. Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 70f. u.ö. Klassische Bühnendichtungen der Spanier, Bd. 1, S. 127 (III/5, V. 241–248). Das Zitat mischt wieder die Übersetzungen von Gries und Gürster, vgl. Calderón: Dramen, S. 224; Das Leben ist ein Traum, S. 70.
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Er weiß auch, dass die Geschichte über Recht und Unrecht anders urteilt, als es die beteiligten Handelnden tun. Auf den bitteren Einwurf seines designierten Nachfolgers Astolfo: „Los traidores vencederos / Quedan“ („So hat der Verrat gesiegt“), antwortet er: „En batallas tales / Los que vencen son leales, / Los vencidos los traidores“ (V. 874–876; „In Gefechten solcher Art / Bleibt des Siegers Recht gewahrt; / Tückisch heißt, wer unterliegt“).46 In der folgenden Begegnung zwischen besiegtem Vater und siegreichem Sohn hat dieser Gelegenheit, seine Läuterung unter Beweis zu stellen. Versagte er während der Probezeit, so beweist er sich nun als großmütiger und gerechter Fürst, indem er dem Vater verzeiht und sich freiwillig unterwirft. „Durch solche edle Handlung“ wird er Basilio ein zweites Mal als Kind gegeben; auf der Stelle verzichtet der Vater zu Gunsten seines Sohns auf die ihm erneut zugefallene Herrschaft. Der nunmehr korrekte Akt der Thronfolge wird vollzogen. Nachdem Segismundo noch zwei Hochzeiten gestiftet hat, könnte das Drama abermals mit einem alle zufrieden stellenden, geradezu komödienhaften Schluss enden – wenn Calderón es nicht für nötig gehalten hätte, in einem bitterbösen Nachschlag den Lesern die ,Tragödie des Volks‘, welches das vordem scheinbar so glückliche Ende unter großen Opfern erst herbeiführte, deutlich vor Augen zu führen. Nachdem sogar der engste Vertraute von Basilio, gegen den Segismundo einigen Groll hegen könnte, weil dieser Clotaldo auch sein Kerkermeister war – der an früherer Stelle unzweideutig als „Verräter, Undankbarer und Gemeiner“ beschimpft wurde47 – gerade wegen der Treue zu Segismundos Widersachern in Gnade angenommen und belohnt wird, fragt (für das massenhaft in Calderóns Stück nur stimmlich anwesende Volk) derselbe Soldat, der Segismundo die oben zitierte Aufforderung, sein rechtmäßiges Amt anzutreten, überbrachte: Si así, á quien no te ha servido Honras, ¿á mí que fuí causa Del alboroto del reino, Y de la torre en que estabas Te saqué, qué me darás?
Ehrst du so, wer nicht dir diente: Was werd ich denn, der des Landes Aufstand wirkt und dich erlöste Aus dem Turme, wo du saßest, Was werd ich zum Lohn empfahn?48
Segismundo antwortet: La torre; y porque no salgas Della nunca, hasta morir Has de estar allí con guardas; Que el traidor no es menester Siendo la traicion pasada.49
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Jenen Turm; auf daß du nimmer Vor dem Tode ihn verlassest, Will ich dort für Wache sorgen. – Der Verräter ist entbehrlich, Wenn erst der Verrat vollbracht ist.50
Klassische Bühnendichtungen der Spanier, Bd. 1, S. 146f. (III/13, V. 873–876); Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 86f.; vgl. Calderón: Dramen, S. 244f. Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 69; vgl. Calderón: Dramen, S. 223. Calderón: Dramen, S. 252. Klassische Bühnendichtungen der Spanier, Bd. 1, S. 153f. (III/14, V. 1101–1110).
Dieser Zynismus der Macht macht nicht nur die Leser staunen.51 Auch die anwesenden Fürsten im Drama sind (angenehm) überrascht: BASILIO. Tu ingenio á todos admirá. ASTOLFO. ¡Qué condicion tan mudada! ROSAURA. ¡Qué discreto y qué prudente! SEGISMUNDO. ¿Que os admira? […] […] pues de pechos nobles Es tan propio el perdonarlas.52
BASILIUS. Dein Verstand erregt uns Staunen. ASTOLF. Wie so glücklich umgewandelt! ROSAURA. Wie bedächtig und wie weise! SIGISMUND. Was erstaunt ihr […]? […] edlen Herzen Ist es eigen, zu verzeihen.53
Dieser Schluss konnte auch von Calderón nur ironisch gemeint sein. Ein Dichter, der im Alcalde de Zalamea die niederen Stände „nicht nur für darstellungswürdig“ hielt, „sondern als wahrhaft aristokratischer Ehrbegriffe und Handlungsweise fähig“ schilderte,54 schloss sein Drama über die Scheinhaftigkeit menschlichen Seins, indem er die geltende Ordnung in ihrer Ungerechtigkeit bestätigt. Segismundo erweist sich nicht nur durch seine Großmut gegenüber seinen standesmäßig ebenbürtigen Gegnern als regierungstauglich, sondern auch in der standesgemäßen Verachtung und Unterdrückung der niederen Bevölkerungsschichten, denen er doch alles verdankt. Calderón war zu wahrhaftig, um die Gewaltverhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Klassen zu beschönigen oder in eine Scheinharmonie aufzulösen. Er stellte sie stattdessen ungeschminkt an den Schluss eines Dramas, in dem das Volk als eigenständiges politisches Subjekt die Geschichte über den toten Punkt hinaus zu dem scheinbaren happy ending führt; ein happy ending, das für eben dieses Volk eine Tragödie ist. Diese Darstellung verdankte sich wohl dem Realismus eines ausgebildeten Juristen, dem er sich nicht nur im Alcalde de Zalamea „gebeugt“ habe, wie es gelegentlich heißt,55 sondern dem er genauso verpflichtet war wie dem metaphysi50
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Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 93. Der letzte Satz ist die Variation eines hauptsächlich durch Plutarch überlieferten und schon in der Antike sprichwörtlichen Satzes, „er liebe den Verrat, den Verräter aber hasse er“ (zugeschrieben einem gewissen Antigonos, gebraucht auch von Augustus, so Plutarch, vgl. Große Griechen und Römer. Übers. u. erl. v. Konrat Ziegler. 6 Bde. Zürich 1954–1965, Bd. 1, S. 97). Calderóns Fürsten handeln oft nach dieser Maxime; so z.B. auch in Hija del aire (Jornada III, 53, 2 u. 60, 3; vgl. Max Kommerell: Beiträge zu einem deutschen Calderon. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1946, Bd. 2, S. 273–275) und La gran Cenobia (Jornada III, 203, 3; vgl. Calderon: Dramen, S. 360f.), darauf wies schon Max Krenkel hin, vgl. Klassische Bühnendichtungen der Spanier, Bd. 1, S. 154. Auch für die Forschung ist der Schluss des Stücks eine Herausforderung; die Meinungen hierzu sind auffällig geteilt (vgl. Strosetzki: Calderón, S. 29f.). Klassische Bühnendichtungen der Spanier, Bd. 1, S. 154 (V. 1111–1128). Das Zitat mischt die Übersetzungen von Johann Diederich Gries und Eugen Gürster, vgl. Calderón: Dramen, S. 252f.; Das Leben ist ein Traum, S. 92f. Ingeborg Frank in: Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 3, S. 889. Ich widerspreche hier grundsätzlich der idealistischen Deutung von Calderóns Dichtung, wie sie etwa durch Joseph Gregor (Das spanische Welttheater, S. 445 u. 448) gegeben wurde: „Wie keiner der spanischen Dramatiker, war auch Calderón zum historischen Drama nicht geboren. Seine Freiheit der Geschichte gegenüber“ sei unvergleichbar, ja seine Dramen zeigten, „daß sich die Phantasie unseres Dichters unmöglich durch einen historischen Vorwurf bändigen läßt.
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schen Idealismus seiner Philosophie. Zu Unrecht übertrugen manche Autoren die „unrealistische, stilisierte Kunstform“ (Alexander A. Parker) der autos sacramentals auf die weltlichen comedias von Calderón und behaupteten etwa: „Nicht aus der Welt, wie sie uns in Natur und Geschichte entgegentritt, schöpft dieser Dichter, sondern er erfindet eine ganz eigene poetische Welt, die mit der wirklichen nichts oder nur wenig gemein hat“.56 Vielmehr ist das Gegenteil richtig. Die Weltklugheit, die sein Zeitgenosse Baltasar Gracián so eindringlich zu schildern wusste, verlangte von dem Dichter in seinen für die Hofbühne von Madrid bzw. Buon Retiro geschriebenen comedias einen skrupulösen Realismus in der Schilderung der politischen Welt, die in der Darstellung des Volks als selbstständigem, aber tragisch endendem Kollektiv in La vida es sueño besonders eindrücklichen Ausdruck fand.
Das Jesuitentheater, insbesondere Jakob Masens Die Vergänglichkeit menschlicher Sachen und die Scheinhaftigkeit des Irdischen waren besonders beliebte Themen des jesuitischen Theaters, das im 17. und frühen 18. Jahrhundert seine größte Blüte erlebte. Wenn man das diesseitige Leben in all seinen Aspekten als nichtig und unwesentlich begreift, bereitet es begreiflicherweise auch prinzipiell keine Schwierigkeiten, das Volk als politisch selbstständig handelndes Subjekt der Geschichte anzuerkennen oder dieses Faktum sogar als Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit zu interpretieren. Ein Beispiel wäre das Eichstätter Drama über das Martyrium des Johannes Nepomuk, das 1708 aufgeführt wurde. Kaiser Wenceslaus verdächtigt seine unschuldige Gemahlin des Ehebruchs und will mittels Folter ihres Beichtvaters die Wahrheit erfahren, doch Nepomuk bleibt standhaft verschwiegen, wie es „das Christliche-Gesatz gebiete“. Wenceslaus’ unchristliche Tyrannei erbittert das „gemeine Volck“ so sehr, dass es „wider den so grausamben Käyser auf[stehet]“, und „den schon zum Todt abgeführten Albertum“ „auf freyen Fuß“ stellet, ebenso wie „auch die so schmählich gehaltene Käyserin“. (Albert ist der Leibbürge für den vermeintlichen Liebhaber der Kaiserin, die in einem Hundezwinger einsitzt.) Nach dieser Befreiungsaktion lässt sich das Volk allerdings wieder beruhigen: „Die Auffruhr des Volcks, so den Käyser todt oder gefangen haben wollte, wird gestillet, da sie sehen, daß Joannes, welchen sie glaubten schon umgebracht zu seyn, noch bey Leben.“ Kaiser Wenceslaus will nach dieser durch das Volk ihm beigebrachten Niederlage „seinen Thron befestigen durch neue Grausamkeit“ und „führt“ Nepomuk „wiederumb auf die Strenge Frag“, doch dieser schweigt weiter; „ob diser Bestän-
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Hier liegt einer der größten Gegensätze zu Shakespeare, für den die Geschichte, auch die Vorarbeit eines Stoffes, schon an sich ein stark bindendes Maß bedeutet“. So Eduard Schramm in seinem Nachwort zu Calderón: Dramen, S. 850.
digkeit beschämt, und ergrimmet“ „gabe der Wütterich“ „den Befelch Nepomucenum in der Moldau zu ersäuffen, welcher dann auch in aller Eyl, und in Geheimb, umb fernere Aufruhr zu verhüten, ist vollzogen worden“. Dieses Mal ist der Kaiser vorsichtiger und das Volk bekommt keinen Wind von dem Martyrium, so dass Gott nunmehr persönlich eingreifen muss und in „sonderbarer Straff“ den Tyrannen „deß Käyserthumbs entsetzet“, ihn „vom Verstand kommen“ und „in seiner Tob-Sucht auch vom Schlag getroffen“ verscheiden lässt.57 Genauso gut konnte der Aufruhr aber das Signum eines verblendeten HeidenVolks sein, wie in einem Ingolstädter Stück aus dem Jahr 1686 über eine Episode aus der Indienmission des vergangenen Jahrhunderts. Der junge Edelmann Joannes überlebt „sambt drey andern“ ein Massaker, das die Einwohner der südindischen Malabarprovinz an den 1576 auf der Suche nach Gold und Edelsteinen bei Comorín gelandeten Spaniern anstellen. Der malabarische König Zamorinus gewinnt den artigen Jüngling wegen eines Orakels lieb und will ihm seine Tochter verheiraten, so er seinem christlichen Glauben abschwört. Stattdessen zerschlägt Joannes im Tempel „ein Götzen-Bild zu Stücken“. Auß Ansehung des zergliderten Götzen-Bilds, entstehet ein Auffruhr vnter dem Volck wider den König, als der sich gegen den Christen gar zu geneigt erzeige, vnd zuvil durch die Finger sehe. […] Diese entstandene auffruhr bestirtzet weder Joannem weder seine Gesellen, die sich nur eyferiger für Christum vnd seinen Glauben zustreitten, selbsten gantz behertzter anmahnen. […] Der König wird bericht, wie daß Volck gantz schwürig vnd auffrührisch seye, vnd die Christen Todt haben wolle, wegen geübter Unthat wider den Abgott: der Königliche befelch ergehet, man solle die Rädelsführer bey dem Kopff nemmen, dem Volck aber laßt er entbieten, sie sollen ohne Sorg seyn; die Christen, (so er vorzustellen befilcht) werden eintweders jhren Glauben verlaugnen, oder deß Todts sterben müssen.
Die vier Jünglinge weigern sich selbstverständlich, ihrem Glauben abzuschwören und werden „endtlich zu dem Todt verdammet“ und hingerichtet. Die in „Malabria bestehende Kirch“ tröstet sich und lädt auch Andere „zum leyden ein“, „massen hie leyden dort ein solche Glory nach sich ziehet“.58 Jakob Masen (1606–1681) war der vielleicht bedeutendste Theoretiker des jesuitischen Theaters; in seiner Münsteraner Zeit 1645–1648 betätigte er sich aber auch selbst als Chorage, also als Theaterautor und Regisseur. In seinem poetologischen Hauptwerk Palæstra Eloquentiæ Ligatæ (partes I & II, 1654; pars III, 1657) 57
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B. Joannes Nepomucenus sub Wenceslao Cæsare Martyr / Glorreiche Martyr Deß Seeligen Joannis Nepomuceni Under dem Käyser Wenceslao außgestanden. Aychstätt: Franz Strauß 1708 (vgl. Elida Maria Szarota: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine PeriochenEdition. Texte und Kommentare. 4 in 7 Bdn. München 1979–1987, Bd. 1.2, S. 1275–1282). Laureola Glorioso Certamine Parta ab Electorali et Academico Gymnasio Societatis Jesu Ingolstadii in Theatro Exhibita. Daß ist: Glorwürdiges Sigkräntzlein Von Joanne Einem für den Christlichen Glauben Heldenmütig Streitenden Spanischen Jüngling Eroberet. Vorgestellet von dem Churfürstlichen Academischen Gymnasio, der Societät JESU, zu Ingolstatt. Ingolstatt: Thomas Graß 1686 (vgl. Szarota: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet, Bd. 2.1, S. 621–628).
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finden sich im dritten Teil als die Theorie illustrierende, in Wahrheit aber der Theorie vorarbeitende Beispiele die eigenen Spiele; zwei davon will ich in Hinblick auf die Rolle des Volks kurz ansehen. Das erste ist die berühmte „comœdia historica“ Rusticus imperans, in der Masen das Thema des Königs für einen Tag behandelte.59 Ausgangspunkt des Spiels ist das Bedürfnis nach Genugtuung für die Misshandlungen, die der Geselle Congrio durch den Schmiedemeister Mopsus erleiden muss. Als dieser sich besoffen in der Gosse wälzt, lässt Congrio ihn einfach liegen und will sich die Ungerechtigkeiten seines Herrn nicht mehr gefallen lassen, sondern statt dessen sich beim Herzog beschweren: „Hoc ut ego feram in urbe Brugarum libera, / Ubi lex & princeps est, qui legem vendicet / Injuriâ? […] / Principem habemus, quem ab æquitate Bonum / Brugenses nuncupant. hunc quid vetuerit / Adiisse? Iuris hoc servi etiam possident, / Ut majorem herum adversus minorem invocent“ (I/1, V. 98–106; S. 171).60 Es gehört zu den bemerkenswerten Details dieses Stücks, dass der Geselle in seinem Monolog die Existenz allgemeiner Gesetze und die daher erwartete standesunabhängige Rechtssicherheit für ein Charakteristikum einer „freien“ Stadt hält und dass er die ,Güte‘ eines Fürsten danach bemisst, wie stark er Garant einer Gesetzlichkeit ist, die auch einem ,Niederen‘ erlaubt, einen ,Höheren‘ zu verklagen. Herzog Philipp [III.] „der Gute“ von Burgund eignete sich als Verkörperung dieses Prinzips, weil er als relativ milder und außerordentlich lang (1419–1467) regierender Fürst, dessen Regierungszeit gemeinhin als Höhepunkt der burgundischen Geschichte galt und gilt, zur Mythenbildung einlud. In Masens Spiel erhielt er zugleich Züge eines Weltenlenkers und eines Popularfürsten; dramaturgisch nimmt er die Stelle des außerhalb jeder Kritik stehenden Choragen ein. Als solcher hat er auf einem seiner nächtlichen Spaziergänge den besoffenen Mopsus gefunden und will mit ihm ein angeblich amüsantes, altes Spiel (I/4, V. 257–261, S. 176: „Ut suo nos habitu ac moribus extemporaneus / Princeps delectet, cetera eventus feret. / Proin vos omnes hanc scenam vestrâ indole, / Atque ingenio opportunè juvare cupiam, / Ut fabula ornetur“) spielen: Er lässt ihn in seinen Palast bringen, und beim Erwachen macht man dem Entführten weis, er sei der Fürst. Nach einem Tag der verkehrten Welt macht man ihn erneut betrunken und wirft ihn wieder auf die Straße. 59
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Grundlegend für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Stück ist der Aufsatz von Harald Burger: Jakob Masens Rusticus Imperans. Zur lateinischen Barockkomödie in Deutschland. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 8 (1967) S. 31–56; vgl. auch Thomas W. Best: Time in Jakob Masen’s Rusticus Imperans. In: Humanistica Lova niensa 27 (1978) S. 287–294; ders.: On Psychology and Allegory in Jakob Masen’s Rusticus Imperans. In: Mittellateinisches Jahrbuch 13 (1978) S. 247–252. Jakob Masen: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica. Pars III. & ultima, quæ complectitur Poesin Comicam, Tragicam, Comico-Tragicam. Neue, verb. Aufl. Köln 1683 [sog. Ausgabe C]; zitiert unter Angabe von Akt/Szene und Seitenzahl. Ergänzt wird die Verszählung der „Kritischen Edition“ von Harald Burger (In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 10 (1969) S. 53–94).
Wichtig ist, dass der während des höfischen Spiels gefürstete Handwerker wie sein Geselle die wahre Qualität eines Regenten im Schutz der Gerechtigkeit sieht. ,Herzog‘ Mopsus will als Fürst vor allem gerecht sein (III/2, V. 704f., S. 189: „malos malis ego perdam modis. / Namque scio Principis esse Justitiam sequi“). Sein Verhängnis ist jedoch, dass sein Gerechtigkeitssinn verlangt, gegen sich selbst Recht zu sprechen, also der Klage seines Gesellen Congrio stattzugeben. Er tut es bedenkenlos, weil er irrig annimmt, dass er seinem Dasein als Schmied auf Dauer enthoben sei. Doch nachdem ihn seine Trunksucht wieder eingeholt hat (IV/1, V. 942f., S. 197: „Somnum iste homo rursus concepit oculis, / Omnemque in poclis submersit vigilantiam“) lässt ihn Herzog Philipp wieder in die Gosse verfrachten. Inzwischen ist die Welt für ihn nicht mehr die, die sie vorher war. Denn der Herzog für einen Tag hatte nach Recht und Billigkeit folgendes Urteil über den Schmiedemeister Mopsus gesprochen: Huc agedum Congrio, te mihi propiùs admove. Libertum ego te creo hodie, atque ab illius fabri Servitiis absolvo. Discipulum portrò tibi Tuam in disciplinam Mopsum trado fabrum: Cui deinde pari mensutâ remetibere, Ubi res & usus tulerit. […] Ubi non reperis61 domi, Istic possessionem capere fas sit tibi. (III/3, V. 786–793, S. 191f.) He, Congrio, ich bitt dich, komm heran! Du bist von heute an so frei wie ich, Von jenes Schmiedes Diensten bist du los. Und ich befehle, daß der Mops, dein Meister, von diesem Tag an dein Geselle ist. Nimm ihn gar bald in deine Lehre auf, Zahl ihm das Lehrgeld heim, so oft sich’s gibt. Beweise ihm, daß der Geselle jetzt den Meister übertrifft. […] Und was er hat, ist dein. Und wenn er nicht zu Hause ist, mein Freund, beginne gleich zu revidieren.62
Nach seinem zweiten Erwachen findet sich Mopsus also in der Rolle eines Gesellen seines vormaligen Gesellen und jetzigen Meisters Congrio wieder. Das Bewusstsein, dass vormals alles anders war, hat Mopsus nicht verlassen. Er empfindet die Schinderei, die er vordem seinem Gesellen auferlegte, nunmehr am eigenen Leib und als Sklavendienst (IV/5, V. 1222, S. 205: „Manlianum servitium“). Er hat seine Lektion gelernt und warnt Congrio deswegen, dass ein so strenges Regiment nicht von Dauer sein würde: „sæva imperia / Diuturna non sunt“; worauf dieser
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So in der Ausgabe C; die früheren Ausgaben A (1657) und B (1664) haben in Vers 792 die Form „repereris“ (vgl. Masen: Rusticus Imperans. Kritische Edition, S. 79). Jakob Masen: König für einen Tag oder Der betrunkene Schmied. Übers. v. Karlfried Schneider. Emsdetten 1953, S. 70f.
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ihm antwortet, dass er das selbst als Meister hätte früher bedenken sollen: „Antè hoc scisse oportuit, / Cùm tibi servum haberes“ (ebd., V. 1226–1228, S. 206). Im Epilog wird den Zuschauern die Lehre aus dem Spiel noch einmal explizit mitgeteilt: „Homo iste, fortunæ tam ludicræ pila, / Meum ac vestrum spectatores speculum fuit […]. Similis ô mi homo“ (Epilogus, V. 1237f. u. 1244, S. 206). Herzog Philipp hat sein Gaukelspiel dem Schmied nicht nur, sondern auch seinen Höflingen zur Lehre gegeben. Und diese haben die Lehre im Sinne ihres Herrn begriffen. Wir können uns alle in Mopsus spiegeln; wir sind alle Spieler einer Lebensrolle und Objekte einer launischen Fortuna, die mitunter unser Schicksal rasend schnell wandelt; und vor Gott, dem Direktor des großen Welttheaters, sind letztlich alle Menschen, Gemeine wie Könige, gleich. „PHILIP[PUS]. Quem nos hodie illo in homine lusum lusimus, / Deus ac natura ludunt nobiscum indies. / Personam tanquam in scena agendam sumimus“. Der Höfling: „CLEOB[ULUS]. Scimus & nos nostram personam induimus, / Et exuemus; lixis & cerdonibus / Lex eadem scripta est, quæ dynastis omnibus. / Grex an Rex sit, nil interest, nisi / Quod hic moriatur pluribus is tantùm sibi“ (IV/1, V. 949–951 u. 978–982, S. 197f.). Darüber hinaus zeigt Masen in seiner Komödie aber auch, dass der Mensch lernfähig und in seinem Kern letztlich gut ist. Mopsus hat seine Lektion am Ende gelernt, und er lernte sie durch sich selbst. Als Herzog für einen Tag erwies er sich als großzügig und gerecht: Die Folgen seiner Gerechtigkeit muss er anschließend tragen. Und er trägt sie: Demütig, wenn auch nicht ohne Klage. Noch wirklichkeitsnäher als in dieser Komödie, in der das politische Volk trotz des „realistischen Gestus’ des Geschehens“63 nur in einer relativ abstrakten Versuchsanordnung und heruntergebrochen auf ein individuelles Schicksal begegnet, hat Masen diese dramatis figura in seiner „tragœdia“ Mauritius Orientis Imperator inszeniert.64 Thema dieses Trauerspiels ist der Fall des oströmischen Kaisers Mauritius (582–602), der einem von Phocas angeführten Putsch zum Opfer fiel. Zunächst durch Tugend und militärische Fähigkeiten ausgezeichnet, steigt Mauritius nach einem siegreichen Feldzug gegen die Perser zum Schwiegersohn des Kaisers Tiberius auf, dem er nachfolgt, so erzählt es das argumentum der Tragödie.65
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Wilhelm Kühlmann: Macht auf Widerruf. Der Bauer als Herrscher bei Jacob Masen SJ und Christian Weise. In: Peter Behnke u. Hans-Gert Roloff (Hg.): Christian Weise. Dichter – Gelehrter – Pädagoge. Bern 1994, S. 245–260, hier S. 248. Vgl. zu dem Stück Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des Jesuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). Salut des âmes et ordre des cités. Bern 1978, S. 825–829; ders.: L’école, la ville, la cour. Pratiques sociales, enjeux poétologiques et répertoires du théâtre dans l’Empire au XVIIe siècle. Paris 2004, S. 419–460: „Le drame de martyr européen et le ,Trauerspiel‘. Caussin, Masen, Stefonio, Galluzzi, Gryphius“. Masen: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica, S. 260: „Mauritius Cappadox ad Orientis Imperium ex humili genere emersit, virtute bellicâ. cum à Persis divictis redux, Tiberii Imperatoris factus gener, eidem successit.“ Im Folgenden werden Zitate aus dem Stück mit Angabe von Akt/Szene und Seitenzahl der Ausgabe von 1683 nachgewiesen.
In einem einige Jahre später ausgebrochenen Krieg gegen die Awaren begeht Mauritius jedoch zwei Fehler: 1. zieht er den Klerus zum Kriegsdienst heran, was ein Verbrechen gegen Gott und seine Kirche ist und Papst Gregor zum unversöhnlichen Feind macht; 2. opfert er seine Armee sinnlos auf, was ihn bei der militärischen Elite unter Phocas genauso wie bei dem Volk verhasst macht: Die Hälfte des Heeres ist tot, die andere Hälfte gefangen. Der durch die Pest geschwächte Feind ist bereit, die Gefangenen gegen Lösegeld frei zu lassen. Mauritius verweigert dies, weil ein Soldat, der sich gefangen nehmen lasse, zu seiner Armee nicht gehöre; diese siege entweder oder sterbe: „non sunt mei, / Qui vincla manibus induunt, collo jugum. / Mei, aut solebant vincere, aut pulchrè mori“ (I/3, S. 266). Die „Gerechtigkeit“ plant nunmehr die Bestrafung des Mauritius (II/1, S. 270: „Iustitia vindictam Mauritio instruit“). Er wird peinigenden Visionen und Orakeln ausgesetzt. Mauritius entwickelt eine Paranoia und fürchtet Gegner und Verbündete gleichermaßen. Das Volk verhöhnt den Kaiser in einem Karnevalszug: Sie setzen ihn in effigie auf einen Esel und krönen ihn mit einem Kranz Knoblauch (III/1, S. 277: „Cives Mauro homini præposterè asino imposito, aliisque coronato, illudunt tamquam Imperatori Mauritio“). Die Beleidigung will Mauritius ahnden und befiehlt, die Armee gegen das eigene Volk zu führen, um die beschmutzte Ehre wieder herzustellen. Schwerter, Scheiterhaufen, Galgen und Folter (III/2, S. 278: „gladius extinguet probrum, / Ignisque vindicabit, & laquei, & rotæ“) sollen seine beleidigte Würde wieder herstellen. Allerdings ist sich Mauritius nicht sicher, ob seine Truppen gehorchen werden. Im Traum suchen ihn die Geister der toten Soldaten heim; Christus, Gnade und Gerechtigkeit klagen Mauritius wegen seiner Verbrechen an. Mauritius bereut seine Untaten und fleht um Verzeihung. Gnade und Gerechtigkeit diskutieren über eine Bewährungsfrist und verwerfen sie. Doch Christus fühlt sich durch die Erinnerung an eigene Leiden genötigt, das Urteil zu mildern: Gerechtigkeit soll ihn im Diesseits strafen. Wird er die Prüfung bestehen, soll seine jenseitige Strafe erlassen sein, wird er sich verhärten, wird sie dagegen noch verschärft. Mauritius erwacht mit der Bereitschaft, sein Schicksal und seine Strafe zu tragen. Es werden gleichwohl Maßnahmen zur Rettung der eigenen Herrschaft ergriffen. Phocas wird von der auf Mauritius erbitterten Armee als Kaiser proklamiert. Sein Bruder Priscus, der Prätorianer-Hauptmann, ist indes zunächst noch dem alten Kaiser treu und erfährt von dessen Plan, die Prätorianergarde zur Klärung der Situation einzusetzen. In verschiedenen Verhandlungen kann er sich eine Position verschaffen, die ihm alle Möglichkeiten offen lässt. Entweder wird er im entscheidenden Moment mit seinem Bruder gemeinsame Sache machen oder diesen verhaften, je nachdem welche Option aussichtsreicher zu sein scheint (IV. Akt, erster Teil). In der Stadt diskutieren die Bürger darüber, wie sie sich verhalten sollen: Soll man sich bewaffnen, um den alten Kaiser gegen die von außen anrückenden Truppen zu verteidigen oder soll man diese vielmehr als Befreier begrüßen? 85
Cives ad arma […] convolantes. […] Cives, quid agimus? […] Sententiis variatur, et rumor vagus / Suspendit animos. […] Forte consilium probo. / Capramus arma. […] Sic juvat: manum ocyus / Ad arma Cives. […] Arma corripitæ incolæ. (IV/5, S. 295f.)
Ebenso unsicher über die Lage ist man sich im Kaiserpalast und im Generalstab der anrückenden Truppen. Die kaiserliche Familie flieht jedoch vorsorglich und überlässt die Stellung einem Doppelgänger des Kaisers. In einer Parallelszene sieht man Priscus noch im Zweifel, wie er die ganze Staatsaffäre enden soll (IV/7, S. 300: „Priscus anceps, Mauritione an Phocæ faveret“). Seine Entscheidung macht er abhängig von der Meinung des Volks. Wenn die Bevölkerung Phocas zujubelt, so soll er Kaiser sein; wenn nicht, würde er Mauritius treu bleiben (ebd.: „Si faveat urbis civis, est Caesa[r] Phocas, / Mauritius inter vincla concludet decus: / Sin obstet, hic triumphus est Phocæ ultimus, / Exploro sortem, dirigant cœli precor“). Priscus präsentiert der Bevölkerung Phocas als neuen Kaiser, und die Bürger jubeln ihm zu, freuen sich über das Ende von Mauritius’ Tyrannei und verlangen dessen Verbannung. „Peracta [r]es est“, so ist’s entschieden, sagt Priscus und gibt Befehl, den alten Kaiser zu verhaften (IV. Akt, zweite Hälfte). Der letzte Akt zeigt, wie die flüchtige Familie des alten Kaisers aufgespürt und eingefangen, abgeurteilt und ziemlich brutal abgeschlachtet wird. Die Hinrichtungen werden als mahnendes Beispiel für alle Unterdrücker der Unschuld inszeniert (V/1, S. 305: „Ita opprimatur quisquis immeritos premit“). Priscus und Phocas offenbaren selbst allerdings tyrannische Qualitäten. Die Hinrichtung von Mauritius’ jüngstem Sohn, eines kleinen Kindes noch, rechtfertigt Phocas mit den Bemerkungen, schon einer, der zu einem Verbrecher heranwachsen könnte, sei der Strafe verfallen; Unheil zu verhüten, sei seine Aufgabe; und überhaupt gebäre eine Schlange nur Schlangen: „Peccare demum, qui potest, sat est nocens. / Et præstruendum noxiæ est, colubro solet / Nasci parente coluber“ (V/3, S. 309). Gleichwohl wird am Ende alles dies als Ausdruck von Gottes gerechter Rache anerkannt, auch von Mauritius, der zuletzt acht Mal mit der Bibel („Judicia justa, ô domine, justa sunt tua“66) sein Einverständnis betont. Bemerkenswert ist Phocas’ Bemerkung: „Nulla subsistunt diu / Violenta plebi regna. Qui justos premit / In justos opprimetur“: Es gibt kein Land, wo eine Gewaltherrschaft auf die Dauer dem Volk gewachsen ist. Wer ehrliche Leute ungerecht behandelt, wird stürzen (V/3, S. 312). In diesem bemerkenswerten Stück ist das Volk der entscheidende Machtfaktor in der Staatsaffäre. So realistisch Masen die politischen Intrigen schildert, so stecke hier ein idealistisches Element, meinte Michael Halbig, der Herausgeber einer englischen Ausgabe von Dramen Jakob Masens.67 Im entscheidenen Augenblick, 66 67
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V/1–V/3, S. 305–312; vgl. NT Offenbarung 16,7 („Ja, HERR allmechtiger Gott, deine gerichte sind warhafftig vnd gerecht“) und 19,2 („Denn warhafftig vnd gerecht sind seine Gerichte“). Vgl. The Jesuit Theatre of Jacob Masen. Three Plays. Hg. v. Michael Halbig. New York 1987, S. 11.
als Priscus vor der Wahl steht, den Putsch seines Bruders zu sichern oder zu vereiteln, befragt er weder sein Gewissen noch den Himmel. Vielmehr macht er seine Entscheidung allein von der Meinung des Volks abhängig, als sei vox populi tatsächlich vox Dei, als könne das Volk nicht irren, sondern entscheide immer recht: „In this remarkable progressive vein, God achieves the outcome. He preordained through and on behalf of the people. In Masen’s view, a ruler’s authority rests on a dual piety towards his people and towards God. Maurice, having violated this relationship, pays for it with his death. And Phocas, upon assuming the throne, affirms this order to the world: ,Judge like Maurice all men who wield / Scepter contrary to fellowman / And God‘ “68 (vgl. V/3, S. 312: „Ita judicetur quisquis inimicus Deo / Hominique sceptra [tr]actat, & durus gravat / Populum Tyrannus“). Es ist keine Frage, dass das Ende des Mauritius gerecht ist. Wie in dem bekannten Stück von Andreas Gryphius, Leo Armenius, ist auch hier der Vollstrecker von Gottes Rache selbst nicht frei von tyrannischen Zügen. Das zeigen nicht zuletzt die ausführlich geschilderten Hinrichtungen der ehemals kaiserlichen Familie, besonders die grausamen Abschlachtungen der Kinder. Anders als in dem Stück von Gryphius wird der Zuschauer aber nicht mit dem Befund allein gelassen, dass sich in der Bestrafung des Tyrannen ein Ablauf wiederholt, der diesen selbst schon auf den Thron brachte, sondern zwischen Gott und der die Strafe ausführenden Instanz des neuen Kaisers wird eine weitere legitimierende Instanz eingebaut, und das ist bemerkenswerterweise an einer dramatischen Schnittstelle ersten Ranges die Bevölkerung von Byzanz, das Volk, dessen Stimme in diesem Stück die des gerechten Schicksals ist.
Pierre Corneille Bei Jakob Masens französischem Altersgenossen Pierre Corneille (1606–1684) verschwindet Gott noch weiter im Ungefähren. Die Studie des katholischen Dichters Reinhold Schneider aus dem Jahr 1939 zusammenfassend, behauptete Siegfried Melchinger, Corneille „habe Konflikte aufgetürmt wie kein anderer, aber wo eigentlich der Himmel sein müsste, sei bei ihm ein leerer Raum gewesen“.69 Wie 68 69
Ebd., S. 13. Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, Bd. 1, S. 225. Reinhold Schneider (Corneilles Ethos in der Ära Ludwigs XIV. Leipzig 1939, S. 45f., 66, 77f.) beschrieb Corneilles Dramenhelden so: „Ehrfurcht bewegt das Herz der Helden nicht, denn es steht kein Himmel über ihnen; […] auch die Glaubenszeugen, die der Dichter gestaltet, kennen die Demut des Gebets nicht“; die Figuren opfern allenfalls „schattenhaften Göttern“, sie lebten alle „ohne Richter über sich“, „das wahrhaft Göttliche“ habe in den Stücken keinen Platz. „Nie rührt diese Welt an den Himmel, und nie steigt der Himmel zu ihr herab […]; der Mensch findet sein Schicksal, seine Tragik in sich selbst in einer furchtbaren Verlassenheit. […] Denn vom Menschen geht alles aus, zum Menschen, der seiner selbst mächtig ist, strebt alles zurück; auch die Märtyrer Polyeucte und Néarque werden nicht emporgerissen, sie schwingen sich selbst empor“.
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Calderón hat Corneille das Jesuitenkolleg besucht, wie dieser ist er Jurist geworden. Auch sein Theater ist „hochpolitisch“, so sehr sogar „wie das kaum eines anderen Dramatikers“. Das „Thema“ fast aller seiner Stücke „ist der Staat“, aber ein Staat, der so weit vom Volk entfernt sei wie der Hof Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV. von einem Volk, das „selbst nicht aufzutreten scheint“.70 Wie so oft kann ein genauerer Blick auf die Stücke uns eines Besseren belehren. In der berühmten „Tragédie chrétienne“ Polyeucte. Martyre (1643) begegnen uns die üblichen Motive: Der Titelheld ist von königlicher Herkunft („sort du sang des rois“) und als legitimer Prinz beim Volk beliebter („Chéri de tout le peuple“) als der Fremdherrscher, der römische Statthalter Felix. Dieser steht vor dem Problem, dass er deshalb den Tempelschänder nicht so bestrafen kann, wie er will; jedenfalls warnt ihn sein „confident“ Albin: Je dois vous avertir en serviteur fidèle Qu’en sa faveur déjà la ville se rebelle Et ne peut voir passer par la rigueur des lois Sa dernière espérance, et le sang de ses Rois. Je tiens sa prison même assez mal assuré, J’ai laissé tout autour une troupe éplorée, Je crains qu’on ne la force (III/5).71 Ich muß als treuer Diener dir berichten, Daß schon für ihn die Stadt in Aufruhr ist; Man will nicht dulden, daß der letzte Sproß Der Könige, des Volkes letzte Hoffnung Durch der Gesetze Strenge untergeht. Nicht fest genug versichert ist der Kerker; Ich sah, wie weinend ihn das Volk umstand, Ich fürchte, daß man ihn erstürmt.72
Trotzdem ist auch der Statthalter gezwungen, seiner Pflicht zu gehorchen und Polyeucte zu bestrafen (V/1: „Il faut que je le suive, / Si je veux empêcher qu’un désordre n’arrive“). Weil das Volk dem Gefangenen aber zur Seite steht („Je vois le Peuple ému pour prendre son parti“) und drauf und dran ist, ihn zu befreien („Je ne sais si longtemps j’en purrais être maître“), soll er nicht öffentlich hingerichtet, sondern gleich nach dem letzten Verhör getötet werden.73 Das aber würde erst recht die Ordnung stürzen, warnt ihn Albin: 70 71 72 73
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Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, Bd. 1, S. 222–226. Pierre Corneille: Œuvres complètes. Textes établis, présentés et annotés par Georges Couton. 3 Bde. Paris 1980–1987, Bd. 1, S. 1024. Pierre Corneille: Polyeucte Martyr. Tragédie chrétienne en cinq actes / Polyeukt der Märtyrer. Christliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dt. v. Albert Benda. Freiburg 1948, S. 77–79. Das ist die übliche Maßnahme frühneuzeitlicher Theater-Despoten; vgl. z.B. oben S. 83f. das Nepomuk-Drama von 1708 oder Marlowes The troublesome raigne and lamentable death of Edward the second, King of England: with the tragicall fall of proud Mortimer II/2, V. 1035– 1037: „GAU[ESTON]. Why do you not commit him to the tower? / EDW[ARD]. I dare not, for the people loue him well. / GAU[ESTON]. Why then weele haue him priuilie made away“ (Christopher Marlowe: Works. Ed. C. F. Tucker Brooke. 2. Aufl. Oxford 1925, S. 340). Die Überset-
Mais voyez que sa mort mettra ce Peuple en rage, Que c’est mal le guérir que le désespérer. Wie wütend wird sein Tod das Volk erst machen; Befried’gen, nicht entmut’gen muß man es.74
In der Märtyrertragödie bleibt dieses Motiv aber blind, da es am Ende nicht auf die politischen Folgen der Hinrichtung ankommt, sondern auf die Gnade, die den am Spiel Beteiligten aus dem Martyrium Polyeuctes erwächst. Ob die Volkswut über die Römer hereinbrechen wird oder nicht (V/4: „Que la rage du Peuple à présent se deploie“), bleibt unwesentlich und daher ausgespart. Das ist naturgemäß in einem rein politischen Trauerspiel völlig anders. Ich will hier ein Stück Corneilles mustern, das in Deutschland kaum bekannt ist, da es nie übersetzt wurde, obwohl der Autor es von allen seinen Dramen mit am meisten schätzte: Nicomède,75 1651 noch während der Zeit der französischen Adels-Fronde erstmals aufgeführt und nach Ansicht mancher Wissenschaftler den damals aktuellen Konflikt zwischen den Ansprüchen der absoluten Monarchie und denen des alten Feudaladels thematisierend und letztlich zu Gunsten des Absolutismus auflösend: „Der Rebell Nicomède, in dem“ der Prince de Condé, „einer der Anführer der Fronde […] zu erkennen“ sei, ordne sich am Ende „freiwillig unter“ und festige „so die Macht des Königtums“, behauptete Jürgen Grimm.76 Nicomède handelt von den letzten Regierungstagen des bithynischen Königs Prusias II., der 149 v. Chr. von seinem Sohn Nikomedes II. gestürzt wurde. Corneille fand das Thema seiner Tragödie nach eigener Angabe77 im 34. Buch des Auszugs, den Marcus Iunianus Iustinus aus der Weltgeschichte des Pompeius Trogus anfertigte. Allerdings reicherte der gebildete Autor die Erzählung des Iustinus noch durch verschiedene Informationen an, die er in weiteren historiographischen Werken der Antike (Polybios, Appianus, Livius, Diodorus Siculus) sowie in dem Standardwerk zur römischen Geschichte aus seiner Zeit (Scipion Dupleix, L’Histoire romaine depuis la fondation de Rome, 1637 und öfter) fand.78
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zungen lauten – ich mische hier Schlüter und Heymel: „GAVESTON. Was läßt du ihn nicht in den Tower schmeißen? / EDWARD. Ich wag es nicht, er ist beim Volk beliebt. / GAVESTON. Dann räumen wir ihn eben heimlich weg.“ (Christopher Marlowe: Sämtliche Dramen. Übers. u. hg. v. Wolfgang Schlüter. Frankfurt a.M. 1999, S. 439; Dramen der Shakespearezeit. Hg. u. eingel. v. Robert Weimann. Bremen 1964, S. 192.) Corneille: Œuvres, Bd. 1, S. 1039; Polyeucte/Polyeukt, S. 107. Jul. Schmidt: Nicomède. Eine Studie über Corneilles dramatische Kunst. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 56 (1932) S. 1–20, hier S. 15: „Dieses Werk vom Jahre 1651 aber ist in gewissem Sinne das bezeichnendste Stück Corneilles, wie es ja vom Dichter selbst als sein Lieblingsstück angesehen wurde“. Jürgen Grimm: Das ,klassische, Jahrhundert‘. In: Französische Literatur-Geschichte. Hg. v. dems. 3. Aufl. Stuttgart 1994, S. 136–180, hier S. 159. Vgl. Corneille: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 639 („Au lecteur“) bzw. S. 642 („Examen“). Vgl. Corneille: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 1459–1461.
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In entscheidenden Punkten wich Corneille aber von der historiographischen Überlieferung ab, durchaus in Übereinstimmung mit der Poetik seiner Zeit. François Hédelin Abbé d’Aubignac (1604–1676) schrieb in seinem Traktat La pratique du théâtre (1657): „Es ist eine allgemein anerkannte Regel, daß das Wahre nicht der Gegenstand des Theaters ist“; daher gelte, „daß die Dichtung und die anderen Künste, die allein auf der Nachahmung beruhen, sich nicht nach der Wahrheit richten, sondern nach der Anschauung und dem gewöhnlichen Empfinden der Menschen“ in der jeweiligen Zeit. D’Aubignac begründete damit das Gebot der „Wahrscheinlichkeit“, dem das Wahre und Mögliche unter Umständen aufgeopfert werden müsse, wenn es die Absichten des Dichters erforderten.79 Corneille selbst empfand die „Freyheit des Dichters“ unter Berufung auf Aristoteles als noch weitgehender und hielt es nicht nur für erlaubt, von der historischen Wahrheit abzuweichen (welches „die gemeine Meynung“ sei), sondern sogar auch von der Wahrscheinlichkeit, wenn es die „Nothwendigkeit“ erfordere. „Der Zweck des Dichters ist nach den Regeln seiner Kunst zu gefallen“; dies mache es nun mitunter notwendig, „wider die besondere Wahrscheinlichkeit [zu] verstoßen, und etwas in der Geschichte [zu] ändern“. Eingeschränkt sei „diese Freyheit des Dichters“, je „nachdem der Stoff mehr oder weniger bekannt“ ist. In dieser Hinsicht fühlte er sich im Nicomède sehr frei, da diese Geschichte wohl nur „wenig Leute, ehe ich sie auf die Bühne brachte, auch nur dem Namen nach kannten“.80 Außer Dubos81 ein gutes halbes Jahrhundert später machte Corneille auch niemand ernstlich den Vorwurf der Geschichtsverfälschung. Die Zeitgenossen nahmen das Stück sehr gut auf und es blieb bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auf der 79
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Zit. nach: Französische Poetiken. Teil I: Texte zur Dichtungstheorie vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Frank-Rutger Hausmann, Elisabeth Gräfin Mandelsloh u. Hans Staub. Stuttgart 1975, S. 120f. Pierre Corneille: Discours de la Tragédie, et des moyens de la traiter, selon le vraisemblable ou le nécessaire (1660), deutsch zit. nach der Übersetzung in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Stuttgart 1750, 2. St., S. 211–265, hier S. 264; Corneille: Œuvres, Bd. 3, S. 172: „cette liberté qu’a le poète d’aller contre la vérité et contre la vraisemblance […] doit être plus ou moins resserré, selon que les sujets sont plus ou moins connus. Il m’était beaucoup moins permis dans Horace, et dans Pompée, dont les histoires ne sont ignorées de personne, que dans Rodogune et dans Nicomède, dont peu de gens savaient les noms avant que je les eusse mis sur le théâtre.“ Abbé Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719), zit. nach: Theater und Aufklärung. Dokumentation zur Ästhetik des französischen Theaters im 18. Jahrhundert. Hg. v. Renate Petermann u. Peter-Volker Springborn. Mit einer Einl. v. Martin Fontius. Berlin 1979, S. 86. Dubos warf Corneille unter anderem vor, dass er im Nicomède den „Fehler“ begangen habe, seinen Flaminius als Sohn des Heerführers auszugeben, der in der Schlacht am Trasimenischen See gegen Hannibal gefallen war. In der Tat hieß der historische Gesandte, der Corneille als Vorbild für seinen Flaminius diente, anders, nämlich Flamininus, doch gewann Corneille aus der Veränderung des Namens (wenn er sie denn bewusst vornahm; es verwechseln auch seine Quellen mitunter die Namen) und der Erfindung dieser (wenigstens chronologisch nicht unwahrscheinlichen) Verwandtschaft ein zusätzliches Motiv für das zweifelhafte Verhalten des römischen Gesandten. Im Übrigen weist die Tragödie viele andere historische Irrtümer auf (etwa identifizierte Corneille guten Glaubens Prusias I. und Prusias II., ein Irrtum, der aber
Bühne beliebt. Sogar Denis Diderot schätzte es 1758 noch sehr hoch ein, und zwar wegen der charakterlichen Einförmigkeit der Helden.82 Dies ist deswegen interessant, weil es einen Punkt betrifft, an dem Corneille erklärtermaßen von der historischen Überlieferung abwich. Bekanntlich war Corneille ein Dramatiker der Bewunderung, das heißt, es ging ihm um makellose Helden, die gänzlich unverschuldet in ihr Unglück laufen, eine Katastrophe auf Grund ihrer Tugend aber vermeiden können. Im Nicomède musste er daher den Titelhelden wie seine anderen Helden auch „von Schandthaten so sehr bewahren, als es nur immer möglich ist“, und das hieß konkret: die Geschichte umschreiben. Die Historiker berichten, dass König Prusias seinen Sohn Nikomedes aus erster Ehe zu Gunsten des Sohns seiner zweiten Frau von der Thronfolge fernhalten und ihn deswegen sogar „umbringen lassen“ wollte. Nikomedes verbündete sich daraufhin mit dem pergamesischen König, der im Krieg mit Prusias stand, und stürzte unter anderem mit dessen Hilfe seinen Vater, den er mindestens steinigen ließ, wenn nicht sogar selbst tötete. So weit aber habe er „die Historie […] nicht getrieben“, schrieb Corneille: „Nachdem ich ihn [Nicomède] so tugendhaft abgemalt hatte, so konnte ich ihn keines Vatermords schuldig werden lassen, sondern ich glaubte, es würde genug seyn, wenn ich seine Verfolger in seiner Gewalt ließe, ohne daß er was weitres unternehme“.83 Was geschieht eigentlich in Corneilles Tragödie? – Nicomède hat sein Heer verlassen, weil er seine Braut Laodice in Gefahr wähnt. Außerdem sei er bei den Truppen von gedungenen Mördern umgeben. Laodice weiß aber eine andere Streitmacht, die hinter ihm stehe: das Volk. Le peuple ici vous aime, et hait ces cœurs infâmes; Et c’est être bien fort que régner sur tant d’âmes. (I/1; S. 648)84
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bis ins 19. Jahrhundert hinein – vgl. etwa Lemprière’s Classical Dictionary. London 1994 (Repr. der Ausg. v. 1850), S. 566 – selbst unter Altertumswissenschaftlern gängig war), oder Corneille ,mogelte‘ bewusst (etwa bei der Zusammenziehung von Ereignissen des Jahrs 183 und 149 v. Chr., oder bei der Vermengung von Ereignissen aus der Geschichte von Nikomedes II. und Nikomedes III., oder der historisch geradezu perfide anmutende Taufe von Prusias’ zweitem Sohn auf den Namen Attale). Vgl. Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst (1758), zit. nach: Theater und Aufklärung, S. 277. Diderot lobte die charakterliche Kontrastlosigkeit in dem Stück; „und welch Verdienst hat man ihm [Corneille] nicht“ daraus, „und zwar mit allem Rechte, gemacht!“ Corneille: Discours de la Tragédie, et des moyens de la traiter, selon le vraisemblable ou le nécessaire (1660); zit. nach der deutschen Übersetzung in: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 2. St., S. 243; Corneille: Œuvres, Bd. 3, S. 160f.: „C’est un soin que nous devons prendre de préserver nos héros du crime tant qu’il se peut, et les exempter même de tremper leurs mains dans le sang, si ce n’est en un juste combat. J’ai beaucoup osé dans Nicomède. Prusias son père l’avait voulu faire assassiner dans son armée, sur l’avis qu’il en eut par les assassins mêmes, il entra dans son royaume, s’en empara, et réduisit ce malheureux père à se cacher dans une caverne, où il le fit assassiner lui-même. Je n’ai pas poussé l’histoire jusquelà, et après l’avoir peint trop vertueux pour l’engager dans un parricide, j’ai cru que je pouvais me contenter de la rendre maître de la vie de ceux qui le persécutaient, sans le faire passer plus avant.“ Zit. nach Corneille: Œuvres, Bd. 2 (Nicomède: S. 645–712), unter Angabe von Akt/Szene und Seitenzahl. Gegebenenfalls setze ich meine eigene Übersetzung hinzu.
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Das Volk hier liebt Euch, und hasst die Niederträchtigen; und man ist sehr mächtig, wenn man so viele Herzen regiert.
Arsinoë ist die personifizierte ,Machiavellistin‘ in diesem Stück. Ihr geht es darum, den Thron von Bithynien für ihren Sohn Attale zu erobern. Dafür muss sie den ersten Sohn ihres Gatten König Prusias aus erster Ehe, eben Nicomède, ausschalten. Da ihr Sohn Attale in Rom erzogen wurde, verrät sie ihm lieber noch nicht, was sie vorhat, denn sie fürchtet, seine römischen Begriffe von Tugend könnten ihn hindern, an dem Komplott mitzuwirken. Bei ihrem Plan will sich Arsinoë der Interessen Roms bedienen. Rom fürchtet, nachdem der Bithynier Nicomède Cappadocien eroberte, die Hochzeit mit Laodice, der Erbin Armeniens, denn dies würde ein sehr mächtiges Reich an seinen Grenzen erstehen lassen, noch dazu unter einem mächtigen Herrn, der Hannibals Schüler war. Arsinoë hat durch einen Trick Nicomède von seinem Heer weg an den Hof gelockt und will einen Konflikt mit dem Vater Prusias provozieren, der Nicomède seinen Kopf kosten soll (I. Akt). Prusias ist erregt darüber, dass sein Sohn ohne Order an den Hof kam. Er fürchtet den Ehrgeiz („l’ambition“) seines Sohns, dass ihm der Kriegserfolg zu Kopf gestiegen ist und er nicht mehr gehorsam sein möchte, da nichts so mächtig sei wie die Begierde zu herrschen (II/1, S. 660: „Il n’est rien qui ne cède à l’ardeur de régner“). Araspe versucht den König über die Tugend seines Sohns zu beruhigen, auch wenn er grundsätzlich Recht habe.85 Der König aber will realistisch sein. Nicomède wird Rache für seinen in den Tod getriebenen Lehrer Hannibal haben wollen und gegen seinen Stiefbruder vorgehen, der seiner Verlobten den Hof macht. Er habe Grund und die Macht zur Rache: Das ganze Königreich bewundre ihn; er ist Abgott der Armee ebenso wie des Volks (II/1, S. 661: „Il est le Dieu du Peuple, et celui des soldats“). – Zugleich erscheint der römische Gesandte Flaminius und verlangt aus taktischen Gründen das Thronerbe für Attale. Nicomède empört sich über die Anmaßung Roms. Flaminius’ Plan ist, die Vereinigung von Bithynien-Cappadocien mit Armenien zu verhindern und die beiden Halbbrüder als konkurrierende Herrscher in jeweils einem dieser Länder zu installieren. Wer von den beiden wo herrscht, ist ihm eigentlich gleichgültig; also stimmt er dem alternativen Plan zu, Attale mit Laodice zu verheiraten (II. Akt). Prusias und Flaminius versuchen nun, Laodice davon zu überzeugen, dass sie Attale heiraten soll. Flaminius glaubt sie völlig abhängig von Prusias, was sie anders sieht: Die Truppen stünden hinter ihrem Verlobten Nicomède, und auch das 85
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Schon Verrat begehen zu können, sei Verrat und müsse vorbeugend geahndet werden (II/1, S. 661: „C’est un crime d’État, que d’en pouvoir commettre, / Et qui sait bien régner l’empêche prudemment / De mériter un juste, et plus grand châtiment, / Et prévient par un ordre à tous deux salutaire / Ou les maux qu’il prépare, ou ceux qu’il pourrait faire“), bemerkt Araspe mit einer Logik, die dem despotischen Argument des Phocas in Masens Stück, warum der Sohn des alten Kaisers umgebracht werden muss, obwohl er noch ein kleines Kind ist (siehe oben S. 89), bemerkenswert ähnlich sieht.
Volk sehe, wie Prusias’ Politik dem Gemeinwohl schade (III/2, S. 674: „La vertu trouve appui contre la tyrannie. / Tout son Peuple a des yeux pour voir quel attentat / Font sur le bien public les maximes d’État: / Il connaît Nicomède, il connaît sa marâtre, / Il en sait, il en voit la haine opiniâtre, / Il voit la servitude où le Roi s’est soumis, / Et connaît d’autant mieux les dangereux amis“). Hinzutretend beleidigt Nicomède den Gesandten Roms, der außerordentlich selbstherrlich auftritt: Da Rom die Welt beherrsche (III/2, S. 676: „Rome est aujourd’hui la maîtresse du Monde“), habe es das Recht, auch in den Nachbarstaaten die Verhältnisse nach Gutdünken zu regeln. Alles steuert zu diesem Zeitpunkt auf die Katastrophe zu: Arsinoë klagt (sie hat zwei gedungene Zeugen) Nicomède des Verrats an. Attale immerhin kann nicht so recht an die Schurkigkeit seines Bruders glauben, er sei immerhin sein Bruder. Arsinoë meint indes, er kenne die Welt und den Hof noch nicht sehr gut (III. Akt). Arsinoë als Meisterin höfischer Dissimulation gelangt beinahe an ihr Ziel. Sie verteidigt scheinbar Nicomède, der sich gegen die falschen Vorwürfe seinerseits zu verteidigen weigert; hätte er wirklich einen Putsch im Sinn gehabt, hätte er einen „Volksaufstand erregen“ oder die Armee gegen den König führen können, hätte aber niemals zu weibischen Intrigen greifen müssen (IV/2, S. 689: „Soulever votre Peuple, et jeter votre Armée / Dedans les intérêts d’une Reine opprimé, / […] Et fondre en vos pays contre leur tyrannie, / Avec tous vos soldats, et toute l’Arménie; / C’est ce que pourrait faire un homme tel que moi, / S’il pouvait se résoudre à vous manquer de foi. / La fourbe n’est le jeu que des petites âmes, / Et c’est là proprement le partage des femmes“). Prusias jedenfalls fühlt sich zerrissen zwischen seiner Rolle als Vater und als Ehemann. Nicomèdes Aufforderung, weder das Eine noch das Andere zu sein (IV/3, S. 691: „Ne soyez l’un, ni l’autre“), beantwortet Prusias mit einem Ultimatum: Nicomède soll sich für die vier Kronen von Bithynien-Cappadocien oder für Laodice entscheiden. Nicomède will sich nicht entscheiden, wird verhaftet und soll Rom als Geisel gegeben werden; Attale soll aus Prusias’ Hand die vier Kronen empfangen, was Flaminius im Interesse des römischen Imperiums natürlich dazu bewegt, fürderhin die Hochzeit von Attale und Laodice zu hintertreiben (IV. Akt). König Attale ist desillusioniert: Roms Politik ist ausschließlich von egoistischen Interessen geleitet; noch kann er sich zu keiner eigenen Position entschließen. Anders das Volk: Es will diese Machenschaften nicht hinnehmen und rebelliert gegen die Obrigkeit, angeblich provoziert von Agenten Laodices. Arsinoë fürchtet den Aufstand nicht: Eine Flamme lodre schnell auf und verlösche dann wieder (V/1, S. 698: „J’ai prévu ce tumulte, et n’en vois rien à craindre, / Comme un moment l’allume, un moment peut l’éteindre, […]. / Je me fâche bien moins qu’un Peuple se mutine, / Que de voir que ton cœur dans son amour s’obstine“). Flaminius’ Ratschläge, wie man das meuternde Volk zu besänftigen habe (dergleichen hätte man in Rom auch schon mehrfach gehabt), kommen indes zu spät. Das Volk 93
hat bereits Arsinoës Kreaturen gelyncht und fordert die Herausgabe von Nicomède. Die Wachen desertieren. In einer Situation, wo es darum geht, entweder die Macht zu erhalten oder den Tod zu finden, schlägt Flaminius einen dritten Weg vor: Während man das Volk hinhalte, segle er mit seiner Geisel Nicomède nach Rom ab. Wenn das Volk dann den Palast stürme und Nicomède nicht finde, sollten Arsinoë, Prusias und Attale Rom der Entführung beschuldigen und alles zur Auffindung der Mitschuldigen beizutragen versprechen. An diesem Punkt trifft Attale jedoch eine eigene Entscheidung. Er befreit heimlich Nicomède, der allein das aufständische Volk (V/6, S. 705: „un grand Peuple irrité“, wie Laodice sagt) zu beruhigen weiß, bevor es die königliche Familie lyncht: „Ce peuple en sa fureur peut les connaître mal“ (ebd.). Laodice äußert in diesem Zusammenhang über das Volk, dessen Aufstand sie mit verursachte und dem sie ihre Befreiung verdankt, zu Arsinoë: Votre Peuple est coupable, et dans tous vos Sujets Ces cris séditieux sont autant de forfaits: Mais pour moi qui suis Reine, et qui dans nos querelles, Pour triompher de vous, vous ai fait ces rebelles, Par le droit de la guerre il fut toujours permis D’allumer la révolte entre ses ennemis (V/6, S. 706). Ihr Volk ist zu strafen, denn bei Untertanen ist der Aufruhr allemal frevelhaft. Aber was mich angeht, die ich Königin bin und die in unserm Kampf obsiegt weil sie Ihnen diese Rebellen auf den Hals schickte: Mir ist nach dem Kriegsrecht allemal erlaubt, eine Revolte bei den Feinden anzuzetteln.
Das Erscheinen Nicomèdes führt den Konflikt dann zu einem opernhaften happy ending. Er verzeihe seiner Stiefmutter und verzichte zu Gunsten seines Stiefbruders, der durch seine Befreiung auch den König, die Königin, Laodice und sich selbst befreit habe, auf die Krone; Attale wiederum verzichtet zu Gunsten seines Bruders Nicomède. Durch so viel ,magnanimitas‘ sind Arsinoë, Prusias und selbst Flaminius außerordentlich gerührt: Letzterer verspricht Nicomède eine ehrenhafte Feindschaft, wenn der Senat von Rom ihn nicht als guten Freund zu betrachten bevorzuge. Corneille verfolgte zwei Interessen mit seinem Stück: Erstens das von ihm selbst benannte Ziel, Politik als solche in einer extremen Situation erfahrbar und verständlich zu machen; und zweitens Vorbildfiguren zu schaffen,86 die unter den gegebenen politischen Verhältnissen, die den Zeitgenossen oft nur mit unmoralischen Mitteln bewältigbar erschienen – wenn die ,politica‘ nicht per se als unmoralisch galt –, nicht nur tugendhaft sind, sondern damit auch noch Erfolg haben. 86
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Schneider: Corneilles Ethos, S. 39: „Nie vergißt es der Dichter, daß seine Menschen Vorbilder sind“.
Sein erstes Ziel ist unproblematisch. Im Vorwort zum Nicomède schrieb Corneille: „Mon principal but a été de peindre la politique des Romains au-dehors, et comme ils agissaient impérieusement avec les rois leurs alliés“, also die dramatische Analyse der römischen Großmachtpolitik.87 Flaminius führt vor, wie imperialistische Politik funktioniert: Prinzipienlos nur das eigene Interesse im Auge flexibel und ohne Hemmungen alle zur Verfügung stehenden Mittel und Tricks einsetzen. Corneilles zweites Ziel ist problematischer. Gemäß seiner Poetik der Bewunderung, musste sein Titelheld unter allen Umständen tugendhaft bleiben. Dies scheint unrealistisch und musste dramatisch zu aporetischen Situationen führen, wofür Nicomède ein gutes Beispiel ist. Die Situation spitzt sich bis in den V. Akt hinein permanent zu; der tugendhafte Nicomède hat den Intrigen seiner Umgebung nichts entgegen zu setzen, denn seine Tugend verurteilt ihn zur Passivität. Er spricht im IV. Akt selbst davon, dass nur Waffengewalt, entweder der Militärputsch oder der Volksaufstand, für ihn hätte wirken können. Beides verabscheut er aus Tugendhaftigkeit. So kann der Konflikt nur mit dem tragischen Untergang Nicomèdes enden, wenn nicht andere sich für ihn die Finger schmutzig machen würden. Dramaturgisch konnte das Stück nach dem IV. Akt nur durch den Volksaufstand ins Positive gewendet werden. Der Aufstand bleibt verächtlich, doch er ist wie in Calderóns Stück notwendig. Laodice übernimmt es, als ausländische Gefangene gewissermaßen durch Notwehrrecht notdürftig gedeckt, ihren Bräutigam und seine Familie von dem Makel frei zu halten, damit irgend etwas zu tun zu haben. Assistiert wird sie von Attale, der sich von allen Bindungen der Liebe (zu Laodice), der Dankbarkeit (zu Mutter und Vater) und der Loyalität (zu Rom/Flaminius) befreit, um letztlich Nicomèdes tugendhaften Auftritt zu ermöglichen; dessen (im Grunde eigennütziger, würde La Rochefoucauld sagen88) Verzicht muss von Attale seinerseits mit einem ebenso großen Verzicht beantwortet werden, damit er sich von dem dreifachen Verrat reinigen kann. Wie Segismundo in Calderóns La vida es sueño erhält Nicomède alles, indem er auf alles verzichtet. Dieser optimistische Schluss ist natürlich unrealistisch, wie Corneille genau wusste. Er ist ideologisch in dem Sinn, dass er ein gewolltes Ethos propagiert, von dem klar ist, dass es in der wirklichen Welt nicht existiert. Nach allem, was in dem Stück zu hören war, kann Rom auf Dauer Nicomèdes bithynisch-armenisches Großreich, das nach der Hochzeit mit Laodice vom Bosporus bis zum Indus reichen wird, nicht hinnehmen.89 Die
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Corneille: Œuvres, Bd. 2, S. 641. „Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster“, lautet das Motto der Réflexions ou Sentences et Maximes Morales (1665) von La Rochefoucauld (in: Die französischen Moralisten. Übers. u. hg. v. Fritz Schalk. 2. Aufl. Bremen 1980, S. 59; vgl. ebd., S. 92: „Demut ist oft nur eine erheuchelte Unterwerfung, um sich andere zu unterwerfen. Ein Kunstgriff des Stolzes, der sich erniedrigt, um sich zu erheben“). Corneille wusste wie alle Gebildeten unter seinen Lesern, dass historisch nur kurze Zeit nach der im Jahr 183 v. Chr. angesiedelten Handlung Bithynien sogar römische Provinz wurde.
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von Flaminius in Aussicht gestellte Freundschaft Roms muss irreal bleiben, wie Corneille mit der letzten Replik des Stücks auch subtil andeutet, wenn Prusias für den guten Willen Roms beten will (V/9, S. 712: „Et demandons aux Dieux, nos dignes Souveraines, / Pour comble de bonheur l’amitié des Romains“). Ansonsten aber kommt in dem Stück der Himmel, kommen die Götter nicht vor. Doch ist, obwohl in persona nicht, indirekt gleichwohl dauernd anwesend, das ,gute Volk‘ die Instanz, die Erfolg und Macht garantiert. „Le peuple […] hait ces cœurs infâmes; / Et c’est être bien fort que régner sur tant d’âmes“, hieß es am Anfang. Der Ausgang des Stücks bestätigt es.
Jean Racine In dem Kapitel „Der Scheinheilige“90 seines Mimesis-Buches erläuterte Erich Auerbach die „Beschränkungen des Realismus“ (S. 352), denen die Literatur in der französischen Klassik unterworfen war. Besonders das Volk war daraus ausgeschlossen. Vom „bouffon, von den Grimmassen des Volkes“ (S. 347) habe man sich freizuhalten, forderte Boileau. Er konnte sich „augenscheinlich […] keine anderen Volkstypen vorstellen […] als grotesk-komische, wenigstens nicht als Gegenstand künstlerischer Nachahmung“ (S. 347). In besonderem Maße galt die Forderung, das Volk nicht Dichtung werden zu lassen, von der Tragödie. Sie hatte ausschließlich in fürstlicher Umgebung zu spielen, auf einer erhabenen Höhe, „weit entfernt vom Praktischen und Sachlichen. Es handelt sich stets um Hofintrigen und Machtkämpfe, die nicht über die höchsten Sphären der unmittelbaren Umgebung des Fürsten hinausdringen, und dies gestattet dem Dichter das Politische ganz im Rahmen des Persönlich-Psychologischen und innerhalb von wenigen Personen zu halten, welche moralistisch behandelt werden“ (S. 358). In den Stücken herrsche daher „die schärfste Abschließung der tragischen Personen und des tragischen Vorgangs nach unten […]. Vom Volk ist nur selten und nur in den allgemeinsten Ausdrücken die Rede“ (S. 360). Zusammenfassend meinte Auerbach: „Die klassische Tragödie der Franzosen stellt das äußerste Maß von Stiltrennung dar […], das die europäische Literatur hervorgebracht hat“ (S. 364). Was Auerbach hier beschreibt, beansprucht Geltung auch für die Dramen Corneilles, die zwar – wie gerade dargestellt – von der Körperlichkeit des Volks weitgehend frei sind, nicht aber von der Politik des Volks. Nicht leiblich, aber dramaturgisch oder ideologisch kann die Wirklichkeit des Volks sogar eine ausgesprochen wichtige Rolle in der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts spielen, weil auch sie vom Selbstverständnis her politisches Schauspiel sein wollte und musste. 90
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Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 6. Aufl. Bern 1977, S. 343–370 (Kap. XV: „Der Scheinheilige“).
Besonders empfindlich reagierte das Volk in der Frühen Neuzeit auf ausländische Regenten; man wollte von Einheimischen regiert werden. Ein Reflex davon findet sich etwa in Jean Racines (1639–1699) Bérénice (1670). Die Liebe zwischen Bérénice und Titus muss unglücklich enden, weil es dem Imperator unmöglich ist, eine auswärtige Königin zu heiraten. Diese Liebe scheitert am Widerstand des Volks. Eine Ahnung davon beschleicht Titus schon relativ früh, als er noch auf ein glückliches Ende hofft. Da er kein Tyrann ist, erkundigt er sich bei seinem Confident Paulin ängstlich, wie über die geplante Verbindung gedacht werde (II/1): […] les secrets de son cœur et du mien sont de tout l’univers devenus l’entretien. Voici le temps enfin qu’il faut que je m’explique. De la Reine et de moi que dit la voix publique? Parlez: qu’entendez-vous? […] Que dit-on des soupirs que je pousse pour elle?91 […] was ihr nur mein Herz als ein Geheimniß hält, Ist jetzo das Gespräch von Rom und aller Welt. Es ist die Zeit nun da, um den Entschluß zu wagen. Was mag das Volk von mir und Berenicen sagen? Sprich, was erfährest du? […] Was spricht man von der Gluth, die ich der Schönen weihe?92
Titus weiß, dass man sich nicht ungestraft über die Meinungen des Volks hinwegsetzen kann und will daher wissen, wie die „voix publique“, die der anonyme Übersetzer von 1766 umstandslos mit ,Volkes Stimme‘ identifiziert, urteilt. Dass der Hof seine Wahl gut heiße, genügt ihm nicht. Was er dann von Paulin hören muss, raubt ihm schon zu Anfang des Stücks jede Hoffnung: […] Soit raison, soit caprice, Rome ne l’attend point pour son impératrice. […] Rome, par une loi qui ne se peut changer, N’admet avec son sang aucun sang étranger, Et ne reconnaît point les fruits illégitimes Qui naissant d’un hymen contraire à ses maximes.93
Rom, repräsentiert durch die „voix publique“, werde diese Verbindung niemals als rechtens anerkennen; da auch etwaige Kinder illegitim wären, wäre die dynastische Kontinuität gefährdet oder sogar aufgehoben, was im frühneuzeitlichen Denken der schlimmst mögliche Unfall ist, der ein Herrscherhaus treffen kann. Würde Titus trotzdem auf der Verbindung beharren, erwiese er sich als Despot, dem Eigennutz über die Verantwortung für sein Reich geht. Da Titus aber bekanntlich als Para91 92 93
Jean Racine: Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge. Französisch-deutsche Gesamtausgabe. Dt. Nachdichtung v. Wilhelm Willige. 2 Bde. Darmstadt 1956, Bd. 1, S. 326. Racines sämtliche dramatische Werke in vier Bänden. Uebers. v. ***. Mit einer biographischliterarhistorischen Einl. v. Heinrich Welti. Stuttgart 1885, Bd. 2, S. 154. Racine: Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. 1, S. 328.
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digma eines gerechten und guten Fürsten galt, zieht er noch in der gleichen Szene die einzig mögliche Konsequenz: „Pour jamais je vais m’en séparer“.94 So wie die Dinge lägen, wolle er „Auf ewig von ihr gehen“.95 Dies geschieht dann auch die nächsten dreieinhalb Akte lang. Das Volk hat seinen Herrscher zum Gehorsam gezwungen. Freilich sehr indirekt. Es hat seine ablehnende Haltung dem Kaiser nicht materialiter aufgezwungen, sondern dieser zwingt sich, einmal in Kenntnis von der „voix publique“ gesetzt, selbst zum Verzicht auf die innigste, aber auch unseligste Liebe, die es je gab („l’amour la plus tendre et la plus malheureuse / Dont il puisse garder l’histoire douloureuse“,96 nennt Bérénice in ihrer Abschiedsrede die gegenseitige Neigung), und erweist sich damit in frühneuzeitlichem Sinn als idealer Absolutist.97 Dennoch scheint mir fraglich, ob man mit Auerbach davon sprechen kann, dass die „Allmacht“ des Fürsten in den tragédies classiques „nirgends Widerstand findet“, dass „all die sachlichen Probleme und Widerstände, die sich in der lebendigen Wirklichkeit dem guten wie dem bösen Willen entgegenstellen, […] ganz unberücksichtigt“ blieben.98 Auch wenn es nicht verbaliter zur Sprache kommt, ist es doch ein dem frühneuzeitlichen Menschen ganz selbstverständliches „sachliches Problem“, das die Liebe von Titus und Bérénice scheitern lässt: nämlich der Widerstand des Volks gegen eine als illegitim empfundene und daher die dynastische Kontinuität in Frage stellende Verheiratung des Fürsten. Immerhin wird man konzedieren müssen, dass es Auerbach im Wesentlichen um die Sprachfiguren oder „Stilbilder“99 ging, in denen der Einfluss der „sachlichen Probleme und Widerstände“ in der Tat poetisch oder rhetorisch möglichst minimiert wurde. Das Publikum interessierte sich im 17. Jahrhundert genauso wie heute zumeist weniger für die geläufigen Sachprobleme als für die Art, wie die betroffenen Charaktere damit umgingen. Dieses Interesse wusste ein Dramatiker wie Racine natürlich zu bedienen, und zwar auf eine damals neuartige Weise, die seine Stücke noch heute psychologisch interessant macht. Der Literaturhistoriker allerdings sollte nicht dem Sog ins Überzeitliche verfallen, den zumal Racines Stücke ausüben können, sondern gerade die seinerzeit selbstverständlichen Voraussetzungen explizit machen. Daneben muss er aber auch die ästhetischen Eigenarten der Texte im Auge behalten. In dieser Hinsicht ist Racines Bérénice ein interessantes Beispiel. Dramaturgisch gesehen ist der hier herausgestellte Widerstand des Volks für das 94 95 96 97
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Ebd., S. 332. Racines sämtliche dramatische Werke, Bd. 2, S. 157. Racine: Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. 1, S. 396. Christian Weise: Politische Fragen, Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica. 2. Aufl. Dresden 1698, S. 106f. u. 485: „Denn ein solcher Monarche zwingt und reformirt sich selber. Er […] also fasset […] gleichsam eine freye Resolution, als ein Landes-Vater dasjenige zu beobachten, was der Wolfarth des Reichs am verträglichsten ist.“ Dazu gehört nicht zuletzt die Rücksicht auf Landessitte und Volksmeinung. Auerbach: Mimesis, S. 358. Ebd., S. 357.
Stück nur insofern relevant, als er eine äußerliche Bedingung für die charakterliche Bewährung der Protagonisten ist. Das Volk, das in persona natürlich keinesfalls auftreten durfte,100 verschwindet zudem noch hinter der von der Geschichtsschreibung gedeckten Formel „senatus popolusque romanus“ (SPQR), also in einer sehr allgemeinen Repräsentanz, die durch Racine als „voix publique“ seiner Zeit angepasst wurde. Im Grunde werden alle Personen, die nicht zu dem handelnden und sprechenden Personal gehören, in die unpersönliche Form des „on“ („man“) gebracht.101 Damit haben sie keinen handlungsrelevanten Einfluss. Tatsächlich nicht? Für Bérénice gilt, dass die Volksmeinung conditio sine qua non für die Liebestragödie ist. In anderen Stücken der französischen Klassik spielt das Volk sogar noch eine viel größere Rolle, indem es dramaturgisch unverzichtbar ist. Ein Beispiel war Corneilles Nicomède, ein anderes Beispiel ist Racines Athalie (1691), die in dieser Hinsicht vielleicht besondere Aufmerksamkeit verdient. Es handelt sich um ein religiöses „Weihedrama“,102 „tirée de l’Écriture Sainte“, wie es im Untertitel heißt, bestellt von Madame de Maintenon zur Erbauung der Seele und daher möglicherweise nicht von vornherein verdächtig, das Volk als politisches Subjekt zu inszenieren. Ohnedies steht Racines Theater in dem Ruf, „apolitisches Theater“ zu sein, ja Siegfried Melchinger bezeichnete es einmal als „Racines Triumph“, die Bühne „für lange“ von der Politik ,befreit‘ zu haben.103 Das Thema des Stücks ist, wie Racine in seiner Vorrede sagte, „die Anerkennung und Thronbesteigung des Joas“,104 eine Begebenheit, die das Alte Testament der Bibel im Zweiten Buch der Könige (11,1–20) und im Zweiten Buch der Chronik (22,10–23,21) berichtet. Joas ist ein Sohn des Ahasja (bei Racine: Okosias); dieser wiederum ist ein Sohn Jorams, des siebten Königs von Juda aus dem Stamm Davids, und dessen Frau Athalja (Athalie), die ihrerseits eine Tochter des berüchtigten israelitischen Königspaares Ahab (Achab) und Jesebel (Jézabel) ist. Joram „tat, was dem Herrn missfiel“ (AT 2. Chr. 21,6), er führte nämlich, wie Racine diese dunkle Wendung zu erhellen weiß, auf Wunsch seiner Frau den Götzendienst ein und ließ sogar in Jerusalem einen Tempel für Baal errichten. Gott schlug ihn daher „mit einer unheilbaren Krankheit in den Eingeweiden“ und ließ ihn im vierzigsten Jahr, „von niemand bedauert“, sterben. Von seinen Söhnen lebte nur noch der zweiundzwanzigjährige Ahasja, der den Fußstapfen seines Vaters und seiner Mutter folgte und ebenfalls „tat, was dem Herrn mißfiel“ (AT 2. Chr. 22,4). Als er nach einjähriger Herrschaft einen Bruder seiner Mutter in Jesreel besuchte, fiel er in die Hände Jehus (Jéhu), „den der Herr gesalbt hatte, damit er das Haus Ahabs 100
Lucien Goldmann (Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines. Neuwied 1973, S. 499) sprach von „dem stets anwesenden wie auch zugleich stets abwesenden römischen Volk“ in dieser Tragödie. 101 Auerbach: Mimesis, S. 360. 102 Dies ist der Terminus bei Goldmann: Der verborgene Gott, S. 580 und passim. 103 Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, Bd. 1, S. 222 u. 219f. 104 Racine: Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. 2, S. 318.
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ausrotte“ (ebd. 22,7). Dieser ließ den Baalsdiener Ahasja und dessen Großmutter Jesebel ermorden. Diese Bluttaten erfahrend beschloss nun Athalja, ihren Vater, ihre Mutter, ihre Brüder und ihren Sohn zu rächen, und ihrerseits die Nachkommenschaft Davids, des königlichen Hauses in Juda, auszurotten. Das bedeutete, die minderjährigen Kinder ihres Sohns, ihre eigenen Enkel zu ermorden (AT 2. Kön. 11,2). Eine Schwester Ahasjas und Stieftochter Athaljas rettete jedoch den jüngsten der Söhne Ahasjas vor dem Gemetzel und versteckte ihn sieben Jahre lang im „Haus des Herrn“; dieses Kind war Joas. Racines Tragödie setzt zu dem Zeitpunkt ein, da der judäische Hohe Priester Joad, verheiratet mit der erwähnten Schwester Okosias’, beschließt, dass nach siebenjähriger Erziehung im Tempel, der „Königssohn“ dem Volk „offenbart“ („Montrons ce jeune roi“) und zum König geweiht werden soll (I/2).105 Dies muss selbstverständlich einhergehen mit dem Sturz Athalies, die seit acht Jahren das Reich Juda regiert (I/1, S. 328: „Huit ans déjà passés, une impie étrangère / Du sceptre de David usurpe tous les droits“) und versucht, den Baalskult durchzusetzen. Joad muss handeln, weil Athalie, aufgehetzt von dem Baalspriester Mathan, beschlossen hat, den Jerusalemer Tempel durch ein Opfer für Baal auf dem Altar des Herrn umzuwidmen (I/2, S. 332: „sur notre autel […] / Veut offrir à Baal un encens idolâtre“). Athalie ist nicht nur eine Ausländerin (S. 328: „étrangère“) auf dem usurpierten Thron Judas, nämlich eine Israelitin, sondern sie ist auch eine Feindin der angestammten Religion, nämlich eine Anhängerin des Baalskults, den sie der einheimischen Bevölkerung aufzwingen will. Dies sind zwei der seltenen Tatbestände, die auch in der kanonisierten politischen Theorie der Frühen Neuzeit legitime Gründe zum Widerstand gegen die Obrigkeit sind.106 Ihre Macht behauptet Athalie ausschließlich mit Hilfe ihrer „cohortes“ aus „fiers étrangers“ und „barbares soldats“ sowie ihrer „bourreaux“ (S. 336), also mit Hilfe ihrer fremdländisch-stolzen Kohorten barbarischer Söldner und ihrer Henker (I/2). Kein Wunder, dass „die Menge erschrickt“ (II/1), als die Despotin (S. 346: „Cette femme superbe“) am Schawuot (dem jüdischen Pfingst- oder Wochenfest) den inneren, nur den Männern erlaubten Hof des Tempels „hoffärtig“ betritt. „Es flüchtet das Volk schon, entsetzt und geduckt“ (S. 348: „Le peuple s’épouvante et fuit de toutes parts“). Die Furchtsamkeit des Volks überrascht seine Priester nicht: AZARIAS. […] Tout a fui. Tous se sont séparés sans retour, Misérable troupeau qu’a dispersé la crainte, […] Depuis qu’à Pharaon ce peuple est échappé, Une égale terreur ne l’avait point frappé. JOAD. Peuple lâche, en effet, et né pour l’esclavage (III/7, S. 390).
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Ebd., Bd. 2, S. 332. Vgl. Weise: Politische Fragen, S. 109f. u. 130f.
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Doch genau von diesem Volk hängt die Rettung Joas’ und der Sturz seiner Großmutter Athalie ab. Vorderhand spricht der Hohe Priester, der den coup d’état vorbereitet, nur von den Priestern und Leviten, wenn er dem Prinzen versichert, er hätte unter seinen „Standarten“ bereits ein „gehorsames Volk, Euch zu rächen bereit“ (IV/2), versammelt (S. 404: „Mais sous vos étandards j’ai déjà su ranger / Un peuple obéissant et prompt à vous venger“); doch die „Knechtschaft“ Judas „zu enden“ (IV/3, S. 406: „finir des Juifs le honteux esclavage“), bedarf es einer breiteren Unterstützung in der Bevölkerung, zumal die Söldner der Königin bereits den Tempel eingeschlossen haben und kurz vor dem Vernichtungsangriff stehen. Joads Verteidigung und Gegenangriff vertraut darauf, dass die Nachricht vom Überleben des wahren Prinzen aus dem Stamm Davids das kurz zuvor noch als „feige“ gescholtene Volk zu Heldentaten begeistern wird. Athalie betritt unter dem vermeintlichen Schutz ihrer Truppen das Innere des Tempels, weil man ihr die Auslieferung des Kindes und des Tempelschatzes versprach; doch dort konfrontiert man sie mit dem frisch gesalbten und gekrönten Kinderkönig und es umringen sie die bewaffneten Priester. Als sie die Falle erkennt, in die sie gelockt wurde, hofft sie auf ihre Söldner, doch sind diese schon besiegt: Nos lévites, du haut de nos sacrés parvis, D’Okosias au peuple ont annoncé le fils, Ont conté son enfance au glaive dérobée, […] leurs cris dans son camp étonné Ont répandu le trouble et le terreur subite Dont Gédéon frappa le fier Madianite. Les Tyriens jetant armes et boucliers, Ont par divers chemins disparu les premieres. Quelques Juifs éperdus ont aussi pris la fuite. Mais de Dieu sur Joas admirant la conduite La reste à haute voix s’est pour lui déclaré. Enfin d’un même esprit tout le peuple inspiré (V/6, S. 432).
Die tyrischen Mietlinge der Königin und einige Kollaborateure bekommen es mit der Angst zu tun und ergreifen die Flucht, als den Rest des Volks ,ein Geist zu begeistern scheint‘ – eine berühmte Formel, mit der Jules Michelet später die „Einmütigkeit“ der Menge am 14. Juli 1789 zu beschreiben suchte.107 Wenn das Volk zu dieser Einmütigkeit findet, dann ist ihm seine Unbesiegbarkeit sicher. Athalie erkennt ihre Niederlage an; ihr Wunsch, von Hand des jungen Königs, ihres Enkels, zu sterben, wird ihr nicht erfüllt. Stattdessen führt man sie aus dem Tempel und übergibt sie der Rache des Volks:
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Vgl. Jules Michelet: Geschichte der Französischen Revolution. 5 Bde. Übers. v. Richard Kühn. Hg. v. Jochen Köhler. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 130ff.: Am 14. Juli 1789 habe „das Volk“ ohne Anleitung oder Verführung „den höchsten Grad moralischer Ordnung: die Einmütigkeit der Geister“ erreicht.
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Jérusalem, longtemps en proie à ses fureurs, De son joug odieux à la fin soulagée, Avec joie en son sang la regarde plongée (V/8, S. 436).
Die Befreiung von Athalies Herrschaft, eigentlich eine Revolution gegen die alte Königinmutter, wird auf eine bemerkenswerte Weise inszeniert. Voraussetzung für den erfolgreichen Umsturz ist die einmütige Erhebung des jüdischen Volks gegen die Fremdherrschaft Athalies und ihrer Söldner und jüdischen Kollaborateure.108 Zu diesem Zweck muss aus dem feigen Volk („peuple lâche“) eine revolutionäre Masse gemacht werden, was Joad mit der Formel beschreibt, es müsse in den Herzen der Menschen der schlafende Glaube wieder erweckt werden (IV/3, S. 406: „réveillant la foi dans les cœurs endormie“). Das Mittel dazu ist eine Inszenierung, die keinen kalt lassen werde, denn: „quels cœurs si plongés dans un lâche sommeil, / Nous voyant avancer dans ce saint appareil, / Ne s’empresseront pas à suivre notre exemple?“ (Ebd.) Das Beispiel der Priesterschaft und die doppelte Inszenierung von plötzlicher (visueller) Offenbarung und (akustischer) Verkündigung soll die intendierte Wandlung des Volks bewerkstelligen. Dies geschieht in zwei Schritten: Erstens: In der fünften Szene des fünften Akts betritt Athalie mit ihrem Gefolge den Tempel und stellt Joad als „séducteur, / De ligues, de complots pernicieux auteur“ (S. 430) zur Rede. Dieser antwortet ihr mit dem plötzlichen Akt einer Enthüllung: „Er zieht den Vorhang weg“ (Ebd.: „Le rideau se tire“). Zum Vorschein kommt der als König austaffierte Knabe Joas auf dem Thron. Die Erscheinung (S. 406: „voyant […] ce saint appareil“) löst einen plötzlichen Schock der Erkenntnis aus (S. 430: „ABNER. Ciel! / ATHALIE, à Joad. Perfide!“). Paradigma dieser Szene ist natürlich der Tod Jesu: „Da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei.“ Daraufhin sagte der römische Hauptmann: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (NT Markus 15,38f.; vgl. Matthäus 27,51 u. 54.) „Und alles Volk, das dabei war und zusah, da sie sahen, was da geschah, schlugen sich an ihre Brust“ (NT Lukas 23,48). Als Mittel der Inszenierung war der nur bei besonderen Anlässen zu lüftende Vorhang, der das Arkanum verhüllt, seit der Antike gebräuchlich. Im christlich-religiösen Kontext wurde er im 17. Jahrhundert in genau demselben Sinn wie in Racines Tragödie (S. 431: „sieh, Volk, deinen Herrn auf dem Thron“) auch in der Malerei häufiger verwendet; man vergegenwärtige sich etwa Francisco de Zurbaráns 1629 entstandenes, heute in Berlin hängendes 108
Das Psychogramm eines Kollaborateurs entwarf Racine in III/3 mit der Erzählung Mathans, der seinen Vertrauten Nabal daran erinnert, wie aus einem ehemaligen Diener Jahwes der mächtige Oberste Baalspriester wurde. Diese Erinnerung ist auch schmerzhaft, denn Mathan vermochte es nicht, „ganz den verlassenen Gott zu vergessen: / Ein Erinnern, das lästig noch manchmal mich schreckt, / Das ist es, was doppelte Wut mir erweckt“. – „Toutfois, je l’avoue, en ce comble de gloire, / Du Dieu que j’ai quitté l’importune mémoire / Jette encore en mon âme un reste de terreur, / Et c’est ce qui redouble et nourrit ma fureur.“ (Racine: Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. 2, S. 382f.)
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Gemälde Der hl. Bonaventura verweist den hl. Thomas von Aquin auf den Gekreuzigten als die Quelle allen Wissens; auf dem Gemälde schlägt Bonaventura in seiner Zelle plötzlich einen Vorhang zurück, wohinter sich vor dem überraschten Aquinus und seinen vier Begleitern Christus am Kreuz enthüllt. „Da worden jre augen geöffnet, vnd erkenneten jn“ (NT Lukas 24, 31).109 Zweitens: Im gleichen Moment, wo Joas, der Nachkomme Davids und damit der Vorfahre Jesu, der schockierten Athalie und ihrem Gefolge enthüllt wird, soll die „Kriegstrompete“ schallen und nicht nur „das feindliche Heer“ in „Schrecken versetzen“, sondern Joad befiehlt auch: Appelez tout le peuple au secours de son roi; Et faites retentir jusque à son oreille De Joas conservé l’étonnante merveille. (V/3, S. 428f.)
Vorbildlich auf diese Szene dürfte unter anderem110 die von der Verhaftung Jesu gewirkt haben, wie sie Johannes schilderte. Der Kollaborateur Judas hatte eine Kohorte der römischen Besatzungssoldaten in den Garten geführt, wo Jesus und seine Jünger zusammen zu kommen pflegten, und der Gesuchte gab sich mit den Worten „Ich bin’s“ zu erkennen. „Als nu Jhesus zu jnen sprach, Jch bins, wichen sie zu rücke, vnd fielen zu boden“ (NT Joh. 18,6). Ebensolchen Effekt hat die Verkündung von Joas’ Errettung und Thronbesteigung auf die von Mathan vor den Tempel geführten Söldner-Truppen Athalies: Erschrocken von der plötzlichen Erkenntnis der Lage verlieren sie allen Mut (S. 432: „ATHALIE. Quoi? la peur a glacé mes indignes soldats?“) und wenden sich zur Flucht.
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Dieses Motiv aus dem Emmaus-Mahl zusammen mit einem geöffneten Vorhang setzte Anfang des 17. Jahrhunderts z.B. Herman van Vollenhoven ins Bild; vgl. den Nachstich Christus und die Jünger in Emmaus von Crispin de Passe in Wolfgang Kemp: Rembrandt, Die Heilige Familie, oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften. Frankfurt a.M. 1992, S. 65; das Gemälde von Zurbarán ebd., S. 61. 110 Daneben folgt sie in den Einzelheiten natürlich auch dem primären Bezugstext AT 2. Könige 11,14: „alles Volk des Landes war fröhlich, und man blies mit Drommeten. Athalja aber zerriß ihre Kleider und rief: Aufruhr, Aufruhr!“ (Vgl. AT 2. Chronik 23,12–13: „Da aber Athalja hörte das Geschrei des Volkes […] ging sie zum Volk im Hause des HErrn. Und sie sah, und siehe, der König stand an seiner Stätte am Eingang und die Obersten und die Drommeten um den König; und alles Volk des Landes war fröhlich, und man blies Drommeten“.) – Als Signal der rechtgläubigen Priester und Leviten gegen die abgefallenen Israeliten dient der Trompetenschall auch in AT 2. Chronik 13,11–12: „wir halten die Gebote des HErrn, unsers Gottes; ihr aber habt ihn verlassen. Siehe, mit uns ist an der Spitze Gott und seine Priester und die Halldrommeten, daß man wider euch drommete. Ihr Kinder Israel, streitet nicht wider den HErrn, eurer Väter Gott; denn es wird euch nicht gelingen.“ – Als Zeichen des Regierungsantritts des neuen Königs diente z.B. der Schall der Posaunen in AT 2. Samuel 15,10: „ABsalom aber hatte […] lassen sagen / Wenn jr der Posaunen schal hören werdet / So sprecht / Absalom ist König worden zu Hebron.“
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Alles dies muss man sich in einem Augenblick geschehend (V/3, S. 428: „à l’instant“) vorstellen.111 Die erfolgreiche Umwälzung der Verhältnisse ist an die schockartige Erkenntnis gebunden, „wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“, um es mit Walter Benjamin zu sagen.112 Der Schock überwindet die rationale Abwehr des Risikos, überwindet die Angst, macht aus der feigen die revolutionäre Menge, derer es bedarf, um den Aufstand zum glücklichen Ende zu führen. Denn so sehr in diesem Schauspiel auch die Vorgänge in einer religiösen Terminologie beschrieben werden, so sehr die politischen Vorgänge auch hinter dem erhabenen Pathos der Sprache zurückzutreten scheinen, so darf man doch nicht vergessen, dass Racine ausdrücklich einen politischen Vorgang, den er ziemlich realistisch behandelte,113 als eigentliches Thema des Stücks benannte: „die Anerkennung und Thronbesteigung des Joas“. Und diese Installation des legitimen Erben war nur zu erreichen über die Beseitigung der Herrschaft einer ausländischen Usurpatorin, deren Bedingung die Befreiung des Volks aus Existenz und Bewusstsein „d’ésclavage“ war. Nur die „Einmütigkeit“ des Volks garantiert bekanntlich den Erfolg der Revolution, und die Herstellung dieser Einmütigkeit und der Bedingungen, unter denen sie wirken kann, schildert das Trauerspiel. Inwiefern Racines letzte Tragödie dabei nebenbei die Würde des Volks, sein Recht auf politische Teilhabe, seinen Anspruch auf ein gutes Leben und seine Fähigkeit als Subjekt der Geschichte aufzutreten verteidigt, erhellt ex negativo jene Verurteilung des Absolutismus, die Joad in der Unterweisung des jungen Königs vornimmt und die ausschließlich die Rolle des Volks thematisiert. Von großer Gefahr sei nämlich der „Rausch unumschränkter Gewalt“ („De l’absolu pouvoir […] l’ivresse“) und das, was „lâches flatteurs“ den Herrschern so oft einflüsterten: Bientôt ils vous diront que les plus saintes lois, Maîtresses du vil peuple, obéissent aux rois; Qu’un roi n’a d’autre frein que sa volonté même; Qu’il doit immoler tout à sa grandeur suprême; Qu’aux larmes, au travail le peuple est condamné, Et d’un sceptre de fer veut être gouverné; Que s’il n’est opprimé, tôt ou tard il opprime: Ainsi de piége en piége et d’abîme en abîme, Corrompant de vos mœurs l’aimable pureté, Ils vous feront enfin haïr la vérité, Vous peindront la vertu sous une affreuse image (IV/3, S. 408). 111
Zu der von Corneille in die französische Klassik eingeführte Ästhetik der Überrumpelung durch plötzliche Erscheinung oder Anwesenheit vgl. Jean Starobinski: Das Leben der Augen. Übers. v. Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1984, S. 20–51. 112 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Hg. v. Siegfried Unseld. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1985, S. 253. 113 Vgl. Goldmann: Der verborgene Gott, S. 587: „Man möge uns gestatten, beiläufig auf den tiefen Realismus zu verweisen, mit dem die Niederlage Athaljas beschrieben wird. Alle Revolutions-Historiker und -Soziologen haben die ideologische und geistige Krise der herrschenden Klassen am Vorabend ihres Sturzes unterstrichen: die ideologische Niederlage, die fast stets der politischen vorausgeht.“
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Bald aber flüstert er [der Schmeichler] ins Ohr dir süß und sacht, Für Fürsten nicht, fürs Volk nur sey’s Gesetz gemacht; Sein Wille nur allein dürf’ zum Gesetze werden, Um ihn sey Alles da, zu seinem Ruhm, auf Erden, In harten Frohndienst sey das Volk von Gott gebannt, Und knechten müss’ man es mit eisenharter Hand; Und wenn er’s selbst nicht drückt, werd’ es den Fürsten drücken! – So gleitest du und fällst, läßt stets dich mehr umstricken; So macht die Wahrheit man im Herzen dir verhaßt, Malt dir als fürchterlich der Seele Tugend fast (S. 141).114
Daniel Casper von Lohenstein Daß Missethat in sich wie Ketten sey verschrenckt, Da eine böse That stracks an der andern henckt, Wie Glied am Gliede folgt, lehrt uns des Sultans Wütten.115
In seinem letzten Drama führte Racines Altersgenosse Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) den Untergang eines Herrschers vor, der dem Rausch der unumschränkten Macht erlegen ist. Den barocken Allgemeinplatz: „Fürsten sind ja Götter dieser Welt“,116 hat sein Protagonist verinnerlicht; dass er realiter keine Berechtigung hat, führt das Stück vor. Ibrahim Sultan (1673)117 handelt von den letzten Tagen (7. bis 8. August 1648) des osmanischen „Kaisers“ Ibrahim I., Vorgänger des seinerzeit ,aktuellen‘ Sultans Muhammad IV. (1642–1692, Sultan 1648–1687). Ibrahims wichtigster „Gemüths-Flecken“ besteht darin, dass er der „böse[n] Lust“ ergeben ist (S. 102),118 doch beinah ebenso gravierend sind sein Jähzorn und vor allem sein jeder Vernunft spottendes Beharren auf den Vorrechten eines absoluten Monarchen. 114 115
Racines sämtliche dramatische Werke, Bd. 4, S. 140f. Daniel Casper von Lohenstein: Türkische Trauerspiele (Ibrahim Bassa. Ibrahim Sultan). Hg. v. Klaus Günther Just. Stuttgart 1953, S. 176; vgl. Friedrich Schiller: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, / Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären“ (Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 2, S. 398). 116 Daniel Casper von Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele (Cleopatra. Sophonisbe). Hg. v. Klaus Günther Just. Stuttgart 1957, S. 52 (Cleopatra); vgl. ders.: Türkische Trauerspiele, S. 117 (Ibrahim Sultan); ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Lothar Mundt, Wolfgang Neuber u. Thomas Rahn. 2. Abt.: Dramen, Band 2: Agrippina · Epicharis. Hg. v. Lothar Mundt. Berlin 2005, S. 115 (Agrippina). 117 Die Daten der Erstdrucke von Lohensteins Trauerspielen sind: Ibrahim Bassa 1653; Cleopatra 1661; Agrippina und Epicharis 1665; Ibrahim Sultan 1673; Sophonisbe 1680 (beendet war das Stück spätestens 1668/69). Pierre Béhar (Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l’école dramatique silésienne dans l’œuvre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683). Wiesbaden 1988) vermutete, dass Ibrahim Sultan schon 1663 geschrieben und 1673 auf den Anlass der Hochzeit von Kaiser Leopold I. und Claudia Felicitas hin überarbeitet wurde. 118 Alle Zitate aus Lohensteins Ibrahim Sultan werden mit der Seitenzahl nach Justs Ausgabe der Türkischen Trauerspiele zitiert.
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In der „Ersten Abhandlung“ vereitelt die mutige Gegenwehr und das Hinzukommen der Sultansmutter Kiosem die Vergewaltigung der Sisigambis, der Witwe seines Bruders und Vorgängers Murad IV.; außer sich vor Zorn will Ibrahim beide, die eine wegen ihres „Trotzes“, die andere wegen ihres „Erkühnens“ umbringen lassen, doch seine Kupplerin Sekierpera sucht ihn zu mäßigen: Ich selber muß gestehn: daß sie den Tod verdienen, / Jedoch braucht man mit Nutz bey Straffung klarer Schuld, / Den Kapzaum der Vernunfft / den Zügel der Geduld. / Wer sich die strenge Flut läßt der Begierden jagen, / Wird auff die stürme See des Untergangs verschlagen, / Auff der kein Ancker hält. Der Mutter Untergang, / Der Sisigambis Schimpff und fürgesetzter Zwang / Kan wenig Lust und Trost dem großen Herren geben; / Viel Unruh aber sich durch solches Werck erheben, / Weil Volck und Janitschar auf beyder Wincken sieht (S. 122).
In der „Anderen Abhandlung“ hat Ibrahim sein Auge auf die vierzehnjährige Tochter des Mufti geworfen, die sich ihm aber nicht hingeben will. Da der Vater die Weigerung seiner Tochter respektiert119 und sie nicht dem Sultan ausliefert, fordert der erzürnte Ibrahim dessen Kopf. Sein Großvezier Achmet widerrät, abermals mit Rücksicht aufs Volk: ACHMET. Der Käyser selbst erweg: Obs rathsam, was befohlen. IBRAHIM. Die Schuld verdient: daß er zerstampt im Mörsel sey. ACHMET. Die Staats-Beschaffenheit läßt oft Verbrecher frey. IBRAHIM. Was ists, daß uns die Hand hält, und in Schrancken sätzet? ACHMET. Weil Volck und Pöfel ihn für gar zu heilig schätzet. (S. 143)
In beiden Fällen wird dem Sultan geraten, seinen Zorn zu mäßigen, weil die Liebe des Volks zu seinen potenziellen Opfern deren Bestrafung ohne „klare Schuld“ nicht ratsam scheinen lässt; offenbar fürchten die Getreuen des Sultans einen Volksaufstand. Ohnedies ist das Volk nicht gut auf den Sultan zu sprechen, weil die Ausbeutung einen kaum mehr erträglichen Grad angenommen hat. Wie die Zuschauer aus der Beratung der Granden des Reichs wissen, gehört es zu den Gravamina der Zeit, „daß man die, die durch Blut / Und vieler Jahre Schweiß versammlet einig Gut, / Wie Schwämme drücket auß“ (S. 128); „Das Volck, das seine Last nicht länger tragen kan, / Führt nach viel Seufzen ietzt bewegliche Beschwerden, / Weil nun auch Steinen Schweiß wil außgepresset werden“ (S. 129). „Vernunfft“ und „Geduld“ sind indes in der „Dritten Abhandlung“ die Sache des Sultans nicht; seine „Begierden“ reißen ihn zu den unsinnigsten Handlungen hin. Eine Ausrede Ambres, warum sie des Sultans (Neben-) Frau nicht werden will, war, dass er bereits fünf Söhne habe, die ihrer möglichen Nachkommenschaft vermutlich an die Gurgel gehen würden (Brudermord war in der Sultansfamilie in der Tat gängig). Ibrahim will darauf seine fünf Söhne Ambres zuliebe umbringen, wird jedoch daran gehindert, sein Vorhaben zu Ende zu bringen, weil die Palastwache, von der Sultansmutter benachrichtigt (S. 167: „Oßmans Stamm / Steh in 119
Mufti beruft sich bei seiner Weigerung, den Willen der Tochter zu brechen, auf den Koran; er behauptet, Mohammed „setzte: daß sein Kind kein Vater zwingen darf“ (S. 142).
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Gefahr und Noth“), bei Drohung des Putsches darauf besteht, die Prinzen lebendig vorgeführt zu bekommen. Sein Großvezier überredet den Sultan, die verbliebenen Prinzen (einem hatte er schon die Kehle durchgeschnitten), „in ihr Zimmer“ zu bringen, so „Daß die vier Lebenden das Kriegs-Volck sehen kan, / Wil er sich selbst nicht fälln.“ (S. 167f.) Soweit waren die Ratschläge Achmets noch einer realistischen Einschätzung der Machtverhältnisse gemäß. Verderblich wird jedoch sein Rat, sich mit Gewalt zu nehmen, was Ambre ihm nicht freiwillig geben will: „Der Fürst kan mit mehr Fug Gewalt auf Sclaven üben, / Daß: die in Gütte nicht will, ihn auß Zwang muß lieben“ (S. 168). Die Ideologie, dass der „grosse Sultan“ „unverschrenckte Macht in allen seinen Wercken“ (S. 169) hätte, ließ den Großvezier seine bisherige Vorsicht vergessen, vielleicht wegen der leichtsinnigen Vermutung, dass die vierzehnjährige Ambre noch keinen Kredit bei Volk und Truppe genieße. Jedenfalls lässt er das Mädchen entführen und dem Sultan „fingernackt“ ins „Bette werffen“, wo dieser sie vergewaltigt. Es folgt die „Vierdte Abhandlung“. Im Rat („Divan“) des osmanischen Reichs gärt es. Bectas, der Aga der Janitscharen, plädiert auf Absetzung des Sultans: Gott wird die Seele segnen, / Die ihr des Reiches Heil, des Volckes Zentner-Last / Läßt zu Gemüthe gehen, die ihr das Hertze faßt / Den geilen Huren-Hengst, in dessen Adern stecket / Kein Tropffen Fürstlich Blutt […] zu stürtzen in den Grund. / Euch ist zu wohl bekand: wie […] sein schlimm Einritt schon / Des Volcks Gelächter war; wie er des Oßmans Thron […] beschimpfet und entehret […]. Was hält uns denn zurücke: / Daß man [den Sultan] erwürgt mit dem verdienten Stricke? / Wo ihr die Armen mir in diesem Wercke reicht, / So fehlts drey Stunden noch, biß Ibrahim erbleicht, / Und Achmet ist zerfleischt der Werckzeug seiner Laster. (S. 176f.)
Den Ausschlag, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, gibt die Entehrung und der folgende Freitod Ambres. Sie rief sterbend die Männer zum Umsturz auf: Das Band der Treue höret / Bey Unterthanen auf, so bald ein Fürst versehret, / Durch Laster, Ehr und Zucht. So tilgt denn durch sein Blutt / Die Schmach ab, die der Hund euch auch in mir anthut! […] / Taucht diesen edlen Dolch ins Blutthunds Adern ein, / Den ich, doch ohne Schuld, mit meinem Blutte färbe. / Für Helden ists genung! Zu gutter Nacht, ich sterbe! (S. 180f.).
Das Vorbild Lucretias ist den Beteiligten selbstverständlich bewusst; Bectas erinnert explizit daran: Rom lehrt uns am Tarquin: daß, wenn man Schänder stürtzt, / Die unser Haupt gleich sind, Gott pflegt das Werck zu segnen. / Ich seh auß Ambrens Brust Lucretzens Bluttschaum regnen, / Ja eine Sündfluth kwelln, ein Rothes Meer entstehn / In dem der Pharao wird schrecklich untergehn (S. 182).
Ambres Vater, der Mufti, bestätigt noch einmal, dass es bei dem zuvor schon gefassten Plan bleibe, den Sultan und seinen Großvezier Achmet wegen Amtsmissbrauch bzw. Unfähigkeit mit dem Tode zu bestrafen. Die notwendigen Vorausset107
zungen sind gegeben: Die „Schuld“ ist „klar“, denn Ibrahim agiert beständig und offensichtlich gegen „Gesätz und Volck und Tugend“. Der Opposition „fehlts an Kräften nicht diß Unthier zu bekämpfen“; denn die Cadi, die Janitschar und das Volk haben in dieser Sache ein Interesse (S. 177). Die „Fünfte Abhandlung“ führt den Sturz des Sultans vor, und zwar aus seiner Perspektive. In völliger Verkennung der Situation geriert sich Ibrahim bis fast zuletzt als unumschränkter Herrscher und wiederholt alle Merksätze aus dem Lehrbuch der dummen Despoten: Die sind der Knechte Knecht, die nie nach Rache dürsten. […] Der Boßheit Straffe muß der Zepter Seule seyn. […] Wer durch die Finger siht, pflantzt selbst der Laster Saamen. […] Durch Blitzen ohne Schlag, wird Boßheit nur gekirrt. […] Kurtz: eines Fürsten Heil wird sicher nicht verbürgt / Als durch der Grossen Tod, die sich beschuldigt achten. / Die, wo sie selbst gleich nicht auf Rach und Eyfer trachten, / Doch in des Fürsten Brust Verdacht und Furcht gebehrn. / Zu dem läßt sich im Staat der kalte Brand nicht wehrn, / Der schon ein Glied steckt an. Man muß das Glied absegen, / Eh sich Muthmassung nur des Krebses wil erregen; / Fürnemlich, wo diß Gift wil Glieder stecken an, / Die nah am Hertzen sind. […] / Die Richtschnur leitet uns nun auf den fästen Schluß: / Daß heute diesen Tag noch Mufti sterben muß.
Allerdings dringt der Mufti, so muss Ibrahim erfahren, „mit geharnschten Schaaren / Des Sultans Zimmer zu“ (S. 192f.); die Leibwache fällt dem Mufti zu. Ibrahim ist entsetzt: IBRAHIM. So hebt die Ferse sich itzt übers Haupt empor? CADILESCHIER. Kein Fürst versagt mit Fug dem Volcke nicht sein Ohr. IBRAHIM. Mit minderm Ruhm läßt er den Pöfel ihm gebitten. MUFTI. Uns ist fürs Reiches Heil zu sorgen unverschnitten. IBRAHIM. Des Volckes blinde Folg ist unsers Reiches Heil. CADILESCHIER. Der Divan hat nebst dir im Herrschen auch ein Theil.
Nachdem die erste Forderung von Volk und Divan durchgesetzt, nämlich Achmet als Großvezier entlassen und stattdessen der Mitverschworene Mehemet berufen ist, weil Ibrahim auf die Dauer dem „offnen Aufruhr“ von „Heer und Volck“ nicht trotzen kann,120 folgt der zweite Schritt des legalistisch inszenierten Umsturzes: Man fordert bei Androhung der Absetzung den Sultan vor den Divan, dass „wegen seiner That [= Vergewaltigung Ambres] / Er Red und Rechenschaft sol Heer und Volcke geben“ (S. 205). Der Divan des osmanischen Reichs beansprucht, die Vertretung des ganzen „Volcks“ zu sein, d.h. der „Bürger und Soldaten“, die vor „der Burg“ und im „Tempel sich“ versammelt haben. Der in Ibrahims Augen „thörchte Schwarm der Sclaven“ lässt sich durch keine Drohung einschüchtern; der Divan, den „die Mänge reitzt und schützt“ (S. 206f.), besteht darauf, den Sultan „für den Richterstul zu 120
Seine Mutter Kiosem formuliert dies deutlich: „Inzwischen dienet nicht solch eyfriges Entschlüssen / Wenn Rath und Janitschar und Pöfel sich lehnt auf. / Der Pöfel ist ein Strom, der durch unhaltbarn Lauf / Durch Felsen-Ufer bohrt […]. / Hierwider kan nun nichts als Sanftmuth Pflaster seyn. / Denn, wer hier Ernst gebraucht, flößt Oel ins Feuer ein.“ (S. 194f.)
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stellen“ (S. 256). Dessen Weigerung zu erscheinen, führt zur Erklärung seiner Absetzung und religiösen Ächtung: „Der Divan muß erkennen: / Wer das Gesätz und Recht des Divans nicht nimmt an, / Der ist kein Sultan mehr, ja auch kein Musulman.“ Die religiöse Ächtung raubt Ibrahim den letzten Rest seiner Autorität; „nachdem die ihn für ungläubig schelten, / Die das Gesetze lehrn, das Mahumed gebracht, / […] der Sultan nicht mehr zu befehlen hat“ (S. 208f.), bekommt er zu hören zur Begründung der Weigerung, seine Befehle auszuführen. Wiewohl der Ungehorsam religiös begründet wird, sind es tatsächlich doch „Heer und Volck“, die den „Wütterich“ verdammen, wie Bectas noch einmal explizit macht (S. 210). Gegen diese Koalition hat kein Machthaber eine Chance. Die Lehrsätze des Despotismus (S. 205f.: „Wer eines Nagelsbreit der Aufruhrs-Glutt räumt ein, / Dem wird ein flammend Brand bald unterm Dache seyn; / Der muß den Wind bald sehn mit seiner Asche spielen. / Ja, der lescht Glutt mit Oel, meynt Kalck mit Flutt zu kühlen, / Wer ein aufrührisch Volck mit linden Fingern streicht“; S. 208: „Wenn wider Fürsten sich der Pöfel auflehnt, giebet / Dem Fürsten nichts mehr Sieg, dem Aufruhr grössern Stoß; / Als wenn ein Fürst behertzt dringt auf den Hauffen loß“) verhallen völlig wirkungslos. Ibrahim sieht dies letztlich ein und verzichtet zu Gunsten seines ältesten Sohns auf den Thron. Dass sein ältester Sohn Muhammad Ibrahims Nachfolger würde, ist indes nicht so selbstverständlich, wie die Sultansmutter tut (S. 211); er bedarf in jedem Fall der Bestätigung durch das Volk (S. 212: „Das Volck erkläre sich: Sol Machmet Käyser seyn?“), die er allerdings erhält: ALLE. Der Sultan Machmet herrsch! Jedweder stimmet ein […] Daß Sultan Machmet müß unendlich blühn und leben!“ (S. 212f.)
Dem Divan scheint es opportun, den erst sechseinhalbjährigen Machmet (Muhammad) zu inthronisieren, da er sich leicht lenken lasse und weil so der Anschein von Legalität des Machtwechsels sowie Legitimität der Herrschaft durch dynastische Kontinuität gewahrt bleibt, was für die Zustimmung des Volks nicht unwesentlich ist. Dieses stimmt außerdem gern zu, da der Knabe verspricht: „Wir werden ohne Blutt zu herrschen uns bemühen. / Was aber uns die Jahr an Klugheit noch entziehen, / Wird Mehemets Verstand, der Witz der Sultanin / So lange bringen ein“ (S. 213). Ohne es nachgerade aufdringlich zu tun, argumentiert Lohensteins Stück gegen den zeitgenössischen Absolutismus für eine Monarchie, die sich dem Volkswohl ebenso verpflichtet weiß, wie sie sich bewusst ist, von dem Wohlwollen des Volks abzuhängen. Wenn das „Volck schillt“ (S. 194), wird es für jede Regierung brenzlig, denn anders als die meisten Potentaten wusste Lohenstein wie sein Mufti, dass „Auß einer Hütt entspringt oft eine grosse Glutt“ (S. 146). Wie auch das angeführte historische Paradigma von Lucretia und Tarquinius subtil zu verstehen gibt, ist der
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Dramatiker trotz seiner unbezweifelbaren Loyalität zu den regierenden Fürsten seiner Zeit republikanischen Lösungen nicht grundsätzlich abgeneigt.121 Vor allem aber lehrte der dichtende Jurist, kaiserliche Rat ehrenhalber und Syndikus der freien Reichsstadt Breslau anlässlich der Hochzeit eines römisch-deutschen Kaisers die Mächtigen seiner Zeit die Ehrfurcht vor dem Volk, dessen Spruch häufig, wie auch hier, dem des „Verhängniß selbst“ (S. 196) ähnelt. Dies zu berücksichtigen ist der Fürst schon der „Würde seines Ampts“ (S. 192) wegen verpflichtet. Lohensteins erfolgreiche Aufrührer agieren mit Billigung und mit Deckung des Volks; doch ihnen selbst eignet auch eine gewisse Angst vor ihrem Bundesgenossen. Der „Schwarm des Pöfels“ (S. 200) ist auch ihnen nicht geheuer; denn anders als der Sultan wissen sie aus größerer Nähe, was Kiosem vergeblich ihrem Sohn beizubringen trachtet: „Der Pöfel ist ein Strom, der durch unhaltbarn Lauf / Durch Felsen-Ufer bohrt, und dar am meisten wüttet, / Wo man umb seine Flutt zu hemmen Thämme schüttet. / Der Aufruhr ist ein Dampf, der Aug und Ohr versehrt: / Daß man kein heilsam Wort nicht seines Schutzherrn hört, / Des Fürsten Göttlich Bild für einen Wolf ansihet / Der uns durch seinen Schirm zu fressen sey bemühet.“ (S. 194f.) Der Aufruhr des Pöbels läuft sehr leicht aus dem Ruder; er macht die Beteiligten mitunter blind, er kann sich gegen die eigenen Genossen oder Wohltäter wenden, er ist vor Verführung nicht gefeit, er ist gefährlich, weil er unbesiegbar, aber auch unlenkbar ist. Der Aufstand hat seine eigene Logik, wie man seinerzeit noch wusste.
Historisch-politische Schauspiele Für das höfische ,Gebrauchsdrama‘ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die Reflexion auf die politische Realität der jeweiligen Territorien noch stärker, weil deren Autoren sich anders als die kanonisierten Tragiker kaum noch auf die antike Gattungsnorm beziehen. Das von Klaus Reichelt so genannte „historischpolitische Schauspiel“ des ausgehenden 17. Jahrhunderts verdanke „seine Entstehung allein der Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Realität“ und müsse „als das Produkt der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Zeit gesehen werden“.122 Anders als die politische Theorie des Absolutismus kannten die Dramatiker wenig wirklich unumschränkte Herrscher. Diese wurden entweder als „Staats-Eifferer“ denunziert oder ihr Versuch, sich als Absolutisten zu
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Auch andere Texte Lohensteins zeigen dies; vgl. Arnd Beise: Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: Markus Meumann u. Dirk Niefanger (Hg.): „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 105–124, hier bes. S. 117–123. 122 Klaus Reichelt: Barockdrama und Absolutismus. Studien zum deutschen Drama zwischen 1650 und 1700. Frankfurt a.M. 1981, S. 9.
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gerieren, wurde als tyrannisch gebrandmarkt, wie es in der landständischen und reichsstädtischen Dichtungs-Tradition üblich war. Bei Hans Sachs (1494–1576) etwa hält in dem gesprech Alexandri Magni mit dem philosopho Diogeni (1558) Letzterer dem makedonischen König, der das Volk mittels Furcht folgsam halten möchte („Herrsch ich gleich streng, zum theil unbillig, / So straff ich darbey auch grawsamlich / Das iederman muß fürchten mich. / Darmit halt ich das volck im zaum“), vor: Dein gwalt thust du mit gewalt mehrn, Wirt endtlich reichen dir zu schaden. […] Solch gwalt in die leng kan wern kaum, Wenn man den bogn thut uberspannen, Wie denn vast gschicht allen tyrannen. Wenn du sie gleich straffst hertiglich, Das sie all müssen fürchten dich, So fürchtens dich als ein allein, Du must sie fürchten all gemein.
Auf Dauer bestehen könne die Herrschaft aber allein, wenn die Untertanen aus freien Stücken untertänig blieben: Wo du aber herrschest mit gnaden In landen deine unterthan, So blieb gehorsam iederman, Zu allen dingen gantz gutwillig.123
Wirkt es aber in diesem Dialog aus dem 16. Jahrhundert noch so, als stünde es in der Wahl des Herrschers, ein entweder gnadenreicher oder tyrannischer Fürst zu sein, und als hänge die Staatswohlfahrt von dieser seiner Entscheidung ab, so wussten die Dramatiker des 17. Jahrhunderts inzwischen ganz genau, dass auch die Potentaten eine bloß „umschrenckte Macht“, wie sich Johannes Riemer (1648– 1714) ausdrückte, besaßen – egal, ob sie die unumschränkte anstrebten oder nicht. In seinen Theaterstücken über „Glück und Unglück Hoher Häupter“ zum Besten aller „Hoff- und Welt-Politischen Leute“ (Der Regenten Bester Hoff-Meister Oder Lustiger Hoff-Parnassus, 1681) führte Riemer unter anderem das Beispiel Elisabeths I. von England und ihren Kampf mit Maria Stuart von Schottland an („4. Capitul: Von Staats-Eiffer“). Kern des „Theatralischen Discurses“ ist der Widerspruch zwischen Politik und Moral, losgelöst von metaphysischen Fragen. Das Märtyrertum von Maria Stuart verfällt der Karikatur, die Siegerin in dem Konflikt zwischen zwei Königinnen wird aber ebenso wenig gefeiert. Vielmehr wird ihre Abhängigkeit von Parlament und Volksbegehren deutlich herausgearbeitet; eingeklemmt zwischen beiden politischen Mächten, und weil „das gantze Volck von Engelland“ inzwischen in der Burg steht, wird ihr das „Bluth-Urtheil“ über die 123
Hans Sachs: Werke. 26 Bde. Hg. v. Adalbert Keller u. Edmund Goetze. Stuttgart 1870–1908, Bd. 13, S. 585–586.
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„Gegnerin“ gleichsam von der politischen Lage „abgenöthigt“ (Anderes Discurses Dritte Unterredung).124 Wer in einer solchen Situation das Volk für dumm verkaufen will, begeht als Politicus selbst eine fatale Dummheit. „Dieses sind des gemeinen Mannes Reden, und des Pöbels närrische Urtheile, welche ein kluger König nicht höher achten sol, als das Bellen der kleinen Hündlein“, heißt es in dem 1673 gedruckten Schauspiel Leonilda.125 Aber es handelt sich um die Worte der verblendeten Königin, die ihre Lektion in Sachen der Staatsräson noch nicht gelernt hat. Das Drama kritisiert also das allgemeine Vorurteil und die Leichtfertigkeit Leonildas und anderer gleich Gesinnter, die die Meinungen des Pöbels als unwesentlich und irrelevant abtun. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich die Problemlage bei Autoren darstellt, die sich über die politische Realität zwar im Klaren waren, aber den starken Fürstenstaat aus ideologischen Gründen propagierten. Bei Autoren wie Johannes Riemer oder dem unbekannten Verfasser der Leonilda mochte das Bild immerhin von ihrer landständischen Parteinahme gegen fürstlichen Absolutismus geprägt sein; oder wie es der Kollege Christoph Kormart (gestorben um 1720) ausdrückte: Eine Popularregierung sei immer noch besser als eine monarchische, aber am allerbesten sei eine aristokratische Verfassung (etwa nach dem Vorbild der Republik Venedig).126 Ein Verfechter monarchischer Positionen war der Pfarrer und Schulrektor aus Gera, Johann Sebastian Mitternacht (1613–1674). Auch bei ihm machte sich die Tendenz zur Lösung politischer Fragen von jeder Metaphysik bemerkbar, besonders deutlich, wenn der tugendhafte Herrscher am Ende der Politica dramatica (1667) die pietas vel religio im Reigen der Tugend-Allegorien rasch abfertigt: „Mit dir aber, Christliche Religion, werde ich zu gelegener Zeit absonderlich reden“.127 Das lasse sich, so Peter Brenner, „nur so verstehen, daß die Religion nicht gleichrangig neben den anderen Tugenden steht, sondern Privatangelegenheit des Herrschers geworden ist“.128 Davon aber abgesehen, lautete Mitter124
Johannes Riemer: Werke. 4 Bde. Hg. v. Helmut Krause. Berlin 1979–1987, Bd. 2, S. 500f.; vgl. Reichelt: Barockdrama und Absolutismus, S. 189–193; Helmut Krause: Feder kontra Degen. Zur literarischen Vermittlung des bürgerlichen Weltbildes im Werk Johannes Riemers. Berlin 1979, S. 207–236 („Das Geschichtsdrama als politisches Lehrstück“ u. „Staatsrecht und Völkerrecht“). 125 Historisch-politische Schauspiele. Ratio Status (1668). Die Teutsche Groß-Königin Leonilda (1673). Mit einem Nachw. hg. v. Klaus Reichelt. Tübingen 1987, S. [20] des zweiten Stücks. 126 Vgl. Reichelt: Barockdrama und Absolutismus, S. 112. Die Republik Venedig gehörte allerdings im 17. Jahrhundert zu den bestaunten Ausnahmen von der Regel. „Aristokratien“ hielt der Staatsrechtler Samuel Pufendorf für „von Natur aus gebrechlicher als Monarchien. Die erlauchte Republik Venedig ist eine Ausnahme, die man zu den Wundern zählt“ (Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches. Übers., Anm. u. Nachw. v. Horst Denzer. Durchges. u. bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1994, S. 118). 127 Johann Sebastian Mitternacht: Dramen. 1662/1667. Hg. v. Marianne Kaiser. Tübingen 1972, S. 306 (Politica dramatica V/1). 128 Peter J. Brenner: Das Drama. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begr. v. Rolf Grimminger. Bd 2: Das 17. Jahrhundert. Hg. v. Albert Meier. München 1999, S. 539–574, hier S. 551.
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nachts Lehre aus seinem politischen Spiel, dass weder die anarchistische Volksherrschaft noch die aristokratische Despotie die Wohlfahrt von Land und Leuten garantieren könne, sondern nur ein starker Fürst, dessen Stellung merkwürdig unklar zwischen absolutistischer Machtvollkommenheit und fundamentalgesetzlicher Bindung beschrieben wird. Das Stück selbst führt vom ersten bis zum dritten Akt die vollkommene Zerrüttung des Staates vor: durch einen Bauernaufstand in die Anarchie gestürzt; der König vom frondierenden Adel wegen Amtsmissbrauchs verurteilt und hingerichtet (die Richter hätten ihre Macht über den König, der durch seine Tyrannei jegliche Souveränität verwirkt habe, durch das „gantze Land und alle Stände“ erhalten).129 Nach der Hinrichtung des Königs diskutieren die drei Stände (Bauer, Bürger, Adliger) über die beste Regierungsform. Unter Anleitung der allegorischen Politica („die alleredelste Disciplin“,130 die der Schulmann kannte) entscheiden sich die drei für die Monarchie, allerdings für eine „nach gewissen fundamental oder Grundgesetzen“ eingeschränkte, deren Ziel „die allgemeine Wohlfart aller Stände“ sein soll, wofür „in Gött- und Weltlichen Rechten“ wohlerfahrene „Leute, die Räthe genennet werden“ und die den Monarchen umgeben, sorgen sollen.131 Soweit klingt der Vorschlag für eine ideale Regierung schon fast nach einer konstitutionell gebundenen Monarchie. Doch in Mitternachts Stück entpuppt sich der fundamentalgesetzlich gebundene Fürst letztlich doch als Absolutist reinsten Wassers.132 Nach seinem Eid auf die „leges fundamentales“ wird der Fürst als juristisch absolut beschrieben, „keinem unterworffen als Gotte, auch an die leges positivas und civiles nicht gebunden“. Damit die Monarchie trotzdem nicht ausarte, sei „sie der Beyhülfe“ der „Tugenden benöthiget“, was eine ziemlich unverbindliche, da nicht einklagbare Hoffnung ist.133 Die wichtigste öffentliche Tugend ist in Mitternachts Stück übrigens die Auctoritas, während die Pietas wie gesagt in die Privatsphäre des Königs als Mensch verwiesen wird. Nun ist bekanntlich ein „königliches Wort“, wie es einer jener die Tugend des Königs angeblich unterstützenden Räte in Büchners Königreich Popo in Anspie-
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Mitternacht: Dramen, S. 222 (Politica dramatica III/3). Ebd., S. 170 (Politica dramatica, Prologus). Ebd., S. 258 (Politica dramatica IV/1). Norbert Sorg: Restauration und Rebellion – Die deutschen Dramen Johann Sebastian Mitternachts. Ein Beitrag zur Geschichte des protestantischen Schul-Dramas im 17. Jahrhundert. Freiburg/Br. 1980, S. 170: „Die Aufständischen führen das absolutistische System zu einem konsequenten Ende, vermeinen jedoch genau das Gegenteil bewerkstelligt zu haben“; vgl. Marianne Kaiser: Mitternacht – Zeidler – Weise. Das protestantische Schultheater nach 1648 im Kampf gegen höfische Kultur und absolutistisches Regiment. Göttingen 1972, S. 41: „Der Aufruhr wird als Sündenfall begriffen, und der zuvor als gottlos verurteilten Tyrannei fällt in dieser Deutung unversehens gleichsam der Stellenwert des Paradieses zu“. 133 Mitternacht, Dramen, S. 292–294 (Politica dramatica V/1).
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lung auf Hamlet IV/2 definiert, „ein Ding, – das nichts ist“.134 Dies wussten im 17. Jahrhundert insbesondere die Unterschichten, und auch Mitternacht war die Schwachstelle seiner Konstruktion klar. Das grundsätzliche Misstrauen der Bauern und Bürger („die in geringem Stande leben, sind den Vornehmen ziemlich gehäßig, und leben in immerwährendem Argwohn, als wenn etwas zu ihrer Unterdrückung berathschlaget würde“)135 gegen den Eid eines Monarchen suchte der Autor dadurch zu zerstreuen, dass er die Mäßigung des Herrschers und die Wohlfahrt des Staats an das Eigeninteresse aller Beteiligten knüpfte, das Gemeinwesen funktionsfähig zu halten.136 Deutlich operierte hier Mitternacht mit einem Modell, das in der Moralistik des ausgehenden 17. Jahrhunderts ausgeprägt wurde. Mögen die zur Schau getragenen Tugenden auch letztlich nur Maskierungen des eigenen Egoismus sein, wie La Rochefoucauld behauptete,137 oder mögen am Ende sogar private Laster in öffentliche Tugenden umschlagen, wie es Mandeville behauptete,138 es ist kaum anzunehmen, dass diese innerhalb des einigermaßen homogenen und sogar einigermaßen egalitär strukturierten Milieus von la cour et la ville bzw. des ökonomisch agierenden Bürgertums gemachten Beobachtungen sich auf die Sphäre des absolutistischen Herrschers übertragen ließen. Jedenfalls bezweifelte dies schon Christian Zeidler (1643–1707), der diesen Punkt in seiner Bearbeitung des Mitternächtlichen Stücks (Monarchie optima reipublica forma, 1679) für die Gothaer Bühne aufgriff und völlig anders auflöste.139 Im Sinne der überwiegend ständestaatlich argumentierenden Dramatiker verzichtete er auf den durch öffentliche Tugend flankierten Absolutisten, sondern schlug erneut einen ,beschränkten‘ Fürsten vor, der auf dem Boden der überkommenen Traditionen im Verbund mit den heimischen Ständen und Räten als patriarchalischer Landesvater aus der auch juristischen Verpflichtung gegenüber dem „gantzen Land und allen Ständen“ nicht entlassen wird. Neben Mitternacht war es vor allem der Zittauer Gymnasialrektor Christian Weise (1642–1708), dessen Schuldramen überregional beachtet wurden. Sie sind darüber hinaus der ideale Ausgangspunkt für die Frage, was aus dem Volk als politischem Subjekt im 18. Jahrhundert wurde. Seine Stücke, medial auf der Grenze zwischen Spielvorlage für das eigene Gymnasium und Lesedrama stehend, semiotisch die Krise emblematischer Argumentation und des auf Ähnlichkeiten beruhenden Analogiedenkens reflektierend und zugleich das analysierende Diffe134
Georg Büchner: Leonce und Lena. Marburger Ausgabe, Band 6. Hg. v. Burghard Dedner unter Mitarb. v. Arnd Beise u. Eva-Maria Vering. Darmstadt 2003, S. 120 u. 150f. (vgl. ebd., S. 527f.). 135 Weise: Politische Fragen, S. 465. 136 Vgl. Klaus Reichelt: Das protestantische Schuldrama in Schlesien und Thüringen. Dokumente der zeitgenössischen Sicht des Absolutismus. In: Daphnis 7 (1978) S. 215–233, hier S. 229. 137 Siehe oben S. 98, Anm. 88. 138 Bernard Mandeville: Die Bienenfabel, oder: Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einl. v. Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1980. 139 Vgl. Reichelt: Barockdrama und Absolutismus, S. 263.
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renzdenken der Moderne ausprobierend,140 summieren zugleich das Erfahrungswissen des 17. Jahrhunderts und gestalten es im Sinne des aufklärerischen Realitätspostulats fernab jeder allegorischen Rhetorik. Vielmehr bereiteten sie die Schüler mittels eines Realismus, der Gottsched später dann doch etwas „gar zu natürlich“ vorkam,141 auf die so vielgestaltige und polyphone lebensweltliche Realität vor, dass sie sich bis heute einer schnellen literaturgeschichtlichen, politikhistorischen oder geistesgeschichtlichen Einordnung entziehen. Weises Dramen wollten nicht allein der „Wolredenheit“, sondern einer faktenorientierten politischen Erziehung künftiger Staatsmänner dienen. In seinem umfassenden dramatischen Werk, ein frühaufklärerisches Welttheater par excellence, spiegelt sich das eklektizistische Zeitbewusstsein um 1700 in einer sonst kaum zu findenden Vollständigkeit und Vielfältigkeit ab. Daher soll eine ausführliche Darstellung des Volks in Weises dramatischem Universum die Voraussetzung bieten für eine dann gestrafftere Verfolgung dieser Figur bis zum späteren 18. Jahrhundert.
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Vgl. zu den epistemischen Brüchen in der Dramenwelt des Christian Weise zuletzt ClausMichael Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. Tübingen 2003. 141 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig 1751, S. 257.
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Der „Krieg“ zwischen Obrigkeit und Untertanen in Christian Weises frühaufklärerischem Welttheater
1682 erschienen Jacob Daniel Ernsts (1640–1707) Außerlesene Gemüths-Ergetzligkeiten, eines jener räsonierenden Werke der spätbarocken Buntschriftstellerei, in dem unterschiedlichste Themen in fiktiven Dialogen diskutiert werden. Das „siebende Gespräch“ beginnt mit Lucidors Versuch, seine Freunde Salomon und Claudius zu einem Theaterbesuch zu überreden: Wie ists, meine Herren, werden sie sich nachmittage auch auf das Comoedien Hauß verfügen, umb an zu schauen, was die neulich auß Engeland allhier angelangten Comoedianten werden gutes fürbringen? Ich höre sie wollen ihres vorigen Königs Carol Stuarts Kriege mit seinen Unterthanen, und dessen darauf erfolgte Hinrichtung fürstellen, welches sich wohl wird sehen und hören lassen, sonderlich wegen der Rachetten und blinden Pistolen-Schüsse, so man darbey zugleich wird loß brennen.1
Den meisten Spaß erwartet sich Lucidor von den pyrotechnischen Attraktionen der Inszenierung. Die zitierte Passage leitet Betrachtungen über „Unglück und traurige Fälle“ bei Theateraufführungen ein, wo es auf Grund unsachgemäßen Umgangs, zum Beispiel mit „Rachetten“, Tote und Verletzte gab. Darauf aber kommt es mir hier nicht an. Vielmehr will ich die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Stücks lenken, auch wenn der Autor daran weniger, das heißt lediglich in der Hinsicht, dass sich der Stoff für exzessiven Gebrauch von „Rachetten und blinden Pistolenschüssen“ anbietet, interessiert schien. Ernst erwähnte beiläufig, dass die angekommenen Schauspieler die englische Revolution von 1647–1649 aufführen wollen – mitsamt des damals noch keine vierzig Jahre zurückliegenden, unerhörtesten politischen Ereignisses der Neuzeit: nämlich der gerichtlichen Aburteilung und öffentlichen Hinrichtung eines amtierenden legitimen Königs, für die es damals noch kein Beispiel gab und die mit einer Ausnahme auch theoretisch nicht antizipiert war.2 1
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Jacob Daniel Ernst: Außerlesene Gemüths-Ergetzlichkeiten, Das ist: Funffzig sonderbare Lust und Lehrgespräche, in welchen Von viel und mancherley Historischen, Natürlichen, Ethischen, Politischen, wie auch Theologischen Sachen, von unterschiedlichen Personen erbauliche Unterredung gepflogen […]. Magdeburg 1682, S. 101f. Vgl. Hans-Christoph Schröder: Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1986, S. 118 u. 131. Die Wandertruppen hatten sich den für eines der beliebten „Exekutionsdramen“ (Günther Hansen: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland. Hg. v. Helmut G. Asper. Emsdetten 1984, S. 199) sehr geeigneten Stoff natürlich nicht entgehen lassen. Bereits für den 31. Oktober 1649 ist die Aufführung einer „Enthaubtung deß Konigs Caroli“ durch ‚englische‘ Komödianten in Bremen belegt (Hermann Tardel: Zur bremischen Theatergeschichte (1563–1763). In: Bremisches Jahrbuch 30 (1926), S. 263–310, hier S. 275). Hansen (Formen der Commedia dell’Arte, S. 68, Anm. 28) vermutete, dass diese Aufführung auf ein
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Als Pfarrer und Rektor des Altenburger Gymnasiums, als späterer Stiftsprediger und Konsistorialassessor war Ernst kein Schriftsteller des politischen Untergrunds, sondern eine geachtete Persönlichkeit der Gesellschaft. Auch ließ er in seinem Buch an anderer Stelle keinen Zweifel daran, dass er „Empöhrung oder Rebellion, wider die ordentliche Obrigkeit“ keinesfalls billige („Das fünffte Gespräch“, S. 69). Mit großer Genugtuung beschrieb er zum Beispiel die von Karl II. Stuart angeordneten posthumen Hinrichtungen der exhumierten Leichname Oliver Cromwells, John Bradshaws und Henry Iretons und ließ seinen Konversanten Paulus anmerken: „Schade ists gewesen, dass die drey Gesellen nicht lebendig haben leiden müssen, was ihren toden und unempfindlichen Cörpern ist angethan worden“ („Das vierzehende Gespräch“, S. 249). In der zitierten Passage aber enthielt sich Ernst jeden Kommentars zum Inhalt des Stücks der englischen Komödianten. Er schrieb wie selbstverständlich von dem „Krieg“ zwischen dem König und seinen Untertanen.3 Die Wortwahl Ernsts ist insofern beachtenswert, als sie so neutral wie nur möglich ist. Es ist nicht die Rede von einem Aufstand, von einer Empörung oder einer Rebellion gegen die Obrigkeit. Stattdessen sprach er von einem „Krieg“, wie ihn nur zwei sich gleichermaßen im Recht fühlende Parteien führen können. Auch vermied er durch die Formulierung „Stuarts Kriege mit seinen Unterthanen“ jegliche Kennzeichnung des Aggressors, wie sie in Formulierungen etwa der Art: „Stuarts Krieg gegen seine Untertanen“, enthalten wäre. Gewöhnlich werden Kriege gewonnen oder verloren; in diesem Fall verlor Karl Stuart den Krieg und wurde hingerichtet. Das ist nichts, was Ernst in irgendeiner Form irritierte. Für ihn schien der Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen das Gewöhnlichste der Welt zu sein – und ein guter Theaterstoff, welcher „sich wohl wird sehen und hören lassen“. Jacob Daniel Ernsts gelassener Blick auf diesen Krieg ist nicht ungewöhnlich für die Zeit um 1700. Die Revolte, auch wenn sie in den seltensten Fällen bis zur Hinrichtung des regierenden Fürsten führte, gehörte zur täglichen Erfahrung. Es war damals eine opinio communis, „dass es in fast jedem Gemeinwesen und zu allen Zeiten zu Aufruhr, Empörung, Aufwiegelei, Rebellion, Diebstahl, Mord,
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anonymes englisches Drama mit dem Titel The Famous Tragedie of King Charles I. zurückgeht, das 1649 bereits in dritter Auflage vorlag. Dass Karl Stuart zur Durchsetzung seiner persönlichen Gewaltherrschaft einen Krieg gegen das Volk von England begonnen habe, war einer der wichtigsten Punkte in der Anklageschrift 1649 gewesen; es wird dort als erwiesen betrachtet, „dass besagter Charles Stuart der Urheber, Verursacher und Betreiber all dieser angeführten widernatürlichen, grausamen und blutigen Kämpfe war und ist und daher schuld an allen verräterischen Handlungen, Verwüstungen, Zerstörungen und Missetaten welche diesem Volk in besagtem Krieg zugeführt […] wurden“ (Peter Wende: Der Prozeß gegen Karl I. (1649) und die Englische Revolution. In: Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte. Hg. v. Alexander Demandt. 2. Aufl. München 1991, S. 171–186, hier S. 180).
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Meuterei, Zank und Streit gekommen ist“,4 und so gab es für die damaligen Autoren keinen Grund, diese Erfahrung nicht auch theatralisch umzusetzen. Die Hinrichtung Karl Stuarts gehörte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem der beliebtesten Stoffe auf der Bühne, und zwar nicht nur auf den Bretterbühnen der Marktplätze, sondern auch im Hoftheater. 1655 zum Beispiel delektierte man sich am Dresdner Hof während des Besuchs der hessen-darmstädtischen Landgräfin Sophia-Eleonora (1609–1671) unter anderem an einem „entleibten englischen König“, den Hans Schillings Truppe spielte; auch bei den Theateraufführungen anlässlich der Kaiserkrönung von 1658 in Frankfurt am Main gab die Truppe von Joris Jolliphus zur Belustigung von Volk und Hof einen Carolus Stuardus; das von dem Prinzipal Kaspar Stieler um 1660 in Güstrow bei dem Mecklenburger Herzog Gustav Adolf eingereichte Repertoire enthält ebenfalls eine Enthauptung des Königes in Engellandt.5 Anders als in dem berühmten Drama von Andreas Gryphius (1616–1664) ging es bei den Wanderbühnenstücken primär darum, die Lust an der blutigen Sensation zu befriedigen,6 während Gryphius relativ abstrakte politische und geschichtsphilosophische Probleme behandelte, die im Kern um die bange Frage kreisen, ob die menschliche Geschichte nach wie vor im Bild des sich zwar drehenden, doch fest verankerten Wetterhahns gefasst werden könne oder ob nun ein „unerhörtes ändern“ anstehe.7 Dementsprechend ist der Akt der Hinrichtung in Gryphius’ „Trauer-Spil“ nicht so wichtig; und es wird auch nicht recht klar, ob der „geschwinde Streich“, mit dem der Kopf des Königs vom Rumpf getrennt wird, tatsächlich aufgeführt werden soll oder ob der letzte „Chor“ vorher beginnt.8 Auf der Wanderbühne kam es dagegen darauf an, dass die Hinrichtung realistisch inszeniert
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Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Übers. u. mit einem Nachw. v. Ulrich Horstmann. 3. Aufl. Zürich 1990, S. 285. Vgl. Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624–1790. Darmstadt 2002, S. 103; Bernd Herbert Wanger: Kaiserwahl und Krönung im Frankfurt des 17. Jahrhunderts. Darstellung anhand der zeitgenössischen Bild- und Schriftquellen und unter besonderer Berücksichtigung der Erhebung des Jahres 1612. Frankfurt a.M. 1994, S. 188 (nach Elisabeth Mentzel: Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt a.M. von ihren Anfängen bis zur Eröffnung des städtischen Komödienhauses. Frankfurt a.M. 1882, S. 76, 85 u. 89); Wilhelm Creizenach: Die Schauspiele der englischen Komödianten. Berlin 1887, S. XXIXf. Hansen (Formen der Commedia dell’Arte, S. 68) nannte noch andere Karl Stuart-Stücke, zum Beispiel Jan Dullaerts Karel Stuart, of Rampzalige Majesteit von 1649, oder die von „Hochteutschen Comoedianten“ in Uppsala inszenierte Enthauptung Carl Stuard. König von Englandt. Allerdings kannte auch Gryphius (Dramen. Hg. v. Eberhard Mannack. Frankfurt a.M. 1991, S. 471f.) den Schauwert blutiger Hinrichtungsszenen: „Der Greuel sol anitzt vil tausend Augen weiden“, beklagt der Geist Mariae Stuardae, und dass sich das „Volck“ an der Enthauptung eines Fürsten „als einem Lust-Spil freut“ (Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus. König von Groß Britanien, 2. Fassung II/2, V. 170, 174 u. 176). Ebd., S. 522 u. 485. (Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus. König von Groß Britanien, 2. Fassung IV/2, V. 151f. bzw. II/Chor, V. 546). Ebd., S. 547.
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war und dass nach Möglichkeit Blut spritzte, „welches mit einer Blase gar wol gemacht werden kan“, wie es in der anonymen Tragi Comoedia (III/3) heißt.9 Noch 1785 kam es vor, „dass von einer Gesellschaft lustiger Zuschauer gleich nach Enthauptung der Marionettendorothea ein Da Kapo angestimmt ward, welches der gefällige Prinzipal durch nochmalige Absäbelung des wiederangehefteten Dorotheenhauptes zu befriedigen nicht ermangelte“, wie Johann Friedrich Schütze nach immerhin zweimaligem Besuch einer Enthauptung der Fräulein Dorothea im Marionettentheater missbilligend notierte.10 Doch zurück zu dem – verglichen mit der aufgeregten Diskussion nach der 1793 erfolgten Hinrichtung Louis Capets – erstaunlichen Gleichmut, mit dem die Zeitgenossen Jacob Daniel Ernsts die Exekution des englischen Königs betrachten konnten. Offensichtlich waren die Autoren des ausgehenden 17. Jahrhunderts in der Lage anzuerkennen, dass es im politischen Leben verschiedene Parteien gibt, die alle gleichermaßen das Recht auf ihrer Seite wähnen. Selbst wenn man die Argumente der Monarchomachen für falsch hielt, so musste man sie als existierende doch ernst nehmen. Auch Gryphius, der mit seiner „postfiguralen Gestaltung“11 des Tods von Karl Stuart diesem durch metaphysische Überhöhung mehr Recht zubilligte als den Republikanern um Cromwell und Fairfax,12 versuchte dennoch nicht die Revolutionäre als Dummköpfe oder blutrünstige Monster zu denunzieren, wie es in der deutschen Dramatik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts üblich wurde. Im Gegenteil: Für die „entschieden objektivere Darstellung“13 der Vorgänge in der zweiten Fassung seines Stücks stärkte Gryphius – 9
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Creizenach: Schauspiele der englischen Komödianten, S. 221f. (Erstdruck der Tragi Comoedia in: Liebeskampff Oder Ander Theil Der Engelischen Comoedien und Tragoedien, 1630.) Vgl. zur Technik des spritzenden Bluts Ayrers Tragedia von dem griechischen Keyser zu Constantinopel unnd seiner Tochter Pelimperia mit dem gehengten Horatio (Jakob Ayrer: Dramen. 5 Bde. Hg. v. Adalbert von Keller. Stuttgart 1865, Bd. 2, S. 908). Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg 1794, S. 96f. u. 104; der von mir genannte Titel stammt allerdings aus einem Nürnberger Theaterprogrammheft von 1722 (Hansen: Formen der Commedia dell’Arte, S. 197); zu den Dorotheen-Stücken vgl. Bärbel Rudin: Fräulein Dorothea und Der blaue Montag. Die Diokletianische Christenverfolgung in zwei Repertoirestücken der deutschen Wanderbühne. In: Elemente der Literatur. Beiträge zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung. 2 Bde. Hg. v. Adam J. Bisanz u.a. Stuttgart 1980, Bd. 1, S. 95–113, hier S. 100–109. Vgl. Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. 2. Aufl. Göttingen 1968, S. 37–91; ders., Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl. München 1993, S. 221–223. Zu Gryphius’ Quellen siehe Karl-Heinz Habersetzer: ‚Tragicum Theatrum Londini‘. Zum Quellenproblem in Andreas Gryphius’ Carolus Stuardus. In: Euphorion 66 (1972) S. 299–307; Janifer Gerl Stackhouse: In Defense of Gryphius’ Historical Accuracy: The Missing Source for Carolus Stuardus. In: Journal of English and Germanic Philology 71 (1972) S. 466–472; Günter Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel Carolus Stuardus. Studien zur Entstehung eines historisch-politischen Märtyrerdramas der Barockzeit. Tübingen 1984. Friedrich Gundolf (Andreas Gryphius. Heidelberg 1927, S. 41) sprach bezüglich des Carolus Stuardus sogar von einer „schlecht verkleideten Parteischrift, einer entrüsteten Diatribe gegen den Königsmord“. Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. 2. Aufl. Stuttgart 1986, S. 70.
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freilich durch das Ende der englischen Republik 1660 abgesichert – die Position der Republikaner, ohne dass dies an seinen Sympathien für die Sache des Königs etwas geändert hätte. Doch galt es die Gegner der Monarchie gerade wegen ihrer Gefährlichkeit so ernst wie nur möglich zu nehmen; je besser deren Argumente, desto eindrucksvoller der letztliche Sieg der Monarchie, der in der zweiten Fassung durch Visionen eingeholt wird. Man darf das disputatorische Element auch in der dramatischen Argumentation einer vom akademischen Aristotelismus geprägten Zeit nicht unterschätzen.14 Die Objektivität, die durch eine solche Gestaltungsweise möglich wurde, verstärkte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts, ist aber den besten Stücken der sogenannten Barockdramatik, wenn dieser generalisierende Ausdruck erlaubt ist, überhaupt eigen. Man hat oft bemerkt, dass in Shakespeares Stücken stets derjenige Recht zu haben scheint, der gerade spricht; dasselbe beobachtete beispielsweise Jean-Paul Sartre an Calderóns de la Barca (1600–1681) La vida es sueño (1635).15 Dasselbe mochte mitgemeint sein, wenn Gotthold Ephraim Lessing dem Masaniello-Drama (1682) Christian Weises „hin und wieder Funken von Shakespearschem Genie“ zusprach,16 es war mit Sicherheit der Grund für Karl Lessings 1773 ausgesprochene Rüge, dass aus Weises „ganzem Stücke“ nicht hervorleuchte, „ob Masaniello und das Volk, oder der Adel Recht hat, und zu bemitleiden ist“.17 Nun war dies ein typisches Missverständnis eines späteren Aufklärers, dem es auf das Erregen von Mitleid als Hauptzweck des Trauerspiels ankam. Die spätbarocke und frühaufklärerische Dramatik um 1700, für die in diesem Kapitel stellvertretend die Stücke Christian Weises untersucht werden, interessierte sich dafür leidlich wenig. Weises Dramen zeichnen sich durch die eben angesprochene Objektivität aus, die man leicht mit Mitleidslosigkeit verwechseln konnte. Ebenso wie Jacob Daniel Ernst konstatierte Weise zunächst einmal, dass es den Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen gibt und versuchte ihn dramatisch darzustellen, ohne einer Partei allein durch die Präsentation schon Recht zu geben. Überdies muss betont werden, dass in Weises Dramen regelmäßig mehr als nur zwei Parteien an der Handlung beteiligt sind, so dass Karl Lessings Vorwurf eigentlich hätte lauten müssen: Man wisse gar nicht, ob im Masaniello der Vizekönig, die radikale oder die gemäßigte Adelsfraktion, der Erzbischof oder die einfachen Fischer, die Revolutionäre um Masaniello oder die Banditen um Perrone, die galanten Mönche oder die fröhlichen Bürgerfrauen Recht haben. Weises unvoreingenommener Blick auf die von ihm
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Vgl. Martin Eberhard Kramer: Disputatorisches Argumentationsverfahren im barocken Trauerspiel. Die politischen Beratungsszenen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. Diss. Tübingen 1982. Jean-Paul Sartre: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931–1970. Übers. v. Klaus Völker. Reinbek 1979, S. 17. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001, Bd. 11.2, S. 566 (an Karl Lessing, 14. Juli 1773). Ebd., S. 578 (an Gotthold Ephraim Lessing, 24. August 1773).
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dramatisierten politischen und historischen Ereignisse führte dazu, dass er das Volk als handelndes politisches Subjekt so ernst nahm, wie es ihm in der Realität begegnete. Und dies musste er auf Grund seines pädagogischen Anspruchs auch tun; denn anders als den sogenannten Barockdramatikern ging es ihm nicht um die theatralische Vergewisserung einer gegen den stets drohenden „Ausnahmezustand“ gesetzten Ordnung,18 sondern um die realistische Abbildung der immerwährenden Gefahr, in der die gesellschaftliche Ordnung aufgrund ihrer sozialen Antinomien schwebte.
Geschichtsphilosophischer Optimismus und Realismus Die bedeutenden politischen Dramen Christian Weises entstanden erst, nachdem er 1678 das Rektorat des Zittauer Gymnasiums übernommen hatte. Er führte die vorgefundene Tradition des jährlichen Schulactus fort, das heißt, die Schüler der Anstalt führten anfänglich im Herbst, später im Frühjahr an drei Tagen hintereinander vor den Honoratioren der Stadt und den Eltern drei Theaterstücke auf; die Aufführungen waren ein gesellschaftliches Ereignis und fanden dementsprechend zunächst auf der Bühne des Rathaussaales statt.19 Er habe, so erzählt Weise später in der Vorrede zur Comödien Probe (1696), „bald im Anfange die Eintheilung“ gemacht, „dass erstlich etwas Geistliches aus der Bibel, darnach was Politisches aus einer curiösen Historie, letzlich ein freyes Gedichte“ gegeben werde (8, 418f.).20 Nun ist die Teilung zwischen biblischen und politisch-historischen Dramen bei Weise schon eine künstliche, weil ihm die Erzählungen der Bibel völlig zu Recht als „jüdische Historie“21 nicht ungeschichtlich vorkommen, so dass ich im Folgenden die biblischen und historischen Dramen gleich behandle, zumal sich die Forschung schon seit längerem einig ist, dass sich die biblischen und historischen Dramen in der Tat strukturell und gehaltlich nicht unterscheiden.22 Man könnte 18 19 20
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Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1982, S. 47f., 52f. u. 55. Das gilt für den Regelfall der Jahre 1679–80, 1682–88 und 1702–05; vgl. die Aufstellung bei Walther Eggert: Christian Weise und seine Bühne. Berlin 1935, S. 217f. Weises Schriften werden in diesem Kapitel – sofern darin bereits ediert – zitiert nach Christian Weise: Sämtliche Werke. 25 Bde. Hg. v. John D. Lindberg (bis 1988) bzw. Hans-Gert Roloff (ab 1989). Berlin 1971ff.; die Stelle wird unter Nennung von Band- und Seitenzahl direkt beim Zitat nachgewiesen. – Vgl. zu der hier angeführten Stelle auch die Vorrede zur Liebes-Alliance (15, 319–325). Christian Weise: Politische Fragen, Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica, Welcher Gestalt Vornehme und wolgezogene Jugend hierinne Einen Grund legen, So dann aus den heutigen Republiqven gute Exempel erkennen, Endlich auch in practicablen Stats-Regeln den Anfang treffen soll, Nebst einer ausführlichen Vorrede und einem zulänglichen Register. 2. Aufl. Dresden 1698, S. 423 u. 431. Schon Robert Petsch (in: Christian Weise: Masaniello. Trauerspiel (1683). Hg. v. dems. Halle a. S. 1907, S. VIII) bemerkte – den Autor dafür allerdings tadelnd – die wesenhafte Identität des Bibeldramas mit dem Gesellschaftsstück. Marianne Kaiser (Mitternacht – Zeidler – Weise.
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sogar darüber streiten, inwiefern Weises „freye Gedichte“, meistens handelt es sich um ein „kurtzweiliges Lust-Spiel“, das am dritten Tag des Schulactus gewissermaßen als „Confecte“ (1, 373 „Nachredner“ zum Masaniello) zum Ausklang gegeben wurde, zum Teil als Dramatisierungen alltagsgeschichtlicher Probleme ebenfalls historisch zu lesen wären, doch sind diese Stücke insgesamt durch Gattungskonvention viel stärker festgelegt, so dass ich Lustspiele im engeren Sinn nicht berücksichtigen werde. Der traditionellen Ständesatire bleibt Weise in den Lustspielen trotz auch hier zu beobachtender neuerer Tendenzen im Wesentlichen verhaftet, so dass der Bauer vor allem als Rüpel, der Kleinbürger als dünkelhaft und die Frauen als zank- und herrschsüchtig in den Blick kommen.23 Dagegen zeichnet sich Weises Darstellung des Volks in den „ernsthafften Actionen“ des ersten und zweiten Tags durch Selbstständigkeit und Realismus aus.24 Weise hat die Stücke für den jährlichen Schulactus alle jeweils neu geschrieben und niemals ältere Dramen einstudieren lassen. Das hängt damit zusammen, dass er alle Schüler des jeweiligen Jahres mit einer Rolle versehen wollte, die ihrem Naturell und Alter entsprach, also ihnen auf den Leib geschrieben war.25 Schwerlich hätte er in der Literaturgeschichte Dramen gefunden, die, wie sein Masaniello, etwa hundert Schülern die Möglichkeit bieten aufzutreten. Dass aber jeder Schüler auftreten musste, war ein Gebot des Schultheaters, denn Gewandtheit des Körpers und der Zunge, das Gedächtnis und der Redemut üben sich nicht durchs bloße
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Das protestantische Schultheater nach 1648 im Kampf gegen höfische Kultur und absolutistisches Regiment. Göttingen 1972, S. 146) machte klar, dass die fehlende Differenz in Weises Absicht lag. 1688 folgte auf die „biblische Materie“ von Hiob als „politisches“ Stück ein Drama über Herodes und Mariamne (8, 420); ob das Herodes/Mariamne-Drama ausnahmsweise als zweites Bibeldrama gegeben wurde oder von Weise als Vorfall aus der jüdischen Geschichte dramatisiert wurde, lässt sich nicht mehr feststellen, da das Stück verloren ist (vorhanden ist nur noch das Programm in der Christian-Weise-Bibliothek, Zittau, Signatur: Zitt. A 29, Nr. 182). Zu den Komödien im Allgemeinen und der traditionellen Ständesatire darin vgl. Christiane Caemmerer: Christian Weises Stücke vom dritten Tag als praktischer Übungsteil seiner Oratorielehre. In: Christian Weise. Dichter – Gelehrter – Pädagoge. Hg. v. Peter Behnke u. HansGert Roloff. Bern 1994, S. 297–313; Manfred Kremer: Bauern-, Bürger- und Frauensatire in den Zittauer Komödien Christian Weises. In: Daphnis 17 (1988) S. 99–118. Einschränkend muss man einräumen, dass die Landbewohner auch in diesen Dramen stärker typisiert sind als die Handwerker oder andere städtische Kleinbürger; Ludwig Fulda (Einleitung zu: Die Gegner der zweiten schlesischen Schule. 2. Tl. Berlin 1884, S. LXI) sprach von einer „unbilligen Behandlung des Bauernstandes“, Hermann Palm (Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur. Breslau 1877, S. 76) meinte sogar, Weise wahre bei der Darstellung der Bauern noch weniger deren „Menschenwürde“ als Gryphius. Dafür tadelte Johann Christoph Gottsched (Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig 1751, S. 642) ihn später schwer: Weise habe „lauter unrichtige Stücke“ geschrieben. „Man will ihn mehrentheils damit entschuldigen, dass er sich genöthiget gesehen, allen seinen Schülern etwas zu thun zu geben: allein, wer nöthigte ihn dazu, sie alle in einer Komödie zu gebrauchen? Er hätte sie wechselweise in verschiedenen anbringen, und etwas rechtes machen können.“
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Zusehen.26 Wichtiger erscheint uns heute Weises inhaltlicher Grund, der ihn zwang, neue Stücke zu schreiben. Offenbar passten die bis dato vorliegenden Stücke nicht in Weises pädagogisches Konzept. Die Trauerspiele des Andreas Gryphius zum Beispiel sollten dem Publikum vor allem die „Vergänglichkeit Menschlicher Sachen“ vorstellen, wie Gryphius im Vorbericht zu seinem ersten Drama, Ein Fürsten-Mörderisches Trawer-Spiel, genant. Leo Armenius (1650), ausdrücklich auch für die „etlich folgenden Trawerspielen“ betonte.27 Solche Weltverneinung aber war Weises Sache nicht, denn er bejahte die real existierende Welt – wie sein Altersgenosse Leibniz – unbedingt. Bei Weise ist alles, wie es ist, auch mit vollem Recht so. Das ist ein weiterer Grund für seine dramatische Objektivität, von der ich bereits sprach. Er wollte seine Schüler, die er für den Staatsdienst vorbereitete (die höheren Schulen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts dienten bekanntlich zur Ausbildung der zunehmend benötigten kameralistisch und allgemein-politisch versierten Beamten des absolutistischen Staats), mit der Welt, wie sie ist, konfrontieren. Dazu war ihm das möglichst realistische Theaterspiel unerlässlich. Weise erläuterte dies in der Widmung seiner Dramensammlung Zittauisches Theatrum (1683): Die Schule ist ein schattichter Ort, da man dem rechten Lichte gar selten nahe kömt. Indessen darf sich der Schatten mit einigen Vorspielen belustigen, darbey man des Lichtes nach und nach zu gewohnen pfleget. […] Ja weil das Menschliche Leben an sich selbst einer immerwährenden Comödie vergliechen wird, so kan ich nicht besser thun, als wenn ich die Partheyen bey guter Zeit abzuschreiben gebe, welche sie anitzo in kurtzweil versuchen, bald aber im Ernste vor die Hand nehmen sollen (1, 600).28
Mit anderen Worten: dem Schüler, der nach seiner Ausbildung möglichst als Beamter in den Fürstendienst treten sollte, ist nicht mit geschichtsphilosophischen Dramen à la Carolus Stuardus gedient, in denen dargelegt wird, „daß die Bösen zwar rein äußerlich erfolgreich sein mögen, daß sie jedoch zumindest innerlich der Rache, der Strafe als Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes nicht entgehen können“.29 Vielmehr ging es darum, den Schüler durch spielerisches Training auf vergleichbar schwierige Situationen vorzubereiten, in denen das zeitliche Wohl sowohl des Fürsten als des in ihm repräsentierten Staats auf dem Spiel stand. Zwar argumentierte auch Weise in seinen politiktheoretischen Werken mit der Gerechtigkeit des 26
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Den „fünffachen nutzen“ (betreffs des „Verstandes“, des „Gemühtes“, des „Gedæchtnisses“, der „Redefertigkeit“ und der „Sitten“) für die Schauspieler betonte Rist in seiner Vorrede zum Perseus (1634), vgl. Johann Rist: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Eberhard u. Helga Mannack. Berlin 1967–1982, Bd. 1, S. 122f. Die Zuschauer dagegen haben nur einen doppelten Nutzen (für ihre „Wissenschafft“ und ihr „Gemüt“). Gryphius: Dramen, S. 11. Vgl. die Vorrede zur Liebes-Alliance, wo Weise von dem „Nutz“ spricht, wenn „junge Leute mit guter Bequemlichkeit einen Blick in das gemeine Leben tun, welches ihnen sonst ohne große Müh und Kosten nicht in die Augen fället“ (15, 319). Hans Wagener: Nachwort zu Andreas Gryphius: Carolus Stuardus. Trauerspiel. Hg. v. dems. Durchges. u. bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1982, S. 155–166, hier S. 165.
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Himmels, zum Beispiel wenn er jedes Widerstandsrecht auch gegen eine offenkundig verbrecherisch handelnde Obrigkeit bestritt und mit dem Hinweis darauf, dass Gott die ungerechten Oberen – und sei es am jüngsten Tag – zur Rechenschaft ziehen werde,30 zur Duldsamkeit mahnte, doch wurde diese metaphysische „Gewissheit“ in der Dramenpraxis nicht konstitutiv. Hier ging es um das rein weltimmanente Verhalten des Menschen. Das sich bei Lohenstein bereits anbahnende Geschichtsverständnis31 wurde bei Weise insofern aufklärerisch radikalisiert, als es ihm in den Dramen nur noch um menschliches Verhalten inner- und unterhalb kaum noch göttlich, sondern providenziell verstandener Weltordnung ging. Dies macht ein neues dramaturgisches Modell notwendig, und in der Tat stellte Weise die alte Behauptung des Aristoteles (384–322 v. Chr.), die Dichtung spreche von dem Allgemeinen und die Geschichtsschreibung von dem Besonderen,32 auf den Kopf. In seiner als dramaturgisches Testament zu betrachtenden Vorrede zur Ungleich und gleich gepaarten Liebes-Alliance von 1708 (15, 319–325) sprach er ausdrücklich davon, dass es kein besonders verdienstliches Unterfangen wäre, auch auf dem Theater „chronologice viel Sachen nacheinander“ zu präsentieren, wie es der Geschichtsschreiber in seinen Darstellungen tue: „Denn man siehet wohl, was die göttliche Providence bei vielen gefährlichen Ausschlägen im Ausgange vor eine Direktion gebrauchet hat“. Am „Ausgang“ einer Sache lässt sich also leicht ablesen, heißt das, auf wessen Seite das Recht war, denn Recht hat bei Weise stets der Sieger der Geschichte.33 Die Vorsehung belohnt in seinen Augen immer das Recht und die Tugend. Alle anderen Überlegungen ordneten sich dieser Maxime unter. So bestritt Weise zwar in seinen Politischen Fragen (²1698) für die Gegenwart die Existenz eines Widerstandsrechts für Untertanen gegen jegliche Art von Obrigkeit; selbst wenn ein „Tyrann“ die „Fundamental-Gesetze über den Hauffen stößt“, ist jedes Recht auf
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Weise: Politische Fragen, S. 109f. u. 130ff. Vgl. Wilhelm Voßkamp (in: Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra / Sophonisbe. Hg. v. dems. Reinbek 1968, S. 274): „Der politisch Handelnde ist nicht nur Objekt, sondern zugleich Subjekt der Geschichte. […] Im Unterschied zu den Dramen des Andreas Gryphius, die Lohenstein als Vorbild rühmte, zeigt sich gerade in den afrikanischen Trauerspielen die Tendenz zur Abkehr vom Typischen und Transzendenten und eine Hinwendung zum Besonderen und Immanenten, indem […] das Singuläre und Vielfältige betont wird.“ Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 28/29. Vgl. hierzu Arnd Beise: Die eine Göttin, die wir noch gelten lassen können. Über das historische Verhältnis von Erinnerung, Gedächtnis und Geschichte. In: Handlung Kultur Interpretation 12 (2003) H. 1, S. 119–140, hier S. 121f. Im Gegensatz zu anderen Autoren – etwa Calderón (Das Leben ist ein Traum. Schauspiel in drei Akten. Nachdicht. v. Eugen Gürster. Stuttgart 1955, S. 86); siehe oben S. 81f. – problematisierte Weise dies überhaupt nicht; die Erkenntnis, dass die Geschichte stets von den Siegern geschrieben wird, ist so alt wie die Geschichtsschreibung selbst (vgl. Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Mit einem Nachw. v. Rita Bischof. München 1983, S. 104).
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Widerstand ausgeschlossen.34 In der Geschichte aber fielen ihm Ausnahmen durchaus ein. Als Protestant hielt er etwa die Hugenottenverfolgungen in Frankreich und die Unterdrückung der Niederlande durch den Herzog von Alba für so schlimm, dass er in solchen Fällen einen gewissen Widerstand für erlaubt zu halten nicht abgeneigt war, doch allenfalls im Sinn des heute so genannten „entschuldigenden Notstands“, das heißt, die Widerstandshandlung bleibt Unrecht, wird aber nicht mit Strafe geahndet.35 In seinen Dramen ging er stellenweise noch weiter. In Naboths Weinberg (1685) steht der bemerkenswerte Satz: „Und in unbillichen Sachen darff man ungehorsam seyn“ (6, 322). Im Bibeldrama sind die Rollen allerdings festgelegt. Die Juden des Alten Testaments sind stets die, die im Recht sind, zumal gegen eine baalitische Obrigkeit. Schwieriger wird es bei innerjüdischen Machtkämpfen; doch auch hier entschied sich Weise für den Sieger der Geschichte. Während sich zum Beispiel der einfache Fischer Thomas Agnello (1, 154) die Herrschaft über Neapolis anmaßt und das Recht von Weise in den „Rahmentexten“36 selbstverständlich auf Seiten der adligen Herren und des Erzbischofs gesehen wurde, wird ganz im Gegenteil in dem Schauspiel vom verfolgten David (1683) betont, dass es der „schlechte Schafhirte“ David sei, der nicht nur in der Meinung des Autors und seines Publikums, sondern auch „in Gottes Augen den Vorzug“ vor dem rechtmäßigen König Saul verdiene (5, 260). Und also darf David, den König Saul formal vollkommen zu Recht für einen „Rebellen“ hält, mit Zustimmung seines Autors monologisieren: Allein so wohl als ein solcher Bösewicht [wie Saul] das Recht der allgemeinen Menschlichkeit zu Boden stossen will, so wohl und noch viel mehr habe ich Recht das verfluchte Blut von einem so undanckbaren Tropfe abzufodern (5, 418–419).
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Weise: Politische Fragen, S. 109f. u. 130ff. In Monarchien (Spanien, Frankreich, England) dürfe man nicht gegen die vererbte, in Republiken (Venedig, Schweiz, Niederlande) nicht gegen die gewählte Obrigkeit sein. Weise argumentierte immer für den jeweiligen Status Quo. Er hielt jede „Veränderung im Staate“ für „schädlich“ (ebd., S. 514). Weise: Politische Fragen, S. 131 u. 109: Im Sinn der entschuldigenden Notlage ist Weise bereit zu konzedieren, dass einige andere Autoren nicht völlig Unrecht haben könnten, wenn sie ein Widerstandsrecht für den Fall vorsehen, dass „ein Tyranne sich als einen abgesagten Feind des Volcks erkläret, wie dort Caligula sagte: Utinam populus Romanus unam haberet cervicem“ (S. 110). Das in der Goldenen Bulle von 1222 verbriefte Recht auf Widerstand gegen einen ungerechten König („ius insurrectionis“) wird im 17. Jahrhundert mit der Durchsetzung des Absolutismus in der Regel aufgehoben, meistens implizit, bisweilen aber auch explizit wie auf dem Pressburger Reichstag 1687 für das Gebiet der Ungarn (vgl. Günter Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779. Frankfurt a.M. 1981, S. 275f.). Bei der erneuten theoretischen Begründung eines Widerstandsrechts beriefen sich Revolutionäre noch des ausgehenden 18. Jahrhunderts oft auf mittelalterliche Urkunden, so in Amerika auf die Magna Charta von 1215/1225 (vgl. ebd., S. 368f.; Horst Dippel: Die Amerikanische Revolution 1763–1787. Frankfurt a.M. 1985, S. 90ff.). Wilfried Barner: Christian Weise. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 690–725, hier S. 712; „Rahmentexte“ meint im Fall des Masaniello: Widmung, Vorrede, „Inhalt“, „Personen“, „Tenoristen“ und „Nachredner“ (1, 599–601; 154–161; 371–373).
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Weise interessierte sich in seinen Dramen nicht für den Gang der „Providence“, den wir aus den Geschichtsbüchern lernen können, weil dort die allgemeine Geschichte der Menschheit festgehalten würde. „Allein, was viel Personen dabei gelitten, verloren oder vergebens gesucht haben, das wird erst bekannt, wenn allerhand Specialia hinzukommen“, hieß es in der bereits anzitierten Vorrede zur Liebes-Alliance (15, 322). Damit begründete Weise eine Aufgabe der Dichtung, die sogar über ihre Nutzanwendung im Schulunterricht noch hinausging und die noch heute oder gerade heute wieder bedenkenswert ist.37 Mit der Umkehrung des aristotelischen Topos von der Historiographie als Beschreibung des Besonderen und der Dichtung als Sprechen vom Allgemeinen definierte Weise als Aufgabe der Dichtung gerade die „Specialia“, die „bey dem Geschichtsschreiber, als unnöthig ausgelassen“ werden, wie es in der Zwischenbemerkung des Zittauischen Theatrums heißt (1, 602). Indem das Drama das Leiden, den Verlust und die vergeblichen Hoffnungen der Einzelnen, die für die Geschichte im Großen und Ganzen irrelevant sind, thematisiert und erinnert, gewinnt es eine Qualität, die es – wie die Dichtung überhaupt – der Historiographie bis heute voraushat. Vor allem aber verabschiedete Weise dadurch das die sogenannten Barockdramen beherrschende zyklische Geschichtsmodell38 als Strukturelement seiner Stücke. So verloren die Dramen ihren emblematischen oder allegorischen Verweisungscharakter, indem die handelnden Figuren – bei aller dramentechnischen Typisierung, die sie noch immer haben mögen – nicht mehr für die Menschen an und für sich stehen, also nicht mehr unter dem Signum der repraesentatio stehen, sondern ihr individuelles Schicksal erleiden, das im Übrigen kaum je einmal sub specie æternitatis begriffen wird. Indem die Stücke historisch genau werden, führen sie nur noch einen zeitlich linear verlaufenden Ausschnitt aus der Geschichte eines Landes oder eines Einzelnen vor, ohne diesen metaphysisch einbinden zu wollen. Das tun allenfalls noch diejenigen, die von der behaupteten Wiederkehr des immer Gleichen zu profitieren trachten, nämlich die Herren. Um ein Beispiel zu geben: Nachdem Masaniello in dem gleichnamigen Drama erschossen wurde und der Konflikt zwischen adliger Obrigkeit und dem Volk beigelegt ist, bedankt sich Vize-Roy Roderigo bei dem Erzbischof: „Jhr Eminentz haben nechst der Göttlichen Hülffe dieses Königreich Neapolis von dem eusersten Untergange erlösen helffen. Und dessenwegen sey deroselben anitzt in Gegenwart des gesamten Hofes gebührender Danck abgestattet“ (1, 367). Erzbischof Philomarini weist den Dank Roderigos bescheiden zurück, korrigiert aber zugleich dessen Einschätzung leicht: Jhr Excellentz erweisen einen Uberfluß einer gnädigen Höfligkeit, dass sie etwas höher schätzen, als vielleicht der Werth zu lassen wil. Ich habe das jenige gethan, welches ich mit Verlet37 38
Vgl. Beise: Die eine Göttin, die wir noch gelten lassen können, S. 122 u. 136. Vgl. Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706, S. 220f.
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zung meines Gewissens und meines hohen Amptes nicht hätte verwarlosen können. Ist nun hierunter etwas gutes gewircket worden, so wird man vielleicht mehr auf die Göttliche Providentz, als auf meine Schwachheit sehen müssen (1, 367).
Zu bemerken ist der feine Unterschied zwischen der „Göttlichen Hülffe“ und der „Göttlichen Providentz“. Erstere bezieht sich auf ein direktes Eingreifen Gottes zum Beispiel in Gestalt Fortunas, wie manche Autoren des 17. Jahrhunderts irdisches Geschehen noch begreifen. Um bei der Geschichte Masaniellos zu bleiben: Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen etwa endete seine Darstellung des Masaniello-Aufstands mit folgenden aus Perspektive des Fischers formulierten Versen einer „Poetischen Grab-Schrifft“: „Gott züchtiget durch mich den Hirten mit den Schafen, / Weil er die Weisen pflegt durch Narren zu bestraffen“.39 Und der berühmte Leidener Professor Eloquentiae, Nachfolger Daniel Heinsius’ auf dem Lehrstuhl für Politik und Geschichte, Marcus Zuerius Boxhorn (1612–1653) präsentierte in seiner Weltgeschichte (1652) Masaniello als Spielzeug Fortunas, an dem sie ihre Macht einmal demonstrieren wollte, indem sie einen Niedergeborenen zu höchsten Ehren kommen lässt, ordentlich „zaust“ und wieder fallen lässt. Handelndes Subjekt ist bei ihm Fortuna selbst.40 An dergleichen glaubt Erzbischof Philomarini in Weises Drama nicht mehr. Infolgedessen kommt er auf Roderigos „Göttliche Hülffe“ überhaupt nicht mehr zu sprechen, sondern nimmt dessen Dank als ausschließlich ihm geltend an, um anschließend solche Überschätzung seiner Verdienste zurückzuweisen: Er habe doch nur seine Pflicht getan und lediglich deshalb Erfolg gehabt, weil er im Sinne der „Providentz“ gehandelt habe. Das aber ist etwas ganz anderes als die Vorstellung von einer Fortuna, auf deren Eingriffe der Mensch nur noch reagieren kann. Bei Weise agieren die Menschen selbstverantwortlich, und sie handeln dann erfolgreich, wenn sie klug handeln, das heißt im Sinn der Vorsehung. Den Gang der Vorsehung können die Menschen natürlich auf lange Sicht nicht beeinflussen; aber auf kurze Frist können sie den Gang der Geschichte doch erheblich durcheinanderbringen. So ist die allererste Ursache des Aufstands in Neapel bei Weise die unkluge und damit gegen die Vorsehung handelnde Politik des Vize-Roys, der es zulässt, dass der Adel den „Ruin des andern Volcks“ billigend in Kauf nimmt, um sich zu „unterhalten“, wie es der Reichs Secretarius Donato den 39
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Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen: Täglicher Schau-Platz der Zeit, Auf welchem sich ein iedweder Tag durch das gantze Jahr mit seinen merckwürdigsten Begebenheiten, so sich vom Anfange der Welt, biß auf diese ietzige Zeiten, an demselben zugetragen, vorstellig machet. 3. Aufl. Leipzig 1728, S. 803. Ähnlich sah auch Salvator Rosa Masaniello als Werkzeug Gottes (vgl. Italo Michele Battafarano: Von Andreae zu Vico. Untersuchungen zur Beziehung zwischen deutscher und italienischer Literatur im 17. Jahrhundert. Stuttgart 1979, S. 108). Marcus Zuerius Boxhorn: Historia Universalis sacra et profana, a Christo nato ad annum usque MDCL. 2 Bde. Leiden 1652, pars II, S. 105; vgl. Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, hier S. 233f.
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Herren vorwirft (I/8). Herzog Ferrante meint: „Das Volck ist deswegen gebohren, damit es dienen sol. Wenn ein solcher Bube sechs Pfennige mehr im Sacke hat, als er verzehren kan, so wird er hoffärtig.“ Gegen dieses Argument, das man um 1700 überall hören kann,41 ist aus Sicht eines frühen Aufklärers nicht unbedingt etwas zu sagen, wenn Ferrante damit nicht das eigentliche Problem verkennen würde, worauf ihn Donato sogleich aufmerksam macht: „Und wenn ein armer Mann sechs Pfennige des Tages weniger hat, als er verzehren soll, so wird er ungeduldig, biß die Ungedult zu einer Raserey hinaus schläget“ (1, 177f.). Klug wäre die Politik gewesen, wenn der „arme Mann“ am Ende des Tags seine Rechnung plus/minus Null abschließen kann. Unklug mag vielleicht sein, ihm mehr zu lassen, als er zum Leben braucht; unklug ist mit Sicherheit, ihm weniger zu lassen. Daher kann der Reichs Secretarius, um „Rath“ gefragt, mit Berechtigung sagen: „Hätte man bißhero guten Rath angenommen, so dürffte man nun keine vergebene Sorge“ tragen (1, 177). Da also der Aufstand des Volks den Fehlern der Regierung geschuldet ist, ist er im Sinn der Vorsehung völlig berechtigt. Denn sein historischer Sinn ist, diese Fehler zu korrigieren. Solange Masaniello als Führer des Aufstands im Sinn der Vorsehung handelt, wird er entsprechend auch als „schlauer Fischer“ anerkannt. Als er seine historische Aufgabe vollbracht hat, verfällt er dagegen dem Wahnsinn, weil er nicht mehr benötigt wird, und kann beseitigt werden: so die geschichtsphilosophische Konstruktion der Dramenfabel. Das Drama endet also mitnichten in der Wiederherstellung der alten Ordnung, wie man gelegentlich lesen kann,42 sondern in der Korrektur der alten Fehler der Regierung. Das heißt konkret auf den Schluss des Trauer-Spiels vom Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello bezogen: Der von dem Volk erkämpfte Vertrag, der die Abschaffung der Fruchtzölle, die dazu führten, dass „ein armer Mann sechs Pfennige des Tages weniger hat, als er verzehren soll“, vorsieht, bleibt in Kraft. Ich betone dies besonders, weil in der literaturwissenschaftlichen Forschung auf Grund vorschneller Schlüsse und ungenauer Lektüre die Dramen allzu oft als zyklisch gebaut, also nach dem Schema: Stabile Ordnung – Störung der Ordnung – Wiederherstellung des alten Zustands, interpretiert wurden.43 Nichts aber ist verkehrter als diese Annahme. 41
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Vgl. z.B. Bernard Mandeville: Die Bienenfabel, oder: Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einl. v. Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1980, S. 222, 230f., 274f., 319f. u. 343. In Weises Niederländischem Bauern unterhalten sich die Höflinge: „ROBERT. Das Volck ist zur Arbeit geschaffen, und wenn es nur einen Tag von dieser Intention abweichet, so gehet das Uhrwerck schon unrichtig. WILHELM. Wenn es so viel zu essen hat, als zur täglichen Nothdurfft erfordert wird, so ists am frömsten, und wenn es solchen Tranck geneust der nicht viel in die Köpffe steigt, so ist es am klügsten“ (12.2, 364). Zum Beispiel bei Konradin Zeller: Der Hof im Drama Christian Weises. Zu Funktion und Form der Favoritendramen. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. August Buck u.a. Hamburg 1981, S. 543–549, hier S. 545. Ebd., S. 543.
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Stets ist die Ordnung schon zu Beginn des Stücks aus den Fugen geraten; wenn zum Beispiel in dem Biron-Drama (1687) König Henricus gleich in der ersten Szene den Zustand Frankreichs mit den Worten lobt: „So muß demnach unser Königreich ein Schau-Platz der Glückseligkeit verbleiben“ (3, 187), so sagt er damit nichts über sein Land und die Ausgangssituation des Dramas aus, sondern beweist nur seine Verblendung über den wirklichen Zustand Frankreichs, der alles andere als glückselig ist, wie im weiteren Verlauf des Stücks unmissverständlich klar gemacht wird. Es herrscht sogar große Not, weil des Königs „Blut-Egel“ (3, 253) das Land aussaugen. Die „Bauren“ sprechen von den „dürren Jahren [bis] her“, die sogar den Festschmaus am „Martins-Tag“ allzu „schmalhänsig ablauffen“ haben lassen (3, 250), die „Bürger“ glauben, dass das „Königreich zu Grunde geht“, weil die übertriebenen Abgaben den Handel zum Erliegen bringen (3, 221f.), sogar die Adligen vom Land klagen, dass ihnen „Haab und Gut […] glat von der Schwarte weggenommen“ werde, so dass sie die „Last […] gar zu Boden drücken“ werde, wenn das so weiter gehe (3, 247 u. 254). Laurent, einer dieser „armen von Adel“ weiß auch genau, wohin sein „Haab und Gut“ geht: dem lustigen Diener Pantagruel wirft er nämlich vor, dass er „das Unsrige zu Hofe mit versauffen hilfft“ (3, 247). Dass der König und seine Getreuen die Situation vollkommen falsch einschätzen, zeigt sich auch im weiteren Verlauf der ersten Szene des Stücks. Sie sprechen davon, dass die Untertanen sich ruhig verhalten, dabei gärt es im Volk; der „gemeine Mann“ (3, 253) ist zum Aufstand „disponirt genug“ (3, 224), so dass es lediglich des leicht überzeugenden Arguments bedarf, dass „wer einmal verderben soll“ sich auch „vor keiner Strafe zu fürchten“ habe (3, 223), um die Rebellion offen hervorbrechen zu lassen. Außerdem sprechen die Räte davon, dass die „auswärtigen Feinde“ (3, 189) eingeschüchtert genug seien, als dass von ihnen nichts zu fürchten sei: auch eine falsche Situationsbeschreibung, denn der König von Spanien, der „Hertzoge von Savoyen“ und der „Gouverneur von Meyland“ (3, 301) stehen in konspirativer Verbindung mit der Adelsopposition in Frankreich und warten nur auf die rechte Gelegenheit loszuschlagen. Wenn also die wieder hergestellte Ordnung im Land am Ende gefeiert wird, so nicht etwa weil die alte Not erneut herrscht, sondern weil eine neue Ordnung etabliert wurde, die das Land erst wirklich zu einem „Schau-Platz der Glückseligkeit“ machen wird. Die „an sich selbst unbillige“ Pancharte (eine Art Umsatzsteuer), die die Ursache dafür ist, dass das Volk zum Aufstand „disponirt genug“ ist, bleibt am Ende abgeschafft. Ebenso verhält es sich mit allen anderen Dramen Weises. Die am Ende hergestellte Ordnung ist niemals die alte und daher immer als geschichtlicher Fortschritt zu werten, der durch politisch kluges Handeln erreicht wurde. Wenn im Masaniello also der zusammen mit seinem Bruder Caraffa sich durch unkluges Handeln auszeichnende Herzog Matelone im Gegensatz zu seinem Bruder überlebt, so nur deshalb, damit er ausdrücken kann, was er gelernt hat (V/24): „Ich freue mich über einen so gewünschten Ausgang“, gesteht er nach seiner durch Masaniellos Tod 129
ermöglichten Rückkehr aus dem Exil: „Noch viel mehr aber danck ich dem Gelücke, dass der Adel noch nicht gantz vertilget ist, und dass wir ins künfftige bessere Consilia fassen können solches Unheil zuverhütten“ (1, 367). Genau diese vorausschauende Klugheit hatte der Reichs Secretarius Donato anfangs vergeblich angemahnt. Wenn die Dramen regelmäßig einen für die alten Obrigkeiten „gewünschten Ausgang“ nehmen, so deswegen, weil sie sich letztlich als lernfähig erweisen. Das „Mehr an Einsicht“, von dem Wilfried Barner bezüglich des Endes der Dramen sprach,44 stellt sich wegen des auf einen – wenn auch zeitgemäß kleinen – Fortschritt hin konstruierten Dramenschlusses ein, der gerade nicht eine „unterhaltsame Demonstration der [alten] Ordnung“ ist, wie Barner an der genannten Stelle implizierte. Weil es ihm um dieses „Mehr an Einsicht“ für seine Schüler ging, die lernen sollten, sich als politisch handelnde Einzelne weit unterhalb der providentiell verstandenen großen Geschichte zu behaupten, war Weise gezwungen, die politische Realität seiner Zeit mitsamt des täglichen Unterschichtenprotests möglichst objektiv widerzugeben. Er wusste, „die Historie macht es möglich, dass auch die höchsten Häupter einer gefährlichen Verfolgung unterworffen seyn“ (1, 372: „Nachredner“), und daher mussten die angehenden Politici darauf vorbereitet werden.
Meinungen über das Volk und des Volks Da Weise mit seinem Theater „einen Blick in das gemeine Leben tun“ wollte (Vorrede zur Liebes-Alliance), brachte er in seinen ernsten Dramen stets einen Querschnitt der gesamten Bevölkerung auf die Bühne. Die Ständeklausel und andere Regeln dieser Art interessierten ihn von Anfang an nicht;45 er war sogar der Meinung, dass in der Varietät der Stände „bey Theatralischen Auffzügen die meiste Grace“ bestehe, wie er im Vorbericht zu dem Kurtzen Schau-Spiel von betrübten und wiederum vergnügten Nachbars-Kindern (1699) betonte (15, 7). Während er anfänglich noch die Bezeichnungen „Trauer-Spiel“ oder „Tragoedie“ benutzte, verwarf er sie 1686 endgültig, weil sie ihm zu sehr mit der Ständeklausel assoziiert schienen. In der Vorrede zu seinem König Wentzel (1686) schlug er, „weil die Action bißweilen aus Hohen und Königlichen Personen, bißweilen aus gemeinen Bürgers-Leuten bestehet“, versuchsweise den Begriff „Misulance“ vor (3, 5). Man 44 45
Barner: Christian Weise, S. 714. „Der ist der beste Künstler, der sich den nothwendigen Umständen nach an keine Regel bindet“, schrieb Weise einmal selbstbewusst (8, 432). Er steht damit in der Tradition des jesuitischen Schuldramas, das wegen eines Höchstmaßes an Wirkung sich aus dem „Kerker der Regeln“ befreite, wobei besonders Jacob Bidermann und Jacob Masen zu nennen wären (vgl. andeutend Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hg. v. Reinhold Grimm. 3., verb. Aufl. Wiesbaden 1980, S. 19–55, hier S. 22).
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hat in der Forschung gelegentlich darauf hingewiesen, dass fast alle Dramen46 Weises von der Ständestruktur her die Bezeichnung „Mischspiel“ verdienten.47 In der Tat tritt in seinen Dramen stets auch das gemeine Volk als Kollektivum oder in Gestalt einzelner Figuren auf. Wie dies geschieht, werde ich im Folgenden in einer die ernsten Dramen Weises zusammenfassenden Übersicht darstellen. Das summierende Verfahren ist berechtigt, da sich die Dramen Weises insgesamt zu einer facettenreichen ‚Comedie politique‘ zusammenschließen, um einmal den Balzacs Romane zusammenfassenden Ausdruck Comedie humaine auf Weises dramatisches Œuvre zu übertragen.48 Unbesiegbarkeit des Volks So shall we have the people of our side (Marlowe, Edward II I/4)
„Die erste Szene des Trauer-Spiels von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello (1682) führt die Reaktion des Herrscherpaars auf die „Zeitung“ vom Aufstand des Volks vor. Während Vizekönig Roderigo den Ernst der Lage verkennt und annimmt, das Volk werde sich auch diesmal mit „Versprechungen“, die „man hernach desto weniger halten darff“, abspeisen lassen, glaubt seine Gattin Leonisse bereits alles verloren: „Ich sehe bey gegenwärtigem Zustande nichts, als einen geschwinden Tod, oder ein dienstbares Leben“, denn „wer wil dem rasenden Volcke wiederstehen“ (1, 162–163). Leonisse gibt damit einer in der Frühen Neuzeit allgemein verbreiteten Meinung Ausdruck: Sobald es einmal zum Aufstand gekommen ist, gibt es selten Rettung. Denn das Volk gilt als nahezu unbesiegbar. Selbst die außer Rand und Band geratene Natur lasse „sich leichter zäumen / Als
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Ausnahme ist das Schauspiel von den Nachbars-Kindern (1699), dessen gesamtes Personal der in sich freilich auch differenzierten Untertanen-Schicht zuzuordnen ist. Andere Dramen, der Verfolgte Lateiner (1696) zum Beispiel oder der Curiöse Körbelmacher (1702), verzichten zwar auf die „Haupt-Stände“ (15, 311), präsentieren aber auch noch immer eine vom Knecht bis zum Land-Juncker reich gegliederte Gesellschaft. Vgl. Hans Schauer: Christian Weises biblische Dramen. Diss. Leipzig 1921, S. 41; Franz Josef Neuß: Strukturprobleme der Barockdramatik. Andreas Gryphius und Christian Weise. Diss. München 1955, S. 69; und auf diese beiden Bezug nehmend Kaiser: Mitternacht – Zeidler – Weise, S. 163. Folgende Dramen werden in der Zusammenfassung zitiert: Der gestürtzte Marggraff von Ancre (1679), Des Jephta Tochter-Mord, Trauer-Spiel (1679), Abraham (1680), Trauer-Spiel von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello (1682), Jacobs doppelte Heyrath (1682), Der Verfolgte David (1683), Die Sicilianische Argenis (1683), Lust-Spiel von der Verkehrten Welt (1683), Nebucadnezar (1684), Der geplagte und wiederum erlöste Regnerus in Schweden (1684), Die Merckwürdige Begebenheit von Naboths Weinbergs und der gestürzten Jesabel (1685), Olivarez (1685), Alfanzo (1685), Die boßhafte und verstockte Prinzessin Ulvilda aus Dennemarck (1685), Ein wunderliches Schau-Spiel vom Niederländischen Bauer (1685), König Wentzel (1686), Der Fall des Frantzösischen Marschalls von Biron (1687), Joseph (1690), Esau und Jacob (1696), Curieuser Körbelmacher (1702).
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eines Pöbels wütend-blindes Schäumen“, weiß König Basilio in Calderóns Drama La vida es sueño (1635).49 Ähnliche Passagen ließen sich aus Werken aller europäischen Literaturen dieser Zeit zitieren. Gern vergleicht man das Volk dabei mit unberechenbaren Naturgewalten, sei es mit einem noch relativ harmlosen „wütenden Bienenschwarm“ wie in Shakespeares 2 Henry VI (1598)50 oder mit einer schrecklichen Sturmflut wie in Barthold Feinds Haus Jacob (1703). Die bange Frage lautet dabei immer: „wer kann die gewaltsame Fluht hemmen, wenn sie einmahl in dem durchgebrochenen [D]eich herein stürtzet?“51 Die in Rebmanns späterer Warnung an „die mittlere Klasse des deutschen Volkes“ enthaltene Überzeugung: „Übrigens, sobald ein Volk ernstlich frei werden will, vermag keine Macht, weder im Himmel noch auf Erden, es länger in der Sklaverei zu erhalten“,52 teilten die meisten Autoren der Frühen Neuzeit. Daher sind die Bücher der Zeit voll von Aufstandsgeschichten aus allen Jahrhunderten und Erdteilen, weil sich die Verfasser von diesen, sei es auch unglücklich abgelaufenen, Exempeln „einen grossen Unterricht“ versprechen, „wie dergleichen Auffrühre zu verhüten: oder wenn sie einmahl entstanden, zeitig zu stillen seyn möchten“; so jedenfalls der in England 1647/48 in Sachen Revolution gleichermaßen sensibilisierte wie traumatisierte Frankfurter Historiker Hiob Ludolph zur Begründung, warum er in seiner Schilderung der Neapolitanischen Unruhen von 1647 so „viel weitläufftiger als in einiger andern gewesen“.53 Christian Weise teilte die Unterrichtsabsicht Ludolphs. Die Überzeugung, dass „der Auffruhr des gemeinen Volcks, sowol bey Bürgern als Soldaten, einem Torrent oder reissender Wasserfluht zu vergleichen“ sei,54 dem sich schlechterdings nichts entgegensetzen lässt, führte dazu, dass die großen Herren der Zeit einen gehörigen Respekt vor dem Volk haben, besser gesagt: nach Weises Ansicht haben sollten, und sich in seinen Dramen daher beständig um die Volksmeinung sorgen. Das können sie in zweierlei Hinsicht tun: Erstens können die Herren zu erreichen suchen, dass die gemeinen Leute positiv über sie denken, so dass es zu keiner Konfrontation kommt, die sie angesichts der kaum zu bändigenden Gewalt des Volks nicht überstehen würden. Man könnte das 49 50 51
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Calderón: Das Leben ist ein Traum, S. 70 (III/2); vgl. oben S. 80. William Shakespeare: Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 16113 (2 Henry VI III/2, V. 125); vgl. oben S. 59. Barthold Feind: Das verwirrte Haus Jacob, Oder Das Gesicht der bestrafften Rebellion An Stilcke und Lütze. Schau-Spiel. Faksimile-Druck der Ausgabe von 1703. Hg. v. W. Gordon Marigold. Bern 1983, S. 5 (I/2); vgl. unten S. 397. Georg Friedrich Rebmann: Werke und Briefe. Textredaktion Wolfgang Ritschel. Kommentar Werner Greiling u. Wolfgang Ritschel. 3 Bde. Berlin 1990, Bd. 2, S. 459 (Laterne für die mittlere Volksklasse I, 1797). Hiob Ludolph: Allgemeine Schau-Bühne der Welt, Oder: Beschreibung der vornehmsten WeltGeschichte, Des Siebenzehenden Jahr-Hunderts, Zweÿter Theil. Frankfurt a.M. 1701, Sp. 1425–1426. Ebd., Sp. 535 (in dem bei Gelegenheit der Erzählung des „hochstraffbaren Tumults“ in Berlin 1615 eingefügten allgemeinen „Discurs von Auffruhr“).
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einen eher passiven Umgang des Herrn mit der dem Volk zugeschriebenen Eigenschaft der Unbesiegbarkeit nennen, und zwar unabhängig davon, wie viel oder wenig er tut, um das Volk günstig zu stimmen.55 Denn das Volk bleibt in Weises Dramen – und davon wird noch ausführlicher zu sprechen sein – bei seinen Beurteilungen autonom, so dass der Herr nur versuchen kann, durch Manipulation der Informationen, die dem Volk zur Verfügung stehen, dessen Meinungsbildung indirekt zu beeinflussen. Passiv nenne ich dieses Verfahren deshalb, weil der große Herr in diesem Fall lediglich zu verhindern sucht, dass sich das Volk gegen ihn stellt. Zweitens können die Herren versuchen, das Volk für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, um sich dessen Unbesiegbarkeit anzueignen. Das wäre ein aktiv zu nennender Umgang mit dem Problem, dass das Volk eigenständig handelt, weil der Herr dieses Handeln direkt beeinflussen und in seinem Sinn lenken will. Dieses Schema muss auf unterer Ebene allerdings noch durch eine weitere Unterscheidung differenziert werden. Die großen Herren können schließlich sowohl gut als auch böse gesinnt sein. Der Fall eines guten Fürsten interessierte Weise in seinen Dramen nicht besonders, weil dann die Interessen des Fürsten und des Volks konform gehen und keinen Ansatzpunkt für dramatische Konflikte bieten. Trotzdem hebt dies nicht das grundsätzliche Problem der Sorge um die Volksmeinung auf. Ich will dies mit zwei Beispielen erläutern: Obwohl das Volk seine Zuneigung zu dem legitimen und edel gesinnten König schon in früheren Szenen des Regnerus-Stücks mit einer die Grenze des Aufruhrs streifenden Kundgebung bewies (2, 41–44), halten es die Berater des Königs bei seiner Rückkehr aus der von der machtgierigen und intriganten Stiefmutter erzwungenen Verbannung „nicht vor rathsam“, zu großes Aufheben um die Bestrafung des Verrats zu machen, „ehe man der Affection bey dem Volcke versichert ist“ (2, 99). Dass man also auch auf Seiten des guten Herrschers der „Affectation“ des Volks nicht unbedingt sicher sein kann, ist ein erstes Indiz für die grundsätzliche Fremdheit zwischen Oberen und Unteren, die ihr Verhältnis so diffizil und labil macht. Daher ist eine der ersten Fragen, die selbst ein guter Herrscher stellen muss, hier des gewählten Königs Jephta: „Aber, was ist unter dem Volcke vor Anstallt?“ (4, 46). Wesentlich ergiebiger für dramatische Konflikte sind natürlich in Unordnung geratene gesellschaftliche Verhältnisse, weshalb sich in den Dramen Weises wesentlich mehr Beispiele umstürzlerisch gesinnter Fürsten finden lassen, die auf die eine oder andere der genannten Arten mit der Unbesiegbarkeit des Volks zu rechnen haben. Der grundsätzliche Nachteil der fürstlichen Rebellen, die ja deswegen Rebellen sind, weil sie nicht für den „gemeinen Nutzen“ arbeiten, ist, dass sie das 55
Angesichts der unbesiegbaren Gewalt des Volks empfahl deshalb Arnold Clapmaier (1574– 1634) in einem der damals verbreitetsten Lehrbücher der Regierungskunst (De arcanis rerum publicarum libri sex. Bremen 1605, 2. Buch, 9. Kap.: „infatuere plebem“), das „Volk für sich einzunehmen“ (vgl. Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1987, S. 284 u. 305).
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Volk belügen müssen, um sich dessen „Affectation“ zu erhalten, was die unerlässliche Bedingung für ihren angestrebten Erfolg ist. Fürst Lycogenes, Chef der Adelsopposition und „Haupt der Sicilianischen Rebellion“ (1, 379) gegen den rechtmäßigen König, weiß genau, dass er sich entgegen den objektiven Tatsachen als eigentlich legitimen Herrscher, den bisherigen König aber als Tyrannen darstellen muss, denn: „Wo dem Volcke die Augen eröffnet werden, so hat der König den vollen Sieg wider uns in den Händen“ (1, 420). Ebenso ist es die erste und größte Sorge Ulvildas, die die kriegsbedingte Abwesenheit ihres Bruders, des rechtmäßigen Königs, zu einem Putsch nutzen will, ob auch wirklich „das ganze Volck einig“ in der Zustimmung zu einem solchen Schritt sei, wie es ihr Berater behauptet (2, 474). Als nach Bekanntgabe der Machtübernahme das Volk dem neuen Herrscherpaar huldigt, ist Ulvilda von der Reibungslosigkeit ihres Staatsstreichs überrascht, und zwar ausdrücklich, weil sie „in Gewinnung des Volckes so großen Zweiffel“ hatte. Ihr Gatte, der neue König, hält die Zustimmung des Volks schlicht für ein „himmlisches Wunder“ (2, 480). So wunderbar ist dies indes nicht; die Berater Ulvildas haben nämlich die Lüge ausgestreut, der alte König sei im Krieg gefallen. Damit wäre Ulvilda als nächste Verwandte die rechtmäßige Erbin des Throns, was das Volk als legitim anerkennt. Als aber der totgeglaubte König bald darauf siegreich aus dem Krieg zurückkehrt, entzieht das Volk den Usurpatoren sofort seine Gefolgschaft und begrüßt den legitimen Herrscher „mit ungemeiner Glückwünschung“ (2, 485). Das ist nicht Ausdruck der oft behaupteten Wankelmütigkeit des Volks, sondern die bewusste Revision eines (auf Grund falscher Informationen) irrtümlich begangenen Unrechts. Neben den genannten Beispielen für passive Sorge um die Volksmeinung finden sich seitens der ungerechten Obrigkeiten selbstverständlich auch Versuche, das Volk aktiv im eigenen Interesse zu manipulieren. Auch hier gilt es, den nahezu unbestechlichen Gerechtigkeitssinn des Volks durch geschickte Vorspiegelung falscher Tatsachen, ähnlich wie in dem eben erwähnten Fall Ulvildas, unbemerkt auf Irrwege zu leiten. So rät der oberste Baals-Priester in dem Schauspiel von Naboths Weinberg seiner Königin Jesabel, den widersetzlichen (aber gerechten) Naboth nicht einfach so umzubringen: „Allein unmaßgeblich von der Sache zu reden, es würde bey dem Volcke sehr empfindlich auffgenommen werden, wenn der Mann ohn allen Schein des Rechtens sterben solte“ (6, 317), was wegen des dann zu erwartenden Aufstands den Plan zur widerrechtlichen Enteignung Naboths zunichte machen könnte und vermutlich würde. Besser führe man einen Schauprozess, der das Volk an der Urteilsfindung beteilige, schlägt der Baals-Priester vor. Wenn das Betrugsmanöver schlau genug eingefädelt ist, lässt sich „der einfältige“, weil nicht über die wahren Hintergründe informierte „Pebel“ (2, 485) durchaus betrügen. In Naboths Fall überzeugt der vor dem gesamten Volk geführte Schauprozess dieses von der scheinbaren Rechtmäßigkeit des Verfahrens und es kommt zu der von Jesabel erwünschten Verurteilung und Steinigung. 134
Wie wichtig wenigstens der Schein des Rechts ist, zeigt das Beispiel vom „Auffruhr des Pöbels zu Roterdam, Anno 1690“, das Zigler anführte.56 Ein Angeklagter wurde zu Unrecht verurteilt, ein Aufschub der Hinrichtung nicht gewährt und die Exekution auch noch stümperhaft durchgeführt.57 Daraufhin kam es zu einem „gefährlichen Auffruhr von dem Pöbel“, dessen Forderung ungeachtet aller Invektiven Ziglers58 lediglich die Bestrafung der Verantwortlichen war. Immerhin wusste das Volk dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, indem es nicht nur mit seinen „gebräuchlichsten Waffen, nemlich […] Steinen“ vor den Ratsherren stand, sondern sich auch „Canonen“ von den Wällen der Stadt besorgt hatte. Angesichts der brenzligen Situation beschloss man seitens der Stadtregierung, die für den Justizskandal Verantwortlichen, nämlich den Polizeichef und einen Drahtzieher im Hintergrund, zu opfern und zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem man „dem wütenden Volck“ solcherart Genüge getan hatte, beruhigte es sich wieder. Zigler kannte, wie viele Autoren seiner Zeit, noch mehr solcher Beispiele für den Wunsch des Volks, dass alles „nach der Gerechtigkeit gehen“ soll, wie es ein Bauer in Weises Jacob-Drama ausdrückt (5, 81). Als Obrigkeit konnte man sich um 1700 nicht alles erlauben, ohne mit dem Widerstand des Volks rechnen zu müssen.
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Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen: Historisches Labyrinth der Zeit Darinnen die denckwürdigsten Welt-Händel, Absonderlich aber die richtigsten Lebens-Beschreibungen aller ietzt lebenden und verstorbenen Könige in Europa und theils Asia, samt der Groß-Meister des Deutschen Ordens in Preußen und der Heer-Meister in Lieffland, etc.[…], Mit sonderbahrer Anmuth verwickelt und in ungezwungener Ordnung wiederum auffgelöset werden. Leipzig 1701, S. 495f. Das Volk ließ sich trotz Intensivierung einer regulierenden Herrschaftspraxis seit dem 16. Jahrhundert und trotz der Umwandlung des Hinrichtungszeremoniells zu einem moralischen Schauspiel im 18. Jahrhundert nie völlig in die Rolle eines passiven Zuschauers bei Gerichtsverfahren oder Exekutionen drängen. Daher kam es bei solchen Gelegenheiten auf Grund der Unterschiede im Rechtsbewusstsein zum einen des Volkes und zum andern der Richter häufig zu Tumulten, vgl. Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. 2. Aufl. München 1988, S. 145–160. Zigler nannte das Volk ein „vielköpffichtes Thier“, das „nichts lieber thut, als seinen Gifft ausspeyen“, „Lumpen-Gesinde“, „eingefleischte Tieger“, „Männer und Weiber, gleich denen rasenden Bestien“, „Teuffels-Scharm“ und so weiter (Historisches Labyrinth, S. 495f.). Zigler geriet angesichts der „schädlichen Seuche des Auffruhrs“ (S. 515) stets in Wallung; sogar wenn ihm die „Rebellion“ nicht völlig unsympathisch ist, weil es gegen die Katholiken ging (so etwa beim „Auffruhr der Bürgerschafft zu Dantzig wider den Rath Anno 1522“ [S. 1021f.] oder bei dem „Tumult“ in Augsburg Anno 1524 [S. 923f.]), kann er sich des Grauens angesichts des aufrührerischen Pöbels kaum erwehren. Zwar begrüßte er es, dass das Volk in Augsburg 1524 die Rücknahme der Ausweisung eines Mönchs, der „die Päpstlichen Mißbräuche anzugreiffen, und dem einfältigen Volck die Augen zu eröffnen“ gewagt hatte, „der Billigkeit nach“ erzwang (S. 923), doch mit unverhohlener Genugtuung berichtete er außerdem, dass man die beiden Rädelsführer heimlich ergriff und hinrichtete sowie andere mit dem „Staup-Besen“ bestrafte (S. 924). Zigler befürwortete auf jeden Fall gewaltsames Vorgehen gegen das Volk und empfahl insbesondere Hinrichtungen „zum klaren Beweißthum, dass unter den Auffrührern selten einer so glücklich ist, sein lasterhafftes Leben auff dem Bette zu endigen“ (S. 516: „Auffruhr der Bauern in der Schweitz, Anno 1653“).
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Wie man den Aufruhr des Volks wieder stillt Ist es erst einmal zum Aufruhr gekommen, hilft, angesichts der Unbesiegbarkeit des Volks, gegenüber „diesem vielköpfigten und ungezäumten Thiere“ (Zigler)59 nur noch kluges Nachgeben. Das ist allerdings eine dem adligen Ehrenkodex traditionell unerträgliche Forderung. „Es thut weh, man soll nachgeben“, klagt Vizekönig Roderigo im Masaniello. Er fühlt sich in „gedoppelter Gefahr“. Denn wenn er hart bleibt, werde das Volk ihn töten; wenn er nachgibt, werde er den Adel wider sich „erregen“, gesteht er ratlos dem Erzbischof Philomarini. Der aber sieht nur den einen Ausweg: „Nachgeben hat seine Zeit“. Aber er weiß die gekränkte Adelsehre zu beruhigen: „Vielleicht erleben wir die Zeit, da man sich wieder auffrichten kan. Und etwas im Vertrauen gesagt: Ein Vice-Roy kan leicht im Versprechen freygebig seyn; Denn hat er zu viel gethan, so mag es der König oder der Successor ändern“ (I/17; 1, 197). Den Adligen gegenüber erklärt der Kardinal ebenfalls: „Der Adel soll nichts verliehren: er soll sich nur so lange bücken, biß der SturmWind vorüber geht: Als denn wird er sein Haupt so gut aufrichten können, als jemals“ (II/6; 1, 227). Philomarini spricht hier das von Weise propagierte Programm der „Politischen Klugheit“ an,60 die seiner Ansicht nach „nicht auff einer Eiche, sondern auff einer Weide gewachsen sey“, was heißen soll: „Wenn das Eichen-Holtz von der grausamen Lufft zerschmettert wird, so bücket sich die Weide, biß ein stilles Wetter die sämtlichen Zweige von sich selber wiederum aufrichtet“ (1, 372: „Nachredner“). In der höfischen Ethik der alteuropäischen Eliten wurde solches Verhalten noch als „niederträchtig“ bewertet, wie es Friedrich von Logau allerdings schon mit ironischer Distanz in einem „Demuth“ betiteltem Epigramm ausdrückte.61 Solche „Demuth“ galt in diesen Kreisen als eine Haltung, die für Sklaven angemessen sei, nicht aber für Herren. Das Programm „lieber bie-
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Zigler: Historisches Labyrinth, S. 973 („Grausamer Auffruhr des Pöbels […] Anno 1349“). Vgl. in Weises Olivarez die sechste Szene des fünften Akts, wo der gestürzte Gusman einsieht, dass vorsichtiges Nachgeben „kluge Politique“ sei: „wenn der Sturmwind kömmt, muß man sich bücken. Vielleicht richtet man sich nach dem Winde wiedrum auff“ (2, 311). – In der frühaufklärerischen Literatur bediente man sich gern des Exempels von Gaspar de Guzmán, Graf von Olivares (1587–1645), „der eher eine Dummheit beging, als dass er von seinem Willen ließ“, wie es bei Alain René Lesage (Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Übers. v. Konrad Thorer. Leipzig 1958, S. 513) hieß, durch sein Unglück aber zu einem aufgeklärten Menschen geläutert wurde, der das Wesen der „klugen Politique“ einsah; bei Lesage sogar, seine Frau über den Verlust höfischer Würde tröstend, menschliche Größe beweist: „folgt meinem Beispiel, schluckt Euren Schmerz hinunter; man muß vor dem Gewitter weichen, das man nicht abwenden kann. Ich hatte freilich geglaubt, ich könnte mir mein Ansehen bis zum Schluß meines Lebens erhalten: die gewöhnliche Täuschung der Minister und Günstlinge, die vergessen, dass ihr Los von ihrem Souverän abhängt“ (ebd., S. 526). Diesen Topos der Hofkritik findet man bei Weise ebenfalls zu Hauf, z.B. im Biron, wo es heißt, dass bei Hof das „Glücke […] nicht sehr beständig seyn“ will (3, 245). „Ein hoher, starcker Baum muß vor dem Winde liegen; / Ein niederträchtig Strauch, der bleibet stehn durch biegen“ (Friedrich von Logau: Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Breslau 1654, S. 220).
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gen als brechen“ stammt schließlich auch aus einem Sklavenhirn, nämlich von Aisopos (um 600 v. Chr.): Die Eiche und das Schilfrohr stritten miteinander, wer der Stärkere sei. Als sich ein heftiger Sturm erhob, schwankte und beugte sich zwar das Schilfrohr unter dessen Stößen, in den Wurzeln aber blieb es fest. Die Eiche dagegen widerstand im großen und ganzen, wurde aber dennoch aus den Wurzeln gehoben.62
In der als Epimythion zu dieser oft neu erzählten Fabel hinzugefügten Moral („fabula docet“) wird stets darauf hingewiesen, dass es klüger sei, nachzugeben, als den Mächtigen zu trotzen.63 Ist man aber selbst einer dieser Mächtigen, will und soll man sich allenfalls vor Gott demütigen, nicht aber vor Menschen; auf Erden gelte es, hart und standhaft zu bleiben. Daher hatten im barocken Trauerspiel Märtyrer große Konjunktur. Senecas Sentenz „flecti non potest – frangi potest“64 kann als Devise all der stoizistischen Trauerspielhelden des 17. Jahrhunderts gelten, die sich gern mit der Unnachgiebigkeit eines Eichbaums vergleichen lassen. „Der Sturm riß deinen Stamm mit Ast und Wurzel auß“, hält Kaiser Bassian in Gryphius’ Trauerspiel seinem „Großmütigem Rechtsgelehrten“ Papinian vor (V/3, V. 273), worauf der gelassen auf das beständigere Glück des Jenseits’ verweist.65 62
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Antike Fabeln, S. 45 (Nr. 71; die Fabel trägt in der Ausgabe von Chambry die Nr. 101, in der von Halm die Nr. 79b, in der von Hausrath/Hunger die Nr. 71, in der von Perry die Nr. 70). In den im 18. Jahrhundert verbreiteten, auf Grund der 1718 erschienenen Sammlung von John Hudson besorgten Editionen von Hartmann bzw. Heusinger (zuerst Eisenach 1741) trägt die Fabel die Nr. 143 und die Überschrift: „Das Rohr und der Oelbaum“ (vgl. z.B. die auf diesem Text fußende Schulausgabe der AIȈȍȆOY MYĬOI von Johann David Büchling. Halle ²1799, S. 112). In Hunolds „Esope“-Ausgabe der „derniere Traduction des ses Fables“ (Der lustige und Anmuthige Aesopus. Hamburg 1707, S. 112) heißt die nicht übertragene Fabel „Du Frene, & d’un Roseau“ und hat als „Sens Moral“: „Il faut mieux plier, que de rompre“. Vgl. außer dem Aisopos-Text (Antike Fabeln, S. 45) auch die Texte des Babrios (ebd., S. 261), des Avian (ebd., S. 416) und des Ignatios Diakonos (ebd., S. 448); bei Ignatios kommt neben dem Rohr erstmals die Weide als Gegensatz zur Eiche oder zum Oelbaum vor. Seneca’s Thyestes. Ed. with Introduction and Commentary by Richard John Tarrant. Atlanta 1985, S. 54 (V. 200). „Biegen läßt er sich nicht, man kann ihn nur brechen“: so Atreus über seinen Bruder Thyestes, der lange Zeit, wenn auch unberechtigt (vgl. Wolf Steidle: Die Gestalt des Thyestes. In: Senecas Tragödien. Hg. v. Eckard Lefèvre. Darmstadt 1972, S. 490–499, hier S. 490ff.), als „vortrefflicher Charakter“ mit einem „rechtschaffenen Herzen“ (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 4, S. 122f.) galt, insbesondere weil man geneigt war, ihn als stoischen und kryptochristlichen Charakter misszuverstehen (vgl. Anm. zu Thyestes, V. 1068–1085 in Lucius Annaeus Seneca: Sämtliche Tragödien. Lateinisch und Deutsch. 2 Bde. Übers. u. erl. v. Theodor Thomann. Zürich 1961–1969, Bd. 2, S. 460). Theatralische Tugendlehre und Rhetorikübung mittels Senecas Dramen war im 17. Jahrhundert auf dem Schultheater üblich; in Hamburg etwa spielte man auf dem Theatro Scholae Johanneae unter Johannes Schultze (Rektor von 1682–1708) sogar noch um die Jahrhundertwende „hauptsächlich“ Seneca (belegt: 1694 Hercules furens, 1696 und 1700 Medea, 1697 Thyestes, 1703 Hercules Oetaeus und Troades), vgl. Emil Riedel: Schuldrama und Theater. Ein Beitrag zur Theatergeschichte. In: Aus Hamburgs Vergangenheit. Kulturhistorische Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten. 2 Bde. Hg. v. Karl Koppmann. Hamburg 1885–1886, Bd. 1, S. 181–251, hier S. 220f. Gryphius: Dramen, S. 412.
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Während im 17. Jahrhundert solche „Bestendigkeit“ als „höchstes Stück Menschlicher weisheit gehandelt wird“, wie es auf dem Titelblatt von Lipsius’ berühmter Abhandlung Von der Bestendigkeit heißt, lehnte Christian Weise und mit ihm die gesamte prudentistisch gesinnte Frühaufklärung dies als unklug ab. „Es ist besser beugen, als brechen“, schrieb zum Beispiel der bis ins 19. Jahrhundert viel rezipierte Jean-Baptiste Morvan, besser bekannt als Abbé de Bellegarde (1648–1734), in seiner „moralischen Erklärung“ zur erwähnten Fabel des Aisopos; insbesondere gelte das für „diejenigen, welche zum Regimente des Staates berufen sind“. Morvan hielt explizit fest, „dass es nicht klug ist, sich einem mächtigen Feinde halsstarrig zu widersetzen“, vor allem wenn man sieht, „dass der Widerstand unnützlich ist, oder [einem] auch wohl gar unglücklich seyn könnte“. Er äußerte den Verdacht, dass es sich bei der „Standhaftigkeit“, die „große Männer“ gern bewiesen, um „eine mit Hochmuth vermischte Verzweiflung“ handle, „welche öfters so tadelnswürdig als die Zaghaftigkeit ist“. Stattdessen hielt er es für weise, „sich nach den Umständen [zu] bequehmen“, vor allem wenn der Gegner stärker sei „und die Vernunft nicht höret; Man muß nachgeben, und geschickt ausweichen, um den Strohm seines Zornes vorbey rauschen zu lassen, bis die Umstände günstiger werden“.66 Während Gryphius und andere den Märtyrer feierten, erledigte Weise diese, indem er sie lächerlich machte. Er führt im Masaniello mit den Herzögen Matelone und Caraffa zwei Adlige vor, die dem barocken Ideal der „Bestendigkeit“ bedingungslos anhängen: „Es ist besser, wir leben in einer verwüsteten Stadt, als dass wir dem Volcke schimpfliche Conditiones eingehen“ (II/4; 1, 221), verteidigt Caraffa seine Politik der Konfrontation. Anders aber als die Trauerspielhelden von Gryphius stirbt Caraffa einen schmählichen Tod. Ohne dass er noch irgendwelche dicta heroica von sich geben kann, „schneidet ihm“ der Käsehändler Formaggio einfach „mit einem Messer den Kopff ab“ (III/18; 1, 283); dass man den zitternden Herzog zuvor aus dem Bett einer gemeinen Prostituierten hervorzog, in das er sich verkroch, macht den Vertreter der „constantia“ bereits zu einer lächerlichen Figur (III/15–16). Anders als dem toten Masaniello, den zumindest das Volk als Märtyrer feiert,67 bleibt Caraffa als einem Opfer seiner eigenen politischen Dummheit jede Verklärung als Märtyrer versagt. Stattdessen feiert man am Hof den Erzbischof Philomarini, dessen „kluge Politique“ des vorsichtigen Nachgebens das „König66
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Aesopus, des Phrygiers, Leben und Fabeln […]. Neue Uebers. mit moralischen u. historischen Anm. des Herrn Abts von Bellegarde. Berlin 1745, S. 224f. Es war übrigens Jean de Lafontaine (1621–1695), der 1668 in seiner Version der Fabel von der Eiche und dem Schilfrohr (I,22) die Haltung der Eliten erstmals vorsichtig ironisiert: Am Ende liegt die voller Mitleid auf das Rohr herabschauende Eiche entwurzelt, „sie, die einst dem Himmel Nachbarschaft / und Saft und Mark dem Totenreich verdankte“ (Jean de La Fontaine: Die Fabeln. Gesamtausgabe. Übertr. v. Rolf Mayer. Düsseldorf 1964, S. 36). Man handelt Leichteile als „Reliquien“ (V/23; V/24; 1, 365f.). Auch historisch musste Roderigo Masaniello ein Staatsbegräbnis gewähren (vgl. Michelangelo Schipa: Masaniello. Bari 1925, S. 112: „L’apoteosi“).
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reich Neapolis von dem eusersten Untergange“ erlöste (V/25; 1, 367). Caraffas Bruder Matelone zeigt sich – wie erwähnt – einsichtig und will „ins künfftigere bessere Consilia fassen“ (V/24; 1, 367).68 Weise qualifizierte die stoische „Bestendigkeit“ ausdrücklich als „alte Regel“ ab (II/6; 1, 227) und erwies sich damit als einer derjenigen, die von konservativen Autoren wie dem Jesuitenpater Wolfgang Rauscher als „Pseudopolitici oder Weltkluglinge“ angegriffen wurden.69 Weise hielt es dagegen für die wahre „Politica“, „practicable Stats-Regeln“ zu haben,70 das heißt: sich „den nothwendigen Umständen nach an keine Regel“ zu binden, um einmal die zitierte poetologische Äußerung (8, 432) auch auf politischem Terrain zur Anwendung zu bringen. Fast sei es nämlich ein Widerspruch, auf dem Gebiet der Politik überhaupt „von StaatsRegeln zu reden“, meinte Weise: „wir haben Regeln, und die Welt macht in praxi lauter exceptiones“.71 Obwohl der Politicus in der Praxis mit den „Regeln“ nichts anfangen könne, weil sich diese meist auf ein theoretisches Ideal beziehen, müsse er sie doch kennen, „damit er in seinen Consiliis allemahl darauff Reflexion machen kan. Doch soll er auch wissen was er hoffen soll, damit ihm die Unmöglichkeit den Wunsch nicht zu schanden machet“, schrieb Weise in seinem Politiklehrbuch abschließend: Ein anders ist Status Idealis, da man sich in Gedancken eine vollkommene Republique einbildet, darinnen man alles so glückselig und ordentlich vorstellen mag, als man will. Ein anders ist Status possibilis, da man sich nach der Möglichkeit richten muß, nach dem die Sachen in Respect der Personen, der Zeiten und der Mittel auszuführen sind.72
Im übrigen brauche man sich „nicht gar zu sehr bekümmern, wenn der Status Idealis mit dem Status Possibili nicht allerdings über eintreffen will“, beruhigte uns 68
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Vgl. Stefan Kraft / Andreas Merzhäuser: Il caso Masaniello. Zur Bedeutung italienischer Modelle der Rationalität bei Christian Weise und Barthold Feind. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. v. Sylvia Heudecker u.a. Tübingen 2004, S. 198–219, hier S. 208: „Weise akzeptiert die politische Lehre der italienischen Moderne, macht sie zur Basis seiner Darstellung, aber er sucht sie zugleich auch durch den Rahmen der Paratexte, der gegen Einsichten des Dramas die fortdauernde Geltung der alten Ordnung behauptet, pragmatisch zu entschärfen, sie in einen polyperspektivischen Prospekt einzubinden, der auch der Stimme der Moralität ihren – wenngleich deutlich geminderten – Rang lässt“. Vgl. die Adventspredigt Wolfgang Rauschers (in: Oel und Wein des mitleidigen Samaritans, Bd. 3, 1698; zit. bei Albrecht Schöne: Vom Biegen und Brechen. Göttingen 1991, S. 30f.), der ausdrücklich auf Äsops Fabel Bezug nimmt und die stoische „Großmütigkeit“ der Tragödienhelden als Beispiel empfiehlt. Schon Justus Lipsius (Von der Bestendigkeit Zwey Bücher. Darinnen das höchste Stück Menschlicher weisheit gehandelt wird. Jetzt außm Latein ins Teutsche bracht, Durch Andream Viritium. 2. Aufl. Leipzig 1601, Bl. 94v–95r) empfahl als Vorbilder Menschen wie Papinian, deren „Standhafftigkeit unnd Gedult in ihrem Unglück, dieser verfinsterten Welt, gleichsam als ein Liecht fürgehalten“ zu werden verdienen: „aus den Bächlein ires Bluts trincken wir noch alle tage ein die Bestendigkeit und Tugendt“. Darauf legte Weise im Untertitel seiner Politischen Fragen (1690) den größten Wert. Weise: Politische Fragen, S. 407. Ebd., S. 534–535.
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Weise;73 man halte sich bloß an das Menschenmögliche. Da ein praktischer Politicus sich nach den „zeitlichen“ Werten richten solle,74 heißt klug handeln also, sich nicht fundamentalistisch auf Tugenden zu versteifen, die sich auf das Jenseits beziehen. Märtyrer waren Weise dementsprechend ein Gräuel; was ihn als Dramatiker – ganz im Gegensatz zu Gryphius – beispielsweise an der englischen Revolution interessierte, sind nicht die Regierungsfehler von Karl I. Stuart,75 sondern der vergebliche Versuch Karls II. Stuart, sein verlorenes Königreich zurückzugewinnen.76 Gegenüber den Fundamentalpolitikern des Neostoizismus plädierte Weise für die Realpolitik der Kompromisse und kleinen Schritte; anders als für die meisten Dramentheoretiker sonst stellte sich für ihn daher nicht die Frage, ob Antigone oder Kreon mehr Recht haben, weil sie beide politisch dumm handeln, indem sie unnötige Konflikte ausfechten und daher die „Conservation des Staats“,77 das höchste Ziel der Politik, gefährden. Weises Held wäre natürlich Haimon gewesen, der seinem Vater die Prinzipien der Realpolitik vorhält und ihn beschwört, im eigenen Interesse nachzugeben.78 Da das gesamte Volk der Stadt Theben Antigone Recht gebe, gefährde König Kreon durch sein Beharren auf dem Gesetz und seine daran geknüpfte Herrscherehre gerade die Ordnung, die er zu schützen vorhabe.
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Ebd., unpaginierte Vorrede [10. April 1690], § 50. Ebd., S. 416. Weise rügte die fehlerhafte Politik von „Carl I. König von Engelland“ in den Politischen Fragen (S. 172f.). Dass Weise Karl Regierungsfehler nachwies, heißt natürlich nicht, dass er die Revolution rechtfertigte. In seinem Rhetoriklehrbuch Politischer Redner (³1681, Reprint Kronberg/Ts. 1974, S. 120) qualifizierte er Prozess und Hinrichtung Karls explizit als „KönigsMord“. Weises Drama Der verfolgte König Carolus auf dem Eichbaume (geschrieben 1689) ist verloren. Erhalten hat sich lediglich das Programm der Aufführung 1702 (Christian-Weise-Bibliothek, Zittau, Signatur: Zitt 29 c. Progr. I/159). Der Titel bezieht sich auf die damals sehr bekannte Fabel, dass sich Karl II. Stuart nach der verlorenen Schlacht von Worcester (1651) in den Zweigen einer Eiche vor den Häschern Cromwells verbarg; darüber hinaus ist aber die Assoziation erlaubt, dass es letztlich die „Eichbaum“-Politik der Stuarts war, die zur Revolution führte. Weise: Politische Fragen, S. 414; vgl. auch ebd., S. 410: über die „Politische Staats-Klugheit“, d.h. „eine gewisse Bereitschaft allerhand guter Regeln und practicabler Vorschläge, dadurch sich die Erhaltung des Staats befördern lässet“; „eine kluge Manier, wie der Staat mit guter Raison soll erhalten werden“. Die entscheidende Passage aus Haimons Rede im dritten Akt von Sophokles’ Trauerspiel (Sophokles: Dramen. Griechisch und deutsch. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. einem Nachw. v. Bernhard Zimmermann. 2. Aufl. München 1985, S. 236, V. 710ff.) lautet in der Übersetzung von Martin Opitz: „Ein Mensch wie klug er ist, so lernet doch allzeit, / Und stets nit widerstrebt, dem kan man nichts verheben. / Die Bäume so der Flut nur wissen nachzugeben, / Wie siehst du, dass sie stets mit gantzen Aesten stehn, / Die nicht zu beugen sind, hergegen untergehn? / Ein Schiffer der den Fluß auß Boßheit nicht will lencken, / Nicht weichen, pflegt das Schiff offt umb und umb zu schwencken, / Ergreifft hernach ein Bret und schwimmt darmit dahin. / So weiche du doch auch, und wende deinen Sinn“ (Martin Opitz: Weltliche Poemata, 1. Teil, 1644. Reprint hg. v. Erich Trunz u.a. Tübingen 1967, S. 285).
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In einer vergleichbaren Situation entscheidet sich König Henricus in Weises Biron-Drama daher als kluger Politicus sofort für das Nachgeben und beendet damit den Volksaufstand, den er durch seine Regierungsfehler mitverschuldete. Auf Grund einer vom König verfügten, „Pancharte“ genannten Umsatzsteuer ist das Land in große Not geraten und das Volk entsprechend zur Revolte geneigt.79 Der „gemeine Mann“ hat zu Recht den Eindruck, dass das Regiment von König Henricus nicht dem „gemeinen Nutzen“ dient, sondern dessen Egoismus.80 Aus dem Umstand, dass das Regiment nicht mehr dem „gemeinen Nutz“ diene, leitete das Volk im 16. und 17. Jahrhundert in der Regel das Recht zum Aufstand ab.81 Der Marschall von Biron erkennt als Führer der Adelsopposition, die am Sturz des Königs arbeitet, die darin liegende Chance und stellt sich vor dem Volk als entschiedener Gegner der Pancharte dar, um zugleich am Hof für die Beibehaltung der Steuer zu plädieren, „biß wir einen vollen Tumult im Königreiche haben“. Auf Grund seiner propagandistischen Vorarbeit kann Biron damit rechnen, von dem Volk nach Beginn des Aufstands zum „Ober-Haupt“ gewählt zu werden. Auf diese Art will er die Unbesiegbarkeit des Volks für seine Zwecke instrumentalisieren: der Volksaufstand soll Henri de Bourbon gleichermaßen hinwegfegen wie den Marschall von Biron an die Spitze des Staats spülen, ohne dass er sich als „Verräter“ prostituieren muss (3, 224).
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Es gehört zu Birons wie Weises (Politische Fragen, S. 424f.) historischer Erfahrung, dass gerade Albas Versuch, eine der Pancharte vergleichbare Umsatzsteuer in den spanischen Niederlanden einzuführen (1569), „sehr viel zur Losreißung dieser wertvollen Provinzen von Spanien beigetragen hat.“ (Vgl. auch Johannes Popitz: Umsatzsteuer. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 8 Bde. u. 1 Erg.-Bd. Hg. v. Ludwig Elster u.a. Bd. 8. 4. Aufl. Jena 1928, S. 373–388, hier S. 380.) Die Pancharte wurde in Frankreich realiter erst 1643 endgültig durch eine Akzise ersetzt. Die Zeitgenossen Weises sind sich über die Bedeutung solcher Fragen sehr wohl im Klaren; Zigler zum Beispiel schreibt in der Einleitung zu seiner Darstellung des „Entsetzlichen Auffruhrs des Pöbels zu Amsterdam Anno 1696“: „Es ist dem gemeinen Volck nichts so sehr zuwider, als die neuen Anlagen, oder allzu harte Geld-Erpressungen, und wenn man die rechte Brunn-Quelle aller Empörungen untersuchet, so werden sie insgemein ihren Ursprung von dergleichen Beschwerungen haben, welche dem Pöbel entweder ungerecht oder unerträglich zu seyn scheinen“ (Zigler: Historisches Labyrinth, S. 902). Angesichts der Präzision, mit der Weise die sozioökonomischen Probleme des in Frankreich um 1600 in Angriff genommenen Umbaus der Feudalgesellschaft in ein absolutistisches Staatswesen (ein um 1700 in Deutschland aktueller Vorgang) in sein Drama integriert, berührt es merkwürdig, wenn man bei Zeller liest, die politisch potenziell bedeutsamen Ereignisse gerieten in den sogenannten Favoritendramen (wozu der Biron traditionell gezählt wird) „seltsam aus dem Blick“ (Zeller: Der Hof im Drama Christian Weises, S. 544). Dies übrigens glaubt das Volk nicht nur in Weises Stück, sondern glaubte es auch historisch; der englische Diplomat Sir George Carew berichtete: „Die gemeinen Leute halten es für ein echtes Staatsprinzip in Frankreich, dass sie durch ungesetzliche Forderungen und Unterdrückung kurzgehalten werden“; sein Kollege Dudley Carleton spricht 1610 von dem „ärmlichen Ansehen der Leute und dem Elend, welches so groß war, dass man Glück nur im Vergleich kannte“ (zit. nach Ernst Walter Zeeden: Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe. 1556–1648. Frankfurt a.M. 1975, S. 289). Vgl. Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1987, S. 224f.
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Dieser Plan ist schlau ausgedacht, hat aber einen Fehler: Biron rechnet damit, dass der König einer „Politique mit ihren alten Regeln“ folgt und aus „Bestendigkeit“ sowie aus fürstlichem Ehrgefühl die einmal beschlossene Steuer unbedingt beibehalten will. Doch König Henricus mausert sich in der Bedrohung unerwartet zu einem klugen Politicus, der den inzwischen ausgebrochenen Volksaufstand erledigt, indem er trotz der „beschwerlichen Zeit“ (3, 253) die Pancharte kurzerhand abschafft. Auch er weiß, dass das Volk unbesiegbar ist und beendet den Aufruhr durch das einzige Mittel, das hilft: Nachgeben. Dass Weise solches Nachgeben nicht für eine „verzagte Resolution“ hielt, verdeutlicht er in einer anderen Szene, wo die barocke Kardinaltugend „Beständigkeit“ am Beispiel des gefangenen Marschalls diskutiert wird (IV/5). Biron ändert im Gefängnis nämlich sein Verhalten und bekennt, wo er vordem leugnete. „Entweder ich will niemals trotzig seyn, oder ich wolte den Trotz prosequiren, und wenn mir der Halß brechen solte“, findet der Hauptmann der Wache jedoch, und ein untergebener Soldat stimmt ihm zu: „so einem großen Herrn“ hätte Beständigkeit – sei es im Guten oder im Bösen – jedenfalls „besser angestanden“. Die beiden jeweiligen Gesprächspartner erklären dagegen mit Zustimmung ihres Autors die „Beständigkeit“ in einer aussichtslosen Lage oder gegenüber dem Tod für unsinnig. Die Forderung nach Beständigkeit sei eine „Blindheit“, die dem „guten Glücke zu dancken“ sei; mit anderen Worten: Beständigkeit sei eine Tugend für Leute, denen es wohl gehe, und daher luxurierend. „Man hat gut raisonniren, so lange man in gutem Glücke fremdes Unglück verspotten kann“, ärgert sich der Vertreter von Weises neuer Politik in dieser Szene über die alte Propaganda für stoische Beständigkeit (3, 340–342). Constantia war für Weise eine Tugend, die für den Idealstaat gültig sein mag; mit dem wirklichen Leben hat sie nichts zu tun. Trotzdem hatte Weise aber geschickt auch dafür gesorgt, dass die Wendung seines Biron-Dramas notfalls auch von Leuten akzeptiert werden konnte, die glaubten, ein Fürst dürfe an sich den Forderungen seiner aufständischen Untertanen nicht nachgeben, ohne seiner Ehre verlustig zu gehen. Denn er machte eindeutig klar, dass die Steuer „an sich selbst so beschaffen ist, dass man die höchste Unbilligkeit beklagen muß“ (3, 224). So hat die Abschaffung der Steuer erstens den nützlichen Effekt, dass „durch diese Gnade des Volckes Auffstand unterbrochen wird“, da mit der Steuer „die Ursache des Auffstandes verschwunden ist“ und sich daher „niemand aus dem Volcke so einer unnützen Gefahr unterwerffen“ wird (3, 257); und zweitens aber korrigiert der König mit der Abschaffung einer unbilligen Steuer, die den Staat zu Grunde zu richten in der Lage ist, einen eigenen Fehler, den er auch ohne Volksaufstand hätte einsehen und korrigieren müssen. Die Frage ist bloß, ob der König ohne den Aufstand und die Notwendigkeit darauf zu reagieren, jemals diesen Fehler bemerkt und eingesehen hätte.
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Voraussetzung der Unbesiegbarkeit des Volks Dass man angesichts der Unbesiegbarkeit des Volks jeden Konflikt besser vermeidet bzw. ihn durch Nachgeben allein entschärfen kann, erklärt noch nicht, wieso das Volk unbesiegbar ist. Auch die metaphorische Rede, die den Aufruhr des Volks mit Naturgewalten vergleicht, erklärt noch nichts. Christian Weise reflektierte in seinen Dramen selbstredend auch diese zunächst einmal gegebene Tatsache. Bezeichnenderweise sind es vor allen Dingen die Volksfiguren selbst, die sich über die Bedingung ihrer Unbesiegbarkeit Gedanken machen. Sie wissen, dass die unabdingbare Voraussetzung ihres Erfolgs die Einigkeit oder die Verzweiflung ist. Um bei letzterem anzufangen. Die Politiker um 1700 wussten, dass der Aufstand des Volks „die gewöhnliche Würckung eines allzu scharfen Regiments, welchem die Verzweiffelung der Unterthanen auff dem Fuße nachfolget“, war.82 Es ist klar, dass Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, nahezu unangreifbar werden. Im Verfolgten David gibt es eine Szene, wo die Bauern Kedar und Lasa sich weigern, einem Befehl ihres Herrn Adriel nachzukommen, was Adriel – als Schwiegersohn des Königs immerhin einer der mächtigsten Herren im Land – hinnehmen muss: „was ist doch unsere Hoheit, wenn sie nicht durch die einfältige Furcht geringer Leute secundirt wird. Ich muß nachgeben“. Die beiden Bauern hatten ihm nämlich erklärt: Die Bauren kriegen Befehl, was sie thun sollen, und wenn sie gehorsam seyn, so werden sie noch an den Galgen gewiesen. […] O hört, wer sich vor keinen Galgen fürchtet, der kan einem grössern Mann, als ihr seyd, den Hals brechen (5, 429).
Es gilt also für die Herren, zu verhindern, dass ihre Untertanen der Gesellschaft so weit entfremdet werden, dass sie den Eindruck haben, es komme auf das Gleiche heraus, ob man Gesetze achte oder nicht. „Wer kein Gesetz achtet, ist eben so mächtig, als wer kein Gesetz hat“, hat Lessing einmal zugespitzt formuliert.83 Das Gesetz aber achtet nur der, der Furcht vor den Sanktionen einer Gesetzesübertretung hat, davon waren Aufklärer wie Christian Weise auf Grund ihrer negativen Anthropologie überzeugt.84 Wenn die Bürger im Biron-Drama trotz der drückenden 82 83
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Zigler: Historisches Labyrinth, S. 617 (über den „Auffstand der Esthen, Anno 1344“). Lessing: Werke, Bd. 2, S. 195; Lessing: Werke und Briefe, Bd. 7, S. 361 (Emilia Galotti V/4). Dass die „absoluten Herren“ als „gesetzlos (legibus soluti)“ gelten, weil sie „nirgends vor Recht gezogen werden können, sondern in ihrem Lande selbsten Papst und Kayser“ seien (wie es J. J. Becher formulierte), ist lange bekannt. Lessing spitzte diese zunächst juristisch wertfreie Feststellung jedoch polemisch zu. Im Übrigen wusste aber auch schon Becher, dass „die Republiquen insgemein besser florieren als die Länder, welche durch absolute Herren regiert werden“ (zit. nach Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 274). „So gehts: Ein jeder sorget vor sich, und niemand bekümmert sich, wo der andere bleibet“, heißt eine Sentenz Weises (3, 207), an deren allgemeiner Gültigkeit er nicht zweifelte. Hinsichtlich der Bewertung des menschlichen Egoismus stand Weise etwa in der Mitte zwischen Paul Negelein, der um 1600 in seinem Buch Vom bürgerlichen Stand noch schrieb: „wo der Geiz oder Eigennutz einmal bei den Menschen eingewurzelt, da ist wenig gutes zu hoffen“ (Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, S. 224), und dem Zeitgenossen Bernard de
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und ungerechten Auflagen zunächst noch nicht bereit zur Revolte sind, so weil sie noch Furcht haben: „Die grausame Straffe zwinget uns wohl, dass wir uns fürchten müssen“ (3, 223). Dagegen ist jemandem, der nichts mehr, das heißt zum Beispiel auch die Angst vor dem Galgen, zu verlieren hat, tatsächlich nicht mehr beizukommen, das sieht Adriel im Verfolgten David richtig. Dass die Herren aber auch verhindern müssen, dass das Volk in materieller Hinsicht nichts mehr zu verlieren hat, ist eine Binse. Wenn man die Ausbeutung durch „übermässige Auflagen, und deren unbarmhertzige Executionen“ übertreibt, so bringt man „das Volck zur desperation; Von der desperation zum Abfall und Auffruhr“,85 das wussten alle Autoren der Frühen Neuzeit.86 Es ist für die Herren in Weises Dramen eine Überlebensfrage, es niemals so weit kommen zu lassen, dass das Volk durch einen Aufruhr nur noch gewinnen kann, wie es am Beispiel der „sechs Pfennige“ zuviel, oder besser gesagt: zuwenig, schon zur Sprache kam. Ich will dafür noch ein kleines Beispiel geben, dass direkt zur Diskussion der zweiten Bedingung für die Unbesiegbarkeit des Volks überleitet, nämlich der Einigkeit. Im Jephta-Drama gibt es eine Szene, in der Weise an einem kleinen Beispiel die Logik des Aufruhrs vorführte. Sie spielt in einem Heerlager und führt zunächst einzelne Soldaten auf die Bühne, die schon allzu lange ohne Sold und entsprechend unzufrieden sind. Immerhin sind sie noch nicht verzweifelt genug, um sogleich an Aufruhr zu denken, so dass sie einzeln von Petitionen oder Desertion sprechen. Doch im Kollektiv entwickelt sich bald der Wille, die Forderung nach Sold gemeinsam durchzusetzen. Szenisch wurde das Entstehen des Kollektivs von Weise in den Repliken sehr präzis im Übergang vom „ich“ zum „wir“ vergegenwärtigt. Analog gehen die Soldaten in der Konfrontation mit ihrem Offizier Nabal von der zwar bereits in der Wir-Form, aber noch von einzelnen Sprechern nacheinander vorgetragenen Forderung nach Sold zum chorischen Sprechen über. Gegen das geschlossene Kollektiv hat Nabal letztlich keine Chance. Das Ende ihres Dialogs lautet:
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Mandeville, der in seiner Fable of the Bees die Ansicht vertritt, das Allgemeinwohl hänge allein von der Möglichkeit des Einzelnen ab, seinen Egoismus möglichst ungehindert auszuleben. Weise verdammte den Egoismus nicht, glaubte aber auf das Korrektiv des „gemeinen Nutzens“ und moralischer Gebote wie den Dekalog nicht verzichten zu können. Vgl. zu diesem Komplex auch Ingo Breuer: Die Höflichkeit der Narren. Über Moralistik, Ökonomie und Lachkultur in der Frühaufklärung. In: LachArten. Zur ästhetischen Repräsentation des Lachens vom späten 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Arnd Beise u.a. Bielefeld 2003, S. 79– 100. Ludolph: Allgemeine Schau-Bühne der Welt, Sp. 1175 u. 1371. Vgl. z.B. auch Benjamin Neukirchs Anmerkung zu seiner Übersetzung von Fénélons Telemach, wo die Fürsten gewarnt werden, „die Armen“ nicht zu sehr zu drücken: „denn ihr Zustand kan sie endlich in Verzweifelung, diese aber gar leicht zum Aufruhr bringen“ (François de Salignac de la Mothe Fénélon: Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca, Oder Der seinen Vater Ulysses suchende Telemach. Aus d. Franz. […] in deutsche Verse gebracht, mit den darzu gehörigen Anm. erl. v. Benjamin Neukirch. 1. Theil. 3., verb. Aufl. Nürnberg 1751, S. 148).
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NABAL. Ihr lieben Cameraden und Freunde […] SIE FANGEN ALLE AN ZU SCHREYEN. Geld her, Geld her, oder wir brechen dir den Hals. NABAL. Wollet ihr pariren? ALLE ZUSAMMEN. Nein nein. NABAL. So will ich auch nicht befehlen. ALLE ZUSAMMEN. Wer uns nicht bezahlet, darff uns nicht befehlen (4, 109–110).
Am Ende aber gewinnt Nabal den Handel doch, und zwar indem er die Soldaten aus ihrem Kollektiv löst, ihnen einzeln – neben dem Sold – individuelle Zulagen verspricht, sie an unterschiedene Orte schickt und so nacheinander bestrafen kann. Dass nur die Kollektivität die eigene Unbesiegbarkeit garantiert, weiß das Volk in Weises Stücken genau. Schon im Ancre-Drama wissen die aufständischen Bürger, dass sie „in dieser gefährlichen Sache beysammen halten“ müssen (1, 102): „Denn wo der allgemeine Hauffen sündiget, da wird man das gantze Volck nicht hencken lassen“ (1, 79), schließlich, so weiß man, ist „das Beil […] noch nicht fertig, das allen Rebellen zugleich die Hälse abhauen kan“ (6, 239), wie ein königlicher „Cammer-Herr“ einmal scharfsinnig feststellt. Das ist zugleich auch die Antwort auf den möglichen Einwurf, dass die angegriffenen Obrigkeiten gegen das aufständische Volk zum Beispiel Militär einsetzen könnten. Denn wenn den Soldaten das ganze, einige Volk gegenübersteht und nicht nur eine abgrenzbare Gruppe von Verschwörern, so sind sie machtlos. Die Geschichte kennt genug Beispiele dafür, dass sich die Einsatzleitung in solchen Fällen auf die sogenannten Ordnungskräfte nicht mehr verlassen kann. Auch im Masaniello-Drama muss der „Schloß-Hauptmann“ entsetzt zur Kenntnis nehmen, dass seine Truppen nicht auf das Volk schießen. „Sind unsre Soldaten bezaubert, dass sie der Gewalt nicht wiederstehen?“, fragt er und bekommt zur Antwort: „Ob sie bezaubert seyn, weiß ich nicht, das weiß ich, dass sie insgesamt ihr Gewehr niedergelegt haben“ (I/10; 1, 181f.). Überdies war es in der Frühen Neuzeit eine opinio communis, dass selbst dann, wenn man sich auf seine Truppen verlassen kann, der Aufruhr, nachdem man ihn gewaltsam niedergeschlagen hat, nicht wirklich beendet ist, weil sich „das Feuer der Rebellion […] selten auff einmal auslöschen lässt“.87 Zu schwer sei es, so war man überzeugt, „das Unkraut des Auffruhrs gäntzlich auszurotten, wenn dasselbe allzuweit um sich gewurtzelt hat“.88 Waffengewalt und Hinrichtungen waren die ultima ratio der Herren, wenn es ihnen wirklich an den Kragen ging, wie zum Beispiel im deutschen Bauernkrieg 1524/1525 oder bei der „bayerischen Revolution“ von 1705.89 Ansonsten versuchte man in der Frühen Neuzeit stets zu einem mehr oder weniger friedlichen Ausgleich zu kommen, weil brutale Gewalt in jedem Fall ungeeignet ist, den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, da man „solcher Gestalt [zwar] das Feuer der 87 88 89
Zigler: Historisches Labyrinth, S. 617. Ebd., S. 1049. Vgl. Henric L. Wuermeling: Die Geschichte der bayerischen Revolution von 1705 und der Sendlinger Mordweihnacht. München 1980.
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Rebellion, nicht aber das Seuffzen und Klagen der Unterthanen gestillet“ hat, wie es bei Zigler heißt,90 der damit eine Einsicht der neueren Geschichtswissenschaft bereits auf den Punkt brachte. Die frühneuzeitliche Obrigkeit hatte in der Regel kein Interesse an der gewaltsamen Beendigung eines Ständekonflikts, weil der Aufstand damit zwar materialiter, aber nicht ideell beendet war, wie es sich in dem durchgesetzten Namen „Sendlinger Mordweihnacht“ für das Massaker vor den Toren Münchens 1705 bereits ausdrückt: Die Sache der Bauern behält den Charakter des Rechts, die Obrigkeit steht im Ruch des „Mords“. Die Legitimität der Herrschaft wird trotz der gewaltsamen Wiederherstellung des vorrevolutionären Zustands nicht erneut begründet, wie das in der gemeinsamen Beschwörung eines kompromisshaften Vertrags zur Beendigung des Konflikts sonst geschah.91 Die Untertanen haben zwar eine Niederlage erlitten, die aber den Charakter eines Martyriums trägt und damit die obrigkeitliche Herrschaft in der Folgezeit von vornherein mit dem Stigma einer ungerechten Gewaltherrschaft versah.92 Wenn das Volk vor allem in seiner Eigenschaft als geschlossenes Kollektiv unbesiegbar ist, dann heißt das umgekehrt aber für die Obrigkeit, dass sie im Konflikt mit dem Volk vielleicht doch siegen kann, wenn sie es schafft, dessen Einig90 91
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Zigler: Historisches Labyrinth, S. 524. In der Regel endeten Unruhen mit einem Vertrag, der meist einen Kompromiss darstellte und beide Parteien wieder auf eine gemeinsame staatliche Ordnung verpflichtete. Die von der Herrschaft angestrebte Verschärfung der Unterdrückung, die den Aufstand auslöste, wurde dabei fast immer zurückgenommen, selten aber neue Freiheitsrechte der Untertanen durchgesetzt (vgl. Peter Blickle: Auf dem Weg zu einem Modell der bäuerlichen Rebellion – Zusammenfassung. In: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hg. v. dems. München 1980, S. 296–308, hier S. 305ff.; ders.: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800. München 1988, S. 49, 55, 63, 84, 86f., 89f., 91 u. 105f.). „Seit dem 15. Jahrhundert, stärker seit dem Ausgang des Bauernkriegs“, so Schulze, gäbe es die Tendenz, „ungeachtet der bestehenden Kriminalisierung, […] den Konflikt zwischen Herrschaft und bäuerlichen Untertanen zu normalisieren und den beteiligten Parteien einen erweiterten Handlungsspielraum zu verschaffen, um somit den bei bewaffneten Formen der Konfliktlösung unvermeidlichen Menschen- und Sachwertverlust zu verhindern“ (Winfried Schulze: Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert. In: Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526. Hg. v. Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1975, S. 277–302, hier S. 281; vgl. Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft, S. 89). Man kann in diesem Zusammenhang in der Tat von einer „Versachlichung der Herrschaft“ durch „Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Herrn und Untertanen“ sprechen: ein Vorgang, der einerseits Konflikte für den Herren berechenbarer machte, andererseits aber die Rolle des Untertanen als „Konfliktpartner“ rechtlich in einem für den Herrn bisweilen lästigen Maße aufwertete (vgl. auch Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1992, S. 58ff.). Zum bayerischen Volksaufstand vgl. auch Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten. Reinbek 1984, Bd. 2, S. 508–525 (mit Quellen und Literatur, S. 524f.); Richard van Dülmen: Gesellschaft der Frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Protest. Beiträge zur historischen Kulturforschung. Wien 1993, S. 306–330; Christian Probst: Lieber bayrisch sterben. Der bayrische Volksaufstand der Jahre 1705 und 1706. München 1978; Gerhard Heitz: Der Zusammenhang zwischen den Bauernbewegungen und der Entwicklung des Absolutismus in Mitteleuropa. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Sonderheft 1965 („Evolution und Revolution in der Weltgeschichte“), S. 71–83.
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keit zu sabotieren und das Kollektiv in Individuen oder wenigstens konkurrierende und abgrenzbare Gruppen aufzulösen. Im Falle der Meuterei von Nabals Kompanie hat der Offizier verhältnismäßig leichtes Spiel, weil es sich um eine kleine Gruppe von Soldaten handelt. Schwieriger gestaltet sich dies bei grundsätzlicheren Konflikten, wie im Masaniello-Drama. Doch auch hier versuchen die adligen Herren einen Keil in die ziemlich geschlossene Gruppe der Revolutionäre zu treiben und so die Unbesiegbarkeit des Volks zu unterminieren. Zuerst bestechen sie den Banditenchef Peronne (II/4), doch reicht dies natürlich nicht, um die Volksbewegung von Neapel insgesamt zu zerschlagen. Nach einem missglückten Anschlag auf Masaniello (III/6) werden alle „Verräther“ verhaftet und bestraft sowie Vorsichtsmaßnahmen der Volksregierung gegen weitere Vorfälle ähnlicher Art getroffen (III/17). Erfolgreicher sind Kardinal Philomarini und Vice-Roy Roderigo, als sie versuchen, nicht durch äußere Mittel wie Geld den Zerfall der Volksbewegung zu erreichen, sondern die innere Zersetzung voranzutreiben. Sie beginnen, Masaniello zunehmend als einen der Ihren zu behandeln, was seitens des Volks Misstrauen gegen Masaniello weckt. So zwingt man ihn, bei der Zeremonie anlässlich der Vereidigung des Vizekönigs auf den neuen Gesellschaftsvertrag (IV/12) in einem reichen Hofgewand zu erscheinen. „Verwundert sich jemand über diesen prächtigen Habit? Er ist mir wider Willen angelegt worden: Ihre Eminentz der Ertz-Bischoff hat mich bey Straffe des Bannes dahin gezwungen, dass ich bey dieser Solennität in einem Silbern-Stücke erscheinen müssen“, entschuldigt sich Masaniello vor den Seinen. Nach Ende der Feier will er das „Kleid […], welches mir nicht ansteht“ wieder ausziehen, schafft es aber nicht allein und bittet den Vizekönig, ihm dabei zu helfen; der aber verweigert jede Hilfe: RODERIGO. Es stehet ihm gar wohl an, er lasse sich doch erbitten. PHILOMARINI. Er hat das Kleid aus vielen Ursachen verdienet, wer von uns hochgeschätzet wird, der darff sich selbst nicht geringe halten. MASANIELLO. Ach ihr Leute, sehet wie wird ein ehrlicher Mann genöthiget, wieder seinen Willen stoltze Kleider zu tragen: ach erbarmet euch, und betet vor mich, dass ich wieder zu meinen Fischer-Hosen komme (1, 320–321).
Masaniello kommt nicht wieder zu seinen „Fischer-Hosen“, und damit ist das Schicksal der Revolution in Neapel besiegelt.93 Nicht weil alles von Masaniellos 93
Heinz Otto Burger („Dasein heißt eine Rolle spielen“. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1963) hielt diese Szene für eine allegorische Einkleidung der Botschaft, dass man sich nicht überheben, sondern bei seinen Leisten bleiben soll, so wie es Jacob Bidermann in seinem Philemon Martyr vormachte. Burger beachtete allerdings nicht, dass Weise die eindeutige Wertzuordnung anhand des Kleids vielfach in Frage stellte, beispielsweise im Regnerus: Die schwedischen Prinzen werden hier gezwungen, Knechtsarbeit zu tun und Bauernkleider zu tragen, empfinden die Schmach auch stark: „Wo ich das Kleid wegthun sol, so mus ich meinen vornehmen Stand verleugnen“, befürchtet der lustige Diener der Prinzen (2, 99) und die beiden Prinzen klagen einander: „Ach Herr Bruder, wir sind verrathen.“ „Wir sollen Bauren seyn.“ „Wir sollen arbeiten.“ […] „Kan dis ein Leben seyn, das solchen Schimpff ertregt?“ „O schroffe Grausamkeit.“ […] „Ich schäme mich vor mir.“ „Ich bin mir selber feind“
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„Fischer-Hosen“ abhängt, sondern weil dies nur ein konzentriertes Bild für die weiteren Vorgänge ist. Masaniello selbst ist nicht korrumpierbar, sondern muss mittels eines Gifttranks wahnsinnig gemacht werden, bevor er sich zu unsinnigen Handlungen auch gegen das Volkswohl hinreißen lässt. Doch seine Kampfgefährten lassen sich von der Pracht der „gläntzende[n] Kleidung“ (IV/14; 1, 323) durchaus beeindrucken. Masaniellos Frau, seine Schwägerin und sein Bruder zum Beispiel wollen nicht mehr „so tieff in den Quarck hinein fallen, als“ sie „heraus gekrochen“ sind: man hat sich an das Konfekt, die neuen Diener, die weichen Hände, (ebd., 102–104). Dennoch erkennt das Kammermädchen der zur Rettung ihrer unbekannten königlichen Vettern fest entschlossenen dänischen Prinzessin Svanhvita sofort – trotz der Kleider – den wahren Stand der Gesuchten: „Wie geht das zu? Dem Kleide nach ist der Mensch ein Bauer, doch die höfische Sprache weiset auf einen Menschen, der unter Bauern schwerlich erzogen ist“ (ebd., 111). Sie erkennt – in diesem Fall den Hofnarren Smek – aber nicht nur an der Sprache, sondern auch an seinen „Augen“ (ebd., 112), die als Spiegel der Seele gelten und es also ermöglichen, die inneren Werte eines Menschen unabhängig von seiner äußeren Erscheinung zu erkennen. Ebenso ist auch der Verfolgte David ein Spiel, in dem ein „schlechter Schafhirte“ trotz seines Stands „in Gottes Augen den Vorzug“ (5, 260) vor dem gesamten Geburtsadel besitzt und in dem er ausdrücklich wegen seiner Taten und Verdienste für „eines Königes Tochter würdig“ gehalten wird, nicht aber wegen seiner Geburt (ebd., 294f.). Die Gleichheit aller Stände wenigstens vor Natur („So gehts, wir trotzen mit dem Tittel. / Doch die Natur macht alles gleich“) und Gott, verbunden allerdings mit der Warnung sich nicht zu überheben, ist auch Thema einer Episode in Weises Roman Der politische Näscher (entstanden vor 1664, Erstdruck 1678; zit. nach Christian Weise: Trauer-Spiel von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello und andere Dichtungen. Hg., mit Nachw. u. Erl. v. Klaus Schaefer. Leipzig 1986, S. 41). Das Volk dagegen galt auch dem bürgerlichen Weise als dem äußeren Schein verfallen – und nur in dieser Beziehung kommt das Motiv im Masaniello zu Bedeutung –, als abhängig vom Sinneneindruck (6, 259: „diß habe ich allezeit befunden, dass die euserliche Pracht dem gemeinen Volcke das Hertze am besten stehlen kan“), ein Topos der gesamten aufklärerischen Literatur spätestens seit Machiavelli, der das Argument freilich egalitär wendete (Niccolò Machiavelli: Il Principe / Der Fürst. Italienisch/deutsch. Übers. u. hg. v. Philipp Rippel. Stuttgart 1986, S. 140: „il vulgo ne va sempre preso con quello che pare, e con lo evento della cosa; e nel mondo non è se non vulgo“). In der deutschen Aufklärung wurde dieser Gedanke gewöhnlich nicht egalitär gewendet; eine Ausnahme mag wiederum Christian Weise sein, dessen Höflinge angesichts der Erlebnisse mit dem betrunkenen Bauern in „vernunfftmäßigen Reden“ zumindest vorübergehend zu Einsichten wie dieser gelangen: „Der Discurs wäre von grossen Nachdencken, ich möchte fast daher also raisoniren: Wir sind alle Bauern […]“ (12.2, 365: Niederländischer Bauer IV/6; vgl. Christian Weise: Die drey ärgsten Ertz-Narren In der gantzen Welt (1673). Hg. v. W. Braune. Halle a. S. 1878, S. 217: „Nun sagte er [der Diener], sein voriger Herr habe diß Sprichwort an sich gehabt: Ein jeglicher Mensch ist ein Narr, aber der wird ins gemein davor gehalten, der es mercken läst. Ja sagte der Mahler, der es mercken läst, der ist gar ein kleiner: aber der sich vor klug hält, der ist viel grösser, und wer an beyden seine Freude hat, der ist der allergröste“). Ansonsten war der Gedanke, dass „der gemeine Mann […] bloß an den Sinnen hangt, und die Vernunfft wenig gebrauchet“ (Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremonial-Wissenschafft Der Großen Herren. Hg. u. komm. v. Monika Schlechte. Weinheim 1990 [Neudruck der Ausgabe Berlin 1733], S. 2) seit seiner Kanonisation durch Christian Wolff (Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1740, §§ 499 u. 501) meistens in verachtendem Ton vorgetragen worden.
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die schönen Kleider, den Reichtum und die Macht (1, 323–326) gewöhnt. Weil aber nicht alle auf diese Art von der Revolution profitieren, ist innere Zwietracht im Volk vorprogrammiert. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen, wenn ich im nächsten Abschnitt auf die internen Prozesse im Volk genauer eingehe. Für jetzt mag die Erkenntnis genügen, dass es in Weises Dramen neben dem Nachgeben offenbar doch noch eine weitere Möglichkeit gibt, wie man sich als Herr im Konflikt mit dem Volk siegreich behaupten kann: Nämlich dessen Eintracht, die eine unerlässliche Vorbedingung für die Unbesiegbarkeit des Volks ist, zu zerstören. Dies ist allerdings, wenn es sich um einen wirklichen Volksaufstand und nicht nur um die Meuterei einer Kompanie handelt, ein sehr langwieriger Prozess, der nicht verhindert, dass man inzwischen den Forderungen des Volks nachgeben muss, wie seitens der Obrigkeit auch im Masaniello-Drama geschehen. Gegenseitige Verpflichtung Will der kluge Herrscher eine Auseinandersetzung mit dem Volk vermeiden, reicht es nicht, bloßen Gehorsam zu verlangen, wenn man das Volk nicht zugleich durch materielle Vorteile, die ein Netz gegenseitiger Verpflichtung gewährt, in das Gemeinwesen einbindet. Eindrücklich wird dies bereits in den Schlussworten der zitierten Meutereiszene zum Ausdruck gebracht. „Wer uns nicht bezahlet, darff uns nicht befehlen“ (4, 110), halten die Soldaten ihrem Offizier entgegen: Damit ist die militärische Ordnung aufgehoben. Das gegenseitige Verpflichtungsverhältnis war zuvor bereits ohne Bezug auf seine materielle Grundlage zur Sprache gekommen. Als die Soldaten die Frage: „Wollet ihr parieren?“ verneinen, antwortet Nabal wie zitiert: „So will ich auch nicht befehlen“. Interessant an diesem Dialog ist die eigentümliche Verwendung der Vokabel „wollen“. Sie verweist auf die alte Tradition der freiwilligen und gegenseitigen Verpflichtung in einem Gesellschaftsvertrag, wie er vom späten Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein beispielsweise durch die pompösen Entrées in Frankreich oder die besonders deutlich als Rechtsakt auf Gegenseitigkeit formulierten Blijde Intrede in den Niederlanden immer wieder aktualisiert wurde. Der neue Landesherr verpflichtete sich beim Einzug in die Stadt, deren Privilegien und Freiheiten zu garantieren sowie ihren äußeren Frieden zu schützen, die Bürger der Stadt verpflichteten sich im Gegenzug zum Gehorsam und Bezahlen der Abgaben.94 Zugleich aber weist die Formulierung bereits auf die später von Hegel im Anschluss an Denis Diderots Roman Jacques le fataliste et son maître (1771/75) genauer bedachte Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft hin, über die sich auch Weises Dramenpersonal sehr genau im Klaren ist. Die Untertanen wissen, 94
André Holenstein: Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. In: Aufklärung 6 (1992) H. 2, S. 21–46, hier bes. S. 23–29.
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dass ein König nur dann König bleibt, wenn es ein Volk gibt, das er beherrschen kann und das sich beherrschen lässt; „aber wo er allen Unterthanen die Hälse brechen will, so wird er ein schönes Königreich behalten: Und ich habe schon so viel Nachricht, dass dem Volcke alles soll verziehen und vergeßen seyn“ (2, 511), beruhigen sich die Bürger in der Ulvilda über ihre „Treulosigkeit“. Man findet in Weises Dramen Aussagen zur Dialektik der Herrschaft, sowohl was das Bewusstsein als auch was das ökonomische und rechtliche Bedingungsgeflecht sozialer Herrschaft angeht. „Wer über Sclaven herrschet, muss selbst ein Sclave seyn“, lautet eine in jedes herrscherliche Stammbuch zu schreibende Sentenz Weises (12.1, 207).95 Im Sinn der vorgeführten Bauernsoldaten, die ihrem Offizier klar 95
Schon Sophokles lässt in seiner verlorenen Tragödie Die Hirten die Titelgestalten von ihren Herden sagen: „Die Herren heißen wir, und sind doch ihre Diener, / Und hören müssen wir auf sie, auch wenn sie schweigen“ (Plutarch zitierte diese Stelle in seiner Agis-Biografie, in: Große Griechen und Römer. 6 Bde. Übers. u. erl. v. Konrat Ziegler. Zürich 1954–1965, Bd. 6, S. 175). Vgl. dazu Hegels Definition des „selbständigen“ Bewusstseins eines Herrn als das in Wahrheit „knechtische“ Bewusstsein (Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969–1979, Bd. 3, S. 152). Auch im Fall von Diderots Jacques und seinem Herrn ist die „Gleichheit, welche der Lauf der Zeit zwischen ihnen hergestellt hat“ (Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maître. Prés. par Jean Dutourd. Paris 1966, S. 175: „l’égalité qui s’est établie entre eux par laps de temps“) de facto unaufhebbar. In politischer Hinsicht – was das „Volk, das zu allen Zeiten der Sklave der Tyrannen ist, die es bedrücken“ (ebd., S. 83: „peuples, de tout temps les esclaves des tyrans qui les oppriment“), betrifft – ist demnach nicht so genau zu unterscheiden, ob nur der Tyrann Sklaven macht oder ob nur Sklaven einem Tyrannen gehorchen (vgl. Denis Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr. Übers. v. Jens Ihwe, Anm. u. Nachw. v. Hans Hinterhäuser. München 1983, S. 174 bzw. 75). Johann Gottfried Herder schrieb 1785 (Ideen, 9. Buch, 4. Abschnitt): „man kann es als einen Grundsatz der Geschichte annehmen, dass kein Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will, das also der Sklaverei wert ist“ (Werke in zehn Bänden. Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989, S. 367), was man in ähnlicher Form auch bei Weise finden kann: So heißt es bei ihm von einem Tyrannen, er „würde manchen Griff unversucht lassen, wenn er von solchen knechtischen Gemüthern nicht secundiret würde. […] Knechtische Geister verdienen ein knechtisches Tractament“ (12.1, 80). Das Nachdenken über die Dialektik des Despotismus ist in Europa sehr alt und mindestens seit Etienne de La Boéties Discours de la servitude volontaire (1577), der sich nach Montaignes Vermutung (Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach d. Ausg. v. Pierre Coste ins Deutsche übers. v. Johann Daniel Tietz. 3 Tle. Zürich 1996, Bd. 1, S. 264) von Plutarch anregen ließ, präsent. Einen Höhepunkt erreichte diese Reflexion um 1800, nicht erst bei Hegel, sondern bereits bei den Politikern der Revolution. Jean Paul Marat etwa schrieb 1774 in den Chaînes de l’esclavage (Prés. de J. D. Selche. Paris 1972, S. 242): „Le peuple ne se laisse pas seulment enchaîner: il présente lui-même le tête au joug. […] Non content d’être la dupe des fripons, le peuple va presque toujours au-devant de la servitude, & forge loui-même ses fers“; ders.: Die Ketten der Sklaverei (Übers. v. Reinhard Seufert. Gießen 1975, S. 166): „Das Volk läßt sich nicht in Ketten legen: es legt selbst den Kopf unter das Joch. […] Nicht genug, der Spielball der Schurken zu sein, das Volk schmiedet seine Fesseln selbst“. Der Comte de Mirabeau schrieb am 26. Januar 1789 voller Verzweiflung über die Uneinigkeit des Dritten Stands an de Comps: „die freiwilligen Sklaven schaffen mehr Tyrannen als die Tyrannen Sklaven machen, und keiner fügt dem Volk soviel Übel zu wie es sich selbst“ (zit. nach Etienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft. Übers. u. hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1980, S. 189). Spätestens aber mit diesem Satz ist Weises zuerst zitierte Fürstenschelte zu einer Volksschelte geworden.
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machen, dass er nur befehlen könne, wenn er bezahle, äußert sich auch der „lustige Diener“ Sual in dem Schauspiel vom Verfolgten David, dessen Problem ist, dass er keinen Herrn hat, also „frei“ ist. Das Problem seiner – mit Hegel zu sprechen – „Selbstständigkeit“ zugespitzt formulierend beklagt er sich über seine letztlich nur theoretische Freiheit, denn: „Selber kan ich mir nicht befehlen; das heisst, ich kan mir nicht selber Fressen und Sauffen geben: Also muß ich wünschen, ein glückseliger Diener zu seyn“ (5, 371). Aus der Einsicht, dass Herrschaftsverhältnisse auf Gegenseitigkeit beruhen, wenn auch das Verhältnis oftmals asymmetrisch ist, leiten die Unterschichtler in Weises Dramen auch ihre Rechte gegen die Obrigkeit ab. Wenn diese Rechte ihnen verweigert werden, so sind sie nicht nur bereit dazu, sondern fühlen sich auch berechtigt, sie mit allen Mitteln einzufordern. Ob sie dabei zunächst das Mittel der Petition (wie der Bauer in der Argenis, 1, 487) oder der Vorsprache (wie die Bürger im Regnerus; 2, 69–75) wählen, sich selbst zu den Festbanketten der Herren einladen (wie im Abraham, 4, 406; und im Jacob, 5, 81) oder zum Mittel des bewaffneten Aufstands greifen (wie im Masaniello), hängt von ihrer Einschätzung der Situation ab. Die gegenseitige Verpflichtung von Obrigkeit und Untertanen lässt sich vielleicht besonders gut am Beispiel einer „Unterobrigkeit“96 zeigen. In der „ernsthafften Action“ Vom Esau und Jacob tritt der fürstliche Forst-Meister Capo seinem Herrn Elon, Fürst von Kanaan, entgegen, um den Dienst aufzukündigen. Elon antwortet: „Wenn ein rechtschaffener Diener seinen Abschied begehret, so versündiget er sich gegen seinen Herren.“ Capo repliziert: „Und wenn einem rechtschaffenen Diener die Hände gebunden sind, dass er als ein Schelm oder gar als eine Hunds-Nase leben soll, so verwahrt er sein Gewissen, wenn er einen gnädigen Abschied verlanget“ (8, 268). Während der Herr beim Diener kein Recht auf Kündigung sieht, weil er sich als unehrenhaft beschimpft fühlen müsste, sobald ein ehrlicher Diener bei ihm nicht mehr arbeiten will (was sich auch in der Rechtsformel „den Abschied gnädig gewähren“ niedergeschlagen hat), behauptet der Untertan hier einen Rechtstitel auf diese „Gnade“, und zwar weil er die Arbeitsbedingungen für nicht zumutbar hält. Das Maß für die Zumutbarkeit seiner Arbeitsbedingungen setzt er selbst: Darauf deutet die Berufung auf sein „Gewissen“, damit entschieden modernere Kategorien nutzend als sein Herr.97 Die Aufgabe, für zumutbare Arbeitsbedingungen zu sorgen, wird von Capo ohne weiteres dem Fürsten, seinem Arbeitgeber, zugemutet. 96
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Weise benutzte in seinen Politischen Fragen diesen Terminus für alle staatlichen Funktionsträger, die ihrerseits von einer weiteren Obrigkeit abhängen, de facto also unterhalb der Ebene der „maiestas“ bzw. des Hofs sich befinden. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Möglichkeit der Gehorsamsverweigerung „bei ungerechten Befehlen“ auch in der Staatstheorie allgemeiner diskutiert, etwa bei Friedrich Carl von Moser (Daniel in der Löwen-Grube. In sechs Gesängen. Frankfurt a.M. 1763), während zuvor die engere Bestimmung der Augsburger Confession vorherrschend war, die Widerstand
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Capo seinerseits muss sich mit dem eigenen Anspruch in einer anderen Szene auseinandersetzen, in der es seine Untergebenen in seinen Augen am nötigen „Respect“ gegen die „Obrigkeit“ (die er nun selber repräsentiert) fehlen lassen, indem sie nicht umgehend gehorchen, sondern auf durchaus witzige Art das „Commando“ ihres Antreibers erst einmal diskutieren zu müssen glauben (8, 275). Nachdem sich Capo eine Weile auf den Spaß eingelassen hat, ist für ihn doch der Punkt erreicht, wo er kategorisch die Durchführung seiner Befehle verlangt und sich alle weiteren Glossen verbittet, denn sonst, so droht er, „will ich vergessen, dass ich eure Obrigkeit bin“ und „euch tractiren wie die wilden Säue“ (8, 276). Was man dieser Drohung vor allem entnehmen kann, ist das Bewusstsein der mittleren Charge, dass die Obrigkeit dem Wohlergehen ihrer Untertanen verpflichtet ist. Er muss dieses gegenseitige Rechtsverhältnis erst „vergessen“, bevor er gegen seine „Schutzbefohlenen“ Gewalt anwenden kann. Das ist eine Erkenntnis, die er manchem hochwohlgeborenen Herrn in Weises Dramen voraus hat, denn die reden von dem Volk nicht selten so, als bestünde dies tatsächlich aus „wilden Säuen“,98 eine Haltung, die sich die Bürger im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts aneignen werden und mit ihnen ihre Dichter. Bei Weise dagegen kommen die arroganten Gestalten, die sich gegenüber den „gemeinen Leuten“ (15, 167) bzw. der „Canaille“, wie sie sie gern nennen (1, 163; 2, 476; 15, 275; u.ö.), überheblich zeigen, meistens schlecht weg, so einige Kaufleute und die Landadligen im Curieusen Körbelmacher oder die Höflinge im Niederländischen Bauer. Vorbildlich dagegen erscheinen die „Herren“ und „vornehmen Leute“, die sich durch die Gemeinen nicht „erniedrigt“ fühlen (15, 126). Im Curieusen Körbelmacher sind die reichen Freunde des Kaufmanns Balthasar sichtlich abgestoßen davon, dass dessen Sohn Petroni nicht nur eine Handwerkertochter heiratet, sondern ihr zu Liebe sogar „Lehr-Junge“ im Handwerk wird: „Ein reicher Land-Juncker, ein vornehmer Capitaliste, lernt ein Handwerck, und wird ein Körbelmacher“, stellen sie angewidert fest (15,160). Balthasar und Petroni dagegen wissen, dass der wahre Wert des Menschen nicht in seinem Stand liegt; dies ist eine Überzeugung, die manches Mal in Weises Dramen ausgesprochen wird und daher geeignet ist, voreilige Interpretationen, die Weise umstandslos auf
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nur bei offenbarer Gottlosigkeit der Obrigkeit gestattet, wenn also vom Untertan Dinge verlangt werden, die „ohne Sünde“ nicht geschehen können; allein in diesem Fall „soll man Gott mehr gehorsam sein denn den Menschen“, heißt es im Artikel XVI der Confessio Augustana (zit. nach Münkler: Im Namen des Staates, S. 105; vgl. Barthold Feind: Masagniello Furioso. Drama Musicale / Die Neapolitanische Fischer-Empörung. Musicalisches Schauspiel. Hamburg 1706, I/12: „Das Volck hat nur in einem Falle Recht, / Wenn nemlich Gottes Ehre wird geschwächt, / Dem Könige zu widerstreben, / Wenn er ihm will Befehle geben / Das es den Götzen opfern soll“). Zum Beispiel nennt Prinzessin Ulvilda ihre Dienerin „ein unverständig Thier“, worauf die zu Recht beleidigt ist: „(Ad spectatores.) Ja Qvarckkäße, gemeine Leute seyn auch nicht Narren, sie verstehen sich wohl so gut auf den Handel, als Fürstliche Personen“ (2, 584).
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die barocke Ideologie der unwandelbaren Ordo festlegen wollen, in Frage zu stellen. Das Volk mag die Herren nicht und umgekehrt Die gegenseitige Verpflichtung von Herrscher und Untertan ist ein Gedanke, der von den absolutistisch gesinnten Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts und ihren Ideologen gern vergessen wurde. 1733 klagte Julius Bernhard von Rohr in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, dass bei vielen „Ceremonien“ leider „oft das Haupt-Werck vergessen, und bloß das Nebenwerck behalten“ werde: „man siehet auf das Zeichen, und weiß doch nicht was dadurch angedeutet werden soll“. Ursprünglicher Sinn des Zeremoniells sei nämlich gewesen, „dass so wohl die Regenten als die Unterthanen durch dieses oder jenes äusserliches Zeichen, so in die Sinnen fällt, sich gewisser Pflichten erinnern sollen“.99 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war aber das Zeremonialwesen bereits so weit pervertiert, dass die politische Argumentationsrichtung einseitig wurde. Der Untertan allein sollte an seine Pflicht zu „besonderer Ehrfurcht und Ehrerbietung“, zu schuldiger „Liebe und Devotion“ erinnert werden,100 vor allem aber daran: „Die Fürsten in der Welt […] bleiben immer was sie sind, nemlich Götter auf Erden“.101 Götter aber stehen außerhalb des Gesetzes; sie sind „gesetzlos (legibus soluti)“, wie der deutsche Ökonom Johann Joachim Becher (1635–1682) mit Bezug auf die „absoluten Herren“ formulierte.102 Wie immer es in Wahrheit mit dem Anspruch der Fürsten auf absolute Herrschaft bestellt sein mochte,103 so war der Anspruch 99
Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, S. 2f. Die Verpflichtung der Herren auch gegenüber ihren Untertanen betont Rohr noch einmal in dem Kapitel über fürstliche „Divertissemens“: „Christliche und weise Regenten setzen auch bey ihren Ergötzlichkeiten die Pflichten nicht aus den Augen, die sie gegen Gott und gegen die Unterthanen zu beobachten haben“ (S. 733). 100 Ebd., S. 2 u. 724. 101 Gottfried Stieve: Europäisches Hoff-Ceremoniel. Leipzig 1715, S. 263. „Götter dieser Welt“ heißen die Herrscher auch bei Lohenstein (Ibrahim Sultan I, 145; Cleopatra I, 977: „Fürsten sind ja Götter dieser Welt“). Zugleich aber, das macht ihre paradoxe Situation aus, sind sie Menschen, die bisweilen von „Gemüths-Regungen übermeistert“ werden (Daniel Casper von Lohenstein: Türkische Trauerspiele. Hg. v. Klaus Günther Just. Stuttgart 1953, S. 81: Widmungsvorrede zu Ibrahim Bassa) und daher ganz ungöttlich zu Grunde gehen. 102 Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 274. 103 Barudio (ebd., S. 108–127) stellte klar, dass die angenommene Identität von König und Staat auch unter Louis XIV. („l’état c’est moi“) lediglich „Anspruch“ blieb; der König war durch die „Fundamentalgesetze“ gebunden. In ganz Europa spielten die „Fundamentalgesetze“ die entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den Ständen und den Monarchen, die in der Regel nur ein „Fundamentalgesetz“ gelten lassen wollten, nämlich die „Unterwerfung“ als „erste Pflicht meiner Untertanen“ (so Louis XV. in den Auseinandersetzungen um die „großen Remonstranzen“ 1753; ebd., S. 129). Wie hoch auch die souveräne Gewalt der Könige sei, sie steht nicht über der Natur selbst und über dem Fundamentalgesetz des Staates“, hatte das Parlement de Paris anlässlich der Kassation des für rechtswidrig erklärten Testaments (1715) von Louis XIV. erklärt (ebd., S. 125). Christian Weise sah das ähnlich (Politische Fragen, S. 51f.:
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allein schon geeignet, Fremdheit zwischen Herrscher und Volk herzustellen, denn von einem beiderseits freiwillig eingegangenen Gesellschaftsvertrag auf Gegenseitigkeit kann natürlich nicht mehr die Rede sein, wenn der Monarch „freye Gewalt“ nur noch bei sich sieht.104 Da aber allen „Menschen von Natur gleichsam eingepflantzt ist, dass sie gern frey seynd“, was ein Autor wie Johann Georg Schleder ohne weiteres zuzugeben bereit war,105 lebte auch im Volk eine „unbändige Begierde nach der Freyheit“ (Zigler).106 Würde man dieser Begierde freien Lauf lassen, wäre Demokratie die unvermeidliche Folge, was dem Absolutismus, der eine arbiträre Monokratie anstrebt, diametral entgegen steht. Demokratie aber führe geradewegs „zu unterdrück- und ausrottung des adels, hoher und nieder obrigkeit“, wie man während des österreichischen Bauernkriegs von 1626 beobachtet zu haben glaubte.107 Daher begriffen die Theoretiker der Staatsraison-Lehre im 17. Jahrhundert den Staat mit Ludovico Settala meistens als „Bändiger der Pöbels“, dessen unberechenbare Gewalt eine permanente Bedrohung der Ordnung darstellte.108 Aufgabe des Staats war aber für viele Intellektuelle auch noch des 18. Jahrhunderts die „Erhaltung einer gewissen Ordnung, ohne welche die menschliche Gesellschafft nicht bestehen kan“, wie Johann Christian Lünig 1719 schrieb, wobei mit „Ordnung“ natürlich niemals eine egalitäre, sondern immer eine hierarchisch gegliederte gemeint war. „Alle Dinge haben in der Welt gewisse Ordnung, und es ist immer eins dem andern subordinirt“, meinte Lünig.109 Die Ordnung der bedingungslosen Subordination widerspricht aber der vom Volk angestrebten Ordnung, die auf Grund eines Gesellschaftsvertrags auf Gegenseitigkeit zu Stande kommt. Als politischer Theoretiker versuchte Weise diesen Widerspruch durch sein Konzept eines freiwillig moderierten Absolutismus auf-
über „das natürliche Recht“ und „das Göttliche Recht“); er hielt die „Absoluten Monarchen“ auf Grund des folgenden bemerkenswerten Arguments jedoch nicht für eingeschränkt: „Denn ein solcher Monarche zwingt und reformirt sich selber. Er siehet, dass die Fundamental-Gesetze, dem Reich zum besten eingeführet seyn, und also fasset er gleichsam eine freye Resolution, als ein Landes-Vater dasjenige zu beobachten, was der Wolfarth des Reichs am verträglichsten ist“ (ebd., S. 106f.). Nur ein „Tyrann“ setze „die Wolfahrt des Vaterlandes gantz aus den Augen“ und stoße so die „Fundamental-Gesetze über den Hauffen“ (S. 109). 104 Weise: Politische Fragen, S. 105. 105 Johann Georg Schleder: Theatri Europaei Sechster und letzter Theil, Das ist, Außführliche Beschreibung der Denckwürdigsten Geschichten, so sich […] vom Jahr Christi 1647. biß 1651. allseits begeben und zugetragen. Frankfurt a.M. 1663, S. 167. 106 Zigler: Historisches Labyrinth, S. 973 („Grausamer Auffruhr des Pöbels […] Anno 1349“). 107 Georg Heilingsetzer: Der oberösterreichische Bauernkrieg 1626. Wien 1976, S. 9 (vgl. Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft, S. 40). 108 Ludovico Settala: Della Ragion di Stato. Milano 1627 (zit. nach Münkler: Im Namen des Staates, S. 300). 109 Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale Historico-politicum, Oder: Historisch und politischer Schau-Platz Aller Ceremonien […]. 2 Bde. Leipzig 1719–1720, Bd. 1, S. 3. Aus der dramatischen Literatur ist besonders Shakespeares Formulierung dieser Ideologie in Troilus and Cressida (I/3, V. 75–133) bekannt.
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zulösen. Das heißt, er verteidigte die absolute Monarchie, verlangte aber von dem Monarchen, dass er aus freier Einsicht wie ein „Landes-Vater“ regiere, also „in allen Dingen die Wolfahrt und das Auffnehmen seines Volcks suchet“, sich – mit anderen Worten – so verhalte, als gäbe es den Vertrag auf Gegenseitigkeit.110 Als Empiriker und Realist wusste Weise aber um die materiale Unverbindlichkeit dieses Konzepts und sah genau, dass es zahlreiche Monarchen gab, die sich ihrer „Unterthanen nicht anders, als ein Herr seiner Sclaven, oder als ein Hirte seines Viehes“ bedienten, auch wenn sie „von aussen gute Worte“ gäben, als ob sie „in allen Consiliis die Liebe des Vaterlandes und Wolfahrth des Volckes voran zu setzen“ gesonnen seien, während „in der That […] die armen Unterthanen alles leiden“ müssen, „was die Ehrsucht, der Geitz, oder sonsten die Unruhe eines solchen Herrn mitbringet.“ Und es hilft wenig, wenn er solche Herren umstandslos als „Tyrannen“ abqualifizierte.111 Als Dramatiker musste er daher, seinem Realismuskonzept folgend, zahlreiche solcher Herren, „Machiavellisten“ nannte er sie,112 auf die Bühne bringen. Als Beispiele wären die Höflinge im Niederländischen Bauern zu nennen, die das Landvolk als „eine Gattung von leibhafftigen Vieh“ oder „umgekehrten Vieh“ titulieren, das „zur Arbeit geschaffen“ sei und deshalb in „Armuth und Elend“ gehalten werden müsse (IV/1 und IV/6; 12.2, 353, 364 u. 352); oder
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Weise: Politische Fragen, S. 106 u. 108. Das Konzept des „christlichen Politicus“, der sich freiwillig dem Dekalog und dem Volkswohl verpflichtet fühlt (wie Weise es im Väterlichen Testament von 1684 ausführlicher begründete: „Wir wollen etwas versuchen, wie weit sich das Christenthum und die politische Klugheit in einem Hertzen vertragen kan“; zit. nach Kremer: Bauern-, Bürger- und Frauensatire in den Zittauer Komödien Christian Weises, S. 101; zum Ideal des „christlichen Politicus“ vgl. ausführlich Hans Arno Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der „Politicus“ als Bildungsideal. Weinheim 1966), ist die entscheidende Schwachstelle in Weises politischer Theorie und muss letztlich als salto mortale aus seinem sonst luzide durchdachten Programm einer immanent begründeten Realpolitik gewertet werden. Schon hier findet sich „der übliche Versuch des bürgerlichen Denkens, die Rücksicht, ohne welche Zivilisation nicht existieren kann, anders zu begründen als durch materielles Interesse und Gewalt“, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachw. v. Jürgen Habermas. Frankfurt a.M. 1986, S. 92) schrieben. 111 Weise: Politische Fragen, S. 108–109; vgl. Paul Thiry d’Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Übers. v. Fritz-Georg Voigt. Frankfurt a.M. 1978, S. 206: „zu heißes Blut im Herzen […], die schlechte Verdauung im Magen eines Monarchen […] sind ausreichende Ursachen, um Kriege zu veranlassen, um Millionen Menschen zur Schlachtbank zu führen“. 112 Für Weise (wie für viele seiner Zeit) war Machiavelli vor allem ein Theoretiker der „Tyranney“: „Denn wie er sich in seinen Schrifften heraus läst, so mag ein Ober-Herr die Unterthanen brauchen, wie das Vieh und ist an keine leges Fundamentales gebunden, wenn er nur seinen merklichen Nutzen allenthalben befördern kan“ (Politische Fragen, S. 128). Im Bäurischen Machiavellus (1679) wird Machiavellus allerdings von der Anklage der Leuteverderberei freigesprochen, aber nur deshalb, weil man nach umständlicher Untersuchung gefunden hat, dass auch außerhalb der Höfe, sozusagen bei allen Menschen, „auch bey den geringsten Personen“, der Machiavellismus als Lebenseinstellung zu finden sei (11, 142): eine Rehabilitation im Zeichen der Klage über allgemeinen Werteverfall.
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der Marschall von Biron, der ebenfalls mit Bezug aufs „Volck“ sagt, „die Schafe sind deßwegen da, dass sie sollen geputzet werden“ (3, 224).113 Angesichts der Erfahrungen mit solchen Herren, die das Volk nicht nur real, sondern auch in Weises Dramen beständig machen muss, ist den gemeinen Leuten ein gewisses Misstrauen gegen die großen Herren kaum zu verdenken. In der Argenis beispielsweise zweifelt ein Bauer, ob sich der aufständische Fürst Lycogenes und der amtierende König Meleander im „Ernst“ bekriegen, oder ob es sich dabei um ein abgekartetes Spiel mit dem Ziel handelt, „dass sie die Bauern desto besser drillen“ (1, 511). Ein anderer Bauer vermutet hinter erwiesener „Ehre und Freundligkeit“ eines Vornehmen sogleich „die gröste Vexirerey“ (4, 342). Das grundsätzliche Misstrauen der kleinen Leute in Weises Dramen gegen ihre „durchlauchtigten Tyrannen“114 verhindert von vornherein, dass es zu der patriarchalen Eintracht kommt, von der die Aufklärung später gegen alle patrimoniale Wirklichkeit so gern träumte. Insbesondere Schiller hat gegen Ende des 18. Jahrhunderts gern das Bild des sorgenden Landesvaters als idyllisches Gegenbild zu gegenwärtigen Unrechtsverhältnissen aufgeboten (etwa in dem Vergleich der Herrschaftstechniken des alten Moor mit denen seines Sohnes Franz oder ganz allgemein im Versöhnten Menschenfeind).115 Für Christian Weise war dies undenkbar. Er wusste, dass die Unterschichten den im Sinne der absolutistischen Herren polizierten Staat als Gewaltverhältnis empfinden. Wenn Cato in Gottscheds bekanntem Trauerspiel die Großmut Cäsars nur als weitere Tücke des Tyrannen Cäsar interpretiert,116 so ist das eben der Verdacht, den zumindest alle Bauern, wenn nicht alle Unterschichtler in Weises Dramen gegenüber den Herren haben. Die in manchen Szenen des Sturm und Drang aufblitzende Erkenntnis, dass aufgrund der obrigkeitlichen Neigung, die armen Leute „bis auf den letzten Blutstropfen auszukeltern“, das Verhältnis zwischen den armen Leuten und den Herren meistens nicht herzlich ist, ist konstitutiv für die Volksszenen in Weises Dramen. Wenn Metzler in Goethes Gottfried von Berlichingen (1. Fassung 1771) seinem Reisebekannten Sivers erklärt, er hätte am liebsten die steckengebliebene Kutsche trotz der angebotenen Belohnung gelassen, wo sie war, denn „ein großer Herr könnt mir geben die Meng und die Füll, ich könnt ihn doch nicht leiden ich bin
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Vgl. Thomas W. Best: On Tragedy in Weise’s Masaniello. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 195–205, hier S. 199 (freilich missverstand Best beide als Sprachrohre des Autors). 114 Gottfried August Bürger: Gedichte. 2 Bde. Hg. v. Ernst Cosentius. Berlin 1914, Bd. 1, S. 55. 115 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a. Frankfurt a.M. 1988–2004, Bd. 2, S. 68 (Die Räuber II/2); ebd., S. 851f. (Der versöhnte Menschenfeind, 5. Sz.). 116 Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato. Hg. v. Horst Steinmetz. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1984, S. 53 (III/3, V. 932ff.).
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ihnen allen von Herzen gram, und wo ich sie scheren kann so tu ich’s“,117 so findet sich dafür in Weises König Wentzel die genaue Entsprechung. „Bauernschinder“ und „Müßiggänger“ seien die „Junckern“, und er habe noch nicht einmal Lust, ihnen für Geld etwas zu verkaufen, schimpft ein Bauer und verzichtet lieber auf den angebotenen Profit, als dass er den vornehmen Herren hilft (3, 105), nachdem schon ein anderer meinte, das sei ein so „schrecklicher Schaden“ nicht, sollte Wentzel verhungern, denn „wenn das Ungeziefer in schönen Kleidern gar aus der Welt wäre, so hätten die Bauern die besten Tage“ (3, 104). Auch bei den Kaufleuten in einem anderen Stück heißen die Steuereinnehmer des Königs einfach „BlutEgel“ (3, 253). Ungerecht sei die Welt, wie sie ist: Verstießen die „vornehmen Leute“ noch so sehr gegen Sitte und Anstand, „so schwimmt doch ihre Butter oben“, während die kleinen Leute stets das Nachsehen haben, klagen in einem anderen Stück die Bauern (5, 81–82). Man hält im Allgemeinen die „lieben Herren […] mit ihren Ohrfeigen und Nasenstübern“ für „gar zu freygebig“ (5, 318), weshalb man lieber nicht zu viel mit ihnen zu tun haben möchte. „Arme Leute haben ihre Plagen in der gantzen Welt“ (5, 455), heißt ein damaliges, von Weise in einem Drama zitiertes Sprichwort, das die Grundhaltung nicht nur der realen Unterschichtler, sondern auch der Unterschichtler in seinen Dramen treffend wiedergibt und spätere Auslassungen über die Vaterlandslosigkeit der Unterdrückten präludiert. „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, lautet der bekannte Satz aus dem Kommunistischen Manifest von 1848, in dem der Internationalismus der Arbeiterbewegung theoretisch begründet wurde118 – ein Gedanke, der im 18. Jahrhundert Allgemeingut war. Thomas Abbt glaubte das Prädikat „Vaterland“ in einer bis in die Formulierung hinein manchen Artikel der beiden französischen Menschenrechtserklärungen vorwegnehmenden Passage seines Essays Vom Tode für das Vaterland (1761) nur dem „Staate“ zusprechen zu können, dessen „heilsame Gesetze […] mir nicht mehr von meiner Freyheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staats nöthig ist“.119 Wo aber sollten die Untertanen des 18. Jahrhunderts einen solchen Staat finden, der den Namen einer „Nation“ verdiene, fragte Justus Möser in seiner Rezension von Mosers Buch Von dem deutschen Nationalgeist (1765): In früherer Zeit wäre man vielleicht im Stande gewesen, „uns eine Nation zu zeigen. Allein die gegenwärtige ist es nicht“.120 Den Ausweg der Intellektuellen, die kosmopolitisch dachten und sich als „Weltbürger“ begriffen,121 hatte das Volk 117
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 in 26 Bdn. Hg. v. Karl Richter u.a. München 1985–1998, Bd. 1, S. 388 (Geschichte Gottfriedens I/1). 118 Karl Marx u. Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Hg. v. Iring Fetscher. Stuttgart 1969, S. 44. 119 Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland. Neue, verm. u. verb. Aufl. Berlin 1770, S. 17. 120 Justus Möser: Patriotische Phantasien. Ausgewählte Schriften. Hg., mit Nachw. u. Anm. v. Wilfried Zieger. Leipzig 1986, S. 237. 121 So Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11.1, S. 305 (an Gleim, 16. Dezember 1758) bzw. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt
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nicht. Der aus niederen Verhältnissen stammende Kammerdiener in Schillers Kabale und Liebe (II/2) macht der ebenfalls heimatlosen Lady Milford klar, dass die einfachen Leute nur ein „Vaterland“ haben: nämlich das Jenseits.122 So auch in Weises Dramen. Das Volk lebt in permanenter, wenn auch nicht immer in offene Rebellion ausschlagender Konfrontation mit dem absolutistischen Fürstenstaat. Das macht das Volk für die regierenden Herren denn auch zu einem gleichsam natürlichen Feind;123 zwar nur „ein kleiner Feind von Ansehen“, doch in Wahrheit „der grosse Feind, den wir befürchten sollen“, wie es in einem Drama Weises vom fürstlichen Berater sehr schön formuliert wird (2, 226). So sehr fürchten sie diesen großen Feind, dass sie bereit sind, den eigenen Streit zu vergessen, wenn es gilt, gemeinsam das Prinzip der Herrschaft gegen aufrührerische Untertanen zu verteidigen. „Wider die unrechtmässigen Rebellen“ (1, 505) gilt es zusammenzuhalten, denn „ein König wird an seiner eigenen Majestät untreu, wenn er die Unterdrückung einer benachbarten Majestät mit geduldigen Augen ansehen kan“; wenn „durch meineydige Unterthanen die Autorität des Königes gebrochen, die Ruhe des gantzen Reiches zerrüttet“ wird, so bedeutet das, dass „allen benachbarten König[reich]en ein gefährlich Exempel“ geboten wird (1, 505–506). Auch in dem „Bündniß“ (4, 261) der beiden Landesherren Abimelech und Abraham ist ein wichtiger Vertragspunkt, dass man zukünftig jeden Streit zwischen den jeweiligen Untertanen als Aufruhr gegen die gemeinschaftlich begriffene Obrigkeit auffassen will (4, 258).
Das Volk in Aktion Verfassung des Volks Der „große Feind“ der Herren ist das „Volck“, es sind aber niemals einzelne Figuren aus dem Volk. Wollen die Bürger zum politischen Subjekt werden, müssen sie sich zu einem einheitlich handelnden politischen Körper vereinigen und die hergestellte Einheit wahren, um erfolgreich sein zu können. Erst dann werden sie in Weises Dramen zum politischen Subjekt „Volck“. Ansonsten bleiben sie als einzelne Bauern, Handwerker und Bürger Objekte obrigkeitlichen Handelns. Die Bildung des politischen Kollektivs ‚Volk‘ läuft in Weises Dramen meistens nach 1997, Bd. 5, S. 855 (Ankündigung der Rheinischen Thalia: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient“) u. ebd., S. 857: „ein Bürger des Universums“. 122 Schiller: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 591f. 123 Man kann seitens der Obrigkeit bis ins 18. Jahrhundert die Ansicht finden, dass der Hass auf die Oberen bei den kleinen Leuten und speziell bei den Bauern erblich sei und sie ihn „im gebluedt immerhin fortpflanzen“ (so der Vertreter des Klosters St. Blasien beim Reichshofrat im Wien, zit. nach Blickle: Unruhen, S. 49, vgl. Claudia Ulbrich: Agrarverfassung und bäuerlicher Widerstand im Oberrheingebiet. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 30 (1982), S. 149–167, hier S. 160).
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demselben Muster ab. Eine gewisse Anzahl gemeiner Leute trifft sich irgendwo – vorzugsweise unter freiem Himmel, also auf der Straße oder einem öffentlichen Platz –, um sich zu besprechen. Der Austausch verschiedener Argumente führt dann im Anschluss zur Formulierung eines gemeinsamen Standpunkts, der je nach Situation von einem Sprecher der nunmehr gebildeten Gruppe oder auch von der gesamten Gruppe chorisch vorgetragen wird. Die höher gestellten Gesprächspartner dieser Gruppe nehmen das Volk immer als Kollektiv wahr, gleichgültig ob die Gruppenmeinung von einem oder mehreren Sprechern vorgetragen wird. In seltenen Fällen – etwa dem angeführten Beispiel von Nabal und seinen meuternden Soldaten – gehört es zu der bewusst eingesetzten Verteidigungsstrategie des Herrn, mit Einzelnen aus der Gruppe als Individuen zu sprechen. Für die Kollektivbildung gibt es je nach Situation unterschiedliche Kriterien. Bei allen politisch-sozialen Auseinandersetzungen, und darum geht es meistens in Weises Dramen, ist das wichtigste Kriterium der Stand, wobei vom Bauer über den Handwerker bis zum Kaufmann alles zum „Volk“ gehört, manchmal zählt sogar noch der niedere Landadel dazu, etwa im Fall des frantzösischen Marschalls von Biron.124 In anderen Fällen, zum Beispiel wenn es um Feierlichkeiten auf der Gutsherrschaft geht, bilden die Geschlechter eigene Kollektive und es müssen dann die Frauen und die Männer separat eingeladen werden. Als Beispiel für letzteres lässt sich eine Szene aus Jacobs doppelter Heyrath anführen, die außerdem hervorragend geeignet ist, vorzuführen, wie das Volk als Kollektiv seine Entscheidungen fällt. Einzelne Bauern kommen zusammen, weil sie sich um ein ihnen zustehendes Recht betrogen fühlen, und zwar um das Recht auf Teilnahme an den Hochzeitsfeierlichkeiten des Gutsherrn.125 Weise ließ stellvertretend für alle Bauern des Dorfes drei Männer und drei Frauen auf die Bühne treten. Sie diskutieren, wie sie auf den offenen Rechtsbruch ihres Herrn, der sie nicht zum Bankett lädt, reagieren sollen. Der Vorschlag zu rebellieren, das heißt in diesem Fall, „ungebeten“ auf dem Fest
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In seinen Politischen Fragen schrieb Weise, dass „das gantze Volck […] aus Edlen und Unedlen, aus Reichen und Armen bestehet“, wobei er nur an die „freyen Bürger“ dachte: „also bleibet viel canaille noch übrig, welche zur Versammlung nicht kommen darff“. Es handelt sich hier um eine Salvierungsformel, weil Weise vordem gerade die „Democratia“ als eine Regierungsform definierte, „wo das höchste Regiment von dem gantzen Volcke geführet wird“, was – so der für manchen Zeitgenossen erstaunliche Nachsatz – „gar wol möglich seyn“ könne. Im Weiteren bedachte Weise aber auch das Volk im engeren Sinn, das aus den „Armen und Unedlen“ besteht und eine „Ochlocratia“ anstrebte, die leicht in eine „Anarchia“ umschlagen könne, wenn die „Regierung […] von dem gemeinen Pöbel und von der Canaille dependiret“, etwa weil diese sich von der Versammlung nicht ausschließen ließen. 125 Es gehört zu den Standard-Ereignissen der Geschichte der Frühen Neuzeit, dass sich das Volk die Feste, auf die es ein Anrecht zu haben glaubte, nicht so leicht nehmen ließ; vgl. z.B. die Aufstände in Romans 1579/80 (vgl. Emmanuel Le Roy Ladurie: Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579–1580. Übers. v. Charlotte Roland. Stuttgart 1982) oder die neapolitanische „Cuccagna“ (Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Frankfurt a.M. 1989, S. 79ff.).
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zu erscheinen, um die „Gerechtigkeit“ auch gegen den Willen des Herrn wieder herzustellen (5, 81), ist bereits gemacht, seine Ausführung aber noch nicht beschlossen worden. Da treten, gleichsam in letzter Minute, doch noch die „Hochzeit-Bitter“ auf und laden die Bauern offiziell ein, das heißt, sie bitten in zwei Einladungen sowohl das Kollektiv der Männer als auch das Kollektiv der Frauen zum Hochzeitsfest zu kommen (5, 85ff.). Weil man vorher ausschließlich die Maßnahmen gegen das „ungerechte“ Verhalten des Herrn diskutierte, waren die Bäuerinnen und Bauern auf die doch noch erfolgte Einladung nicht vorbereitet, so dass der Sprecher der Bauernschaft nicht sofort antworten kann: Tugendsamer Herr, ihr kommet uns zu unverhofft, wir können so geschickt darauff nicht antworten. Aber weil die Meinung in dem bestehet, dass wir sollen zur Hochzeit kommen, so wil ich mich mit meinem Nachbarn bereden; ich dencke, sie werden sich wol erbitten lassen (5, 86).
Kollektive Beschlüsse machen die Beratung mit den Nachbarn notwendig, und daher braucht es die erbetene „Bedenck-Zeit“ (5, 86). Dies ist Ausdruck der nicht hierarchischen, sondern demokratisch-egalitären Gruppenstruktur im Volk, wie sie in Weises Dramen meistens zu finden ist. Unter bestimmten Umständen lässt sich das Verfahren jedoch abkürzen. So wird in der genannten Szene dem Sprecher der Bauernschaft von anderen Mitgliedern der Gruppe zugerufen, er solle die Einladung ruhig annehmen, ohne dass man sich vorher intern beraten habe. „Wenn es irgend eine neue Beschwerung betrefe, so möchten sich die Bauren wol unter einander bereden“, doch „wo es zum Fressen und Sauffen gehet, da werden wir erst grosse Bedenck-Zeit nehmen“, also: „Seyd doch kein Narr, sprecht immer ja“ (5, 86). Dass in diesem Fall die Regel vorheriger Diskussion ausnahmsweise nicht angewendet wird, weil es sich um eine Lustbarkeit handelt, heißt nicht, dass sie nicht prinzipiell gültig wäre. Die zu demokratischen Beratungen erforderliche „Bedenck-Zeit“ ist zugleich die Schwachstelle egalitärer Strukturen, welche die Obrigkeiten natürlich auszunutzen wissen. Indem sie dem Volk keine „Bedenck-Zeit“ lassen, versuchen sie, es handlungsunfähig zu machen. Die Tyrannin Jesabel und ihre (bei Weise stets katholisch wirkenden) Baals-Priester beschleunigen den Scheinprozess gegen Naboth so sehr, dass dem Volk keine Zeit der Besinnung bleibt. Obwohl Naboth dem Urteil gemäß vom Volk gesteinigt wird, lasten auch die Anhänger Naboths die Schuld dafür nicht dem Volk an. Einer, der nicht dabei war, wundert sich darüber, wie das „Israelitische Volck“ – das nach Meinung der phönizischen Herren sehr „leicht zu einer Rebellion incliniren kan“ (6, 256), wenn es Unrecht vermutet, weshalb Naboth, wie ich schon zitierte, „nicht ohn alle Schein des Rechtens sterben solte“ (6, 317) – diesen Justizmord hinnehmen konnte: „Aber hatte das Volck irgend ein Mitleiden?“ Er bekommt zur Antwort: „Man ließ die Sache nicht zu einem weitläufftigen Mitleiden kommen. Ehe das Volck der Sache nachdencken 160
konte, war die Execution vollzogen“ (6, 342). Die Herren wissen genau, dass sie mit Schnelligkeit „den Pöbel beteuben“ (5, 375) können, wie sie befriedigt feststellen. Denn die demokratisch-egalitäre Meinungsbildung einer Gruppe ist in ihrer Langsamkeit der einsamen Entscheidung eines Autokraten stets unterlegen.126 Daher ist in dem Stück vom Geplagten und wiederum erlösten Regnerus der einzig sinnvolle Ratschlag auf die Bedenken des Ränkeschmieds Fengo, das Volk könnte Verdacht schöpfen und die Ausschaltung des rechtmäßigen Thronfolgers verhindern wollen: „Es soll nicht so lange gesäumet werden, bis das Volck eine Resolution faßen kan“ (2, 49). Gründe für das Volk, politisch aktiv zu werden Die zuletzt angesprochenen Bedenken des Verschwörers Fengo deuten bereits die Gründe an, die das Volk meistens zu politischem Handeln bringen: nämlich die Verletzung irgendeines bestehenden Rechts. Man kann allgemein sagen, dass jede revolutionäre Erhebung in der Frühen Neuzeit zunächst einmal dazu dient, ein verletztes Recht wieder in Geltung zu bringen, das heißt: die Revolten sind im Ansatz stets konservativ.127 Als in England 1642 der Konflikt zwischen König und Parlament zum Bürgerkrieg eskalierte, „proklamierten beide Seiten nahezu gleichlautende Kriegsziele – nämlich die Wahrung der alten überlieferten Verfassung, welche der Gegner durch seine revolutionäre Politik aus der Balance geworfen habe. Daher proklamierte das Parlament zu keinem Zeitpunkt etwa die Republik als Kriegsziel, kämpfte vielmehr im Namen des Königs gegen die Person des Königs“ bzw. dessen falsche Ratgeber, wie Peter Wende zusammenfasste.128 Auch für das Volk in Weises Dramen geht es erst einmal darum, durch gewaltsamen Widerstand gegen ‚ungerechte‘ Maßnahmen der Regierung die Rücknahme der zu Grunde liegenden Beschlüsse zu erzwingen, um so „die Sache in den alten Stand [zu] versetzen“ (1, 188). Dem entspricht in etwa auch die Bedeutung des Wortes „Revolution“ zu dieser Zeit, das zunächst einmal lediglich die Kreislaufbahn bezeichnete, auf der ein Planet immer wieder an seinen früheren Ort zurückkehrt. Auch in der Politik herrschte bekanntlich der alte auf der astronomischen Bedeutung fußende Sinn vor, nämlich das „herkömmliche Bedürfnis […], die Veränderung kreislaufartig als Rückführung zum guten Alten zu begreifen,
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Weshalb die römische Republik bekanntlich in Zeiten der höchsten Not einen Diktator an die Spitze des Staats stellte und alle republikanischen Institutionen für die Zeit des Notstands außer Kraft setzte. 127 Vgl. Arnd Beise: Revolution. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek 2001, S. 497f. 128 Wende: Der Prozeß gegen Karl I., S. 174.
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‚Revolution‘ also ähnlich dem alten Begriff ‚Reformation‘ als Abkehr von Mißständen, Entstellungen und Abwegen zu verstehen.“129 In Weises Dramen ist vor allem das Volk der eifersüchtige Wächter von Recht und Herkommen. Die Bürger Stockholms im Regnerus-Stück geben dafür ein gutes Beispiel. Sie versammeln sich vor dem Königlichen Palast, weil sie – völlig zu Recht – ein Komplott gegen den Prinzen vermuten. Sie haben nämlich gehört, dass Prinz Regnerus aus der Hauptstadt entfernt werden solle. Das sei „in unserm Lande nicht Mode, dass man den zukünfftigen Herren in ein wüste Rabenäst stecken sol“ (2, 69), stellen die Leute fest, und: „Unsre Stadt hat die Gerechtigkeit, dass die jungen Könige darin aufgezogen werden“ (2, 72). Sie berufen sich damit auf das Herkommen, dass der Thronfolger in der Hauptstadt, sozusagen unter den Augen des Volks, aufzuwachsen habe. Dieses Herkommen kann nach Meinung der Bürger nicht geändert werden, ohne dass man sie selbst diesbezüglich um Rat gefragt hätte. Denn es ist ein Rechtstitel (von „Gerechtigkeit“ ist die Rede, was als ‚privilegium‘ zu lesen ist, ebenso wie die „Freyheit“ [II, 72; 75], auf die man sich wiederholt beruft), den die Bürger von Stockholm in ihrer Gesamtheit besitzen und der einem Vertrag auf Gegenseitigkeit entstammt. Man wolle für die Anwesenheit des Prinzen durchaus Opfer bringen, überhaupt sei der Prinz hier sicherer als in der „Wüsteney“, argumentieren die Bürger – auch hier wieder, nachdem sie in einer internen Beratung zu einer gemeinsamen Haltung fanden – gegenüber den Reichsräten. Die Sicherheit des Prinzen, welche die „Affectation“ des Volks verbürge,130 ist aber nur die eine Seite der „Gerechtigkeit“. Die andere klingt in der Zusammenfassung der Forderungen des Volks an: „Mit einem Worte, wir wollen Gut und Blut aufsetzen, wenn wir die sollen bey uns haben, die unser Gut und Blut beschützen sollen“ (2, 73). Man erwartet von dem in der Hauptstadt anwesenden König als Gegenleistung für den Schutz seiner Person durch das Volk seinen Schutz des Friedens für das Volk und andere Vorteile. Auch hat man ihn besser unter Kontrolle, was neben der erwarteten Verbesserung der Versorgungslage auch für das Volk von Paris im Oktober 1789 mit ein Grund war, König Louis XVI. samt Familie („Bäcker, Bäckerin, Bäckerjunge“) von Versailles in die Hauptstadt zurückzuholen. Ein weiteres Beispiel, bei dem die gegenseitige Verpflichtung von Untertanen und Regent handlungsrelevant für das Volk ist, bietet das Ulvilda-Stück. Außer der 129
Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung. Aus dem Nachlaß hg. v. Ingeborg Horn-Staiger. Mit einem Nachw. v. Hermann Heimpel. Frankfurt a.M. 1973, S. 144f. 130 Vgl. Weises Sicilianische Argenis, in der König Meleander nach einem nur glücklicherweise noch einmal gut ausgegangenen Überfall erkennt, dass seine Tochter in dem einsamen Schloss nur vermeintlich sicherer war als in der Hauptstadt. So rät und beschließt man: „Das einzige Reis vom Königlichen Geblüte soll in den Augen des Volckes aufwachsen. Und die allgemeine Affection soll hernach zum Schutze dienen, wenn der Meineid etwas boßhafftiges versuchen will. Eine gefangene Prinzeßin hat ein Theil der allgemeinen Wohlfahrt gefangen. Und eine freye Auferziehung leget den Grundstein zu einer künfftigen Freyheit“ (1, 416).
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Lüge, dass der König gefallen sei, mit der Ulvildas Berater das Volk zur Billigung des „Staats-Streichs“ überreden wollen, haben sie noch ein weiteres Argument gegen den alten König in petto. Man wirft ihm, der schon ziemlich lange auf einem Auslandsfeldzug ist, vor, er sei „meyneidig“ geworden, weil er „sein Volck verlassen“ habe, wie ihm Ulvilda auch nach seiner Rückkehr, gleichsam zur Entschuldigung des Umsturzversuchs, vorhält (2, 504). Das Volk will „den LandesVater im Reiche wißen“ (2, 474); es verlangt, dass ein König „als ein LandsMann bey seinen Kindern verbleiben soll“ (2, 479). Tut der Herrscher dies nicht, wird er vertragsbrüchig („meyneidig“), was zwar nicht für die Theoretiker des Absolutismus, wohl aber für das Volk ein hinreichend legitimierender Grund zur Revolte ist.131 Insofern kann man davon sprechen, dass die frühneuzeitlichen Revolten in der Realität genauso wie in Weises Dramen in erster Linie defensiven Charakter hatten, so wie es die ältere Forschung für die europäischen Bauernrevolten zwischen 1525 und 1789 generell annahm. Damalige Autoren haben deshalb bisweilen gegen die als „Element der Staatsraison“ institutionalisierte „Verachtung des Pöbels“ durchaus bissig polemisiert. Ein Beispiel ist der vielfach geschmähte Niccolò Machiavelli, der in seinem Buch über die Aufgaben des Fürsten (Il Principe, 1513) das „Streben des Volks“ für „rechtschaffener als das der großen Herren“ erklärte, weil „diese das Volk unterdrücken, das Volk dagegen nur nicht unterdrückt werden möchte“.132 Der Traum von einem besseren Leben Dass alle frühneuzeitlichen Revolten ausschließlich defensiven Charakter hatten, kann man jedoch mit guten Gründen bezweifeln.133 In der Unterschicht, auch bei den bäuerlichen Unterschichten, gab es immer auch den Traum von einem indivi131
Weise war theoretisch gegen jedes Widerstandsrecht, kannte aber im Naboth zum Beispiel den Konflikt zwischen Gehorsam und Gewissen (6, 244f.). Er plädierte für die Trennung von religiösem und weltlichem Gehorsam, allerdings nicht im Sinne Luthers (vgl. ebd., 248: „Der begehet kein crimen laesae Majestatis, der seiner Obrigkeit etwas vom geistlichen Respecte entziehen will“), sondern vertrat in seinen Dichtungen die nicht unproblematische (und von ihm selbst in den Politischen Fragen bekämpfte) Ansicht, dass man „in unbillichen Sachen […] ungehorsam seyn“ dürfe: „Ein Diener wird nur so weit verbunden / als die Gerechtigkeit ihr Ziel stecket.“ Was die Obrigkeit natürlich für „Superstition“ und „Absurditäten“ erklären musste: Eventuelles „Ungerechtes aus Unwissenheit“ wolle er als Obrigkeit schon vor Gott verantworten, das gehe den Untertanen nichts an, behauptet im Naboth der Prinz Badezor Weises politischem Lehrbuch gemäß (ebd., 322f.; allerdings ist Badezor ohne Zweifel einer der Oberschurken dieses Schauspiels) und führt das für die gegenteilige Position des Widerstandsrechts aus Gewissenszweifel bei Weise nicht unwichtige Argument ins Feld: „Und die gantze Welt wird uns beyfallen“ (ebd., 323). 132 Machiavelli: Il Principe, S. 76: „perché quello del populo è piú onesto fine che quello de’ grandi, volendo questi opprimere, e quello non essere oppresso“; vgl. oben S. 50f. 133 Vgl. Peter Bierbrauer: Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht. In: Peter Blickle (Hg.): Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, S. 1–68, hier S. 57.
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duellen Recht auf ein anständiges Leben. „Wenn der Bauer auf seine menschliche Würde reflektiert und einen dieser Würde angemessenen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung reklamiert, erweisen sich sowohl die These vom Bauern als Objekt der Geschichte als auch die Vorstellung vom beengten bäuerlichen Interessen- und Denkhorizont als unbrauchbare Klischees“, stellte Peter Blickle mit Blick auf die Geschichtswissenschaft fest.134 Vergleichbares gilt natürlich auch von der Literaturwissenschaft, die den Traum des Unterschichtlers von einer gerechten Welt, den auch Christian Weise in seinen Dramen zur Darstellung brachte, entweder ignorierte oder als bloße Satire abtat. Zwar kann kein Zweifel bestehen, dass insbesondere die Bauern von Weise gern konventionell als Grobiane, Tölpel und Barbaren zum Gegenstand des Spotts gemacht wurden; doch gilt dies nicht durchgehend; und vor allen Dingen sprengte Weises dramatische Sympathie mit dem leidenden Subjekt die Verbindlichkeit der Normen des gesellschaftlichen Decorums, die allein eine unproblematische Narrensatire ermöglichten.135 Weises Unterschichtler imaginieren oft, dass sich die „Welt“ umkehre und „das unterste zum obersten kömt“ (2, 359). Doch sie tun dies in dem Bewusstsein, dass dies ein Traum ist, der keine Chance auf Realisierung hat. Sie wissen dies sogar so gut, dass dieser Traum ihnen närrisch vorkommt,136 doch hängen sie ihm gern nach. Bisweilen sogar setzen sie der gewalthabenden Obrigkeit ihren ohnmächtigen Traum mutig entgegen, so etwa der Bauer Mierten, der dem versammelten Hofstaat um Herzog Philipp trotzig entgegenhält: „Da seht ihrs, dass arme Leute auch was befehlen können, will mich der Fürste nicht zu Gaste bitten, so laß ich mirs träumen, und setze mich wieder seinen Willen am Tisch“ (12.1, 387). Zwar wird dieser Traum Miertens ins Lächerliche gezogen, doch weiß der Herzog seine Bedeutung wohl zu schätzen: Der Traum befreit nicht nur Mierten aus dem höfischen Vexierspiel, sondern nötigt Philipp auch zu der ernsten Bemerkung: „Das war ein hartes 134
Peter Blickle: Auf dem Weg zu einem Modell der bäuerlichen Rebellion – Zusammenfassung. In: Ebd., S. 296–308, hier S. 301. Weise hatte seine satirisch-politischen Romane noch weitgehend nach den Mustern traditioneller Narrensatire abgefasst. Entsprechend schlecht kommt hier das Volk weg. Von „egalitären Perspektiven“ könne hier überhaupt keine Rede sein, bemerkte Solbach in einem Aufsatz, der sich mit Weises Erfolgsroman Die drey ärgsten Ertz-Narren in der ganzen Welt (1672) beschäftigt: „Die Überschreitung literarischer Gattungsnormen und die belehrende satirische Abstrafung im Sinne einer gesetzlosen Selbstjustiz, die zur Straforgie wird, dient […] der Befestigung gültiger Verhaltensnormen und der Bekräftigung der Ständeordnung. Das Volk erhebt sich nicht gegen den Adel, sondern gegen den Prototypen bürgerlichen Aufstiegswillens – den reichen, anmaßenden Bürger. Es sind gerade nicht die beschränkenden Standesgrenzen, die Gegenstand der grenzüberschreitenden Aggressionen sind, sondern die vorgebliche Durchlässigkeit dieser Grenzen“ (Andreas Solbach: Transgression als Verletzung des Decorum bei Christian Weise, J. J. Chr. v. Grimmelshausen und in Johann Beers Narrenspital. In: Daphnis 20 (1991) H. 1, S. 33–60, hier S. 40). Weise hob die konservative Perspektive in seinen Dramen dadurch auf, dass er dem Volk eine eigene Stimme gab. 136 Die Utopie der Weltumkehrung des einen beantwortet der andere Bauer: „Man redt manchmahl eine Narrheit, biß was drauß wird, wenns seyn solte, ich würde mich nicht wiedersetzen“ (2, 359). 135
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Wort, ein Fürste muß dem Bauer gehorsam seyn, wenn er sich im Schlaffe will von ihm träumen lassen“ (12.1, 388). Dass dergleichen Erkenntnis nicht einfach abzutun ist, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass diese Sätze in einem Drama stehen, das den barocken Topos vom ‚Leben als Traum‘ ohne jeden Jenseitsbezug aktualisiert. Die Posse hat einen doppelten Boden. Zwar amüsieren sich die Höflinge über den ‚dummen‘ Mierten, doch stellt genau dies Spiel letztlich ihre Identität in Frage, nicht aber die des angeblich irritierten Bauern. Jedenfalls ist dem in seiner Trauer sympathischen Mierten durch den „Traum“ von einem besseren Leben ein Bewusstsein seiner wirklichen Lage zugewachsen, von dem er sich wünscht, er hätte es nicht: „Ich wolte daß mir solche Sachen ungeträumet blieben, wenn sie nicht wollen wahr werden“ (V/7; 12.2, 384). Die vernünftigen Soldaten, die in dem Lächerlichen Schau-Spiel vom grossmüthigen und wunderthätigen Alfanzo die Handlung an verschiedenen Stellen im Sinne der „Weltweißheit“ (2, 381), also philosophisch, kommentieren, könnten Mierten immerhin mit folgender Frage, die sie sich angesichts des verrückten Alfanzo stellen, entgegnen: „Worinne besteht die Glückseligkeit als in der Befriedigung des Gemüthes, und wer fragt darnach, ob das Gemüthe würcklich oder im Traume befriediget wird?“ (2, 341). Dieser bei Weise schon säkularisierte Zweifel an der Gültigkeit des allgemein Anerkannten, der den spätaufklärerischen Zweifel am monolithischen Weltbild des Rationalismus, wie er sich in Lichtenbergs Wort vom „Mikrokosmus Bedlam“ und dem „Makrobedlam Welt“ ausdrückt,137 präludiert, macht die Gefährlichkeit der unterschichtlichen Träume aus.138 Der Zweifel an der Gültigkeit der Norm kann leicht zum Zweifel an der unwiderruflichen Gültigkeit von Standesgrenzen konkretisiert werden. Weise hat dies in seinem Curieusen Körbelmacher thematisiert. Welche politische Brisanz der Traum des Bauern von der besseren Welt hat, verdeutlicht die Reflexion von Miertens Traum durch den Herzog und seinen Hofmarschall Egmund in dem erwähnten Wunderlichen Schau-Spiel vom Niederländischen Bauer. „Also ist ein Bauer in den Gedancken über den Fürsten“, befürchtet Herzog Philipp; sein Marschall Egmund repliziert: „Und in der That ist er ein Sclave.“ Philipp ruft daraufhin aus: „Wohl dem! Der als ein Mensch in seiner Freyheit 137
Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. 4 in 6 Bdn. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967–1992, Bd. 3, S. 902; vgl. die Anekdote vom Besucher des Irrenhauses, der auf seine erregte Frage: „Aber weißt du, dass du im Tollhause sitzest?“ die mit größter Gelassenheit vorgebrachte Antwort des „Rasenden“ bekommt: „aber bist du gewiß, dass Du in keinem sitzest?“ (Ebd., S. 906). 138 Auch realgeschichtlich lassen sich zahlreiche Zeugnisse nachweisen, die insgesamt den Tenor haben, „man bedürfe kainer oberkait und man könde wohl auch ohn ein oberkait wie im Schweizerland leben“ (zit. nach Werner Troßbach: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806. Weingarten 1987, S. 62). Spätestens seit der Schlacht bei Morgarten (15. Nov. 1315), in welcher erstmals ein Bauernheer über seine ritterlichen Gegner siegte, galt die Schweiz als ein durch „Volksbewegung“ (Willibald Pirckheimer: Der Schweizerkrieg. Übers. v. Ernst Münch. Hg. v. Wolfgang Schiel. Berlin 1988, S. 10) von der Tyrannis befreites Land.
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lebt“, unterdrückt aber das geheime Stoßgebet noch jeder Obrigkeit, nämlich: Gebe Gott, dass der Bauer nicht seine „Freyheit“ einklage (12.1, 388–389). Die Schriftsteller der Zeit tun das Ihrige, die Angst vor dem Umsturz zu bannen: indem sie die Umkehrung der Stände in Possenspielen lächerlich zu machen suchen; Weise etwa außer in dem allerdings doppelbödigen Niederländischen Bauern (1685) besonders in dem Lust-Spiel von der Verkehrten Welt (1683), Ludvig Holberg in dem Politischen Kannegießer (1722) und in Jeppe vom Berge oder Der verwandelte Bauer (1722), Johann Christian Krüger im Herzog Michel (1749) und ebenso noch Goethe, an diese Tradition anschließend, mit den Aufgeregten (1793).139 Das Beunruhigende am unterschichtlichen Traum von der verbesserten oder sogar verkehrten Welt ist, dass die gemeinen Leute plötzlich Lust bekommen könnten, diesen „Traum von Freiheit“140 in die Realität umzusetzen.
Das Volk in der Revolte Im Trauer-Spiel von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello (1682) ist es zunächst die Forderung nach Wiederherstellung des alten Rechts, die das Volk während des Aufstands erhebt. Anlass war die – wie von allen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts zugestanden – übermäßige Ausbeutung des Volks von Neapel durch die spanischen „Landpfleger und Under-Könige“.141 Es sei, so Heinrich von bzw. Hendrik van Huyssen (1666–1739) in seinem Tegenwoordigen toestand van […] Italien (1696/97), „fast nicht möglich zu beschreiben, wie großen Reichtum die Königlichen bedienten zusammlen wissen, maßen sie den Vnterthanen das Blut dergestalt auszapffen, dass man sich nicht zu verwundern hat, wenn sie zu Weilen aus Vngedult gegen Selbige zu revoltiren genöthiget werden“.142 Die Ereignisse in
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Innerhalb dieser Reihe gilt es genauer zu differenzieren. Anders als in Weises Niederländischem Bauern und in Holbergs Jeppe wird in Krügers Herzog Michel der Knecht nicht von anderen betrogen, sondern träumt sich über seine elenden Verhältnisse mittels der eigenen Fantasie hinaus – damit eine später trivialisierte Strategie der Empfindsamen vorwegnehmend (vgl. Arnd Beise: Charlotte Corday – Karriere einer Attentäterin. Marburg 1992, S. 43f.). Am Ende aber nimmt Michel sein elendes Schicksal an, denn er hat die Liebe, den zweiten Ausweg der Empfindsamen, entdeckt. Die Jungfrau erlöst ihn aus der Verstrickung in seine Traumwelt. Michel ist sozusagen aufgewacht: „(Er umarmt Hannchen.) Du bist mein Herzogthum, mein Bier, mein Schweinebraten“ (Lustspiele der Aufklärung in einem Akt, S. 133). Im Politischen Kannegießer und in den Aufgeregten tritt das Motiv des Traums ganz zurück zu Gunsten des Spotts über die Anmaßung eines Dümmlings. 140 Peter Bierbrauer: Das Göttliche Recht und die naturrechtliche Tradition. In: Peter Blickle (Hg.): Bauer, Reich und Reformation. Stuttgart 1982, S. 210–234, hier S. 226f. 141 Ludolph: Allgemeine Schau-Bühne der Welt, Sp. 1370. 142 Heinrich van Huyssen: Curieuse und vollständige Reiß-Beschreibung Von gantz Italien. Leipzig 1701, 1. Teil, S. 160f.; vgl. Hendrik van Huyssen: Tegenwoordigen toestand van [...] Italien. Utrecht 1696 bzw. Leyden 1697, 1. Teil, S. 202: „Oock is voor de rest niet wel te beschrÿven, hoe groote goederen de Koninklÿke Officieren weeten te vergaederen, perssende
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Neapel 1647 hätten jedenfalls, so Eberhard Werner Happel (1647–1690) in seinen Relationes Curiosae, „in der Tat erwiesen“, „was man im gemein Sprichwort zu sagen pfleget: Laesa soepe patientia tandem sit furor. Wann man einen gedüldigen Menschen zu viel vexieret, wird er rasend“.143 Mir ist kein Autor des ausgehenden 17. Jahrhunderts bekannt, der angesichts der „unerträglichen Schatzungen und Auflagen“ und des dadurch verursachten „unsäglichen Elends“ im Volk144 nicht Verständnis für den endlichen Aufruhr hatte. Sogar Christian Weise sprach in einem der stets affirmativ gehaltenen Rahmentexte seines Dramas davon, dass Neapel „mit unerträglichen Zöllen dergestalt beschweret“ war, „dass endlich der gemeine Pöfel, dem das Brod zu theuer ward, unter solcher Last zu seuffzen anfieng“ (1, 154). Nachdem der spanische Vizekönig „einen neuen Zoll auff alles Obst und Früchte, so wol dörre als frische“, gelegt hatte (Dezember 1646) lebte das Volk sieben Monate „also schmal und kümmerlich“,145 bevor nach etlichen vergeblichen Beschwerden und Eingaben das aus der üblichen Angst vor den Unwägbarkeiten von Volksfesten geborene Verbot des Johannisfests das Fass zum Überlaufen brachte. Die – was die Gründe angeht – überraschend positive Rezeption des neapolitanischen Volksaufstands im Deutschland des 17. Jahrhunderts wurde vor allem dadurch begünstigt, dass die wichtigsten und verbreitetsten Quellen für Nachrichten über diese Revolution von italienischen ‚Patrioten‘ stammten, die den Aufruhr des einheimischen Volks gegen das spanische Vizeregiment bei aller Abneigung gegen pöbelhafte Gewalt doch nicht ohne Sympathie sahen. Gemeint sind die
sy de Onderdaenen soodaenigh haere middeelen af, dat het niet te verwonderen is als die komen te revolteeren“ (7. Brief). Eberhard Werner Happel: Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannte Relationes Curiosae. Hg. v. Jürgen Westphal u. Uwe Hübner. Berlin 1990, S. 235. 144 Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Täglicher Schau-Platz der Zeit, Auf welchem sich ein iedweder Tag durch das gantze Jahr mit seinen merckwürdigsten Begebenheiten, so sich vom Anfange der Welt, biß auf diese ietzige Zeiten, an demselben zugetragen, vorstellig machet. 3. Aufl. Leipzig 1728, S. 800. 145 Schleder: Theatrum Europaeum, Bd. 6, S. 167. Schleder betonte mit einer gewissen Empörung, dass von diesem Zoll „auch die Wolffsbonen nicht ausgenommen, noch die weisse und rothe Maulbeerbäume befreyt gewesen“ wären, was die Schärfe der Imposten illustrieren soll. Die genannten Früchte waren wahrlich keine Luxusgüter und kaum geeignet, einen Menschen hinreichend zu ernähren, waren aber bis dahin die einzigen für das Volk noch erschwinglichen Lebensmittel. „Wolffsbohnen“ oder „Feigbohnen“ gebrauchte man ansonsten nur als Arzneimittel, da sie kaum genießbar sind: „zur Speise gebraucht, geben [sie] keine gute Nahrung, sind schwer zu verdauen, verursachen Blähungen, und machen gelb dicke Geblüte“ (Johann Heinrich Zedler (Hg.:) Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 64 Bde. u. 4 Suppl.-Bde. Leipzig 1732–1754, Bd. 9, S. 421). Desgleichen die „Maulbeeren“, die seit biblischer Zeit (vgl. AT Amos 7,14) als Nahrung für „das gemeine Volck“ gelten; zwar sind sie genießbar, doch nicht ohne Gefahr, wie Zedler (ebd., Bd. 19, S. 2162–2164) anmerkte. Die roten Maulbeeren sind „sauer, herb, ziehen zusammen und stopfen gewaltig“, die weißen sind zwar „Honig-süsse vom Geschmack“, doch „eckel und nicht gar angenehm“. 143
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Berichte von Vittorio Siri,146 Pietro Gazzotti147 und Alessandro Giraffi.148 Besonders die „Relation“ Giraffis war durch zahlreiche Auflagen und mehrere Übersetzungen in Europa weit verbreitet und war eine Hauptquelle für Christian Weise, Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen oder Eberhard Werner Happel.149 Im 18. Jahrhundert trat zu den genannten noch die sehr bekannte Geschichte des Königreichs Neapel des Juristen Pietro Giannone (1676–1748),150 dessen Darstellung von einem „brennenden Haß“ gegen die spanische Herrschaft wie gegen den katholischen Klerus geprägt sei.151 Dass Giannone deshalb exkommuniziert wurde, ins Exil gehen, seinen „falschen, verleumderischen, frechen und aufrührerischen Behauptungen“ abschwören musste, schließlich doch noch als Opfer der Inquisition zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und zwölf Jahre später im Kerker starb, machte ihn seinerzeit geradezu zu einem Märtyrer aufklärerischer Gewissensfreiheit. Ausländerhass als Grund zum Aufruhr Nicht nur die süditalienischen Autoren waren voller antispanischer Ressentiments. In Europa gab es im 16. und 17. Jahrhundert keine Nation, „die überall so sehr verhaßt ist wie die unsrige“, stellte der Spanier Mateo Alemán in seinem Roman
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Vittorio Siri: Il Mercurio overo Historia de’ correnti tempi […]. Casale 1668, Bd. 10, S. 1ff.: „Delle turbolenze della Città, e Regno di Napoli“. Siri erzählte nicht nur die Geschichte Masaniellos (sein Begräbnis ist in dem genannten Band auf S. 139 geschildert), sondern auch den weiteren Verlauf der Revolution (bis S. 613). Tatsächlich wurde die spanische Herrschaft erst im April 1648 wieder hergestellt, Masaniello wurde aber bereits am 16. Juli 1647 erschossen. 147 Pietro Gazzotti: Historia delle guerre d’Europa arrivate dall’anno 1643 sino al 1680. 2 Bde. Venezia 1681; Gazzotti galt bereits um 1700 als unzuverlässig, so dass Ludolph (Allgemeine Schau-Bühne, Sp. 1426) der Darstellung Siris folgte. 148 Alessandro Giraffi: Le Rivolutioni di Napoli. [Neapel] 1647; Battafarano (Von Andreae zu Vico, S. 117ff.) wies 13 weitere Ausgaben bis 1733 und eine vierzehnte 1844 nach. Eine davon erschien 1648 in Padova bei Sarti unter dem Pseudonym Nescipio Liponari und dem Titel Relatione Delle Rivolutioni Populari Successe nel Distretto, e Regno di Napoli Nel presente anno 1647; dies sei deshalb erwähnt, weil in der älteren Weise-Forschung gelegentlich ein gewisser Liponari als Quelle herumspukt (auf Grund des Irrtums von Adolf Hess: Christian Weises historische Dramen und ihre Quellen. Diss. Rostock 1893, S. 59; verbreitet vor allem durch Robert Petsch im Vorwort zu seiner Ausgabe von Weises Masaniello (S. XXVI). 149 Die erste Übersetzung ins Deutsche erschien 1648 unter dem Titel Kurtze warhafftige Beschreibung Deß gefährlichen und weitaussehenden Aufstandes zu Neapel; fast identisch in: Schleder: Theatrum Europaeum, Bd. 6, S. 166–226. Battafarano (Von Andreae bis Vico, S. 117) wies auch eine mehrfach (1650, 1664, 1679) aufgelegte englische Übersetzung nach. 150 Pietro Giannone: Bürgerliche Geschichte des Königreichs Neapel. 4 Bde. Übers. v. O. Ch. von Lohenschiold. Leipzig 1758–1770 (erste Ausgabe: Istoria civile del Regno di Napoli. 4 Bde. Napoli 1723; letzte Ausgabe Milano 1970–1972, in Auswahl Torino 1978). 151 Vgl. Johanna Rudolph in: Reinhard Keiser u. Barthold Feind: Masaniello oder Die neapolitianische Fischer-Empörung. Bühnenfassung: Johanna Rudolph. Musikalische Einrichtung: Horst Richter. Leipzig 1967, S. 54 (Anm. 10).
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Guzmán de Alfaranche (1599–1604) fest;152 das Bild des durch seine imperialistische Großmachtspolitik verhassten Spaniens hatte sich bald zu der europaweit verbreiteten „leyenda negra“ verdichtet.153 Revolten gegen die „Tyranney und Habgier der Spanier“ konnten mit Sympathie im protestantisch geprägten Nordeuropa rechnen.154 So erklärt sich zum Beispiel auch die manchen Philosophiehistoriker seit Herder stark befremdende Tatsache, dass Masaniello zu Baruch Spinozas (1632–1677) Lieblingshelden zählte, dessen Identität er sich spielerisch aneignete,155 indem er sich selbst als Masaniello zeichnete.156 Neben dem Kampf gegen ungerechte Maßnahmen der Regierung zeichnete noch ein Weiteres den Volksaufstand in Neapel 1647 aus. Man kann ihn als Ausdruck des italienischen Kampfs gegen die spanische Fremdherrschaft begreifen. Eine solche Deutung war den Autoren des 17. Jahrhunderts keineswegs fremd. Johann Georg Schleder rechnete zu den „hochwichtigen und wolfundirten Ursachen“ des neapolitanischen Volksaufstands nicht nur – wie bereits zitiert – die Tatsache, dass den Menschen von Natur aus der Trieb zur Freiheit eingepflanzt sei, sondern auch 152
Ulrike Hönsch: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“. Tübingen 2000, S. 9. 153 Vgl. grundsätzlich Julián Juderias: La leyenda negra. Estudios acerca del concepto de España en el extranjero. Neuausgabe. Salamanca 2003; Barbara Becker-Cantarino: Die ‚Schwarze Legende‘. Zum Spanienbild in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 94 (1975) S. 183–203; Hönsch: Wege des Spanienbildes, bes. S. 9–12. 154 Tyrannei und Habgier der Spanier nannte Boxhorn (Historia Universalis, Teil 2, S. 103) 1652 als Grund für die Aufstände in Süditalien: „Neapolitani, cognito eo tamen laeto motuum in Sicilia fine, iidem causis, mox quoque Hispanorum tyrannidi avaritiaeque, in bona ac sanguinem subditorum quotidie magis magisque saevientium, magno admirandoque aususe opposuere“. 155 Carl Gebhardt deutete Spinozas „Verkleidung“ als Masaniello, der „dem 17. Jahrhundert der Dämon oder der Genius der Revolution“ gewesen sei, als innere Überzeugung des Philosophen, „dass seine Lehre die Welt umgestalten werde“ (Einleitung zu Baruch Spinoza: Theologisch-politisches Traktat. Übers. u. hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg 1955, S. XXVII). 156 Johann Gottfried Herder in Gott (1787) über Spinozas Skizzenbuch: „Ein sonderbarer Einfall, sich als Masaniello zu zeichnen“ (Werke in zehn Bänden. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 689); in der zweiten Auflage (1800) ergänzte Herder: „oder vielleicht ein Wirthseinfall“, weil ihm nach den Erfahrungen der Französischen Revolution die Überlieferung noch unwahrscheinlicher vorkam: „Unter anderen finde ich auf dem vierten Blatt einen Fischer im Hemde gezeichnet, mit einem Schiffernetz auf seiner rechten Schulter, ganz in der Weise, wie der berüchtigte neapolitanische Rebellenhauptmann Mas Aniello in den Historienbildern geschildert wird, Herr Hendrik van der Spyk, sein letzter Hauswirt, sagte mir davon, dass er Spinoza auf ein Haar gleiche und dass er es ohne Zweifel nach seinem eigenen Gesichte entworfen habe“ (Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza (1705). In: Baruch Spinoza: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Carl Gebhardt. 2. Aufl. Hamburg 1977, Bd. 7, S. 53–98, hier S. 67). Den klügsten Kommentar dazu gab wohl schon Jacob Freudenthal (Spinoza. Sein Leben und seine Lehre. Erster Band: Das Leben Spinozas. Stuttgart 1904, S. 86): „Wollte Spinoza, als er sich in der Maske Masaniellos zeichnete, seine Sympathie mit dem Freiheitshelden oder seine Übereinstimmung mit dessen republikanischer Gesinnung ausdrücken? Das hieße zuviel aus einem vielleicht unbeabsichtigten Umstande folgern. Nicht mit Unrecht wird man aber wohl hieraus schließen, daß Spinoza den politischen Begebenheiten auch des Auslandes nicht teilnahmslos gegenüberstand, sondern sie, insbesondere soweit sie Spanien betrafen, mit Aufmerksamkeit verfolgte“.
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dass sie „sich sehr ungern unter frembdes Joch begeben: welches alsdann umb so viel schwerer wird, wann ihnen von dero Regenten dergleichen Bürden und unerträgliche exactiones zugemuthet werde“, wie unter der spanischen Vizeregentschaft.157 Auch bei dem dreitägigen „blutigen Tumult zu Preßburg zwischen den Spaniern und den Ungarn, An[no] 1655“, von dem Zigler erzählte, kam es im Anschluss an eine Privatfehde während des Landtags zu Aktionen des „Pöbels“, bei denen man die Kutschen der spanischen Delegation, die zu Recht mit der Habsburgischen Fremdherrschaft assoziiert wird, „anfiel“, das Geschirr zerschnitt und die Fenster „ausschmiss“. Das ungarische Volk „durchlieff alle Gassen, in welchen man die entflohenen Spanier ausrieff“, um sie für keineswegs nur aktuelle Vergehen zu bestrafen.158 Auch im dramatischen Œuvre von Weise gibt es den von einem gewissermaßen nationellen Hass gegen die „ausländischen“ Unterdrücker getragenen Widerstand des Volks. So in den biblischen Dramen, wo die „baalitische“ Obrigkeit mit der grundsätzlichen Feindschaft der „Juden“ rechnen muss, aber auch in einem der Stücke zur jüngst vergangenen Geschichte, dem Gestürtzten Marggraff von Ancre (1679) nämlich. Es geht in diesem Drama um den durch Widersetzlichkeit des Volks ausgelösten Sturz (1617) des leitenden Ministers Concino Concini, Marschalls von Ancre, der im Auftrag der Königinmutter Maria di Medici die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Louis XIII. verwaltete. Es ist in erster Linie nicht die übliche Ausbeutung des Landes, die das Volk den Palast Concinis in einem „grausamen Tumulte“ (1, 83) stürmen lässt, wobei alle Wertgegenstände „unter die Hände des rasenden Volckes zerstreuet“ und das Gebäude sogar „der Erden gleich“ gemacht wird (1, 87). Darauf weist bereits die Sorge der von all diesen Vorgängen profitierenden Brüder des Herzogs von Luynes hin, die nach erfolgreicher Machtübernahme eingestehen müssen: „Das Volck fänget schon wider uns an zu murmeln […]. Denn sie meynen, es möchte an statt eines NebenKöniges das Königreich nunmehro von drey Personen gezwackt werden“ (1, 136). Das Volk hat recht bald den zutreffenden Verdacht, dass in diesem Fall nur „irgend ein Hoff-Schrantze seinen Privat-Haß an dem guten Marschall hätte auslassen wollen“ (1, 137). Weise macht nicht nur durch die manchen Forscher irritierende Gleichheit der Charaktere von Concini und seinem schließlich siegreichen Gegenspieler Carolus (= Charles d’Albert, Herzog von Luynes) klar, dass sich für das Land insgesamt und das Volk insbesondere durch den Machtwechsel innerhalb der Königspartei nichts ändert, sondern vor allem dadurch, dass das Oberhaupt der Adelsopposition, der bei dem Volk außerordentlich beliebte und eigentliche Sympathieträger in dem Stück, nämlich Prinz Henri de Condé, auch nach dem Sturz
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Schleder: Theatrum Europaeum, Bd. 6, S. 167. Zigler: Historisches Labyrinth, S. 428.
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Concinis weiterhin ungesetzlich eingekerkert bleibt.159 Die eigentliche politische Klugheit des Carolus (Luynes) besteht gerade darin, dass er Condé und das Volk gegeneinander und vor allen Dingen gegen Concini ausspielen kann und letztlich als lachender Dritter dasteht. Der eigentliche Grund für den Hass des Volks auf Concini ist, dass er ein Ausländer ist.160 Gleich zu Beginn des Dramas hört man davon, dass ein einfacher Schuster namens Piccart, der als Torwache Dienst tat, Concini demütigte. Der mächtigste Mann im Staat kam gerade mit seinem Gefolge von einer Spazierfahrt zurück, wird aber am Stadttor von Paris aufgehalten. Piccart hätte von der Gruppe „mit ernsten Worten begehrt, sie solten melden wer sie wären, oder man würde keinen passiren lassen“ (1, 19). Er würde ihn doch wohl erkennen, habe Concini gefragt, worauf der Schuster antwortete: „ich kenne dich wohl, aber wiltu zum Thore herein, so sage das Wort, das uns gegeben ist, oder wir tractiren dich als einen Verräther“ (1, 20). Carolus, dem diese Geschichte berichtet wird, ist überaus glücklich darüber, denn wenn die Untertanen keinen Respekt mehr vor der Obrigkeit haben, ist dies gemeiniglich ein „Vorboten“ von deren Sturz, überlegt er bei sich: „dieser geringe Schuster hat ein Prob-Stücke abgeleget, daran die Fürsten selbst erkennen mögen, wie leicht ein solcher Ausländer könne verachtet werden“ (1, 21). Abgesehen davon, dass man an diesem Satz ablesen kann, dass es der Initiative des Volks bedurfte, die Beseitigung des „hochmüthigen Tyrannen“ (1, 77) in Angriff zu nehmen, kann man ihm den in diesem Fall ausschlaggebenden Grund für die Initiative des Volks entnehmen: Concini ist „Ausländer“. Quer durch alle Stände geht der Hass gegen „den frembden Kerlen“ (1, 75): für Piccart ist er ein „ausländischer Hunds-Kopff“ (1, 78), für die Adligen ein „Italiänischer Bluthund“ (1, 78), für die Höflinge um Carolus ist er der „Italiänische Hund“ oder schlicht der „Italiäner“ (1, 19), für die bourbonische Fürstenmutter Charlotte von Condé ein „Italiänischer Sclave“ und „verfluchter Ausländer“ (1, 76), selbst König Ludovicus nennt ihn lediglich einen „hochmüthigen Ausländer“ (1, 40). Concini selbst weiß um seine Unbeliebtheit deswegen; er selbst nennt sich einen „armen Ausländer unter so viel Feinden“ (1, 32). Ausländerhass ist ein in der Literatur um 1700 verbreitetes Motiv. Das mag in einer Zeit europäischen Gelehrtentums überraschen, doch ist der briefliche Austausch in einer kosmopolitischen Gelehrtenrepublik Eines und die Gefühle gegenüber Ausländern als Schergen der Obrigkeit oder an der Spitze des Staats ein An159
Als der Hofnarr Courage zuletzt Carolus darauf hinweist, dass er Condé frei lassen müsse, wenn die „neue Ordnung“ gerechter als die unter Concini sein soll, verbietet der neue starke Mann seinem Narren kurzerhand den Mund (1, 147). Daraufhin wird dem Narren, der ja oft genug eine überparteiliche Instanz repräsentiert, „bey eurem Dienste selber bange“, wie er Carolus gesteht. 160 So war der Fall des Marquis d’Ancre für Johann Wilhelm Neumair von Ramsla nicht nur ein Beispiel für den Aufstandsgrund Nr. XXX, sondern vor allem auch für Grund Nr. X (Von Auffstand der Vntern wider ihre Regenten und Obern sonderbarer Tractat. Jena 1633, S. 62f. u. 38f.); vgl. oben S. 55.
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deres. Im Ancre werden dafür auch Begründungen etwa der Art geliefert: „Es thut nicht sanffte, wenn man gedrucket wird, aber wenn es von einen Außländer geschiehet, so wird die Beschwerung noch einmahl so groß“ (1, 47), erklärt einer der „Fürsten vom Geblüte“ (1, 27). Nicht nur aus der Oberschicht hört man solche Töne, auch die zum „Volck“ gehörenden „Bürger“161 überlegen sich: HUGO [ein Hugenotte]. Man weiß wol, wie gehorsam die Frantzosen ihren Königen sind, und wie gedultig sie alle Beschwerungen über sich nehmen: Aber wenn die Ausländischen Hunde die Edicte schreiben, und der König selber nicht weiß, wem zu gute die Schatzungen eingefodert werden, so möchte der Hagel den Exequirern ins Hertze schlagen. ROLLO [ein Katholik]. Man könte auch einem grausamen Könige noch unterthänig seyn, wenn er vor sich grausam wäre: indem er sich aber zu einen [sic] Sclaven frembder Grausamkeit machet, so haben wir die Brieffe davon, dass wir allemal sollen stille schweigen. HUGO. Der Italiänische Hund ist König: Ludovicus ist nicht viel besser, als ein todtes Bild. (1, 77.)
Das aber ist ein Zustand, den das Volk nicht lange hinzunehmen bereit ist. Dass das Volk sich nicht von „Fremden“ regieren lassen will, thematisierten auch andere Dramatiker des 17. Jahrhunderts, ich nannte schon Calderóns La vida es sueño; dort begründet der Volksvertreter die revolutionäre Erhebung der gemeinen Leute wie erwähnt nicht zuletzt damit: „das Volk […] erträgt nicht, dass ein Fremder ihm befehle“.162 Das Volk regiert: Masaniello Tommaso Aniello […], ein armer Fischer und Obsthändler. Er hatte den hohen Geist, den die wahre Liebe zur wahren Freiheit auch dem niedrigsten Bürger eingibt (Ludwig Börne).163
Zuletzt bleibt noch – auch im Sinne einer Zusammenfassung – am Beispiel des Masaniello-Dramas zu beobachten, wie Weise eine demokratische Regierung darstellt. Denn die neapolitanische Revolution von 1647 ist das einzige von ihm literarisch umgesetzte Beispiel in der Geschichte, wo die Plebejer den Aufstand nicht nur proben, sondern auch siegen und eine Volksrepublik begründen. Anfänglich war – wie gesagt – die Revolte des neapolitanischen Volks einer der oben erwähnten defensiv orientierten Aufstände; rasch aber radikalisierte sich der Auf161
„Bürger“ ist wie „Bauer“ eine lokal bestimmte Standesbezeichnung. Deswegen zum Beispiel ist es sinnvoll, dass man die beiden, die sich als „zwey Bauern, aus zwey Dörffern“ vorstellen, fragt: „Was ist eure Profession?“ (2, 356). „Bürger“ heißt einer aus dem „Volck“, der in der Stadt lebt, „Bauer“ ein solcher, der auf dem Land lebt. Über ihren Beruf ist damit noch nichts gesagt. 162 Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ist ein Traum. Schauspiel in drei Akten. Nachdicht. v. Eugen Gürster. Stuttgart 1955, S. 66. 163 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. 5 Bde. Hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Dreieich 1977, Bd. 1, S. 312.
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stand und man wollte den Staat grundsätzlich im Sinne des guten alten Rechts neu ordnen, was dazu führte, diese Revolte zu einer der ersten legalistischen zu erklären.164 Aus der Hungerrevolte wurde eine politische Revolution. In Weises Drama nimmt der Aufstand diesen Verlauf: Man hat die Zollhütten der Regierung niedergebrannt, die Gefängnisse aufgebrochen, sich zu zehntausend Menschen mit Piken, auf die Brot und Lumpen gesteckt sind, vor dem Königspalast versammelt und fordert die Abschaffung des „Frucht- und Mehl-Zolles“ (1, 179). An diesem Punkt setzt das Drama ein, und zwar bezeichnenderweise, indem zunächst die Vorgänge aus der Perspektive der bedrohten Obrigkeit geschildert werden. Im Palast glaubt man nämlich noch, selbst Herr der Lage zu sein. Man verspricht dem Volk in einem „Revers“, geeignete Maßnahmen zur Beendigung der Not zu ergreifen. Der Bescheid, dass „die Zölle sollen gemindert oder gar abgeschaffet werden“, wird von dem Volk auf die übliche demokratisch-egalitäre Art „in Deliberation“ genommen und nach Auszählung der „Vota“ als unglaubhaft eingeschätzt (1, 180). Das Volk stürmt daraufhin den Palast. Mit dieser Tat aber hat das Volk gleichsam den Rubikon des noch Üblichen überschritten; nunmehr gilt es, die „gegenwärtige Revolution“ (1, 261), wie man seitens des Volks terminologisch präzise sagt, bis an ihr entweder bitteres oder glorreiches Ende zu führen. Rasch radikalisiert sich die Revolte und man verlangt nicht mehr bloß die Abschaffung dieser oder jener Steuer, sondern die völlige Restitution „der alten Freyheit“ (1, 193). Da die Soldaten „insgesamt ihr Gewehr niedergelegt“ haben (1, 182), können die „Rebellen“ ihre Forderungen durchsetzen. Sie bekommen das Privileg Karls V. ausgehändigt und die feierliche „Sanction“ des Vizekönigs, „dass alle und jede Zölle und Aufflagen in der Stadt Neapolis und selbigen gantzen Königreiche, so nach der Zeit Keysers Caroli V. Hochsel. Andenckens, biß auf diese Stunde auffgelegt worden, gäntzlich cassiret und abgeschaffet seynd“ (1, 261). Außerdem wird eine Generalamnestie für alle während der Revolution etwaig vorgefallenen Rechtsbrüche ausgesprochen. Zu diesem Erfolg der Revolution konnte es kommen, weil man die Fähigkeit des Volks zum politisch eigenständigen Handeln seitens der spanischen Regentschaft unterschätzte. Zum einen glaubt Vizekönig Roderigo, dass eine „Rebellion“, die sich „kein Haupt erwehlen kan“ (1, 165) zum Scheitern verurteilt ist, weil die Masse zwar eine Aktion unaufhaltsam durchziehen kann, aber wegen ihrer bereits dargelegten internen Entscheidungsstruktur zu langsam ist, sich flexibel auf schnell wechselnde Situationen einzustellen, so dass man sie recht bald wieder unter Kontrolle haben würde. Zu seiner Bestürzung muss er aber erfahren, dass dieses Haupt gefunden sei, nämlich ein gewisser Masaniello. Die Reaktion des Vizekönigs auf diese Nachricht ist bezeichnend und offenbart seinen zweiten Irrtum. Er sagt: „Ich 164
So Enrico Cenni, zit. bei Benedetto Croce: Storia del Regno di Napoli. Bari 1925, S. 4: „il primo esempio d’una rivoluzione legale“.
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kenne keinen Fürsten, der Masaniello heist“ (1, 165). Er erwartet, dass nur ein von außen zum Volk stoßender Oberschichtler in der Lage ist, das Volk zielgerichtet zu führen. Diesen Irrtum teilt er mit den meisten Herren seiner Zeit: Zum Beispiel beruht auch darauf die Hoffnung des Marschalls von Biron, dessen Plan ja vorsieht, dass das Volk nach begonnenem Aufstand ihn selbst zum Führer wählen würde (3, 224); bekannter ist die Formulierung dieses Irrtums aus Shakespeares 2 Henry VI (II/2, V. 125ff.), wo es heißt: „Das Volk wie ein erzürnter Bienenschwarm, / Der seinen Führer mißt, schweift hin und her / Und fragt nicht, wen es sticht in seiner Wut“.165 Doch das Volk ist sehr wohl in der Lage, aus sich heraus Führungsstrukturen zu entwickeln, die dem demokratisch-egalitären Ideal verpflichtet sind und das Volk zugleich in die Lage versetzen, es mit der meist effektiver organisierten Hierarchie der Herrschaft aufzunehmen. Arlette Farge hat diesen Vorgang am Beispiel eines temporären Anführers im Pariser Tumult von 1750 dargestellt;166 Weise führte ihn in seinem Drama vor. Denn der Unterschichtler Masaniello ist nicht der von außen zu der Menge tretende und sie (ver)führende Duce, sondern ein aus ihrer Mitte gewählter Capopopolo, einer der von „dem gesamten Volcke“ wider Willen zum „General bestätigt“ wurde (1, 213). Dass Masaniello während des Aufstands eine wichtige, wenn auch noch nicht näher bestimmte Rolle spielt, erfahren Leser und Zuschauer zwar indirekt schon vorher, doch dramaturgisch geschickt ließ Weise ihn erst nach Erstürmung des Palazzo Reale, das heißt im „Vierzehenden Aufftrit“ des ersten Akts, die Bühne betreten; nämlich dann, als sich die Ereignisse soweit zugespitzt haben, dass das Volk nicht mehr jeden Vorgang in seiner Gesamtheit umständlich „in Deliberation“ nehmen kann, so dass es eines Menschen bedarf, der das Vertrauen des Volks besitzt und notfalls auch Entscheidungen in Eilkompetenz fällen kann. Doch selbst in dieser Situation tritt Masaniello nicht als „absoluter Monarch“ auf,167 sondern als primus inter pares. Es ist bemerkenswert, wie Weise den kollektiven Führungsstil der Volksrebellen inszeniert. Bereits in der genannten Szene, die Masaniello erstmals auf die Bühne führt, tritt er nicht isoliert auf, sondern innerhalb einer Gruppe von Rebellen, die ihrerseits nicht abgeschlossen von dem übrigen Volk agiert („Masaniello, Geonino, Mattheo, Vitale samt etlichen Bürgern“, heißt die Szenenanweisung zu I/14). Dies wiederholt sich in den meisten der anderen Szenen, wo es um wichtige
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Shakespeare: Complete Works, S. 16113 (im Englischen durch die Polyvalenzen der Wörter „to want“ und „revenge“ deutlicher als in der zitierten deutschen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel; vgl. ebd., S. 2900: „The Commons like an angry Hiue of Bees / That want their Leader, scatter vp and downe, / And care not who they sting in his reuenge“). 166 Vgl. Arlette Farge u. Jacques Revel: Die Logik des Aufruhrs. Die Kinderdeportationen in Paris 1750. Frankfurt a.M. 1989, S. 63–67; Arlette Farge: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989, S. 312. 167 So denunzierte ihn Weise im „Innhalt“ (1, 154).
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Entscheidungen geht, die stets in gemeinsamer Beratung (selbst wenn diese aus wildem Durcheinanderrufen besteht) getroffen werden. Der abtrünnige Priester Geonino und Masaniellos vertrauter Freund Arpaja, der Schreiber Vitale, der Käsehändler Formaggio, der Bandit Furfante haben gleichermaßen Wichtiges zu sagen. Sie reden auch meist in der Wir-Form (1, 188–191). Man kann dies in fast allen Szenen beobachten, welche die Revolutionsregierung um Masaniello bei der Arbeit vorführen (1, 213f.; 237–244; 255ff.; 281–285). Kennzeichnend für diese Art kaum hierarchisierter Führung ist beispielsweise die letztgenannte Szene, in der Arpaja, Vitale und Geonino ein Problem benennen, diskutieren und eine Lösung beschließen, ohne dass Masaniello dazu ein Wort sagt; lediglich zum Schluss liefert er eine Art Ergebnisprotokoll in Form des bekannt zu machenden Dekrets (1, 285). Umgeben sind die vier sprechenden Personen in dieser Szene außerdem von all „den andern“ Rebellen, die zwar stumm, doch als Masse, in welche die Protagonisten eingebettet sind, Lesern und Zuschauern präsent bleiben. Während die Gegner des Volks stets nur den einen Masaniello als Herrn der Stadt sehen, begreifen sich die Revolutionäre gemeinschaftlich im Plural als „Herren über Neapolis“ (1, 282). Es ist dies, wie man sieht, nur eine Frage der bei Weise meisterhaft in Szene gesetzten Perspektive und der gewohnten Lebensform. Der absolutistisch strukturierte Hof ist auf eine Zentralfigur orientiert und erwartet diese auch bei allen anderen Gruppen; das demokratisch strukturierte Volk kennt diese Zentralfigur an sich nicht. Dementsprechend versteht sich Masaniello, der seinen Gegnern als „ein absoluter Monarch“ erschienen sein mag, als Diener der Gemeinschaft und will aus seiner Stellung keinerlei persönlichen Nutzen ziehen: So bald die Sache wird in einen ruhigen Stand gediehen seyn, und so bald unser Volck die alte Freyheit wiederum besitzen wird, so bald wil ich auch meinen Regiments-Stab mit einem Fischer Angel vertauschen, und die vorige Vergnügung meines Lebens desto frölicher geniessen (1, 213).
Allerdings wird er an der Verwirklichung dieses Vorsatzes später vor allem durch seine Verwandten gehindert, die Geschmack am „gläntzenden“ Leben der „vornehmen Leute“ (1, 325) bekommen haben, durch seine Gegner, die ihm eine zentrale Führungsrolle aufzwingen, die ihm zuwider ist (1, 321: „sehet wie wird ein ehrlicher Mann genöthiget, wieder seinen Willen stoltze Kleider zutragen“) und dadurch, dass „die Sache“ in keinen „ruhigen Stand“ mehr kommt, weil der menschliche Eigennutz in allen Ständen über die Idee vom Gemeinwohl den Sieg davon trägt. Die Revolution des Volks scheitert Allerdings scheiterte die Volksrevolution des Jahres 1647 bekanntlich, wenn auch anders als in Weises Drama historisch gesehen nicht mit Masaniellos Tod, sondern erst zehn Monate später. Doch mag es einem Schriftsteller aus dramenökonomi175
schen Gründen erlaubt sein, dieses Scheitern mit dem Schicksal seines Protagonisten zu verknüpfen. Entscheidend kommt es in diesem Zusammenhang auf die Erklärung dieses Scheiterns an, die Weise anbot. In seiner Darstellung ist es nämlich der Verlust der demokratischen Strukturen im Volk, der letztendlich den Erfolg des Ancien Régime ermöglicht. Dass die alten Herren am Ende, nach einigem „Schrecken, auch wohl mit Schaden“ (1, 372; „Nachredner“), denn doch noch den Sieg über die Volksrevolution feiern können, liegt nicht an ihrer per se überlegenen moralischen Kompetenz oder militärischen Potenz, sondern an der Korruption der Revolution. Dieser Vorgang wird von Weise doppelschichtig angelegt. Erstens schaffen es die Herren unter Anleitung des gewieften Politikers Philomarini, dem Capopopolo Masaniello das Vertrauen des Volks zu entziehen, wie ich es oben bereits anhand der sogenannten „Kleiderszene“ darstellte. Sie erreichen es, indem sie Masaniello als einen der Ihren behandeln und ihn derart aus der Verbundenheit mit dem Volk lösen. Dramaturgisch setzt Weise diesen Vorgang so um, dass er Masaniello zunehmend isoliert auftreten lässt, also ohne seine Vertrauten und die andern Rebellen. Indem sich Masaniello scheinbar den Vertretern des Ancien Régimes angleicht, wird er zunehmend zu einem auch im Volk verhassten Autokraten. Daran ändert auch nichts, dass Masaniello persönlich unbestechlich erscheint und erst durch ein äußeres Mittel, nämlich das ihm beigebrachte Gift, zu unsinnigen Handlungen verleitet wird.168 Zweitens aber führte uns Weise ein Volk vor, dass sich auf Grund seiner politischen Unreife auch auf niederer Ebene korrumpieren lässt. Ich habe bereits die Familie Masaniellos erwähnt, die sich von den Annehmlichkeiten der Macht (Reichtum, Konfekt, Diener) blenden lässt. Noch in zahlreichen anderen Szenen führte Weise vor, wie das Geld die Ideale der Revolution von innen heraus korrumpiert, weshalb letztlich der Versuch der Errichtung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen scheitern muss. Zu Anfang der Volkserhebung kann Masaniello noch die Ideale der Revolution hochhalten und setzt durch, dass die Reichtümer der geplünderten Adelspaläste 168
Weise relativierte dadurch, dass er dem Gifttrunk eine solche Bedeutung gibt, die ansonsten im Drama bereits angeführten Gründe, die Masaniellos Geisteszerrüttung ebenfalls – und zwar von innen heraus, wie es sich Lessing später wünschte – motivieren könnten. So bemerkt man seitens seiner Gegner mit Befriedigung, dass sich Masaniello aus Verantwortungsgefühl übernimmt. Er wird „in wenig Tagen seine Vernunfft verliehren“ (1, 310) vermutet bereits in der Mitte des vierten Akts der in keinerlei konterrevolutionäre Vergiftungspläne eingeweihte Mönch Bonavita (welcher der Revolution sogar einiges verdankt und trotzdem ein Gegner derselben ist): Masaniello „nimt sich keine Zeit, zum Essen und zum Schlaffe: sondern Tag und Nacht ist er in solcher Action, dabey sich ein geübter Staats-Mann ruiniren könte, ich geschweige denn ein solcher Fischer-Knecht“ (ebd., 311). Dass es Masaniellos Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl ist, das ihn sich aufreiben lässt, bestätigen auch seine ärgsten Gegner: „Viel Wachen, wenig Essen, und viel Sorgen machen auch einen klugen Kerlen zum Fantasten.“ „Ich höre, wenn er sich nach Mitternacht zu Bette geleget hat, so hat er in einer Stunde die Frau mit dem Ellbogen in die Seite gestossen, und dabey gesagt: Was, können wir schlaffen, und wir sind Herren von Neapolis?“ (ebd., 322).
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nicht verteilt, sondern verbrannt werden sollen, denn „wenn sich die Bürger in den Raub theilen wolten, so möchten sie unter sich selbst uneins werden“, wie einer aus der Führungsmannschaft sagt (1, 214), was es um jeden Preis zu verhindern gilt, aus taktischen Gründen (nur Einigkeit macht stark) wie aus ideologischen Gründen (Freiheit in einer eigentumslosen Gesellschaft).169 Doch bald muss Masaniello feststellen, dass „das Volck“ zwar „über seiner unverhofften Kühnheit gleichsam entzücket wird“, wie schon die Machthaber am Beginn des Aufstands beobachten (1, 165), dass aber dieses „Entzücken“ (Weise gebrauchte hier auf Grund seines exzellenten Sprachgefühls einen religiösen Terminus) kein vernünftiges politisches Bewusstsein im Volk entwickelt. Hier träumt man nämlich nicht von einer neuen und gerechten Gesellschaftsordnung, sondern bloß von einer Umkehrung der Rollen. „Wenn die armen Leute wollen Herren werden, so wirds darnach an Dienern fehlen: Deswegen macht unser Herr Gott mehr arme Leute als reiche, weil ein grosser Herr offt 20. 30. 40. Diener von nöthen hat“, überlegt sich einer der immerhin noch klügeren Fischer (1, 329). Dass es aber darum gehen könnte, den Unterschied zwischen Herren und Dienern überhaupt aufzuheben, vermag er sich nicht vorzustellen. Sein noch weniger nachdenklicher Genosse trägt zu der Frage, wie die Welt aussehe, wenn die „armen Leute wollen Herren werden“ lediglich bei: „Meinetwegen möchten die andern Leute alle arm seyn, wenn ich nur ein grosser Herr wäre“ (1, 329). Mit diesen Fischerkollegen hat Masaniello kurz zuvor ein Experiment angestellt, das ihn davon überzeugen musste, dass er – so sehr er selbst es stets wollte – nicht abdanken kann. Er, dessen „uneigennützige Entschlossenheit, zum Besten Anderer sein Leben zu wagen“, Lessing später nur bewundern konnte,170 travestiert eine Handlung des Vizekönigs Roderigo, um – so muss man unterstellen, da wir die Szene nur aus dem Bericht der beteiligten Fischer kennen, darüber aber nichts aus dem Mund Masaniellos erfahren – zu erfahren, inwieweit sich das knechtische Bewusstsein seiner Genossen schon emanzipiert habe. Er ruft seine Kollegen zusammen, fragt sie, ob sie Lust hätten Geld zu verdienen, und wirft „eine Handvoll Ducaten nach der andern in das Wasser, da mochte nun einer zugreiffen, wie er wolte“ (1, 328). Damit wiederholt er unter anderen
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Masaniellos erstes Auftreten wird von den Machthabern (in der Erzählung des „Marckt-Hauptmanns“) als das eines Messias interpretiert: Erstens ist er namentlich der wieder erstandene Aufstandsführer von 1547 (damals gab es ebenfalls einen Capopopolo namens Masaniello), vor allem aber „stehet er auff dem Marckte gleich als ein Quacksalber auff einem erhabenen Tische, und wil das gesamte Volck bereden; gleich wie Petrus der Fischer die Stadt Rom aus der Geistlichen Dienstbarkeit gerissen hat: Also wolte er als ein Fischer die berühmte Stadt Neapolis von der unerträglichen Dienstbarkeit befreyen“ (1, 165). Das utopische Ideal der Gleichheit aller in eigentumslosen Verhältnissen war historisch oft ein Kernstück der an evangelischer Armut sich orientierenden Aufstandsbewegungen aus dem Volk (vgl. Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. München 1984). 170 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11.2, S. 566 (an Karl Gotthelf Lessing, 14. Juli 1773).
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Umständen eine Handlung Roderigos aus dem I. Akt, die diesem dort die Flucht ermöglichte. Als Gefangener der Palaststürmer wirft Roderigo „sein Geld von sich“, worauf unter den Revolutionären eine Prügelei um die Dukaten entsteht. In dem Durcheinander, in dem sich alle Aufmerksamkeit auf das Geld richtet, kann Roderigo entfliehen (1, 191f.). Geonino, der Chefideologe der Revolution, kann mit seinen Ermahnungen kaum durchdringen („seyd ihr bezaubert, dass ihr noch nicht hören wollt?“), so sehr sind die Leute im Bann des Gelds. Es braucht einige Zeit, bis sie von ihrer „Blindheit“ lassen und aus der Benommenheit zu klarem Bewusstsein erwachen: „O verfluchte Thorheit, dass wir unser Glücke und die wunderschöne Gelegenheit um etliche kahle Ducaten dahin fahren lassen!“ (1, 192). Masaniellos Experiment am Ende des vierten Akts zeigt, dass sich nichts geändert hat. Es entwickelt sich unter den Fischern die gleiche Keilerei um die Dukaten, die Roderigo seine Flucht ermöglichte (1, 328f.). Nach vier Akten also muss Masaniello feststellen, dass das Volk so unreif ist wie zuvor. Die Erkenntnis, dass man das Volk mit despotischen Mitteln zur Freiheit zwingen muss (schon die Verbrennung der Reichtümer aus den Adelspalästen setzte Masaniello in einem ersten tyrannischen Akt durch, indem er die widersprechenden Argumente seiner Freunde kurzerhand für untauglich erklärte), wäre allerdings unabhängig von dem Gifttrunk Grund genug, den Verstand zu verlieren. An dem Widerspruch, der sich in der Formulierung von dem ‚Zwang zur Freiheit‘ bereits sattsam manifestiert, ist bisher aber noch jede revolutionäre Regierung gescheitert. Am Ende verschwindet das gute Ziel der Befreiung hinter den angeblich nur vorübergehend anzuwendenden Gewaltmitteln, mit denen es realisiert werden soll: Der Comité du salut public mutierte zu einer staatsterroristischen Vereinigung, die Diktatur des Proletariats zu einer Diktatur über das Proletariat. Eben das geschieht auch mit Masaniellos Revolution. Seine Herrschaft wird zunehmend autokratischer, seine Anweisungen willkürlicher, seine Despotie richtet sich gegen das eigene Volk (fünfter Akt). Schließlich suchen seine Mitstreiter bei Roderigo um Hilfe nach, um den Capopopolo zu stürzen (1, 348f.). Dass Weise diesen Prozess äußerlich motivierte (Zerrüttung der Verstandeskraft Masaniellos durch Überarbeitung, durch die verzweifelt machende Unreife des Volks, durch den verabreichten Gifttrunk) anstatt durch interne charakterliche Gründe, wie Lessing später vermeintlich verbessernd für eine neuerliche Bearbeitung des Masaniello-Themas vorschlug,171 scheint mir nicht die Schwäche, sondern im Gegenteil die Stärke des Weiseschen Ansatzes, der allein politische Vorgänge realistisch zu fassen vermag, während für die Charaktertragödie der politische Stoff nur ein Anlass der dramatischen Entwicklung ist, nicht aber deren Inhalt. Der Verzicht auf jedes Psychologisieren, den Jean-Paul Sartre an Dramatikern wie Marlowe, Calderón oder Corneille lobte,172 erlaubte es Weise, Glück und Misserfolg 171 172
Ebd., S. 567 (an Karl Lessing, 14. Juli 1773). Vgl. Sartre: Mythos und Realität des Theaters, S. 16f., 40, 45, 84f., 86f. und passim.
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politischen Handelns auf die Bühne zu bringen, indem er die objektiven Bedingungen dafür dramatisch analysierte. Weise musste Masaniello nicht charakterlich denunzieren, um dessen Scheitern zu motivieren. Das Volk scheitert mit seiner vorübergehend erfolgreichen Revolution im Masaniello, weil die Aristokraten die Volksrevolution korrumpieren können; die Mittel zur Korruption des Volks haben sie durch die Ausbeutung des Volks gewonnen und das Volk ist korrumpierbar, weil es ausgebeutet wurde. Aus diesem circulus vitiosus gibt es kein Entrinnen. Weise rechtete nicht mit diesen Zuständen, er stellte sie dar. In Weises Augen war es nicht Sache des Schuldramatikers, moralische Urteile zu fällen, sondern seinen Schülern die Welt in einem „Schattenspiele“ nahe zu bringen, und zwar so wie sie ist.173 Man hat sich in der Forschung gelegentlich die Frage gestellt, ob Weise beim Schreiben seines Dramas über die neapolitanische Revolution außer schriftlichen Quellen auch aktuelle Volksrevolten vor Augen hatte, und beispielsweise auf den relativ erfolgreichen „Aufstand der leibeigenen Bauern in Böhmen im Jahre 1680“ verwiesen: „Diese Vorgänge hatte man in Zittau aus größter Nähe miterlebt. Die Parallelen zwischen den neapolitanischen und den böhmischen Ereignissen sind augenfällig“, meinte Marianne Kaiser 1972.174 Das Bedürfnis Kaisers, einen direkten „Bezug des Masaniello-Dramas zu zeitgenössischen Ereignissen“ herzustellen, mag literaturwissenschaftlichen Realismuskonzepten, wie sie in der Zeit der Studentenbewegung verbreitet waren, geschuldet sein, es verleitet aber zu der sachlich nicht haltbaren Annahme, als habe Weise in dramatischer und historischer Verkleidung vornehmlich „die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kursachsen und der Oberlausitz“ oder der weiteren Umgebung Zittaus zum Thema machen wollen. Tatsächlich ähneln sich die Ereignisse der neapolitanischen und böhmischen Aufstände nur deshalb, weil sich alle Volksrevolten der Frühen Neuzeit, ja wie die geschichtliche Forschung inzwischen bestätigt, sogar des ausgehenden Mittelalters im Wesentlichen ähnlich waren, so dass die Historiker sich ermutigt fühlen, an allgemeinen Verlaufsmodellen für „Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300– 1800“ zu arbeiten.175 Man könnte sagen, dass auch Weise schon an solchen 173
„Daß sein Schultheater […] rein instrumentellen Charakter besitzt und auf praxisbezogene Bildung der künftigen Staatsdiener zielt, steht heute außer Frage“, behauptete Eberhard Mannack: Geschichtsverständnis und Drama. Zu Weises Masaniello. In: Daphnis 12 (1983) S. 111– 125, hier S. 115; vgl. generell Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen 1980. Den „offenen, polyperspektivischen“ Charakter des Masaniello-Stücks, „das undogmatisch mehrere Deutungsmöglichkeiten eröffnet“, betonten auch Kraft/Merzhäuser: Il caso Masaniello, S. 208. 174 Kaiser: Mitternacht – Zeidler – Weise, S. 158. 175 Peter Blickle nannte in seinem gleichnamigen enzyklopädischen Überblick (1988) einige Modelle (vgl. z.B. S. 82ff.); am Ende äußerte er noch einmal prononciert: „Für die städtischen Unruhen lassen sich markante Gemeinsamkeiten zwischen Mittelalter und Neuzeit erkennen“ (S. 101), und zwar auf Grund der gleichbleibenden Konfliktlage („Gemeinde contra Rat“), der gleichbleibenden Strukturprobleme („die Ehrenamtlichkeit politischer Ämter“) und der gleichbleibenden Problemlösung („Konsens durch Vertrag“). Gleiches gelte für die bäuerlichen
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allgemeinen Verlaufsmodellen arbeitete, wenn er Volksrevolten dramatisierte. Keineswegs meinte Weise mit dem neapolitanischen Aufstand den „Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern“,176 sondern er meinte tatsächlich den Aufstand 1647 in Neapel, der ihm aber zum Exempel für alle Aufstände wird: Zu Recht, weil die präzise Untersuchung eines Aufstands den Schülern ein Modell auch für andere, prinzipiell gleichartige Aufstände an die Hand gab, das sie auf zukünftige Unruhen vorbereitete. „Die Geschichte als Niederschlag menschlichen Handelns“ war für Christian Weise ein „Medium für die politische Bildung“ seiner Schüler.177
Unruhen des Mittelalters und der Neuzeit: „Die Gemeinsamkeiten sind zweifellos größer als die epochenspezifischen Eigenheiten“ (S. 102). 176 Vgl. Józef LeszczyĔski: Der Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern in den Jahren 1635–1720. Übers. v. Jurij MyĔk u. Pawo Nowotny. Bautzen 1964. 177 Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums, S. 61.
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Der Armen Schutz, der Unterdrückten Freund Gottscheds klassizistische Sittenlehre
zeigen: daß uns die Liebe zur Wahrheit eine […] heilige Pflicht […] seyn müsse.1
Zwei Jahre vor Weises Tod sprach der Hamburger Jurist und Opernschriftsteller Barthold Feind von seiner eigenen Gegenwart in Hinsicht auf die dramatische Dichtung als „sterbende[m] Seculum der Poeten“.2 Neue Kunstdramen wurden nicht mehr geschrieben, die Schultheaterbühnen waren verfallen, einzig die Oper und die Wanderbühne standen im Flor. Noch 1732 behauptete der Leipziger außerordentliche Professor für Poesie, Johann Christoph Gottsched (1700–1766), in der Vorrede zur ersten Auflage seines „Trauerspiels“ Sterbender Cato, dass „diese Art von Gedichten in Deutschland seit dreißig und mehr Jahren ganz ins Vergessen gerathen“ sei.3 Zu lesen gab es Anfang des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen noch immer die Ausgaben der Größen des vorigen Jahrhunderts, also von Opitz, Gryphius und Lohenstein;4 Gottsched las sie nach eigener Aussage als Student in Königsberg, fand aber an dieser Art Tragödie „keinen Geschmack“. Zu sehen gab es in dieser Zeit nur populäre Adaptationen der klassischen Stücke des 17. Jahrhunderts aus ganz Europa auf der Wanderbühne: „Lauter schwülstige und mit Harlekins-Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staats-Actionen“, wie Gottsched behauptete, „lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam“.5 Das einzig gute Stück, das Gottsched Mitte der 1720er Jahre auf der Bühne gesehen haben will, war eine Prosa-Übersetzung von Corneilles Cid (1636), mit dem die klassizistische Dramendichtung in Frankreich ihren Anfang nahm. „Dieses gefiel mir nun, wie leicht zu erachten ist, vor allen andern, und zeigte mir den großen Unterscheid zwischen einem ordentlichen Schauspiele und einer regellosen Vorstellung der seltsamsten Verwirrungen auf eine sehr empfindliche Weise“.6 1 2 3
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Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 in 24 Bdn. Hg. v. Joachim Birke bzw. P. M. Mitchell. Berlin 1968–1987, Bd. 9.2, S. 491. Barthold Feind: Deutsche Gedichte. Erster Theil. Stade 1708, S. 333 (Vorrede zum Sueno). Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato. Im Anhang: Auszüge aus der zeitgenössischen Diskussion über Gottscheds Drama. Hg. v. Horst Steinmetz. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1984, S. 5. Lohensteins Dramen zum Beispiel wurden bis Mitte des 18. Jahrhunderts noch mehrfach aufgelegt: Sophonisbe und Cleopatra in Breslau 1708; Agrippina, Epicharis, Sophonisbe und Cleopatra in Leipzig 1724; Agrippina, Epicharis, Sophonisbe, Cleopatra, Ibrahim Bassa und Ibrahim Sultan in Leipzig 1733; Sophonisbe und Cleopatra noch einmal in Leipzig 1748. Gottsched: Sterbender Cato, S. 7. Ebd., S. 7.
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Gottsched fasste nun den ehrgeizigen Plan einer Erneuerung der deutschen Schaubühne aus dem Geist des Klassizismus. Er studierte die humanistischen Poetiken und Aristoteles-Kommentare, er las die französischen Hauptwerke des 17. Jahrhunderts, machte sich mit zeitgenössischen Überlegungen zum Drama aus Italien und England vertraut. Er übersetzte selbst einige Muster und regte weitere Übersetzungen an. Seit 1729 publizierte er die Früchte seiner Studien. In der Rede Die Schauspiele und besonders Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen versuchte er den Nutzen der dramatischen Dichtkunst für das Gemeinwesen zu beweisen. Die Trauerspiele seien „eine Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine Aufmunterung zur Tugend, eine Züchtigung der Laster.“ Anders als die philosophische Sittenlehre argumentierten die Spiele aber mit anschaulichen „Exempeln“, weil solche „einen stärkern Eindruck ins Herz“ machen und so „die Gemüther der Menschen“ leichter „von gewissen Wahrheiten überführen“ als alle Appelle an die Vernunft. Mehr noch: Für den vom inneren Kreis des Hofs ausgeschlossenen Poeten sei es ausschließlich möglich, „durch die Bilder“ mit der „Wahrheit“ „vor“ die „Augen und Ohren“ der „Großen und Gewaltigen dieser Erden“ zu „dringen“.7 Gottscheds dramatische Sittenlehre galt also einerseits den Menschen an sich, andererseits verfolgte er damit nach wie vor das Ziel einer Fürstenlehre, nur dass er anders als die Schriftsteller des 17. Jahrhunderts nunmehr von außen das Ohr und das Auge des Herrschers zu erreichen suchte, weil sich Fürstenstaat und Gelehrtenrepublik getrennt hatten.8 In dem Ende 1729 publizierten Versuch einer Critischen Dichtkunst reformulierte Gottsched den Zweck der Tragödie. Von einem möglichen Einfluss auf die „Gewaltigen dieser Erden“ ist keine Rede mehr. Nunmehr ging es ihm einzig um den Erweis einer oder mehrerer moralischen Wahrheit(en). Die dramatische Einkleidung eines „moralischen Lehrsatzes“9 diene im Wesentlichen seiner leichteren Fassbarkeit für solche, denen die nackte Sittenlehre „zu mager und zu trocken“ sei.10 In diesem Zusammenhang formulierte Gottsched in Anlehnung an René le Bossu (Traité du poème épique, Paris 1693; nouvelle édition revidée et corrigée, Paris 1708; I. Buch, 7. Kap.)11 sein berüchtigtes Konzept zur Herstellung einer 7
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Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1982, S. 5f., 8 u. 10. Die Zielsetzung dieser Rede unterscheidet sich kaum von den Ansprüchen der Dramatiker des 17. Jahrhunderts. Gottsched begann seine Theaterreform mit dem Vorschlag der Wiederaufführung von Gryphius’ Stücken (vgl. Gottsched: Sterbender Cato, S. 7). Vgl. Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, hier S. 237f. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig 1751, S. 161. Ebd., S. 167. Vgl. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. 5 Bde. Berlin 1937–1967, Bd. 2, S. 486f.
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Tragödie: „Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz“; hernach ersinne man sich eine ganz allgemeine „Begebenheit, […] daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt“; oder der Poet suche „in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet ist: und von diesen entlehnt er die Namen, für die Personen seiner Fabel“.12 Zehn Jahre später formulierte Gottsched in den Critischen Beyträgen (24. Stück, 1740) noch einmal im Anschluss an Daciers Aristoteles-Interpretation: „Der Poet hat nicht die historische, sondern die moralische Wahrheit zum Zwecke.“ Inzwischen war diese Einstellung zu einem Gemeinplatz der deutschen Aufklärung geworden, der die ästhetische Reflexion von Lessing bis Goethe nachhaltig prägte. Lessing sprach einmal bekräftigend von dem „garstigen breiten Graben“ zwischen der nur relativen historischen Wahrheit und der angestrebten absoluten moralischen Wahrheit; „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“.13 Zugleich bemängelte Lessing in seiner Polemik gegen Gottsched, dass dieser in dem „schülerhaften Wahne“ stünde, „dass der Dichter an einer Begebenheit, die er auf die tragische Bühne bringen wolle, weiter nichts ändern dürfte, als was mit den Einheiten nicht bestehen wolle, im übrigen aber genau bei den Charakteren, wie sie die Geschichte von seinen Helden entwirft, bleiben müsse“ (63. Literaturbrief).14 Lessing bemerkte bei seiner Lektüre, dass Gottsched – anders als er es theoretisch formuliert hatte – in seiner Dichtung sehr wohl Wert darauf legte, dass die Stücke „der Wahrheit und der Geschichte gemäß“ seien (Deutsche Schaubühne, Bd. 6).15 Dies liegt vor allem an der originellen Auffassung von „Wahrscheinlichkeit“, die Gottsched hatte. Im Versuch einer Critischen Dichtkunst heißt es einmal, dass für die Tragödie zwar ein historischer Stoff nicht unabdingbar sei, dass aber
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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 611; vgl. ebd., S. 27 Anm. 60: „Die Seele des Heldengedichts und einer Tragödie ist die Fabel, die der Poet erdichtet, nicht aber eine wahrhafte Historie: wie sich viele fälschlich einbilden. Wenn die Fabel erdacht ist, alsdann sucht der Poet in der Historie erst eine ähnliche Begebenheit, und giebt seinen Personen die bekannten Namen aus derselben, damit sie desto wahrscheinlicher werde.“ Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 8, S. 12f. (Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 1777). Lessing: Werke, Bd. 5, S. 209 (Briefe, die neueste Literatur betreffend, Nr. 63, 18. Okt. 1759). Wahrscheinlich bezog sich Lessing auch auf die Stelle der Critischen Dichtkunst, wo Gottsched schrieb, „dass ein Poet die Personen, die aus der Historie schon bekannt sind, genau bey dem Charactere lassen müsse, den man von ihnen längst gewohnt ist.“ (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 619) Sicher aber bezog er sich auf die Vorrede zur Parisischen Bluthochzeit, wo Gottsched die historische Treue seines Stücks betonte; lediglich einen „Umstand“ habe er geändert, da ihn „beyzubehalten“ „die Regeln der Schaubühne gehindert“ hätten (unpaginierte Vorrede zu: Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottscheden. Sechster Theil. Leipzig 1745). Dass alle drei Trauerspiele Gottscheds „ziemlich quellentreu“ sind, ja dass sich Gottsched „viel enger an seine Quelle“ hielt, als man nach seiner „Theorie erwarten sollte“, betonte auch Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 20.
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die „tragischen Fabeln […] am besten sind, wenn sie aus den Geschichten gezogen werden“;16 denn historisch beglaubigte Fabeln sind glaubhafter und damit wahrscheinlicher als erfundene.17 Anders als Aristoteles, der das Faktische oder Wahre zu Gunsten des Möglichen oder Wahrscheinlichen abwertete,18 betonte Gottsched, dass auch in der Philosophie die „Wahrheit“ das Primäre sei. Die „Wahrscheinlichkeit“ dagegen war für ihn zu einem medialen (Theaterabend) oder sogar textimmanenten Problem geworden: Es mag während des Lesens manches wahrscheinlich wirken, das doch unmöglich ist, z.B. sprechende Tiere in äsopischen Fabeln. Was das angeht, war Gottsched ziemlich locker, ernst dagegen war es ihm mit der „Wahrheit“. Die „Wahrheit“ der Historie ist ‚empirisch‘, die der Philosophie dagegen ‚moralisch‘ – und bloß so unterscheiden sich die Gattungen.19 Die Dichtung nun bekam die Aufgabe zugewiesen, in gefälliger Form sowohl empirische wie moralische Wahrheit zugleich zu präsentieren. Sie liefere so dem Gelehrten ein moralisch abgesichertes ästhetisches Vergnügen und dem Ungelehrten einen „beliebten und lehrreichen Zeitvertreib“, der ihn unter der Hand mit moralischen Wahrheiten bekannt mache.20 Dichtung und speziell natürlich das Drama täten dies mittels „Nachahmung“, was Gottsched irreführend mit dem nicht mehr traditionell verstandenen Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ bezeichnete; die sei nämlich „nichts anders, als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was 16 17
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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 38 Anm. 92. Vgl. Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1992, S. 212f.: „Der Typus Historisches Geschehen, der texttypologisch von der dichterischen Wahrscheinlichkeit getrennt worden ist, wird […] wieder mit der Kategorie der Wahrscheinlichkeit unter das Dichterische subsumiert. In dieser Verwirrung der Begriffe hilft nur der Rückgriff auf die Moral. Durch sie ist sowohl das geschichtliche Faktum wie die Fiktion als wahrscheinlich unterstellt. Die Ungereimtheiten allerdings bleiben, wenn Gottsched einmal die geschichtliche Konstellation durch nützliche Episoden ergänzt, das andere Mal sich die Konstellation von der Geschichte vorschreiben läßt und sich dann mit einer Dynamik des Stoffes konfrontiert sieht, die er nur mit Gewaltsamkeiten eindämmen kann“. Die gleiche Problematik hatte auch schon Corneille in seinem Discours de l’utilité et des parties du poème dramatique 1660 beschäftigt: „Ce n’est pas qu’on ne puisse faire une tragédie d’un sujet purement vraisemblable, […] mais les grands sujets qui remuent fortement les passions […] doivent toujours aller au-delà du vraisemblable, et ne trouveraient aucune croyance parmi les auditeurs, s’ils n’étaient soutenus, ou par l’autorité de l’histoire qui persuade avec empire, ou par la préoccupation de l’opinion commune“ (Pierre Corneille: Œuvres complètes. Textes établis, présentés et annotés par Georges Couton. Bd. 3. Paris 1987, S. 118; in der deutschen Übertragung aus den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters. Stuttgart 1750, 1. St., S. 54f.: „Man kann zwar auch aus einem bloßen wahrscheinlichen Stoffe eine Tragödie machen […]. Allein diejenigen großen Vorwürfe, welche die Leidenschaften kräftig bewegen […] müssen allezeit mehr als die Wahrscheinlichkeit haben. Sie würden wenig Glauben bey den Zuhörern finden, wenn sie nicht entweder durch das Ansehen der Geschichte, welche mit Gewalt überredet, oder durch angenommene gemeine Meinungen […] unterstützt würden“). Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 28–31 (Kap. 9: 1451a–1451b). Vgl. zu diesem und dem folgenden Absatz die Einleitung oben S. 5f. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 167.
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wirklich zu geschehen pflegt; oder die Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur“.21 Also nicht: was in der Realität geschehen könnte, sondern: was zu geschehen pflegt. Nun können wir von einem Vorgang erst dann sagen, es gibt ihn wirklich, wenn er geschehen ist. Mithin kann das Drama nur historische Vorgänge thematisieren; stammt das Thema aber aus der Geschichte, darf es aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht beliebig verändert werden. Auf diese Art tritt die historische Quellentreue gewissermaßen „durch die Hintertür wieder ins Gebäude der Gottschedschen Ästhetik ein“.22 Tatsächlich sind alle drei Tragödien, die Gottsched schrieb, historische Schauspiele. Der Sterbende Cato schildert das Ende des römischen Republikaners Marcus Porcius Cato (95–46 v. Chr.), der sich selbst tötete, weil er nicht in einer Diktatur leben wollte. Die Parisische Bluthochzeit dramatisiert die Ereignisse der Bartholomäusnacht (24. August) 1572, in der am französischen Königshof zahllose protestantische Anhänger König Heinrichs von Navarra durch die katholischen Anhänger König Karls IX. von Frankreich ermordet wurden. Agis, König von Sparta schildert das Scheitern der „Revolution von oben“, die Agis IV. in den Jahren 245–241 v. Chr. durch Eigentumsumverteilung durchzuführen versuchte. Für alle diese Dramen gilt, dass sie sicher nicht so entstanden sind, wie es Gottsched im Versuch einer Critischen Dichtkunst empfahl. Man kann die Probe aufs Exempel leicht machen: Was soll denn der allgemeine moralische Satz zu den Dramen sein? Dass eine „zu hoch“ getriebene „Liebe zur Freiheit“,23 also die Übertreibung einer Tugend ins Unglück führe (Cato)? Dass standhaftes Bleiben bei einer Überzeugung für manche gut, für manche schlecht ausgeht (Bluthochzeit)? Dass „das Wunder aller Welt, der Fürsten Muster seyn“,24 zwangsläufig in der Katastrophe endet (Agis)? Das alles doch wohl nicht. Dass es sich bei der Bartholomäusnacht 1572 um die „allerschrecklichste Begebenheit, die sich in der neueren Geschichte zugetragen“ hat,25 handelt, hat Gottsched bewogen, die Parisische Bluthochzeit zu schreiben: also die von dem geschichtlichen Ereignis selbst ausgehende Faszination. Ebenso verhält es sich beim Sterbenden Cato. Noch bevor Gottsched sein Cato-Drama schrieb, äußerte er 1729 in einer Rede (Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen) am Ende der Aufzählung einiger bewundernswerter Helden: Da sehe ich endlich einen Cato allen Staatsstreichen des herrschsüchtigen Cäsars heldenmütig widerstehen und eine unglückselige Tugend dem triumphierenden Laster bis in den Tod selbst vorziehen. Alle diese und unzählige andere Bilder rühren mich in dem Innersten der Seelen. Ich bewundere solche Helden. Ich verehre ihre Vollkommenheit. Ich fasse einen edlen Vorsatz, sie 21 22 23 24 25
Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 198. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 275. Gottsched: Sterbender Cato, S. 17. Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2, S. 352. Unpaginierte Vorrede zu: Die Deutsche Schaubühne. Sechster Theil. Leipzig 1745.
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nachzuahmen, und fühle einen heimlichen Ehrgeiz, nicht schlechter als sie befunden zu werden.26
Also die Bewunderung für einen Märtyrer der Freiheit ließ Gottsched zur poetischen Feder greifen,27 nicht die Eignung dieses Vorfalls zur Demonstration einer moralischen Wahrheit. Gottsched hatte genug Gespür für den Eigenwert der empirischen Wahrheit eines historischen Ereignisses jenseits seiner Tauglichkeit für die allgemeine Sittenlehre.
Das Volk in Gottscheds Dramen Man stelle sich die Welt in ihrer ersten Unschuld vor. Ein freyes Volk, welches von keinen Königen und Fürsten weis, wohnt in einem warmen und fetten Lande, welches an allem einen Überfluß hat […]. Von schwerer Arbeit weis man daselbst so wenig, als von Drangsalen und Kriegen. Ein jeder Hausvater ist sein eigener König und Herr; seine Kinder und Knechte sind seine Unterthanen, seine Nachbaren sind seine Bundesgenossen und Freunde; seine Heerden sind sein Reichthum, und zu Feinden hat er sonst niemanden, als die wilden Thiere, sie seinem Vieh zuweilen Schaden thun wollen.28
Mit dieser Utopie versuchte Gottsched seinen Lesern das Wesen der „Schäferpoesie“, der Idyllendichtung klar zu machen: Das Gemälde eines Paradieses. Kein König, kein Edelmann, kein Krieg und kein Hunger sind hier bekannt; ohne Not leben die Menschen gleich und frei und in Freundschaft mit den andern. Alle? Nein, nur die Hausväter. Der vierte Stand bleibt ausgeschlossen. Die Knechte sind auch in dieser Utopie nicht an dem glücklichen Leben beteiligt. Über die Frauen wird nicht gesprochen. Gottscheds Paradies ist ein Garten Eden für Bürger. Dort gibt es keine Laster, keinen Ehrgeiz, keinen Betrug, keinen Diebstahl, keinen Streit, keine Untreue, keine Zoten, keinen Luxus, keine Metaphysik, dafür aber 26
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Gottsched: Schriften zur Literatur, S. 7; vgl. dagegen die Rede Cato ist nicht als ein unüberwindlicher Weiser gestorben (Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 9.2, S. 483–491), wo Gottsched gegen seine eigene Neigung zu einem „unvernünftigen“ Helden argumentiert, der – obwohl ihm die Möglichkeit zu einem anständigen Martyrium gegeben sei – den „verzagten“ Weg des Freitods geht; diese Position aber findet sich im Sterbenden Cato nicht; Gottsched differenzierte hier die Problematik und verteidigte implizit den Selbstmord aus Verantwortungsbewusstsein. Vgl. Arnd Beise: Untragische Trauerspiele: Christian Weises und Johann Elias Schlegels Aufklärungsdrama als Gegenmodell zur Märtyrertragödie von Gryphius, Gottsched und Lessing“. In: Wirkendes Wort 47 (1997) H. 2, S. 188–204, hier bes. S. 192–195. Darüber, dass Gottscheds Sterbender Cato Elemente der barocken Märtyrertragödie enthält, ist sich die Forschung einig (vgl. Renate von Heydebrand: Johann Christoph Gottscheds Trauerspiel ‚Der sterbende Cato‘ und die Kritik. Analyse eines Kräftespiels. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Hg. v. Wolfdietrich Rasch u.a. Bern 1972, S. 553–569, hier bes. S. 554–557; Helmut Arntzen: Von Trauerspielen. Gottsched, Gryphius, Büchner. In: Ebd., S. 571–585, hier S. 581, Thorsten Unger: Handeln im Drama. Theorie und Praxis bei J. Chr. Gottsched und J. M. R. Lenz. Göttingen 1993, S. 93 u. 111f.; Beise: Untragische Trauerspiele, S. 195). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 583.
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unangefochtenes Eigentum, und man wird bedient. Gottscheds Paradiesbürger können, „mit einem Worte, ganz tugendhaft und vergnügt“ sein.29 Diese Vorstellung ist von den plebejischen Schlaraffenland-Fantasien weit entfernt. „Als Adam grub und Eva spann, / wer war denn da ein Edelmann“, fragte sich auch der aufsässige Bauer der Frühen Neuzeit;30 doch in seiner Utopie gab es keinen Knecht, der die Arbeit erledigte, sondern die Arbeit selbst wurde geadelt; so schwebte es Johann und Georg in dem oben zitierten 2 Henry VI von Shakespeare vor (IV/2): „es steht doch geschrieben: arbeite in deinem Beruf; was so viel sagen will: die Obrigkeiten sollen Arbeitsleute sein; und also sollten wir Obrigkeiten werden.“31 Gottscheds Fantasie von dem aller Sorgen ledigen Landleben ist eine verbürgerlichte Form der antiken Sklavenhalter-Ideologie, die selbstverständlich davon ausging, dass es geborene Sklaven oder Knechte gibt, deren Existenz oder Anzahl für den Grad der Freiheit einer Gesellschaft irrelevant ist.32 Autark auf dem 29 30
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Ebd., S. 584. John Ball, der „tolle Prediger von Gent“ hielt am 13. Juni 1381 während des Volksaufstands in England, der unter Führung von Wat Tyler um Demokratie, Brot, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit kämpfte, „eine seiner flammenden Predigten über die berühmt gewordene Sentenz: ‚Als Adam grub und Eva spann, wer war denn da ein Edelmann?‘ Eine Frage, die durch die Jahrhunderte aktuell geblieben ist“ (Hellmut Diwald: Anspruch auf Mündigkeit. Um 1400– 1555. Frankfurt a.M. 1982, S. 30). William Shakespeare: Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 16139; vgl. S. 2925: „and yet it is said, Labour in thy Vocation: which is as much to say, as let the Magistrates be labouring men, and therefore should we be Magistrates.“ Johann bezieht sich auf den originell ausgelegten Apostel Paulus: „Ein jeglicher bleibe in dem Beruff, darinnen er beruffen ist. / Bist du ein Knecht beruffen, sorge dir nicht; doch kanst du frey werden, so brauche des viel lieber.“ (NT 1. Corinther 7, 20f.) Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Übers. u. hg. v. Franz F. Schwarz. Stuttgart 1989, S. 81–88 („Politeia“ 1254a–1255b); vgl. zur Diskussion dieses Problems in der ‚bürgerlichen‘ Philosophie Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und vom Bürger. Hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1918, S. 550– 557 („Der Herr hat sonach über den nicht gefesselten Sklaven ebensoviel Recht wie über den gefesselten; denn er hat über beide die höchste Macht und kann von dem Sklaven ebenso wie von jeder andern lebenden oder leblosen Sache sagen: Das ist mein. […] Wenn deshalb in einzelnen Staaten der Herr eine unbeschränkte Gewalt über die Sklaven hat, so ist diese aus dem Naturrecht entsprungen“); John Locke: Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt. Sozialphilosophische Schriften. Übers. v. Klaus Udo Szurda. Hg. v. Hermann Klenner. Leipzig 1980, S. 113f. u. 153f. („Abhandlung vom Staat“, Kap. 4); Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übers. u. hg. v. Horst Claus Recktenwald. 7. Aufl. München 1996, S. 70f., 318–320, 492–494 u. 579f.; John Millar: Vom Ursprung des Unterschieds in den Rangordnungen und Ständen der Gesellschaft. Übers. v. Herbert Zirker. Mit einer Einl. v. William C. Lehmann. Frankfurt a.M. 1985, S. 236–244 u. 260– 271; Charles de Secondat de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff. 2 Bde. Tübingen 1951, Bd. 1, S. 329–351; Louis de Jaucourt: Sklaverei (Encyclopédie, Bd. 5, 1755), sowie: Sklavenhandel (Encyclopédie, Bd. 16, 1765), beide in: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Übers. v. Theodor Lücke. Ausw. u. Einf. v. Manfred Naumann. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1985, S. 426–431 u. 766–768; JeanJacques Rousseau: Politische Schriften. Bd. 1: Abhandlung über die Politische Ökonomie. Vom Gesellschaftsvertrag. Politische Fragmente. Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1977, S. 64–71: „Es gibt also von Natur aus Sklaven, weil es – gegen die Natur – Sklaven gegeben hat. Gewalt hat die ersten Sklaven geschaffen […]. Seien wir uns einig, daß aus Ge-
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Land zu leben, war eine der Lieblingsutopien der Aufklärung33 – so empfiehlt in Gottscheds Trauerspiel Cato seinem Sohn, sich auf den väterlichen Landsitz zurückzuziehen, um dort „tugendhaft, verborgen, schlecht und recht“ zu leben, „fromm, den Göttern treu, doch keines Menschen Knecht“;34 „Alles entzückt“ Odoardo Galotti in Lessings späterem Trauerspiel an seinem ins Auge gefassten Schwiegersohn, „vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben“35 –, doch niemals war damit der Verzicht auf das Gesinde oder andere dienstbare Geister verbunden. So weit war die Dissoziierung von mittleren bzw. oberen Gesellschaftsschichten und dem sogenannten gemeinen Volk um 1730 bereits fortgeschritten,36 dass die Vorstellung, die Dienstboten, Tagelöhner und kleinen Bauern könnten ebenfalls als Freie und Gleiche neben den von adliger Unterdrückung befreiten Bürgern leben, völlig „absurd“ schien.37 Wenn Gottsched vor die Stadttore Leipzigs trat, konnte er nicht übersehen, dass es in der Wirklichkeit das „unschuldige, ruhige und ungekünstelte Schäferleben“, wie es die Idyllen besangen, nicht gab; „die Wahrheit zu sagen, der heutige Schäferstand, zumal in unserm Vaterlande, ist derjenige nicht, den man in Schäfergedichten abschildern muß“,38 meinte er: „Unsere Landleute sind mehrentheils armselige, gedrückte und geplagte Leute. Sie sind selten Besitzer ihrer Heerden; und wenn sie es gleich sind: so werden ihnen doch so viel Steuern und Abgaben auferlegt, daß sie bey aller ihrer sauren Arbeit kaum ihr Brod haben“ (ebenda). Das –
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walt kein Recht kommt, und daß man nur unter Zwang den gesetzten Gewalten gehorcht. […] Somit ist das Recht der Sklaverei, wie man es auch betrachtet, null und nichtig […]“ (gegen Hobbes, Grotius und Pufendorf); Immanuel Kant: Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 11, S. 208–217; Bd. 8, S. 395–397 u. 577–580; Bd. 12, S. 399; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969–1979, Bd. 3, S. 145–155; Bd. 7, S. 122– 126 u. 144; Bd. 12, S. 120–129. Vgl. Burghard Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat. Studien zur Darstellung des Landlebens im Roman des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1969, S. 3: „‚Wir leben uns‘, ist die Devise des Glücks. […] Deutlich wird […] der Gegenbildcharakter des ländlichen Ideals. Jenseits von ihm liegt die Welt der Intrigen, der falschen bürgerlichen Verhältnisse, der Sittenlosigkeit, und weitgehend auch die höfische Welt.“ Dedner zitierte Friedrich Maximilian Klinger: Das leidende Weib. Ein Trauerspiel (V/7). In: Sturm und Drang. Dramatische Schriften. Plan u. Auswahl v. Erich Loewenthal u. Lambert Schneider. 3. Aufl. Heidelberg 1972, Bd. 2, S. 9–64, hier S. 63f.: „Mir ist’s ganz wohl. Was kann uns fehlen? Wir haben alles. […] Sie haben uns eine Last abgenommen, da sie uns Vermögen und Ehrenstellen nahmen. Bruder, wir leben uns. […] Ja, wir leben uns.“ Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2, S. 99. Lessing: Werke, Bd. 2, S. 47. Vgl. oben S. 29–31. Vgl. Christian Weise: Compendium Politicum, Brevibus Capitibus sic adornatum, Ut Nobiliorum Parentum Filii Jam in Gymnasiis tum ad Latinam in differendo Extemporalitatem, tum ad Academica Studia præparari possint. Zittau 1682, caput VI, § 16: „Neque absurdum est, omnes simul esse Imperantes & Obedientes.“ Weise knüpfte an Aristoteles’ (Politik, S. 300; „Politeia“ 1317b) bekannte Freiheitsdefinition („daß man wechselweise beherrscht wird und herrscht“) an. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 582.
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allerdings unverschuldete, sondern durch Unterdrückung erzeugte – Elend hat Folgen, die Gottsched wenig Hoffnung in „das gemeinste Volk“ setzen ließ, wie er den ärmsten Teil des „gemeinen Volks“ bezeichnete, wenn er nicht umstandslos zu dem diffamierenden Begriff „Pöbel“ griff.39 Das „gemeine“ und erst recht das „gemeinste Volk“ habe eine „abgeschmackte“ und „niederträchtige“ Gesinnung, urteile nach seiner „betrüglichen Empfindung“ statt nach vernünftigen Gründen und neige dazu, sich „ein Recht zueignen [zu] wollen“, das ihm nicht zustehe. Es lebe seiner „sinnlichen“ Begierde und habe „so viel Laster“, dass es „als Muster der Tugend“ unglaubwürdig sei. Das „Urtheil des grossen Haufens“ sei überhaupt „die unbeständigste Sache von der Welt“ und „oft sehr verkehrt“. Der „vielköpfigte Götze“ namens „Pöbel“ sehe niemals „auf das innerste Wesen einer Sache“, sondern sehe sie immer „nur obenhin an“ und lasse seine „Augen“ durch allerlei Tand und Flitter „blenden“.40 Die Pointe von Gottscheds Invektiven ist allerdings, dass er in aestheticis den „Pöbel“ nicht allein im Parterre des Theaters lokalisierte, sondern auch in den Logen, wo Edelleute säßen, die „bey aller ihrer äußerlichen Hoheit des Standes, oder Pracht und Lebensart, kaum so viel“ verstünden, „daß sie ihren Namen recht schreiben können“, wie es im Versuch einer Critischen Dichtkunst einmal recht unverblümt heißt.41 In politicis sind dergleichen Volten nicht zu erwarten. Gottsched popularisierte in seinem Werk Erste Gründe der Gesammten Weltweisheit (1733; 7. vollst. Aufl. 1762) die Grundlagen der Leibniz-Wolffschen Philosophie. Dazu gehören auch die Lehren von der Gesellschaft überhaupt, vom Staat und kluger Einrichtung des gemeinen Wesens. In dem Text wird implizit unterschieden das Volk als abstrakte Instanz, die in einem Gemeinwesen Träger der Souveränität ist, die gesellschaftsvertraglich einer „Oberkeit“ übertragen wird und der man eidlich „Gehorsam“, „Treue“ und „Beobachtung der Gesetze“ schuldig ist, von dem real existierenden Volk als Gesamtheit der „Unterthanen“, wo bedauerlicherweise die „Klugen“ niemals in der Mehrheit sind, sondern immer der „dümmste Pöbel, der nur auf seinen Eigenutz sieht“ (2. Theil, § 466). Die ganze Staatslehre ist nun ein Versuch, ein Geflecht gegenseitiger Verpflichtungen zu knüpfen, das es dem Untertanen ebenso wie dem Regenten verbietet, „die gemeine Wohlfahrt seinen Privataffecten“ aufzuopfern (§ 751). Da nun „jeder Mensch von Natur nach seiner Freyheit“ strebe (§ 748), deren uneingeschränkter Verfolg aber zu „unordentlich[en]“ Verhältnissen führen, ja „die Armuth […] überhand“ nehmen würde, „wo alles gar nicht eingeschränket ist“ (§ 790), muss „eine weise Oberkeit“ vor allen Dingen verhindern, dass eine „gar zu große Ungleichheit in dem Vermögen der Bürger“ entstehe. Denn man wisse „aus
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Ebd., S. 22 u. 39. Ebd., S. 631, 96, 94, 95, 582, 95, 135, 469f. u. 545. Ebd., S. 298; vgl. ebd., S. 350, wo er über den „Pöbel“ herzieht, nicht ohne derer zu gedenken, „die ihm, auch wohl bey Höfen, an Sitten und Gedanken gleich sind“.
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Erfahrung, daß die überhand nehmende Armuth des Pöbels, und der große Reichthum einiger Bürger, Aufruhr und andere Unruhen zuwegen bringen kann.“ Dies „zu bewerkstelligen, muß dem Armen seine Arbeit gut bezahlet, der Handel und Wandel in Flor gebracht, der Wucher hart bestrafet, der ungerechte Reiche nie geschützet, und ein Überfluß von Lebensmitteln herbey geschaffet werden; damit sich niemand aus Noth und Hunger genöthiget sehen möge, auf unruhige Gedanken zu gerathen. Denn da des gemeinen Volkes allezeit die größte Menge ist; so ist es schwer, der Empörung desselben zu steuren, wenn es einmal rege geworden, und seine Kräfte zu merken angefangen hat“ (§ 423). Dass „des gemeinen Volkes allezeit die größte Menge ist“, wurde von Gottsched unhinterfragt vorausgesetzt. Die Vokabel „allezeit“ deutet bereits an, dass er hier mit einer anthropologischen Konstante rechnete, die er nicht zu begründen wusste; die Vokabel taucht auch in anderen Schriften auf, wo Gottsched über Eigenschaften des „gemeinen Volks“ sinnierte, zum Beispiel im Versuch einer Critischen Dichtkunst, wo es heißt, das Volk habe „allezeit mehr Geschmack an Narrenpossen […] als an ernsthaften Dingen“ gehabt.42 Da das Volk seit der Antike sich offenbar immer gleich blieb, war es für Gottsched auch kein Problem zuzugestehen, dass „allezeit Arme in einem gemeinen Wesen seyn werden“ (§ 792), selbst wenn es sich um die bestmögliche Republik handle.43 Und deren Unruhe zu verhindern, ist eine der vornehmsten Aufgaben der „Oberkeit“. Das geeignete Mittel dazu schien Gottsched ein relativ autoritär gedachter Wohlfahrtsstaat, der in alle Bereiche des sozialen Lebens regulierend eingreift. Aus dem Gesagten geht hervor, dass Gottsched vor allem der „Oberkeit“ die Möglichkeit, politisch zu handeln, zugestand; das gemeine Volk taucht in seiner Staatslehre fast ausschließlich als Objekt obrigkeitlichen Handelns auf, wenn auch nicht ausgeschlossen ist, dass es zu einem subjektiven Faktor der Geschichte werden kann, sobald es „seine Kräfte“ anfängt „zu merken“. Darüberhinaus ist das Volk im Sinne von Nation,44 d.h. als Gesamtheit aller Menschen in einem bestimmten Gebiet, die Instanz, die bei Gründung eines Staatswesens den Gesellschaftsvertrag beschließt (§ 399).45 42 43 44 45
Ebd., S. 631. „Die bürgerlichen Gesetze sind allezeit unvollkommen: und gesetzt, daß sie es nicht wären; so würden sie [es] doch, bey allmählicher Veränderung des gemeinen Wesens“ (§ 416). Vgl. Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000. Man dürfe es „kein Laster der beleidigten Majestät nennen, wenn ein ganzes Volk diejenige Macht und Gewalt, die es einem Regenten gegeben hat, bey verspürtem Misbrauche derselben, wieder zurück nimmt“, schrieb Gottsched in § 413: „Denn da ein Regent die Oberherrschaft, durch einen Vertrag, von dem Volke bekommen hat: so höret selbiger alsofort auf, das zu seyn, was er war, wenn er die Bedingungen seinerseits nicht getreulich erfüllet; das ist, wenn er die gemeine Wohlfahrt aus den Augen setzet.“ Ein Beispiel, das Gottsched anführt, ist der Fall des Königs Karl I. Stuart, den das englische Volk zu Recht seines Amtes enthoben und hingerichtet hätte; man bestrafe den Regenten „billig […] mit der Verbannung, dem Gefängnisse, auch
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In Gottscheds politischen Trauerspielen tritt – schon wegen der forciert propagierten Ständeklausel46 – ausschließlich die „Oberkeit“ bzw. Angehörige der zur Herrschaft qualifizierten Gesellschaftsschicht auf. Das heißt aber nicht, dass das Volk nicht als Bezugsgröße präsent sein kann. Im Sinne der Gesamtheit aller Untertanen ist es beispielsweise in Gottscheds Sterbendem Cato ‚anwesend‘, als politisches Subjekt in den beiden anderen Tragödien Parisische Bluthochzeit und Agis, wenn auch nicht in persona, sondern lediglich indirekt. Sterbender Cato In seiner ersten, als Muster geplanten Tragödie Sterbender Cato (1732) bezieht sich Cato stets auf die ideelle Gemeinschaft aller Bürger, hier ausgedrückt mit der altrepublikanischen Formel „Senatus populusque“, die Gottsched abwechselnd mit „Rath und Volk“ (V. 441/453)47 oder „Volk und Rath“ (V. 838/850) übersetzte, solcherart die Gleichwertigkeit beider Partner betonend.48 Allein Volk und Rat könnten im Staat Würden vergeben, hält Cato seinem Widersacher Cäsar entgegen, der ein „Tyrann“ sei, weil er sich die Souveränität von Rat und Volk aneigne. Gleichwohl spielt das Volk in diesem Drama außer als ideelle Bezugsgröße keine Rolle. Cato fühlt sich dem Volk abstrakt zwar verbunden, doch konfrontierte ihn Gottsched nicht mit dessen Willensäußerungen. Nachdem er sein Amt „durch freyer Bürger Wahl“ erhalten hat (wie Gottsched in seiner letzten Überarbeitung des Stücks den Vorgang der Würdenvergabe präzisiert; V. 454), ist er ihm nicht rechenschaftspflichtig, sondern nur das Verantwortungsgefühl eines ‚pater familiæ‘ schuldig: „Nichts ängstet mich so scharf, / Als euer aller Heil, ihr werthgeschätzten Freunde“, erkärt er seiner Umgebung (V. 1374f./1386f.). Letztlich ist sein Selbsttod auch Ergebnis dieser Gesinnung; zwar hätte er den Kampf gegen Cäsar, der aber aussichtslos war, auch bis zum letzten Mann ausfechten lassen können; doch
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wohl gar mit dem Tode; wenn sie etwas wider die Freyheit des Volkes, u[nd] Wohlfahrt des gemeinen Wesens unternommen hatten“ (§ 414). (Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 5.2, S. 282f.) Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6.1, S. 217; vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 163: nur „Helden und Prinzen gehören in die Tragödie“. Den zusammenhängenden Wortlaut der ersten Fassung des Cato (Leipzig 1732) druckten die Reclam-Ausgaben von 1887 (hg. v. Otto F. Lachmann) bzw. 1964 (hg. v. Horst Steinmetz), den Text der „Ausgabe letzter Hand“ (10. Aufl. Leipzig 1757) druckte Birke in Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2. Zitate werden im Folgenden mit den Versnummern nachgewiesen; die erste Verszahl bezieht sich auf die Erstausgabe, die zweite auf die „Ausgabe letzter Hand“. Gottsched hatte den Unterschied zwischen „populus“ und „plebs“ im Ohr, auch wenn er für beides das deutsche Wort „Volk“ benutzte; während für „populus“ aber nur die Übersetzung „Volk“ möglich schien, benutzte er – je nach Zusammenhang – für „plebs“ sowohl die Übersetzung „Volk“ wie die Übersetzung „Pöbel“.
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hätte das unnötig viele Menschenleben gekostet.49 Um seinem Prinzip (der „Freiheit Roms“, die sich in der individuellen Freiheit, „sonder Ketten“ zu sterben, manifestiert) treu zu bleiben und zugleich seine Schutzbefohlenen (Untertanen) zu retten, blieb für Cato nur der Weg der Selbsttötung. Der sich andeutende und gegen Ende des Jahrhunderts verschärfende Widerspruch zwischen der ideellen Bezugsgröße „Volk“ (populus) und dem abgelehnten realen „Volk“ (plebs) wird durch eine weitere Änderung Gottscheds in der gleichen Fassung, die das demokratische Prozedere als „freyer Bürger Wahl“ präzisiert, offenkundig. Zwar beruft sich Cato stets auf den Willen von „Volk und Rath“, doch verachtet er die dahinter stehende plebs, die er als „blinden Pöbel“ abtut (letzte Fassung, V. 265). Es ist die „wahre Weisheit“ der „Tugend selbst“, die in seiner eigenen Brust wohne, auf die sich Cato hier bezieht – und auf die Gottsched sich bezog.50 Die institutionelle Berufung auf „senatus populusque“ blieb eine leere Formel. Gottscheds zeitgenössische Erfahrung zeigte ihm, dass es kein Volk mehr gibt, auf das er sich politisch konkret beziehen konnte. Der Aufklärer verlegte deshalb die politisch legitimierende Instanz in sein Inneres. In der Perspektive des 18. Jahrhunderts wurden so die Volkstribunen Gracchus und der Diktator Cäsar zu vergleichbaren Figuren (V. 880f./892f.): Sie dienten nicht mehr dem Staat, sondern instrumentalisierten ihn für ihre eigenen Interessen, lautete der Hauptvorwurf.51 49
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Insofern wäre dies nicht die eigentlich tugendhafte Entscheidung gewesen, wie Robert R. Heitner (German Tragedy in the Age of Enlightenment. A Study in the Development of Original Tragedies, 1724–1768. Berkeley 1963, S. 30) nahelegte. Vgl. auch die Haltung des Agis (siehe unten S. 206). Der Volkstribun Tiberius Gracchus wurde 133 v. Chr. durch Senatoren unter Führung des damaligen Pontifex maximus ermordet, weil die Patrizier ihre Macht gefährdet sahen; den Bruder Gaius trieb die konservative Senatspartei 122 v. Chr. in den Selbstmord. Das Wirken der Gracchen gilt heute als wichtigste demokratische Bewegung der römischen Republik und wurde bereits in der Antike als solche anerkannt (vgl. die Biographien von Plutarch: Große Griechen und Römer. Übers. u. erl. v. Konrat Ziegler. 6 Bde. Zürich 1954–1965, Bd. 6, S. 237– 283; zusammen mit den Biographien des Agis und des Kleomenes bilden die von Tiberius und Gaius Gracchus eine der seltenen Vierergruppen in Plutarchs Biographienwerk). In Gottscheds Drama wird Cäsar von Domitius, einem Boten aus dessen Umgebung, nachgerühmt, sein Streben ginge dahin, „überall die Gleichheit einzuführen“ (V. 451/463). Während Cato glaubt, dass es die Gleichheit der Sklaven sei, verteidigt Domitius seinen Patron als rechtmäßigen „Bürge[r]meister“ (1. Fssg., V. 439) bzw. „Consul“ (3. Fssg., V. 451), von dem die „Freyheit“ nichts zu befürchten habe. – Schon in der Epicharis (1665) von Daniel Casper von Lohenstein wurde die sozialpolitische Reformbewegung der Gracchen als „Raserey“ (im Sinne von „Volksverhetzung“) bezeichnet (Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Hg. v. Lothar Mundt, Wolfgang Neuber u. Thomas Rahn. 2. Abt., Bd. 2: Agrippina Epicharis. Hg. v. Lothar Mundt. Berlin 2005, Bd. 2.1, S. 299: I, 461); allerdings von einem kritisierten konservativen Patrizier, wie Lohenstein in einer „Anmerckung“ klar machte: Das Argument gegen die „Grachen“ stamme von Florus (Epitoma II,2); dagegen führte Lohenstein den von J. Freinsheim (1636) zitierten Seneca (Ad Marciam de consolatione 16,3) ins Feld: „Wer sie nicht als gute Männer gelten lassen kann, wird doch zugestehen, daß sie bedeutend sind“ (ebd., Bd. 2.1, S. 481). Lohensteins Identifikationsfigur Epicharis versucht jedenfalls in dem Stück den Einwand von Venetus Paulus zu widerlegen. Zu dem Stück vgl. Arnd
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Daher sind republikanische Sujets für die bürgerliche Tragödie des 18. Jahrhunderts, die sich nach der aktuellen politischen Wahrscheinlichkeit zu richten habe, an sich nicht besonders gut geeignet. Gottsched selbst erklärte im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729), dass man ein Drama wie Oedipus Tyrannos nicht mehr schreiben könne, eben weil es „vor den Augen alles Volks“ spiele: „Heute zu Tage, da unsre Fürsten alles in ihren Zimmern verrichten, fällt es also schwerer, solche Fabeln wahrscheinlich zu machen“.52 Als Ausweg bot sich nach Gottscheds Meinung der nicht unmittelbar auf die politischen Verhältnisse bezogene antike Stoff an („alte Historien“) oder das Antichambrierdrama, das in einem „großen Audienzsaal“ spielt53 und für das Schillers Dom Karlos (1787) das berühmteste Beispiel ist. Gottsched selbst hat in zwei eigenen Dramen versucht, beide Möglichkeiten zu nutzen. Mit der Parisischen Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra (vor 1745) bringt er einen modernen politischen Stoff auf die Bühne, mit seinem Agis, König zu Sparta (vor 1745) sein politisch brisantestes und gelungenstes Stück in Form einer „alten Historie“.54
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Beise: Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. v. Markus Meumann u. Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S. 105– 124, hier S. 117–124. Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6.2, S. 321f.; Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 616. Vgl. dazu auch Gottscheds ästhetisch-politische Einschätzung des Chors, der in neuerer Zeit natürlich entfallen müsse, denn: „Er vertrat daselbst [auf der Schaubühne] die Stelle der Zuschauer, die bey der Handlung, welche man spielete, zugegen gewesen seyn konnte, als sie wirklich geschehen war. Denn das muß man wissen, daß die wichtigsten Handlungen der alten griechischen und morgenländischen Fürsten nicht zwischen vier Wänden, sondern öffentlich, vor ihren Pallästen, oder auf den Märkten ihrer Städte vorgiengen. Da war nun allezeit eine Menge von Zuschauern zugegen, die an dem Thun und Lassen ihrer Könige Theil nehmen; auch wohl nach Gelegenheit ihre Meynung davon sagten, gute Anschläge gaben, oder sonst ihre Betrachtungen darüber anstellten. Da nun die Poeten die ganze Natur solcher öffentlichen Handlungen vorstellen wollten und sollten; so mußten sie auch Zuschauer derselben auf die Bühne bringen: und das war dann der Chor“ (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 608). Zur realgeschichtlichen Bedeutung, welche die „uneingeschränkte Öffentlichkeit“ als „Schutz“ und „Waffe der Volksbewegung“ hatte, und inwiefern „die Permanenz der Diskussion […] die politische Partizipation der plebejischen Schichten“ erst garantierte, vgl. die exemplarische Untersuchung von Rolf Graber: „Vom Memorialhandel zu den Stäfner Volksunruhen. Landbürgertum und plebejische Bewegung“. In: Helmut Holzhey u. Simone Zurbuchen (Hg.): Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussen- und Innenperspektiven. Zürich: Chronos 1997, S. 83–99 (das Zitat hier auf S. 90). Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6.2, S. 321f.; Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 616. Beide Dramen wurden zuerst im sechsten Theil der Deutschen Schaubühne (Leipzig 1745), S. 1–80 bzw. S. 203–276 gedruckt; ihre genaue Entstehungsgeschichte ist nicht bekannt. Zitiert werden die Stücke unter Angabe der Verszahl nach Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2.
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Die Parisische Bluthochzeit Die Dramatisierung der Vorgänge in der berüchtigten Bartholomäusnacht (24. August 1572) reizte Gottsched, weil dies die „allerschrecklichste Begebenheit, die sich in neuern Zeiten zugetragen“ habe, sei. Den „eigentlichen Zweck“ des Trauerspiels, nämlich „Schrecken und Mitleiden bey den Zuschauern“ zu erwecken, glaubte Gottsched durch diesen Stoff leicht zu erreichen: „Es wird also ein besondres Zeichen von der Güte dieses Schauspiels seyn, wenn es die Zuschauer mit Grausen und Abscheu erfüllen wird. Die Größe der Laster und Schandthaten fällt an den größten Leuten, desto mehr in die Augen, und wirkt einen desto größern Schauer, je unerhörter sie ist: und eben dadurch wird ein Gedicht erbaulich“.55 In dem Stück sind Laster und Tugend streng geschieden; tugendhaft ist der „beständige“ Heinrich von Navarra, der seinem protestantischen Glauben nicht abschwört, lasterhaft sind die fanatischen Katholiken des französischen Königshofes, die einen „Mord von ungeheurer Art“ (V. 129) inszenieren. Besonders deutlich unterschieden sich Tugend und Laster bei den Königen in dem Verhältnis zu ihrem Volk. „Kann ein Landesfürst so gar der Pflicht vergessen, / Dass er den Schluß ergreift, sein eigen Volk zu fressen?“, klagt Heinrich über König Carl (V. 753f.), während er selbst in höchster Gefahr jede „feige“ Flucht ablehnt: „Nein nein, wenn alles stirbt, so will ich gleichfalls sterben, / Und in gemeiner Noth mit allem Volk verderben!“ (V. 781f.)56 Am interessantesten in diesem Stück ist aber das Verhältnis der Lasterhaften zu dem Volk, weil sie in aller Regel diejenigen sind, die handeln. Dem Tugendhaften bleibt stets nur die Bereitschaft allein oder mit anderen zu „verderben“, um seine Größe zu offenbaren. So lehnt Heinrich die ihm von seinem Vertrauten vorgeschlagene Bewaffnung zur Verteidigung gegen einen möglichen Angriff ab, weil dies einen erst in „Verdacht“ bringe: Bey reiner Unschuld kann es uns weit ehr gelingen. […] Dann aber, muß man auch des Himmels Schutze trauen! Und nicht so frech allein auf Menschen Klugheit bauen. Die Tugend schützt sich selbst, und soll sie untergehn; So wird doch alle Welt auf ihrer Seite stehn. (V. 842, 845–848)
Die nicht so sehr auf den Himmel, als vielmehr auf ihre Intrigen setzenden Bösewichte sind denn in aller Regel weltlich betrachtet erfolgreicher.
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Unpaginierte Vorrede zu: Die Deutsche Schaubühne. Sechster Theil. Leipzig 1745. Auch Carl hat in einem Moment der Besinnung eine Ahnung davon, dass er drauf und dran ist, seines „Volks gekrönter Henker“ zu werden (V. 1256): „Wo ist das wohl erhört, dass eines Königs Macht / Die Bürger seines Staats erbärmlich umgebracht? / Heißt das ein Vater seyn, und seine Kinder lieben? Tyrannen haben wohl oft Völker aufgerieben: / Nur gute Fürsten nicht!“ (V. 1019–1023) Dennoch wird er letztlich – v. a. durch seine Mutter – dahin gebracht, das „Blutbad“ (V. 969) anzuordnen.
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Spannend an der Parisischen Bluthochzeit ist in Betracht der Volksdarstellung die merkwürdige Mischung aus alten Topoi des eigenständigen und schwer berechenbaren Volks, wie sie aus Christian Weises Stücken etwa bekannt sind, und modernen Ansichten über die Unselbstständigkeit des Volks. Wie in den barocken Haupt- und Staatsaktionen reflektieren der König und seine Partei ausführlich ihr Verhältnis zu dem Volk und Möglichkeiten, es für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.57 Catharina und Carl wollen in der Bartholomäusnacht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Nämlich erstens die protestantiche Bedrohung ihrer Macht ausschalten und zweitens den Konkurrenten im eigenen Lager, den Herzog von Guise, ebenfalls kalt stellen (V. 156: „Von beyden [Parteyen] müssen wir uns nach und nach befreyen!“). Zu diesem Zweck soll die Angelegenheit so gedrechselt werden, dass das Attentat auf den Protestanten Coligny durch Verhaftung eines Dieners dem Guise in die Schuhe geschoben wird; das erledige ihn in der öffentlichen Meinung (V. 147–149: „CATHARINA. […] nach ausgeführter Sache / Müßt alle Schuld davon der Guisen strenger Rache / Bloß zugeschrieben seyn“),58 die ihm nach dem Geschmack von König und Königinmutter zu wohl gesonnen ist (V. 519f.: „Der Pöbel in der Stadt / Hängt ihnen [den Guise] gänzlich an“). Jedenfalls kalkulieren Catharina, Anjou und Carl „die freche Zunge“ des „Pöbels“ stets ein. Es ist ihr Anliegen, durch geschickt ausgestreute Gerüchte und ähnliche Maßnahmen den Pöbel, der „schwer zu zähmen“ sei (V. 199), in ihrem Sinn handeln zu lassen. Denn dass man dem Pöbel nicht einfach befehlen kann, erfahren die Herren, als sie es versuchen. Man habe die Garde instruiert, desgleichen die „Bürgerschaft“ (V. 989f.: bestehend aus nach „Beute“ gierenden „Handelsleuten“), und es auch beim Volk versucht; jedoch der Agitator „eilte durch die Stadt, und that dem Pöbel kund; / Der aber von sich selbst bereits erbittert stund“ (V. 995f.). Weil sie um die Unbesiegbarkeit des aufständischen Volks wissen (V. 1298f.: „denn wer kann des Pöbels Wuth umdämmen, / Die starken Fluthen gleich aus allen Ufern reißt?“), müssen Anjou, sein Bruder und seine Mutter dafür sorgen, dass sich die Wut des Pöbels nicht gegen sie selbst richtet, weshalb man alle Verantwortung für die ungeheuerliche Tat auf Guise abschiebt. Was nun ein Fürst verspricht, muß er so grob nicht brechen, Dass es der Pöbel merkt: sonst geht sein Toben an. Der bürgerliche Krieg […] bräche […] von neuem wieder aus, Und fräße noch vielleicht auch unser ganzes Haus.
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Auch bei Heinrich gibt es Ansätze zu einem solchen Verhalten, doch bleibt er auch da passiv. Er versucht nicht, das Volk als Koalitionär zu gewinnen, sondern begehrt nur „Nachricht von der Gasse“ (V. 849) und verlangt auch im weiteren bloß, über „des tollen Pöbels Werke“ auf dem Laufenden gehalten zu werden (V. 877–879). In der Tat beklagt sich Guise: „Herr, es befremdet mich, womit Paris sich trägt: / Man spricht, es würde mir die Schandthat beygelegt, / Die jüngst am Admiral beynah vollführet worden. […] Man wird in Schlüssen schnell [2. Aufl.: frech]; und jeder denkt hernach: / Das sey der Herren Schuld, was solch ein Knecht verbrach“ (V. 479–481 u. 503–504).
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So spricht bereits in der ersten Szene des Stücks König Carl (V. 48–54). Dass man die Friedensverträge von Amboise (1563) und St. Germain (1570) brechen will, ist klar, nur über das Wie bestehen noch Zweifel. Mit dem Hinweis auf die von dem Pöbel ausgehende Gefahr bei einem zu offensichtlichen Wortbruch kontert Carl die ‚modernere‘ Vorstellung seines Bruders Anjou, dass man „der Hugonotten Schwarm“ nicht zu ernst nehmen müsse, denn sei erst einmal das „Haupt“ hin, so gehe der Rest von allein (I. Akt, 1. Szene). Obwohl von Carl in dieser Szene berichtigt, findet sich die Einschätzung, dass der Pöbel nur unter Anleitung zu handeln in der Lage sei, in dem Stück noch mehrfach ausgedrückt – und zwar nicht nur als beschränkte Perspektive einer Figur, sondern durchaus mit Zustimmung des Autors. Mit anderen Worten: Gottsched verstrickte sich (und seine Figuren) in Widersprüche, die sich mit dem jeweils anderen historischen Horizont von Quelle und Autor erklären lassen. Während Jacques Auguste de Thou, dessen Historia sui temporis Gottsched getreu ausschreibt, wie er selber ausdrücklich betonte,59 natürlich die an den Beispielen aus dem 17. Jahrhundert dargestellte Gewissheit von der politischen Selbstständigkeit des Volks hat, brachte Gottsched seine abweichende Meinung über die Handlungsohnmächtigkeit des Volks ebenfalls in das Drama ein. Nicht nur die Hugenotten glauben in dem Stück, dass die allgemeine Bewaffnung „auf Befehl geschieht“, angeblich gäben die Leute selbst darüber befragt lediglich zur Antwort, „daß ihr Oberhaupt es ihnen auferlegt“ habe (V. 787 u. 791) – als ob sie nicht so genau wüssten, warum sie sich bewaffnen – oder es nicht sagen wollen. Wie sich damit zusammenreimt, dass der Pöbel „von sich selbst bereits erbittert stund“ (V. 996), wie es an anderer, schon zitierter Stelle heißt, bleibt ein nicht aufzulösender Widerspruch. Auch die sonst so klarsichtige Catharina meint zunächst: „unsre Furcht stammt von den Großen ab: / Von Häuptern, deren Schutz dem Pöbel Stärke gab. / Wenn dem ein Führer fehlt, so ist er leicht zu zwingen, / Um diesen muß man denn den rohen Haufen bringen“ (V. 265–268). Das sind Sätze, die Gottsched nicht bei de Thou finden konnte60 und die seiner
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Unpaginierte Vorrede zu: Die Deutsche Schaubühne. Sechster Theil. Leipzig 1745; Gottsched brachte (Die deutsche Schaubühne, Bd. 6, S. 77–80; Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2, S. 276–279) im Anschluss an das Stück Auszüge aus der Quelle, um zu belegen, wie wörtlich er in den wichtigsten Repliken dem Geschichtsschreiber folgte. Weitere Quellen waren Voltaires Henriade, inklusive der Anmerkungen eines Anonymus zu dem Epos, sowie Pierre Bayles Gedanken bey Gelegenheit des Cometen (die Gottsched selbst 1741 übersetzt und mit Anmerkungen versehen herausgab), die eine Charakteristik der Verhältnisse am französischen Hof unter Catharina di Medici enthalten (vgl. Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972, S. 218). Bei de Thou war von vornherein klar, dass mit Ausnahme Heinrichs von Navarra und des Prinzen von Condé „jeder Hugonott die Nacht verderben muß“ (wie Gottsched Catharina zu Anfang der Szene sagen lässt: V. 258). Vgl. Gottscheds Noten „d“ („ut dubium non sit, quin hoc sit fixum Reginae consilium, ut quavis ratione Protestantes delenatur“) und „l“ („de Navarro & Condaeo aliquandiu deliberatum est, an numero ceteorum exeimerentur“), die er aus de
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eigenen Ansicht über den Pöbel entspringen. Auch die Widerlegung von Catharinas Behauptung durch Guise bleibt im Rahmen dessen: „Verzeih, o Königinn, wenn man hier Zweifel hat: / Wo es an Heeren fehlt, da hat kein Führer statt“ (V. 269f.). Auch Guise sieht das Volk analog einem Heer als bloßen Befehlsempfänger. Sein Streit mit der Königin geht lediglich darum, ob man bloß die Führer oder bloß die Knechte ermorden solle; beide glauben, dass das Ausschalten der einen Gruppe die andere neutralisiere. Merkwürdigerweise untermauert Guise seine Ansicht mit einem Argument, das historisch wahrscheinlich gefallen ist, aber nur dann Sinn ergibt, wenn man den Pöbel als politisch eigenständige Kraft ernst nimmt. Er widerrät nämlich der Ermordung Heinrichs und Condés, weil dies das Ansehen und die Unverletzlichkeit der Fürsten gleich welcher Partei untergrabe: „Den Fürstenstand muß man in allem unterscheiden: / Wer würde sonst darinnen des Pöbels Wuth vermeiden?“ (V. 279f.) Dies Argument leuchtet Carl ein; und noch zum Schluss wiederholt es Heinrich zu seiner eigenen Sicherheit: „Verletzt man Könige, an Freyheit, Macht und Leben? / O! solch ein Beyspiel muß kein Fürst den Völkern geben! / Der Kronen Majestät muß allen heilig seyn: / Sonst geht die Ehrfurcht auch bey unsern Bürgern ein“ (V. 1589–1592). In Gottscheds Parisischer Bluthochzeit durchkreuzen sich also zwei Haltungen. Die Fabel seines Dramas verlangt ein politisch selbstständig handelndes Volk, und wo Gottsched der Geschichte treu blieb, brachte er auch die entsprechenden Repliken. Immer wieder unterliefen ihm aber die genannten Unstimmigkeiten, weil er mit der historisch überlieferten Eigenständigkeit des Volks nichts anfangen konnte.61 Dieser Umstand entsprach Gottscheds Bemühen, das Stück dramaturgisch auf Carl hin zu zentrieren. An vielen Stellen wird so getan, als komme es allein auf die Entscheidung des Königs an, was geschehen wird. Bis zuletzt soll es so aussehen, als liege die Entscheidung über den Beginn des Mordens in Carls Hand. Doch bereits allzuviel von der polymorphen Entscheidungsstruktur des französischen Hofs im ausgehenden 16. Jahrhundert hat der historisch treu arbeitende Gottsched in sein Stück eingebaut, als dass diese Zentrierung auf den angeblich absolutistisch regierenden König (der historisch eben kein Absolutist war) noch glaubhaft wäre. Gottsched konnte mit seinem dramaturgischen Modell die frühneuzeitliche Mehrparteien-Auseinandersetzung nicht abbilden. Entsprechend verwirren sich auch die Aussagen über den einen apostrophierten Pöbel, von dem es in Paris mindestens zwei gegeben haben muss: einen katholischen und einen protestantischen, wobei in
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Thous Historia sui temporis (T. II, S. 3 bzw. S. 21f.) zitierte (Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2, S. 276f.; eine deutsche Übersetzung ebd., Bd. 11, S. 76f.). Werner Rieck hielt die „Figurengestaltung“ des Stücks für „künstlerisch unzulänglich“ und zwar „auf Grund seiner [Gottscheds] starren Anlehnung an die Quelle“ (Johann Christoph Gottsched, S. 223). Will man auch den Wertungen Riecks nicht folgen (etwa der mit Verachtung [S. 22] geäußerten Ansicht, das dichterisch Mangelhafte des Stücks zeige sich schon darin, dass die Handlung „nichts weiter als der der Historie nacherzählte Ablauf der Geschehnisse“ sei), so bleibt die Beobachtung über das enge Verhältnis des Dichters zu seiner Quelle doch gültig.
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dem Stück manchmal unklar ist, ob die ganze Stadt Paris voller fanatischer Katholiken ist (so Conde zu Heinrich in V. 661–665) oder umgekehrt Paris schon voll von Protestanten ist (so Catharina in V. 77f.). Letztlich überwiegt in Gottscheds Drama die Rede von dem katholischen Pöbel, weil dies in das Weltbild des Autors besser passte. Der Pöbel an sich ist für die Aufklärer eben unaufgeklärt und daher ein prädestiniertes Opfer des „Aberglaubens“ der „Römer“ [= Papisten], wie Conde in dem Stück die katholische Religion nennt (V. 1634). Schon die Annahme, dass es sozusagen zwei ‚Pöbels‘ geben könnte, widerspricht dieser Voraussetzung und zeigt, dass die Dinge in Wirklichkeit doch erheblich komplizierter liegen, als es manchem Aufklärer erscheinen mag. Die Annahme von zwei ‚Pöbels‘, einem katholischen und einem protestantischen, impliziert auch, dass man in der untersten Gesellschaftsschicht so ganz entscheidungsunfähig nicht ist: Schließlich wählt man sein Weltbild selbst.62 All diese Schwierigkeiten umging der Dramatiker, wenn er einen in solcherlei Hinsichten einfacheren Stoff wählte, d.h. wenn er auf die „alten Historien“ der Antike zurückgriff. Dabei konnte man sich auf psychologische Beziehungen zwischen den Charakteren beschränken, wie etwa Luise Gottsched in ihrer Panthea,63 oder man vereinfachte soziale Auseinandersetzungen im Sinne eines Modells auf ihre wesentlichen Grundzüge, wie Johann Gottsched in seinem vielleicht gelungensten Drama, dem Agis. Agis, König von Sparta In seiner dritten Tragödie behandelte Gottsched das unglückliche Schicksal des spartanischen Königs Agis IV. (er regierte 245–241 v. Chr.), das vor allem durch die Erzählung Plutarchs bekannt war.64 Er war der erste in der Reihe der drei so genannten Reformkönige (Kleomenes III., König 235–222 v. Chr., und Nabis, 62
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In Wahrheit war die Freiheit der Religionsübung in dem Edikt von Amboise (1563) natürlich ständisch abgestuft; und in aller Regel galt in Europa der Grundsatz „cuius regio huius religio“. In dem Drama aber scheinen in einer Stadt und in einem Land die verschiedenen Religionen mit ihrem je eigenen Pöbel nebeneinander zu leben, was die freie Religionswahl nicht nur möglich, sondern notwendig macht. In Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Panthea (in: Die Deutsche Schaubühne. Fünfter Theil. Leipzig 1744, S. 1–66), dem ersten deutschsprachigen Geschichtsdrama einer Frau, kommt fast keine Politik vor, obwohl dem Drama ein eminent politischer Stoff zugrundeliegt: nämlich die Eroberung Mediens unter Crösus durch den persichen König Cyrus. Immerhin wird von dem Volk an sich gesagt, es sei „der Fürsten satt, die voll von schnöder Lust, / Von der Regierungskunst das Schwelgen nur gewußt“ (S. 3), weshalb es das Lob des Cyrus singe. Cyrus aber beweist seine Idealität als Herrscher vor allem in einer vorbildlichen Ehe- und Sexualmoral, wie überhaupt das Stück sich eher innerhalb dieses Diskursfeldes bewegt. Der einzige angedeutete politische Konflikt bleibt unaufgelöst. Vgl. zu dem Stück auch Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds „Deutscher Schaubühne“. Tübingen 1994, S. 194–210. Plutarch: Große Griechen und Römer, Bd. 6, S. 175–195: „Agis“. Gottsched beschäftigte sich 1740/41 intensiv mit Plutarch; vielleicht entstand das Stück zu dieser Zeit.
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König 207–192 v. Chr., waren seine reformorientierten Nachfolger), die die Agonie des spartanischen Staats durch sozioökonomische Neuordnung der Gesellschaft – letztlich vergeblich – aufzuhalten suchten. Gottscheds Bearbeitung kennzeichnet, dass die historischen Probleme des spartanischen Staats zu Gunsten eines propagandistisch wirksameren allgemeinen Räsonnements über politische Moral ignoriert werden. Das mochte einerseits eine Folge der gesellschaftlichen Ohnmacht des sich formierenden ‚bürgerlichen‘ Mittelstands um 1740 sein, bot aber zugleich auch die Chance zur aktualisierenden Zeitkritik. Gottscheds Agis soll als „der Fürsten Muster“ (V. 1590) gelten; sein Fehler, der am Ende zu seinem Untergang führt, ist nach Gottscheds Worten, dass er trotz seiner „erhabenen Absichten und edlen Neigungen“ doch „noch nicht Erfahrung genug besitzet, dieselben recht auszuführen“.65 Mit dieser seinen theoretischen Postulaten genügenden Selbstinterpretation blieb Gottsched aber hinter dem objektiven Gehalt seines Stücks zurück. Agis scheitert nämlich nicht einfach an seinem „Fehler“, sondern Gottsched führt mit seinem Drama das notwendige Scheitern einer bestimmten Art von legalistischer „Revolution von oben“ vor. Agis macht des „Staats Verfall“ an der Ausbreitung von „fauler Weichlichkeit“, „Wollust und Pracht“ (V. 2f.) fest.66 „Gold und Silber“ (V. 5), mit einem Wort: der „Reichthum“ (V. 8) sei die Ursache dieser ungünstigen Entwicklung, analysiert Agis die Situation. Das klingt zunächst einmal nicht nach viel mehr als christlicher Weltverachtung. Seine gesellschaftskritische Brisanz bekommt Gottscheds Ansatz erst mit der nachfolgenden Präzisierung. Nicht der Reichtum an sich, sondern seine ungleiche Verteilung sei das Hauptproblem, erläutert Agis im „Rath“ des Stadtstaats. Agis’ Freund und Mitkämpfer Lysander geht in der einberufenen Volksversammlung sogar noch weiter; Agesilaus berichtet (da das Volk auf Grund der klassizistischen Dramendoktrin nicht in persona auftreten darf, hört man von ihm stets nur im Bericht): Er setzte noch hinzu: Sie müßten es nicht leiden, Daß Weniger ihr Geiz, das Heil der Stadt entscheiden, Und das gemeine Wohl der Bürger hindern könnt; Indem die Billigkeit es allen gleich gegönnt. Dieß wäre der Befehl der Götter längst gewesen! (V. 375–379)
Die ungeschickte Formulierung verhüllt ein wenig die politische Brisanz dieser Rede an das Volk, das dem Redner „ein begierig Ohr“ schenkt: „billig“ sei es, so Lysander, wenn alle gleich viel besitzen; unbillig dagegen, wenn der Reiche „alles unterdrückt, / Was arm und elend ist“, wie Agis schon früher erläuterte (V. 87f.). 65 66
Unpaginierte Vorrede zu: Die Deutsche Schaubühne, Sechster Theil. Leipzig 1745. „Denn jeder, der dem Staat noch will zu Hülfe kommen, / Der sieht ja leichtlich ein, daß Ueppigkeit und Pracht, / Verschwendung, Geiz und Stolz uns ohnmachtsvoll gemacht.“ (V. 262–264) Vgl. auch V. 305f., wo „die Pracht, die Wollust und das Schlemmen, / Kurz alle Zärtlichkeit“ als die zu bekämpfenden Laster gegeißelt werden; diese „Laster“ aber seien die „Haupttyrannen“ der Menschen, heißt es an anderer Stelle (V. 266).
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Lysanders Worte enthalten ferner den Aufruf, diesen Zustand nicht länger zu dulden („sie müßten es nicht leiden“) und sind also ein Aufruf zum aktiven Widerstand. Man kann mit Recht bezweifeln, dass ein Volksaufstand im Interesse eines nach Gottscheds Meinung idealen Fürsten ist. Jedoch stellt sich das Problem des Volksaufstands für den gerechten Herrscher in Wahrheit nicht, denn gegen ihn wird das Volk kein Bedürfnis nach einem Aufstand hegen. Mit der Gefahr des Aufruhrs konfrontiert, antwortet Agis – und das jedenfalls ist nicht Folge seiner „Unerfahrenheit“ – lediglich: „Wer als Tyrann regiert, den mag der Aufruhr schrecken; / Mich muß, für meine That, die Huld des Himmels decken“ (V. 1141f.) Die Plutokraten, deren Haupt der zweite König Spartas, Leonidas, ist, schreckt das Gespenst des Volksaufstands dagegen um so mehr. Das Gerücht von den geplanten „Neuerungen“ habe „den größten Theil des Pöbels schon erregt“, beklagt sich Leonidas bei Agis (V. 279f.). Agis plant nämlich, den Staat durch zwei Maßnahmen zu retten: erstens durch einen allgemeinen Schuldenerlaß, der die Macht der Wucherer bricht; sowie zweitens durch eine Verstaatlichung allen „Eigenthums“ an Boden und anschließende Verteilung auf alle Bürger zu gleichen Teilen. Dem Problem, dass die Besitzenden freiwillig nicht so leicht auf ihren Besitz verzichten werden, versucht Agis durch eigene „Großmuth“ zu begegnen. Als erstes beredet er seine Familie zum Verzicht auf alles „Vermögen“: „Das wird ein Beyspiel seyn, so jedermann bewegt! / Ganz Sparta folgt euch nach!“ (V. 223– 225.) Anschließend trägt er seine Reformpläne dem „Rath“ vor und erwartet dessen Zustimmung. Das allerdings ist ein Fehler in Folge seiner „Unerfahrenheit“. Natürlich stimmt der „Rath“, der aus den „Reichen“ besteht, dem Plan seiner Enteignung nicht zu (V. 407–416). Enttäuscht zeigen sich die Parteigänger Agis’: „Wo Geiz und Wollust blühen, / Da pflegt man die Vernunft nicht sehr zu Rath zu ziehen.“ (V. 419f.) Damit könnte die Affäre bereits im zweiten Akt ein Ende haben, wenn nunmehr nicht die Tragödie des Tugendhaften einsetzte. Agis ist resigniert und will aufgeben; seine echten und falschen Freunde bereden ihn aber zum Weitermachen. Agis hat das Heft des Handelns aus der Hand gegeben und wird zunehmend instrumentalisiert. Lysander beredet ihn dazu, zum „Heil des Volkes“ (V. 1060) einen Staatsstreich ins Auge zu fassen: Leonidas soll abgesetzt und der Rat aufgelöst werden. Agesilaus rät zu taktischem Vorgehen: Die Reform soll nicht auf einmal, sondern sukzessive durchgesetzt werden, indem man zunächst bloß den Schuldenerlass beschließt, um später den zweiten Schritt der Landverteilung anzugehen. Im Gegensatz zu Lysander, der es mit den Reformen ehrlich meint, wenngleich er sie auch mit ungesetzlichen Mitteln durchsetzen will, ist Agesilaus’ Strategie eigennützig und reaktionär. Er ist nämlich ein aufgrund seines luxuriösen Lebens hoch verschuldeter Großgrundbesitzer. Der Schuldenerlass, den er durchzusetzen hilft, saniert ihn, worauf er anschließend alles tut, den zweiten Schritt der Reform zu hintertreiben (vgl. IV/1, V. 984ff. u. V. 1008ff.). 200
Beide Maßnahmen – der von Lysander „übereilt“ forcierte Schritt zu ungesetzlichen Mitteln bei der Durchsetzung der guten Sache wie der von Agesilaus aus eigennützigen Motiven betriebene Verrat an der Sache – bringen Agis den Untergang. Den Hergang will ich nicht im Detail schildern, denn es kommt in meinem Zusammenhang nur auf das Ergebnis an. Das Volk, das von den in „Agis’ Pallaste“ gesponnenen Intrigen naturgemäß nichts weiß, identifiziert Agis nunmehr mit der auf bloß den ersten Schritt zurückgenommenen „Reform“ und fühlt sich entsprechend verraten (V. 1084ff.: „der Pöbel nennt es List, / Womit du ihn getäuscht. Und weil du nicht vollzogen, / Was du versprachst, so ist er dir nicht mehr gewogen“; vgl. V. 1277). Außerdem sieht es nur das Äußere des Staatstreichs, nämlich die „Leibwacht“ des Agis, die aus immerhin „mehr als tausend Mann“ besteht, die „den Marckt besetzen“, um die Entmachtung des Rats zu decken (V. 1266–1268). Wie man schon aus den Stücken von Barthold Feind, Christian Weise und den Autoren des 17. Jahrhunderts lernen konnte, reagiert das Volk auf usurpatorische Machtergreifung empfindlich. Jedenfalls fällt es dem zuvor entmachteten Leonidas leicht, Agis als Staatsverräter zu denunzieren und damit das Volk auf seine Seite zu bringen; die „Partey“ der „Reichen“ und der „Wuchrer“ stand ohnehin stets auf seiner Seite. Leonidas lässt Agis wegen „Entehrung des Throns“ (V. 1496) verhaften, wobei Gottsched noch einmal die Fiktion vom ‚eigentlich guten Charakter‘ der Leute aus dem Volk vorführt: Die Soldaten der Wache trauen sich aus „Ehrfurcht“ nicht, den König „anzurühren“ (V. 1505ff.), so dass schließlich zwei mit Leonidas verbündete Ratsmitglieder die Arretierung selbst vollziehen (V. 1543f.: „Der Pöbel selber starrt bey solchen Missethaten: / Ein Glied des Raths vertritt die Stelle der Soldaten!“).67 Dem Verlangen, dass Agis „Rechenschaft vor allem Volke geben soll“ (V. 1516), weiß Leonidas schlau vorzubeugen: Ohne jeden Prozess lässt er ihn mitsamt seiner Familie im Gefängnis erwürgen. O Schicksal, welche Wuth! verwünschter Unglückstag! Den Sparta künftig nur durchaus verfluchen mag. Du wirst, betrognes Volk! es allzuspät bereuen, 67
Keinesfalls also präsentierte Gottsched das Volk als „unberechenbaren und undankbaren Pöbel“, wie es manchmal heißt (z.B. bei Jürgen Jacobs: Das klassizistische Drama der Frühaufklärung. In: Handbuch des deutschen Dramas. Herausgegeben von Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 61–75, hier S. 64). Anders als der Zuschauer kann das Volk über die wahren Gründe einer hinter verschlossenen Türen konzipierten Politik nicht informiert sein. Als Agesilaus auch öffentlich gegen die Weiterführung der Reform agitiert, wird er sogleich von dem Volk zur Rechenschaft gezogen: „Man glaubt, Agesilaus hab das Gesetz gestöret, / Das du dir vorgesetzt, von Theilung unsres Staats; / Darum betraf ihn auch die Strafe seines Raths. / Des Pöbels Wuth ist schon so sehr auf ihn ergrimmet, / Daß ihm der meiste Theil den Untergang bestimmet. / Sein Sohn […] / Hat noch das edle Werk am Vater ausgeübt, / Und ihn des Volkes Grimm durch schnelle Flucht entzogen“ (V. 1178–1185). Man weiß also sehr wohl um seine Interessen und handelt ihnen gemäß; und zwar durchaus berechenbar. Das Problem der „Undankbarkeit“ entsteht aus der Uniformiertheit des Volks, an der es selbst indessen keine Schuld trägt.
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Und meinem Agis noch manch Ehrendenkmaal weihen. Sein väterlicher Sinn hats gut mit dir gemeynt: Er war der Armen Schutz, der Unterdrückten Freund; Er suchte nicht aus Geiz die Bürger zu beschweren: Wer sah ihn durch die Pracht, des Volkes Schweiß verzehren? Wem hat er Haab und Gut durch Wucher klein gemacht? Wen hat Gewalt und List um Haus und Hof gebracht? Die edle Mäßigkeit, der sich sein Herz ergeben, Hieß ihn, als König, nach Art der Bürger leben. (V. 1569ff.)
So lautet ein kleiner Teil der Klage Agiatis’, der Gemahlin des Agis, um den gekrönten Freund des Volks. Gottsched propagierte mit seinem Stück ein Herrscherideal, von dem er wusste, dass es in der Wirklichkeit nicht aufzufinden war. „Nein, Agis ist kein Fürst von der gemeinen Art, / […] Die von der Armen Schweiß nur Stolz und Wollust üben, / Nur Pracht und Schwelgerey und Ueppigkeiten lieben“, heißt es in dem Stück (V. 132–134). Vielmehr habe er sich „den schönsten Zweck der Herrschenskunst erkoren“, der die „Ehre“ (V. 136) und die „Pflicht“ (V. 201) der „guten Fürsten“ sei: „wenn sie der Noth der Armen, / Des Elends ihres Volks, als Väter sich erbarmen.“ (V. 137f.) Dieses Ideal hielt Gottsched seiner Gegenwart und den „Fürsten von der gemeinen Art“ vor. Doch bliebe die Forderung nach einem väterlichen Fürsten ein verhältnismäßig abstraktes moralisches Postulat, würde Gottsched das Fürstenideal nicht konkret auf das Volk beziehen. „Die Kraft der Volksmassen bleibt im Drama stets gegenwärtig, obwohl Vertreter des Volkes nicht auf der Bühne erscheinen“, schrieb Werner Rieck zu Recht.68 So ist die Trennung von dem Volk auch mit ein Grund für das Scheitern des Agis. „Dein Herz ist zwar getrost, dein Vorsatz tadelfrey“, gesteht seine Frau Agiatis ihm zu, um sogleich die entscheidende Frage zu stellen: „Doch, Agis, stimmt dir auch der Mund des Volkes bey?“ (V. 1143f.) Gottsched ließ seiner Zeit gemäß die Handlung des Stücks eben nicht „vor den Augen alles Volks“ spielen, sondern in dem abgeschlossenen Palast des Agis. Der will zwar für sein Volk arbeiten, aber er hat keinen Kontakt zu der Gruppe, die ihm die Machtbasis sein müsste. Die Rede an das Volk hält Lysander, während Agis im „Rath“ an das Gewissen der Reichen appelliert. Agis und das Volk hören nur per Gerücht von einander. Wie König Heinrich in der Parisischen Bluthochzeit muss Agis seine Vertrauten ausschicken, um zu erfahren, „was der Pöbel macht“ (V. 1210) – er selbst hat in seinem Vertrauen auf „die Huld des Himmels“ und seinen „tadelfrey[en]“ „Vorsatz“ zumindest insoweit den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren, als dass er sich keine Gedanken um die Umsetzbarkeit seiner Reformen macht, und das heißt konkret: nicht darauf achtet, was das Volk als natürlicher Verbündeter von seinem Handeln denkt. „Was recht und billig ist, bereut ein Weiser nicht; / Obgleich die halbe Welt dem Absehn widerspricht“ 68
Rieck: Johann Christoph Gottsched, S. 231; ebenso in: Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur. 8. Aufl. Berlin 1986, S. 230.
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(V. 1489f.), ist Agis’ Maxime; notfalls sei er für die gute Sache „bereit zu sterben“, antwortet er auf die zitierte Frage seiner Frau nach der Meinung des Volks (V. 1157).69 Agis’ Tragödie ist die einer sich selbst allzu gewissen Tugend. Der Bosheit der Welt muss „selbst die Tugend […] oft ins Netz gerathen“ (V. 1150), sagt Agiatis mit großem Recht; und zwar dann, wenn sie sich nicht auf die reale Welt bezieht, sondern auf ein imaginäres Reich der Sittlichkeit. Gottsched gestaltete mit seinem Agis die Tragödie des Sozialrevolutionärs ohne soziale Basis. Es ist daher nicht zutreffend, wenn Jürgen Jacobs in seinem Artikel zum „klassizistischen Drama der Frühaufklärung“ (S. 64) schrieb: „Das Stück verfolgt keine sozialrevolutionären Absichten“, weil die Reform vom „legalen König“ betrieben, die Monarchie aber nicht in Frage gestellt werde. Dass Gottsched die Frage nach der politischen Verfassung von der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft trennte, kann ihm angesichts seiner umgebenden Realität nicht zum Vorwurf gemacht werden. Im Gegenteil scheint es mir ein Gebot des Realismus in jeder Hinsicht, die Form der politischen Organisation gegenüber der materiellen Lebenswirklichkeit nicht überzubewerten. Die Geschichte hat die idealistische Annahme, mit der Schaffung von demokratischen Institutionen würden Freiheit und Gleichheit automatisch einher gehen, längst widerlegt. Agis jedenfalls verfolgt sehr wohl sozialrevolutionäre Absichten, denn wie anders sollte man den Versuch bewerten, gesellschaftliche Gleichheit und Freiheit durch gleichmäßige Verteilung des Eigentums zu erlangen? Ob die Institution der immerhin gedoppelten Monarchie, die in diesem Stück durch die beiden anderen politischen Institutionen des (aristokratischen) Rats und der (demokratischen) Volksversammlung gebunden ist,70 nach einer ökonomischen Neuordnung des Staats noch die angemessene sein würde, wird in dem Stück in der Tat nicht gefragt; das liegt aber daran, dass Gottsched Sparta eben nicht als einen monarchisch organisierten Staat begreift, sondern als einen, „wo mehr als einer herrscht“ (V. 1071). Aus der Perspektive des frühen 18. Jahrhunderts lag darin für Gottsched sogar das Haupthindernis bei der Durchsetzung der Reform. „Wie oft stört hier ein Haupt dem andern sein Bemühn?“, fragt Agis verzweifelt über die Widerstände, die sich seinem tugendhaften Wollen in den Weg stellen: „Wahr ists, ein böser Fürst kann unsern Staat nicht drücken, / Der andre weis ihm leicht sein
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Vgl. dazu Catos Haltung, der sich ebenfalls auf das Gesetz in seiner Brust beruft, nicht aber auf die politischen Institutionen („Rath und Volk“). Die Argumentation ist bei Gottsched durchgehalten und klingt auf ästhetischem Gebiet zum Beispiel so: Aristoteles’ Lob für Homer wiege schwerer als der „Beyfall von ganz Griechenland“, da er verständig urteile und „auf das innerste Wesen einer Sache“ sehe, „da hergegen der unverständigste Pöbel, ja selbst die Helden, Gesetzgeber und Prinzen, nebst der Menge der Halbgelehrten, dergleichen Werk nur obenhin ansehen, und weder alle Schönheiten, noch alle Fehler desselben wahrzunehmen, im Stande sind.“ (Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6.2, S. 279f.; Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 469f.) Vgl. vor allem V. 293ff., V. 777f., V. 1070f.
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Absehn zu verrücken: / Allein ein guter Prinz, der Heil zu stiften denkt, / Wird auch nur gar zu oft vom andern eingeschränkt“ (V. 1072–1076).71 Die Tragik des guten Fürsten, der zum „Heil des Volkes“ (V. 1060) arbeiten will, ist, dass er nicht ohne Weiteres auf die Unterstützung derer, für die er wirkt, bauen kann. Das Elend, in das die Reichen die Armen gebracht haben, macht sie zugleich anfällig für die „Verführung“, gegen die eigenen objektiven Interessen zu handeln. Lysander formuliert das Problem in einem Gespräch mit Agis so: Es theilt sich Sparta jetzt in widrige Parteyen. Der Armen Zahl ist groß; allein von schlechter Macht. Du König, hast sie zwar aus tiefer Schuld gebracht; Allein, das läßt sie noch in ihrem Unvermögen: Die Reichen aber, sind an Gütern überlegen; Und durch ihr baares Geld, das auch den Pöbel zwingt, Geschiehts, dass ihrer Zahl ein Anschlag leicht gelingt. (V. 982–988)
Die einzige Chance, die Agis zur Durchsetzung seiner Reform hätte, wäre der Macht des baren Gelds die Macht des vernünftigen Arguments entgegen zu setzen. Doch die Möglichkeit, das Volk dadurch zu gewinnen, dass man es informiert, nutzt Agis, wie bereits geschildert, nicht. Entweder aus Resignation über die von Anfang an in der aufklärerischen Literatur geäußerte bittere Erkenntnis, dass nicht die Vernunft, sondern das Geld die Welt regiert,72 oder aus intellektuellem Hochmut, wie er die Aufklärung ebenfalls von Anbeginn an kennzeichnete. „9 Zehntheile der Menschen“ lebten nicht anders als Tiere und seien allein mit ihren körperlichen Bedürfnissen beschäftigt, hieß es Mitte der 1750er Jahre in der Moralischen Wochenschrift Mensch,73 und das schlimmste sei, dass nicht ein Fünkchen der „edlen Menschheit“ in ihnen sei: „Ich habe mit Bestürzung sehr Viele angetroffen, die nichts anderes denken können als was ihren thierischen Theil betrifft. Ich will jetzo dieser unglückseligen Zehntheile des menschlichen Geschlechts nicht weiter gedenken“, hieß es weiter. Die Aufklärung wandte sich in der Regel nur an „den übrigen zehnten Theil“ – und scheiterte damit, weil sie sich freiwillig von der 71
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Vgl. die Ausführungen zu den „Unbequemlichkeiten“ verschiedener „Regierungsformen“ in den Ersten Gründen der Gesammten Weltweisheit (2. Teil, § 754): „In dem Bürgerregimente werden zwar die alten Gesetze und Gebräuche gemeiniglich sehr strenge beybehalten: allein mit neuen Schlüssen und Anschlägen, geht es überaus langsam her; zumal wenn etwa in Kriegszeiten, die Auflagen und Kriegsheere vergrößert werden sollen. Nicht viel besser geht es in Aristokratien, wo gleichfalls im Nothfalle, immer widrige Parteyen sind: die sich auch den heilsamsten Anschlägen aus Privatabsichten, oder andern Scheingründen, widersetzen. In einer Monarchie hergegen, gehen alle solche Dinge, die Verschwiegenheit und Geschwindigkeit erfodern, am besten von statten“ (Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 5.2, S. 468). Vgl. z.B. Barthold Feinds Satire vom Lob der Geldsucht, die er als überarbeitete und aktualisierte Übersetzung von Jeremias Deckers gleichnamiger Schrift 1704 herausgab; abermals gedruckt als (unabhängig paginierter) Anhang zu Feind: Deutsche Gedichte (1708). Mensch. 12 Theile (1751–1756), 29. Stück; zit. nach Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 384f.
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Schicht distanziert, die allein das Regiment der Bürger – für das Agis hier steht (vgl. den oben zitierten Nachruf von Agiatis) – materiell hätte durchsetzen können. Die gemeine Wohlfahrt befördern? Johann Christoph Gottsched gehörte als Pfarrerssohn und Student der Philosophie, Mathematik, Physik, klassischen Philologie, Poesie und Rhetorik, der sein Studium mit einer Dissertation über ein meteorologisch-physikalisches Thema abschloss, zu jener neuen Gelehrtenschicht des 18. Jahrhunderts, die mit dem Staat, den Höfen und ihren Kanzleien kaum zu tun hatte. Anders als die dichtenden Juristen des 17. Jahrhunderts war er weder in die praktische Politik (wie z.B. Gryphius oder Lohenstein) noch in die direkte Ausbildung künftiger Staatsdiener (wie Weise etwa) involviert. Bevor Gottsched im Oktober 1757 dreimal die Gelegenheit bekam, mit seiner Majestät Friedrich II. von Preußen zu einem Gespräch über kulturelle Fragen zusammenzutreffen,74 waren die Versuche einer Einflussnahme auf die Mächtigen äußerst indirekt. 1732 war davon die Rede, dass man als bürgerlicher Gelehrter allenfalls über „Bilder der Poesie“ hoffen könne, auf die „Gewaltigen dieser Erden“ zu wirken.75 Auch nach dem natürlich völlig folgenlosen Gespräch mit König Friedrich sah sich Gottsched wieder auf einen indirekten Weg der Kontaktaufnahme verwiesen. Anfang 1758 ließ er von Magnus Gottfried Lichtwers Das Recht der Vernunft, in fünf Büchern eine luxuriös, ja geradezu fürstlich ausgestattete Ausgabe mit einer Widmung an Friedrich II. herstellen, mit der er den König an „die reinsten Quellen aller bürgerlichen Gesetze“ erinnern wollte. „Mich dünkt“, schrieb er an den Verfasser, „dem Urheber des Codicis Friedericiani dürfte man wohl etwas von den Quellen aller Gesetze vorsagen, ohne ihn verdrüßlich zu machen“.76 Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass Lichtwers pazifistisches Lehrge-
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Gottsched berichtete darüber in einem langen Brief an Flottwell vom 22. Okt. u. 1. Nov. 1757 (vgl. Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben nach seinen Schriften, seinem Briefwechsel und den Berichten seiner Zeitgenossen zus.gest. v. Franz Eyssenhardt. 2. Aufl., neubearb. u. erg. v. Georg Winter. 2 Bde. Leipzig 1910, Bd. 2, S. 41–48). König Friedrich bedankte sich am 16. Okt. 1757 mit einem Gedicht in französischer Sprache, die Gottscheds literarische Reformbemühungen gleichermaßen lobten wie lächerlich machten; ich zitiere aus einer deutschen Übersetzung den Schluss: „Du Schwan von Sachsen, Dir / Ist es allein geglückt, / Natur, der kargen, Schönheit abzuringen. / Du zwangest eine Sprache der Barbaren, / An Lauten reich, die rauh und widrig waren [gemeint: der Konsonantenreichtum der deutschen Sprache], In Deinen Liedern lieblicher zu klingen. / So füge denn mit Deinem Saitenspiel, Getreu dem göttlichen Virgil, / Zur Siegespalme, des Germanen Preis, / Apollos schönsten Lorbeerreis!“ (Friedrich der Große: Poetische Seitensprünge. Gedichte. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Wolfgang Widdel. Stuttgart 1987, S. 68.) Siehe oben S. 186. Magnus Gottfried Lichtwer / Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel, Fabeln, Rezensionen. Hg. v. Walter Hettche. Bielefeld 2003, S. 28 u. 33 (Gottsched an Lichtwer, 14. Dez. 1757 bzw. 28. Dez. 1757).
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dicht auf den preußischen König, der gerade einen Präventivkrieg vom Zaun gebrochen hatte, größeren Eindruck machte. „Die gemeine Wohlfahrt“ zu „befördern“, wie es nach Gottsched seit Homers Zeiten einer der wichtigsten „Endzwecke“ der Poesie war,77 schien nicht mehr auf direktem Weg möglich zu sein. Die Aufmerksamkeit des Dramatikers galt nicht dem verantwortlichen Politiker und seinen Widersachern, sondern dem Menschen an sich: Der Appell des bürgerlichen Trauerspiels galt den Fürsten, Höflingen, Gelehrten, Kaufleuten und Handwerkern gleichermaßen, insofern sie alle Menschen waren. Aus dem Trauerspiel als Institution historisch-politischer Gelehrsamkeit wurde also eine philosophische Einrichtung; das Theater verwandelte sich von einer Schule der Welt in eine moralische Anstalt.78 In Gottscheds Œuvre ist dieser Prozess allerdings noch nicht völlig zu Ende geführt. Anders als viele seiner Anhänger wusste Gottsched noch, wogegen sich seine Theaterreform richtete; er kannte auch die dramatische Literatur des vorigen Jahrhunderts gut und er bestand entgegen anders lautenden Merksätzen in seinen poetologischen Äußerungen wie jene Autoren auf historisch gewissenhafter Quellentreue. Ja, er inszenierte die Schwierigkeiten bei der Gewinnung historischer Wahrheiten in seinen Stücken selbst, wie Dirk Niefanger kürzlich zeigte.79 Entsprechend finden sich etwa in der Parisischen Bluthochzeit Elemente einer Darstellung des Volks als politischem Subjekt, die zu der deduktiven Philosophie und dem Dramenmodell Gottscheds nicht passten, sich aber den Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts verdankten. Und inwiefern man die anhand literarischer oder historiografischer Quellen und womöglich eigener Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse über das politisch eigenständig handelnde Volk auf raffinierte Weise innerhalb des klassizistischen Dramenmodells, das dem Absolutismus der eigenen Zeit gemäß schien, fruchtbar machen konnte, zeigt Agis, König von Sparta. Die Tragödie des Titelhelden ist ja zugleich die des Volks von Sparta, das die dem Gemeinwohl und damit ihm selbst verpflichteten Reformen des einsamen Königs zunichte macht, weil die politischen Fragen der Zeit nicht coram publico diskutiert werden, sondern hinter verschlossenen Türen geheimer Kabinette. Wenn man bedenkt, dass es für den republikanisch gesinnten Gottsched ein großer Vorzug der antiken Tragödie, etwa Sophokles’ Oedipus Tyrannos, war, dass alle Handlung „draußen auf dem Schloßplatze, vor den Augen des gesamten Volks“ vorgehe,80 dann kann man ermessen, welche Zeit eigentlich gemeint ist, wenn der Autor seinen antiken Stoff im Gewand der neuzeitlichen Tragödie à la française abhandelte.81 77 78 79 80 81
Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 90. Vgl. Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706, S. 237f. Vgl. Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, S. 294–306. Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6.2, S. 321; Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 616. Durchaus im Sinn seines Vorgängers Pierre Corneille, der natürlich auch wusste, dass bei den „Alten“ die Handlung „auf öffentlichen Plätzen“, d.h. also „vor den Augen des Volks“ vor sich
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Ein ‚Gottschedianer‘: Georg Behrmann In Hamburg, wo um 1730 Georg Philipp Telemann die deutsche Oper zu ihrer letzten Blüte führte, war „Gottscheds Einfluß niemals erheblich gewesen“.82 Eine Ausnahme war der „unstudirte, aber durch Selbststudium gebildete“83 Kaufmann Georg Behrmann (1704–1756), ein Freund Friedrichs von Hagedorn, der als Mäzen für das Schauspiel auftrat und sich selbst als Autor für die Erneuerung des Dramas im Geist der französischen Klassik engagierte. Neben einer Übersetzung von Pierre Corneilles Gedanken von den Schauspielen und dem politischen Trauerspiel Rodogüne, Prinzeßin der Parther (zuerst gedruckt postum 1767) trat er besonders mit zwei Theaterstücken hervor, erstens mit den Horaziern (uraufgeführt 1733 durch die Neuber’sche Schauspieltruppe) und zweitens mit dem Timoleon (uraufgeführt 1735 durch die gleiche Truppe). Beide Stücke überarbeitete Behrmann jeweils noch einmal für die Aufführungen von Johann Friedrich Schönemann (1747 bzw. 1741), Die Horazier erfuhren 1751 sogar für eine Privataufführung noch eine dritte Umarbeitung, bevor sie im Druck erschienen. Gottsched lobte Behrmanns Stücke öffentlich in der Vorrede zum zweiten Band der Deutschen Schaubühne (1741) sowie an verschiedenen anderen Stellen.84 Auch dessen literaturkritischer Erzrivale Johann Jakob Bodmer lobte den „witzigen Deutschen“ aus Hamburg und ermunterte ihn, „in dieser Dichtungsart fortzufahren“.85 Sogar in Frankreich war das Stück durch ein lobendes Referat und eine Prosaübersetzung von Jakob Friedrich von Bielfeld bekannt geworden.86 Die Horazier sind eine freie Bearbeitung des Horace (1641) von Pierre Corneille. Behrmann „schrenk[t]e die Handlung ungleich kürzer ein, als Corneille“,
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ging; doch verzichtete er bei der klassizistischen Erneuerung des französischen Theaters auf derartige Szenen, weil sie völlig unzeitgemäß gewesen wären. Daher bediente sich Corneille nach eigener Aussage „der Freyheit, die Könige und Prinzeßinnen aus ihren Zimmern zu ziehen, nicht“ (Troisième Discours; deutsch zit. nach: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 4. St., S. 568f.; vgl. Corneille: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 188: „Nous ne prenons pas la […] liberté de tirer les rois et les princesses de leurs appartements […]“). Th. W. Danzel (Hg.): Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Leipzig 1848, S. 118. Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg 1794, S. 221. Vgl. die unpaginierte Vorrede zu: Die deutsche Schaubühne. Zweiter Theil. Leipzig 1742; Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Bd. 6, S. 521ff. u. Bd. 7, S. 668. Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke. 5 Bde. Hg. v. Johann Joachim Eschenburg. Fünfter Theil: Auszüge des von Hagedornischen Briefwechsels. Hamburg 1800, S. 165 (Bodmer an Hagedorn, 30. März 1744); im Nachlass Bodmers befindet sich auch eine zwölf Oktav-Seiten umfassende „Betrachtung des Trauerspiels von den Horatiern“ Behrmanns, in der Bodmer im Wesentlichen Beobachtungen zu den Charakteren des Stücks notierte; z.B. störte es Bodmer, dass Camilla in Behrmanns Trauerspiel „so wenig sagt“ und abwechselnd römisch und albanisch denke (ZBZ Ms. Bodmer 39.1, p. 2). Die Exposition der Horazier fand Bodmer indessen ausgezeichnet. Vgl. Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 131f.
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wie er in seiner Vorrede zum Erstdruck 1751 schrieb, und machte das Stück dadurch noch ‚regelmäßiger‘ als das Original, weil er die „doppelte Handlung“ („action double“ nannte dies Corneille, nämlich den Kampf „zwischen den Römern und den Albanern“ und „den Schwestermord“) vermied. Sein Stück beginnt nämlich „erst, nachdem der Kampf der sechs Helden bereits beschlossen ist, und höret schon wieder mit der Wuth auf darinn Camilla geräth, als sie die Nachricht erhält, daß Rom gesiegt, und ihr Bräutigam, der Curiaz, das Leben dabey eingebüsset hat“.87 Bezeichnend für den moralischen Fundamentalismus, in dem sich die Tragödie der Anhänger Gottscheds gefiel, ist, dass die politische Handlung des Dramas vollständig auf die private Ebene heruntergebrochen wurde. Das Thema des Stücks ist die bekannte römische Sage von den Horatiern und den Curiatiern, die unter anderem Titus Livius in Ab urbe condita (I. Buch, 24.–26. Kap.) erzählte.88 Der Krieg zwischen Rom und Alba Longa (um 667 v. Chr.) soll stellvertretend durch den Kampf von jeweils drei von jeder Seite zu bestimmenden Kriegern entschieden werden; die von Rom nominierten drei Horatier waren jedoch mit den von Alba nominierten drei Curiatiern durch Heirat verschwägert, genauer gesagt ist in Corneilles und Behrmanns Tragödie der junge Römer Horaz mit Sabina verheiratet, einer Schwester der Curiatier; und die Schwester der Horatier, Camilla, ist mit dem Albaner Curiaz verlobt. Der tragische Konflikt ist der zwischen Patriotismus und Freundschaft bzw. Liebe. Horaz und Curiaz sind die besten Freunde, stellen aber beide die Pflicht des Patriotismus über die Freundschaft zu einander (III/2, S. 51: „In uns verstummt der Freund, sobald der Bürger spricht“), was sie einander noch werter macht. Die jeweils ins ‚Ausland‘ verheiratete bzw. versprochene Sabina und Camilla sind ebenfalls dem tragischen Konflikt ausgesetzt, entweder den Bruder oder den Gatten bzw. Verlobten von des jeweils Anderen Hand fallen sehen zu müssen, so dass ihre Loyalität „zweifelhaft“ ist, wie sich Sabina ausdrückt: „Ich wähle nimmer recht“ (II/1, S. 28); „Ich thu auch, was ich will, so brech ich meine Pflichten“ (III/7, S. 65). Der ‚musterhafte‘ Held ist in diesem Stück der junge Horaz, dessen patriotischer Heroismus von keinerlei emotionalem Zweifel ‚angekränkelt‘ ist. Der amerikani-
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Georg Behrmann: Die Horazier. Ein Trauerspiel. Hamburg 1751, S. [VIII]f.; zitiert im Folgenden unter Angabe von Akt/Szene und Seitenzahl. – Die Handlung von Behrmanns Stück entspricht in etwa derjenigen in den Szenen I/3 bis IV/4 von Corneilles Horace (vgl. Corneille: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 852–885). Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. 4 in 6 Bdn. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967–1992, Bd. 1, S. 229: „Livius wußte schon nicht einmal mehr mit Gewißheit zu sagen, ob die Horatier oder die Kuriatier die Römer waren“ (Sudelbuch D, Nr. 8, mit Bezug auf Titus Livius: Ab urbe condita 1, 24, 1: „In re tam clara nominum error manet, utrius populi Horatii, utrius Curiatii fuerint“ (vgl. Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. K1/2, S. 226). Es gäbe aber mehr Geschichtsschreiber, „welche die Römischen Brüder Horatier nennen“, so dass Livius glaubte, diesen folgen zu müssen“ (Titus Livius: Römische Geschichte. 4 Bde. Übers. v. Konrad Heusinger, neu hg. v. Otto Güthling. Leipzig 1884–1885, Bd. 1, S. 50).
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sche Übersetzer Lacy Lockert nannte ihn deswegen einen „single-minded zealot“.89 Ihm zur Seite steht seine Frau Sabina, die ihren Gefühlskonflikt, ihr „Leid“, „aus Zärtlichkeit [zu] verhehlen“ lernt; ihr weiblicher Heroismus ist bereit, „Alles“ zu „unterdrück[en], was“ sie „quälet“ und was die patriotische Pflicht und den „Ruhm“ der „Männer“ kompromittieren könnte (IV/4, S. 80–85). Im Gegensatz dazu stehen Curiaz und seine Verlobte Camilla; er kennt den Schmerz der emotionalen Verbundenheit mit seinem Freund und seiner zukünftigen Frau aus Rom, aber wie seine Schwester Sabina kann er ihn beherrschen und überwinden. Camilla dagegen ist ganz unrömisch ihren Gefühlen hingegeben und wird am Ende wahnsinnig (IV/6, S. 109: „Sie rast“), ja, sie verflucht sogar ihre Heimatstadt, ihre Nation, ihren Bruder und seinen Erfolg: „ich will alle Welt und Höll und Götter bitten, / Daß sie durch Krieg und Mord Roms sichern Staat zerrütten; / […] / Verwünscht, vermaledeyt sey der Albanische Krieg! / Verflucht der Römer Glück, der Sieger und der Sieg!“ (V/7, S. 109f.) Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Camilla als Negativfigur gemeint ist, schon bei Corneille und erst Recht bei Behrmann. Gleichwohl ist sie die Einzige, die in den Horaziern Ansätze zu einem politischen Bewusstsein hat. Sie äußert sich bereits in der ersten Szene des Stücks pazifistisch und verdammt den Krieg an sich (I/1, S. 4 u. 6); sie klagt zum Entsetzen eines römischen Patrioten (I/1, S. 5: „Verklagst du Könige?“) den römischen König Tullus Hostilius an, einen ungerechten Expansionskrieg begonnen zu haben und so „alle Majestät der Könige“ eingebüßt zu haben (I/2, S. 12);90 sie hält den patriotischen Heroismus für eine ‚Rebellion‘
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Pierre Corneille: The Chief Plays. Translated into English Blank Verse with an Introductory Study of Corneille by Lacy Lockert. Princeton 1952, S. 11. „Die Unversöhnlichkeit wohnt nur in niedern Geistern / Und eines Weisen wird sich Rachgier nie bemeistern, / Dem süßen Frieden hold, flieht er unnützen Krieg / Und wählt Vergleich und Loos für einen blutgen Sieg“, heißt es in dem erwähnten Lehrgedicht Lichtwers, mit dessen Hilfe Gottsched den preußischen König für die Aufklärung zu gewinnen hoffte (vgl. Lichtwer/Gottsched: Briefwechsel, S. 21). Für den späten Aufklärer Friedrich Gottlieb Klopstock war vor allem die Friedenserklärung der Pariser Nationalversammlung an die Welt vom 22. bzw. 24. Mai 1790, in der die französische Nation darauf verzichtete, „einen Krieg zu Eroberungszwecken zu unternehmen“, Zeichen des Anbruchs eines neuen Zeitalters (vgl. Walter Markov: Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789–1799. Band 1: Aussagen und Analysen; Band 2: Gesprochenes und Geschriebenes. Leipzig 1986, Bd. 1, S. 158). Auf dieses Dekret – „aller Gesetze schönstes“ – kam Klopstock immer wieder zurück. Die Ächtung des Angriffskriegs erschien ihm als der entscheidende Bruch mit dem Despotismus des Ancien Régime, „denn in den Kriegen werden vergötzten Herrschern Menschenopfer gebracht“. Er feierte das Dekret: „So gar das gräßlichste aller / Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!“ – „Jetzo lag an der Kette das Ungeheuer, der Greuel / Greuel! itzt war der Mensch über sich selber erhöht!“ In seiner Solidarität mit der Revolution konnte ihn nichts irre machen, solange das „heilige Wort“: „Kein Eroberungskrieg!“ die Maxime der Revolutionsregierung blieb: „Wenn ihr auch ganz das Gebäu des Staats umstürzetet, mußte / Dennoch die nie vernommene, die menschliche, edle Verheißung / Unerschüttert stehn, in der Mitte der großen Trümmer, / Stehn, wie der Fels im Ocean!“ (Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden und Epigramme. Leipzig 1893, S. 218f., 220f., 228 u. 242f.: „Sie und nicht wir“ 1790; „Der Freyheitskrieg“ 1792; „Der Eroberungskrieg“ 1793; „Das Versprechen“ 1795.)
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gegen die Menschlichkeit (IV/2, S. 76f.), und sie vermutet, dass „der Herrscher Stolz“ einmal „die Behrrschten […] erbittert“ (I/2, S. 15), so dass die Folge immer nur mehr Blutvergießen und Unfrieden sein wird. In mancherlei Hinsicht nimmt Camilla sogar die Haltung Gotthold Ephraim Lessings vorweg, der „die Liebe des Vaterlandes“ für eine „heroische Schwachheit“ hielt, die er „recht gern entbehre“, und der sich über die „Halsstarrigkeit der Tugend“ beklagte, die Corneilles Helden beseelten.91 Aber Camillas unzeitgemäße Einstellung hat kein Widerlager in ihrer gesellschaftlichen Umgebung. Ihr Antiheroismus fände allenfalls in der Moral der Unterschichten ein Pendant, doch die kommen in dem Stück bis auf eine Stelle nicht vor. An dieser einen Stelle erwähnt Seciena, die Mutter der Curiatier – Behrmann ersetzte durch diese Figur die Julie genannte gemeinsame „confidente“ Camillas und Sabinas in Corneilles Stück –, die auf dem Kampfplatz, wo ihre Söhne gegen die Horatier antreten sollen, versammelten gemeinen Leute: Das Volk, von Beyleid leer, von Grausamkeit erfüllt, Von einer Sehnsucht voll, die Blut und Mord nur stillt, Von Ungedult, von Furcht und Hoffnung eingenommen (V/1, S. 91).
Das Volk spiegelt also den von Camilla beklagten unmenschlichen Blutdurst ihrer Brüder und Schwäger; wenn es nicht nur eine gleichsam selbstverständliche Floskel ist, die Behrmann gebrauchte, um die Szenerie in der Erzählung der Seciena ‚atmosphärischer‘ zu gestalten. Bezeichnenderweise gibt es in Corneilles Drama für diese Nebenbemerkung keinerlei Vorlage. Im Gegenteil; zwar gibt es auch bei Corneille volksfeindliche Repliken, doch stammen sie stets von den erzaristokratischen Horatiern;92 der menschlichere Curiatius erkennt Volkes Stimme als Instanz
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Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001, Bd. 11.1, S. 311f. (an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 14. Feb. 1759); vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 465 (Ernst und Falk, II. Gespräch): „Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus, Tugend zu sein aufhöret“; sowie Lessings Brief an Mendelssohn vom 28. Nov. 1756, wo er sich über die „Halsstarrigkeit der Tugend“ beklagt (Werke und Briefe, Bd. 11.1, S. 130). „Halsstarrigkeit und Stolz und Mord“ wirft Behrmanns Camilla ihrem Bruder im Namen einer um 1730 noch seltenen Empfindsamkeit vor: „Grausamer, du erstickst Natur und Zärtlichkeit“; „Die Unempfindlichkeit bringt keinem Helden Ehre“ (IV/1, S. 70f.). Mit der Denunziation der ‚impassibilité‘ kritisiert Camilla einen Zentralbegriff des Ethos’ Corneillescher Heroen. Vgl. Corneilles Horace, wo IV/1 der alte Horatius sagt, die öffentliche Meinung wiege „peu“ oder „nichts“, und V/3 seinen Sohn warnt: „Horace, ne crois pas que le Peuple stupide / Soit le maître absolu d’un renom bien solide. / Sa voix tumultueuse assez souvent fait bruit, / Mais un moment l’élève, un moment le détruit“ („glaub’ nicht, das dumme Volk / Sei unbedingter Herr des sichern Rufes; / Wol oft macht seine stürm’sche Stimme Lärm, / Doch kaum erhoben sinkt sie auch schon wieder“); der junge Horatius meint V/2: „Le Peuple […] voit tout seulement par l’écorce“ („Das Volk sieht Alles oberflächlich nur“). (Corneille: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 879, 899 u. 895; ders.: Horatius. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dt. v. Karl Theodor Gaedertz. Leipzig 1929, S. 38, 59 u. 55.)
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des (Nach-) Ruhms an.93 Vor allem aber unterscheidet sich die Darstellung des Volks in der Szene vor dem Kampf der Brüdertrios: In Corneilles Horace bricht ein „Aufruhr“ („tumulte“) aus, und zwar bei dem römischen und dem albanischen Volk („se mutinent“), der die Autorität der Führung („Chefs“) fast vernichtet: „Dahin scheint ihre Macht“ („Leur pouvoir est douteux“). In beiden Lagern will das Volk nicht zulassen, „wie so nahverwandte Freunde / Selbst in den Tod für’s Vaterland sich“ stürzen („de tels amis, des personnes si proches, / Venir pour leur Patrie aux mortelles approches“); man ist „bewegt zum Mitleid“ oder „erfüllt mit Grausen“ („L’un s’émeut de pitié, l’autre est saisi d’horreur“), nur wenige empfinden „Bewundrung / Ob solches edlen Eifers Wuth“ („un si grand zéle admire la fureur“), den andere wiederum für „grausam“ und „gottvergessen“ halten („sacrilège et brutale“). Ces divers sentiments n’ont pourtant qu’une voix, Tous accusent leurs Chefs, tous détestent leur choix, Et ne pouvant souffrir un combat si barbare, On s’écrie, on s’avance, enfin on les sépare.94 Doch die verschiedenen Gefühle haben Nur eine Stimme: Ihre Führer klagen Sie sämmtlich an, verwünschen deren Wahl. Man kann so grausam rohen Kampf nicht dulden, Man schreit, man läuft herzu und trennt sie endlich. (III/2)95
Dem Volk mangelt es an der heroischen Gesinnung des alten Adels, könnte man sagen, oder: Es ist menschlicher als die Aristokratie. Die „Edlen“ („cruels généreux“ nennt sie Julie) denken anders und halten das „Mitleid“ für „schmachvoll“, den grausamen Kampf aber für eine „Ehre“ („La gloire de ce choix leur est si précieuse, / Et charme tellement leur âme ambitieuse, / […] Et prennent pour affront la pitié qu’on a d’eux“). Der Aufruhr des Volks kann in beiden Lagern nur dadurch gestillt werden, dass man die Entscheidung über den Kampf den Göttern überlässt und eine Opferbefragung ansetzt. Gegen den „Götterwillen“, der den Brüderkampf wünscht, unternimmt das Volk dann bei Corneille nichts mehr. Allerdings fordern die „guten Bürger“ („les gens de bien“) Roms am Ende aus „Gerechtigkeit“ („justice“) die Aburteilung des Horatius, der seine Schwester erschlug, die aus Trauer um ihren gefallenen Verlobten das Vaterland beleidigte (V/2).96 Doch wird dem Wunsch des Volks nach Sühnung des „Verwandtenmords“ („parricide“) nicht statt gegeben, weil der heroische Patriotismus durch den König als Staatsideologie anerkannt und über Recht und Gesetz gestellt wird:
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Vgl. Corneille: Horace II/5 (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 862; Horatius, S. 22). Corneille: Œuvres complètes, Bd. I, S. 870f. Corneille: Horatius, S. 29f. Corneille: Œuvres complètes, Bd. I, S. 893f.; Horatius, S. 52–54.
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Cette énorme action faite presque à nos yeux Outrage la Nature, et blesse jusqu’aux Dieux. […] Les moins sévères lois en ce point sont d’accord, Et si nous les suivons, il est digne de mort. […] mais tous ne peuvent pas Par d’illustres effets assures leurs États, Et l’art et le pouvoir d’affermir des Couronnes Sont des dons que le Ciel fait à peu de personnes, De pareils serviteurs sont les forces des Rois, Et de pareils aussi sont au-dessus des lois. Qu’elles se taisent donc […]. Ja! Die Gewaltthat, hier vor uns begangen, Beleidigt die Natur, verletzt die Götter.[…] Es stimmen selbst die mildesten Gesetze In diesem Punkte überein; und folgen Wir ihnen, so ist er des Todes werth! Doch […] kann […] nicht jeder Durch Ruhmestaten ihre Staaten sichern. Die Kunst und Kraft, um Kronen zu befest’gen, Die Gabe gibt der Himmel Wen’gen nur. Dergleichen Diener sind der Kön’ge Stützen, Dergleichen über das Gesetz erhaben. So schweig es denn! (V/3)97
Und das Volk schweigt auch. Corneilles Stück endet mit dem Monolog des Absolutisten Tullus. Behrmanns Stück endet wie gesagt noch früher, nämlich mit dem Fluch Camillas, so dass der Dichter sich mit der in der Quelle ebenso wie bei Corneille vorgegebenen „indignation of the people“ (so nennt es Lemprière’s Classical Dictionary)98 nicht beschäftigen musste. Behrmanns von „Beyleid“ ganz freies, nach „Grausamkeit“, „Blut und Mord“ gierendes Volk hätte sich zu einer Anklage des patriotischen Schwestermörders wohl auch nicht hinreißen lassen. Noch bezeichnender für das neuartige Verhältnis, das die Dichter der Aufklärung zu dem Volk als politischem Subjekt entwickelten, ist das zweite, seinerzeit noch erfolgreichere Trauerspiel Behrmanns, der 1741 erstmals gedruckte Timoleon, den man – „da der Verf[asser] seinen Stof ganz durchaus aus der Geschichte nahm, und nicht […] mit fremden Lappen zusammenflickte“ – „das erste deutsche Originaltrauerspiel“ nannte.99 Das Thema des Stücks ist aus dem Geschichtswerk Diodors (16. Buch, 65. Kap.) bzw. den Biographien des Cornelius Nepos und des Plutarchos bekannt: Timoleon „was such an enemy to tyranny, that he did not hesitate to murder his own brother Timophanes, when he attempted, against his 97 98 99
Corneille: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 900; Horatius, S. 60. Lemprière’s Classical Dictionary. (Revised version of 1850.) London 1994, S. 315. Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte, S. 225; ebd., S. 272: „Behrmanns Timoleon sah man oft und gern“. Zur Aufführungsgeschichte von Behrmanns Timoleon in den Reichsstädten Hamburg und Frankfurt siehe Ferdinand Heitmüller: Hamburgische Dramatiker zur Zeit Gottscheds und ihre Beziehungen zu ihm. Ein Beitrag zur Geschichte des Theaters und Dramas im 18. Jahrhundert. Wandsbeck 1890, S. 22–28.
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representations, to make himself absolute in Corinth“.100 In Behrmanns Drama zögert Timoleon natürlich und schreckt vor dem Brudermord zurück, will ihn und will ihn doch nicht, wie denn für das Stück insgesamt gilt, dass darin die „Personen […] oft statt zu handeln viel reden und sich wiederholen“, wie Johann Friedrich Schütze seinerzeit anmerkte.101 General Timophanes hat seinen Schwiegervater und rechtmäßigen „Bürgermeister“ Aeschylos gestürzt, den „Staat […] umgekehrt“ (IV/4, S. 85)102 und sich zum Tyrannen von Korinth aufgeschwungen. Er ist auf die Macht und seinen „Ruhm“ bedacht, hat aber auch prinzipielle Einwände gegen ein „bürgerliches“ Regiment: Zur Herrschaft schicken sich die Bürger nimmermehr. Sie haben keinen Witz, und sind an Einsicht leer. Ein Ding wird zwanzigmal von ihnen vorgenommen, Und gleichwohl sind sie noch zu keinem Schluß gekommen. Was macht es? Jeder glaubt, er sieht es besser ein, Er ist sein eigner Herr, sein Wort muß gültig seyn. […] Ich will kein Bürger seyn. […] Ein steif und dumm Gesicht, Ein grober Eigensinn, ein eigennützig Zanken, Ein aufgeblehtes Herz, rebellische Gedanken, Nicht wahr? […] laß Bürger Bürger seyn, Die sich oft über nichts beneiden und entzweyn, Und, wenn sie strafbar sind, den Richter noch verklagen, […] Und Recht und Sicherheit in Eigendünkel setzen, Aus Freyheit übersehen, was oft ein Frevel ist, Und den kaum züchtigen, der Würd und Eyd vergisst – – – […] Wo bleibt der Bürger Ruhm? Gewalt und Zwietracht ist ihr ganzes Eigenthum. […] Wer Bürgermeister ist, will kaum ein Bürger bleiben, Es hat sein grösser Stand den kleinern unterdrückt, […] Bürgern machet auch der beste Fleiß nichts recht, Man thu auch was man will, sie wollen immer meistern. Was gilt ein grosser Geist bey tausend kleinen Geistern? […] 100
Lemprière’s Classical Dictionary, S. 685f.; Diodor zufolge tötete Timoleon seinen Bruder eigenhändig; bei Plutarch (Timoleon, caput 4) ist er lediglich anwesend und tritt das „Angesichte“ verhüllend einige Schritte zurück, als seine Mitverschworenen den Tyrannen „niederstachen“ (Plutarchs ausgewählte Biographien. Dt. v. Ed. Eyth. 7. Bdchn. Stuttgart 1859, Bd. 7, S. 57); ähnlich Cornelius Nepos: Die viris illustribus / Biographien berühmter Männer. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Peter Krafft u. Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1993, S. 220: „fratrem tyrannum interficiundum curavit. ipse non modo manus non attulit, sed ne aspicere quidem fraternum sanguinem voluit. nam dum res conficeretur, procul in praesidio fuit, ne quis satelles posset succurrere.“ 101 Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte, S. 226. Handlungsarmut im Timoleon beklagten auch 1751 Bielfeld und noch 1897 Gustav Waniek (vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 145). Trotzdem nannte Friedrich Nicolai im 11. “Brief über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland“ (1755) neben Schlegels Stücken die von Behrmann als einzig „Leidliche“ (Friedrich Nicolai: „Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig“. Satiren und Schriften zur Literatur. Hg. u. mit Nachw., Anm. sowie Register vers. v. Wolfgang Albrecht. Leipzig 1987, S. 191). 102 Hier wie im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von 1741 unter Angabe von Akt/Szene und Seitenzahl.
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So bald nur einer schreyt, hört man gleich hundert schreyen. Sie sind selbst unter sich einander nicht getreu, Und untersuchen nicht, ob alles Wahrheit sey, Ob Trug und Eigenutz auch den Verklagten kränken. Man urtheilt, man verdammt, ohn hieran zu gedenken. […] Der eine bauet auf, der andre reisset ein, Und wird der Letzte groß, so bleibt der Erste klein. Die Dümmsten wollen sich den Klügsten ähnlich schätzen, Die Grobheit wiederspricht den billigsten Gesetzen. (I/6, II/2 u. II/4, S. 21, 29–31 u. 43f.)
An militärische Effizienz und Hierarchie gewohnt, kann Timophanes die offenen Strukturen innerhalb der „freyen Bürgerschaft“ (I/2, S. 5) nicht ertragen; sein Elitebewusstsein schaut mit Verachtung auf die egalitären Tendenzen unter den Bürgern. Der „Wahn der Bürger Freyheit“ (II/3, S. 37) scheint ihm im Wesentlichen anarchisches Chaos zu sein und mitnichten „Ruh“ (II/4, S. 44) und „Sicherheit“ (I/2, S. 3) zu garantieren, wie seine Mutter und sein jüngerer Bruder Timoleon meinen. Im Gegenteil: Nur als Monarch könne er verderbliche Konkurrenz verhindern und für „der Bürger […] Wohlfahrt wachen“ (II/4, S. 44). Grundsätzlich meint er: „Auf Fürsten soll der Staat, und nicht auf Bürgern, liegen“ (I/6, S. 21). Demgegenüber wissen die Anhänger der bürgerlichen „Freyheit“ nur zu erwidern, dass diese Freiheit durch die Zwangsmittel, mit denen Timophanes regiert („Tyranney“), versehrt würde (I/3, S. 12: „Die Freyheit ist gewiß der Bürger grösster Schatz. / […] Zur Knechtschaft sind wir nicht, nein, wir sind frey gebohren“). Sieht man genauer hin, ist es aber gar nicht der Charakter der Herrschaft, der die „Bürgerfreunde“ an des Timophanes Regiment so sehr stört, sondern der Charakter des Herrschers. Das Gegenbild zu dem, das Timophanes von den „eigennützigen“ Streithanseln von Bürgern zeichnet, wird von seiner Mutter Demaristia entworfen, von Timophanes aber als utopisch abgetan („Die Männer mögt ich sehn; Treff ich dergleichen an? Wo sind sie?“): Du malst Rebellen ab, und ich will Bürger schildern; Ein wahrer ist nur der, der stets zurücke setzt Was Amt, Gewissen, Eid, Rath, Volk und Staat verletzt; Der nimmer herrschen will, nur auf Befehl regieret, Und, wenn er endlich muß, sein Amt mit Zittern führet; Der, wenn er Richter ist, den Schuldigen beklagt, Und ihm, indem er straft, nie Rath und Trost versagt; Der willig übersieht, wenn man aus Schwachheit fehlet, Und, wenn es Bosheit ist, die schärffste Strafe wehlet; Der Wohlfahrt, Ruh und Fleiß dem Staate willig schenkt; Der frey und redlich spricht, und frey und redlich denkt, […] sich nichts eigen macht, was Bürgern zugehöret; Der Schätze nie für sich, nur für den Staat erspart, Der, was er auch erwirbt, der Vaterstadt erwirbet; Der für die Bürger lebt, und für die Freyheit stirbet; Der nie beleidiget, und immer gern verzeiht; Nichts Eiteles verehrt, nichts Heiliges entweiht, […] Der Biedermänner schützt, Verräther stürzt und tödtet. […]
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Der […] sich nicht höher setzt, als seine Kraft ihn hebet; Der […] nicht aufzuwiegeln ist, und in sich einig bleibt; Der Fürsten klüglich traut, die Kronensucht verfluchet, Und Freyheit schon besitzt, und nicht erst Freyheit suchet (II/2, S. 31–33).
Wie die letzte Bemerkung zeigt, ist es entgegen mancher phrasenhaften Beteuerung (II/2, S. 32f.: „Wie sicher, wie beglückt, wie ruhig ist der Staat, / Dem nicht ein Fürst befiehlt, der freye Bürger hat?“) nicht das monarchische Prinzip, gegen das die „Bürgerfreunde“ opponieren, sondern die Herrschsucht und der Egoismus des Autokraten. Timoleon betont an späterer Stelle noch einmal, dass es nicht um die Regierungsform, sondern um die Haltung geht, mit der die Herrschaft ausgeübt wird; seinen Bruder hält er für charakterlich ungeeignet, denn nur „Wer Kronen würdig ist, und Hoheit nicht begehrt, / Nur der, nicht wer sie sucht, ist Königswürden werth“ (IV/7, S. 70). Timophanes erfüllt in der Tat die charakterlichen Bedingungen, die an einen Herrscher gestellt werden, nicht. Er regiert nämlich gern und berauscht sich an der Macht und an seinem „Eigensinn“ (III/5, S. 63): Was, sollt ich mich als Fürst noch Bürgern ähnlich schätzen Und Mitregenten mir statt Unterthanen setzen? Ein bürgerhafter Zwang steht keinem Fürsten an. Wer will gehorsam seyn, wenn man befehlen kann? […] Ich bin Herr von Corinth, ich muß allein befehlen. Die Bürger können sich Tod, oder Leben wehlen. Wer mir gehorsam ist, dem will ich gütig seyn, Rebellen aber will ich keinen Schutz verleihn. Wer mich als Herr verehrt, den will ich wieder ehren. Ist das nicht Gunst genug? […] nichts kann mich bewegen, Die Würde, die mich hebt, nun wieder abzulegen. Ist man als Fürst der Herrschaft recht gewohnt, So siehet man mit Lust, so bald der Pöbel frohnt. Gieb auf die Bürger acht, wie trotzig die sich stellen; Regenten sind sie nicht, nein, sie sind nur Rebellen. […] Rebellen sind es nur, die mir den Glanz nicht gönnen, Ein Bürger thut es nicht. Ich muß befehlen können, Ich, weil so mancher Feind von meinen Händen starb, Ich, der ich mir ein Heer durch Tapferkeit erwarb. (II/4u. III/7, S. 41–43 u. 68)
Als absolutistisch gesinnter Autokrat sind ihm alle anderen Bürger des Staats nur „Unterthanen“; und er hat „Lust“ an ihrer Unterdrückung. Die „Bürgerfreunde“ wollen dieses Regiment nicht hinnehmen, weil sie (aus „Bürgerstolz“) nicht kriechen und von der Willkür eines Tyrannen abhängen wollen. Vor allem aber scheinen sie sich zu sorgen, dass „das Volk, der Pöbel sich empöret“, wie Demaristia, deswegen zur Eile mahnend, zu bedenken gibt (I/5, S. 17). Während für Timophanes „Bürger“, „Volk“ und „Pöbel“ alles eins ist (IV/6, S. 90: „Die Bürger sind durch Güte nicht zu zwingen, / den Pöbel muß die Straf erst zum Gehorsam brin215
gen“), fühlen sich die „Bürger“ selbst (Aeschylos, Timoleon, Demaristia) zwischen „Fürst“ und „Volk“ in einer sehr ungemütlichen Situation. Die Lust des Timophanes an der Fronarbeit des Volks (IV/1, S. 74: „Corinth wird hart gedrückt“) und an willkürlichen Morden („III/7, S. 70: „Corinth ist voller Blut, Corinth ist voller Leichen“) könnte zu einem Aufstand führen, der auch die „Bürgerschaft“ bedroht. Daher muss seine Tyrannei beendet werden, wenn nicht im Guten (alle Versuche, ihn durch gutes Zureden von seinem Tun abzubringen, scheitern natürlich),103 dann im Bösen (er wird zwischen dem vierten und fünften Akt von Timoleons Freunden ermordet). Der ideologische Anspruch der „Bürgerfreunde“ ist es, „daß man das Volk der Tyranney entreisset“ (II/1, S. 26), doch nicht, um es zu sich selbst zu befreien, sondern um „für das Volk des Staates Ruder [zu] führe[n]“ (V/7, S. 128). So selbstverständlich erschien diese Konstruktion dem Autor und seinen Charakteren, dass die Frage, was für eine Freiheit eigentlich „der Bürger Freyheit“ genau ist, nicht ein einziges Mal gestellt wird. Kennzeichnend für die Dramaturgie der klassizistischen Tragödie nach Gottscheds Regeln ist, dass die politische Motivation außerdem nicht die Dramenhandlung bestimmt. Vielmehr ist es die Sorge um den inhaftierten alten „Bürgermeister“, den Timophanes hinzurichten droht, die dessen Sohn, den jungen Aeschylus, und seine Schwester Arcadina, die Gattin des Tyrannen, umtreiben und die letztlich auch deren Freund Timoleon bestimmt, nicht auf „der Götter Zorn“ (I/1, S. 2) zu warten. Die Halsstarrigkeit des Alten, der sich weigert, des Timophanes Herrschaft anzuerkennen (IV/7, S. 96: obgleich ihm Begnadigung versprochen ist, „murrt er noch und ist ganz ungeduldig“), und der anhaltende „Wiederstand“ (IV/6, S. 87) der „Bürgerfreunde“ führt zum tyrannischen Exzess (IV/7, S. 99: „Nun stirbt der alte Greis, ich will mich an ihm rächen, / Und dann so will ich euch das Todesurtheil sprechen. / Ihr sollt ihn sterben sehn, macht euch dazu bereit, / Hernach so trifft es euch“). Der Anschlag auf den Tyrannen wird also dramaturgisch als Notwehr der bedrohten Verwandtschaft entschuldigt, die politischen Motive in den Hintergrund gedrängt. Behrmann hatte diesen Bürgermeister-Vater in Absetzung von den Quellen frei erfunden, und zwar um die Tyrannei des Timophanes überhaupt erst kenntlich zu machen, wie Johann Matthias Dreyer in der Vorrede betonte. Überdies baut das ganze Stück auf dem tragischen Konflikt zwischen Bruderund Vaterlandsliebe in der Seele Timoleons auf, was das Übrige dazu beiträgt, die
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Volle drei Akte lang versuchen Timoleon und Demaristia und die andern „Bürgerfreunde“, durch „Sanftmuth“ und Argumente den „Zorn“ des Timophanes zu brechen, was später gleichermaßen langweilig (Nicolai meinte am 10. Dez. 1761 im 200. Brief, die neueste Litteratur betreffend, 12. Theil, S. 303: die Leute würden „im Timoleon gähnen“, wie sie „in der Miß Sara weinen“) wie lächerlich wirkte (Lessing führte am 29. März 1759 im 30. Brief, die neueste Litteratur betreffend, 1. Theil, S. 87f., eine von Mendelssohn übersetzte Fabel des Rabbi Berachja Ben-Natronai Hanakdan an, wo es heißt: „Der macht sich zum Gespötte, der einen Tyrannen durch Beredsamkeit zu gewinnen gedenkt“).
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politische Konstellation zu verschleiern. Obgleich Timoleon zu Anfang schon seinen über alles gehenden Patriotismus betont (I/3, S. 11: „Ich muß die Bürger mehr, als meinen Bruder, lieben“), hält er sich am Ende doch, seiner Tugend, Geduld, Treue, Frömmigkeit und Ehrfurcht gemäß (vgl. I/5, S. 15), aus der Sache heraus: „Ich will nicht meine Faust ins Blut des Bruders tauchen, / […] Ich überlaß es euch. […] / Verzieht! – Des Bruders Blut! – Ihr Freunde, schont, ach schonet!“ (IV/6 u. IV/8, S. 95 u. 100.) Zwar betont er auch hinterher noch, dass „des Tyrannen Tod“ ihm „ganz keine Schmerzen“ bereite, doch dass er sein „Bruder war, das dringt“ ihm „zu Herzen“ (V/6, S. 122). Auch bleibe ein „Mord […] doch ein Mord“, so dass ihn „das Gewissen beisset“ (V/6, S. 124). Als „Mörder“ sei er „nicht mehr werth, dem Staat und euch zu dienen“ (V/7, S. 127), also verbannt er sich selbst aus Corinth, womit er sich abermals als idealer Bürger bewährt, der sein Lebensglück als „martyr of his own virtue“104 uneigennützig für den Staat aufopfert.105 Wie sehr das Moralisisieren und die Betonung der auf Mitleid zielenden Wirkungsabsicht den politischen Diskurs in den Hintergrund drängte, zeigt sich auch an dem „Umschwung in dem Charakter“ der Demaristia, der heute ziemlich unglaubwürdig wirkt, damals aber und noch Mitte des 19. Jahrhunderts als „ergreifend“ und wahrhaft „tragisch“ galt.106 Sie, die vor dem Mord sogar auch „Haß“ (IV/3, S. 79) auf ihren älteren Sohn, den Tyrannen, empfand und Timoleons „Vorsatz“, die Heimat von „der Knechtschaft zu befreyn“, ausdrücklich gut hieß (I/5, S. 17), sieht nach dem Mord in Timophanes ausschließlich den erschlagenen Sohn und kann seinem Mörder „nicht verzeihen“ (V/2, S. 110), sondern wünscht ihm die gerechte Strafe, einen Tod „mit Schrecken“: „Die Strafe breche los, Corinth empöre sich, / Die Rache folge nach, Verzweiflung treffe dich, / Verliere Würd und Amt, geh, renn in dein Verderben, / Leb knechtisch, sey verhasst und lerne zaghaft sterben!“ (V/4, S. 120.) Behrmanns Stück endet ohne Versöhnung zwischen Mutter und Sohn noch zwischen Bruderliebe und Bürgerpflicht in Timoleons Gewissen. Robert Heitner wies darauf hin, dass dies kaum zur optimistischen Grundhaltung der frühen Aufklärung passe, ja dass die unaufgelöste tragische Aporie, wahrscheinlich sogar gegen Behrmanns Intention, Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Weltordnung transportiere: „the principle of rational calm and pious confidence in Providence“ werde hier jedenfalls nicht bestätigt.107 Aber auch „die höchste Achtung der heroischen Tugend“, von der Schiller mit Blick auf Timoleon sprach,108 wird von diesem 104 105 106 107 108
Heitner: German Tragedy in the Age of Enlightenment, S. 33. Zu dem Motiv der Selbstbestrafung vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 137–140. Feodor Wehl: Hamburgs Literaturleben im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1856, S. 47. Heitner: German Tragedy in the Age of Enlightenment, S. 35f. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 5, S. 368 („Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenstänen“).
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Drama nicht recht bedient. Dies scheint mir bedingt durch die bewusste Minimalisierung der politischen Problematik in dieser Staatsaktion – für die die zwar erwähnte, aber dramaturgisch ignorierte Rolle des Volks symptomatisch ist – zu Gunsten einer empfindsamen Moralisierung des Diskurses über Pflicht und Neigung.
Bodmers Überschreibung von Behrmanns Timoleon in das Theater […] zum Genuß der […] Freyheit109
Der Mangel an Politik fiel Johann Jakob Bodmer, der sich 1744 noch so begeistert über Behrmanns Timoleon geäußert hatte,110 deutlich auf, als er selbst die Erneuerung der Gattung „Politisches Trauerspiel“ in Angriff nahm.111 Sein 1764 geschriebener, 1768 erstmals gedruckter Timoleon von Korinth knüpfte in mancherlei Details an das Stück von Behrmann an,112 behandelte das Thema jedoch deutlich politischer. Während es in Behrmanns Stück heißt: „Der Untergang ist da, wenn Bürger Sclaven heissen“ (II/4, S. 45), formulierte Bodmer: „Der Untergang ist da, so bald die Gesetze darnieder liegen“ (I/1, S. 228).113 Die unterschiedliche Formulierung des Satzes ist durchaus programmatisch zu nehmen: Es ging Bodmer nicht mehr um die Charaktere von Bürgern oder Sklaven, sondern um die Geltung des Gesetzes; ihn interessierte nicht die Psyche eines wider Willen seinem angeborenen Quietismus entsagenden Bürgers,114 sondern der politische Zustand eines Gemeinwesens. Auf die politischen Kern-Fragen wird dann das Stück reduziert, psychologisch interessante Neben-Handlungen gibt es bei Bodmer nicht. Zwar ist auch in Bodmers Stück von dem „Eigensinn“ (I/1, S. 225) und der „schwindlichten Herrschsucht“ (I/2, S. 233) des Timophanes die Rede, doch sind dies nicht die Punkte, die in der Analyse, wie es zur Verwandlung eines demokratischen Stadtstaats in eine Despotie kommen konnte, als entscheidende benannt wer109
Johann Jakob Bodmer: Politische Schauspiele. Marcus Brutus. Tarquinius Superbus. Italus. Timoleon. Pelopidas. Zürich 1768, S. 269. 110 Siehe oben S. 211, Anm. 85. 111 Siehe unten S. 261–268. 112 Außerdem besaß Bodmer auch die 1730 bei J. Watts in London erschienene „Tragedy“ Timoleon von Benjamin Martyn (1699–1763) (vgl. das Bücherverzeichnis ZBZ Ms. Bodmer 38 a). 113 Bodmer: Politische Schauspiele, [Bd. 1,] S. 223–269; im Folgenden zitiert unter Angabe von Akt/Szene u. Seitenzahl. 114 „Wir müssen Sanftmuth zeigen, / Und, tobt Timophanes, bey aller Unschuld schweigen. / […] Durch Zorn gewinnst du nichts, versuch es noch durch Güte. / […] Wir Bürger sind zu schwach für seine fremde Macht. / […] Es muß der schwächste Theil nicht pochen, sondern bitten. / Corinth, o Vaterstadt, sey sicher, und sey still“, so eröffnet Timoleon das Stück. „Allein“, fragt Aeschylus, „wann er nicht weichen will? / Wann er sich wiedersetzt, die Bürger zu erkennen? / Wann er –“; Timoleon unterbricht und schließt die Exposition ab: „Dann wird auf ihn der Götter Zorn entbrennen.“ (Georg Behrmann: Timoleon. Der Bürgerfreund. Ein Trauerspiel. Hamburg 1741, S. 1f.)
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den. Vielmehr lässt Bodmer in den Unterhaltungen zwischen dem Priester Satyrus, dem nach längerer Abwesenheit in die Heimat zurückgekehrten Aeschylus und dem tugendhaften, aber kleinmütigen Timoleon daran erinnern, dass die gesamte Gesellschaft bereits verderbt war, bevor Timophanes die Gunst der Stunde nutzte; er „hätte sich nicht beyfallen lassen, Korinth Fesseln anzulegen, wenn er das Volk nicht in einer Schlafsucht gesehen hätte, in welcher es die Ketten weder vorhersah noch empfand“ (I/2, S. 236). Die „Ursache“ für den „Untergang des Staates“ wird vor allem in der „übermäßige[n] Ungleichheit, die zwischen den Reichen und den Gemeinen ist“ (III/4, S. 264), gesehen, welche nicht mehr mit den „alten Sitten“ und der „Mäßigkeit der Ahnen“ überein stimme; Timoleon hält es sogar „beynahe für unmöglich, daß Freyheit und Gesetze da seyn können, wo solche ungeheure Ungleichheit von Reichthum und Armuth eingeführt ist“ (I/2, S. 235). Anders als in Gottscheds Analyse115 hielt Bodmer für die wahrscheinliche Folge der ungeheuren Kluft zwischen Reich und Arm nicht den Aufstand des Volks, sondern das Versinken der Gesellschaft insgesamt in Dekadenz. Die Üppigkeit der oberen Klassen führe die Unsittlichkeit und Verdummung der unteren nach sich, argumentiert Timoleon.116 Die „Verzärtelten“ würden die „Freyheit“ nicht mehr „ertragen“; die dem „Reichthum“ der einen folgende „Armuth“ der anderen lasse diese verzagen und zu „wilde[n] Thieren“ werden, von denen nichts mehr zu hoffen sei. Bitter fragt er: „Was that es den Grossen, daß das Volk ungesittet war? Sie konnten es desto leichter nach ihrem Willen führen, und sie hatten mehr Recht, es zu verachten“ (I/2, S. 236). Er mahnt daher zur Vorsicht: „Wir müssen uns hüten, daß wir, indem wir es [das Vaterland] bessern wollen, nicht das Uebel ärger machen.“ (I/2, S. 234f.) Anders als Gottsched in den 1730er Jahren argumentierte Bodmer in den 1760er bereits von einer rousseauistischen Position aus. Anders als der in Kategorien der individualisierten Moral denkende Behrmann hatte Bodmer gesellschaftliche Strukturen und politische Dependenzen im Auge. Bei ihm war das Vertrauen in das vernünftige Argument verhältnismäßig gering geworden. Sein Aeschylus meint, „die eingeschlummerte Liebe zum Vaterland, die Achtung für Sitten und Gesetze, werden wieder erwachen“ (I/2, S. 235), wenn man dem Volk von Korinth nur „sittliche Beyspiele gegen das Verderben“ (I/1, S. 230) gebe. Satyrus und mehr noch Timoleon halten das für eine eitle „Hoffnung“ (I/2, S. 235); die allgemeine, „die ganze Masse des Staates“, „nicht ein[en] Stand al115 116
Siehe oben S. 194 (Gottsched: Erste Gründe der Gesammten Weltweisheit, 2. Theil, § 423). Ähnlich argumentierte 1764 ein „Ungenannter“ in den nicht zuletzt aus dem Bodmer-Kreis belieferten, in Lindau von Jacob Otto verlegten Ausführlichen und kritischen Nachrichten (1764: 5. Stück, S. 354–375; 6. Stück, S. 450–465) in seinem Referat über die „Veren[d]erungen der Regierungsarten“. Als Hauptproblem „freyer Republiken“ wird hier der Moment benannt, wenn „der Staat in das Privatinteresse seiner Gewalthaber verstricket“ wird. Dies geschehe regelmäßig dann, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß werde. Der Luxus der Reichen stürze das gesamte Volk letztlich in Armut, da die übliche „Nacheiferung“ der Oberen durch die niederen Stände die Gemeinschaft insgesamt verderbe.
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lein“, sondern „alle Stände“ betreffende Sittenverderbnis (I/1, S. 226) lasse „keine Möglichkeit mehr zu helfen“ übrig (I/1, S. 230). Was „für ein Held muß der seyn, der Tugend und Ehre bey ihnen wieder aufwecken soll“, fragt Timoleon resigniert (I/2, S. 234).117 Dass es eines übermenschlichen Heroismus bedürfe, eine insgesamt depravierte Gesellschaft wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, und nicht etwa nur vernünftiger Argumente, machte Bodmer klar, indem er seine Freiheitsfreunde erkennen lässt, dass ihre Vernunft keineswegs überzeugender ist als die des Tyrannen. „Das Laster“, so räumen sie bereits zu Anfang ein, log sich zu Tugenden. Es entlehnte sich den Ton der Philosophie […]. Man bewies methodisch, daß der Ueberfluß, d[ie] Pracht, den Staat glänzender machten; daß die Liebe des Vaterlandes Schwärmerey, und die Religion kleine Denkungsart wäre“ (I/1, S. 227).
In der Tat glaubt Timophanes, der „Vaterland und Freyheit“ für „hirngebohrene Chimären“ hält (II/2, S. 246) und behauptet, „daß die Menschen von Natur ungleich sind“ und „daß wenige Auserwählte der Götter zur Herrschaft, die andern zur Knechtschaft gebohren“ seien (III/5, S. 266), seinen „etwas fanatisch“ auftretenden Gegnern auf gleicher Ebene begegnen zu können: ich habe Sophisten, die eben so schön und nicht so schwärmerisch schwatzen. Ich will sie zu euch schicken, daß sie den Streit mit euch ausmachen. Ich will den Zepter verlohren haben, wenn sie euch nicht weise Sprüche um weise Sprüche, und Witz um Witz geben können“ (II/2, S. 250).
Wie Behrmanns Timoleon zu Anfang des anderen Stücks glaubt auch Bodmers Timoleon nach der Analyse der Situation, nur noch auf die Götter vertrauen zu können (III/2, S. 257). In der Tat könnte in Bodmers Drama – das Motiv der bedrohten Verwandtschaft entfiel zu Gunsten eines rein politischen Konflikts – nur noch eine ‚Dea ex machina‘ den Weg aus der geschilderten Zwangssituation weisen. Prompt tritt die Göttin Ceres auf und gibt Timoleon den „unangenehmen Befehl“, seinen Bruder „um[zu]bringen“. Timoleon ist entsetzt: Zwar würde sein Bruder die gerechte Strafe empfangen“, meint er, „aber ich würde eine ungerechte 117
Die Schärfe der Analyse in seinem Trauerspiel nahm Bodmer in den Sitzungen der von ihm mitgegründeten und geleiteten „Helvetisch-vaterländischen Gesellschaft“ zurück; in den 1770er Jahren hielt er dort einen Vortrag über die Frage: „Durch welche Mittel können die verdorbenen Sitten eines Volkes wieder hergestellt werden?“, dessen Manuskript unveröffentlicht im Nachlass liegt und das Gustav Tobler (J. J. Bodmer als Geschichtsschreiber. Zürich 1890/91, S. 29f.) wie folgt zusammenfasste: „Merkwürdigerweise denkt sich Bodmer nur den Fall, daß die Sitten der Regenten schlecht seien. Was dann? Dann müssen sich die Bessern zusammenthun, müssen sich unter die Regenten aufnehmen lassen, müssen Würden und Ehren annehmen, sie müssen sich untereinander zum Besten des Staates vereinigen, dann werden die verdorbenen Regenten die Hand zur Verbesserung reichen, wo nicht, so wird das Volk sich empören und mit Gewalt erzwingen, was ihm mit Güte nicht gelang. Am besten wird es aber immerhin sein, wenn man der Jugend den Sinn für Gerechtigkeit, Treue, Redlichkeit und Mäßigkeit beibringt, dann wird eine Besserung der Sitten von selbst eintreten.“
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Handlung gethan haben“ (III/3, S. 257f.). Und da Timoleon selbstverständlich seinen Aischylos gelesen hat, „grauet“ ihm „vor dem Schicksal“ (III/4, S. 262) des Orest: „welche Pein würde ich mir von den Eumeniden zuziehen?“ (III/3, S. 258) Doch die Göttin weiß ihn zu beruhigen. Ceres (= Gerechtigkeit)118 verspricht, dass Pallas (= Vernunft) ihn, Timoleon, vor den Furien beschützen und „in das Volk von Korinthus“ die „Funken der Großmuth“ streuen werde: „Die Liebe zur Freyheit, zu Sitten und Rechten, sollen wieder erwachen“. Timoleon lenkt ein: „du bist meine Göttinn, ich muß deinem Befehle gehorchen, was hernach geschehen soll, sey deiner Vorsorge überlassen“ (III/3, S. 259). Der ganze Auftritt ist natürlich als Witz inszeniert.119 Am Anfang erscheint Timoleon überrascht: „Die grosse Ceres bey mir! Ich dachte, daß die heroischen Tage lange vergangen wären, in welchen die Himmlischen mit den Irdischen Umgang pflegen“ (III/3, S. 258). Doch die Verheißung von Ruhm und Nachruhm lässt ihn seinen Zweifel an dem göttlichen Auftritt überwinden. Außerdem gibt Ceres ihm Beweise ihrer Göttlichkeit. Zuerst lässt sie einen Kornstengel aus ihrer Hand wachsen und verströmt „einen ambrosischen Geruch“ (III/3, S. 259). Und am Ende heißt es: „Sie gehet, und läßt ihm im Weggehen einen göttlichen Nacken sehen“ (S. 260). Schon die Zeitgenossen hatten Vergil nicht gut genug gelesen, so dass Gerstenberg diese witzige Allusion zum Anlass nahm, „Bodmers poetische Ungeschicklichkeit“120 zu verspotten. Tatsächlich aber handelt es sich um einen der
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Publius Vergilius Maro (Sämtliche Werke. Hg. u. übers. v. Johannes u. Maria Götte. München 1972, S. 178: Aeneis IV, 58) nannte Ceres „Mutter des Rechtes“. Die literarturwissenschaftliche Forschung findet Bodmer in aller Regel nicht witzig. Albert Meier (Dramaturgie der Bewunderung, S. 271) zum Beispiel fand, dass es Bodmers Dramen häufig an der „psychologischen Plausibilität“ mangele; die vorliegende Szene war für ihn darüber hinaus ärgerlich, weil Bodmer „alle“ von ihm, Albert Meier, „zuvor diskutierten praktischen Probleme im allzu grobschlächtigen Handstreich löst“ (S. 274f.). Mir scheint, dass Witze immer ‚handstreichartig‘ funktionieren; bekanntlich hatte Immanuel Kant völlig zu Recht einen gelungenen Witz als „plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung“ definiert (Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Gerhard Lehmann. Stuttgart 1963, S. 276: 1. Teil, 1. Abschnitt, 2. Buch, § 54), also als Überraschung oder sogar als Düpierung der Leser. Bodmer rechnete mit unterrichteten Lesern, die seine Anspielungen bemerken würden. 120 Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 274. Mit diesen Worten leitete Meier sein Zitat von Gerstenbergs Spott in der Rezension der Politischen Schauspiele (in: Hamburgische Neue Zeitung, Nr. 161–163, 10.–13. Okt. 1768, S. 115–132) ein. 119
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intertextuellen Scherze, die sich Bodmer, ein Schalk ohnegleichen,121 in seinen Stücken häufig erlaubte.122 Als Timoleon seinen Genossen von der Erscheinung berichtet, hat er Sorge, die anderen könnten ihn „für einen Fanatiker, der Gesichter sieht“, halten. Doch Aeschylus ist es gleichgültig, auf welche Weise Timoleon seine Resignation überwunden hat; er meint nur, die Göttin habe ihm „eine That befohlen, die“ ihm „die Stimme des Vaterlandes lange zugerufen hatte.“ (III/4, S. 260f.) Kurz darauf bringen die drei Freunde den für Bruderliebe allerdings nicht völlig unempfindlichen Tyrannen („Ich falle, weil ich gezaudert habe ihn zu fällen!“) auf grotesk ausgemalte Weise ums Leben: Aeschylus stellt ihm ein Bein, Satyrus wirft den Rock über ihn, Timoleon erwürgt ihn (III/5, S. 268). Trauer über den Tod seines Bruders („Timoleon weint“) überkommt den Titel-‚Helden‘ nur drei kurze Bindestriche lang; danach folgt ein Schluss, dessen Ambivalenz noch einmal die Schärfe der politischen Analyse in diesem von parodistischen Zügen nicht freien ‚heroischen‘ Trauerspiel herausstellt: AESCHYLUS. Verschwende deine Thränen nicht für einen Tyrann. TIMOLEON. Sie fliessen um den Bruder; laß mich an deinem Halse sie trucknen, Aeschylus. --Umarme mich Satyrus, du umarmst einen freyen Korinther. […] Lasset uns den Leichnam verhüllen, bis wir Korinth in das Theater gesammelt haben, sie [= die Stadt, die Gemeine] zum Genuß der hergestellten Freyheit aufzurufen.123 121
Von seinen damaligen Besuchern hat nur Wilhelm Heinse auf diese Eigenheit besonderen Wert gelegt; vgl. dessen Brief an Fritz Jacobi vom 8. Dez. 1780: „Ich bin einen ganzen Nachmittag bey ihm gewesen, und wir haben über das ganze Reich der Litteratur ohne Aufhören in einem fort geplaudert. […] Was mich gleich an dem Sänger der Noachide überraschte, war, dass ich ihn ganz leichtfertig über Verschiedenes in der Biebel [sic] spotten hörte; […] Bodmer ist […] äusserst unterhaltend, und noch voll leichter Blitze von Witz und Verstand und feiner Bosheit.“ (zit. nach Albert M. Debrunner: Johann Jakob Bodmer im Urteil deutscher Besucher. In: Helmut Holzhey u. Simone Zurbuchen (Hg.): Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussen- und Innenperspektiven. Zürich 1997, S. 33–40, hier S. 38f.) 122 Dass Ceres einen „Kornstengel“ aus ihrer Hand wachsen lässt, ist eine wenig überraschende Anverwandlung der überlieferten Ikonografie, die sie mit „eine[m] Büschel Aehren in der rechten Hand“ darzustellen pflegte (vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon […]. Neu hg. v. Johann Joachim Schwab. Leipzig 1770, Sp. 683); konkret wird die Anspielung durch den „ambrosischen Duft“ und den „göttlichen Nacken“. Bodmer wollte, dass sich die Rezipienten an den ersten Gesang (V. 462ff.) von Vergils Aeneis erinnern (Vergil: Sämtliche Werke, S. 124): „Sprach’s und wandte sich, strahlte dann auf mit rosigem Nacken, / und ambrosische Locken verströmten himmlischen Duft“, so „offenbarte sich wahrhaft die Göttin“; Vergil seinerseits spielte mit seiner verwandelten und spätestens am göttlichen Nacken erkennbaren Venus auf „den lieblichen Nacken der Göttin“ Aphrodite an, den Helena auf der Mauer Trojas erkennt, obgleich diese sich in Gestalt einer Greisin naht (Homer: Ilias / Odyssee. In d. Übertr. v. Johann Heinrich Voß. Nach dem Text der Erstausgaben […] mit einem Nachw. v. Wolf Hartmut Friedrich. München 1963, S. 56: Ilias, 3. Gesang, V. 396). 123 Vmtl. Anspielung auf die Ereignisse nach der Ermordung Cäsars, wie sie Shakespeare in seiner Tragedie of Ivlivs Cæsar (III. Akt) gestaltete; vgl. Shakespeare: Complete Works, S. 4438– 4440 u. 4447: „CINNA. Liberty, Freedome; Tyranny is dead, / Run hence, proclaime, cry it about the Streets. / CASSIUS. Some to the common Pulpits, and cry out / Liberty, Freedome, and Enfranchisement. / BRUTUS. People and Senators, be not affrighted: / Fly not, stand still: Ambitions debt is paid. / CASKA. Go to the Pulpit Brutus. / DECIUS. And Cassius too. […]
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AESCHYLUS. Ich kann mir keinen Staat vorstellen, der die Freyheit nicht annehmen wollte, welche ihm in ihrer wahren Gestalt wieder zugestellet und dargebothen wird […]. TIMOLEON. Erfüllet Korinth unser Vertrauen zu ihr nicht, so wollen wir mit ihr auf eine unschuldige Art gewaltthätig umgehen, und sie zu Freyheit und menschlichen Rechten und Sitten zwingen. (III/5, S. 268f.)
BRUTUS. […] Stoope Romans, stoope, / And let vs bathe our hands in Cæsars blood / Vp to the Elbowes, and besmeare our Swords: / Then walke we forth, euen to the Market place, / And wauing our red Weapons o’re our heads, / Let’s all cry Peace, Freedome, and Liberty. / CASSIUS. Stoop then, and wash. / […] BRUTUS. Prepare the body then, and follow vs.“ In Wielands zeitgenössischer Übertragung: „CÄSAR […] stirbt. CINNA. Freyheit! Freyheit! die Tyrannie ist todt! Rennet von hinnen, und ruft es durch die Strassen aus – – CASCA. Einige müssen zu den öffentlichen Richter-Stühlen eilen, und die Wiederherstellung der allgemeinen Freyheit ausruffen. CASSIUS. Geht auf die Tribüne, Brutus. DECIUS. Und Caßius auch. […] CASCA. Haltet noch, ihr Römer, haltet, und laßt uns unsre Hände in Cäsars Blut bis an den Ellbogen baden, und unsre Schwerdter damit beschmieren; dann wollen wir gerade auf den Markt gehen, und, unsre blutrothen Waffen über unsern Häuptern schwingend, ausruffen: Friede, Freyheit, allgemeine Freyheit! CASSIUS. Thun wir das – – […] BRUTUS. So machet denn die Anstalten zu dem Leichenbegängniß, und folget uns“ (William Shakespeare: Julius Cäsar, ein Trauerspiel. Übers. v. Christoph Martin Wieland. Zürich 1993, S. 66–69 u. 75).
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Lessings Projekt eines vom Staatsinteresse befreiten Trauerspiels
Ich danke dem Dichter für kein Bild, in welchem eben so viele ihr Unglück, als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen Umständen unzufrieden machen (4, 365f.).1
„Politik läßt immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden“ (6, 583). Ob dieser Satz, den Gotthold Ephraim Lessing, angeregt durch Voltaire, im selben Jahr niederschrieb, als Bodmers Timoleon veröffentlicht wurde, wahr ist oder nicht, bleibe einmal dahin gestellt. Am Anfang des 80. Stücks seiner Hamburgischen Dramaturgie (5. Februar 1768) jedenfalls bezeichnete Lessing „die dramatische Form“ als „die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen“ ließe, und dies sei im Grunde auch ihre einzige Rechtfertigung (6, 580). Beide Aussagen zusammen genommen ergeben den Befund, dass ein politisches Drama in den Augen Lessings eigentlich ein Bastard, wenn nicht eine contradictio in adiecto war. Mit Voltaire war Lessing einer Meinung, dass die „langen politischen Raisonnements“ manches Stück Corneilles „so elend gemacht haben“.2 Lessings 1772 uraufgeführte Emilia Galotti entstand daher aus der zunehmenden Entpolitisierung eines früheren Dramenplans. Ursprünglich, d.h. 1756, dachte Lessing an eine Dramatisierung des Lucretia-Brutus-Stoffes, wie ihn Titus Livius in seinem historiografischen Werk Ab urbe condita (1. Buch, Kap. 57–59) erzählte; 1757 aber schien Lessing die Virginius-Virginia-Geschichte (3. Buch, Kap. 44–48) brauchbarer.3 1758 überlegte er sich, dass er auch diese Geschichte für ein Publikum, das gar „keine Theilnehmung“ mehr für die große Politik haben mochte,4 noch weiter befreien müsse von allem, „was sie für den ganzen Staat interessant“
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Alle Nachweise unter bloßer Angabe von Band- und Seitenzahl in diesem Kapitel beziehen sich auf Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 4, S. 603. Vgl. Titus Livius: Römische Geschichte. 4 Bde. Übers. v. Konrad Heusinger. Neu hg. v. Otto Güthling. Leipzig 1884–1885, Bd. 1, S. 105–110 bzw. S. 282–289. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Hg. v. Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 14f.; vgl. auch Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, hier S. 237f.
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mache, wie er am 21. Januar 1758 an Friedrich Nicolai schrieb (11.1, 267).5 Zwar waren die Folgen der Virginia-Geschichte (Reform innerhalb eines prinzipiell beibehaltenen republikanischen Systems) nicht ganz so revolutionär wie die der Lucretia-Geschichte (Abschaffung der Monarchie zu Gunsten einer aristokratisch dominierten Republik); doch erschien selbst das Lessing noch wie ein „Umsturz der ganzen Staatsverfassung“ (ebd.), womit sein Drama eben nichts zu tun haben sollte. Also kupierte er den politischen Bereich völlig und kopierte das sagenhafte Motiv von der entehrten Unschuld, bzw. einer von Entehrung bedrohten Unschuld, die sich der Schande durch den Tod entzieht, aus seinem historischen Kontext in die oberitalienische Renaissance, die sich in dem Stück indes nur wenig von dem kleinstaatlichen Absolutismus im Deutschen Reich des 18. Jahrhunderts unterscheidet. Das im Mittelalter gepflegte aristokratische Ethos, in dem der Schande ein ehrenhafter Tod vorgezogen wird (in Thomas Malorys Mort DArthur von 1470 erinnert Bleoburys seinen Bruder Blamour: „remembir of what kynne we be com of, […] rathir, brothir, suffir deth than to be shamed!“),6 wurde im bürgerlichen Trauerspiel dahingehend aktualisiert, dass sich die moralische Überlegenheit des mittleren Stands nur erweise, wenn sich die eigene Tugend unangetastet gegen die verworfene Frivolität des höfischen Adels behauptet. In dem paradigmatischen bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, George Lillos The London Merchant (1731), wurde die tragische Zwangssituation, in die man dabei geraten kann, in der ersten Szene des zweiten Akts auf die denkbar kürzeste Formel gebracht: „death or shame“.7 Soweit ist man auch gegen Ende der Emilia Galotti, nur dass die tragische Zwangssituation – provozierend genug – nicht aus einer akuten Bedrängnis erwächst, sondern aus Selbstbeobachtung, Ideologie und Fantasie der Bedrückten, 5 6 7
Vgl. Lessing: Werke, Bd. 4, S. 294: Der „Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen“ und daher für den Dramatiker kein „interessanter“ Gegenstand. Thomas Malory: The Works. Ed. by Eugène Vinaver. 3 Bde. 2. Aufl. Oxford 1967, Bd. 1, S. 408. In dieser Brutalität schien dem zweiten Übersetzer von George Lillos Trauerspiel, H. A. Bassewitz, die Sache dem deutschen Lesepublikum von 1757 nicht zumutbar. Die Überlegungen Barnwells (im Original II/1: „Can cruelty be duty? I judge of what she then must feel by what I now endure. The love of life and fear of shame, oppos’d by inclination strong as death or shame, like wind and tide in raging conflict met, when neither can prevail, keep me in doubt. How then can I determine?“) werden von Bassewitz in seiner Übersetzung Der Kaufmann von London oder Begebenheiten George Barnwells II/3 an der entscheidenden Stelle mit unglaublicher Umständlichkeit wiedergegeben: „Ist es möglich, daß die Grausamkeit eine Pflicht sein kann? Ich schließe aus dem, was ich leide, auf das, was sie empfinden muß. Auf einer Seite stellet sich mir die Liebe zum Leben und die Furcht einer ewigen Schande, auf der andern Seite aber eine Neigung dar, welche so stark ist wie die beide und mein Herz in einem vollkommenen Gleichgewichte hält, so wie zweene reißende Ströme, welche mit Gewalt aufeinanderstoßen, ohne daß einer dem andern weichet. O Himmel, wozu soll ich mich entschließen?“ (Fritz Brüggemann (Hg.): Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 40.)
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freilich generiert in einem Klima objektiver Unterdrückung. Emilia wird im siebten Auftritt des fünften Aufzugs bekanntlich nicht vom Prinzen oder seinem Handlanger bedrängt, weiß aber, dass genau diese Beiden Umstände herbeiführen könnten, die sie selbst „für nichts“ mehr garantieren ließen (7, 369). Ein Konjunktiv führt zum tragischen Schluss. Das war anstößig von jeher. Emilia misstraut, gesinnungsstark wie sie ist, ihrer eigenen Sinnlichkeit. Ist das nicht ein Widerspruch in der Charakterzeichnung der Emilia? „Denn sagen Sie selbst, mein Freund, wie kann sich Emilie, in ihrer jetzigen Lage, vor Verführung fürchten? und vor Verführung durch den Prinzen?“ „Ich möchte fast argwöhnen, daß ihre Liebe zu Appiani bloße Koketterie gewesen“, so lautete ein von Johann Jakob Engel in seiner Verteidigung des Lessingischen Trauerspiels aufgegriffener Einwand.8 Dergleichen Fragen beschäftigen Kritiker, Rezensenten und Wissenschaftler seit 1772.9 Johann Jakob Bodmer etwa, der 1773 ein kompetitives Metadrama zur Emilia Galotti schrieb,10 fand es befremdlich, dass sich „die Rache“ für Appianis Tod nicht gegen dessen Urheber, sondern „gegen die Unschuld“ richtete (S. 29).11 Die Haltung der Emilia fand er allenfalls dem „Scharfsinn einer tragischen Prinzeßinn“ angemessen (ebd.). Schon vorher die Flinte ins Korn zu werfen und sich einer nur möglichen Gewalttat oder Verführung „durch einen eigenwilligen Tod zu entziehen“ (S. 29f.), fand Bodmer bzw. sein Sprachrohr, die Darstellerin der Emilia, die sich im „Epilogus“ ihrer Rolle „von Herzen froh“ entledigt (S. 28), nicht nur unrealistisch, sondern auch pervers. Die Darstellerin der Emilia meint: „Ich bin schwach genug, wenn ein Pirate mich über Bord werfen wollte, und ich ersähe den Vortheil, ihm den ersten Stoß zu geben, daß ich nicht zu erst in die See springen würde“ (S. 30). Mit einem ‚gesunden Egoismus‘, der ordinären „Liebe zum Leben“,12 hätten Emilia und ihr Vater einen Präventivstreich gegen den Prinzen führen können; oder Emilia hätte es erst einmal darauf ankommen lassen können, ob – selbst „bey dem geringsten Vertrauen auf“ die eigene „Tugend“ – es auch nur einen Menschen geben könnte, „der einen Menschen zwingen kann“ (S. 29). Und wenn es diese Gewalt gegeben hätte, aber auch erst dann, hätte man sich an Lucretia erinnern sollen:
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Horst Steinmetz (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Frankfurt a.M. 1969, S. 103; weitere Rezeptionszeugnisse ebd., S. 78–109 und passim (vgl. ebd., S. 595: Register der Werke Lessings). Vgl. auch die Rezeptionszeugnisse in Lessing: Werke, Bd. 2, 709–714; Lessing: Werke und Briefe, Bd. 7, S. 857–927. Vgl. Johann Jakob Bodmer: Auszüge aus meinem Tagbuch. Hg. v. Jakob Baechtold. In: Turicensia. Beiträge zur Zürcher Geschichte. Zürich 1891, S. 190–216, hier S. 203. Zitate aus Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti, Vater der Emilia. Augsburg 1778, werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl beim Zitat nachgewiesen. Friedrich Maximilian Klinger: Die neue Arria. Ein Schauspiel (1776). In: Sturm und Drang. Dramatische Schriften. Plan u. Ausw. v. Erich Loewenthal u. Lambert Schneider. 3. Aufl. Heidelberg 1972, Bd. 2, S. 125–202, hier S. 202 (V/2).
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Die gute römische Lucretia war unschuldiger und reiner, als sie nach der Gewaltthat, da Verlust der Ehre, wiewohl es Gewaltthat war, ihr unerträglich schien, sich um das Leben gebracht; unschuldiger als diese Emilia, die durch eine Gewaltthat, die sie selbst, und an sich selbst begieng, die Schande zu vermeiden suchete (S. 30).
Interessanterweise erinnerte sich Bodmer an Lucretia und nicht an Virginia, was die näher liegende und durch die Entstehungsgeschichte auch gedeckte Analogie gewesen wäre. Das lag an seinem Hang zum republikanischen Heroismus, von dem im nächsten Kapitel ausführlicher gehandelt wird. Bodmers Republikanismus war es auch, der ihn sich wundern ließ, warum Odoardo Galotti nicht von dem Argument des entschuldigenden Notstands (davon war in der zitierten Anspielung auf das seit der Antike bekannte „Brett des Karneades“ die Rede)13 Gebrauch machte und den Prinzen statt des prospektiven Opfers erdolchte: Ein Dolchstich fuhr mir ins Herz, als Odoardo, der den Vater über dem sclavischen Unterthanen vergißt, und der an dem Tyrannen sich zu rächen kein Mittel übrig weiß als die Unschuldige zu ermorden (S. 30).
Bodmers Einwürfe zeugen weniger von einem Missverständnis des Texts als von den Illusionen des Schweizers und der gnadenlosen Desillusionierung auf Seiten Lessings. Denn dieser kritisierte in der Tat den unmenschlichen Rigorismus eines Odoardo Galotti, den er seiner Tochter vermachte, ohne dass sie ihn leben konnte, weil er genau damit ihre praktische Lebenstüchtigkeit beschädigte, wie nicht zuletzt die Szene zwischen Emilia und dem Prinzen in der Kirche zeigt. Lessing zeigte aber auch, dass nur dieser moralische Rigorismus eine Gegenideologie zu der degenerierten Politik des Ancien Régime bilden konnte. Wenn der „forensische Prozeß“14 gegen den amoralischen Absolutisten gewonnen werden sollte, durfte es auf Seiten der regimekritischen Opposition keine schwächenden Schuldausschließungsgründe – wie es in der heutigen Juristensprache heißt, und wovon der entschuldigende Notstand einer ist – geben, die sich nur die herrschende Gruppe, Klasse oder Schicht erlauben kann: So beruft sich in dem Stück nur der Prinz auf einen emotional verursachten Mangel an Schuldfähigkeit oder allenfalls auch auf Pflichtenkollisionen, will man seine menschelnden Anfälle denn ernst nehmen. Odoardo kennt dergleichen Ausflüchte nicht. Damit aber offenbart Odoardo in der Tat ein „sclavische[s]“ Bewusstsein, wie Bodmer völlig richtig feststellte (S. 30), denn nur einem solchen kann es einfallen, 13
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Fritz Mauthner (Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Leipzig 1923, Bd. 3, S. 254) paraphrasierte es so: „Wenn ich mich bei einem Schiffbruche auf ein Brett zu retten suche und dabei einen Menschen, der das Brett umklammert hält, ins Wasser stoße, also töte, so habe ich ohne Recht und dennoch straffrei gehandelt.“ Zur begrifflichen Grundlegung vgl. Immanuel Kant: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 8, S. 343f.; vgl. außerdem gegenwärtiges BGB §§ 228 u. 904 und vor allem StGB § 35. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. 1973, S. 156.
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das „Tun […] gegen sich“ als eines „gegen das Andere“ zu verstehen, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes darlegte.15 Nur einem solchen kann es unvernünftig erscheinen, den Dolch wider den Tyrannen zu richten, weil das eigene Unglück viel wirkungsvoller gegen die Tyrannei klage. Bodmer nannte diese Haltung „unnatürlich“ (S. 31). Doch lag es in Lessings Absicht zu zeigen, dass diese Unnatur durch unnatürliche Verhältnisse bedingt ist, die es dem Vater nicht erlauben ein „Vater“ zu sein (S. 31f.). Wenn Odoardo Galotti noch in der ärgsten Beleidigung den Prinzen als unantastbare Obrigkeit respektiert, so erweist er sich als guter Christ, aber auch – wie Etienne de la Boétie meinte – als „niederträchtig“ und „zu allen großen Verrichtungen ungeschickt“.16 Die „natürliche Folge“ sei eine Art „Sklaverei“, und in diesem Zustande wird man allenfalls „das Heldentum der Knechtschaft“ finden, wie Montesquieu schrieb;17 das heißt die moralische Überlegenheit erweist sich wie bei den frühchristlichen Märtyrern im Untergang. Lessing deutete in seinem Stück diesen Zusammenhang mittels der etwas kryptischen Bemerkung Emilias an, die sie an ihre Ausführungen über Verführung und Gewalt knüpft: „Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige!“ (7, 369).18 Wenn der Widerstand gegen die Unterdrückung nur noch darin bestehen kann, sich selbst auszulöschen,19 hat die Despotie einen unerträglichen Grad erreicht. Das führt Emilia Galotti vor. In der Folge müsste sich wenigstens beim Publikum zeigen, ob „die Tugend“ die Leute „nur zu feigen Bürgern macht“ (1, 511) oder ob sie sich aufraffen, die Verhältnisse grundlegend zu verändern. Freilich gibt es keine „Revolution ohne Revolution“,20 und 15 16
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969–1979, Bd. 3, S. 147; vgl. ebd., S. 152. Zit. nach Michel de Montaigne: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausg. v. Pierre Coste ins Deutsche übers. v. Johann Daniel Tietz. 3 Bde. Zürich 1996, Bd. 3, S. 516; der Kontext im Original: „Entre les gens libres, c’est à l’envi’ qui mieux mieux, chacun pour le bien commun, chacun pour soi […]. Mais les gens asservis, outre ce courage guerrier, ils perdent encore en toutes autres choses la vivacité, et ont le cœur bas et mol, et sont incapables de toutes choses grandes. Les tyrans connaissent bien cela: et voyant qu’ils prennent ce pli, pour les faire mieux avachir encore leur y aident-ils“ (La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft. Übers. u. hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1980, S. 66). Charles de Secondat de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff. 2 Bde. Tübingen 1951, Bd. 1, S. 372 u. 378. Bodmers Emilia-Schauspielerin ist empört über diesen Satz, den sie zu sprechen gezwungen war: „Ich kenne die tausende nicht, die ins Wasser gesprungen, Schlimmers zu vermeiden, und Heilige geworden sind. Und was ist das Schlimmere gewesen, welches diese Heilige haben vermeiden wollen?“ (S. 30.) Einige Jahre später feierte der Stürmer und Dränger Lenz mit Bezug auf diese Stelle die Bereitschaft zum Selbstopfer abermals als Ausdruck menschlicher Autonomie, da man sich angesichts der eigenen Verführbarkeit eben nicht auf Gott verlassen könne (Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1992, Bd. 2, S. 608; vgl. auch ebd., S. 524 u. 568). Klaus Bohnen sprach vom „Opfertod als Akt selbstzerstörerischen Aufruhrs“ (Lessing: Werke und Briefe, Bd. 10, S. 964). Maximilien Robespierre: Ausgewählte Texte. Dt. v. Manfred Unruh. Mit einer Einf. v. Carlo Schmid. 2. Aufl. Gifkendorf 1989, S. 267 (Antwort auf die Anklage von Jean-Baptist Louvet, 5. November 1792): „Bürger, wolltet ihr eine Revolution ohne Revolution?“
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davor graute es Lessing sein Leben lang. „Was Blut kostet, ist gewiß kein Blut wert“ (10, 56), schrieb er 1780.21
Samuel Henzi Dreißig Jahre zuvor hatte Lessing untersucht, ob es nicht doch Situationen geben könnte, in denen man bereit sein muss, „Blut“ zu „verspritzen“, um zu beweisen, dass „die Tugend“ nicht nur „feige Bürger“ hervorbringe (1, 511f.); etwa wenn einem „verhaßten Unterschiede, den die Menschen unter sich festgesetzt haben“ (2, 147), entgegen gewirkt werden solle. „Die Natur“ wisse von jenem Unterschied nichts und teile „die Eigenschaften des Herzens aus, ohne den Edlen und Reichen vorzuziehen, und es scheinet sogar, als ob die natürlichen Empfindungen bei gemeinen Leuten stärker, als bei andern, wären“ (ebd.), so leitete Lessing seine angeblich in einer „englischen Monatsschrift“ gefundene (2, 836), wahrscheinlich aber selbst erfundene Erzählung „Geschichte des Jacob Tomms“ ein. Tomms ist ein armer Fruchthändler, der von einem hartherzigen Reichen zur Verzweiflung getrieben wird und Hand an sich legt, damit seine Kinder, die er nicht mehr ernähren kann, die Möglichkeit erhalten, im Waisenhaus aufgenommen zu werden. In letzter Sekunde vom Strick abgeschnitten, wird die Familie durch einen „leutselige[n]“ Grafen gerettet und vor erneuter Verzweiflung bewahrt, weil dieser den Fruchthändler „in Umstände“ versetzte, „worinne seine natürliche Liebe eine so harte Probe niemals wieder wird aushalten dürfen“ (2, 150). Diese „Geschichte“ ist insofern bezeichnend, als der Erzähler größten Wert darauf legt, ein „fühlbar Herz“, wie es den armen Fruchthändler auszeichnet, als beneidenswert darzustellen, denn: „Es macht unser Glück, auch alsdann, wenn es unser Unglück zu machen scheint“ (2, 147).22 Demgegenüber tritt die einleitend betonte 21
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Georg Forster wollte sich erinnern, bei einem Besuch Benjamin Franklins in Paris 1777 diese Worte gehört zu haben, doch ist dies unwahrscheinlich, da Franklin gerade zu den von Lessing gerügten militanten Propagandisten des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs gehörte, der „den pazifistischen Neigungen des siècle des lumières das Ideal der tugendhaften Revolution“ entgegensetzte (so der Herausgeber in Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. Hg. v. Ion Contiades. Frankfurt a.M. 1968, S. 108). Forster traf Lessing 1779 und mag hier in der Erinnerung mischen. Diese Maxime entsprach dem von Lessing vielleicht biografisch nicht immer gelebten, aber zeitlebens theoretisch postulierten Vertrauen in den „ewigen Zusammenhang aller Dinge“, der durch Gottes „Weisheit und Güte“ bestimmt würde. Daher sollte jedes Kunstwerk, so forderte Lessing im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1768), „ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein“, das heißt seine Rezipienten „an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“ (6, 577f.). Deshalb kam Lessings Nathan in dem 1779 geschriebenen Stück nach dreitägiger Trauer, und wohl auch einem gewissen „Murren wider die Vorsehung“ (ebd.), immerhin habe er „mit Gott auch wohl gerechtet“, letztlich zu dem Schluss, dass der Pogrom, welcher ihn seine Frau und „sieben hoffnungvolle Söhne“ gekostet hatte, mit „Vernunft“ betrachtet, nicht nur „Gottes Ratschluß“
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sozioökonomische Differenz, die das Agens der Geschichte ausmacht, in den Hintergrund. Das unnatürlich mitleidlose Verhalten des „reichen Manne[s]“, der den Fruchthändler in den Ruin treibt, wird als zwar schändlich, aber leider alltäglich keiner anderen als einer ironischen Betrachtung gewürdigt. Umsomehr gilt die erzählerische Aufmerksamkeit den Gefühlen des Ruinierten, dessen einzige Rache an dem Reichen ein „Blick“ ist, von dem sich der Erzähler wünscht, dass „ein tugendhafter Armer“ damit seinen „ärgsten Feind verfolge! Wüßte ich mich grausamer zu rächen?“ (2, 148f.) Anschließend wird geschildert, wie der Unglückliche aus Liebe zu seinen Kindern seinem Leben ein Ende zu setzen versucht. Kurz bevor er sich aufknüpfte, fing Tomms an zu beten „und er schloß in der Einfalt seines Herzens: ‚Lieber Gott, setze dich an meine Stelle, ich weiß du wirst eben das tun.‘“ Als dem Grafen von G** „erzählt“ wird, dass Tomms sich aus „natürliche[r] Liebe“ und Sorge um seine Kinder selbst töten wollte, bringt er aus Rührung die „Mittel“ auf, die Tomms vor der Verzweiflung und seine Familie vor dem Hunger bewahren. Das „fühlbar Herz“ des Protagonisten erweichte seinerseits das Herz des Rezipienten, machte es also „fühlbar“, so dass aus dem scheinbaren „Unglück“ (Selbsttötung aus Mitleid) das endliche „Glück“ erwuchs. Da die Kunst „das menschliche Herz auf allen Seiten […] rühren“ solle, „um es durch diese Rührungen zu bessern“, wie Lessing schrieb (3, 394), handelt es sich bei dieser Geschichte um eine geschickt gemachte poetologische Meta-Erzählung. Sie zeigt, dass Voraussetzung der erfolgreichen Rührung die Zurückdrängung der sozialen Thematik ist. Graf von G** lässt sich ja nicht durch die Armut des Fruchthändlers rühren, sondern durch die Erzählung des durch das „fühlbar Herz“ verursachten „traurigen Zufall[s]“ (2, 149f.).23 Diese programmatische „Geschichte“, die Lessing am 15. Juli 1751 unter der Überschrift Die väterliche Liebe im 84. Stück der Berlinischen Privilegierten Zeitung erscheinen ließ, nahm er als 13. Brief in den zweiten Teil seiner Schrifften von 1753 auf. Er ist an den „Herrn D**“ adressiert, der ebenfalls der Adressat des 22. und 23. Briefs ist. Zu Beginn des 22. Briefs erinnert das Ich Herrn D** an ein „Gespräch“ über „die neuste Geschichte“, das man unlängst geführt habe und in dem das Ich erklärte, dass „in dem ganzen Umfange derselben keine Begebenheit
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war (9, 596), sondern auch sein weiteres „Glück“ bedeutete. Diese rückblickend fast schon anstößig wirkende Anschauung war ein Geburtsfehler der Aufklärung insgesamt. Deren Gründervater René Descartes bekannte in seinem Discours de la méthode (3. Kap., 1637), dass seine „dritte Maxime“ stets war, „lieber mich zu besiegen als das Schicksal und lieber meine Wünsche als die Ordnung der Welt zu ändern“ (René Descartes: Ausgewählte Schriften. Übers. v. Arthur Bichenau u. Fritz Baumgart. Hg. v. Gerd Irrlitz. Leipzig 1980, S. 25). In diesem Geist meinte sogar noch Georg Christoph Lichtenberg (Schriften und Briefe. 4 in 6 Bdn. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967–1992, Bd. 1, S. 851): „Der Weisheit erster Schritt ist: Alles anzuklagen, / Der letzte: sich mit Allem zu vertragen“ (Sudelbuch L2, geschrieben um den 20. Oktober 1796). Eine Parallele hat die „Geschichte des Jakob Tomms“ in den Reflexionen über die rührende oder nicht rührende Geschichte eines Bettlers in Lessings Brief an Friedrich Nicolai vom 29. November 1756 (11.1, 135f. bzw. 3, 684f.: Briefwechsel über das Trauerspiel).
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anzutreffen“ sei, welche es „mehr gerührt habe, als die Enthauptung des Herrn Henzi in Bern“ (2, 700). Es liegt nahe, die Grundsätze der kleinen poetologischen Erzählung, die Lessing natürlich nicht zufällig an Herrn D** adressiert sein ließ, auf den Entwurf des „recht erhabnen Trauerspiele[s]“ anzuwenden.24 Das fiktive Ich der Briefe, das man keinesfalls mit dem Autor verwechseln sollte, behauptet von Samuel Henzi, es sei darin seine „Absicht“ gewesen, den Aufrührer im Gegensatz mit dem Patrioten, und den Unterdrücker im Gegensatze mit dem wahren Oberhaupte zu schildern. Henzi ist der Patriot, Dücret der Aufrührer, Steiger das wahre Oberhaupt, und dieser oder jener Ratsherr der Unterdrücker. […] Sie werden leicht sehen, daß in diesen Charakteren der Knoten des Stücks gegründet ist (2, 702f.).
Diesem Plan gemäß, der im 22. Brief noch ausführlicher entwickelt wird, als hier zitiert, hätte das vollständige Stück folgende symmetrische Struktur gehabt, die Dirk Niefanger so schematisierte: I./II. AKT (Akte der Verschwörer) Konzeption und Begründung der Verschwörung „Oberhaupt“ Henzi („und seine Freunde“) vs. Dücret III. AKT (gemeinsamer Akt/Höhepunkt) Verrat Dücrets Aufeinandertreffen von Verschwörern und Unterdrückern Verhaftung Henzis (und seiner Freunde) durch den Rat IV./V. AKT (Akte der „Gegenpartei“) Ratsversammlung „Oberhaupt“ Steiger vs. „Ratsherr[en] der Unterdrücker“ Verurteilung und Hinrichtung der Verschwörer Henzis […] Rolle entspricht die von Steiger in der zweiten Hälfte des Stückes. Dücret und die anderen Ratsherren entsprechen sich ebenfalls in ihren Haltungen. Die Geschehnisse nach dem dritten Akt spiegeln jene vor diesem. Allerdings waren bei der Verschwörung die vernünftigen Akteure in der Mehrzahl, sind es aber in den Akten der Gegenpartei nicht mehr. Deshalb hat Dücret Erfolg und deshalb endet das Drama tragisch.25
Wie Niefangers Schema zeigt, hatte Lessing bzw. das Ich der Briefe an Herrn D** eine einigermaßen regelgerechte klassizistische Tragödie entworfen. Das Ich der Henzi-Briefe befand sich zunächst in der Situation des Grafen von G** aus der Jacob Tomms-Erzählung. Es kannte Henzi nicht, sondern formte sich nach Informationen, die es „Teils aus den öffentlichen Nachrichten, Teils aus mündlichen Erzehlungen“ bezog, ein positives Bild des Hingerichteten, das es „gerührt habe“ (2, 700). Wie im Fall des versuchten Selbstmords von Tomms sind es „Nachrichten“ oder „Erzehlungen“, die – anders als die Ereignisse selbst – die 24
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Die Notwendigkeit, den gesamten dadurch entstandenen fiktiven kommunikativen Kontext bei der Analyse des Dramenfragments mit zu bedenken, hat Dirk Niefanger (Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 317f. u. 333) besonders betont. Ebd., S. 323f.
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Rezipienten zu rühren in der Lage sind. Die leibhaftigen Zeugen der Ereignisse (die Nachbarin, die Tomms vom Strick abschneidet; das Publikum der Hinrichtung in Bern) sind vom Schrecken beherrscht. Die mediale Vermittlung aber ermöglicht ein rührendes „Gleichgewicht“ (3, 685) der Affekte (Mitleid, Bewunderung und Schrecken), das die Rezipienten zur Erkenntnis der oder einer „Wahrheit“ (2, 702) befähigt.26 Als Autor des Trauerspiels versetzt sich das Ich in die Lage des Autors der „Geschichte des Jacob Tomms“, der seinerseits wieder Rührung erzeugen will, dieses Mal nicht mit journalistischen oder erzählerischen, sondern mit tragischen Mitteln. Er, der sich als „Anfänger in der Dichtkunst“ den „Regeln“ durchaus „unterwerfen“ zu müssen glaubte (2, 702),27 hätte dafür einen mittleren Helden gebraucht, der nicht nur an den Umständen scheitert, sondern auch an eigenen Fehlern. Samuel Henzi, dessen Hinrichtung das Ich der Briefe an Herrn von D** so rührte, scheint in der Beschreibung seines Erfinders indessen gar keinen Fehler zu haben: Henzi, als ein Mann, bei dem das Herz eben so vortrefflich als der Geist war, wird von nichts, als dem Wohle des Staats getrieben; kein Eigennutz, keine Lust zu Veränderungen, keine Rache beseelt ihn; er sucht nichts als die Freiheit bis zu ihren alten Grenzen wieder zu erweitern, und sucht es durch die allergelindesten Mittel, und wann diese nicht anschlagen sollten, durch die allervorsichtigste Gewalt (2, 702f.).
Der ehemals Modenesische Hauptmann Henzi, den Samuel Gottlob Lange 1747 als Held der aufklärerischen Vernunft – als der „Pallas Liebling“, mit der „Kraft / Des hohen Geists“ begabt, „wächst er auf“ und „trit auf den Hals der Hydra / Des Vorurtheils“, indem er „weichliche Lüste“ bekämpft und mit dem „hohe[n] Spiel“ der „Leyer“ das Lob der „hohen Thaten“ singt, um die „Sterblichen […] zur Tugend zu reizen“ –, Henzi also, den Lange seinerseits, freilich bloß mit einem „Echo Henzischer Töne“, vorläufig in einer „Horatzischen Ode“ besang,28 war wie seine Mitverschworenen Fuetter und Wernier durch die Hinrichtung am 17. Juli 1749 zu einem „Märtyrer der öffentlichen Freyheit und gemeinen Sache“ geworden
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Die Relativität dieser „Wahrheit“ machte Lessing gleich zu Anfang des 22. Briefs dadurch deutlich, dass hier die Rede von einem „anders eingerichtet[en]“ Trauerspiel ist, das Herr D** über denselben Gegenstand entworfen habe (2, 701). Das Interesse Niefangers (Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, S. 319–343) galt vor allem den Signalen des Textkonglomerats, die die Vorläufigkeit der mitgeteilten Geschichtsinterpretation bewusst halten; dem Autor sei es um „das Ausloten historiographischer Relativität“ bzw. um eine bewusst „polyphone Anlage des ‚Henzi‘-Komplexes, seine selbstreflexive, dialogische und multimediale Struktur“ gegangen (ebd., S. 332 u. 335). Schon hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Äußerungen des fiktiven Autor-Ichs der „Briefe“ nicht unbedingt für bare Münze genommen werden dürfen. Bei aller angeblichen „Aufmerksamkeit“ für die „Regeln“ (2, 702) sind realiter mit Jürgen Stenzel die „doch recht fundamentalen ‚Regelverstöße‘“ (2, 1201) zu konstatieren. Samuel Gottlob Lange: Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime. Halle a.S. 1747, S. 116f.
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(1, 1177),29 jedenfalls im Norden. Nach zunächst unsicherer Nachrichtenlage dominierte schließlich in der sogenannten „Rüdiger’schen“, später „Voßischen“ Berlinisch Privilegierten Zeitung, die Lessings Vetter Christlob Mylius herausgab, eine den Hingerichteten günstige Darstellung der Vorgänge, einfach dadurch, dass die „Apologisten der Zusammenverschwornen“ (ebd.) ausführlicher zitiert wurden als die Parteigänger oder Vertreter der Berner Obrigkeit. Am 8. August 1749 berichtete der Korrespondent aus Basel, dass die „Bernische Sache, welche man auf verschiedene Art erzählet hat, und von welcher man noch auf unterschiedenere Art redet und denket,“ noch immer „Gegenstand der meisten Gespräche“ sei (1, 1179). Das könnte, in freilich abgeschwächter Form, auch unter den Intellektuellen Berlins so gewesen sein, darauf deutet ja die ziemlich ausführliche Berichterstattung in der Tageszeitung hin. Lessings Fragment war als Beitrag zu dieser zeitpolitischen Debatte gedacht, gleichviel ob es unter dem direkten Eindruck der Berichterstattung oder erst gut anderthalb Jahre später entstanden ist. Auffälligerweise formierte sich sein Urteil über die Beteiligten (mit Ausnahme, was Dücret betrifft) ziemlich einseitig nach den Berichten der „Apologisten“ der Verschwörer. Diese Einseitigkeit fiel schon damals vor allem Schweizern auf; der Berner Albrecht von Haller (in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen, 25. März 1754), ausführlicher der Winterthurer Pfarrer und Historiker Johann Konrad Füssli (im Hamburgischen Magazin, Bd. 14, 6. St., 1755)30 versuchten, einige Dinge richtig zu stellen. Rückblickend meinte Gottlieb Emanuel Haller, dass in Samuel Henzi „die historische Wahrheit sehr wenig beobachtet“ sei, und Lessing habe „seines Ruhms geschont, indem er die Fortsetzung dieser Schrift nicht geliefert hat“ (1, 1218; vgl. Bibliothek der Schweizer-Geschichte, 6. Teil, Bern 1787, S. 70). Demgegenüber verteidigte ein bis heute namentlich nicht bekannter Rezensent aus dem Deutschen Reich den mit ihm persönlich nicht bekannten Lessing (1755 in den Neuen Erweiterungen der Erkenntniß und des Vergnügens, Bd. 6, 32. St.) gegen die Vorwürfe Füsslis vor allem mit dem Zwang des Dramatikers, sich bei widersprechenden Berichten entscheiden zu müssen, und zwar nicht bloß dezisionistisch: Es geschieht in Trauerspielen oft, daß verschiedene Nachrichten von der Hauptperson vorhanden sind, und da muß der Dichter die wahrscheinlichste wählen. […] Wir müssen also mit dem Hrn. Lessing sehr zufrieden seyn, daß er der wahrscheinlichsten Meynung gefolget ist […]. 29
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Dieses und die folgenden Zitate stammen aus Korrespondentenberichten der Berlinischen Privilegierten Zeitung zwischen Juli und Oktober 1749, erstmals gesammelt von Richard Boxberger in Lessing’s Werke. 11. Theil, 2. Abtheilung: Kleinere Schriften zur dramatischen Poesie und zur Fabel. Berlin 1876, S. 440–463; hier zitiert unter Angabe der Seitenzahl des Wiederabdrucks in Lessing: Werke und Briefe, Bd. 1. Zu Füssli siehe Karin Marti-Weissenbach: Füssli, Johann Konrad. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. v. der Stiftung HLS, Bern. Bd. 5. Basel 2006, S. 48; Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. Hg. v. d. Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Leipzig 1875–1912, Bd. 8, S. 256–258; Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz. 7 Bde. Dt. Ausg. besorgt v. H. Tribolet. Neuenburg 1921–1934, Bd. 3, S. 358 (Nr. 43).
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Nur dann ist ein Dichter zu tadeln, wann die Umstände der Geschichte die er auf die Bühnen bringt, offenbar anders bekannt sind, als er sie abschildert. Wäre aber Herr L. wohl im gleichen Falle, gesetzt, daß auch Hrn. Fueßlins Muthmaßungen gegründet wären? Wer würde wohl von den Zuschauern selbst hier das Unwahre finden? Ist uns die Geschichte der Schweizer denn so umständlich bekannt? (1, S. 1216f.)
Es braucht hier nicht im Detail gezeigt werden, warum Lessing und sein Verteidiger die Henzi entschuldigenden Berichte für „wahrscheinlicher“ hielten als die nachteiligen. Es reicht darauf hinzuweisen, dass Henzi schon vor der Verschwörung von 1749 als literarischer Propagator aufklärerischer Tugend Ruhm erlangt hatte (davon zeugt die oben zitierte Ode Langes), und dass zweitens die Verurteilungen Henzis und seiner Genossen in den Zeitungsberichten offensichtlich von einem legalistischen, die Entschuldigungen aber von einem moralischen Standpunkt aus erfolgten. Präzisere biografische Nachrichten, wie sie Haller und vor allem Füssli andeuteten, standen zunächst nicht zur Verfügung. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, was hätte es verschlagen? So genau war man im Allgemeinen mit den Schweizer Verhältnissen nicht vertraut, als dass das Publikum in Frankfurt, Berlin oder Leipzig die Modifikationen bemerkt hätte.31 Bekannt dagegen war im literarischen Publikum Langes Ode. Daher war es eine raffiniert gesetzte, äußerst subtile Spitze Albrecht von Hallers, wenn er Lessing wegen seiner scharfsinnigen „Critic über des Hrn. Langens Horaz“ in dem, auf das Henzi-Fragment unmittelbar folgenden 24. Brief „An den Herrn F.“ (2, 705–709) erst belobigte, bevor er dessen im Geist von Langes Ode geschriebenen Henzi wegen seiner Vernachlässigung der „Verpflichtung die Wahrheit“ zu sagen, scharf tadelte (1, 1206f.). Lessings Interesse an Henzi war das an einem perfekten Republikaner („das Herz eben so vortrefflich als der Geist“; „von nichts, als dem Wohle des Staats getrieben; kein Eigennutz, keine Lust zu Veränderungen, keine Rache beseelt ihn“), wie man ihn außerhalb der antiken Überlieferung kaum mehr kannte. In einem Schreiben vom 1. August, das der Basler Korrespondent am 8. August 1747 nach Berlin sandte, wird eine Eloge nicht nur auf die „Gelehrsamkeit“ des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Pfarrerssohn Samuel Henzi angestimmt, sondern ebenso sehr werden seine „Eigenschaften des Herzens“ gelobt: Er hatte eine große und wohleingerichtete Seele, welche über den Kummer des Privatlebens, über die Verdrießlichkeiten des öffentlichen Lebens erhaben war. Ohngeachtet der Händel, die man ihm machte, […] hatte er allezeit ein fröhliches und heiteres Angesicht und ein sich immer 31
Vgl. Corneilles Diktum (zitiert oben auf S. 93); das Problem mit zeitgeschichtlichen Stücken, bei denen man dem „Gedächtnisse der Zuschauer“ (Johann Elias Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theates [1747]. In: Ders.: Canut. Ein Trauerspiel. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1967, S. 100) bzw. „Zeitungs- und Journal-Zwange im Gedächtniss“ (Johann Christian Schaumann: Rezension über Westphalens Charlotte Corday 1805, zit. bei Arnd Beise: Charlotte Corday – Karriere einer Attentäterin. Marburg 1992, S. 95) verpflichtet ist, war den Autoren des 17. und 18. Jahrhundert durchgängig bewusst, wurde allerdings in der Theorie nicht oft reflektiert.
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gleiches Gemüth […]. Stets hatte er die großen Exempel vor Augen, deren Geschichte er gelesen und überdacht hatte, und er war sehr bekannt mit den Maximen der Sittenlehre […]. Wer kann sich nun einbilden, daß Henzi, der sanftmüthigste und mäßigste Mensch von der Welt, seinen Charakter sollte verlassen und sich in ein närrisches und abgeschmacktes Complot eingelassen haben […]? Er war eines solchen Vorhabens unfähig. Vielmehr, da Einige im Jahr 1744 einen gewaltsamen Weg durchzudringen vorschlugen, setzte sich Henzi standhaft dagegen und erklärte sich, daß er lieber Alles, was er hätte, verlieren, als Jemanden, er sei, wer er sei, in Lebensgefahr setzen wolle. Dieses System ist die Ursache der Landesverweisung im Jahr 1744 und ohne Zweifel auch seines itzigen Verlustes gewesen. Viele Freunde haben es ihm vorhergesagt, aber er hat allezeit geantwortet, es sei ihm einerlei, auf was für Art er aus dem Handel käme, wenn er sich nur nichts vorzuwerfen habe. (1, 1185f.)
Es ist unschwer zu erkennen, dass sich in dieser Charakteristik die Figur des Trauerspiels wiederfindet. Zugleich wird auch die äußere Bedingung der Möglichkeit, Henzi als positiven Helden einzuführen, angedeutet. Der Hinweis auf Henzis „Landesverweisung im Jahr 1744“ rekurriert auf die Berichte über die Petitionen von 1710 und 1744, bei denen „sonst stets“ ebenfalls „als Patricios“ angesehene Bürger sich über die Beraubung „aller Freiheiten und Vorzüge“ beklagten, die sie von dem Rat der Stadt Bern, welchen „vier Familien“ dominierten, erleiden mussten. Die „alte Regierungsform“ sei durch diese Familien „zu einem solchen Grade der Oligarchie gebracht worden“, dass man von einem illegitimen Umsturz der „Grundgesetze der ganzen Republik“ reden könne (1, 1170). In den Petitionen wurde auf die Rückkehr zu den alten „Grundgesetzen“ gedrängt, d.h. der Rat und die „Aemter“ der „Republik“ sollten allen „freyen Bürgern[n]“ wieder gleichermaßen offenstehen (1, 1174f.). Besondes auf die Petition von 1744 reagierte der „Rath“ mit äußerster Härte, d.h. „die Folge von diesem Unternehmen war, daß Diejenigen, welche diese Bittschriften unterzeichnet hatten, „ihrer Bedienungen entsetzet, und wohl gar […] ins Exilium gejaget“ wurden (1, 1171 u. 1175). Auf Grundlage dieser Berichte ließ sich also der gegenwärtige Rat der Stadt als Usurpator einer ursprünglich ihm nicht zustehenden Souveränität und damit als illegitim begreifen, während die Verschwörer im Recht waren, insofern sie die alte Verfassung wieder in Kraft setzen wollten. Unter den 1744 des Landes Verwiesenen war auch Samuel Henzi gewesen, der allerdings im Sommer 1748 begnadigt wurde, wofür er zwar „seiner Obrigkeit Dank“ sagte, ohne jedoch seine Ideen zu reformieren, die „er sich von einer Veränderung im Staate gemachet hatte“, wie Füssli 1755 tadelnd feststellte (1, 1209). Diese Ideen galten dem Sturz des Patriziats und der Einführung einer Zunftverfassung etwa nach Zürcherischem Vorbild, sowie die Öffnung der beiden neu einzuführenden Räte für rund 350 Familien.32 In der zeitgenössischen Berichterstattung klang dies so: Die „Aufrührer“ hätten vorgegeben, 32
Vgl. das Nachwort der Herausgeber zu Gotthold Ephraim Lessing: Samuel Henzi. Trauerspiel (Fragment) nebst Briefen von Samuel Henzi an Johann Jacob Bodmer. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Bern 2000, bes. S. 45–48), welches den Inhalt der vermutlich von Henzi entworfenen Denkschrift der Verschwörer von 1749 vorstellt.
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daß sie den Weg zu allen obrigkeitlichen Aemtern ohne Unterschied allen Einwohnern der Stadt und des Cantons öffnen wollten, wenn sie die dazu erforderlichen Eigenschaften hätten, ob sie gleich weder durch das Blut noch durch einen Bund eine Gemeinschaft mit den Familien hätten, welche im Besitz der Aemter und Würden des Staats sind. (1, 1168)
„Da die Mißvergnügten“, so wurde weiter berichtet, behaupteten, dass die beiden früheren Petitionen keineswegs „in solchen Ausdrückungen abgefasset gewesen“, welche die harsche Reaktion der Regierung hätten rechtfertigen können, hätten sie es für ratsam gehalten, sich nicht abermals mit einem solchen Verfahren bloßzustellen, sondern sie haben den Entschluß gefasset, den Gliedern der Regierung ihre Propositionen auf eine Art vorzutragen, welche sie zu einer ungesäumten Entschließung zwingen könnte (1, 1171).
Zu diesem Zwecke habe man sich „7–800 Bauern […] versichert“, die einer der Verschwörer in die Stadt lassen sollte (1, 1169f.; conjurationsfeindliche Quelle). Indessen sei es aber „die Absicht der Zusammenverschworenen nicht gewesen, das Leben, die Güter oder die Freyheit irgend einer Person anzugreifen“, sondern nur „Vorstellungen zu thun“ (1, 1176; conjurationsfreundliche Quelle). Allerdings war man wohl auf den Fall vorbereitet, dass „man sie würde hindern wollen, ihr Vorhaben auszuführen“, worauf sie durchaus gesonnen waren, „Gewalt gegen Gewalt zu brauchen“, legten die Gegner der „Zusammenverschwornen“ diesen in den Mund, während die Verteidiger der Hingerichteten dies als Verleumdung abtaten, denn sonst „hätte der Magistrat“ in dem offiziellen „Memorial“ sicher „etwas davon erwähnt“ (1, 1183). Die letztlich nicht ganz eindeutige Nachrichtenlage darüber, wie genau die Verschwörer ihren „Entschluß auszuführen gesucht“ hätten (1, 1171), ist die Folie, auf der in dem Trauerspiel-Fragment die Frage nach der Legitimität von Gewalt bzw. von Gegengewalt verhandelt wird. In dem begleitenden „Brief“ äußert sich das fiktive Autor-Ich wie zitiert dahingehend, dass Henzi „nichts als die Freiheit bis zu ihren alten Grenzen wieder zu erweitern“ suchte, und zwar „durch die allergelindesten Mittel, und wann diese nicht anschlagen sollten, durch die allervorsichtigste Gewalt.“ (2, 702f.) Aufgenommen wird also der Gedanke, dass gegen eine illegitime Staatsgewalt Widerstand legitim sei; dass gegen eine usurpierte Staatsgewalt die „allervorsichtigste Gewalt“ anzuwenden durch eine Art republikanisches Notwehrrecht gedeckt sei. Das Trauerspiel-Fragment selbst widerspricht aber dieser angeblichen „Selbstdeutung“ Lessings.33 Samuel Henzi beklagt in dem Stück zwar die Pervertierung der um 1750 tendenziell positiv bewerteten Aristokratie (als mittlere der Regierungsformen zwischen Monarchie und Demokratie dem „gewissen Mittelstand
33
So Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 2004, S. 103.
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zwischen dem Pöbel und den Großen“34 entsprechend) in eine despotische Oligarchie (I/1; V. 75–94).35 Doch sieht sein Konzept der Rückkehr zur „Freiheit“ in „ihren alten Grenzen“ an keiner Stelle die Anwendung von Gewalt vor, auch nicht der „allervorsichtigsten“. Henzi hofft allein von dem Appell an den Rat der Stadt, diesen zur Rückkehr zu einem vernunftgemäßen Regiment zu bewegen. Dücret dagegen glaubt nicht an die Reformwilligkeit der Räte und schlägt daher vor, diese gewaltsam zu entmachten. Obwohl Dücret aus unedlen Motiven an der Verschwörung teilnimmt (privates Rachegelüst, gekränkte Eitelkeit), hat er das Recht des Realisten auf seiner Seite. „Der macht sich zum Gespötte, der einen Tyrannen durch Beredsamkeit zu gewinnen gedenkt“, zitierte Lessing später eine von seinem Freund Mendelssohn übersetzte Fabel (4, 518).36 Henzi aber propagiert genau dies. Damit konterkariert er seine Rolle als Held. Dücret spricht es aus: Henzis „Tugend“ sei von der Art, die „selten Helden schafft, doch öfters sie ersticket“ (II/1; V. 368). Nicht nur Dücret aber, der durch Lust an der Grausamkeit desavouiert ist (I/2; V. 240–247), auch Wernier – gleich Henzi ein schon 1744 bewährter Patriot (I/1; V. 15–22) – hatte die gleichen Einwände erhoben. „Ohnmächtiges Beschwören“ nütze gar nichts: „Nein, wenn der Nachdruck fehlt, so unterlaßt’s nur gar“ (I/1; V. 147–151). Vorher hatte er – ebenso wie Dücret gegenüber den andern Verschwörern (II/1; V. 370ff.) – sich erboten, „den süßen Stoß, wann du vor Blut dich graust“ (I/1; V. 98) zu führen. Das Eingeständnis Henzis, dass auch Dücret Mitglied der Konspiration sei und man ihn wohl leiden müsse, damit er nicht zum Verräter werde,37 lässt Wernier sofort eine praktikable Lösung vorschlagen: die Ermordung Dücrets, was Henzi empört von sich weist. Der Affekt habe seine Vernunft wohl außer Kraft gesetzt, rügt er seinen Freund (I/1; V. 216). 34
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Dieser „Mittelstand“ solle das Personal der bürgerlichen Tragödie stellen, meinte Johann Gottlieb Benjamin Pfeil in seiner Abhandlung „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ (1755, § 12), hier zit. nach Johann Gottlob Benjamin Pfeil: Lucie Woodvil, ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Handlungen (1756) / Vom bürgerlichen Trauerspiele (1755). Mit einem Nachw. hg. v. Dietmar Till. Hannover 2006, S. 107. Das Stück wird unter Angabe von Akt/Szene und der Verszahl nach Lessing: Werke, Bd. 2, S. 371–389 zitiert. Vgl. auch Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politischklassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 179: „Dücret hat, trotz seiner Lasterhaftigkeit, in pragmatischer Hinsicht mehr recht als der tugendgläubige Henzi“. Zu Recht wies schon Roald K. Bergethon (Republicanism (?) and Revolution in Lessing’s Samuel Henzi. In: Symposium 1 (1946) S. 60–74, hier S. 66; vgl. Ernst Loeb: Lessings Samuel Henzi: Eine aktuelle Thematik. In: Monatshefte 15 (1973) S. 351–360, hier S. 356) darauf hin, daß Henzis Besorgnis, Dücret könnte die Konspiration verraten, nicht erkläre, warum die Verschwörer sich überhaupt mit ihm eingelassen haben. Seine Antwort („The specific reason for Dücret’s rôle in the fragment is to be found in his function within the revolutionary plot“) greift jedoch zu kurz, wenn sie sich nur auf die dramaturgische Funktion Dücrets bezieht. Die Verschwörer brauchten seine Agitationskraft (vgl. II/1; V. 418–421), um das Landvolk zu „verlenken“ (II/1; V. 344; spätere Auflagen ändern „verlenkt“ in das schwächere „gelenkt“). In der Stadt selbst soll der ‚tugendhaftere‘ Fuetter das Kommando über das Volk übernehmen (I/1; V. 137): Eine so mächtige Waffe mochte man nicht in der Hand des eigennützigen Dücret sehen.
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Damit wird die Hauptabsicht des Stücks sichtbar: Gewalt soll als widervernünftig erkannt und als Mittel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geächtet werden. Das bedeutet allerdings „den Verzicht auf das Regiment der Bürger […], wenn es nicht anders als durch den gewaltsamen Machtwechsel einzurichten ist“.38 Das wird auch in Samuel Henzi deutlich, etwa wenn Henzi seinen Freund Wernier als Jemanden rühmt, der „die Tugend mehr als seine Freiheit liebet“ (II/2; V. 541); Wernier selbst bekannte: „Wer wird sich lieber nicht zur Sklaverei bequemen, / Wenn er die Freiheit soll von Dücrets Händen nehmen?“ (I/1; V. 207f.) Während Dücret dafür plädiert, sich selbst moralisch für die Freiheit zu opfern und durch eine lasterhafte Tat „in uns auch unser Kind [zu] befrein“ (I/2; V. 282), lehnt Henzi dies kategorisch ab. Man könnte versucht sein, Henzis Bemühen um die eigene weiße Weste als eigennütziger zu empfinden als Dücrets Vorschlag. Dirk Niefanger zeigte meines Erachtens zu Recht, dass Dücrets Äußerungen so abscheulich nicht sind, wie sie zunächst klingen und wie das fiktive Autor-Ich der Briefe uns glauben machen will.39 Die in Samuel Henzi I/3 offenbarte ‚niedere‘ Gesinnung Dücrets, die ihn als ‚Machiavellist‘ denunziert, desavouiere ihn aber noch nicht als frühneuzeitlichen ‚homo politicus‘. Denn anders als Henzi, der auf historischen Ruhm durch tugendhaftes Verhalten aus sei, das sich an überzeitlichen Normen orientiert, zähle für Dücret nur der politische und historische Erfolg, der post festum die gegenwärtige Niedertracht alsbald in „Tugend“ verwandeln würde, „folgt Glück und Sieg nur drauf“ (I/2; V. 278). In einem verderbten Staat die Freiheit neu oder erneut einführen zu wollen, erfordere radikale Maßnahmen, mithin Blutvergießen (vgl. I/2; V. 275),40 wie Dücret „mit Blick auf die weitere Zukunft“ klar macht. An dieser, und nicht an der Übergangszeit tyrannischer Herrschaft, orientieren sich auch seine Überlegungen zur Wirkung der Revolte auf die Nachwelt. Ihr prägt sich weniger die kurze brutale Phase der erneuten Diktatur, als vielmehr die Zeichen der Erneuerung ein. Für sie stehen die Namen Fuetter, Wyß, Richard und, last but not least, Dücret; deshalb werden sie von ihm noch einmal ausdrücklich und mit allem Pathos genannt, sozusagen der erdachten Nachwelt ins Gedächtnis geschrieben [I/2; V. 281–288]. Die Installierung der Namen im imaginären Pantheon der Berner Geschichte setzt die Auslöschung jener Namen, die für die Tyrannei standen, voraus. Sie hat Dücret auf einer Liste verzeichnet, die er […] dem zaudernden Henzi vorlegt. Der historische Ruhm verlange eine Nacht der langen Messer.41
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Gert Mattenklott: Drama – Gottsched bis Lessing. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Band 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek 1980, S. 277–298, hier S. 298. Über Dücret heißt es da: „Haß und Blutdurst sind seine Tugenden, und Tollkühnheit sein ganzes Verdienst“ (2, 703). Vgl. Niccolo Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Hg. v. Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 63ff. Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, S. 330f.
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Davon aber will Henzi partout nichts wissen. Entsetzt prallt er zurück, ohne dem Plan Dücrets ein realistisches Alternativ-Konzept entgegen stellen zu können. Einen mit Gewalt befreiten Staat hält er für auf ewig mit einem Kainsmal gezeichnet. Henzis Ideologie kulminiert darin, dass er die Verantwortlichkeit für die gesellschaftlichen Zustände in überirdische Sphären verweist. Die Androhung von Gewalt, indem man die Volksmassen vor das Rathaus führt (I/1; V. 155ff.), ist letztlich nicht ernst gemeint. Hier wird „ein Gewaltpotential aufgestellt“, das Henzi aber „nicht nutzen […] will“.42 Das erhellt sich schon daraus, dass der Sieg in der Auseinandersetzung ausschließlich von göttlicher Gnade erwartet wird: „Der Gott des Vaterlands, der unsern Schwur vernommen / Von dem, von dem allein uns Glück und Sieg muß kommen“ (I/1; V. 131f.). Die Anwendung von Gewalt versagt Henzi dem Pragmatiker Dücret, weil dies ein unerhörter Eingriff in die göttliche Vorsehung sei: Weißt du, ob Gott nicht selbst an unsre Freiheit denkt, / Er, der der Großen Herz wie Wasserbäche lenkt, / Daß sich der harte Rat auf unser Flehn erweichet / Und dann am größten wird, wann er dem Bürger gleichet? / Verdienen sie den Tod, so hat Gott seinen Blitz (I/2; V. 249– 253).
Das Trauerspiel-Fragment widerlegt also die provokative Behauptung des fiktiven Autor-Ichs in dem begleitenden „Brief“, dass Henzi „allervorsichtigste Gewalt“ in seine Überlegungen mit einbezogen hätte. Dies tun nur seine Mitverschworenen. Dem aufmerksamen Leser konnte der Widerspruch zwischen Paratext und Stücktext nicht entgehen. Wie sollte er damit umgehen? In dem Stück spricht Dücret wegen der strikten Weigerung, auch nur die „allervorsichtigste Gewalt“ überhaupt in Erwägung zu ziehen, Henzi die Qualität eines „Helden“ ab. Ein Held aber ist eine makellose Figur, die „Bewunderung“ erheischt; eine Figur, die Lessing später von der Bühne verbannt wissen wollte.43 Stattdessen bevorzugte Lessing bekanntlich Charaktere „aus der mittlern Gattung“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie „einen Fehler begehen“ (6, 594). Henzi wurde in der zeitgenössischen Rezeption, so zum Beispiel in der anonymen Rezension des zweiten Theils der Schrifften in den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen (17. Januar 1754) als ein solch gemischter Charakter wahrgenommen, „der bey der Tugend auch noch Fehler hat“ (1, 1206). Außer dass Henzi leicht „zornig“ wird (I/2; in V. 303) und dass er „des Staates Wohl um Steigers Wohl vergißt“ (ebd., V. 302), ist sein gravierendster Fehler, sogar die „allervorsichtigste Gewalt“ als Mittel in der politischen Auseinandersetzung auszuschließen.
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Heinz Hillmann: Ungerechte Obrigkeit und Widerstandsrecht im Absolutismus. Von Lessings Samuel Henzi zur Emilia Galotti.“ In: „Sie, und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland. 2 Bde. Hg. v. Arno Herzig u.a. Hamburg 1989, Bd. 1, S. 87–106, hier S. 90. Vgl. den Brief an Moses Mendelssohn, 28. Nov. 1756 (11.1, 130f.).
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Diesen Fehler begeht Henzi wegen seines aristokratischen Bewusstseins, das sich weigert, mit anderen als solchen, die „weder Stand noch Glück zum Pöbel niederdrückt“ (I/1; V. 141), in Verbindung zu treten. Die einzige „Gewalt“, die den Verschwörern, die sich als letzter „Rest vom freien Schweizer Samen“ (ebd., V. 140) begreifen, zur Verfügung steht, ist aber jenes von Dücret angeworbene „Landvolk“, das den Forderungen den nötigen „Nachdruck“ hätte verleihen können (ebd.; V. 154f.). Doch mit diesem Volk mochte Henzi nichts zu tun haben und verfiel daher der Kritik im Gesamtzusammenhang der Briefe im zweiten Band der Schrifften. Den gleichen Vorwurf einer unangemessenen ‚Gleichgültigkeit‘44 durch elitäre Absonderung machte der fiktive Briefe-Schreiber im 17. Brief Klopstock, der von der „Befreiung eines Volks, das bisher in dem Joche der Knechtschaft geseufzet“, auf eine Weise sprach, als gehöre er nicht dazu, obwohl es im Messias dabei um die gesamte „sündige“ Menschheit gehe, zu welcher dessen Autor ohne Zweifel auch gehörte. Allenfalls hätte man auf diese Weise über „die Befreiung zum Exempel der Holländer“ schreiben können, zu denen man als reichsdeutscher Untertan eben nicht gehörte (2, 217; vgl. 2, 689). Henzi war es aber um die „Befreiung eines Volks“ zu tun, „wovon“ er zweifellos ein „Glied“ war, und doch versuchte er sich von den gemeinen Leuten dieses Volks „auszuschließen“ (ebd.). Dieselbe Überheblichkeit bewies der fiktive Autor der Briefe angeblich als junger Mann, der, um etwas besonders Lächerliches darzustellen, den Eingang wählte: „Dich, Pöbel, ruf ich hier zu meinem Beistand an“ (2, 683; vgl. 1, 27), ohne sich aber wirklich auf den so genannten Pöbel einlassen zu wollen. Der ‚gereiftere‘ Autor der Briefe distanzierte sich von seinem früheren Ansatz, den er „nicht mehr ohne eine bittre Spötterei über [s]ich selbst ansehen“ könne (2, 682). Wenn man den Stücktext des Samuel Henzi, seinen Paratext (22. und 23. Brief) sowie den Kontext (Briefe im zweiten Band der Schrifften von 1753) zusammen liest, stellt man fest, dass Henzi nicht nur Bewunderung als „wahrhafter Patriot“45 auf sich zieht, sondern auch kritisiert wird, weil er sich nicht „zu dem Pöbel herabläßt“ (6, 191), zu einem Pöbel, der hier als „Landvolk“ zu „einer Art symbolischer Macht“ idealisiert wurde,46 welche die notwendige Bedingung eines möglichen Erfolgs der Verschworenen darstellt.
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Vgl. die oben schon zitierte Charakteristik Henzis: „ein sich immer gleiches Gemüth“, das „lieber Alles […] verlieren, als Jemanden […] in Lebensgefahr setzen wolle. Dieses System ist die Ursache […] seines […] Verlustes gewesen“; „er hat allezeit“ gesagt, „es sei ihm einerlei, auf was für Art er aus dem Handel käme, wenn er sich nur nichts vorzuwerfen habe.“ (1, 1185f.) Adolf Stahr: G. E. Lessing (1859), zit. nach: Steinmetz (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter, S. 342. Hillmann: Ungerechte Obrigkeit und Widerstandsrecht im Absolutismus, S. 91.
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Brutus und Masaniello Henzis Fehler beging Lucius Junius Brutus, „des Römischen Volks Befreier“,47 bekanntlich nicht. Nach Lucretias Selbsttötung trug er mit Lucretius und Collatinus die Leiche der Frau „auf den Markt“, rief das Volk zusammen und hielt „eine Rede“ gegen „den Despotismus des Königs“, wodurch er das auf dem Forum versammelte „Volk zu dem Beschlusse“ bewog, „dem Könige die Regierung abzusprechen, und den Lucius Tarquinius mit seiner Gemahlin und Kindern für Landesverwiesene zu erklären“.48 Lessing nahm dieses Thema 1756 auf und entwarf ein dreiaktiges Stück mit dem Titel Das befreite Rom (3, 777–779).49 Es war das einzige Mal, dass Lessing den überlieferten Stoff nicht zu entpolitisieren und individualisieren suchte,50 sondern im Gegenteil noch radikalisierte. Während in der römischen Sage Tarquinius Superbus verbannt wurde und nach etlichen Versuchen, mittels militärischer Gewalt die Macht in Rom zurückzuerobern, als verbitterter Greis im Exil starb,51 ersticht in Lessings Dramenplan Brutus den König auf offener Bühne (II/4). Auch Lucretia ersticht sich nicht in der Abgeschiedenheit des häuslichen „Schlafzimmer[s]“,52 sondern „erscheinet, von einer Menge Pöbel begleitet, […] wütend“ auf dem Forum, „erzehlt dem Volke ihre Schande“ und erdolcht „sich vor den Augen desselben“ (I/3). Das ganze Stück sollte auf dem Forum spielen und das Volk Roms ist Adressat und Souverän der Handlung. Es tritt zunächst deliberierend in Gestalt zweier Römer, „die sich von der Tyrannei des Tarquinius unterreden“, in Erscheinung (I/2), wird zum Zeugen der Selbsttötung Lucretias und ihres Rufs nach einem „Rächer“ (I/3), „betauert […] das Schicksal der Lucretia“ (I/4), hört sich des „Brutus zweideutige und prägnante Spöttereien“ an (II/1), weigert sich, die Versammlung aufzulösen und vertreibt die „Lictores“ (II/3), weicht aber aus „Furcht“ vor der Majestät zurück, bevor Brutus den König tötet (II/4), nimmt die Bewerbung des Collatinus um „den erledigten Thron“ entgegen (III/1), bescheidet sie abschlägig (III/2) und bestimmt Lucretias Witwer Publicola, einen Volksfreund, wie sein Name schon sagt, zum regierenden „Berater“ (III/3). Wie die zuletzt genannte Szene zeigt, wird das Volk von Rom als Souverän des Staats anerkannt und die neue „Regierung“ als Exekutivorgan dieses Souveräns installiert. Dass das Volk als Souverän aber keine monolithische Masse ist, hätte das ausgeführte Stück in früheren Szenen zeigen sollen. Dem Mut der Meuterei in 47 48 49 50 51 52
Livius: Römische Geschichte, Bd. 1, S. 103 (I, 56). Ebd., S. 108f. (I, 59). Vgl. Lessing: Werke, Bd. 2, S. 466–468. Vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, S. 69ff. Vgl. Livius: Römische Geschichte, Bd. 1, S. 144 (II, 21). Ebd., S. 106 (I, 58).
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Szene II/2 steht ein von „Furcht“ beherrschtes „feiges Volk“53 in Szene II/4 gegenüber. Besonders markant sollte die Mannigfaltigkeit des Volks in den ersten beiden Szenen des dritten Akts inszeniert werden. Möglicherweise in Erinnerung an die beiden verschiedenen Hälften des Volks in I/1 von Shakespeares Coriolan54 treffen wir in Lessings Szenar erst auf eine Gruppe des Volks, das sich Collatins „Ansprüche auf den erledigten Thron“ anhört, bevor in der folgenden Szene eine „andre Menge“ mit dem Ruf: „Freiheit! Brutus!“ „hereingestürzt“ kommt, worauf sich Brutus und Collatinus ein Redegefecht liefern bzw. Brutus „wider die Könige“ „declamiert“, was zu der letztendlichen Neuverfassung des Staats durch das Volk führt. Es ist nicht bekannt, warum genau Lessing diesen Dramenplan nicht ausführte. Immerhin ließ ihn das Thema nicht mehr los, doch war es nicht die Thematik der erfolgreichen Staatsumwälzung, die ihn daran fesselte, sondern die der geschändeten Unschuld. Daher wechselte Lessing zu dem verwandten Virginia-Thema über, aus dem, wie zu Anfang des Kapitels bereits dargestellt, am Ende die Emilia Galotti wuchs. Vielleicht hielt Lessing es für wenig nützlich, den Gründungsmythos des hernach „selbständigen römischen Volkes“55 darzustellen, denn für wen hätte er ihn erzählen sollen?56 Anders als Bodmer, der keine fünf Jahre später die Reihe seiner politischen Trauerspiele mit vaterländischen Stücken begann, die primär für einen Kreis „auserlesener“ Republikaner in der Stadt Zürich bestimmt waren,57 lebte Lessing damals in Preußen, das er später als „das sklavischste Land von Europa“ bezeichnete, und schrieb für „Untertanen“, die zum allergrößten Teil unter dem „Despotismus“ des Absolutismus und seines „Hofpöbels“ leiden mussten.58 Auch fragte er sich möglicherweise, wo es ein Volk, das sich mit Livius’ Ausdruck „selbständig“ zu machen im Stande war, geben mochte? Immerhin aber war es der Oper durchaus erlaubt, auch bloße „Einbildung[en]“ als wirkliche dramatis personae zu gebrauchen, wie Pierre Mathieu Martin de Chassiron in seinen von Lessing übersetzten Reflexions sur le Comique-larmoyant (1749) festgestellt hatte;59 und Das befreite Rom ist der Entwurf für ein Opernlibretto, wie die dreiaktige Form, 53 54 55 56
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Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde. Leipzig 1794–1811, Bd. 23, S. 288 (Oberon XII, 61). Vgl. oben S. 60f.; Jürgen Stenzel nahm einen nicht genauer spezifizierten Einfluss Shakespeares auf das Szenar Das befreite Rom an (siehe die Bemerkungen in 3, 1471). Livius: Römische Geschichte, Bd. 1, S. 112 (II, 1). Vgl. Thomas Abbt in seiner Rezension von Johann Michael Heinzes Ciceronis drei Gespräche von dem Redner (1762): „Wo ist das Volk! wo sind die versammelten Provinzen? wo sind die angeklagten Feldherren und Fürsten? wo ist die öffentliche Beratschlagung über Krieg und Frieden? In unseren Verfassungen bezahlt das Volk seine Abgaben und wird über den Gebrauch derselben nicht gefragt […]“ (Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 13. Theil, 215. Brief, S. 105ff.). Vgl. unten S. 263, 285, 292 und 301; hier wird der Epilog von Die Schweizer über dir Zürich (ZBZ Ms. Bodmer 26.1) anzitiert. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11.1, S. 622f. (an Friedrich Nicolai, 25. Aug. 1769). Lessing: Werke, Bd. 4, S. 19.
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das abschließende Ballet der „Salier“ und der durchgängige Auftritt des Volks, das in der Oper als Chor von Anfang an dabei war, vermuten lassen.60 Ein Jahr zuvor schon hatte Lessing in seiner Abhandlung „Von den lateinischen Trauerspielen, welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind“ (erschienen in der Theatralischen Bibliothek, 2. Stück, 1755), einem „heutigen Dichter“ folgenden „Vorschlag“ gemacht: „So viel ist augenscheinlich, daß aus“ Senecas Hercules furens, „mit kleinen Veränderungen, eine vollkommene Oper zu machen sei“ (3, 559). Anders als im Fall „Carls des ersten Königs von England“, dessen Schicksal Lessing sich camoufliert als „ähnliche Geschichte eines Königs von Siam“, ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert, zu theatralisieren vorstellen konnte (10, 642), also die gemeinte Geschichte, weil thematisch zu nah, zwar gleichzeitig belassen, aber geografisch ‚exotisieren‘ wollte, hielt er im Fall des antiken Dramas von Seneca eine Transponierung in die Moderne auch nur mit einer Modernisierung der Fabel für machbar. Bedingung allerdings dafür sei, dass man die „Raserei“ des Herakles als „eine natürliche Folge aus“ dem Charakter der Hauptfigur entstehen lasse. Immerhin sei dies leicht: denn was ist näher verbunden als Tapferkeit und Übermut, als Übermut und Wahnwitz. Man schildre also den Herkules als einen Helden voll Mut und Tapferkeit; man lasse ihn die größten Taten glücklich ausgeführt haben; man lasse ihn noch größere sich vorsetzen. Allein sein allzugroßes Vertrauen auf eigene Kräfte bringe ihn zu einer stolzen Verachtung der Götter. Man lasse ihn nach und nach sich in seine eigne Anschläge verwickeln; man gebe ihm einen 60
Dass sich Lessing prinzipiell auch für die Oper interessierte, belegen mindestens die – allerdings erst später entstandenen – „Collectaneen“ (vgl. z.B. Lessing: Werke, Bd. 5, 750–754: „Oper, die Hamburgische“). Darin wird unter anderen auch Barthold Feinds Die Römische Unruhe. Oder: Die Edelmühtige Octavia (Uraufführung am 5. Aug. 1705) erwähnt (vgl. Barthold Feind: Deutsche Gedichte. Erster Theil. Stade 1708, S. 115–174); ob Lessing auch das Textbuch der dreieinhalb Monate später (29. Nov. 1705) uraufgeführten Kleinmüthigen SelbstMörderin Lucretia. Oder: Die Staats-Thorheit des Brutus (vgl. ebd., S. 175–250) kannte, weiß man nicht. Sein Szenar wirkt wie ein Gegenentwurf zu Feinds Oper. In Feinds Oper ist der Selbstmord Lucretias nicht der Auslöser, sondern nur ein willkommener Anlass zur „Veränderung der gantzen Republique“. Zwar wird auch in Feinds Stück die Republik einer Monarchie als grundsätzlich überlegen angesehen, doch vermied es Feind, die Befreiung Roms mit dem Thema des revoltierenden Volks zu verbinden. Der Stoff verlangt geradezu die Inszenierung des öffentlichen Platzes mitsamt des darauf agierenden Volks wie bei Lessing; doch Feind lavierte um das mögliche Skandalon einer positiven Volksdarstellung herum. Ohne dass wir Brutus und Collatinus anders als klagend an „einem prächtigen Traur-Gerüste“, auf dem die tote Lucretia aufgebahrt liegt, sähen, erreicht die inszenierte Trauergemeinde und die Zuschauer plötzlich die Nachricht von der Befreiung Roms. Bezeichnenderweise wird sie passivisch ausgedrückt, das Subjekt der Befreiung verschwiegen: „Man halte mit dem Klagen ein“, eröffnet der Überbringer der frohen Botschaft seine Nachricht: „Klährt wieder auf die AugenLieder, / Der König ist verjagt […], / Es blühet Rom in seiner Freyheit wieder, / Und Brutus ist mit Collatin im Orden / Des Bürgermeister-Stands gesetzet worden“ (V/9). Erst nachdem der heikle Vorgang einer „Aendrung der Regierung“ berichtet ist, wird das Volk als Subjekt einer Handlung genannt, die man ihm zugesteht, nämlich den Wunsch nach Frieden und Vertragsschluss mit den Nachbarstaaten: „So wünschet auch mit allen Latiern / Das Volck das Bündnis zu verneuen“. Der heikle Vorgang der Staatsumwälzung, deren nähere Umstände hier schamhaft verschwiegen werden, war im Verlauf des Stücks nur in sehr vermittelter Form, nämlich als ahnungsvoller Traum des Tarquinius inszeniert worden (IV/4).
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Schmeichler zu, der durch übertriebene Lobsprüche das ohnedem geringe Gefühl seiner Menschheit unterdrückt. Wenn der Dichter alle diese Staffeln glücklich hinan zu gehen weiß, so bin ich gewiß, der Zuschauer wird endlich geneigt sein, die völlige Raserei des Herkules als einen ganz natürlichen Erfolg anzusehen (3, 564).61
Als moderne Parallele zu Hercules furens fiel Lessing interessanterweise der Capopopolo der neapolitanischen Revolution von 1647 ein, der ja schon bei Weise Trauerspielheld wurde und der bei Barthold Feind sein Schicksal als Masaniello „furioso“ in Lessings Sinn vollendete. Von beiden Stücken war bereits ausführlich die Rede. Ob Lessing übrigens Feinds Stück kannte, ist nicht bekannt;62 Weises Stück war ihm selbstverständlich bekannt.63 Wie aber stellte sich Lessing einen Masaniello vor? Etwa sieben bis acht Jahre nach seinen ersten Überlegungen zu einer Modernisierung des Hercules furens schrieb Gotthold Ephraim an seinen Bruder Karl Lessing, der sich mit dem Plan eines Dramas über Masaniello trug: ich glaube zu erraten, was Dich für ihn eingenommen: die uneigennützige Entschlossenheit, zum Besten Anderer sein Leben zu wagen, in einem so rohen Menschen; die großen Fähigkeiten, welche Umstände und Not in einem so rohen Menschen erwecken und sichtbar machen. Dieses ließ auch mich ihn als einen sehr schicklichen tragischen Helden erkennen; aber was mich mehr als alles dieses hätte bewegen können, Hand an das Werk zu legen, war die endliche Zerrüttung seines Verstandes, die ich mir aus ganz natürlichen Ursachen in ihm selbst erklären zu können glaubte, ohne sie zu einem unmittelbaren physischen Werke seiner Feinde zu machen. Ich glaubte sonach den Mann in ihm zu finden, an welchem sich der alte rasende Herkules modernisieren ließe […]; und die allmähliche Entwicklung einer solchen Raserei […] war es, was ich mir vornehmlich wollte angelegen sein lassen. (11.2, 566f.)
Wie man sieht, spielt in Lessings Überlegungen die Volksrevolte, die für das Masaniello-Thema eigentlich essenziell ist, keinerlei Rolle. Die Uneigennützigkeit des neapolitanischen Revolutionärs gleicht in gewisser Weise der des Berner Republikaners Henzi, doch in diesem Fall interessierte sich der Autor nicht für die Tren61
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Vgl. die Einleitung von Boxberger in: Lessing’s Werke, 11. Theil, 2. Abth., S. 571f., der auf die Gleichartigkeit des Modernisierungs-Plans im Fall des verlorenen’$șDPDȢ von Sophokles verwies (vgl. 5.1, 312f.) und im Anschluss daran betonte, dass es derselbe „Kunstgriff“ sei, der aus „Virginia […] eine Emilia Galotti“ machte und aus Karl I. Stuart einen „König von Siam“. Wie gerade erwähnt (siehe Anm. 60) kannte Lessing mindestens ein Stück von Feind und interessierte sich für die Geschichte der Hamburger Oper. Es gibt keinen harten Beleg für Lessings Lektüre von Feinds Stücken über die in den „Collectaneen“ erwähnte Octavia hinaus. Wenn ich oben suggerierte, dass Lessings Befreites Rom ein Gegenentwurf zu Feinds Lucretia sein könnte, so aus demselben Grund, der hier für eine Kenntnis des Masagniello Furioso in Anschlag gebracht werden könnte: Lucretia, Octavia und Masagniello sind alle drei 1708 hintereinander in der Sammelausgabe von Feinds Deutschen Gedichten (S. 115–174: Octavia, S. 175–250: Lucretia, S. 251–320: Masagniello) erschienen. „Aber weißt Du denn auch, daß Du schon einen dramatischen Vorgänger hast“, fragte Gotthold Ephraim seinen Bruder Karl Lessing brieflich am 14. Juli 1773, der ein Masaniello-Drama plante: „Es ist kein geringerer, als Christian Weise, dessen Trauerspiel von dem Neapolitanischen Hauptrebellen Massaniello [sic] Du in seinem Zittauischen Theater finden wirst. Wenn Du es noch nicht gelesen hast, so lies es ja. Es hat ganz den freien Shakespearischen Gang, den ich Dir sehr zur Nachahmung empfehlen würde“ (11.1, 566).
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nung des zaudernden Revolutionärs vom Volk, sondern allein für das psychologische Problem, wie jemand allmählich um seinen Verstand kommt, wahrscheinlich aus demselben Grund, den er für die Modernisierung des Hercules furens genannt hatte: „Welche schreckliche Lection würde dieses für unsre wilden Helden; für unsre aufgeblasenen Sieger sein!“ (3, 564)
Spartacus An die Könige Soll wieder eine ganze Welt vergehen? Bricht wieder eine Sündfluth ein? Und sollen wieder alle Tempel und Trophäen Berühmte Trümmer seyn? […] O ihr, verderblicher, als der entbrannte Vesuv, als unterirdische Gewitter! ihr des magern Hungers Bundsverwandte, Der Pest Verschworene! […] Wenn eurer Mordsucht einst ein Friede wehret, Der jedem das geraubte Land Und seine bangen Feste wieder gibt, – verheeret, Entvölkert, abgebrannt: Ihr Könige, wie wird es euch nicht reuen, (Wo nicht die fromme Reue fleucht, Durch Wollust, falsche Weisheit, lauter Schmeicheleien Des Höflings weggescheucht) Daß euer Stahl unmenschlich Millionen Urenkelsöhne niederstieß […].64
Diese Verse Karl Wilhelm Ramlers (zuerst gedruckt 1771 im Wandsbeker Bothen) wollte sich Lessing immer wieder „laut vorsagen, so oft“ er „Lust“ bekäme, an seiner „antityrannischen Tragödie zu arbeiten“, wie er am 16. Dezember 1770 an den Autor der Ode schrieb (11.2, 123). Zugleich mit der Ausarbeitung seiner Modernisierung der Virginia-Tragödie plante Lessing eine „antityrannische“ Tragödie über den berühmtesten Führer eines antiken Sklavenaufstands, nämlich Spartacus. Diesen wollte Lessing gegen seine historiographischen Quellen gewissermaßen ‚retten‘ und zu einem „Helden“ formen, „der aus andern Augen sieht, als der beste römische“ (ebd.). Lessing beendete diese Tragödie nie; es liegen nur wenige Ex-
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Zit. nach: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke. Berlin 2004 (Digitale Bibliothek, Bd. 75), S. 84651–84653.
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zerpte, Vorüberlegungen und einzelne Replikenwechsel vor.65 Zwar hatte er bei seiner Abreise nach Italien noch vorgehabt, das Stück zu beenden, doch nach seiner Rückkehr 1776 fasste er die Manuskripte nicht mehr an.66 Offenbar sollte es in dem Stück darum gehen, den Heroismus eines „außerordentlichen Mann[s]“ mit dem römischen Heldentum zu kontrastieren. Während die Römer als moralisch zweifelhafte Kriegernaturen – wie Ramlers „Könige“ – charakterisiert werden (besonders schlecht kommt der außerdem mit einem „schändlichen Geize“ behaftete Gegenspieler Crassus weg), sollte Spartacus zu einem humanen Helden gemacht werden, der zwar nicht „bescheiden“, sondern „sehr stolz“ ist, aber „dennoch überzeugt“, dass er „kein beßrer Mensch“ sei, „als wie sie die Natur / Zu Hunderten – täglich stündlich, aus den Händen wirft“. Was an dieser Stelle nach egalitärer Ideologie klingt, wie sie dem historischen Vorbild eigen war, aber nicht in die Welt des Bürgertums im 18. Jahrhundert passte, darf nur auf die möglichen moralischen Qualitäten des Menschen bezogen werden. Tatsächlich ist auch Lessings Spartacus eine elitäre Führerfigur, die als eine ihrer wichtigsten Aufgaben die „Steurung der Ausschweifungen und Grausamkeiten des gemeinen Mannes“ ansieht. Der von Spartacus gelobte „Menschenverstand“ – im „siebenten“ Anti-Goeze sprach Lessing vom „gesunden Menschenverstand“ (9, 341) – ist nicht allen Menschen eigen. Der kritische Impuls dieses Fragments verdankt sich daher auch einer grundsätzlicheren Fragestellung, die nichts mit der sozialen Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts zu tun hatte, sondern allein mit der Eigenschaft des Menschen, Mensch zu sein. Spartacus fragt: „Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?“ In der Tat gehörte es zur opinio communis der Gebildeten im 18. Jahrhundert, dass sich die viel gerühmte antike Humanität – und nicht zuletzt – der Sklaverei verdankte. Und man kann nicht sagen, dass dies unbedingt kritisch gesehen wurde. Wilhelm von Humboldt zählte 1793 zu den wichtigsten „Umständen“, welche die kulturelle Blüte der alten Griechen hervorbrachten, „vorzüglich“ die Sklaverei. Diese überhob den Freien eines großen Teils der Arbeiten, deren Gelingen einseitige Übung des Körpers und des Geistes – mechanische Fähigkeiten – erfordert. Er hatte nun
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Lessing: Werke und Briefe, Bd. 7, S. 373–376; Lessing: Werke, Bd. 2, 574–577. Zitate werden im Folgenden nicht mehr einzeln nachgewiesen. Vgl. Werner Raith: Spartacus. Wie die Sklaven und Landarbeiter den Römern das Fürchten beibrachten. Berlin 1983, S. 13: „Lessings Problem bestand allem Anschein nach in der Widerspenstigkeit des Spartacus gegen die Deutung, die ihm aufgezwungen werden sollte. Denn die antiken Historiker, die Lessing kannte – Plutarch, Appian, Florus – hatten Dinge überliefert, die einfach nicht ins Bild des Freiheitshelden bürgerlichen Zuschnitts paßten; Lessing sah sich in seinen Entwürfen schon bald genötigt, Geschichtsverdrehungen einzubasteln, um seinen Helden reinzuwaschen.“
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Muße zur Ausbildung seines Körpers durch Gymnastik, seines Geistes durch Künste und Wissenschaften.67
Diese Voraussetzung kultureller Größe kritisiert Lessings Fragment vehement. Die allseitige Bildung des Menschen dürfe, so Lessings Meinung ebenso wie die seines Spartacus, nicht auf Grundlage der Versklavung anderer Menschen beruhen. Eine „Freiheit“ von Freien, welche sie der Sklaverei verdanken, sei in Wirklichkeit keine. Das Brisante an dem Spartacus-Fragment war – und womöglich war es auch der Grund, dass es nie ausgearbeitet wurde –, dass hier die ‚menschliche‘ Perspektive mit der ‚bürgerlichen‘ kollidierte. Man kann diese beiden Perspektiven sehr gut auseinander halten, wenn man sich die Differenz vergegenwärtigt, die Lessings Freund Moses Mendelssohn 1784 in seinem Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“ solcherart erklärte: Die Aufklärung, die den Menschen als Mensch interessiert, ist allgemein ohne Unterschiede der Stände; die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet, modifiziert sich nach Stand und Beruf. […] Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden. […] Unglückselig der Staat, der sich gestehen muß, daß in ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen Bestimmung des Bürgers nicht harmonieren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne; ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zu Grunde zu gehen. Hier lege die Philosophie die Hand auf den Mund! Die Notwendigkeit mag hier Gesetze vorschreiben, oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um sie nieder zu beugen und beständig unterm Drucke zu halten!68
Mendelssohns Position war in diesem Punkt identisch mit der seines Freunds Lessing. Dieser hatte in den „Gesprächen für Freimäurer“ Ernst und Falk (1778) eine ähnliche Differenzierung eingeführt und auch ein Schweigegebot für Aufklärer verhängt, falls die beiden Perspektiven kollidieren. Schon der Satz: Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. – Das Totale der einzeln Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andre Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts! (10, 24),
gehöre zu jenen Wahrheiten, „die man besser“ „nicht so laut“ sage, sondern „verschweigt“ (ebd., 24f.). Denn diese „Wahrheit“ entstamme dem Bereich der menschheitlichen Aufklärung, sei aber nicht für alle Stände der ‚bürgerlichen‘ 67 68
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 1969, S. 15. Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Hg. v. Friedrich Gedike u. Johann Erich Biester. Ausw. u. mit einer Studie „Die Berlinische Monatsschrift als Organ der Aufklärung“ v. Peter Weber. Leipzig 1986, S. 82f.; vgl. Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. 3. Aufl. Darmstadt 1994, S. 267f.
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Gesellschaft gut zu wissen. Das Problem entstand allerdings erst dadurch, dass Lessing eine traditionelle Ansicht (in der Zweckbestimmung des Staats stimmte er zum Beispiel völlig mit Gottscheds Ansichten in dessen Anfangsgründen der Weltweisheit überein) in einer Nuance veränderte. Die traditionelle Position kannte den möglichen Konflikt des Einzelinteresses mit dem Gesamtinteresse, Gottsched hatte darauf hingewiesen, und räumte dem Gesamtinteresse eindeutig Priorität ein, was Lessing verwarf. Sobald die Totalität des Staats auch nur einen seiner Bürger leiden mache, handle es sich um eine „Tyrannei“. Eine solch extreme Individualisierung des menschlichen Rechts auf Glückseligkeit hat es vor Lessing nicht gegeben. Das Problem nun war, dass diese Ansicht „leicht gemißbraucht werden“ könnte, wenn sie „jeder nach seiner eigenen Lage beurteilet“ (ebd., 25). Und man kann sich leicht vorstellen, wer dies tun würde: zu allererst die Unterschichten und die Privilegierten, vielleicht sogar auch der weniger gelehrte Teil des „mittleren Stands“.69 Das letztlich in der Vorstellung von der Egalität aller Menschen gründende Prinzip eines allgemeinen Rechts auf die Möglichkeit zur Erlangung der Glückseligkeit auf Erden70 durfte – so wahr es unter der Perspektive der „Menschenaufklärung“ sein mochte – nicht allen bekannt werden, da es der „Bürgeraufklärung“ in gewisser Weise widersprach. Denn ein Staat „ohne Verschiedenheit von Ständen“ (ebd., 30) war Lessing nicht denkbar: Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe: unmöglich können alle Glieder desselben unter sich das nämliche Verhältnis haben. – Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil haben: so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben (ebd., 30).
Aber, so wusste der Autor natürlich ebenso wie sein Falk, alle Probleme der Gesellschaft gründen in eben dieser „Verschiedenheit“: „Nun überlege, wie viel Übel es in der Welt wohl giebt, das in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund nicht hat“ (ebd., 31). Genau diese Erkenntnis hielt Lessing nicht für allgemein kommunizierbar. Denn der nahe liegende Schluss war natürlich, dass man die „Verschiedenheit der Stände“ abschaffen müsste, um die „Glückseligkeit“ der Menschen zu befördern. Das aber wäre nur mit Gewalt möglich gewesen, und die lehnte Lessing kategorisch ab. Mit Abscheu ist die Rede von einem Freimaurer, der „in Europa für die Americaner“ ficht und glauben mag, es sei möglich, dass „die Freimaurer ihr Reich 69
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So nannte Johann Elias Schlegel (Der Fremde, 2. St., Apr. 1745; vgl. ders.: Werke. 5 Bde. Hg. v. Johann Heinrich Schlegel. Kopenhagen 1761–1770, Bd. 5, S. 25) die soziale Schicht zwischen den Aristokraten und den Geknechteten. Die Väter der US-amerikanischen Verfassungsurkunde haben 1776 entsprechend nicht das Recht auf Glück in ihrem Dokument der Freiheit verankert, sondern nur das Recht auf „the pursuit of happiness“ („Streben nach Glück“), vgl. Janko Musulin (Hg.): Proklamationen der Freiheit. Dokumente von der Magna Charta bis zum Ungarischen Volksaufstand. Frankfurt a.M. 1959, S. 63.
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mit gewaffneter Hand gründen“ können oder sollen (ebd., 55). Der wahre Freimaurer dagegen erwarte ruhig den Aufgang der Sonne und läßt die Lichter brennen, so lange sie wollen und können – Die Lichter auslöschen und, wenn sie ausgelöscht sind, erst wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden oder wohl gar andere Lichter wieder aufstecken muß; das ist des Freimäurers Sache nicht. (10, 56)
Wohl aber war es die Sache der aktiven Revolutionäre Spartacus und Masaniello, deren Geschichte zu dramatisieren daher über Lessings Vermögen ging. Spartacus hatte das Menschenrecht auf freie Verfügung über die eigene Person mit dem Bürgerrecht der freien Verfügung über das Eigentum kollidieren lassen; Masaniello hatte keinen politischen oder philosophischen Umstürzler als Hauptfigur, sondern einen genuinen Sozial-Revolutionär, bei dem sich Menschen- und Bürgerrecht ebenfalls nicht mehr trennen ließ, was ihn dem 18. Jahrhundert „einzig in seiner Art“ erscheinen ließ.71 Verhältnismäßig am weitesten war Lessing mit Samuel Henzi gekommen, weil dieser seinem Bild der Freimaurer noch am nächsten stand, der aber – anders als die wenigstens vorübergehend erfolgreichen Revolutionäre Spartacus und Masaniello – genau deswegen von vornherein zum Scheitern verurteilt war, wollte er nicht wie Lytteltons Falkland von sich sagen müssen: Das allerbeschwerlichste Unglück für einen tugendhaften Mann ist, wenn er sich in einem solchen Zustande befindet, da er schwerlich so handeln kann, daß er seine eigene Aufführung billiget.72
Missbrauch der Aufklärung? Auf die zitierte Passage aus Mendelssohns Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“ reagierte dessen Bewunderer August Hennings irritiert: „Misbrauch der Aufklärung verstehe ich so wenig, als Dunkelheit des Lichts“.73 Sollte denn Aufklärung auch schädlich sein können? „An und für sich freylich nicht“, antwortete Mendelssohn am 27. November 1784, „aber zufälliger Weise, so wie das Sonnenlicht blöden Augen. […] Der Aufklärer, der nicht unbedachtsam zufahren und Schaden anrichten will, hat sorgfältig auf Zeit und Umstände zu sehen und den
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August Gottlieb Meißner: Masaniello. Karlsruhe 1786, S. 13. Des Lords Littletons Gespräche der Todten. Aus dem Englischen übersetzet. Hamburg 1761, S. 6; im Original lautet der Satz: „The most grievous misfortune that can befall a virtous man is to be in such a state that he can hardly so act as to approve his own conduct“ (Georges Lyttelton: Dialogues of the Dead. Cirencester 2005, S. 6). Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. v. I. Elbogen u.a., fortges. v. Alexander Altmann. Bd. 13: Briefwechsel. Bearb. v. Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Canstatt 1977, S. 229 (Brief vom 21. Okt. 1784).
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Vorhang nur in dem Verhältnisse aufzuziehen, in welchem das Licht seinen Kranken heilsam seyn kann“.74 In seinem Brief und in seinem Aufsatz verteidigte Mendelssohn um den Preis des eigenen Verstummens die Priorität der staatlichen Ordnung vor der Aufklärung der Menschen; wohl wissend, dass ein solches Argument „von jeher Schutzwehr der Heuchelei geworden“ und ihm „manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglauben zu verdanken“ seien. Doch glaubte er, dass der „tugendliebende Aufklärer […] lieber das Vorurtheil dulden“ werde, als Wahrheiten zu verbreiten, die geeignet seien, „Grundsätze der Religion und Sittlichkeit niederzureißen“. Ohne Rücksicht auf Verluste aufzuklären, heiße „Missbrauch der Aufklärung“ treiben und die Früchte davon seien: „Egoismus, Irreligion und Anarchie“.75 Um Religion und Sittlichkeit, diese Hauptstützen des Staats, nicht zu gefährden, müsse die Aufklärung sich mitunter selbst beschränken. Dieser Meinung war Mendelssohn nicht allein. 1769 hatte Jean Le Rond d’Alembert dem preußischen König vorgeschlagen, die von Friedrich II. aufgeworfene und in Frankreich bereits länger, aber nie öffentlich debattierte „Frage: ob es möglich sein kann, daß das Volk in einer Glaubenslehre ohne Mythen auszukommen vermag“, als Akademie-Ausschreiben in der Gelehrtenrepublik diskutieren zu lassen.76 In seinem Brief vom 22. September 1777 kam D’Alembert auf diesen Vorschlag zurück, um die Fragestellung zugleich zu präzisieren und zu verallgemeinern. Der „Fortschritt der philosophischen Aufklärung“ sei in einem Stadium, der eine „höchst nützliche Frage“ allmählich dringlich mache: „Ob es von Nutzen sein kann, das Volk zu täuschen?“77 Friedrich II., der sich in dieser Frage selbst allerdings schon früher klar positioniert hatte, nämlich bejahend,78 ging endlich auf diesen Vorschlag ein. Die Berliner Akademie schrieb diese Frage aus. Im Kern ging es um das bereits berührte Problem, ob die Aufklärung sich womöglich selbst gefährdet, wenn sie ihr Licht in alle Hütten trägt. Wie die Meinung eines spätabsolutistischen Herrschers ausfiel, der sich zwar gern als Aufklärungsfreund feiern ließ, aber nicht nur nach Lessings und Rousseaus Urteil einfach einer der üblichen Despoten war, ist ziemlich klar. 1766 hatte Friedrich bereits geschrieben: „Der Pöbel verdient keine Aufklärung“; 1769 rechnete er D’Alembert vor, dass höchstens 0,1 Promille („von zehn Millionen kaum 1000 Personen“) nicht „geistig träge, stumpf und schwachherzig“ seien. Wenig später hieß es, angesichts „große[r] Menschenhaufen“ müsse man „zum
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Ebd., S. 237. Berlinische Monatsschrift, S. 83f.; vgl. Mendelssohn: Ästhetische Schriften, S. 269. D’Alembert an Friedrich von Preußen, 18. Dez. 1769, mit Bezug auf ein Schreiben des preußischen Königs vom 25. Nov. 1769 (Friedrich II. von Preußen: Schriften und Briefe. Übers. v. Herbert Kühn. Hg. v. Ingrid Mittenzwei. Frankfurt a.M. 1986, S. 303f. bzw. 300f.). Ebd., S. 343. Vgl. ebd., S. 300f. u. 345f.; sowie S. 260–283 (Entgegnung auf den „Essay über die Vorurteile“, 1770).
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Betruge“ greifen. „Die Vorurteile sind die Vernunft des Volkes.“ Als absolutistischer Herrscher musste Friedrich zu dem Schluss kommen, dass unbedingte Aufklärung nicht zu wünschen sei, so dass er proklamierte, „daß ‚man die Wahrheit nur mit Zurückhaltung‘ und niemals zu ungelegenen Zeiten sagen dürfe“.79 Das Frappierende an den Äußerungen Friedrichs von Preußen ist nicht, dass er sie tat. Dergleichen war von einem Spätabsolutisten zu erwarten. Aber dass seine intellektuelle Opposition in dasselbe Horn stieß, war nicht unbedingt zu erwarten. Als Mendelssohn seinen Aufsatz schrieb, kannte er natürlich die Debatte zwischen seinem Freund Lessing und dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze.80 Dieser hatte die Publikation der religionskritischen Fragmente des Hamburger Orientalisten und Philosophen Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) durch Lessing scharf kritisiert, nicht nur weil in ihnen die Offenbarung geleugnet wird, sondern auch weil Lessing sie auf deutsch publizierte. Dadurch werde womöglich ein „giftiger Same der Rebellion“ auch in die Köpfe der einfachen Leute gepflanzt, ein „Brutussinn […] unter dem großen Haufen“ verbreitet (9, 36f.). Nur derjenige kann Unternehmungen von dieser Art als etwas gleichgültiges ansehen, der die christliche Religion entweder für ein leeres Hirngespinst, oder gar für einen schädlichen Aberglauben hält, und der nicht eingesehen hat, oder nicht einsehen will, daß die ganze Glückseligkeit der bürgerlichen Verfassung unmittelbar auf derselben beruhe, oder der den Grundsatz hat: Sobald ein Volk sich einig wird, Republik sein zu wollen, so darf es,81 folglich die biblischen Ansprüche, auf welchen die Rechte der Obrigkeit beruhen, als Irrtümer verwirft (9, 21).
Zwar könnten die gegenwärtigen Monarchen einigermaßen sicher sein, dass wenigstens von Seite ihrer Offiziere und Soldaten keine Gefahr drohe wie seinerzeit von den Prätorianergarden, die im römischen Imperium häufig genug „die souveraine Macht an sich gerissen“ hätten, allein woher entspringt ihre Sicherheit und Treue, welche sie von ihren Kriegern erwarten, und wirklich bei ihnen finden? daher, weil solche Christen sind. Sind sie es gleich nicht alle im schärfsten Verstande; so sind doch die Grundgesetze der christlichen Religion von dem Rechte der Obrigkeit, und von der Pflicht der Untertanen, zu tief in ihre Herzen geprägt, als daß es ihnen so leicht, als den Heiden, werden sollte, solche daraus zu vertilgen.82 Werden sie aber 79 80
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Ingrid Mittenzwei: Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie. 5. Aufl. Berlin 1990, S. 180f. Mendelssohn behauptete in der Widmung seiner 1783 erschienenen Übersetzung der Psalmen, dass er auch noch nach dem Tod seines Freundes alle Zeit denke: „Würde dieses Lessing billigen?“ (Die Psalmen. Übers. v. Moses Mendelssohn. Hg. v. Walter Pape. Zürich 1998, S. [5].) Diesen „Grundsatz“ schrieb Carl Friedrich Cramer (Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa, Hamburg 1777, S. 122) dem Dichter des Messias zu; ebenda wird auch der von Goeze ebenfalls zitierte „Brutussinn“ gepriesen, der „in der Stelle über die bösen Könige im Messias“ liege (vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 636). Cramer bezog sich auf den Schluss des 18. Gesangs des Messias, wo „in einem Gesicht“ Adams die Verurteilung der „bösen Könige“ während des „Weltgerichte[s]“ geschildert wird (Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Bd. 4. Carlsruhe 1775, S. 124; vgl. ebd., S. 168–176). Vgl. den Staatsrechtslehrer Johann Heinrich Gottlob von Justi 1771: „Es ist wahr, die Religion des Pöbels erstrecket sich allenthalben ebensowenig auf das Wahre und Wesentliche der Religion und es ist sehr zweifelhaft, ob dasjenige, was der Pöbel in allen Landen von der Religion kennt, diesen Namen in der Tat verdient. Unterdessen müssen doch die groben Begriffe, die er
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Christen bleiben? wird nicht mit der Ehrerbietung gegen die heil. Schrift und Religion, auch zugleich die Bereitwilligkeit ihren Oberherren den schuldigen Gehorsam zu leisten, und der Abscheu gegen Rebellion, in ihren Herzen ausgelöschet werde, wenn es jedem Witzlinge und Narren frei stehet, mit der christlichen Religion und mit der Bibel vor den Augen des ganzen christlichen Publici das dollkühnste Gespötte zu treiben?83
Goezes Einwände waren schlechterdings nicht von der Hand zu weisen, seine Fragen durchaus berechtigt. Die Infragestellung der Religion und insbesondere ihrer Institutionen (seien es die „heil. Schrift“, der Klerus oder die Kirche insgesamt), die allen Gegenbeteuerungen zum Trotz ja den Texten von Reimarus und Lessing inhärent ist, konnte in der Tat schnell zur Infragestellung der von der Religion gestützten weltlichen Obrigkeit führen.84 Dass Religionskritik auch Staatskritik ist, versuchte Goeze eben dieser Obrigkeit vor Augen zu führen.85 Er warnte vor einem Prozess, den Schiller als Historiker so bezeichnete: „Der […] Geist der Freiheit und der Prüfung, der doch nur in den Grenzen der Religionsfragen hätte verharren sollen, untersuchte jetzt auch die Rechte der Könige“.86 Dass seine Kritik am Christentum gefährlich sein könnte, wenn sie unter das Volk gerate, hatte wie Goeze auch schon der Aufklärer Reimarus befürchtet; daher wollte er seine Fragmente auch zu Lebzeiten nicht publizieren, sondern dies einer Nachwelt überlassen, in der „der gemeine Mann“ einmal so weit aufgeklärt wäre, dass auch das Volk einen Angriff auf das Christentum nicht als Angriff auf die
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von der Religion hat, die Tugend, die Liebe des Vaterlandes, die Ehre und die Religion selbst ersetzen. Man nehme dem Pöbel diese Begriffe, so wird man […] auch das Band zerreißen, womit er an der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt“ (Johann Heinrich Gottlob von Justi: Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze. Hg. v. Heinrich Gottfried Scheidemantel. 2. Aufl. Mitau 1771, S. 363). Lessing: Werke, Bd. 8, S. 116. Die beiden zuvor angeführten Zitate von Lessing hier S. 115f. bzw. S. 21. Reimarus hatte dies abgestritten: „Schriften gegen das Christentum“ seien nicht Schriften gegen die weltliche Macht: „Wenn in solchen Schriften etwas wider den Staat und die guten Sitten eingestreut wäre: so würde es recht und billig sein, selbige zu verbieten und zu verbrennen, und die Verfasser für ihren Mutwillen derbe zu züchtigen. Allein, wenn sie bloß die Streitfrage über die Wahrheit der Offenbarung erörtern, und der vernünftigen Religion das Wort reden: so hindert das der Ruhe des gemeinen Wesens gar, wofern die Theologi nur nicht Lärm blasen und den Pöbel aufhetzen“ (Lessing: Werke, Bd. 7, S. 318). Den Zusammenhang zwischen Religion und Staat hatte indes schon 1774 Jean-Paul Marat auf die kürzeste Formel gebracht: „Alle Religionen reichen dem Despotismus die Hand“, so heißt es in The Chaines of Slavery: „Ich kenne allerdings keine, die ihn derart begünstigt, wie das Christentum.“ (Die Ketten der Sklaverei. Übers. v. Reinhard Seufert. Gießen 1975, S. 113; vgl. Jean-Paul Marat: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Claude Mossé. Übers. v. Hans Balzer. Berlin 1954, S. 46; Les chaînes de l’esclavage. Présentation de J. D. Selche. Paris 1972, S. 164: „Toutes les religions prêtent la main au despotisme; je n’en connois aucune toutefois qui le favorise autant que la chrétienne“). Lessing ließ den Patriarchen in Nathan der Weise IV/2 ebenso handeln: „Auch mach’ ich ihm [dem Sultan] gar leicht begreiflich, wie / Gefährlich selber für den Staat es ist, / Nichts glauben! Alle bürgerlichen Bande / Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn / Der Mensch nichts glauben darf“ (9, 579). Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a. Frankfurt a.M. 1988–2004, Bd. 6, S. 82.
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Religion überhaupt verstehe.87 Lessing nun behauptete, man sei schon soweit. Während Reimarus geglaubt hätte, „daß sich die Zeiten erst mehr aufklären müßten, ehe sich, was er für Wahrheit hielt, öffentlich predigen lasse“, sei er davon überzeugt, „daß die Zeiten nicht aufgeklärter werden können, um vorläufig zu untersuchen, ob das, was er [Reimarus] für Wahrheit gehalten, es auch wirklich ist.“ Und „Wahrheiten, die man bloß zur Untersuchung vorlegt“, und nicht „so fort in Ausübung bringen will“, würden „den gemeinen Haufen“ auch nicht „in wütenden Religionseifer“ versetzen, außer die Prediger stachelten das Volk auf (9, 346).88 Überhaupt sollte man „nicht so viel Verachtung des gemeinen Mannes“ hegen, hielt Lessing dem Pastor Goeze – und auch Reimarus – entgegen (ebd.). Es sei doch die Frage, ob „selbst der Pöbel itziger Zeit nicht schon klüger und vernünftiger ist, als die Prediger, die ihn so gern hetzen möchten“, denn „auch der geringste Pöbel, wenn er nur von seiner Obrigkeit gut gelenkt wird, wird von Zeit zu Zeit erleuchteter, gesitteter, besser“ (9, 207).89 So weit Lessing in seinem polemischen Furor auch ging – dem Pöbel eine eigene Vernunft zuzubilligen war er nie bereit. Aufgeklärter könne das Volk nur werden, wenn es „gut gelenkt wird“. Seine Lenker mussten nun nicht immer die Obrigkeiten, es konnten auch die intellektuellen Eliten, besonders die dramatischen Dichter sein. Denn das Theater war ein Ort, wo sich nicht nur die gebildeten Mittelschichten trafen und als „Publikum“ die „bürgerliche Öffentlichkeit“ repräsentierten,90 sondern wo „sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt“ (6, 235), wie Lessing 1767 – allerdings über das Pariser Theater – im zehnten Stück der Hamburgischen Dramaturgie schrieb. In deren ersten Stück hatte er deswegen von dem dramatischen Dichter gefordert, sich nicht nur – wie es für jeden „gute[n] Schriftsteller“ selbstverständlich sei – an „die Erleuchtesten [sic] und Besten seiner Zeit und seines Landes“ zu wenden, sondern sich auch „zu dem Pöbel herab“ zu lassen (6, 191).91 Zwar würden „alle die niedrigern Stände, die wir 87
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„Lieber mag der gemeine Haufe noch eine Weile irren, als daß ich ihn, obwohl ohne meine Schuld, mit Wahrheiten ärgern und in einen wütenden Religionseifer setzen sollte. Lieber mag der Weise sich des Friedens halber, unter den herrschenden Meinungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen; als daß er sich und andere durch gar zu frühzeitige Äußerungen unglücklich machen sollte“ (9, 345; vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 248; Reimarus: Apologie [letzte Fassung], § 1, von Lessing im 7. Anti-Goeze zitiert). Vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 249. Vgl. ebd., S. 235. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 5. Aufl. Neuwied 1971, S. 54f.; vgl. Louis-Sébastien Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Übers. v. Heinrich Leopold Wagner. Leipzig 1776, S. 5: „Ein Komödiensaal ist bey uns der einige Vereinigungspunkt, wo sich die Menschen versammeln, und wo sie einstimmig ihre Stimme erheben können“. Auch Johann Elias Schlegel („Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters“, zit. nach ders.:Canut) definierte als „Endzweck der Schauspiele“ „die Auszierung und Verbesserung des Verstandes bei einem ganzen Volke“ (S. 88), zu dem der „Pöbel“ dazugehöre; daher brauche sich der Dramatiker nicht zu schämen, wenn er Sachen schriebe, die auch dem „Pöbel“ gefallen: Im Gegenteil sei dies sogar seine Pflicht und mehr noch: „Es ist alsdann ein Verdienst für
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das Volk nennen“ in allem Möglichen – nicht nur „in den Feinheiten der Rede“ – „immer, wenigstens ein halb Jahrhundert, zurück“ bleiben,92 doch müsse man sich eben darum besonders um das Volk im Theater bemühen. Lessing entwickelte nicht zuletzt deswegen auch seine Mitleidspoetik, weil er „die Bewunderung für eine ungeschicktere Lehrerin des Volks als das Mitleiden“ hielt (11.1, 133). War Lessing also auch bereit, seine Tätigkeit als Lehrer des Volks einigermaßen ernst und dasselbe Volk auch gegen seine ärgsten Verächter in Schutz zu nehmen; war er auch bereit, seinen ersten Trauerspielhelden wegen dessen Volksferne zu kritisieren, so interessierte ihn aber schon seit den 1750er Jahren das Volk als literarische Figur kaum noch, und je länger, desto weniger. Spielte es in dem Opernszenarium Das befreite Rom noch eine einigermaßen bedeutsame Rolle, in allen weiteren Dramen Lessings, mochten sie noch so sehr „das Motto der Schillerschen Räuber: ‚in tyrannos!‘ auch ungeschrieben sichtbar an der Stirn tragen“,93 kam es nicht mehr vor. In Miss Sara Sampson (IV/3) ließ Lessing den Diener Norton noch das natürliche „Gefühl“ des sogenannten Pöbels verteidigen, „das bei Vornehmern durch tausend unnatürliche Vorstellungen verderbt und geschwächt wird“ (3, 491);94 doch wenig später meinte der Dichter: „Seine, des Pöbels Fähigkeiten sind so gering, seine Tugenden so mäßig“,95 dass er als dramatische Figur uninteressant sei. In seinem letzten Stück Nathan der Weise (1779) eröffnen im entscheidenden dritten Akt der Sultan und der Kaufmann ihr Gespräch in scheinbarem Einverständnis mit einem Parlando über die Verächtlichkeit des Volks, bevor man endlich „zur Sache“ kommt (9, 551f.); genauer betrachtet, führt
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einen klugen Kopf, wenn er auch in solchen Lustspielen [die „für den Pöbel insbesonderheit bestimmt“ seien] das rechte Maß zu treffen und sie mit nützlichen Sittenlehren zu vermischen weiß und wenn er die Kunst versteht, indem er den Pöbel nach seiner Art belehret und ergetzt, andern, die nicht Pöbel sein wollen, zu zeigen, wie schlecht pöbelhafte Sitten stehen“ (S. 84). Schlegel verband diese Überlegung mit einer Polemik gegen Leute, die „den Pöbel gar nicht achten und nichts aus Gefälligkeit für ihn tun“ wollen wie Boileau, der „dieser Gefälligkeit wegen den Moliére tadelt“ (ebd.); vgl. Nicolas Boileau-Despréaux: Le Lutrin. L’art poétique. Avec une Notice biographique, une Notice historique et littéraire, des Notes explicatives, des Jugements, un Questionnaire et des Sujets de devoirs par René d’Hermies. Paris 1933, S. 100 (chant III, V. 391ff., bes. V. 401–404): „Le comique, ennemi des soupirs et des pleurs, / N’admet point en ses vers de tragiques douleurs; / Mais son emploi n’est pas d’aller, dans une place, / De mots sales et bas charmer la populace.“ Lessing: Werke, Bd. 5, S. 16. Adolf Stahr: G. E. Lessing [1859]; zit. nach Steinmetz (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter, S. 341. Die Kategorie der Natürlichkeit wurde zwar im Rousseauismus auch politisch gewendet, ist aber eigentlich eine ästhetische Kategorie: vgl. Lichtenbergs und Chodowieckis Serie „Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens“ (im Göttinger Taschen Calender 1779 und 1780) sowie Lichtenbergs ästhetische Überlegungen im Anschluss daran: „Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler“ (Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg., 3. St., Juni 1780; 4. Jg., 1. St., April 1785; vgl. Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. 3, S. 377–403). Lessing: Werke, Bd. 4, S. 172.
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Nathan allerdings die Volksverachtung des Sultans durch das vorgeschützte Einverständnis lediglich vor. Einem aufmerksamen Leser wird kaum entgehen, dass Lessing sich mit seinem Nathan einem Projekt verschrieb, an das er nicht mehr glaubte. In der Hamburgischen Dramaturgie hatte er gefordert, dass die „edelste Bestimmung“ des Dramatikers in jedem Stück sei, einen „Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers“ zu bieten, um „uns an den Gedanken zu gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“ (6, 577f.). Nathan der Weise, den Mendelssohn nicht zu Unrecht ein „Lobgedicht auf die Vorsehung“ nannte,96 löste diese Forderung ein, weit eher noch als die mit der Hamburgischen Dramaturgie immer wieder in Zusammenhang gebrachte Emilia Galotti. Während diese durchaus geeignet war, im Publikum ein „Murren wider die Vorsehung“ (ebd.) zu erregen, übte Nathan „Geduld“ und „Ergebenheit in Gott“ ein (9, 591 u. 617 bzw. 543 u. 559). Dem Volk wird empfohlen, mit „mehr Gedult [zu] leiden“, was dem armen Mann in „seinem Elend“ eine sehr „nöthige“ Fertigkeit sei, wie LouisSébastien Mercier 1773 meinte.97 Zugleich aber birgt das „dramatische Gedicht“ eine anarchistische Unterströmung, insofern es, wie die Zeitgenossen zum Teil mit Empörung bemerkten,98 „gegen alle positive Religion“ polemisiert (9, 665). Und dass dies staatsgefährlich ist, hatte Johann Melchior Goeze bereits deutlich gemacht. In der Tat ließ sich Lessing gesprächsweise durchaus dazu hinreißen, die staatliche Verfasstheit der Menschen überhaupt zu verwerfen.99 Als Fernziel der freimäurerischen Utopie wird in Ernst und Falk eine „herrschaftsfreie Gesellschaft“ angestrebt,100 die allein „auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“ beruhen soll (10, 57).101 Auf dem Weg dorthin war allerdings mit dem Volk nicht zu rechnen,
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Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1. Theil, 1785), zit. nach Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 1232; Steinmetz (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter, S. 143. 97 Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, S. 281f. Obgleich er genau das gesagt hatte, bestritt Mercier ein paar Seiten später, jemals gemeint zu haben, „als sollte das Schauspiel dienen, das Volk sein Elend vergessen zu machen. Ferne seyn von mir so barbarische Gedanken!“ (S. 285). 98 „Warum nicht gerade heraus gesagt, daß Nathan der Weise die bitterste Satire gegen die christliche Religion ist?“, fragte ein anonymer Rezensent 1780 (9, 1207); ein anderer vermutete, dass dies „doch wohl das Gefühl der Meisten […] empören möchte“ (ebd., 1206), würde man wagen, das Stück aufzuführen. Lessings Bruder Karl argwöhnte (Brief vom 1. Mai 1779), dass das Stück deswegen „in gewissen Ländern verboten werden“ könnte (12, 251). 99 Friedrich Heinrich Jacobi berichtete in einem Brief an Elise Reimarus: „In einer Unterredung, die ich mit ihm [Lessing] hatte, kam er einmal so sehr in Eifer, daß er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden; und so toll dieses klingt, so nah ist es dennoch der Wahrheit. Die Menschen werden erst dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen“ (zit. nach Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 519f.). 100 Wilfried Barner u.a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 5. Aufl. München 1987, S. 340. 101 Vgl. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 481.
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wenigstens nicht mit dem „Pöbel“, „dem das Denken so sauer wird“ (9, 406);102 und gegen die „Vermengung des Pöbels und Volkes“ hatte Lessing Einwände erhoben (12, 91). Aber auch dem besseren Volk konnte man bestimmte Wahrheiten nicht ohne Weiteres zumuten. Wenn „die Verfassung in Gefahr sei“, so Mendelssohn in dem zitierten Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“, solle „die Philosophie die Hand auf den Mund“ legen. Lessings Traum von einer anarchischen Gesellschaft freier und gleicher Individuen wurde sogleich mit der Kautele versehen, dass der „Aufgang der Sonne“ ruhig „erwartet“ werden müsse und nicht gewaltsam beschleunigt werden könne.103 Das Volk über seine wahre Lage aufzuklären, könne mitunter menschenverachtend sein. Wie glücklich sind die Menschen, wenn sie nicht wissen, dass sie unglücklich sind! Und man „soll niemanden mit seinen Umständen unzufrieden machen“, meinte Lessing (4, 366).104
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Vgl. ebd., S. 295. Lessing: Werke, Bd. 8, S. 580. „Zu viel Aufklärung taugt nicht für niedre Stände“, meinte auch der deutsche Radikale Adolph von Knigge (Über den Umgang mit Menschen [3. Fassung, 1789/90]. Hg. v. Gert Ueding. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1987, S. 419) und führte aus: „Verlange nicht einen übermäßigen Grad von Kultur und Aufklärung von Leuten, die bestimmt sind, im niedern Stande zu leben. Trage auch nichts dazu bei, […] sie mit Kenntnissen zu bereichern, die ihnen ihren Zustand widrig machen und den Geschmack an solchen Arbeiten verbittern, wozu Stand und Bedürfnis sie aufrufen. […]. Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unsrer Lage zufrieden und zweckmäßig tätig zu seyn“ (3. Theil, 2. Cap., § 8, S. 311). Immerhin war Knigge bewusst, dass dies keine gerechte Ordnung ist; ein paar Kapitel später verwirft er die „Aufklärung des Landvolks“, weil es „wahrlich nicht“ tauge, den Bauern „die Augen über ihren armseligen Zustand zu öffnen, den man nun einmal nicht verbessern kann“ (3. Theil, 6. Cap., § 9; S. 381); in der Ausgabe letzter Hand (5. Aufl., 1796) steht bezeichnenderweise: „[…] öffnen, solange man nicht die ernstliche Absicht hat, diesen zu verbessern“ (Adolph Freiherr Knigge: Ausgewählte Werke in zehn Bänden. Im Auftr. d. Adolph-Freiherr-von-Knigge-Gesellschaft zu Hannover hg. v. Wolfgang Fenner. Hannover 1991–1996, Bd. 6, S. 372f.). Ob die Französische Revolution auch Lessing zu einer Modifizierung seiner Position gebracht hätte?
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Republikanismus und Revolte in den politischen Trauerspielen Johann Jakob Bodmers
Das Ideal dieser Schauspiele ist […] der Mensch […] in der Republick, und nicht der leidenschaftliche.1
So hoch gerühmt der Dramatiker Lessing heute wird, so gering wird der Dramatiker Johann Jakob Bodmer bis heute eingeschätzt. Sein dramatisches Werk, das über fünfzig Stücke umfasst, die er in den knapp dreißig Jahren zwischen 1754 und 1782 schrieb, ist nahezu vergessen, und wie viele meinen: „wohl zu Recht vergessen“ (Christoph Siegrist).2 Friedrich Sengle etwa glaubte, sich nicht gestatten zu können, die politischen Dramen Bodmers im Einzelnen zu betrachten, denn „ihr dramaturgischer und dichterischer Wert“ sei „allzu gering“. Stutzig aber machen muss seine Begründung: Nicht nur „die Schwäche des Poeten Bodmer“ verbiete eine Behandlung dieser Schauspiele, sondern vor allem, dass sie „gewissermaßen grundsätzlich undramatisch, undichterisch“ seien, „insofern ihr Akzent mit bewusster Einseitigkeit auf dem historisch-politischen Inhalt“ liege.3 Sollte das Politische dem Dichterischen grundsätzlich widersprechen? Im 18. Jahrhundert wurde hauptsächlich die dürftige Sprache der Stücke gerügt, die – „einiger darin vorkommender in der That unnatürlicher Ausdrüke ungeachtet“4 – aber programmatisch zu verstehen war, insofern Bodmer „Galanterie“ und „Flitterzierrath“ im Trauerspiel als „eben so verkehrt als überflüssig“ ablehnte und bewusst sprachlich archaisierte, um dem „ungekünstelten Witz der alten, freyen, der Natur noch nahe und getreu gebliebenen griechischen Völkerschaften“ nahezukommen.5 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg und Moses Mendelssohn haben sich gleichwohl in mehreren Rezensionen den Spaß gemacht, eine „Blumenlese“ 1
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Johann Jakob Bodmer: Anekdoten von meinen politischen Dramen (ZBZ Ms. Bodmer 26.15), p. 15 (vgl. Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 267). In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3 Bde. Hg. v. Viktor Žmegaþ. Königstein/Ts. 1984, Bd. I/1, S. 83; vgl. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Begr. v. Rolf Grimminger. München 1984, Bd. 3, S. 296. Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 26f.; vgl. auch Kurt Wölfel: Jean Paul-Studien. Hg. v. Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M. 1989, S. 177, der ganz allgemein von der „Abstraktheit und poetische[n] Sterilität“ „republikanische[r] Dichtungen“, etwa der „politischen Schauspiele“ Bodmers, sprach. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 2 Bde. Leipzig 1771–1774, Bd. 2, S. 913. Johann Jakob Bodmer: Neue Erzählungen verschiedener Verfasser. Frankfurt 1747, S. I–III.
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missglückter Repliken zu präsentieren, „um unsere Leser zu belustigen“ und um den Autor lächerlich zu machen.6 Nachtretend meint Christian Adolf Klotz: „Als epischer Dichter wird er nicht mehr gelesen, aber als poetischer zwingt er uns zum Lachen“; und: „Niemand versteht die Kunst, Satiren auf sich selbst zu schreiben, […] besser als Herr Bodmer. Durch seine politischen Schauspiele hat er sich bereits lächerlicher gemacht, als ihn je Gottsched und seine Rotte hätte machen können“.7 Doch in dramaturgischer und inhaltlicher Hinsicht wäre es fatal, die Wertungen der Zeitgenossen oder der an klassizistischen Mustern geschulten Literaturwissenschaftler unbefragt zu übernehmen. Robert R. Heitner weigerte sich ganz ähnlich wie Friedrich Sengle, in seiner umfassenden Studie zur deutschen Tragödie der Aufklärung die Dramen Bodmers zu besprechen, weil sie undramatisch seien, genauer gesagt: weil sie auf die Anforderungen der Bühne keinerlei Rücksicht nähmen.8 Denselben Vorwurf hatten auch schon Zeitgenossen erhoben. Bodmers Schauspiele seien keine Dramen, sondern höchstens „Aufsätze“, „Deklamationen“ oder „Predigten“, meinte Klotz.9 Der Einzige aber, der einmal begründet, warum Bodmers Schauspiele undramatisch seien, war Gerstenberg, der ausgerechnet bemängelte, dass sich Bodmer an „Shakespears unregelmäßigen Geschmack“ gehalten habe, was in der Figurengestaltung noch angehen möge, nicht aber „in der Einrichtung des Plans“.10
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Gerstenberg: Rezensionen zu Bodmers Drey neuen Trauerspielen (in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 7, 2. St. [1762], S. 318–333, hier S. 332) und zu dessen Politischen Schauspielen (Bd. 1) (in: Hamburgische Neue Zeitung, Nr. 161–163, 10.– 13. Okt. 1768, S. 115–132); Mendelssohn: Rezension zu Bodmers Julius Cäsar (in: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, Nr. 285, 14. Juni 1764, Bd. 18, S. 181–184). Klotz’ Rezensionen zu Bodmers Politischen Schauspielen (Bd. 2) (in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 3, 11. St. [1769], S. 395–409, hier S. 396) und zum Neuen Romeo (in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 4, 14. St. [1769], S. 344f., hier S. 344). Robert R. Heitner: German Tragedy in the Age of Enlightenment. A Study in the Development of Original Tragedies, 1724–1768. Berkeley 1963, S. XII: „The numerous so-called ‘tragedies’ of Johann Jakob Bodmer […] have purposely been excluded because they are either clumsy parodies of other dramas or else mere hapless historical dialogues totally unrelated to the demands of the real theater“ (siehe auch ebd., S. 280); vgl. Anthony Scenna: The Treatment of Ancient Legend and History in Bodmer. New York 1937, S. 148f.: „One of the first general observations which strike the reader of these plays is that their action is anecdotal, their style narrative and descriptive rather than dramatic or dynamic. […] To say that Bodmer’s plays have an anecdotal quality means that he does not use a plot involving dramatic action“. Klotz’ Rezensionen zu Bodmers Neuen theatralischen Werken (in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 2, 5. St. [1768], S. 90–107, hier S. 92, 93 u. 99) und zu dessen Politischen Schauspielen (Bd. 1) (in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 2, 6. St. [1768], S. 209–224, hier S. 210). Überdies seien diese „Deklamationen […] unausstehlich lang, ohne Leben, ohne Geschmack, oft auch ohne Verstand“ (ebd., S. 210); ähnlich schon der von Klotz ebenfalls zitierte Gerstenberg, der Bodmers Stücke als „ein seltsames Geschwätz ohne Geist, ohne Empfindung, ohne Natur“ bezeichnete (Rezension zu Bodmers Drey neuen Trauerspielen, S. 327). Gerstenberg: Rezension zu Bodmers Politischen Schauspielen (Bd. 1), S. 116.
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Bodmer ignorierte in der Tat alle Regeln des klassizistischen Theaters; er nannte die von ihm gewählte Form „Drama par tiroirs“,11 was Stücke meinte, „wo aus dem Leben der Helden ein Dutzend der auffallendsten Situationen aufgezogen und ohne Kitt zusammengemauert werden“.12 In der Tat wechselte die Szene mit jedem Auftritt und Bodmer kümmerte sich nicht um die Einheit der Zeit, wie Gerstenberg richtig bemerkte. Das muss einen heute – wir sind gewohnt, Shakespeares Stücke nicht mehr für untheatralisch zu halten – nicht irritieren. Doch auch damals verfehlte die Kritik an der mangelnden Eignung dieser Stücke für die Bühne eigentlich den Gegenstand. Denn Bodmer schrieb ausdrücklich Lesedramen, die nicht (oder höchstens im privaten Kreis)13 aufgeführt werden sollten. „Ein Drama, das keinen Anspruch auf die Schaubühne macht“, so Bodmer in einem Aufsatz über das „politische Trauerspiehl“, brauche „sich nicht mit Angst an die Einheit des Ortes und der Zeit binden, weil hier nicht so viel Dinge zusammenkommen, die den Betrug der Sinnen aufhalten. Die Phantasie hat in der Einsamkeit weniger Mühe, sich aus einem Zimmer ins andere zu begeben, sich vom Morgen zum Abend, vom heutigen Tage zum folgenden zu versezen. Hier ist nichts, was ihr entgegen arbeite“.14 Dass er mit seinen politischen Dramen keinerlei Anspruch auf die Bühne machte, betonte Bodmer immer wieder.15 Doch ist dies natürlich ein Argument pro 11
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Der Begriff war in Frankreich um die Jahrhundertmitte aufgekommen, um episodisch gebaute Stücke von solchen zu unterscheiden, welche die klassischen Einheiten respektierten; vgl. den Artikel des Abbé Mallet in: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. 17 Bde. Hg. v. Denis Diderot u. Jean Le Rond d’Alembert. Paris 1751–1765, Bd. 5, 1755, S. 815: „Depuis quelques années on a mis sur le théatre françois quelques pieces vraiment épisodique, composées de scenes détachées, qui ont un rapport à un certain but général, & qu’on appelle autrement pieces à tiroirs. Le nom de comédie ne leur convient nullement, parce que la comédie est une action, & eporte nécessairement dans son idée l’unité d’action; or ces pièces à tiroir, que le défaut de génie a si étrangement multipliées, ne sont que des déclamations partagées en plusieurs points contre certains ridicules.“ Bodmer an Sulzer, 22. Dez. 1773; zit. nach Johannes Crueger: Bodmer über Goethe. 1773–82. (Aus dem ungedruckten Nachlaß Bodmers auf der Zürcher Stadtbibliothek.). In: Goethe-Jahrbuch 5 (1884) S. 177–216, hier S. 185, vgl. Albert M. Debrunner: Das güldene schwäbische Zeitalter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996, S. 145. Paradigma dieser Gattung war in der Diskussion der 1770er Jahre Goethes Götz von Berlichingen; jedoch wies Bodmer darauf hin, dass er schon „vor 20 Jahren dergleichen gemacht“ habe. „Der Dichter bittet sich nur eine kleine Anzahl auserlesener Freunde, die sein Werk in dem verschwiegenen Cabinet lesen oder aufführen“, heißt es in dem Epilog des bisher unpublizierten Stücks Die Schweizer über dir Zürich von 1759 (ZBZ Ms. Bodmer 26.1). Johann Jakob Bodmer: Politisches Trauerspiehl. In: Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2, Leipzig 1774, S. 914–916, hier S. 915. Vgl. Bodmers undatierten Brief an Heinrich Meister, zit. bei Johann Caspar Mörikofer: Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861, S. 220; Brief an Gleim (Juli 1776), in: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse hg. v. Wilhelm Körte. Zürich: Geßner 1804, S. 438; Johann Jakob Bodmer: Persönliche Anekdoten. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1892 N.F. 15 (1892) S. 90–122, hier S. 114; ders.: Arnold von Brescia in Zürich. Ein religioses Schauspiel. Frankfurt 1775, S. 47; ders.: Schweizerische Schauspiele. Mit einem Nachw. hg. v. Albert M. Debrunner. St. Ingbert 1998, S. 10; Bodmer: Politisches Trauerspiehl, S. 915.
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domo. Lieber wäre es ihm ohne Zweifel gewesen, für die Bühne arbeiten zu können, doch verzichtete er auf reale Aufführungen, weil ihm ein Anderes wichtiger war: Nämlich hochpolitische Dramen zu schreiben. Er hoffte nämlich, „es sei so viel Ernst und gesunde Politik in meinen Schauspielen, dass man die Logen und das Parterre leer stehen ließe“, schrieb er an einen Freund, sich offensichtlich vorstellend, was bei einer Aufführung seiner Dramen passieren würde und sollte.16 Dass er weder für „die Sybariten in den Logen“ noch für „die „Sclaven in dem Parterre“ schreibe,17 ist ein Standard-Argument Bodmers. Sowohl in den Logen als auch im Parterre der wirklichen Theater fand Bodmer lauter „Epicurer“,18 die nicht durch „Vernunft“ und „Verstand“ geleitet seien, sondern von ihren Trieben regiert würden. Die „Leute“ gingen doch meistens nur zu ihrer „Belustigung“ oder aus „Zeitkürzung“ ins Schauspielhaus, in der Hoffnung dort „den Eckel eines gleichbleibenden, einförmigen Lebens zu verjagen“. Man erfreue sich gleichermaßen an Stücken von Klopstock wie von Weiße, an einer Oper oder an einer Pantomime: Hauptsache, man werde mittels Lust- oder Grausamkeiten „durch Mark und Gebein erschüttert“ oder gerührt.19 „Ich weiß zu wohl, daß man sich im Schauspielhause nicht versammelt, um gemeinschaftlich, und darum desto stärker, die Würde und die Rechte der Menschheit zu empfinden! Man will den Brutus Arien singen hören, und Lucretia soll Menuetten tanzen“, klagte Bodmer gegenüber Gleim im Juli 1776.20 Dieses Theater der Leidenschaften war Bodmer zuwider. „Der Vorsatz“, heißt es in der Vorrede zu seinem Octavius Cäsar, das Publikum „allein in siedende Affecten zu schütteln hat den Urheber zu klein gedäucht“. Gleim bat er 1776, „Jedermann“ zu „warnen“, den die „Blitzstrahlen des Genie in Feuer setzen, daß er sich bei dem Frost meines Cicero und der Thrasea nicht erkälte!“21 Statt feurige Leidenschaften zu simulieren, habe er danach „getrachtet, sich mehr den Absichten der griechischen Tragödie zu nähern, welche zu einer Schule des Staats gemacht ward“.22 Was Bodmer darunter verstand, erläuterte er in seinem Aufsatz über das „politische Trauerspiehl“: 16 17 18 19
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An Heinrich Meister (vermutlich 1768), in Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 220. Ebd. (Brief an Johann Kaspar Heß). Die Einwohner der griechischen Kolonie Sybaris standen in der Antike sprichwörtlich für Luxus, Verweichlichung, Wollust und Dekadenz. Bodmer: Politisches Trauerspiehl, S. 915. Johann Jakob Bodmer: Politische Schauspiele. 3 Bde. Zürich 1768–1769, Bd. 1, S. [4]; Bd. 2, S. 6 (Vorrede zum Octavius Cäsar). Über Die Cherusken schrieb Bodmer im Juli 1776 an Gleim, er habe Hermann groß gemacht, „ohne die Römer zu verkleinern; doch nicht grausam, noch verliebt“ (Briefe der Schweizer, S. 439f.). Briefe der Schweizer, S. 438. Ebd., S. 438f. Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 2, S. 6f. Die politische Bindung des antiken Theaters war ein Standardargument noch der frühen Aufklärung, das erst durch die Moralisierung des Theaters nach Gottscheds Bühnenreform in vorübergehende ‚Vergessenheit‘ geriet; vgl. zum Beispiel Telemanns Prologus, welcher bey Gelegenheit einer neuen Einrichtung des Opern-Wesens Im Jahre 1727, auf dem Hamburgischen Schau-Platze vorgestellet ward: „Es wurden sol-
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Die Griechen haben ihr Theater für das Werkzeug gebraucht, das Volk in den Empfindungen von dem Wehrte popularer Grundsäze und Rechte zu unterhalten. In Staaten, wo die Gemeinen so großen Antheil an der Regierung nahmen, war nichts bequämer zu diesem Ende. Da die Rechte des Staats die Rechte des Volks waren, so erforderte die gesunde Politik, daß es dieselben sich in dem lebhaftesten Lichte vorstellete, und sein ganzes Herz damit erwärmete (S. 914).
Das griechische Drama erneuern zu wollen, bedeutete zugleich den Verzicht auf die reale Bühne, denn: „Wo sollen wir in unsern Zeiten [selbst] unter den freyesten Staaten, denjenigen suchen, der das republikanische Naturell der griechischen habe; der seine Landesrechte mit dem Ernst und dem Eifer zu Herzen nehme, welche wir bey den Alten bemerken?“ (Ebd.) Die Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts sah jedenfalls anders aus, und zwar sowohl was die Monarchien in den weitaus größten Teilen Europas als auch was die oligarchisch regierten Stadtstaaten in der Schweiz angeht. Die Folgen für das Theater waren Bodmer klar: Auf dem Theater der Staaten, in welchen die Wolfarth und das ganze Schiksal der Nation Einem oder Wenigen überlassen ist, wo die Mittel das Volk glüklich zu machen, Staatsgeheimnisse sind, die in dem Cabinette verschlossen bleiben, schien es nicht allein überflüßig, sondern gefährlich, und dem unbedungenen Gehorsam zuwieder, daß den Gemeinen Neigung zu Regierungsgeschäften eingepflanzt, oder ihnen hohe Gedanken von popularen Vorzügen eingepräget wurden. Darum haben die Genien, die für solche Schaubühnen schrieben, die Nationalabsichten und Gesichtspunkte verlassen, und sich mit persönlichen Angelegenheiten abgegeben. (Ebd.).
Selbst wenn Dichter der Gegenwart sich scheinbar mit Staatsangelegenheiten beschäftigten, ließen sie nach Bodmer „die Weiberliebe, und nicht die Vaterlandsliebe spielen, den Untergang von einem Staat abzuwenden, oder zu befördern. Der Staat ist immer die untergeordnete Angelegenheit“ (S. 916). Sich damit abzufinden, war Bodmer nicht bereit. Ihm schwebte eine Dichtung vor, in der es um „Patriotisme, Naturrechte, Staatsbegriffe, populare Empfindungen“ gehe, die mit anderen Worten „von Nationalabsichten, von Staatsbedürfnissen, und öffentlichen Geschäften“ handele (S. 914). Er wollte das „Gefühl der Menschheit schärfen und den Muth zu Unternehmungen erheben“.23 Da es „unsere Zeiten“ aber nicht mehr litten, „daß Untertanen oder Bürger sich versammelten, um gemeinschaftlich und darum desto stärker die Würde und die Rechte des Menschen zu fühlen“,24 verlegte sich Bodmer auf die Produktion von Lesedramen. Dass Bodmer an der dramati-
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che Spiel auch für gewisse Zeichen […] Des Regiments geach’t / Es wuste Griechenland, und Rom deßgleichen, / Was für ein Nutzen hier verborgen sey“ (zit. nach Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005, S. 381). Bodmer: Anekdoten von meinen politischen Dramen, S. 6 (vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 267). Bodmer: Persönliche Anekdoten, S. 114. Fast gleichlautend die Formulierung in dem oben (S. 264) schon zitierten Brief an Gleim vom Juli 1776 (vgl. Briefe der Schweizer, S. 438).
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schen Form festhielt und nicht etwa die Gattung der historischen Erzählung oder des politischen Traktats wählte, hat mehrere Gründe. Erstens war man zu seiner Zeit überzeugt davon, dass – auch wenn „die gantze Poesie als eine Lehr-Art für das Volck anzusehen“ sei – „diese Eigenschafft vor andern Dicht-Arten der Tragödie und der Comödie absonderlich“ zukomme, wie es Calepio formulierte, eine Ansicht, die Bodmer übernahm;25 wie er umgekehrt auch davon überzeugt war, dass Trauerspiele immer „eine ausgezeichnete Beziehung auf unsern Staat, unser Recht, unsre Geschichte“26 und „politische Landes-Angelegenheiten“ zum Inhalt haben sollten.27 Zweitens traute man dem Drama zum Beispiel in politischen oder moralischen Fragen eine größere Wirksamkeit zu als allen anderen Gattungen,28 und zwar auch dann, wenn es nur gelesen wurde.29 „Man kann den Verstand in Dingen, die nicht von geometrischer Evidenz sind, nicht besser, als durch das Herz gewinnen“, schrieb Bodmers Musterschüler Johann Georg Sulzer an seinen Lehrer zum Lob seiner Lesedramen.30 Dass Dramen nicht direkt zum Verstand sprechen, sondern emotional wirken, war eine ausgemachte Überzeugung der Schweizer Literaturtheoretiker.31 Schon in den Discoursen der Mahlern hatten sie die „catechetische Methode“ des Dialogs aus pädagogischen Gründen propagiert32 und höher einge-
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Johann Jakob Bodmer: Brief-Wechsel Von der Natur Des Poetischen Geschmackes. Zürich 1736, S. 97f. Vgl. Pietro di Calepio: Paragone della Poesia tragica d’Italia con quella di Francia e una difesa con l’apologia di Sofocle. Hg. v. Johann Jacob Bodmer. Zürich 1732; dt. auszugsweise in Johann Jakob Bodmer / Johann Jakob Breitinger: Critische Briefe. Zürich 1746, S. 3– 66, hier S. 8 u. 11: „das Trauerspiel vor andern Dichtarten für das gemeine Volk gewiedmet“; „dem Volke zu Dienste sind die Trauerspiele eingeführet worden“. Vgl. auch Bodmer an Gottsched (1732): „daß das Trauerspiel poema popolare und vor die Bürgerschaft gewidmet sey“ (Th. W. Danzel (Hg.): Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Leipzig 1848, S. 189). An Johann Heinrich Schinz, Januar 1775 (zit. nach Wolfgang Bender: Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger. Stuttgart 1973, S. 58). Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter. Mit einer Vorr. v. Johann Jacob Breitinger. Zürich 1741, S. 432f. („Endzweck der vollkommenen Tragödie“). Vgl. Johann Kaspar Heß an Bodmer (1768): „Das Theater würde die Sittenlehren weiter und geschwinder als das beste Lehrbuch und vielleicht auch als die beste Epopöe ausbreiten“ (zit. nach Herbert Schöffler: Das literarische Zürich 1700–1750. Frauenfeld 1925, S. 49). Denn hier werden „die Rechte, die Klagen, die Wünsche“ der Menschen auch „ohne Zungen noch hörbar, und ohne Gliedmaßen noch sichtbar werden“, heißt es in der Vorrede zu Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 2, S. 7. Briefe der Schweizer, S. 340f. (Sulzer an Bodmer, 1. Juni 1761). Vgl. zum Beispiel Bodmer: Critische Betrachtungen, S. 433: „also trachtete die Tragödie die Pflichten, die in der Politick und dem Recht der Völcker gegründet sind, nicht auf eine überzeugende Weise zu lehren, sondern in das Herz einzupflantzen“. Und auch bis ins hohe Alter praktiziert; als Anhang zu Bodmers Geschichte der Stadt Zürich. Für die Real-Schulen erschien 1774 (recte 1773) zugleich Breitingers Dialog Unterredung von den Geschichten der Stadt Zürich (früher auch Bodmer zugeschrieben; vgl. aber ZBZ Ms. Bodmer 39.8); von Gustav Tobler (J. J. Bodmer als Geschichtsschreiber. Zürich 1890, S. 32) „unstreitig“ zu den „bedeutendsten historischen Arbeiten des alten Bodmer“ (und des alten
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schätzt als „raisonnierende“ oder diskursive Textsorten.33 Die dramatische Form wurde von Bodmer noch höher eingeschätzt, denn: „Es ist ein offenbarer Vorzug der dramatischen Dichtungsarth daß sie mehr Anschauung hat als der einfache Dialoge, und darum desto anzüglicher wird“.34 Drittens erlaubte die dramatische Form, zunächst jedenfalls, „die Zensur zu umgehen“.35 Vor allem aber gab sie dem Autor die Möglichkeit, sich hinter der objektivierten Figurenrede zu verbergen. Zwar gestatte die dramatische Form dem Poeten nicht, „in seiner eigenen Person zu reden“, schrieb Bodmer,36 doch kann der Autor seine Figuren natürlich reden lassen, was er will: Eine Möglichkeit, die für Bodmer sicher nicht der letzte Grund war, für seine politischen „Aufsätze“ (wie Klotz die Stücke nannte) die dramatische Form zu wählen. „Die szenische Form hat ihre Vorzüge: ich kann so in Anderer Mund Wahrheiten sagen, was positiv und in meiner Person selbst, Satyre oder gefährlich wäre“, äußerte er brieflich.37 „Ich besann mich“, schrieb Bodmer im Rückblick, „dass sich in dieser dramatischen Art Staatsveränderungen bearbeiten und politische Wahrheiten, die den Regierungen verhaßt sind, ungestraft sagen lassen“.38 Und die Wahrheiten, die Bodmer zu sagen hatte, waren in der Tat „gefährlich“ genug,39 predigte er doch „die Lehre von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen, von der Volkssouve-
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Breitinger, muss man heute ergänzen) gezählt. Zu den unveröffentlichten katechetischen Texten vgl. ebd., S. 31f. Discourse der Mahlern, 2. Theil, XII, S. 89, sowie Register zum 2. Theil, S. 205 und 206; vgl. Bettina Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend. „Der Erinnerer“ – eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Zürich 1997, S. 250f.; vgl. zu Bodmers „Lehre vom Unterricht durch Exempel“ auch Simone Zurbuchen: Patriotismus und Nation: Der Schweizerische Republikanismus des 18. Jahrhunderts. In: Michael Böhler u.a. (Hg.): Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Genf 2000, S. 151–181, hier S. 161–172. Johann Jakob Bodmer: Anekdoten von dem traurigen Ende gewisser politischer Dramen (ZBZ Ms. Bodmer 26.16, p. 18 des Originals, p. 10 der Abschrift von Schinz). Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend, S. 31. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich die Zürcher Zensur letztlich doch Bodmers Ansicht, die Obrigkeiten sollten „sich um diese Art der Schauspiele“ bekümmern und sie nicht „für etwas Gleichgültiges“ ansehen (Bodmer: Critische Betrachtungen, S. 434), zu eigen machte – und einige Stücke von Bodmer 1762 verbot (vgl. Leonore Speerli: Rousseau und Zürich. Vom Erscheinen des ersten Discours bis zum Ausbruch der Revolution in Frankreich. Diss. Zürich 1941, S. 80). Bodmer/Breitinger: Critische Briefe, S. 78. An Heinrich Meister (vermutlich 1768), zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 220. Bodmer: Persönliche Anekdoten, S. 114. Vgl. Bodmer: Anekdoten von dem traurigen Ende gewisser politischer Dramen“ (ZBZ Ms. Bodmer 26.16), p. 21 (Abschrift von Schinz, p. 12): „sie sind auch gefährlich; durch das Anschauen dieser römischen und griechischen Seelen möchten in die Seele des Volkes Funken fallen, die Feuer darinn auffachen könnten, das itzt schläft“ (vgl. Scenna: The Treatment of Ancient Legend and History in Bodmer, S. 81; Meier: Dramaturgie der Bewunderung, S. 277).
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ränität, von der Unrechtmässigkeit der Unterthanenlande, von der Notwendigkeit einer Bundesreform, von der religiösen Toleranz“.40 Allerdings gehören diese Wahrheiten, so gefährlich sie sein mochten, – sieht man einmal von den spezifisch schweizerischen Provokationen, etwa die Rechtmäßigkeit der Untertanenlande zu bezweifeln und eine entsprechende Bundesreform zu fordern, ab – zum Standard aufklärerischen Denkens. Bemerkenswert ist aber die Unbefangenheit, mit der Bodmer seine zunehmend radikaler werdenden demokratischen Ideen vortrug. Der Verzicht auf die Bühne erlaubte ihm, seinen Lesern Dinge zuzumuten, auf die er als Theaterdichter wahrscheinlich verzichtet hätte – wie nahezu die gesamte dramatische Literatur der Jahrzehnte zwischen 1730 und 1770 darauf verzichtete. So ließ er in seinen Dramen aus der Schweizerischen Geschichte das Volk als solches auftreten, seine Wünsche aussprechen, lässt es handelnd in den Gang der Ereignisse eingreifen, sogar Regierungen stürzen und sucht so an praktischen Beispielen aus der Geschichte der Vaterstadt darzustellen, wie weit man sich zu seiner eigenen Zeit von der ursprünglichen Demokratie entfernt hatte. Es geht ein wohltuend demokratischer Zug durch diese Bilderreihe, die mit einer solchen Tendenz in der damaligen Litteratur wohl einzigartig dastehen dürfte.41
Die ungedruckten Zürich-Dramen Zwischen 1757 und 1761 schrieb Bodmer vier Dramen, die als das geheime Zentrum und die Basis auch der weiteren politischen Dramatik des Autors gelten können. ‚Geheim‘ sind Zentrum und Basis, weil die Stücke – bis auf einen von Bodmer 1775 noch selbst besorgten Teildruck eines von ihnen – bis heute unpubliziert im Nachlass liegen. Sie waren von vornherein „für das Cabinet“ geschrieben,42 weil sie politisch zu kühn waren, um gedruckt zu werden. Drei der vier Stücke befassen sich mit neuralgischen Punkten der mittelalterlichen Zürcher Stadtgeschichte, deren Studium in Bodmers Augen außerordentlich ertragreich „in Ansehen der politischen Künste“ sei, wie barbarisch die Zeiten in Hinsicht auf „Gelehrsamkeit und Religion“ auch gewesen sein mögen;43 ich nenne diese drei Stücke hier in der Reihenfolge der behandelten Ereignisse:
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Gustav Tobler: Bodmers Politische Schauspiele. In: Johann Jacob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Veranlaßt vom Lesezirkel Hottingen u. hg. v. der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1900, S. 117–162, hier S. 156. Ebd., S. 143. Bodmer an Sulzer, 22. Dez. 1773 (zit. nach Crueger: Bodmer über Goethe, S. 185, vgl. Debrunner: Das güldne schwäbische Zeitalter, S. 145). Johann Jakob Bodmer: Nachricht Von der Beschaffenheit und dem Inhalt des alten Codicis legum, der Richtebriev der Burger von Zürich, betitelt. In: Helvetische Bibliothek, 2. St. Zürich 1735, S. 5–12, hier S. 6; vgl. auch Zurbuchen: Patriotismus und Nation, S. 164f.
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– erstens Rudolf Brun (geschrieben im Frühjahr 1758), worin es um die Revolution des Gemeinwesens geht, welche in Zürich die zu Bodmers Lebzeiten prinzipiell noch gültige Verfassung von 1336 hervorbrachte; – zweitens Rudolf Schöno (geschrieben als letztes dieser Trauerspiele 1761), das die außen- und innenpolitischen Verwicklungen des Jahres 1393 zum Thema hat, die zur Absetzung des Bürgermeisters Schön führten; und – drittens das Doppelstück Die Schweiz über dir, Zürich (geschrieben als erstes dieser Stücke im Herbst 1757), dessen Thema die Vorgeschichte und der sogenannte „Alte Zürichkrieg“ nach 1439 ist, der zur endgültigen Bindung der Stadt Zürich an die Eidgenossenschaft führte, und das gelegentlich auch nach seiner Zentralfigur Rudolf Stüssi benannt wird, der 1443 als Bürgermeister der Stadt bei der Verteidigung der Sihlbrücke gefallen war. Zu diesen drei im engeren Sinn stadtgeschichtlichen Dramen muss – viertens noch das 1759 geschriebene politisch-religiöse Doppeldrama Arnold von Brescia gestellt werden, dessen Titelfigur der umstrittene mittelalterliche Kleriker ist, der bei Bodmer gegen die ungleiche Verteilung der Güter und gegen das Privateigentum überhaupt wettert. Bodmers Schüler Johann Georg Sulzer hatte unter anderem Abschriften von Rudolf Brun und Arnold von Brescia 1761 in Berlin gelesen und schrieb begeistert an den Autor, er habe mit diesen politischen Trauerspielen ein neues Geschlecht von Drama an den Tag gebracht. Ein Drama zum Lesen, das seinen grossen Nutzen haben kann. Mich hat darin die ganz naive und neue Art, Staats- und Glaubenssachen zu behandeln, am meisten überrascht.44
Elf Jahre später (1. Dezember 1772) kam Sulzer noch einmal auf Brun und Arnold zurück und empfahl Bodmer, die beiden Stücke als Anhang in sein politisches Testament zum Besten aller Eidgenossen aufzunehmen.45 Das allerdings ist nicht geschehen, da Bodmer sein „politisches Testament“ niemals niedergeschrieben hat. Das Scheitern von Rudolf Stüssi und Rudolf Schöno Das werkgenetisch zuerst entstandene Stück Stüssi oder Die Schweizer über dir Zürich spielt in den Jahren 1437 bis 1443;46 Ausgangspunkt ist die Fehde zwischen Schwyz und Zürich wegen der erledigten Herrschaften Uznach und Kyburg, auf die beide Stätten gleichermaßen Anspruch erhoben. Da das eidgenössische Schiedsgericht zu Luzern 1437 zu Gunsten von Schwyz entschied, kam es zum 44 45 46
Briefe der Schweizer, S. 340f. Ebd., S. 410. ZBZ Ms. Bodmer 26.1 (zit. nach einer von mir angefertigten Transkription unter Angabe von Teil, Akt/Szene; zeitgen. Abschriften des Stücks in: ZBZ Ms. G445, J614, P30, W341).
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Schisma. Das sich immer noch als freie Reichsstadt fühlende Zürich – es war seit 1351 auch Mitglied des eidgenössischen Bunds – unter seinem Bürgermeister Rudolf Stüssi drängt aus dem Bund heraus, was die „Cantons“ nicht hinnehmen wollen. Zum Auslöser des „böß blütig Zürychkriegs“ (Stumpf, Schwytzer Chronica) wurde 1439 die Forderung der Cantons, angesichts der Lebensmittel-Teuerung den Zürcher Kornmarkt auch für Glarus und Schwyz zu öffnen. Zu Beginn des zweiten Akts im ersten Teil diskutieren die vornehmen Zürcher Bürger Heinrich Schwend und Ulman Trinkler über die bevorstehende Volksversammlung, auf der über diese Forderung der Cantons entschieden werden soll: ULMAN TRINKLER. […] Wir können unser patriotisches Gemüth nicht durch eine stärkere Probe an den Tag legen, als wenn wir uns in diesem fiebrischen Zustande dem offenbaren Unrecht unterziehen. HEINRICH SCHWEND. Ich könnte auch so denken: allein je stärker wir uns zum Leiden zeigen, je heftiger tritt man uns auf den Naken. Wir werden bald merken, wie viel Geduld für dieses Geschäft unsere Gemeinde im Vorrath hat. Die große Gloke wird sie bald in den BarfüßerHof versammeln, daß man bey diesen critischen Aspecten einen allgemeinen Schluß abfaße. ULMAN TRINKLER. Ich wünschte, daß meine Herren die Sache in ihrer Gewalt behalten hätten. Ich fürchte, die drükende Theuerung möchte die Mutter eines raschen Entschlußes bey dem Pöbel werden. HEINRICH SCHWEND. Jede Entschließung kann schwere Folgen haben, welche die Beystimmung der Gemeinde nöthig machen. ULMAN TRINKLER. Gebe Gott! daß die mehrere Stimmen werden, man soll Schweiz den Kauf ungesperrt laßen. – Wird er gesperrt, so haben wir Krieg vor den Thoren […]. HEINRICH SCHWEND. Ich denke, die Gemeinde wollte die Schweizer gern züchtigen, wann sie für ihre Schurzfelle nicht den Panzer anlegen müßten. (1. Stüssi II/1: „Platz vor dem Rathhause“).
Die vornehmen Zürcher sind ungewiss, ob die Gemeinen nicht aus politischer Kurzsichtigkeit den Kornmarkt sperren werden, weil sie erstens auf dem Recht der Stadt Zürich bestehen, die eigene „Policey-Ordnung“ zu behaupten, und zweitens der Teuerung in der eigenen Stadt Einhalt tun wollen, anstatt des lieben Friedens und der bürgerlichen Ruhe wegen sich dem vermeintlichen oder wirklichen Unrecht zu beugen und den Markt zu öffnen. Wie die folgende Szene (II/2: „Der Fischmarkt“) zeigt, neigt das Volk nicht zu raschen Entschlüssen. Die Sache wird schon im Vorfeld der Versammlung unter den Handwerkern ausführlich diskutiert. Es gibt zwar die Angst vor dem Krieg („Ich will das Gebot halten, du sollst nicht töden: Aber die andern sollen es auch halten“), doch anders als der Bürger hält die „Gemeinde“ es für patriotisch, sich dem als illegitim empfundenen Ansinnen der Cantons zu widersetzen. Die Sorge, dass ansonsten die Teuerung das Korn für die einfachen Zürcher unerschwinglich mache, weil Schwyz zuviel aufkaufe, trägt zu dem Entschluss, den Markt zu sperren, das Ihrige bei. Übrigens befindet sich die Gemeinde dabei – anders als es Ulman Trinkler vermutete („Ich wünschte, daß meine Herren die Sache in ihrer Gewalt behalten hätten“) – im Einklang mit der Stadtregierung; die „Herren“ sind denn auch sehr 266
zufrieden mit dem Votum der Volksversammlung: „Es war ein tapferer Entschluß von der Gemeinde“, kommentiert befriedigt Bürgermeister Stüssi: „Ich sah sie noch eifrig, und wie ich sie wünschte, die Ehre der Stadt gegen ihrer raübrischen Neider zu behaupten. Von diesem Schluß soll uns nichts abwendig machen“ (II/3: „Ein Zimmer in dem Barfüßer Kloster“). Die Stadtregierung sieht dem drohenden Krieg mit Schwyz gelassen entgegen, ja sie wünscht ihn geradezu. Wie man aus der Erzählung des Historicus Anwyl47 erfährt, ist Zürich der militärischen Stärke von Schwyz und seinen Bundesgenossen sowie dem strategischen Geschick des Schwyzer Ammanns Ital Reding nicht gewachsen. Vergeblich arbeitet Bürgermeister Stüssi daran, „die Faßung bey dem Rath und den Muth bey den Truppen“ zu halten: „Die Löwen waren zu Schafen, die Wölfe zu Gänsen geworden. […] Zürich war genöthiget, die Forderungen derer von Schweiz zum unverdingten Rechte vor die Cantons kommen zu laßen“ (II/4). Auch dieses Mal fällt der Entscheid der eidgenössischen „Seßion“ zu Ungunsten Zürichs aus. Für Stüssi stellt sich jetzt die Frage, ob der „feindselige Friede“ sein „Ansehen bey den Räthen“ und in der Gemeinde „geschwächt habe“ (II/6: „Stüßis Haus in Zürich“). Wie man bald darauf erfährt, ist dies nicht der Fall: „Unser Bürgermeister hat durch diesen unseligen Frieden kein Gran von seinem Credit verloren. Seine Reden gelten auf dem Rathhause für Orakel, und die Gemeinde regiert er mit dem Wink seiner Hand“ (III/2: „Die Laube unter dem Helmhaus zu Zürich“). Anders als zu Beginn des Stücks erfahren die Leser davon aber nur indirekt. Es gibt in dem Stück keine weitere Volksszene. Nicht zuletzt deshalb, weil Stüssi sich zu einem selbstherrlichen Regenten entwickelt, der nicht mehr die Belange der Stadt, sondern seine eigenen Interessen verfolgt. Der Kampf gegen die Cantons ist
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Bestimmte Ereignisse werden durch einen Erzähler zusammengefasst. Das epische Element dient zur Raffung der erzählten Zeit wie zur Vermeidung besonders gewalttätiger Szenen. Es erzählt Fritz Jakob von Anwyl (ca. 1460–1535), der eine heute verlorene Helvetische Chronick verfasst haben soll (vgl. Hans Jacob Leu: Allgemeines Helvetisches, Eydgenössisches Lexicon. 1. Theil. Zürich 1747, Bd. 1, S. 223); den dramatischen Wiedergänger ließ Bodmer sich augenzwinkernd so einführen: „Was befehlen izt unsere werthen Zuseher? Sollen wir den Lermen des Kriegs auf die Bühne bringen? Sollen wir fliehende Schaaren mit weggeworfenen Waffen über den SchauPlaz jagen? Wollet ihr die Übelthaten der Wuth sehen, vom Rumpfe gespaltene Köpfe; Dörfer, die zu den Wolken hinauf brennen, Mütter, die ihre Söhne, Töchter, die ihre Schande beweynen. Dann die Schweyzer thun diese grausamen Dinge, ihre Eidgenossen von Zürich zu strafen, daß sie ihnen den Markt nicht unbedingt eröffnen, und ihnen nicht um die ältesten Rechte der Stadt vor den Cantons antworten wollen. Wann jhr Geschmak an dergleichen Geschichte habet, so ist die Wuth der Schweizer unersättlich und kann die Bühne mit unmenschlichen Anbliken versehen. Doch dieses Mahl laßt mich lieber erzählen, ihr dörft meinen Reden glauben. Habet ihr nicht von dem von Anwyl gehört, ich bins, der den einheimischen Krieg der Cantons beschrieben hat? Und ich habe meine Geschichte aus dem Mund solcher, die selbst im Felde gewesen sind. Das Vertrauen, das der Poet in meine Treue sezet, hat ihn bewogen, mich aus dem Grabe zunehmen. Es hat ihm nicht mehr Arbeit gemacht, als es ihn kostete, den Stüßi und Reding ins Leben zurückzuführen. Ich war nicht todter als sie, lasset mich dann erzählen!“ (1. Stüssi II/4.)
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zu einer Herzensangelegenheit geworden, weil Stüssi den Schwyzer Ammann Ital Reding, der die Eidgenossenschaft dominiert, persönlich hasst. Ihn will er in die Knie zwingen; dafür ist er auch bereit, die Unabhängigkeit Zürichs zu riskieren, auch wenn er die Schuld am gegenseitigen Hass einseitig auf Redings Seite sieht: Es muß am Ende anders gehen, oder ich muß darüber zu Grund gehen, Ich oder Reding! Die Nachkommen sollen nicht sagen, daß ich der Stadt Zürich zum Verderben gegeben worden sey. Reding haßt eigentlich mich, um mir weh zu thun, wird Zürich so in den Staub getreten, um meinetwillen muß sie diese Verkleinerungen, diesen Hochmuth, diesen Trotz der Cantons ausstehen. Weil sie es so haben wollen, so sey es beschloßen. Es muß beßer werden, oder alles muß brechen (II/6).
Zu diesem Zweck lässt sich Stüssi auf ein Bündnis mit dem habsburgischen Königshaus ein, was für die Cantons, die sich im Widerstand gegen die Habsburger als unabhängige Eidgenossenschaft erst einhundert Jahre zuvor konstituierten, eine Provokation ersten Ranges ist. „Große Veränderungen schweben in meinem Kopfe“, sagt Stüssi zu seinem Vertrauten Michael Stebler; doch werden diese Reformpläne nicht mehr öffentlich kommuniziert. Stüssi mausert sich zu einem Despoten, wenn er zu Stebler sagt: „Wir wollen diese Dinge mit niemand berathen. […] Wir müssen verbeßern, was Brun verderbt hat“ (II/6). Gemeint ist der erneute Umsturz der zunftdemokratischen Verfassung Zürichs zu Gunsten einer ritterlichen Oligarchie, die 1336 in Zürich abgeschafft wurde. Für Stebler und Stüssi ist der „Rath“ der Stadt ebenso „pöbelhaft“ geworden wie die Gemeinde und sie wollen ihn gern loswerden; die „Verbindung mit dem König wird die gute schwäbische Ritterschaft zu uns zurük führen, die Bruns Neuerung verjagt hat, und ihre Gesellschaft wird unseren Sitten und Geschäften einen Adel und eine gute Art mitteilen, die uns seit derselben Zeit gemangelt haben“ (III/3). In der Bürgerschaft vermutet man allerdings, dass die neue Freundschaftspolitik mit Österreich zu einem weiteren Krieg mit den Cantons führen werde. Der vornehme Bürger Hans Meiss beklagt, den Bürgermeister dünkt nichts zu kostbar, womit er den Cantons was thun kann. Er will ihnen den König und den Adel über die Haube richten, und seine Rache zu üben, würde er diesen die Stadtthore einräumen. Es scheint mir, unser Bund mit den Cantons habe seinen periodum fatalem erreicht. Stüssi ist gewiß bey sich selbst entschloßen, ihn untergraben zulaßen.
Auch auf der anderen Seite stehe es mit der politischen Moral nicht zum Besten: Wenn jemals diese gesunden Maximen unter den Cantons gewaltet haben, so war es nur auf Monate; und man muß ein scharfes Gesicht haben, sie zu erbliken. Jezt hat eine so mäßige Denkungsart unserer Großen aufgehört. Ein neuer Adel ist aus den Popular-Familien aufgegangen, der die Hoheit und den Stolz der Twing-Herren an sich nimmt. Ich kann nicht glauben, daß Geißlern oder Wolfenschießen stolzere Anschläge durch den Kopf gegangen seyen, als dem Amman [Reding] und dem Bürgermeister [Stüssi]. (III/2)
In der Tat kommt es zu dem vorausgesagten neuen Waffengang, der den „Jammer des vorigen Kriegs verdoppelt“ (1. Stüssi III/3). Der gesamte zweite Teil des dra268
matischen Diptychons erzählt von dem wechselhaften Verlauf des Zürichkriegs, während dessen der aristokratische Stüssi seinen Meister in dem ‚bäurischen‘ Schwyzer Ammann findet. Gegen dessen brutale Entschlossenheit,48 aber auch gegen dessen diplomatisches Geschick49 ist kein Zürcher Kraut gewachsen. Die erhoffte Hilfe des Habsburgers bleibt aus (III/1: „Das Unglük ist, daß der König alle Hände voll zu thun hat …“) und der ritterliche Feldhauptmann der Zürcher, Thüring von Hallwyl, verzweifelt an deren immer noch tief sitzenden demokratischen Sitten: „‚Ich bin‘, sagt er, ‚nur euer Hauptmann, wenn es euch gefällt; und meine Befehle gelten nur, wenn sie mit euren kleinen Begriffen überein stimmen‘“ (III/4).50 Kurz: Am Ende obsiegen die Cantons unter Führung der Schwyzer. Rudolf Stüssi stirbt in dem Bewusstsein, ein Märtyrer der bessern Sache zu sein: ich habe nicht mit Kaltsinn dulden können, daß die Rechte der Stadt zu Boden getreten würden. Das hat mir den Tod gebracht – die Nachkinder werden es schwerlich erkennen. Unglück ist in der Sprache der Menschen übels Verhalten, und Schweiz ist über dir Zürich. – Gott und mein Gemüth geben mir Zeugniß (III/6).
Stüssi mag sich vor seinem Gewissen gerechtfertigt glauben – das Drama, das immerhin die Nachwelt repräsentiert, entschuldigt den Bürgermeister nicht. Sein Egoismus und seine Selbstherrlichkeit haben Zürich in diesen verderblichen Krieg geführt. Erschlagen wird der in der Schlacht lebensgefährlich Verwundete übrigens durch einen Zürcher Bürger („Ihm haben wir alle diese Noth zu danken. Ich muß es ihn noch genießen laßen“).51 Und zwei andere Bürger der Stadt kommentieren Politik und Tod Stüssis sowie seines Vertrauten Steblers wie folgt: HANS MEISS. %eyde mögen es mit Zürich gut gemeynet haben, aber ihre unzeitige Standhafftigkeit war nichts werth. Eine Beleidigung abzuwenden stürzten sie die Stadt in zehn, und vielleicht beleidigten sie hingegen. Der tolle Einfall, daß sie Österreich gegen die Cantons in die Stadt nehmen wollten, zog uns allen diesen Jammer zu.
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Vgl. 2. Stüssi II/5: „der Krieg ist das Widerspiel des Friedens und seine Gesätze sind das Stillstehen der Gesätze. Seine Ordnung ist Zerrüttung, und seine Bauung Zerstörung: Er selbst ist Strafgericht und Tod. Anders würde er sich liebenswürdig machen, und das soll er nicht seyn. Die Exzeße sind ihm nothwendig. Sie schleifen die mütterliche Weiblichkeit ab, und legen eine stählerne Rinde um das Herz des Mannes“. Vgl. ebd.: „Durch eure schöne Reden betrogen, haben wir eine zweydeutige That gethan…“. Ähnliches beobachteten auch Historiker, wenn sie die in einer „Gemein“ organisierten Landsknechte der Frühen Neuzeit (vgl. Reinhard Baumann: Georg von Frundsberg. Der Vater der Landsknechte und Feldhauptmann von Tirol. Eine gesellschaftsgeschichtliche Biographie. München 1984, S. 117–141: „Der Obrist und die Gemein“) erforschten; oder speziell die Schweizerischen „Reisläufer“, über die V. G. Kiernan (Foreign Mercenaries and Absolute Monarchy. In: Crisis in Europe 1550–1660. Essays from „Past and Present“. Ed. by Trevor Aston. With an introd. by Christopher Hill. London 1965, S. 117–140, hier S. 123) schrieb: „True, they were too democratic to be easily handled […].“ Dieser erschlägt auch Michael Stebler; dieser war historisch am 22. Juli 1443 in der Schlacht bei St. Jakob an der Sihl angeblich von einem Zürcher Bauern erschlagen worden (vgl. Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz. Dt. Ausg. bes. v. H. Tribolet. 7 Bde. Neuenburg 1921–1934, Bd. 3, S. 626).
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ULMAN TRINKLER. Es fehlete Stüßi an genugsamer Dose von Gedult […]. Er hielte es für Zagheit nachzugeben. HANS MEISS. Warum nicht nachgeben, wenn man siehet, daß die Cantons, die Waffen, der Himmel, der sie leitet, sich für Schweiz erklären? Es ist kein Aufhören, wenn wir nicht stark genug sind, nachzugeben und zu leiden. Wir müßen den Österreichischen Vertrag zerreißen. ULMAN TRINKLER. Genug, wenn so dem Übel geholfen wäre. Aber Reding hat geschworen, sagt man, daß er Zürich keinen Fuß von den eingenommenen Herrschafften zurück geben wolle. Zürich solle bleiben, wie sie izzo ist, eine eiländische Stadt. Man müße der Natur die Zähne nicht wieder einsezen, in welchen ihr Gifft liegt. HANS MEISS. Könnt ihr die Cantons für so elende Staatsleüthe halten, wenn sie uns wieder in ihre Freundschafft aufnehmen, daß sie uns so entehrt, so beraubt, so entkleidet werden stehen laßen? Würden sie so den Sauerteig zu einer beständigen Veränderung in unseren Gemüthern zurücklaßen, würde es schwer seyn, durch fleißige Dienste und Treue die Funken der alten Liebe in ihren Herzen wieder anzuflammen. Daß wir von ihrem Willen erhielten, was die Gewalt nicht zu erzwingen mag? ULMAN TRINKLER. Was für Hoffnung, was für Vertrauen können wir auf die Denkart, auf die Großmuth der Schweizer sezen? Ein Pferd hat mehr Empfindung, und ein Haushund mehr Treue. HANS MEISS. Es ist ein verzweifelter Handel, wenn man die Wahl nur unter Übeln hat. Mich dünkt immer das geringere Unglük, daß wir uns den Cantons in die Schoß werfen. ULMAN TRINKLER. Der Marggraff machet mir große Hoffnungen, daß der Römische König mit Frankreich und Burgund Unterhandlung pflege, welche ein mächtiges Heer von Armagnacs in unser Land führen soll […].52 HANS MEISE. Die Cantons haben Enguerrand de Coucy geschlagen,53 wie sie nicht so kriegerisch waren wie sie izo sind; aber wenn sie geschlagen werden, so bekäme Österreich die Oberhand wieder, und wir würden unsre Freyheiten nicht anders als durch ihre Gunst behalten. Bey den Cantons ist sie allemal sichrer verwahrt. 52
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Vgl. Hellmut Diwald: Anspruch auf Mündigkeit. Um 1400–1555. Frankfurt a.M. Ullstein 1982, S. 57: „König Friedrich versuchte zunächst, den widerspenstigen Schweizern ihre Eroberungen zu entreißen. Seit der unglückseligen Schlacht bei Sempach (1386) besaßen die Eidgenossen alle habsburgischen Gebiete südlich des Rheins. Friedrich bediente sich nicht gerade erlesener Mittel. Ohne Wissen der Kur- und Reichsfürsten bat er den französischen König, ihm mit Heeresmacht gegen die Schweizer zu Hilfe zu kommen; er ließ sich die Erfüllung dieses Wunsches sogar Geld kosten. […] Da Frankreich gerade das letzte Kapitel des Hundertjährigen Krieges glücklich abschloß, ließ Karl VII. sich von Friedrich nur einmal bitten. Er schickte den Dauphin mit Scharen arbeitsloser Söldnerhaufen, den Armagnacs, in das Reichsgebiet; denn er wollte diese Leute nur allzu gern aus Frankreich forthaben. Am 26. August 1444 lieferten die Eidgenossen diesen Banden in der Nähe von Basel, bei St. Jakob an der Birs, eine so mörderische Schlacht, daß die Armagnacs ein für allemal die Lust zu ähnlichen Siegen verloren, aus Schweizer Gebiet abzogen und statt dessen das obere Elsaß, den ergiebigen Sundgau Habsburgs, plünderten und verwüsteten.“ Enguerrand VII. von Coucy (1339–1397) „drang im Herbst 1375 mit einem grossen Heer von französischen und englischen Söldnern in mehreren Kolonnen über die Jurapässe ins Aaregebiet herein und überzog die Gegenden vom Aargau bis an den Neuenburgersee mit Raub und Verwüstung. […] C. nahm Hauptquartier in der Abtei St. Urban, aber seine Scharen, wegen ihrer Kugelhüte Gugler oder auch Engländer genannt, wurden in vereinzelten Abteilungen überall geschlagen, so u.a. von den Innerschweizern bei Buttisholz und von den Bernern bei Ins und Fraubrunnen. Schon im Januar 1378 zog C. mit seinem Kriegsvolk wieder ab, ohne etwas erreicht zu haben. Zehn Jahre später verband sich Oesterreich mit C. gegen die Eidgenossen und trat ihm 1387 […] die Herrschaften Büren und Nidau ab. Als sich aber zu Büren und Nidau von neuem C.’s Kriegsvolk festsetzte, wurden die beiden Städte 1388 von Bern (bei Nidau half auch Solothurn) erstürmt. Von da an war von C.’s Ansprüchen im Seeland nicht mehr die Rede“ (Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, S. 632).
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ULMAN TRINKLER. Verberget diese Gedanken in den tiefsten Winkel Eures Herzens. Unser Pöbel würde kurzen Proceß mit dem machen, der sie laut sagte. Er ist mit Leib und Seele der Österreicher, und man redet schon darvon, daß der Rath die Schlüßel zu den Thoren dem Marggrafen übergeben müße, bey welchem sie beßer verwahrt wären als bey einigen des Raths. Hallwyl hat das Gemüth der Gemeinen in seiner Hand, und kann jeden Augenblick einen Tumult erregen. (2. Stüssi III/7)
Meiss und Trinkler beklagen sich über das aristokratische Ethos des Gefallenen, dessen Politik auf einer Eiche, nicht auf einer Weide gewachsen war, um mit Christian Weise zu sprechen.54 Zugleich stellen sie pragmatisch fest, dass Zürichs Heil nunmehr in einer Revision der Stüssischen Bündnispolitik liegt, denn auf Dauer würden die Cantons der Stadt ihre „Huld“ nicht verweigern können (was der Historicus Anwyl in seinem Epilog III/8 bestätigt). Überraschenderweise aber vermuten sie von der eigenen Bevölkerung, sie sei inzwischen auf der Seite der Österreicher und anti-eidgenössisch eingestellt; überdies unterstellt Trinkler, der „Pöbel“ sei in der Hand des kaiserlichen Feldhauptmanns Hallwyl, so wie Meiss in 1. Stüssi III/2 behauptete, Stüssi regiere die „Gemeinde […] mit dem Wink seiner Hand“. Glaubhaft sind die politischen Einschätzungen der Bürger allerdings nicht unbedingt: Stüssi selbst war sich der Gemeinde nicht so sicher, wie man von ihm annahm; der Hauptmann Hallwyl hatte, wie zitiert, seine liebe Not mit dem Zürcher Volk, das nur gehorchte, wenn es gehorchen wollte. Überdies gab es die Situation, dass Zürich zwischen den Eidgenossen und Österreich lavierte, genau fünfzig Jahre zuvor auch schon einmal; und dass das Zürcher Stadtvolk nicht so leicht zu Österreich zu bekehren ist, hatte man damals schon gesehen. Die Situation von 1393 ist das Thema des „TrauerSpiels“ Rudolf Schöno, das Bodmer 1761 schrieb.55 Auch hier bedauern vornehme Zürcher die Umwandlung der ritterlichen Stadt in eine Republik mit Zunftverfassung. Bürgermeister Schön aber und der mit ihm gemeinsame Sache machende Zunftmeister Johannes Erishaupt wollen das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen und Zürich mit Österreich-Habsburg aussöhnen und der Stadt wieder ein adliges Flair geben. Der österreichische Herzog Leopold IV. hat natürlich ebenfalls ein großes Interesse daran, Zürich aus dem Lager der Eidgenossen herauszubrechen und diese so zu schwächen, dass eine Revanche für die Vernichtung des habsburgischen Ritterheeres bei Sempach möglich wird. Für seine Bemühungen um Österreich erntet der Bürgermeister das Lob der Väter, die den ritterlichen Zeiten nachtrauern: THYO, DER ALTE. Laß mich dich, edler Mann, für deine guten Verrichtungen, umarmen: Das Vaterland umarmet dich durch mich. Du hast den Eingang gemacht, Zürich von einer Verbindung zu befreyen, die drohte, sie dem Eigensinn der Popularen Länder abhängig zu machen. Du hast das Mark in meinen alten Beinen erquikt.
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Siehe oben S. 139. ZBZ Ms. Bodmer 26.2 (zit. nach einer von mir angefertigten Transkription unter Angabe von Akt/Szene; zeitgenössische Abschrift in: ZBZ Ms. W341).
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SCHÖNO, DER JUNGE. Noch ist die Frucht im Keime; aber wann der Himmel Glük gibt, und der Raht behält die Wohlfahrt der Stadt im Auge, so soll Zürich noch einmahl in dem Glanz erscheinen, den ihm der niederträchtige Brun beschnitten hat. (I/3)
Noch bevor das neue Bündnis zwischen Zürich und Österreich besiegelt ist, bekommen die Eidgenossen von den Verhandlungen Wind und schicken Gesandte nach Zürich, die Stadt zur Treue zum Ewigen Bund, dem sie 1351 beitrat, zu ermahnen. Man könne nicht zugleich mit Österreich und den Eidgenossen befreundet sein, denn die Habsburger seien die geborenen Todfeinde der eidgenössischen Freiheit und Unabhängigkeit; und um sich aus der Unterthänigkeit […] zu befreyen; dazu ist gewüß die Freundschaft mit Herren nichts nüze; sie selbst ist Unterwürffigkeit, Dienstbarkeit. Unser System, unser politischer Plan soll beständig dem ihrigen entgegen gesezt seyn. Wie sie immer darauf umgehen, daß sie der Freyheit Bande anlegen, und die Freyen in Unterthanen verwandeln; also sollen wir arbeiten, daß wir die Fesslen auflösen, und freye, populare, unabhängige Staaten machen, die mit uns einerley Rechte haben, die Rechte der Menschlichkeit; die den Genuß derselben zu behaubten, gleiches Intereße haben, die unser, wie wir ihrer benöthiget sind. […] Mögen die Länder eine populare Regierung annehmen, die Städte eine mehrers untergeordnete, Zünfte, oder Räthe von Edlen, oder von beyden gemischt. An denselben werden wir eine Barrière haben, die uns von Herzogen und Königen einzaünen wird. Diese neuen Republiken sollen sich den deutschen Provinzen in neuem Reize zeigen, der sie begierig machen wird nach Gleichmäßigem zu streben, und wann die Vorsehung ihre Unternehmungen beglüket, können unsere Enkel die Zeiten erleben, da Europa so viel Republiken zählet, jede von ihrer besonderen Art, und jede frey und von den anderen unabhangend, als dieser Welt-Theil in unseren knechtischen Tagen Herzogen, Grafen, und Twing-Herren duldet. (II/1)
Diese schöne Utopie einer sich stetig durch Vorbildlichkeit vermehrenden Freiheit, die der Schwyzer Arnold im Werd entwickelt, hält Bürgermeister Schön für nichts „als süße Träume“ (II/1). Die militärische Macht Habsburgs sei auf Dauer zu groß. Außerdem könne man die Freiheit nicht mit unrechten, d.h. kriegerischen Mitteln erringen. Arnold im Werd antwortet ihm: Wir denken, daß den Menschen, die sclavischen Fesslen abzunehmen, ein eben so erlaubter Krieg sey, als der Erste Krieg gewesen, der geführt worden, sie ihnen aufzuthun; dann die Nationen alle sind doch einmahl frey gewesen, und frey hatte die Natur sie gemachet. (II/1)
Da offizielle Vorstellungen beim Rat der Stadt nichts fruchten, da Schön und Erishaupt ihre Ratsherren genugsam im Griff haben, wenden sich die eidgenössischen Gesandten an die Zünfte, an den Rat der 200 und an das Volk, um den Abfall Zürichs zu verhindern. Der Luzerner und der Schwyzer Gesandte wenden sich auf einem „offenen Platz“ genau in der Mitte des Stücks an „ein halbes Dutzend“ gemeiner Bürger, die sie an die gemeinsamen Waffengänge gegen Habsburg erinnern; an die Unterdrückung, die sie vor der Zunftrevolution litten; und an „die Pflichten der Freundschaft“, die sie ihnen auch künftig schuldeten, etwa indem sie die eidgenössischen Kriegsknechte verpflegen könnten. Zugleich legen sie Beweise für die geheimen Zusatzklauseln im Vertrag zwischen Zürich und Leopold von Öster-
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reich vor, die nach einer Schonfrist von sieben Jahren verlangen, dass Zürich mit Österreich gegen die „Löbliche Eydsgenoßenschaft“ ziehe. Das Volk ist empört: MÜNCH WIHRT. Wir wollen nicht gegen unsere Eydsgenoßen zu Feld gehen. PETER RAPPE. Unser Korn-Markt soll ihnen allemahl offen stehen, wir wollen ihnen Brodt zukommen laßen, so lange wir selbst haben. Der Hunger bricht Mauren. Menschen und Thiere müßen zueßen haben. LEBERKÄS. Der Teufel trage den Ersten gen Holz, der mit einer Österreichischen Fahnen ins Feld ziehet. (III/3)
Ein hinzutretender Zunftmeister aus dem Rat der 200, der die Agitation belauscht hat, schreitet ein („Nicht zu rasch, gute Leuthe! öffnet die Augen euers Verstands“). Er legt den Bürgern dar, dass man nicht verbunden sei, gegen göttliches und menschliches Recht seinen Bundesgenossen beizustehen. Und die Fehde der Eidgenossen gegen Österreich sei „aus Übermuth, Haß, Eifersucht“ und „Herrschsucht“ geboren. Das Volk ist abermals empört: LEBERKÄS. Wir haben Püffe genug empfangen, wir wollen nicht aus Muthwillen mehrere holen. MÜNCH WIHRT. Wir haben uns lange genug auf den Bauch tretten laßen, wann die Österreicher in die Schwyzeriche Berge haben einrüken wollen. PETER RAPPE. Wann die Eydsgenoßen aus Übermuth ins Feld gehen, so wollen wir das Brodt nicht unseren Kinderen nehmen, und ihnen geben. LEBERKÄS. Ich wollte auf die Mahnung der Eydsgenoßen nicht meinen unschuldigen Hund todtschlagen. (III/3)
Beide Parteien wenden sich also an das Mitleid und vor allem an das Gerechtigkeitsempfinden des Volks, um es auf ihre Seite zu ziehen. Wie der Streit ausgeht, ist in dieser Szene nicht mehr zu erfahren, da Bürgermeister Schön auftritt und („Was habt ihr mit diesen guten Leuthen zu verhandeln? Mich dünkt, […] daß ihr hier Tumult erregt“) die Gesandten unter Hausarrest stellen lässt. In den Zünften waren derweil aber andere Gesandte tätig und haben „die unverwahrten Gemüther der Bürger gänzlich vergiftet“, wie Erishaupt zu berichten weiß: „Der Handel siehet lausigt aus“. Bürgermeister Schön pflichtet ihm bei: „Wir müßen da einen muthigen Streich thun, oder wir kommen in Gefahr, das Opfer zu werden.“ (III/5) Doch im Kleinen Rat, im Rat der 200 und in der Gemeinde hat sich die Mehrheit inzwischen auf die Seite der Eidgenossen geschlagen. Schön ist enttäuscht und hält den Entschluss, den Freundschaftsvertrag mit Österreich aufzuheben, für „kleinmüthige Zagheit“ und unvernünftig. Ich dachte, daß die Nothwendigkeit, uns mit dem Hause Österreich zu versöhnen, wann wir nicht über kurz oder lang wollen nieder getreten werden, ihnen unfehlbar einleuchten müße. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß mann sich an dem Artikul ärgeren würde, der sagt: ‚Wir sollten den Eydsgenoßen nicht helffen, wann sie mit Österreich einen muthwilligen Krieg anfiengen, wie dieser lezte Feldzug gewesen war.‘ (IV/1)
Das allerdings ist ein Hauptproblem von Bürgermeister Schön: Seine Einschätzung der Lage war nicht richtig, und zwar nicht nur, was die mangelnde ritterliche 273
„Standhaftigkeit und Großmuth“ bei Rat und Volk angeht, sondern auch was die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Österreich angeht: Wie die Geschichte gezeigt hat, ist es Habsburg nie mehr gelungen, die abtrünnigen Kantone und eidgenössischen Städte wieder zu unterwerfen. Dies ist auch allen Lesern des Stücks bewusst gewesen. Außer seinem historischen und politischen Irrtum wird Schön und vor allem Erishaupt auch ein gewisser Hang zur Despotie zugeschrieben. Sie verachten beide den Pöbel und träumen von einer aristokratischen Kultur. Schön bekennt am Ende, dass er von „Ehrbegierde“ besessen war: „Ich muß arbeiten, die Ehrsucht zu bekämpfen“ (V/3). Immerhin wollte er nie so weit gehen wie sein „getreuester Gefährte“ und „sicherster Freund“ (ebd.) Johannes Erishaupt. Dieser wäre auch dazu bereit gewesen, die gemeinsame Sache mit unbilligen Mitteln zu verfechten (III/6: „Sind wir überstimmet, so müßen wir versuchen, ob wir, durch eine kühne, blutige That, Schreken um uns verbreiten können“). Die „Eydsgenoßen“ hätten unsere Nichtdenkenden Züricher Ungehorsam und Aufruhr gelehrt. Von ihrem Geist angefeuret, goßen der Einsidler, der Ernst Grüninger, Peter Rappe, und Leberkäs ihre Worte der Lästerung mit so unverschämter Gottlosigkeit aus. Oh, wir haben gefehlt, daß wir nicht den Ersten, der geschryen hat, mann sollte das Geschäft für die Gemeind bringen, an den Kopf geschlagen haben. Und hätte ich nicht euer Verbott in euren Gesichts-Zügen gelesen, Herr Schöno, so hätte ich in dem geseßenen Großen Rath das Schwerdt auf diese Meineydigen Verräther gezogen. […] Das Blut würde mildiglich durch den Großen Raths-Saal gefloßen seyn; und die trozigen Stimmen wären im Augenblik gesunken. (IV/1)
Für dergleichen Maßnahmen war Schön aber nicht zu haben („Das Leben meiner Mitbürger ist in meinen Augen kostbar, selbst deren, die sich haben verführen laßen“). Er will sich den Beschlüssen der Versammlung unterwerfen, selbst wenn er vom ‚wütenden Pöbel‘ zum Tode verurteilt würde: „Ich stelle mir kein gelinderes Schiksal vor, und ich erwahrte es mit dem Muth eines Manns, der recht gehandelt hat. Ein Patriot unterscheidet sich nicht allein durch nüzliche Unternehmungen, sondern noch mehr durch schuldloses Leiden.“ (IV/1) Wie Bürgermeister Stüssi in dem zuvor erwähnten Stück Die Schweizer über dir Zürich ist Schön mit sich und seinem Gewissen im Reinen, auch wenn die Nachkommen seine Handlungsweise nicht ganz so günstig sehen sollten.56 Jedenfalls 56
Bodmer immerhin sah ihn günstiger als die Historiografie sonst und benutzte die Figur auch als Sprachrohr, z.B. in der Szene IV/2, wo Schöno sein politisches Testament formuliert, das gegen die Existenz von Untertanenlanden in den Stadtrepubliken gerichtet ist, ein Herzensanliegen Bodmers: „SCHÖNO, DER BÜRGERMEISTER. […] Aus Liebe zu ihrer Wohlfahrt will ich euch einen Gedanken mittheilen, erweget ihn künftig, und erinneret euch meiner darbey, wann ihr euer Ansehen in Zürich und bey den Eydsgenoßen bevestiget habet. Mann muß den Cantons einen allgemeinen Senat geben, in welchem die Majestät aller Cantons vereiniget ruhe. Die Raths-Glieder deßselben müßen in proportionierter Anzahl von dem Volk in den Cantons erwählt werden. Von diesem Senate müßten alle obrigkeitliche Ämter in denselben besezt werden. Dadurch werdet ihr eine Einigkeit bey ihnen erhalten, die sonst die Ungleichheit der Macht, wann sie bald Herrschaften bekomme, zu zerstöhren drohet. Ihr werdet so der Ehrsucht und dem Neid zuvorkommen, ihr werdet mehr Mäßigung, mehr Consistenz, mehr System in die
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billigten seine Zeitgenossen Schöns politischen Plan eines Ausgleichs zwischen Österreich und den Eidgenossen mehrheitlich nicht; der „Pöbel“ sieht vielmehr die Letztgenannten „für seine Beschützer an, die ihn von dem Österreichischen Joch befreyen“ (IV/2), und setzt Schöns Amtsentsetzung und Verurteilung durch. „Zwahr der Pöbel raset, er denkt jezt nicht, er kennt sein Beßtes nicht: Aber es sind rechtschaffene, edle Männer übrig, die euch seiner Raserey nicht Preis geben werden“, versucht Heinrich Meiss den Bürgermeister zu beruhigen (IV/2). Auch dessen Schwester weiß, dass die „besten“ und „rechtschaffensten“ Männer, „die Zürich hat“, „sich geschäftig“ zeigen, „die Wuth der Gemeinen zu besänftigen. Selbst diese Diener der Zweytracht, die Botten der Cantons, nehmen sein Leben in ihren Schuz“ (V/1). Und in der Tat verläuft die anfänglich tumultöse Volksversammlung bald wieder in geordneten Bahnen, so wird berichtet: Als er [Schöno] auf den Plaz kam, umgab ihn so gleich ein Haufen der nichtswürdigsten Leuthen, sie griffen ihn an, und klemmten ihn auf eine ungestüme Art, wir mußten ihn mit Gewalt aus ihren Klauen reißen. Die Herren von den Cantons nahmen ihn sorgfältig genug zwischen sie; der Tumult wüthete erschreklich: Kein artikulierter Laut ward gehört, als rasende Stimmen: Mann muß den Verrätheren die Köpf abschlagen. In den Wellenberg mit diesen Österreichischen Hunden. Herr Meiso, Herr von Seon, Herr ab Jubenburg, Herr Kilchmatter schrien sich heieser, daß mann bey dem Bürger-Eyde still seyn sollte. Als der Lärm ein wenig geseßen war, zog Herr Schöno seinen eigenen Degen aus der Scheide und rief: Wann ihr so durstig nach meinem Blute seyt, da habet ihr meinen eigenen Degen, mich zu durchbohren; so thut ihr, was Mörderen zukommt, und ich leide den Tod eines redlichen Zürichers ohne Zittern. Aber der Einsiedler nahm das Wort, und beschuldigte ihn, daß er der Erfinder, der Angeber, und das Werkzeug der Neuen Traktaten gewesen, und daß er mit seinem Unterhändler, dem Erishaupt, die Räthe verführet hätte. Sie hätten einen Anschlag gemachet, dem Herzog die Stadt zu öffnen, er sollte hier seinen Waaffen-Plaz aufgerichtet haben. Albrecht Gloggner, Peter Rappe, und Leberkäs schreyen unter tausent Flüchen, daß mann sie, und alle, die von dem
Unternehmungen des Senates, und mehr Gerechtigkeit, mehr Rechtschaffenheit in die gerichtlichen Geschäfte bringen. / HEINRICH MEISS. Die Cantons werden schwehrlich zu bereden seyn, daß jeder von ihnen die Hoffnung, die er haben mag, sich selbst größer zu machen, der Begierde aufopfere, das ganze Corps mächtiger zu machen. / SCHÖNO, DER BÜRGERMEISTER. Fürchtet ihr selbst, daß der Eigennuz schon so vesten Fuß bey ihnen gewohnen habe? Könnet ihr einige Dauer einem verbundenen Corps versprechen, welches die Tugend nicht besizt, seine Begierden dem allgemeinen Wohl zu vergeben; die Tugend, die jeden freyen Staat für sich erhalten muß. Ihre sicherste Macht würde seyn, wann sie jede eroberte Provinz zu der freyen Regierung erhöben, die sie selbst genießen. Aber wann sie die Eroberungen behalten wollen, so sollte das in gemeinem Nahmen geschehen. Sie sollten das Corps und nicht ein Glied deßselben vergrößeren. Die Mißform in einem menschlichen Körper, wo der Kopf oder ein Arm eine Riesen-Größe habt, ist nicht häßlicher oder hinderlicher, als die Ungestalt in einem allierten Corps, in welchem etliche Mitglieder eine übermäßige Größe bekommen. / HEINRICH MEISS. Ich bewundere den gesezten Muth, der in dieser Crisi seiner Umständen so mit kaltem Geblüte dieser tiefsten Politik nachhängen kann. / SCHÖNO, DER BÜRGERMEISTER. Ich habe diese Begriffe nicht erst seit gestern in meinem Kopfe genähret. Doch auch jezt ist mein Kopf ganz heiter, seitdem mein Gemüth sich mit seinem Schiksal bekannt gemacht hat. Ich sehe es vor mir, mann wird mir das Leben nehmen; oder es eine Gnade heißen, wann mann mich nur aus meiner Vater-Stadt verjagt. Jedesmahl werde ich dem Rath und der Stadt absterben müßen. Dann, Herr Meiso, will ich meine obigen Betrachtungen, als ein Politisches Testament zurüklaßen, und wann sie euch anstehen, so möget ihr die Vollziehung davon übernehmen.“
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Bunde Wissenschaft gehabt hätten, an der Folter fragen sollte. Mann sollte dreyßig Männern volle Gewalt geben, das Geschäft zu untersuchen, und die Fehlbaren zu straffen; hernach den Geschwohrenen Brief zu übersehen. Aber die Gesandten der Cantons schwuhren bey allen Heyligen, sie wollten nicht zugeben, daß mann jemanden am Leib straffete, sie hätten genug, daß der Neue Bund abgethan würde. Die Zweyhundert sollten zusammentretten, und in der Gegenwahrt der Gemeinde das Urtheil sprechen; mann bedörfte keiner weiteren Untersuchung. Meiso sagte viel Gutes von Herrn Schöno. Und dieser böse Pöbel ward so billig, daß er ihn selbst vernehmen wollte. Herr Schöno sagte wenig Worte: Er läugnete die falschen Zulagen, und bekennte doch, daß er Österreich und Zürich gern wieder auf den Fuß gesezt hätte, wie sie vormahls mit Nuzen und Ehren gestanden wären. Er hätte die Macht dieses Herzoglichen Hauses überschlagen, und gefunden, daß die Cantons, anstatt sie zu brechen, in dem allzu ungleichen Streite unterliegen müßen. Er hätte die gute Meynung von der strengen Gerechtigkeit der Eydsgenoßen gehabt, daß sie durch ein unüberlegtes, herrschsüchtiges, gewaltthätiges Betragen Zürich nimmermehr in die Nothwendigkeit sezen würden, die Neutralität zu ergreiffen, die in dem Neuen Vertrage nur auf solchen Fall versprochen wäre, viel weniger ihre Waaffen mit Österreich zu vereinigen. Was billiger seyn könnte, als einer Mahnung der Cantons allemahl eine scharffe Untersuchung folgen zu laßen, und sie nicht anzunehmen, wann der Feld-Zug nicht zur Beschüzung gegen ungerechte Angriffe vergnohmen wäre. Herr Schöno redete dieses mit einer anständigen Kühnheit, die seinem edlen und aufrichtigen Charakter geziemend war. Er fügte hinzu, daß er durch keinen anderen Gewalt, als die Macht der Vorstellungen, seine Miträthe verführet hätte. Diese sagten auch wenige Worte, doch mehr zur Entschuldigung, als zur Rechtfertigung. Die Zweyhundert tratten in einen Ring; Herr Schöno und Sechszehen von den Räthen wurden verurtheilt, daß sie nimmer in den Rath kommen sollten; Erishaupt und einige andere ward über dieses die Stadt verbotten, und die Stätte angewiesen, wo sie in gewüßen Gränzen bleiben möchten, 6, 10, und 12 Jahre, etlich auf die Zeit ihres Lebens. Jezt sind sie begriffen, die Gewalt des Burgermeisters enger einzuschränken, und anderen Personen an der abgesezten statt einzusezen. Sie erwählen ordenlich die Personen, die den Cantons angenehm sind, und ihnen zu dem Aufstand die besten Dienste gethan haben. (V/2)
Aus dem anfänglich schwankenden und schließlich empörten gemeinen Volk ist am Ende eine staatstragende Volksversammlung geworden, die die Anklagen formuliert und die Vernehmung durchführt, ein Verfahren, das mit einem relativ milden Urteil endet, das der Große Rat der Zweihundert stellvertretend im Namen des souveränen Volks spricht („Obrigkeiten“ sind solche nur „in so weit sie das Volk repræsentieren“, heißt es am Ende des Stücks). Allerdings fragt der adlig gesinnte Vater Schön seinen als Bürgermeister abgesetzten Sohn: „Was hast du in einem Staat verlohren, wo die Obrigkeit keinen abgesonderten Stand ausmacht, der dem Volk entgegen gesezt wäre?“ (V/3) In diesen Status hat Zürich, so wird in dem Stück mehrfach gesagt, „der niederträchtige Brun“ gesetzt. THYO, DER ALTE. […] O Himmel! Brun hat diese blühende Tage unserer Jugend, und der guten Stadt Zürich in schwehre, unedle, und unfaßliche Zeiten verwandelt. Sein Aufstand jagte mit den alten Regenten den besten Adel aus unserer Stadt. Und die adelichen Sitten bekamen eine gewüße Mischung durch den Umgang mit den gemeinen Familien, die in das Regiment kamen. SCHÖNO, DER ALTE. Oh! es ward immer übler, als er eine so vertrauliche Gemeinschaft mit den Wild-Schüzen und Vieh-Hirten von Schweiz und Altdorf aufrichtete. Zürich ward in wenigen Jahren eine bäurische Stadt.
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THYO, DER ALTE. Eine Stadt mit Unruh und Krieg erfüllt; die Edelsten haßeten sie, und die Gewaltigsten feindeten sie an. Sie hat mit der Freundschaft der Popularen Orte die Feindschaft aller Herren zwischen der Donau, der Aar und der Reuße gewonnen. (I/1)
Was die Alten hier beklagen, setzte Bodmer in seinem vielleicht gelungensten Zürich-Stück in Szene: Rudolf Brun, ein Politisches Trauerspiel. Daher sei auf dieses Stück ausführlich eingegangen. Öffentliche Politik und individuelles Gewissen: Rudolf Brun Ein Geist der Unruh und des Mißvergnügens hat Zürich eingenohmmen. Er ist sehr geschäftig, Tumult und Aufruhr zu brüten, die Verbitterung der Gemeind wächst augenscheinlich, sie will schlechterdings von dem Rathe Rechnung seiner Haushaltung haben. Hier steht ein Schwarm, und dort ein Schwarm, sie schreyen, der Rath sey nur Schafner des gemeinen Guts,
nicht aber dessen Eigentümer (I/1).57 In diesen ersten Sätzen des Stücks wird die Situation in Zürich exponiert: Dem Rat der Stadt steht die Gemeinde gegenüber. Die Gemeinde, das heißt die Gesamtheit der Bürger, die als Volksversammlung in Erscheinung tritt, hält sich für den Souverän der Stadt und den Rat für ein ausführendes, ihr Rechenschaft schuldiges Organ. Der Rat wiederum, bestehend aus Rittern und Patriziern, hält sich als gottgegebene Obrigkeit den Untertanen nicht für verpflichtet und verweigert daher zunächst die Rechnungslegung. Exponenten der beiden Parteien sind der Leinweber Eberhard Erishaupt auf Seiten der Gemeinen und der Ritter Rudolf Biber auf der Seite des aktuellen Rates. Biber will den Aufstand mit Gewalt niederschlagen, Erishaupt am liebsten die Reichen entmachten und enteignen. Zunächst behalten die gemäßigten Kräfte die Oberhand: auf Seiten des Rats die beiden Ritter Manesse, auf Seiten des Volks der scheinbar für dessen Sache eintretende ehemalige Rat Rudolf Brun. Dieser rät in der Volksversammlung, die gerechte Forderung nach Rechnungslegung als untertänige Bitte durch eine Abordnung vortragen zu lassen, worauf der Rat sich auch zum Kompromiss anschickt und gerade „im Begriffe“ steht, „die begehrten Articul einzuräumen“, als das „Complot“ Bruns greift (II/2). Dieser spielt nämlich ein doppeltes Spiel. Er geriert sich als Volksfreund und ausgleichende Kraft, lässt aber heimlich das Gerücht von seiner und der Volksvertreter Verhaftung ausstreuen, worauf das Volk aufsteht, das Rathaus stürmt und den Rat absetzt. Es wird eine neue Verfassung eingeführt, die den Gemeinen Stimmrecht und die gleiche Zahl von Abgeordneten im Rat gibt, wie sie die Edlen haben. Auf diese Art wird das Volk zufrieden gestellt, das die geforderte Zunftverfassung erhält, die zugleich für Aristokraten wie Brun und seinen prospektiven Nachfolger Rüdiger Manesse ein Mittel ist, das Volk unter Kontrolle zu halten. 57
ZBZ Ms. H431 (zit. nach einer von mir angefertigten Transkription unter Angabe von Akt/Szene; zeitgenössische Abschriften: Ms. Bodmer 24.15, in: J614, P6133.1, P6189, W341, W355).
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Dazu dient auch die Einführung des dem Rat übergeordneten Bürgermeisteramts, welches Rudolf Brun „auf seine Lebenszeit gegeben“ (III/4) wird. Die alten Ratsmitglieder werden aus Zürich verbannt. Das Stück schließt mit der Szene des Abschieds Rudolf Bibers von seiner Frau, die Brun verflucht und die Trennung von ihrem Mann mitleiderregend beklagt: O ich könnte dem bösen Manne eine lange Winternacht fluchen, und mir einbilden, daß es nur eine stinkende Minute gewesen wäre. – Aber ich habe die schnellen Stunden beßer zu brauchen. Gebet mir die Hand, daß ich sie mit meinen Angstthränen neze: O könnte dieser Kuß sich in eurer Hand eindrücken, daß ihr dabei an die denken möchtet, welche täglich tausend Seufzer für euch athmet! Wann ihr werdet gegangen seyn, so werde ich erst meines vollen Kummers ermeßen können […]. Aber ich will arbeiten, eure Verbannung aufzuheben, oder man muß mich selbst verbannen. Nur dieses Vorhaben hält mich zurücke, daß ich nicht mit euch gehe. Ich wollte keinen geringeren Muth bei gleicher Treue bezeigen, als das Nußbraune Mädchen (III/6).58
Wichtig ist für den Eindruck, den das Stück macht, dass es ausgerechnet mit einer empfindsamen Szene zwischen den reaktionärsten Personen des Spiels endet. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass politisch gesehen weder Biber noch seine Frau in Bodmers Stück Sympathieträger sind. Biber plant im ersten Akt ein Blutbad unter den Bürgern, dem „Lumpen-Volk“ (II/2),59 wie er sie nennt, und seine Frau begibt sich extra in ein Haus, dessen Fenster auf den Platz vorm Rathaus gehen, damit sie von dort die Abschlachtung besser beobachten kann; beide freuen sich auf den Augenblick, da die popularen „Gänseköpfe auf dem Boden herum hüpfen werden“ (I/2). Solche Charaktere desavouieren ihre Ansichten vom „göttlichen Ursprung“ ihres „Regiments“ (I/2) von selbst, zumal wir in der Szene zuvor die gemäßigten Ratsherren Vater und Sohn Manesse beraten sahen, wie man durch Verhandlungen und Kompromisse „Blutstürzung und Verderben von der guten Statt Zürich“ abwenden könnte (I/1); und in der Szene danach Rudolf Brun über die „bürgerliche Gleichheit“ philosophieren hören (I/3). Der Dramatiker lenkte die Sympathien eindeutig auf Brun, der in der dritten Szene des ersten Akts sich bescheiden, offen und menschenfreundlich gibt. Er äußert hier Maximen, die solche des Autors sind, etwa über die Würde auch der gemeinen Leute: 58
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Die letzte Bemerkung ist einer der bei Bodmer üblichen intertextuellen Scherze. Frau Gutta scheint nämlich das im 18. Jahrhundert ziemlich beliebte schottische Volkslied Das nußbraune Mädchen gelesen zu haben (vgl. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Band 3: Volkslieder / Übertragungen / Dichtungen. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1990, S. 421f.: „Thomas Percy, Reliques of ancient English Poetry, Vol. 2, S. 26“), das Bodmer vermutlich aus Mathew Prior’s Poems kannte; den zweiten Band von Priors Poems (Glasgow 1751), das Henry and Emma (nach dem Volkslied vom nussbraunen Mädchen) enthält, besaß Bodmer (ZBZ Ms. Bodmer 38a). Beide Bibers zitieren zuweilen die volksverächtlichen Aussprüche von Shakespeares Coriolanus (II/3): „the many headed Multitude“ wird z.B. in Rudolf Brun I/2 als „vielköpfige[r] Pöbel“ übersetzt bzw. in Frau Guttas Worten: „Die Gemeinde ist ein vielköpfiges Thier“.
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Ich maaß mir keine Hoheit über sie an; ich gehe mit ihnen wie mit Menschen meines gleichen um; ich kleide mich nicht beßer; ich nehme theil an ihren Lustbarkeiten; ich hüte mich, merken zu laßen, daß sie kleiner oder weniger sind. […] Ich halte die alten Familien für keine Ausnahme der Natur: die Leute von dem vornehmsten Geschlecht haben, wann sie in die Welt kommen, vor dem schlechtesten Pöbel, weder in der Bildung, noch in der Complexion, noch in der Stärke etwas voraus; der Unterschied zwischen ihnen entsteht allein aus einer politischen Verfaßung, die aber mit der Würde nicht zugleich Talente zulegen kann; die Verdienste unserer VorEltern geben uns keine […] Ich glaube, daß man mit einem gewohnlichen muntern Wize die Grundreglen, auf welchen die Ehre und der Nuzen der Staaten beruhet, begreifen könne; dazu gehört dann noch ein patriotisches Gemüth, das gerechten und menschlichen Gesezen sich mit Vergnügen unterwirft; solchen gleichen Gesezen, welche die Oberen sich zuerst unterwürffig machen, und eben dadurch ihr Ansehen und die Hochachtung des Volks verdienen. Mich dünkt, daß diese Unterwerfung, diese Liebe zur Gleichheit sehr mächtig bey Leuten seyn müßte, die noch neulich den Druck der Herrschaft empfunden haben […]. Ich habe ihnen nicht mehrere, aber auch nicht wenigere Fähigkeiten zulegen wollen, als denen Leuten, die aus den Familien gebohren sind. Wann sie erst zu Ämtern kämen, so würdet ihr sehen, in welch kurze Zeit ihre Talente sich entwickeln, und unter der guten Pflege zu großen Tugenden empor steigen würden.
Die Überzeugung von der natürlichen Gleichheit der Menschen; die Überzeugung, dass der Mensch alles, was er ist, „durch die Erziehung geworden“ ist;60 und die Überzeugung, dass auch die Unterschichten bildbar sind,61 hatte sämtlich auch Bodmer selbst und predigte sie bis zuletzt. Trotzdem aber darf man den Dramenhelden nicht mit seinem Autor verwechseln. Denn das Stück entlarvt allmählich Brun als listigen Egoisten, dessen „zügellose Ehrbegierde“ (I/2) sehr wohl von Anfang an auf „die Umstürzung unserer schönen Aristocratie“ (I/3) zielte, was er im ersten Akt noch heftig abstreitet. Die patriotische Tugend der Selbstaufopferung (bzw. II/1: „Verläugnung des persönlichen Vortheils“), die Brun in der Volksversammlung überzeugend demonstriert, ist Bemäntelung einer Intrige, die auf seine Machtergreifung zielt. Das ist für die Leser in gewisser Weise schockierend, weil der Aufklärer, mit dem sie zu sympathisieren gezwungen werden, sich am Ende als machiavellistischer Diktator erweist: „eine fatale Folge der menschlichen Begierden“, wie es früh im Stück heißt (I/3). Man kann zwar für das Thun eines Menschen nicht gut stehen, der Macht in die Hände bekömmt, aber nur darum Laster von einem denken, weil er Gewalt hat, wäre ein Zeichen eines bösen Herzens,
wehrt Rüdiger Manesse in der ersten Szene noch jeden Verdacht von Brun ab (I/1). Es wäre aber womöglich das Zeichen eines klugen Herzens gewesen, die Korrumpierbarkeit des Menschen durch die Macht zu bedenken. Allerdings wird Manesse selbst ein Opfer dieses Mechanismus’. In der Volksversammlung noch als Antipode zur Volkspartei auftretend und die alte Ordnung verteidigend, wandelt er sich 60 61
Discourse der Mahlern, Bd. 1, S. 46 u. 57; Bd. 3, S. 71; Mahler der Sitten, Bd. 1, S. 29f. Vgl. Hans Hubschmid: Gott, Mensch und Welt in der schweizerischen Aufklärung. Eine Untersuchung über Optimismus und Fortschrittsgedanken bei Johann Jakob Scheuchzer, Johann Heinrich Tschudi, Johann Jakob Bodmer und Isaak Iselin. Affoltern 1950, S. 138–142.
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im Laufe des Stücks zu einem Anhänger des neuen Regimes, nicht zuletzt, weil Brun ihn zu einem seiner Stellvertreter macht, der – wie in dem Stück auch angedeutet – später sogar sein Nachfolger werden wird. Rüdigers Vater Ulrich Manesse seufzt denn auch über die Entwicklung seines Sohns: Ach mein Gott, auf was für schwachen Füßen stehet das Lob eines patriotischen Manns, wann es ihm erlaubt ist, seine Gedanken von der Republick, aus Dankbarkeit, aus Freundschaft, aus Absichten mit anderen zu verwechslen, weil ein Mann, der im Ansehen ist, uns liebhat (III/1).
Wie Macht die Moral korrumpiert, zeigte Bodmer auch in seinen Römerdramen. Anders als in diesen Stücken geht es in dem Zürichdrama aber nicht um den Untergang einer Republik in der Dekadenz einer Monarchie, sondern um die Begründung einer Republik. Die von Rudolf Brun 1336 eingeführte Zunft- und Ratsverfassung galt in Zürich in ihren Grundzügen bis 1798, hatte also für Bodmer noch aktuelle Bedeutung.62 In Bodmers Stück von 1758 wird diese Verfassung durchaus ambivalent bewertet. Dass der Rat nach dem Umsturz halb mit Patriziern, halb mit Bürgern besetzt ist, wird als Fortschritt gegenüber der vorher bestehenden Oligarchie gewertet. Es gilt als natürlicher Lauf der Dinge, dass „allemahl das ältere dem neueren Platz machet“, wie es in dem Stück heißt (III/2). Damit ist aber noch nicht über die Qualität des Neuen entschieden. In dieser Hinsicht macht einer der ritterlichen Räte, die zur Partei der Revolution übergingen, eine interessante Anmerkung: Wir haben nicht gefunden, daß die vorige Verfaßung die beste war; wann sie es aber war, so ist die neue auch eine beste; es können wohl verschiedene beste Regierungsformen seyn. Eine beste Regierungsform, eine beste Welt ist ein Widerspruch; aber viele beste Welten, und Regierungsarten möchten wol angehen (III/5).
„Das ist entsetzlich fein gedacht“, macht sich einer der alten, ins Exil gezwungenen Räte lustig: „Welche scharfe Augen muß der Verstand haben, der diese Subtilitet, viele beste Welten, entdekt hat!“ (Ebd.) Was Bodmer mit dieser offensichtlichen Ironisierung eines frühaufklärerischen Philosophems beabsichtigte,63 ist nicht völlig klar; auf alle Fälle markiert aber dieser Witz, wie oft bei Bodmer, ein Problem.64 Zwar hielt er den Brun’schen
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Vgl. Martin Illi: Brun’sche Zunftrevolution. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. v. der Stiftung HLS, Bern. 13 Bde. Basel 2002 ff. (auch online abfragbar: http://www. hls-dhs-dss.ch; der Text von Illi (datiert auf den 31. März 2003) unter der URL-Erweiterung /textes/d/D30735.php; Karl Dändliker: Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich. 2 Bde. Zürich 1908–1910, Bd. 1, S. 126–145. Auf eine etwas andere Weise ist die Idee von der einen, besten aller möglichen Welten, die in der Regel Leibniz zugeschrieben wird, von Voltaire in dem übrigens fast gleichzeitig geschriebenen, ein Jahr später erschienenen Candide (1759) auf die Schippe genommen. Goethes bekannte Äußerung zu Georg Christoph Lichtenberg (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München 1981, Bd. 8, S. 475, Nr. 97: „wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen“) könnte man sehr gut
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Umsturz, der aus einer Aristokratie wenigstens eine halbe Demokratie machte, für gut;65 sein Stück endet aber beinahe wie eine Bestätigung der Behauptung des Reaktionärs Rudolf Biber, der am Anfang meint, „Freyheit“ sei „ein Modewort von einem seltsamen verführerischen Tone, das bey jedem dasjenige bedeutet, was seinen Begierden Lohn macht und seinem Eigennutzen schmeichelt“ (I/2). Die vier letzten Szenen des dritten Akts sind alles andere als optimistisch. Eine mehr oder weniger ‚possenartige‘ Szene mit zwei einfachen Handwerkern zeigt die entsetzliche Unreife des Volks, das sich von den Zunftmeisterwahlen vor allem Bestechungsgelage erwartet (III/3); der Minnesänger Johannes Hadloub beklagt, dass aus dem blühenden Zürich eine kulturelle „Wüste“, eine „Barbarei“ werden würde, weil man den niederträchtigen Pöbel an der Regierung beteilige und die reichen Aristokraten der Stadt verweise (III/4); in der vorletzten Szene fällt die neue Regierung mit der Arroganz der Macht ihr „hartes Urtheil“ (III/5) über die Mitglieder der alten Regierung; und zuletzt vernehmen wir den prophetischen Fluch des unsympathischen Ehepaars Biber über die Stadt und werden Zeugen ihres rührenden Abschiedsschmerzes (III/5). Der Handlungs-Struktur des Stücks eignet eine semantische Ambivalenz, die den von Bodmer publizierten Antiken-Dramen nicht eigen ist. Offensichtlich hielt Bodmer seine Zürich-Dramen, die er ja nur in Abschriften kursieren, aber nie drucken ließ, nicht geeignet für eine breitere Öffentlichkeit, schon gar nicht für eine Öffentlichkeit in monarchischen Staaten, die an solche Ambivalenzen kaum gewöhnt war. Die Zürich-Dramen hielt Bodmer, der sich in den frühen 1770er Jahren seine frühen Stücke noch einmal, gelegentlich mehrmals, ansah,66 immer noch nicht für veröffentlichbar. Der Grund war sicher nicht der Spott seiner Zeitgenossen in irgendwelchen Rezensionsorganen. Diesen Spott war er seit seiner ersten Dramenpublikation gewöhnt; auch hat sich Bodmer von ihm 1775 nicht abhalten lassen, Die gerechte Zusammenschwörung (1762) zum größten Teil als Schweizerische Schauspiele mit dem Separatschluss Der Haß der Tyranney und nicht der Person, Oder: Sarne durch List eingenommen zu publizieren. Vielmehr schienen
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auch auf Bodmer beziehen. Dessen Scherze markieren oft nicht aufgelöste gedankliche ‚Knackpunkte‘ in Bodmers Argumentation oder Dramaturgie. Man könnte versucht sein, die Absetzung und Verbannung der alten Räte als Revision des Henzi-Prozesses von 1749 zu lesen. „Man sagt itzt öffentlich, daß die Absicht der Zusammenverschworenen nicht gewesen, das Leben, die Güter oder die Freiheit irgendeiner Person anzugreifen; daß sei keinen andern Endzweck gehabt, als Vorstellungen zu tun“, berichtet die Berlinische privilegierte Zeitung (Bericht aus Basel vom 26. Juli 1749; vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 2, S. 765). Den Verschwörern um Henzi erging es ähnlich wie Rudolf Brun: Der Rat ergriff Zwangsmittel, nur dass in Henzis Fall kein Volk den Verschwörern zu Hilfe kam; Henzi und seine Mitverschworenen Wernier und Fuetter wurden am 17. Juli 1749 enthauptet. Die Handschriften des Nachlasses belegen eine Durchsicht des Rudolf Brun mindestens im Februar 1770 und im Dezember 1773; Schweizer über dir Zürich wurde mindestens im März 1770 neu durchgesehen; Schöno erst mit der zweiten Durchsicht des Brun im Dezember 1773 kontrolliert.
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ihm die in den Zürich-Stücken diskutierten politischen Probleme eher für die Diskussion in einem engeren republikanisch gesinnten Zirkel geeignet, denn als VorBilder für die Allgemeinheit. Bezeichnend für die semantische Ambivalenz, die dem Stück von seiner Handlungs-Struktur her eignet, ist auch die ambivalente Rolle, die einem der Zentralbegriffe des frühneuzeitlichen Republikanismus zuwächst: ich meine damit die Bedeutung des „Gewissens“, das für Bodmers politische Lehrmeister ungeheuer wichtig war. Das persönliche „Gewissen“ als Instanz der Beurteilung eigener Handlungen wurde im 17. Jahrhundert allmählich zu einer Kategorie, die zunehmend ihre Bindung an den christlichen Glauben verlor. Wenn zum Beispiel in der „ernsthafften Action“ Vom Esau und Jakob Christian Weises ein subalterner Büttel seinem Herrn den Gehorsam mit dem Argument verweigert, er müsse „sein Gewissen“ verwahren (WSW 8, 268), so war er damit weiter als die offizielle Staatstheorie, die in Deutschland erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts diese Möglichkeit zu diskutieren begann.67 Während in England zum Beispiel schon John Locke die Sphäre eines vor Eingriffen der Gesellschaft oder des Staats geschützten Bereichs der Persönlichkeit theoretisch begründete, fand diese Idee „im Naturrecht der deutschen Früh- und Hochaufklärung“ überwiegend „keine größere Beachtung“,68 bis Kant endlich ausdrücklich betonte, wie wichtig es sei, „in allem, was Gewissensangelegenheit ist“, um der persönlichen Ehre und Würde willen sich der „eigenen Vernunft“ frei „bedienen“ zu können.69 In praktischer Hinsicht hatte vor Locke bereits John Milton das „Gewissen“, „the Conscience“, wie es bei ihm hieß, übrigens meistens groß geschrieben, zu dem zentralen Punkt der Selbstvergewisserung gemacht. Welche Bedeutung John Mil67
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Der gerade wegen politischer Differenzen mit seinem Brotherrn aus dem hessen-darmstädtischen Staatsdienst ausgeschiedene Friedrich Carl von Moser machte am Beispiel der alttestamentarischen Geschichte von Daniel in der Löwen-Grube (In sechs Gesängen. Frankfurt a.M. 1763) klar, dass es Situationen gebe, wo „Gottes-Dienst und Herren-Dienst“, „die Ehre der Wahrheit mit der Erhaltung seiner selbst“, „die Pflichten des Gewissens mit denen des Unterthanen“ kollidieren (3. Gesang, S. 66). Wo für den pietistisch gesinnten Publizisten und Politiker die Priorität lag, ist klar; so wünschte er sich, dass Daniels „Exempel“ stets erinnert würde von „allen, die […] des schweren Berufs zu warten haben, Rathgeber der Könige und Fürsten zu seyn“, damit die „Wahrheit […] ihre ganze Denkungs-Art“ bestimme und damit sie „mit Felsen-fester Standhaftigkeit in keine ungerechte Rathschläge […] willigen, noch ungerechte Befehle […] befolgen“, sondern „mit dem starken Helden-Muth, lieber Gut und Blut lassen, als mit Wissen und Willen“ die „stets wache Stimme im Gewissen […] enthören“ (6. Gesang, S. 138–140). Vgl. Matthias J. Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004, S. 368 (mit Bezug auf Diethelm Klippel: Persönlichkeit und Freiheit. Das ‚Recht der Persönlichkeit‘ in der Entwicklung der Freiheitsrechte im 18. und 19. Jahrhundert. In: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hg. v. Günter Birtsch. Göttingen 1987, S. 269–290, hier S. 282–285). Immanuel Kant: Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 11, S. 53–61, bes. S. 60.
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ton für Johann Jakob Bodmer hatte, muss ich nicht ausführen. Es ist bekannt, wie die Behandlung des „Wunderbaren“ durch Milton für die ästhetische Diskussion in der deutschen Frühaufklärung durch Bodmer fruchtbar gemacht wurde. Aber Bodmer hatte auch bereits 1732 im Vorwort zur ersten Auflage seiner Übersetzung von Paradise Lost darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor eigentlich wegen seiner politischen Haltung berühmt war, nämlich als „ein grosser Freund“ Cromwells und des Commonwealth. In der Einleitung zur dritten Auflage des Verlohrnen Paradieses (1754) feierte Bodmer den Engländer dann nicht nur als großen Dichter, sondern auch als großen Republikaner und Demokraten, dessen Gedanken und „Liebe zur Freyheit“ eines Griechen und Römers würdig gewesen seien.70 Das war genau in dem Jahr des Beginns seiner politischen Dramen-Produktion. Für Milton nun war das persönliche Gewissen die Instanz, die es ihm erlaubte, sowohl im Commonwealth als auch in der Restaurationszeit republikanische Freiheits-Ideen zu vertreten. Trotz seiner Erblindung und trotz der politischen Restauration hielt Milton an seiner Lebensaufgabe standhaft fest, wie in dem berühmten Sonett To Mr Cyriack Skinner upon his Blindness beschrieben: […] What supports me, dost thou ask? The conscience, Friend, to have lost them [die Augen] overpli’d In libertys defence, my noble task, Of which all Europe talks from side to side.71
Diese Standhaftigkeit wird nur ermöglicht durch die Treue zu einem „Gewissen“, dessen „Freiheit“ Christus verbürgt. Die Überzeugung, dass die Freiheit und der „Frieden des Gewissens“ durch Jesus Christus dem Gläubigen zugesichert sei, gab Milton die Kraft, wie der Seraph Abdiel in Paradise Lost allein gegen alle zu stehen und zu bestehen. Es ist das Selbstbildnis des Revolutionärs John Milton nach der Restauration, welches das fünfte Buch des Verlohrnen Paradieses beschließt; ich zitiere Bodmers Übersetzung in der zweiten Auflage (1742): „unzählbare fielen treuloser Weise ab, er blieb alleine unbeweglich, unverführt, unerschrocken, bey seiner Pflicht, und verharrete in seiner Liebe und seinem Eifer. Weder die grosse Anzahl, noch das Exempel vermochten etwas mit ihm, daß er von der Wahrheit oder von seiner Beständigkeit abgewichen wäre, wiewohl er alleine blieb.“72 Für dieses Pathos eines Märtyrers liebte Bodmer seinen Milton und er übernahm nicht nur die Haltung, sondern auch die Einstellungen des britischen Poeten und
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Johann Miltons verlohrnes Paradies. Ein Episches Gedicht in zwölf Gesängen. Neu überarb., u. durchgeh. mit Anm. v. d. Uebersezer und versch. andern Verfassern. 2 Bde. Zürich 1754, Bd. 1; zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 90. Milton’s Poems. Ed., with textual introd, by B. A. Wright. Durchges. Aufl. London 1963, S. 85 (Erstdruck des Sonnetts 1694 in den Letters of State). Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Uebers. u. durchgeh. mit Anm. über die Kunst des Poeten begleitet v. Johann Jacob Bodmer. Zürich bzw. Leipzig 1742, S. 252f. (V, 898ff.).
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Pamphletisten. Allein eine freie Republik sei die dem Menschen angemessene Staatsform, so behauptete Milton, denn: „all men naturally were born free“.73 „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten.“ Ein Satz, der zu einem Fanal wurde: der erste Satz des ersten Kapitels des ersten Buchs von Jean Jacques Rousseaus Contrat Social, erstmals gedruckt 1762, eingegangen in den ersten Artikel der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789: „Die Menschen werden frei geboren und bleiben frei und gleich in ihren Rechten“.74 Die Überzeugung, dass alle Menschen frei geboren werden, war nicht neu, sondern antik, aber um 1700 nicht unumstritten. Der bedeutende Kanzelredner Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704), Bischof von Meaux, zum Beispiel meinte im Gegenteil: „Alle Menschen werden als Untertanen geboren.“ Milton und Rousseau dagegen meinten, frei geborene Menschen würden erst zu Untertanen gemacht. Im Übrigen war dies eine allgemein verbreitete Ansicht in der radikalen Frühaufklärung, der „Moderne aus dem Untergrund“, wie sie Martin Mulsow genannt hat; ursprünglich und „der Möglichkeit nach frei“ seien zwar die Menschen, sie sind es aber nicht in der sozialen „Wirklichkeit“, in der sie zu „Untertanen“ und „Untergebenen der Herrscher gemacht worden sind“ und in „Fesseln“ und „Ketten“ leben, schrieb 1717 Theodor Ludwig Lau (1670–1740) in seinen Meditationes Philosophicae de Deo Mundo Homine (4. Kap., § 23 ff.).75 Auch Bodmer war seit seiner Jugend von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen überzeugt, und er eignete sich auch die Idee ihrer ursprünglichen Freiheit an. Kronzeuge dafür war in seinen jüngeren Jahren Milton, spätestens ab 1756 Rousseau, für dessen Verständnis Milton ihn vorbereitet hatte76 und dessen Schriften Bodmer wie kein anderer Zürcher Aufklärer verehrte,77 und zwar auch solche, 73 74
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John Milton: Complete Prose Works. 8 Bde. Ed. by D. M. Wolfe. New Haven 1953–1982, Bd. 3, S. 198. Jean-Jacques Rousseau: Politische Schriften. Band 1: Abhandlung über die Politische Ökonomie. Vom Gesellschaftsvertrag. Politische Fragmente. Übers. u. Einf. v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1977, S. 61 (hier auch zitiert die folgende Bemerkung Bossuets); Chris E. Paschold / Albert Gier (Hg.): Die Französische Revolution. Ein Lesebuch mit zeitgenössischen Berichten und Dokumenten. Stuttgart 1989, S. 96. Materialisten der Leibniz-Zeit. (Friedrich Wilhelm Stosch, Theodor Ludwig Lau, Gabriel Wagner, Urban Gottfried Bucher.) Ausgewählte Texte. Übers. v. Ingeborg Pape. Zusammengest. u. eingel. v. G. Stiehler. Berlin 1966, S. 105f.; Lau war nach Erscheinen der ersten Discourse der Mahler nach Zürich gereist, um Bodmer und seine Freunde kennen zu lernen (siehe Martin Mulsow: Theodor Ludwig Lau. In: Aufklärung 17 (2005), S. 253–255, hier S. 254). Vgl. Gonzague de Reynold: Bodmer et l’école suisse. In: Ders.: Histoire littéraire de la Suisse au dix-huitième siècle. Lausanne 1912, Bd. 2, S. 247f. Mit ebenso großem Recht wie Kant um 1765 hätte Bodmer von sich sagen können, dass ihn Rousseau „zurecht gebracht“ habe, insbesondere auch was die frühere Verachtung des Pöbels bzw. der „gemeinen Arbeiter“ und die Stärkung des Gefühls für „die Rechte der Menschheit“ angeht (Immanuel Kant: Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Neu hg. u. komm. v. Marie Rischmüller. Hamburg 1991, S. 38). Bodmer besaß (vgl. ZBZ Ms. Bodmer 38a) die Abhandlung vom Ursprunge der Ungleichheit der Menschen (in der 1756 erschienenen Übersetzung von Moses Mendelssohn) und die späteren Schriften alle in der jeweiligen französischen Erstausgabe.
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die seinen frömmeren Bekannten erhebliche Bedenken machten, wie die Lettres de la montagne,78 die Profession du vicaire savoyard oder der Contrat social. In Bodmers Dramen sind Sätze wie der folgende aus dem Tarquinius Superbus nicht selten: „Der Mensch ist frey geboren, die Freyheit fließt aus seiner Natur, und sie ist sein ältestes Recht.“79 Dieses „älteste Recht“ wieder herzustellen, ist das Anliegen der meisten von Bodmers dramatischen Demokraten und Revolutionären. Dabei berufen sie sich, ebenso wie Milton etwa, oder auch Rousseau, auf ihr „Gewissen“. Rousseau begründete damit zum Beispiel im Vorwort zu seiner Lettre à d’Alembert, dass er das Buch verfasste: „Muss ich nicht schließlich, auch wenn ich mich irrte, meinem Gewissen und meiner Einsicht nach handeln und reden?“80 Rousseau hat später im Émile (1762) seine Idee von einem nicht mehr religiös gebundenen Gewissen weiter präzisiert: Es verkörpere das dem Menschen angeborene Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, folge stets der Natur und sei daher der von der Vernunft unabhängige wahre Führer des Menschen, und zwar auch „gegen alle menschlichen Gesetze“.81 Eine ähnliche Funktion hat das Gewissen in Bodmers Rudolf Brun, etwa wenn der Ratsherr Ulrich Manesse am Anfang des Stücks sich innerhalb des Rates isoliert fühlt, weil er nach dem handelte, was die „wahre Ehre“ bzw. die „menschlichen Rechte“ von ihm verlangten, nämlich die Forderung der Gemeinde nach Rechnungseinsicht für legitim zu erklären. Seine Kollegen verstünden nicht, beschwert sich Ulrich Manesse, „daß ein Mensch, der nur das Beste der Stadt zur Regel seiner Handlungen nimmt“, dies auch dann „im Auge behält, wenn es gleich mit dem Nuzen der Räthe zu streiten scheint“ (I/1). Der Ratsherr kontrastiert hier Gemeinnutz und Eigennutz, republikanische Tugend und menschliche Unsitte. Aber wie kommt er zur Erkenntnis der Tugend? Rousseau hatte behauptet, diese Fähigkeit sei ein dem Menschen angeborenes „natürliches Gefühl“, dessen Ausdruck das „Gewissen“ ist.82 Ist die Tugend des Republikaners also der Natur gemäß, während der menschliche Egoismus unnatürlich ist? So etwas könnte Bodmer in der Tat gedacht haben; und das würde auch erklären, warum ihm die Schriften Rousseaus seit den beiden Discours als Bestätigung
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Bodmer schrieb über die Lettres de la montagne: „Gewiß haben Sie, als Sie die lettres lasen, alle Schmerzen vergessen, ausgenommen über Unrecht und Unterdrückung“; die Schrift nannte er „eine Wohltat der Vorsehung“ (Speerli: Rousseau und Zürich, S. 40). Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 1, S. 147. Jean-Jacques Rousseau: Schriften. 2 Bde. Hg. v. Henning Ritter. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 337. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Hg. v. Ludwig Schmidts. 12. Aufl. Paderborn 1995, S. 275 u. 303ff. Rousseau hielt „das ganze Naturrecht nur“ für „ein Hirngespinst“, „wenn es nicht auf ein natürliches Bedürfnis des menschlichen Herzens“, dessen Ausdruck das Gewissen sei, „gründet“ (Emil oder Über die Erziehung, S. 239).
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dessen erschienen, was er schon immer dachte.83 In dem Drama jedenfalls antwortet Ulrich Manesses Sohn Rüdiger, er möge sich die Feindschaft seiner Kollegen nicht zu Herzen nehmen: „Mein Vater, ihr seyd es lange so gewohnt, daß ihr rechtschaffen handelt“, auch „wann ihr dafür Niemands Beifall habet, als des inwendigen Zeugen, der in der Brust wohnt“ (I/1). Das heißt nichts anderes, als dass das Gewissen der Maßstab des eigenen Handelns ist, gleichgültig wie die anderen Menschen darüber denken. Aber anders als bei John Milton, dessen „Conscience“ durch Christus zur „Wahrheit“ erlöst wurde, war das Gewissen bei Bodmer nicht mehr durch die Zeugenschaft Gottes definiert, sondern wurde dem Individuum zum Zeugen seiner selbst. Das erinnert sogar in der Formulierung an eine Erklärung des späten Kant in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), wo von dem „Gewissen“ behauptet wird, es sei „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“, was heiße: hier stelle die Vernunft „den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf“.84 Wie dieser Vorgang ganz genau zu denken sei, wusste Kant selbst nicht. In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) nannte er das Gewissen ein „wundersames Vermögen“,85 weil man eigentlich nicht wisse, wo der Maßstab dieses „moralischen Gefühls“ herkomme, da er offensichtlich nicht von Gott stamme und auch nicht erworben werden könne; der Mensch habe es „als sittliches Wesen“, so Kant in der Metaphysik der Sitten (1797), einfach „ursprünglich in sich“.86 Rousseau hatte demgegenüber behauptet, das Gefühl für Tugend und Gerechtigkeit, mithin das auch nach Kant nicht irren könnende Gewissen, sei „angeboren“. Darauf lief es bei Kant letztlich wohl auch hinaus. Nicht aber bei Bodmer. Er war überzeugt davon, dass der Mensch alles, was er ist, durch Erziehung sei. Das bedeutet, dass ihm auch das sittliche Gefühl anerzogen wird, dass sein Gewissen also ein erlerntes Vermögen ist. Dann aber ist das Gewissen nicht unfehlbar einem überindividuellen moralischen Maßstab, nicht dem „moralischen Gesetz in mir“ verpflichtet, sondern nur einem zufälligen unter anderen möglichen.
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Vgl. Cheneval, Francis: „The Reception of Rousseau’s Political Thought by Zurich’s ‘Patriots’“. In: Michael Böhler u.a. (Hg.): Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Genf 2000, S. 425–445, hier S. 429: „Similar ideological positions to the ones held by Rousseau can also be found in Johann Jakob Bodmer’s writing. Long before Rousseau had written his major works, Bodmer was an admirer of nature, of simple life, a fervent advocate of freedom and of the republican organization of the state. Rousseau’s ideas and writings did not change Bodmer’s way of thinking, but they gave his ideas a new voice and a higher form of expression“. Vgl. auch Speerli: Rousseau und Zürich, S. 80–84. Kant: Werkausgabe, Bd. 8, S. 860; vgl. das Bild vom „inneren Gerichtshof“ in der „Metaphysik der Sitten“, ebd., S. 573. Kant: Werkausgabe, Bd. 7, S. 223. Kant: Werkausgabe, Bd. 7, S. 530f. Daher bekannte Kant bekanntlich: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“ (ebd., S. 300).
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Dieser Skeptizismus brach sich in Bodmers Stücken Bahn, wenn das gute oder schlechte Gewissen nicht mehr der objektive Maßstab zur Beurteilung der Tugend ist, sondern subjektiv verfügbar wird, wenn es also nicht nur ein bestes Gewissen gibt, sondern viele beste Gewissen, um es angelehnt an die bereits zitierte Bemerkung des Ratsherrn zu sagen. So stellt sich Rudolf Brun, wie erwähnt, in der Volksversammlung als uneigennütziger Verfechter des Gemeinwohls und des Bürgerfriedens hin, dessen einziger Fehler „die alte Einfalt“ sei. Dass er keine unlauteren Absichten hege, versichere der „Eine in meiner Brust, der mir wegen der Reinigkeit meiner Absichten Zeugniß giebt“ (II/1). Gemeint ist abermals das Gewissen, vor dem sich Brun glaubt verantworten zu können. Allerdings wissen wir aus dem weiteren Verlauf des Stücks, dass Brun keineswegs nur uneigennützig handelt und dass er, wo nicht gelogen, so doch mindestens „listig“ argumentiert hat. Beruft er sich in der Volksversammlung also heuchlerisch auf sein gutes Gewissen? Vielleicht nicht, wenn man bedenkt, was Brun nach dem Putsch als nicht „leichte Arbeit“ der neuen „Herren“ Zürichs bezeichnet, nämlich „ein Regiment zu ersinnen, das unseren Leuten gefällig und zugleich für ihr Naturell und die Umstände der Stadt das bequemste wäre“ (III/3). Dieses „Regiment“ dürfe die „Ungleichheit“ zwischen den Bürgern und den Regenten nicht mehr so groß werden lassen wie vordem, damit die erneute Entstehung von „Haß“, „Neid“ und „Unordnungen“ vermieden werde.87 Um dieses gerechtere Regiment zu etablieren, war es vielleicht nötig, bei dem Grad der Verderbnis in der Stadtrepublik, zunächst „gute Grundregeln zu einem Prinzen oder Doge“ (III/4) zu legen, wie es in dem Stück heißt: Also gewissermaßen die Diktatur eines Wohlmeinenden zu errichten, um das dem Gemeinwohl Dienliche durchzusetzen. Subjektiv hatte Brun also womöglich wirklich ein gutes Gewissen, als er sein doppeltes Spiel spielte, um die Macht in der Stadtrepublik zu erlangen. Immerhin setzt diese Verfahrensweise Brun in ein Zwielicht, und das Drama löst dieses nicht zu Gunsten einer eindeutigen SchwarzWeiß-Zeichnung auf. Brun ist weder ein schlackenloser Bösewicht noch einer jener „blutleeren Fanatiker der Tugend“, die Hans Hubschmid in Bodmers späten Stücken so erschreckten.88 Vielmehr ist dieses politische Trauerspiel mit lauter mittleren Menschen bevölkert, deren moralische Qualitäten nicht eindeutig sind. Bodmer hatte beim Schreiben des Stücks wahrscheinlich vor allem „der wirklichen Geschichte […] nachgegeben“88a, wie er es in einem Brief an Zimmermann im Juli 1758 formulierte: Das heißt, er nahm die historischen Konstellationen und Motive so uneindeutig in sein Drama auf, wie sie sich ihm in der historiographischen Überlieferung darstellten, 87 88 88a
Vgl. dazu auch Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 1, S. 264 (Timoleon III/4) und die Argumentation Gottscheds; siehe oben S. 223 und 194f. Hubschmid: Gott, Mensch und Welt, S. 128. Zit. n. Eduard Bodemann: Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben. Hannover 1878, S. 174.
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und zwar aus „einigen politischen Absichten“, was wohl meint, zukünftige politische Entscheidungsträger mit der Realität des öffentlichen Lebens zu konfrontieren, ohne irgendwelche didaktisch gemeinten Simplifizierungen anzubringen. Das dürfte nicht zuletzt der Einsicht geschuldet sein, dass das Zürich des 14. Jahrhunderts nicht mehr die Stadt irgendwelcher in idyllischer Einfalt lebender Urschweizer war, sondern ein modernes Staatsgebilde, das sich die Verfassung schuf, unter der Bodmer im 18. Jahrhundert noch immer lebte. Dafür musste das unfehlbare und unbetrügliche Gewissen als Ausdruck eines göttlichen oder natürlichen Gerechtigkeitsgefühls, das Bodmer selbst noch Anfang der 1750er Jahre in seinen Patriarchiaden Der Noah oder Die Syntfluth beschwor und das er von Milton und Rousseau kannte, fallen. Der Real-Politiker Rudolf Brun verantwortet sich in Bodmers Drama nicht mehr vor einem überindividuell gültigen „moralischen Gesetz“, sondern vor seiner individuellen politischen Moral. Diese ist nicht unbedingt machiavellistisch, aber sie ist es auch. Wir haben oben gesehen, dass dies genauso für Rudolf Stüssi oder Rudolf Schöno gilt. Die Gegner sind entsprechend ebensowenig ausschließlich Märtyrer einer guten Sache oder Schurken durch und durch. Am Anfang des Brun-Stücks werden die Leser in dem Gespräch der beiden Manesses noch mit dem gewohnten Begriff des unhintergehbaren Gewissens, wie man es von religiösen oder republikanischen Märtyrern gewohnt war, konfrontiert; am Ende des Stücks aber hat sich der Glauben an diese Art von moralischer Verbindlichkeit aufgelöst. Das ist keine geringe Qualität des Stücks; doch Bodmer wagte eine solch differenzierte Problematisierung des politischen Handelns und seiner Moralität vermutlich nur in einem Stück, das eben nicht dem allgemeinen Lesepublikum, geschweige denn dem „Parterre gewidmet“ war,89 sondern höchstens als Abschrift im Kreis von Freunden, Gleichgesinnten und Schülern kursierte. Auf fast allen Kopien und auf Bodmers Original-Entwurf steht gewissermaßen als Motto: „hic piscis paucorum est“ – dies ist der Fisch der Wenigen, nicht der für die Masse. Von diesen Wenigen erwartete sich Bodmer vermutlich eine allmähliche Verbesserung der staatlichen Zustände, bis es soweit sein würde, dass alle reif genug sind für das Leben in einem Staat der Gleichen und Freien. Vielleicht hätte er Einigen unter den Wenigen auch radikalere Maßnahmen nachgesehen: analog seinem Brun, der mit unlauteren Mitteln zur endlichen Verbesserung des Gemeinwohls beitrug, ohne dass Bodmer ihm aber durch den Zweck die Mittel dramatisch heiligte. Obwohl Bodmer ein Anhänger republikanischer Rigorosität war, obwohl er die ‚Reinigkeit der Absichten‘ und Sitten bevorzugte, obwohl er die Tugend für naturgemäßer als das Laster hielt, vermochte er in einem Stück, das weder auf ein Theater- noch auf ein allgemeines Lesepublikum Rücksicht nehmen musste, zu einer differenzierten Darstellung politischer Vorgänge zu gelangen, die mit einer der
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Bodmer an Zimmermann, 19. Nov. 1758 (zit. nach ebd., S. 174).
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vornehmsten Tugenden der Aufklärung, nämlich zunächst einmal alles in Frage zu stellen, Ernst machte.90 Volksdarstellungen in Stüssi und Brun im Detail Das galt nun auch für die Darstellung des Volks in diesen klandestinen politischen Dramen. Es spielt, wie vorgeführt, durchaus eine große Rolle, handelt mal durch Agitatoren verführt, mal selbstständig, und es wird ebenfalls moralisch ambivalent gesehen, weder idealisiert noch verdammt. Auch ist das Volk nur in den Augen und Reden der Obrigkeiten eine mehr oder minder homogene Masse; wenn Bodmer es auftreten ließ, so ließ er meistens ganz unterschiedliche Unterschichtler auftreten. Ein Beispiel ist die Szene II/2 („Der Fischmarkt“) in Die Schweizer über dir Zürich. Abli, Gumpist, Schneevogel, Zay und Bamser heißen die hier auftretenden „gemeinen Bürger“. Es ist „in die Gemeinde“ geläutet worden und die Bürger fragen sich, was dahinter steckt. Sie vermuten richtig, dass es um etwas geht, was mit der stark beklagten „Theuerung“ und der Brotknappheit zu tun hat. ABLI. Was mag es antreffen, daß man in die Gemeinde läutet? Ist nicht Witzes genug auf dem Rathhause, und muß man ihn bey den Gemeinen suchen? Ich wollte, daß man mich in meiner Werkstatt gelaßen hätte, ich würde heut noch um einen Schilling werth Hosen gestrikt haben. GUMPIST. Mir thut diese Gemeinde einen Schaden von zehen Pfenningen, die ich heute noch mit SaarWürken wollte gewonnen haben, ich hätte noch einen eisernen Handschuh vollendet. […] Es war hübsches Korn im Feld, und jedermann hoffte, es werde nach der Ernde wohlfeiler werden, aber es schlägt wenig ab; die Gerste war schon geeßen, ehe man sie anderer Jahr geschnitten hatte, und wann das Brodt theuer ist, so wird alles theuer bis auf Kohl und Rüben. SCHNEEVOGEL. Ich weiß wohl, woher die Theuerung kommt, man laßt aus den Korn-Städten kein Korn geben, ausgenohmen den besten Freunden, die lange darum bitten müßen. Im Elsaß ist gemacht, daß niemand mehr, als um Einen Flaggart Brod aus den Städten tragen darf […]. Unser einer darf nichts sagen, aber es wird mich immer Wunder nehmen, warum unsere Herren nicht darauf fallen, den Schwaben zu befehlen, daß sie Korn und Gersten für Zürich und Schweiz, und im alten Preise, auf den Markt bringen. GUMPIST. Es ist mir auch lange in dem Kopf gelegen, man sollte der Obrigkeit in den Eyd geben, daß sie keine Theuerung sollte kommen laßen, oder aus dem gemeinen Sekel darauf legen, wann das Mütt Kernen über 3 Häller gestiegen ist. Freye Bürger sollten nicht so in dem Schweiße ihres Angesichts, wie die Fröhner, ihr Imbis verdienen müßen. Es ist unseren Herren unanständig, daß ihre Mitbürger, von dennen sie ihre obrigkeitliche Würde haben, von einer Gebet-Gloke zur anderen so auf dem Stülgen angeklammert sizen: Sie sollten dankbarer dafür seyn, daß sie alle Tag aufs Rathhaus gehen, und da über unsere Ehre und Gut hocus pocus machen können. Aber so nehmen sie uns noch den Bißen schwarzen 90
Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. 4 in 6 Bdn. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967–1992, Bd. 2, S. 453: „Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4“ (K303); Bd. 1, S. 498: „gewöhne dich zur Arbeit, und lerne deine Bequemlichkeit überwinden, gewöhne deinen Verstand zum Zweifel und dein Herz zur Verträglichkeit. Lerne den Menschen kennen und waffne dich mit dem Mut zum Vorteil deines Nebenmenschen die Wahrheit zu reden“ (in F262).
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Brods aus dem Munde, wann sie uns bey dem Eyde, und noch ein Schilling oben drauf, in die Gemeinde gebieten, wo wir nichts zu thun haben, als die Mäuler auf zusperren, wann sie so hochgelehrte, unverständliche Reden halten. ZAY. Warum klagst du die Obrigkeit nicht geradezu an, daß sie nicht Korn und Gerste und Haber macht, weil sie doch alles können soll? Für solche Schlingel, wie du, und Ably, sind, war es eine göttliche Erfindung um das Arbeiten. Was wollet ihr Kalbs-Köpfe, ihr Menschen-Figuren mit eurem Leben machen, wann euch das Saar-Würken und Hosen-Stricken abgenohmen würde? Es ist ein blutige Schande für die Stadt Zürich, eine Stadt, die so alt ist, als Abraham wäre, wann er noch lebte, daß man solche Schurken mit an die Gemeinde läßt. Man sollte die mit Hunden von dem Plaze hezen, die so wenig Gefühl haben, von der Ehre, die ihnen damit geschieht, daß mann ihre Stimme zehlet. GUMPIST. Nicht so laut, Meister Zay, wann mann zu St. Johanns Baptista zur Saffran einen Zunft-Meister nimmt, so wird meine Hand auch gezählet. Wann die Gnädigen Herren nicht wohlfeil Brodt machen können, so wäre es doch nicht für die Gänse geworfen, wann mann uns nach der Gemeinde einen Ehrentrunk aus dem Stadt-Keller schenken ließe: Es ist mehr als wohl verdient, wann wir einen halben Tage die Hände zu Meynungen heben, wovon wir so wenig verstehen, als vom Böhmischen. BAMSER. Dieser und jener würde um einen Becher Bändliker mit dem wilden Reding von Schweiz aufheben. Gottlob! daß es auch Leute von edlerem Gemüthe giebt. Mir geht eine Freude durch die Seele, wann ich in die Gemeinde läuten höre. Ich fühle meine bürgerliche Würde in einer solchen Versammlung; warum laßt man die wakeren Bürger zusammen kommen, als weil die Räthe sich nicht getrauen, daß sie dem Geschäfte mit Rath gewachsen sind, oder weil sie nach ihrer Weisheit erkennen, daß sie unsere Hülfe vonnöthen haben? Es thut mir wol, wann man Achtung für mich hat. Ich weiß schon, worum es den Herren diesmahl zuthun ist. Mein Zunftmeister muß mir die geheimsten Schlüße von den Räthen ins Ohr raunen, ehe er sie seinen Frauen erzehlt; so bald ich sehe, daß der Rath aus ist, so stehe ich ihm vor meiner Werkstatt in den Weg. (II/2)
Das Spektrum der Figuren reicht also von dem stolzen und engagierten Bürger über den seine Zunftgenossen verachtenden Konservativen bis zum unpolitischen Handwerker, der nur seine nächsten Bedürfnisse im Auge hat. Das sind „Seelen, die von der Natur bloß bestimmt sind, ein Geschäft in dem einzigen gegenwährtigen Zeit-Punkt zu übersehen“, wie sich im Rudolf Schöno der Bürgermeister über die niederträchtige Gemeinde beschwerte, der ein politisches Denken nicht zuzutrauen sei (IV/1). Dass es aber auch selbstständiges politisches Denken bei den Gemeinen gibt, zeigt die Volksversammlung auf dem Lindenhof in Rudolf Brun II/1. Zunächst stehen die Bürger über die „Herren“ verärgert beisammen, weil man sie „auf den Hof“ geläutet habe, „und dann ist nicht einer von ihnen da, der uns sage, was man unsrer will. Ich dachte sie würden uns eine Rechnung vorlegen, die so vortreflich summiert, addiert, detrahiert und multipiciert, daß der größte Rechenmeister nicht einen Faden an den Reglen zu tadlen fände“; doch wird bald klar, dass nicht die „Herren“ die Volksversammlung einberufen haben und dass sie auch keine Rechnung vor der Gemeinde ablegen wollen. Der Leinenweber Eberhard Erishaupt steigt nun auf einen Tisch und hält eine Rede, die mitunter an den Hessischen Landboten erinnert und in der er seine Mitbürger warnt, daß wir uns nicht von Leuten beherrschen laßen, die durch unsern Schweiß, durch unsere Geduld, durch unsere Zagheit vornehm und reich geworden sind […]. Welcher von uns kann diese befestigten, gethürmten Häuser, den Reichthum, die kostbarn Gefäße, das schöne Geräthe
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darinnen sehen und vergessen, dass es unsere Arbeit, unsere Kunst, unser Schweiß ist? Wer siehet diese wohlbedeckten Tafeln von niedlichen Speisen, von fremden Weines Düften? Diese langen Röcke, die vornen auf und unten zu so geknöpfet und geschnürt sind, worauf Gold, Silber, Edelstein und Seiden blitzen? Wer siehet diese Lappen an den Röcken, die länger als eine Elle sind, diese zweyfarbigten, gestreiften Hosen, und denket nicht, daß sie aus unserem Silber, unseren Abgaben, unseren Zinsen verfertiget worden? Alles glänzet auf ihrer Kleidung, in ihrem Zimmer herrschet ein Überfluß, eine Pracht, die einem gefürsteten Herrn Ehre machen; festliche Mahlzeiten, Bankette und Tänze sind ihr tägliches Leben; sie halten Sänger und Gesangdichter, Meister in Violinen, und Harfen, und Pauken in ihrem Solde, die das Jahr ihnen zu einem Hochzeit-Tage machen. Woher sind sie so unermeßlich reich? Daher, daß wir andern arm sind: Einhundert sizen in Rosen und Zehenhundert auf Dornen: Gut und Silber ist von uns weg in ihre Schränke gegangen: Wir geben ihnen jährlich dreymahl Gewalt dazu, da wir ihnen die Regierung übergeben; wir selbst haben die schaafsmäßige Güte, daß wir ihnen eine Macht zutheilen, die sie reich und uns arm machet. Sie weigern sich nicht umsonst, daß sie uns die Einkünfte, das Vermögen der Stadt vorweisen, weil sie hoch klug ermeßen, daß wir ihnen nicht gestatten würden, darin wie in ihrem Erbtheile zu wühlen; wann sie auch noch durch eine gute Policey im Fruchthandel für uns sorgeten, daß wir das Brod in einem billigen und gleichen Preise haben könnten, dann möchten wir ihnen ihre vollen Tafeln und reichen Zimmer ohne Neid laßen: Wann sie nur wollten, so hätten wir kein Fehljahre, keine Theuerungen zu besorgen, aber sie selber verkaufen lieber theuer; die Stadt soll reich heißen, weil 1000. Arme 100. Reiche gemachet haben. Aber was wißen sie von unserem Elende? Sie sehen von ihrem Reichthume nicht auf unsere Armuth herunter, oder wann sie etwas davon sehen, so macht ihre Wohlfarth sie für alles fremde Unglück hartherzig und unfühlbar. Soll ich euch Mittel vorschlagen, womit dem Elende des gemeinen Manns auf einmal abgeholfenb wäre? Theilet diese hundert übertrieben reichen Haufen in zehen oder zwanzig, so habet ihr ein- oder zweitausend schöne, mehr als mittelmäßige Fortünen, welche der Stadt ungleich nüzlicher seyn werden; diese werden eben so viele Kleider, Schuhe, Strümpfe brauchen; dem Handwerker eben so viel zu verdienen geben […]; an diesen Mittelmäßigen hat sie Mangel, die Anzahl der Reichen […] nüzet nichts, als daß sie Pracht, Üppigkeit, fremde Sitten und Laster in die Stadt bringen, daß sie einen Menge Bedienten um sich haben, die sie wie eine Leibwache umgiebt, und ihnen ihre Herrschaft über uns versichert.
Nachdem der Zunftmeister Konrad Glokner in einer zweiten Rede Erishaupt unterstützte91 und verschiedene andere Bürger ihre Klagen über das ungerechte Regiment der vornehmen Familien hervorgebracht haben, ergreift Herman Kaltbrunner das Wort: Ihr haltet euch über Kleinigkeiten auf. Einem Mann, der Ehre hat, schneidet es in die Seele, daß sie ihn, wann er in Geschäften vor sie kommt, so schimpflich halten, als ob er mit Leib und Leben ihr eigen wäre; für die tiefste Neigung geben sie euch keinen Wink der Augen, sie sitzen mit fürstlicher Hoheit in ihren Arm-Stühlen, indem ihr wie Criminal vor ihnen stehet; sie müßen in guter Laune seyn, wann sie euch nicht die Ehrentitel von Schlingel, Kerl, Schurzfell geben. Wären wir nicht feige Memmen, so würden wir nicht leiden, daß sie so unehrerbietig mit denen umgingen, von welchen sie Gewalt und Würde haben: Aber es ist ihnen lange gelungen, die alte Wahrheit, daß die Bürger ihre Oberen und Aelteren sind, zu Lügen zu machen. (II/1) 91
„Ich habe an Herren des Raths Mangel an Ernsthaftigkeit sowohl in ihrem Thun als in ihren Reden gesehen, der sie klein, sehr klein macht; sie tractieren die wichtigsten Geschäfte mit possierlichen Grimaces und Pöbelwiz […]. Überhaupt haben sie eine rechte Furcht vor Geschäften; wer ihnen von einem neuen Mittel sagt, das Wohl der Stadt zu befördern, den sehen sie vor einen Menschen an, der sie in ihrer Muße stören will, sie schelten ihn einen politischen Schwärmer, einen süßen Träumer. […] Man ruft den für einen gefährlichen Politicus aus, der laut sagen darf, die Bürger wären einem Grißlerischen Befehl keinen Gehorsam schuldig; die Räthe wären den Gesezen nicht weniger unterworfen, als der gemeine Mann […]“ (II/1).
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Aus dieser „alten Wahrheit“ wird das Recht auf Widerstand abgeleitet. In einer späteren Szene hält Erishaupt den alten Räten vor: Wer war zuerst da, die Gemeinde oder die Räthe? Wen regierten diese, ehe sie eine Bürgerschaft hatten? Können die Räthe ohne Gemeinde sein? Aber die Gemeinde, das Volk kann ohne die Räthe seyn; so ist es ein Volk, wann es keinen Führer hat als sich selbst, oder einen verachteten Erishaupt; wann es Räthe haben will, so muß es sie rufen: die unberufenen sind gewaltthätige Eindringer; die gerufen worden, sind seine Geschöpfe (III/2).
Geschickt verknüpft er hier zwei Argumente, die das Volk zum Widerstand legitimieren. Erstens die grundlegende Überzeugung aller Demokraten, dass die Obrigkeit lediglich als Vollzugsorgan der Gemeinde anzusehen sei;92 und zweitens die Gleichsetzung angemaßter Regierungsgewalt mit der Gewalt auswärtiger Invasoren, die von jeher zum Widerstand berechtigte. Daraus ergibt sich die Unrechtmäßigkeit aller Erlasse der illegitimen Obrigkeit, und die Unnötigkeit ihr zu gehorchen, von selbst. Erishaupt führt über die Souveränität der „Gemeinde“ aus: alle diese Geseze sind um des Nuzens der Gemeinde willen, wann sie das nicht mehr befördern, sind sie keinen Faden werth; ja sie werden schädlich, so bald sie aufhören, nüzlich zu seyn: also wann sie findet, daß eine andere Regierung der Stadt nüzlicher ist, so hat sie weiter keinen Grund nöthig, dieselber einzuführenden nicht mehr befördern, sind sie keinen Faden wert, ja sie werden schädlich, sobald sie aufhören nützlich zu sein. (Ebd.)
Das Gegenargument, das bisherige Regiment sei kaiserlich bestätigt und ehrwürdig schon wegen seines Alters, wischt Erishaupt beiseite: „In zweihundert Jahren wird ein neues eben so alt und so ehrwürdig seyn“ und die folgenden Kaiser würden sicher ebenso bereitwillig das neue Regiment bestätigen wie die alten das alte. Die sozialrevolutionär gesinnten Reden von Erishaupt und Glokner verfangen im Volk nicht sogleich. Der Zunftmeister Heinrich Grasser vermutet, dass dies nicht ihre eigenen Ansichten seien, sondern dass sie „Einbläser“ gehabt hätten. Rüdiger Öhlhafen fühlt sich überrumpelt: „Man verwirrt uns mit diesen seidenen Reden“, beschwert er sich: „wir wollen mit Vorsatz Niemandem Unrecht thun, und am wenigsten den Räthen“. Daher bittet man „Herrn“ Rudolf Brun um seine Meinung. Genauer gesagt: Öhlhafen bittet Brun, „daß er sage, was unsere Meinung ist“, ein Vorschlag, der sogleich bezeichnenderweise sich chorisch äußernde Anhänger findet: „SÄMANN, HAMMERSTEIN, HANDELI. Was Herr Brun sagt, soll Recht seyn!“ Nachdem Brun gesprochen hat, erntet er „ein allgemeines Zujauchzen“ (II/2). Damit erweisen sich Öhlhafen, Sämann, Hammerstein, Handeli und noch einige andere als genau solche „Sclaven“, die anstatt selber zu denken, lieber „auf anderer Leute Worte schwören“, wie Bodmer und Breitinger schon 1722 in den Discoursen 92
Vgl. hierzu Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, insb. S. 226f.
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der Mahler schimpften. Allerdings ist die Unmündigkeit so vieler Menschen aus dem Volk in Bodmers und Breitingers Augen nicht nur selbstverschuldet.93 Zwar sei es sehr bequem, „anderer Urtheilen, Meinungen und Exempeln nachzufolgen“, weil man „dadurch der Mühe überhoben“ werde, „die Sachen selbst zu untersuchen“, doch hätten diejenigen, „die den Gewalt in den Händen haben“, auch ihr besonderes Interesse daran, die Untertanen „durch Gesetze und gerichtlichen Zwang, durch List und Gewalt, durch rednerisches Blend-Werck, durch Verheissungen und Betrohungen, Belobungen und Straffen, etc.“ in dieser Unmündigkeit zu halten.94 Eigentümlicherweise legte Bodmer in seinem Drama Erishaupt und Glokner Worte in den Mund, die an Formulierungen des zitierten Discourses erinnern. Dort nämlich bezeichneten Bodmer und Breitinger die Unmündigen als Papageien, Affen oder Schafe; in dem Drama sprechen die beiden Agitatoren aus dem Volk von der „schafsmäßigen Güte“ der Leute und vergleichen sie mit „guten Schöpsen“, „die Holz auf sich laden lassen“, was ihren Standesgenossen nicht gerade schmeichelt. Doch letztlich behalten die vermeintlichen Demagogen mit ihrer Beschreibung der herrschenden Despotie scheinbar Recht. Glokner hatte behauptet, die Räte würden jeden Reformvorschlag als Angriff auf die gesetzliche Ordnung betrachten und mit Gewalt beantworten.95 Nun kommt, während man angeleitet von Erishaupt die Bevölkerung policeywidrig („ERISHAUPT. Es soll alles nur ein Spiel seyn, wann es nicht dem Corps der wackeren Bürgerschaft nüzlich dünckt, daß sie etwas wirkliches daraus macht“) in Zünfte und Rotten einteilt, die Nachricht, dass die Abordnung von sechs Handwerkern mit Rudolf Brun an der Spitze, welche um Rechnungslegung bitten sollten, verhaftet oder sogar getötet worden seien. Nun greift das Volk zu den Waffen; reorganisiert durch Erishaupt und angeheizt durch brave Bürger, die sich zuvor noch als „Papageien“ Bruns bewiesen („RIEMO.
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Auch Kant, der in seiner bekannten Beantwortung der Frage: „Was ist Aufklärung?“ auf die „Faulheit und Feigheit“ der meisten verweist, die, „nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“, klagt die selbst ernannten „Vormünder“ an, welche die Oberaufsicht […] gütigst auf sich genommen haben“ und „nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben“, „sorgfältig verhüten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen“ (Werkausgabe, Bd. 11, S. 53f.). Discourse der Mahlern, Bd. 2, Nr. 9, S. 68; Maler der Sitten, Bd. 2, Nr. 62, S. 116ff. Vgl. Anm. 91. Hier spiegelt sich das Verhalten von Bodmers zeitgenössischer Obrigkeit, deren Einstellungen Conrad Ulrich (Das Selbstverständnis des zürcherischen Regiments. In: Holzhey, Helmut / Simone Zurbuchen (Hg.): Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussen- und Innenperspektiven. Zürich 1997, S. 53–63) untersuchte und feststellte: „Im Bewusstsein der grossen Verantwortung und der Tragweite seines Wirkens für die Gesamtbevölkerung, aber auch aus der – zumindest in seiner eigenen Sicht – gottgewollten Stellung heraus ist der Rat [der Stadt Zürich] für Kritik wenig empfänglich und empfindet sie schnell als unberechtigte Beleidigung der väterlichen Würde und Liebe. So neigt er, wie im Rückblick festzustellen ist, immer wieder zu scharfen Reaktionen“ (S. 60).
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Herr Brun ist unser Prophet. Steiget auf den Tisch, Herr Brun! und saget uns was Recht ist“), bricht die revolutionäre Masse los: HEINRICH RIEMO. Brun in Lebensgefahr! Auf, auf unseren Freund, unsren Erretter, unseren Vater zu retten! Laßet uns unser Gewehr holen: Ein Theil bemächtige sich der Waffen im Zeughaus, ein anderer beseze die Brücken und die Stadtthore: wir wollen das Rathhaus bestürmen, und die Mörder darin alle auf ihren Rathbänken verbrennen. HEINRICH WECHSLER. Aufruhr! Mord! Brand! Auf den Fischmarkt wem die Stadt lieb ist! Vor das Rathhaus, liebe Züricher! Holet Feuerbrände! (II/1)
Die Folge dieses Aufstands ist die erwähnte Absetzung und Verbannung der Ratsmitglieder, obwohl die den Aufstand auslösende Nachricht falsch ist, nämlich ein von Brun selbst gestreutes Gerücht, das das von ihm, Glokner und Erishaupt vorbereitete Volk aktivieren sollte. Abgeschaut hat Bodmer die Technik seiner Volksszenen bei Shakespeare, dessen Dramen er schon sehr früh, seit 1724,96 rezipierte. Die Szene auf dem Lindenhof ist offenbar von der Szene III/2 in Shakespeares Julius Cäsar beeinflusst, mit einer allerdings bezeichnenden Veränderung: „An Stelle der Reden des Brutus und des Antonius stehen diejenigen der beiden Volksagitatoren Erishaupt und Glockner, des Rüdiger Maness und des Rudolf Brun, deren Inhalt natürlich die Wünsche des Volkes bilden“.97 Das heißt, es treten nicht bloß zwei Oberschichtler vor das Volk und konfrontieren es mit ihren Reden, sondern es treten ebenfalls Redner aus dem Volk selbst auf. Das Volk begegnet in Bodmers Dramen also als politisches Subjekt sui generis. Bodmers Leistung war es, das Volk weder idealisiert noch über Gebühr abgewertet zu haben. Zum größeren Teil sind die Angehörigen der Unterschichten in der langen Zeit der Unterdrückung zu einer Herde von Schafen geworden, die nach ihrem „Propheten“ rufen, doch Einzelne aus dem Volk wissen sehr gut um ihre Belange und wissen sie auch zu vertreten. Doch dringen sie häufig sogar bei ihresgleichen nicht durch. Zwar wird der Beschluss zum Aufstand selbstständig und zum Entsetzen anwesender Oberschichtler („O Himmel, hilf uns aus dieser Zerrüttung! Die Zwietracht hat der guten Stadt Zürich den Fuß auf den Nacken gesezt“) in der Volksversammlung gefasst, doch sind die Nachrichten von Bruns Verhaftung der auslösende Moment, nicht die egalitären Ideen des Leinenwebers. In gewisser Weise versichert das den Bürger der Kontrollierbarkeit des Aufstands; wäre nicht der gemäßigte Brun, sondern der radikale Erishaupt der „Prophet“ der 96
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Bodmer lieh sich 1724 eine Shakespeare-Ausgabe bei seinem Freund Laurenz Zellweger. Die erste eigene Shakespeare-Ausgabe in Bodmers Besitz war die in Edinburgh 1753 erschienene (vgl. ZBZ Ms. Bodmer 38a). Wann er die Einzelausgabe von Julius Cæsar (London 1711) erwarb, ist nicht bekannt. Vgl. zur Shakespeare-Rezeption in der Schweiz Martin Bircher / Heinrich Straumann: Shakespeare und die deutsche Schweiz bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine Bibliographie raisonné. Bern 1971, S. 46–66 (mit einer Aufstellung der bis dato bekannten Entlehnungen in Bodmers Dramen auf S. 56, 58–62 u. 63). Tobler: Bodmers Politische Schauspiele, S. 135.
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Menge gewesen, so hätte man wegen der Folgen des Aufstands wesentlich besorgter sein müssen. Am Ende wäre womöglich das Privateigentum in Gefahr geraten.
Arnold von Brescia Was den meisten Bürgern des 18. Jahrhunderts als Schreckgespenst schlechthin erschienen sein mochte, hatte für Bodmer nichts Entsetzliches. Im Gegenteil stellte Bodmer in seinem Arnold von Brescia in Zürich (entstanden 1759) das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln (Äcker zum Beispiel) in Frage, ja, schränkte sogar das Recht auf Eigentum der Arbeitsfrüchte ein.98 In einem Religionsgespräch vor dem Rat der Stadt kommt es zu folgendem Wortwechsel zwischen dem Kastenvogt der beiden Zürcher Münster und dem von Bodmer als Vorläufer Zwinglis99 interpretierten mittelalterlichen Reformator (die Handlung des Stücks ist um 1145 angesiedelt): GRAF WERNER. […] ist es nothwendig, daß unter den Mitgliedern eines Staates einige viel besitzen, andere wenig oder nichts? Haben die Menschen nicht unter sich vertheilt, was die Natur hat allen gemein lassen wollen? ARNOLD. Ihr habet da eine kitzliche Sache berührt. Es ist ganz offenbar, es sind die ewigen Gesetze des Universi, daß dem Menschen nichts für sich gehört, als was sein gegenwärthiger Zustand bedingt, was ihm jeden Tag zum Unterhalt oder zum Ergözen genug ist. Das Feld ist nicht dessen, der es pflügt, ihm gehört selbst von den Werken seines Fleißes nichts, als was er braucht, das übrige und seine Person selbst sind des ganzen menschlichen Geschlechtes. GRAF WERNER. Mein Gott! dann sind alle politischen Anordnungen, die diesen göttlichen Decreten entgegen sind, Verbrechen. Ist nicht das harte, unempfindliche Eigenthum die Mutter Hebamme der Laster, die von der Verzweiflung und einem wütenden Mangel geboren werden? Warum hebet die Religion, das theure Christenthum, diese verderbliche Einführung
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Bodmer ging damit über die Positionen des historischen Arnold von Brescia weit hinaus, der lediglich die „Armut der Kirche“ predigte (Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 5 Bde. Hg. v. Kurt Galling. 3. Aufl. Tübingen 1956–1965, Bd. 1, S. 633; vgl. Bodmer: Arnold von Brescia in Zürich, S. 3: „er eiferte heftig gegen die Herrschaft und den Reichthum der Prälaten“); er ging sogar über Rousseaus (Schriften, Bd. 1, S. 241) Position hinaus, der zur Entstehung des Eigentums in seinem zweiten Discours ausgeführt hatte: „Die Arbeit gab dem Ackersmann ein Recht auf die Früchte eines Feldstückes, das er bestellt hat, und folglich, wenigstens bis zur Ernte, auch den Grund selbst, und ununterbrochener Besitz von Jahr zu Jahr verwandelte sich in ein Eigentum“. Auf Zwingli deutet eine Prophezeiung Arnolds in Bodmer: Arnold von Brescia in Zürich, S. 38 (IV/3): Zürichs „Kerze mag erlöschen, aber nicht auf immer. Ein Mann, auf den der Geist des Herrn kömmt, wird sie wieder anzünden, und viele Völker werden bey ihrem Lichte wandeln“; historisch war für Zwingli das Eigentum zwar problematisch („Eigentlich sind alle Gaben Gottes frei“), doch sei die Selbstlosigkeit, die Voraussetzung der Gütergemeinschaft wäre („Du darfst dein zeitlich Gut nicht als dein Eigentum betrachten, du bist nur Verwalter darüber“), verloren gegangen, so dass das Privateigentum „als Notordnung“ geschützt bleiben soll (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, S. 368).
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nicht auf? diese Ungleichheit, die den Menschen so weit von dem Menschen unterscheidet?100
Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass sich hier Bodmer selbst ausspricht. Jedenfalls verstanden ihn so seine vertrautesten Freunde. Auch entspricht die Verherrlichung Arnolds und seiner Ansichten ganz Bodmers dichterischer Praxis, die sich einer Dramaturgie der Bewunderung bediente. Arnold etwa wird explizit als „Märtyrer der göttlichen Wahrheit und der Vernunft“ bezeichnet.101 Es ist für jemanden mit solchen Ideen nicht undenkbar, auch das Volk als positive dramatis figura zu gebrauchen. Im Arnold von Brescia erklärt die Hauptfigur, das „wahre Gesetze der Natur“ sei die „natürliche Gleichheit“. Auch hält er wie sein Autor die gemeinen Leute nicht von vornherein für dumm, bloß habe man […] ihnen von Kindheit an eine Furcht beigebracht, den Verstand, der in ihnen denkt, zu brauchen. Man hat ihnen verbothen, dieses schöne Feld anzubauen: dadurch ist es wüste geblieben oder ins Wilde gewachsen. Man gebe den Leuten von Geburt oder vom Pöbel nur die Freiheit, das Ding, das in ihnen denket, zu üben, so wird man sehen, wie es sich durch den Gebrauch schärfen wird. Man wird sehen, daß Vernunft eine allgemeine Gabe ist; und daß es nicht Prahlerei ist, der Mensch sei ein vernünftiges Wesen […].102
Übrigens erschien ein Stück Arnold von Brescia in Zürich mit dem Untertitel „Ein religioses Schauspiel“ 1775 im Druck. Doch handelt es sich um eine gegenüber den handschriftlichen Entwürfen stark verstümmelte Fassung, der das Politische im Untertitel (in der Handschrift heißt es „politisch-religioses Schauspiel“) ebenso wie im Haupttext größtenteils abhanden kam. Die hier zitierten Passagen sind in dem Druck von 1775 nicht mehr erhalten. Dass aber sowohl Arnold von Brescia als auch Rudolf Brun, wenn sie in den beiden Dramen die Bildbarkeit des nur durch Despoten dumm gehaltenen Volks betonen,103 ureigenste Überzeugungen ihres Autors aussprechen,104 erhellt sich 100
ZBZ Ms. Bodmer 26.7, p. 68f.; diese Stelle ist im Druck von 1775 unterdrückt worden. Bodmer: Arnold von Brescia in Zürich, S. 4. ZBZ Ms. Bodmer 26.7, p. 16f.; vgl. Bodmer: Arnold von Brescia in Zürich, S. 5: „Gebet Kleinen und Großen die Freyheit, das Ding, das in ihnen denket, zu üben, ihr werdet sehen, wie es sich durch den Gebrauch schärft“. 103 „RUDOLF BRUN. Ich halte die alten Familien für keine Ausnahme der Natur: die Leute von dem vornehmsten Geschlecht haben, wann sie in die Welt kommen, vor dem schlechtesten Pöbel, weder in der Bildung, noch in der Complexion, noch in der Stärke etwas voraus; der Unterschied zwischen ihnen entsteht allein aus einer politischen Verfaßung […]. Nichts wäre billiger, als daß […] die großes denken, die in Handwerkstätten und aus dem niedrigsten Blute gebohren worden, sobald sie Talente, Ehre und Verdienste haben, in die Titul und Ämter der anderen eingesezet würden. Ein Rathsherr war anfangs nur ein schlechter Bürger, den sein Verstand und sein Verdienst erhoben hatten, Glaubet Ihr, daß wir viel verlieren würden, wann wir diese in den Rath bekämen, und jene daraus verlühren? / RÜDIGER MANESS. Ihr sezet ganz zuversichtlich, daß wir eine Menge Schöpsen im Rathe haben, und eine noch größere Menge verdienstvoller Männer unter dem Pöbel. Ihr seyd beßer mit ihnen bekannt, mit mir sind sie noch nicht so vertraut geworden. / RUDOLF BRUN. Ich glaube, daß man mit einem gewohnlichen muntern Wize die Grundreglen, auf welchen die Ehre und der Nuzen der Staaten beruhet, begreifen könne; dazu gehört dann noch ein patriotisches Gemüth, das gerechten und mensch101 102
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bereits aus dessen Plänen, ein politisches Institut zu stiften, in dem „monatlich politische Abhandlungen der Besten unter den Alten und Neuern“ besprochen werden sollten, wobei Handwerker nicht nur zugelassen würden, sondern man im Gegenteil „auf Mittel bedacht sein“ müsse, „sie zu uns einzuladen. Weil wir doch Handwerker im Senat haben müssen, so sollen wir bedacht sein, ihnen den Muth zu erhöhen, den die mühsame Lebensart niederschlägt“.105
Wilhelm Tell und der Gründungsmythos der Eidgenossenschaft Bodmer gab seine Zürich-Stücke wie gesagt nur einigen Freunden zu lesen und hielt sie sonst zurück, „weil sie gegen die Begriffe von leidendem Gehorsam und von Respekt in gefährlicher Weise, sagt man, anstossen“.106 An anderer Stelle wurde Bodmer noch deutlicher: „Meine politischen Dramen, Schön, Stüßi, Brun, Stauffacher, habe ich im Pult behalten, aus Furcht die Finger zu verbrennen, weil sie republikanischer und historischer sind, als unsere Kadaver von Republiken vertragen können“.107 lichen Gesezen sich mit Vergnügen unterwirft; solchen gleichen Gesezen, welche die Oberen sich zuerst unterwürffig machen, und eben dadurch ihr Ansehen und die Hochachtung des Volks verdienen. Mich dünkt, daß diese Unterwerfung, diese Liebe zur Gleichheit sehr mächtig bey Leuten seyn müßte, die noch neulich den Druck der Herrschaft empfunden haben: diejenigen, die noch vor wenigen Tagen von der Verachtung, dem Stolze und der Hoheit gedrückt worden, müßten natürlicher weise mehr Mäßigung, mehr Abscheu vor der Beherrschung, mehr Anmuthung für die bürgerliche Gleichheit haben. / RÜDIGER MANESS. […] Werden solche schlecht erzogene, unstudierte Leute diese mechanischen, kriechenden Seelen den Anfällen der Leidenschaften, dem Eigenutz, der Herrschsucht mit festerem Muthe widerstehen? […] / RUDOLF BRUN. Ich habe ihnen nicht mehrere, sondern allein nicht wenigere Fähigkeiten zulegen wollen, als denen Leuten, die aus den Familien gebohren sind. Wann sie erst zu Ämtern kämen, so würdet ihr sehen, in welch kurze Zeit ihre Talente sich entwickeln, und unter der guten Pflege zu großen Tugenden empor steigen würden.“ (I/3) „Wir müßen glauben, daß der Umgang mit den Vornehmen sie bald gesitteter, adelicher und ehrenfester machen würde. Sie würden in dem Rath den pöbelhaften Rost abschleifen, und Ehre und Lebensart lernen: Honores mutant mores; die Räthe würden sie in die Schul nehmen.“ (III/1) 104 Vgl. den Brief an Heinrich Meister (zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 234): „Der Despotismus allein zieht Vortheile von dem Verbot zu drucken. Die Erleuchtung der Menschheit ist nicht sein Spiel. Die größten Wahrheiten müssen dem Volk hinterhalten werden, weil sie das menschliche Gefühl schärfen, ihm edle Empfindungen einflößen, ihm seine Kräfte kennen lehren, und ihm den Muth erheben würden. Das würde dem Despoten einen tödtlichen Streich versetzen […]“. 105 An Heinrich Füßli d. Ä. (1763), zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 233. 106 Bodmer: Persönliche Anekdoten, S. 114; vgl. Tobler: Bodmers Politische Schauspiele, S. 157. 107 An Heinrich Meister (1774), zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 223. Man darf nicht vergessen, dass Bodmer bereits schlechte Erfahrungen machte. Nach jahrelangen (seit 1729 dauernden) Querelen mit den Zensurbehörden wurde Bodmer zu seiner Erleichterung 1746 von der Aufgabe entbunden, eine offizielle Geschichte der Eidsgenossen in dem 18. Jahrhundert zu schreiben, bei der er nur genehmigtes Material hätte verwenden dürfen; Bodmer stellte den Entscheid der Behörde in einem Brief an seinen Freund Zellweger als Ret-
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Dies schrieb Bodmer 1774 an seinen Freund Heinrich Meister, doch schon ein Jahr später stimmte diese Behauptung zumindest für den „Stauffacher“ nicht mehr. 1775 erschien nämlich das 1762 unter dem Eindruck seiner Rousseau-Lektüre108 und der gerade begonnenen Shakespeare-Übersetzung von Wieland109 entstandene Drama Die gerechte Zusammenschwörung stark überarbeitet, d.h. gekürzt und in vier Einakter geteilt, im Druck.110 Bestärkt durch Louis-Sébastien Merciers Buch Du Théâtre ou Nouvel Essai sur l’Art Dramatique (1773), das Bodmer mit mehr oder weniger Recht als „die gerade Apologie“ seiner politischen Schauspiele verstand,111 besann er sich auf das Stück, das ihm vielleicht als eigentliches Vermächtnis an die Nachwelt erschienen sein mochte. Er hatte nämlich bei Mercier in Zusammenhang von dessen Ausführungen über „das wahre Trauerspiel“, das stets „in einer genauen Beziehung mit den politischen Angelegenheiten stehn wird“ und „dem Volke sein wahres Interesse lehren“ müsse, gelesen: „So müßen die Schweizer wenn sie jemals ein Theater errichten, mit dem Wilhelm Tell anfangen“.112 tungsmaßnahme gegen einen unbotmäßigen Untertanen dar: „Die Herren, so zu Aufsehern dieses Wercks geordnet sind, haben gut gefunden, mich zu dispensieren, daß ich es nicht fortsetzen darf. Die Hauptsache ist, weil sie sehen, daß ich nicht viel Lobenswürdiges schreiben könnte und vielleicht meiner Freymüthigkeit nach viel Unlöbliches schreiben würde“ (Tobler: Bodmer als Geschichtsschreiber, S. 25f.). Damit war Bodmer seine längste Auseinandersetzung mit den Zensurbehörden (immerhin 15 Jahre andauernd: „Nachdem ich wegen der schweiz. Geschichtschreibung nicht mehr getrieben werde, so habe ich zu nichts weniger Lust, als diese Arbeit aus eigenem Trieb fortzusetzen“) los. Das einzige Mal, dass der sonst „zu schüchterne“ (Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 141) Bodmer – befeuert von den Genfer Unruhen der 1760er Jahre und seinen Erfolgen in der Historisch-politischen Gesellschaft zu Schuhmachern bzw. der Helvetisch-vaterländischen Gesellschaft – im Großen Rat der Stadt Zürich gemeinsam mit dem Freund Johann Kaspar Hirzel für die Rechte des Volks redete, endete kläglich: „Wir durften nicht begehren, daß die Stimmen gezählt würden, weil wir auf nicht mehr als fünf oder sechs zählen konnten und fürchteten, daß ein Hohn entstehen würde, welcher diejenigen, die sonst gut denken, selbst für ein ander Mal erschrecken würde“ (ebd., S. 234). 108 Vgl. Bodmer im Juli 1762 an Sulzer: „Ich schildere die Eidgenossen in ihrem schönsten Gesichtspunkt. Jetzt muss ich fürchten, dass Tell, Baumgartner und Stauffacher in Rousseau’s Gesicht gefallen seien“ (zit. nach Josephine Zehnder-Stadlin: Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwicklung. Gotha 1875, S. 397). 109 Der erste Band von Wielands Shakespeare-Übersetzung war 1762 in Zürich bei Orell, Geßner & Co. erschienen; er enthielt unter anderem Das Leben und der Tod des Königs Lear; auf dieses Stück spielte Bodmer in den Schweizerischen Schauspielen mehrfach an. 110 Bodmer publizierte die letzten vier Akte als eigene Stücke unter den Titeln Wilhelm Tell, oder der gefährliche Schuß, Geßlers Tod, oder das erlegte Raubthier, Der alte Heinrich von Melchthal im Land Unterwalden, oder die ausgetretenen Augen (separat paginiert, aber auch unter dem Sammeltitel Schweizerische Schauspiele) und Der Haß der Tyranney und nicht der Person, oder Sarne durch List eingenommen (alle o.O. 1775). Alle vier Stücke wurden von Albert Debrunner 1998 im „Kleinen Archiv des 18. Jahrhunderts“ unter dem Titel Schweizerische Schauspiele neu herausgegeben; sie werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert. 111 An Schinz, 13. Mai 1774 (zit. nach Max Wehrli: Johann Jakob Bodmer und die Geschichte der Literatur. Frauenfeld 1936, S. 54). 112 Louis-Sébastien Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Übers. v. Heinrich Leopold Wagner. Leipzig 1776, S. 52f. In der Originalausgabe (Amsterdam 1773, S. 40) lautet der letzte Satz: „Si jamais les Suisses établissent chez eux un théâtre, ils devront commencer par Guil-
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Bedenkend, dass Bodmer der Zweite war, der nach dem wenig geglückten, weil krampfhaft die klassizistische Form wahren wollenden Vorgang Samuel Henzis113 versuchte, den Mythos von Apfelschuss und Rütlischwur für die republikanische Freiheit der Schweiz zu instrumentalisieren, und angesichts des späteren Erfolgs dieser Mythe, kann man vielleicht verstehen, warum Bodmer gerade dieses Stück in den Kellern der Verleger für die Nachwelt hinterlegen wollte.114 Die Ereignisse des Jahres 1307115 boten sich allein schon deswegen als Stoff an, weil er in gewisser Weise unkompliziert ist. Ausländische Despoten versuchen ein freies Bergvolk zu unterjochen, das sich dagegen erfolgreich wehrt. Weil man sich gegen die besser organisierten Unterdrücker verbünden muss und weil man dieses laume Tell“; Bodmer hat ihn in sein Hand-Exemplar des Wilhelm Tell (S. [16]) eingetragen (ZBZ III/374, 1). Auf den letzten Seiten seines Exemplars (ZBZ III/374, 2) von Geßlers Tod (S. [15f.]) notierte sich Bodmer ein weiteres Zitat aus der Originalausgabe von Merciers Schauspiel-Traktat, das sich in der Übersetzung von 1776 auf S. 242f. findet: „Die Kunst des Dialogs, welche unsren besten Dichtern so sehr noch abgeht, besteht, wenn ich mich nicht irre, nur darinn, daß man sich selbst kenne, daß man diese zwey Wesen, die in uns wohnen, dies ‚doppelte Ich‘ des Paskals fühle, davon das eine ein Institut der Natur ist und uns beherrscht, das andre ein Instinkt des Willens, der seinen Gegner zu bemeistern sucht: die, wechselsweis bald Sieger und bald besiegt, in einem ewigen Streit mit einander sind. Hat der Dichter die Kunst des Monologs studiert, hat er sich ohne Maske gesehn, hat er seine Seele geprüft, so wird er mit der Kunst des Dialogs, die heut zu Tag so selten ist, bald bekannt werden.“ 113 Vgl. unten S. 309. Samuel Henzi schrieb am 10. Okt. 1748 an Bodmer: „Nun hat mich mein poetischer Stern oder Unstern mit seinem Hauch angetrieben, ein Trauerspiel zu schreiben, und diess […] zu Ehren unserer schweizerischen Nation. […] Ich mache aus des Tell’s Kind eine Tochter, dem Grisler gebe ich einen Sohn, welcher diese Tochter liebet, damit ich das französische Theatrum mit einer Liebesintrigue legalisieren könne“ (Telldramen des 18. Jahrhunderts. Samuel Henzi: Grisler ou l’ambition punie. Herausgegeben von Manfred Gsteiger / Johann Ludwig Am Bühl: Wilhelm Tell. Herausgegeben von Peter Utz. Bern 1985, S. 96). 114 „Ich sehe meine Dramen mit der Geduld in den Gewölben der Verleger begraben, mit welcher ich leide, daß die des Euripides, mit keiner Verschuldung wie die der meinigen ist, in denselben vermodern“, schrieb Bodmer im Juli 1776 an Gleim (Briefe der Schweizer, S. 439). Bereits 1768 hieß es in einem Brief an Heinrich Meister: „Ich nehme mir allein vor, politische und moralische Wahrheiten zu schreiben, und dann sie wirken zu lassen, was sie können“ (zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 220). Immerhin aber konnte Bodmers Verleger in Lindau (wo 1768–69 mindestens zwei Bände Politischer Schauspiele sowie ebenfalls 1769 das Ugolino-Drama Der Hungerthurm in Pisa erschienen) dem Autor „von einem reißenden Absatze vornehmlich nach dem unter Joseph II. freien Ideen sich öffnenden Oesterreich“ berichten (Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 220f.). Die Schweizerischen Schauspiele erschienen allerdings ohne Orts- und Verlagsangabe, was auf den für Bodmer in dieser Zeit typischen Selbstverlag hindeutet. Albert M. Debrunner (Die Schaubühne als eine republikanische Anstalt betrachtet – politisches Theater in der Schweiz (1748–1798). In: Michael Böhler u.a. (Hg.): Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Genf: Slatkine 2000, S. 33–45, hier S. 41f.) bezeichnete die Publikation der Schweizerischen Schauspiele als „Wendepunkt in der Geschichte des politischen Theaters in der Schweiz“, weil diese Lesedramen „zumindest in der Schweiz endlich Schule“ machten: 1777 erschien Zimmermanns Wilhelm Tell, 1779 Schweizerbund von Ambühl, 1781 dessen Mordnacht in Zürich und 1791 sein Wilhelm Tell. 115 Nach Aegidius Tschudis (1505–1572) Chronicon Helveticon (erstmals durch Johann Rudolf Iselin in Basel 1734–1736 zum Druck befördert) fallen die Rütliberatungen und die Apfelschuss-Episode in dieses Jahr. Der bekannte Bund der drei Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden wurde im August 1291 geschworen.
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Bündnis auch nach dem Sturz der Tyrannen zur zukünftigen Verteidigung beibehält, entsteht aus dem gemeinsamen Widerstand ein neues Staatswesen. Daran können aristokratische wie demokratische Kräfte, eifernde Patrioten wie Kosmopoliten gleichermaßen anknüpfen. Dass der Stoff fast schon sagenhaften Charakter hat, zugleich aber „ganz historisch“ scheint,116 macht ihn für Gestaltungen jeder Art außerordentlich brauchbar. Die Schweiz des Jahres 1307 ist ein so „entferntes Zeitalter“ (wie Schiller schwärmte), dass man leicht „aus dem Historischen heraus und ins Poetische“ herüberwechseln könne.117 Allein, Schillers geschichtsphilosophischer Ansatz, der ihm den Tell-Stoff so geeignet erscheinen ließ,118 war Bodmers Sache nicht. Ihm ging es wie stets bloß um die moralische Botschaft,119 die da lautet: „Abscheuen gegen Tyranney […], Werth der Freyheit und der Rechte des Volks“ (S. 9). Für diese Absicht ist der Tyrannenmörder Wilhelm Tell selbst nicht einmal so wesentlich, denn er ist ein Einzeltäter. In gewisser Weise repräsentiert er zwar die Schweizer, weil er den Gruß der Mütze verweigert und damit nur offenlegt, was alle fühlen;120 doch hat sein Anschlag auf Geßler unleugbar den Charakter einer „Privatrache“ und ist als Mord aus dem Hinterhalt nicht eben ritterlich ausgeführt. Vor allen Dingen aber gefährdet Tell mit seinem Attentat den Freiheitskampf. – Arnold von Melchthal diskutiert mit Tell seinen Anschlag: ARNOLD. Willst du einen Mord begehen? WILHELM. Ich will den gottlosen Mann hinrichten. ARNOLD. Du bist nicht zu seinem Richter gesezt. WILHELM. Muß man Patenten haben, einen Freyheitsräuber hinzurichten? ARNOLD. Aus dem dunkeln Gesträuch willst du ihn überfallen, unverwarnt; inseinen Sünden soll er ohne Beicht und Sakrament sterben? WILHELM. Man darf ein reissendes Thier durch jeden Weg, im Feld, im Gebüsch, durch Schlingen und Netze umbringen. Ich kann den nicht durch gerichte verfolgen, der alle Gerichte aufgehoben hat. ARNOLD. Wenn du den Geßlern abthust, so weckst du Beringer aus der Sicherheit, in der wir ihn gern haben wollten; er wird mehr Bewafnete in die Schlösser nehmen. WILHELM. Nennet es eine Privatrache, wälzet alle Schuld auf mein Haupt ab; verdammet die That, wenn sie geschehen ist; beweinet den Tyrann und flucht dem Pfeil, der ihn getödet hat, aber geniesset die Früchte davon.
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Bodmer: Schweizerische Schauspiele, S. 9: „Wer ein wenig in den Helvetischen Zeitbüchern herumgestochert hat, weiß daß der Urstof in diesen drey Dramen ganz historisch ist.“ 117 Friedrich Schiller: Briefe. Hg. v. Gerhard Fricke. München 1955, S. 593, bzw. Schillers Briefe. Mit Einl. u. Komm. hg. v. Erwin Streitfeld u. Viktor Žmegaþ. Frankfurt a.M. 1983, S. 426f. (an Christian Gottfried Körner, 9. Sept. 1802). 118 Weil man hier nämlich „ein ganz örtliches, ja beinah individuelles und einziges Phänomen mit dem Charakter der höchsten Notwendigkeit und Wahrheit“ überein bringen könne, heißt es in dem in der vorigen Anmerkung zitierten Brief an Körner (S. 594 bzw. S. 427). 119 „Sie selbst, mein theuerster Lehrer und Freund, haben uns gelehret, jedes Geschöpf der Poesie vornehmlich von Seite des Einflusses zu betrachten, den es auf Tugend und Sitte hat“, schrieb Johann Kaspar Heß 1768 an Bodmer (zit. nach Schöffler: Das literarische Zürich, S. 49). 120 Ein Diener sagt zu Geßler: „der elendeste von diesem hartköpfigten Volk fluchet euch im Herzen, während er das Knie vor euch bieget“ (S. 23).
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ARNOLD. Ich hätte Beringern auch im finstern Wald umbringen können. Hältst du es für Feigherzigkeit, daß ich es nicht gethan habe? WILHELM. Du machst mich von meinem Vorsatz nicht abwendig, Arnold: Heut wird Altdorf befreyt, oder Tell fällt, und wird allein befreyt (S. 22).
Ganz anders als Schiller, der in seinem Wilhelm Tell (1804) sich große Mühe gab, die Tat des Tell von der des Parricida zu unterscheiden,121 stellte Bodmer die Problematik Tells aus, ohne Stellung zu beziehen. Sein Tell handelt nicht wie Schillers „mit der gerechten Notwehr eines Vaters“ (V. 3177), sondern rein eigennützig; Geßler kommt gar nicht auf die Idee, Tells Familie zu verfolgen, sondern ist nur an dem geflohenen Schützen interessiert. Der aber hat anders als der ebenfalls flüchtige Arnold von Melchthal schlicht keine Lust, im Untergrund zu leben. „Damit ich die Maske nicht nehmen dörfe, soll mich diesen Abend noch mein Geschoß von meinem Tyranne befreyen“, erklärt er Arnold – und die Formulierungen machen bereits deutlich, wie ichbezogen Tell denkt (S. 21). Auch seine Antworten auf Arnolds Vorhaltungen in der ausführlich zitierten Szene enthalten nur einen inhaltlichen Punkt, nämlich den Hinweis darauf, dass man Geßler gerichtlich nur belangen könne, wenn „die Gerichtshöfe […] nicht des Herrschers sondern des Volkes seyn“, wie es an anderer Stelle einmal heißt (S. 37); ansonsten haben Tells Antworten doch eher den Charakter von: es sei ihm doch egal, was Arnold sage. Aber dieses eine Argument nahm Bodmer ernst genug, dass er im Titel des Stücks bereits darauf anspielt: Geßlers Tod, oder das erlegte Raubthier.122 Unter gewissen Umständen muss man auch zum Mittel des Individualterrorismus greifen, wollte Bodmer damit andeuten. Insofern mag auch ein Tell, der in Bodmers Stück im Gegensatz zu einer verlumpten Landstreicherin123 nicht einmal „menschlich genug“ ist, dem toten Geßler ein Begräbnis zu gestatten, in den Reihen der Freiheitskämpfer geduldet werden. Durch seine Tat gibt es immerhin einen Tyrann weniger. Ansonsten aber schien Bodmer die ganze Tell-Episode nicht recht ernst zu nehmen. Darauf deutet schon der intertextuelle Scherz des Philologen Bodmer, der den „Apfelschuß“ betrifft. Geßler will mit Tell, den er aus Unbedarftheit für einen „Dummkopf“ hält (S. 23), Spott treiben und befiehlt den Apfelschuss. Erschrocken ruft Wolfram von Attinghausen aus: „Das sind Einfälle, die niemals in eines Men121
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 2, S. 1024f. (Wilhelm Tell V/2, V. 3152–3184). In einer von Bodmers Historischen Erzählungen die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken (Zürich 1769, S. 40f.), die das „sanfte Verfahren mit dem öffentlichen Räuber“ thematisiert (vgl. unten S. 308f.), heißt es von den beiden anderen Landvögten Landeberg (im Drama Beringe) und Wolfenschießen: „Das Land konnte auf sie als auf Wölfe, die in ihre Thäler eingebrochen waren, Jagd machen. […] [Sie] bemächtigten sich des Schlosses und des Landebergers. Sie tractirten ihn doch nicht als einen reissenden Wolf, sondern führten ihn an ihre Gränzen, und hiessen ihn Versöhnung schwören.“ 123 Bodmer: Schweizerische Schauspiele, S. 9: „in dem mangelhaftesten Stande ist ein gutes menschliches Herz nichts fremdes“ – umso schlimmer, dass Tell es nicht hat. 122
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schen Herzen aufgestiegen sind“, worauf ihm Geßler lakonisch antwortet: „Ey doch ja. Harold, der Dähnen König, hatte einmal einen solchen Schuß dem Tocco befohlen“ (S. 16).124 Bodmers Geßler spielt damit auf die bei Saxo Grammaticus (Historia Danorum Regum Heroumque aus dem 12. Jahrhundert) berichtete Episode um den Schützen Tokko an, der auf König Harald Blaatands Befehl einen Apfel vom Kopf seines Sohns schießen musste, weil er mit seiner Treffsicherheit geprahlt hatte.125 Bodmer machte sich solcherart über integrale Bestandteile des Tell-Mythos lustig, was ihm manche Schweizer Literaturhistoriker und Patrioten nicht leicht verziehen.126 Inhaltlich schwerwiegender ist allerdings die Tatsache, dass Geßler nicht bloß ein in der Historienliteratur bewanderter Zyniker, sondern allen Behauptungen des Dramenpersonals zum Trotz kein besonders gefährlicher Tyrann ist. Ihm ist es gleichgültig, ob die Schweizer ihre „verlorne Freyheit“ beklagen oder nicht: „Beweinet sie, aber nehmet die neuen Geseze von mir an“, hält er Wolfram von Attinghausen entgegen (S. 13); er will Attinghausen trotz seiner beständigen Widerrede auch von seiner Herrschaft profitieren lassen, solange er nur gehorche. Denken möge er im Übrigen so viel und was er wolle.127 Schlimmeres als die offenkundige Verachtung für seine Untertanen, die sich in solchen Worten oder dem Einfall mit der zu grüßenden Mütze auf dem Pfahl äußert, lässt sich über Bodmers Geßler nicht berichten.128 Geßlers Unterdrückung ist mehr psychologischer als materieller 124
Dass die Apfelschuss-Episode schon hundert Jahre vor dem Rütlischwur von Saxo Grammaticus erzählt wurde, hatte 1760 der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger in seiner anonym publizierten Schrift Wilhelm Tell, ein dänisches Mährgen dargelegt. „Die Regierung von Uri liess das Büchlein durch den Henker öffentlich verbrennen“ (Peter von Matt: Triumph eines geschichtlichen Phantoms. Schillers ‚Wilhelm Tell‘ und seine Funktion im seelischen Haushalt einer Nation. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1, 3./4. Januar 2004, S. 33). 125 Geßler musste aus Saxos Historia aber auch wissen, dass derselbe Tokko zum Mörder König Haralds wurde; das hätte ihm zu denken geben sollen. 126 Tobler: Bodmers Politische Schauspiele, S. 147f.: „Wir wollen gleich von vornherein sagen, daß diese Dichtung das schwächste und zugleich geschmackloseste Produkt des alternden Dichters war, der, gleichsam von Gott und allen guten Geistern verlassen, mit diesen dramatischen Schmarren eine schwere Versündigung an der herrlichen Poesie unserer Volkssage begieng“. 127 Bodmer: Schweizerische Schauspiele, S. 16: „GESSLER. Ich verlange Gehorsam für meine Befehle, weil es meine Befehle sind. Mein Wille machet sie unverbrüchlich. Die Bauren müssen nicht fragen, ob sie gegeben sind, Nutzen oder Schaden zu thun; was so gleichgültig war als in die Luft zu blasen, wird durch mein Gebot oder Verbot so gesetzmäßig als eines der zehn Gebote Gottes. / WOLFRAM. Sagen Sie so, so muß ich mehr denken als reden. / GESSLER. Ich habe es darum gesagt. Itzt kommet mit mir, Herr Wolfram […]“. 128 Das gilt für die gedruckten Dramen. In der 1762 geschriebenen Gerechten Zusammenschwörung (ZBZ Ms. Bodmer 26.6, hier zit. nach meiner Transkription unter Angabe von Akt/Szene) ist Geßler zusätzlich noch als Wollüstling gezeichnet, der die unschuldigen Töchter begehrt; so sagt er zu Werner von Stauffach in I/1: „Man sagte mir, du habest eine Tochter, eine blühende Rosenknospe; ich bin den Rosenknospen hold. – Heiß sie uns hervorkommen […]. Wenn sie mir gefällt, so will ich sie zu meiner Favoritin machen“. Bodmer tilgte dieses Motiv in den gedruckten Einaktern bis auf einen sehr schwachen Reflex in der Eingangsszene, der indessen nicht direkt auf Geßler bezogen wird („lange sind unsere Töchter, unsere Weiber nicht mehr
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Natur. Entsprechend klagen die Schweizer zu Beginn vor allem über den Verlust ihres Selbstwertgefühls: WALTHER [FÜRST]. Guter Gott! Welche Sclaven sind wir aus Freygeborenen geworden! [….] WOLFRAM [VON ATTINGHAUSEN]. Wir sind kein Volk mehr, Walther, wir sind nicht mehr unser selbst, unser Leid ist nicht mehr unser. […] Der gerechte Gott thue Vorsehung, daß ich dieses schändliche Leben nicht lange mehr leben soll (S. 13).
Zu spät bemerkt Geßler, dass sein Stolz ohne die dahinter stehende Drohung materieller Gewalt ihm auf Dauer die Herrschaft nicht wird erhalten können. „Ich hatte nichts als Verachtung für sie; ich beschimpfte sie mehr, als ich sie drückte. Ich muß Blut vergiessen, wenn mir die Herrschaft nicht entschlüpfen soll“, überlegt er sich nach Tells Flucht (S. 23). Doch kommt ihm diese Erkenntnis zu spät, denn in der nächsten Sekunde trifft ihn Tells Privatrache. Von ganz anderem Kaliber ist der von Arnold von Melchthal in dem Gespräch mit Wilhelm Tell erwähnte Beringer. Er „drückt“ das Volk materiell, zum Beispiel indem er den Leuten Ochsen wegnehmen lässt, und hat überhaupt seinen Spaß an physischer Grausamkeit, zum Beispiel in Form von Vergewaltigung (S. 29: „ein Verbrechen der Liebe: das man einem Mann von Verdiensten zugute hält“) oder Folter (S. 31: „Ich erbettle den Gehorsam nicht mit schönen Wort, und kauf ihn nicht mit Milde. Ich habe die Macht, und will sie haben, hart zu seyn, wenn es mir gefällt“). Entsprechend hat Beringer auch für seinen Kollegen Geßler nicht viel übrig und hält dessen Sturz aus Naivetät für selbstverschuldet. „Ich will mich besser vorsehen, und meine Besatzung mit noch ein paar hundert Mann verstärken“ (S. 43), erklärt er nach Geßlers Tod und bestätigt damit die gegenüber Wilhelm Tell geäußerten Befürchtungen Arnold von Melchthals. Die Befreiung des Landes von Beringer interessierte Bodmer wesentlich mehr, als die Privatrache des egozentrischen Tell. Hier bewährt sich nämlich die demokratische Reife des Volks im Kollektiv. Der abschließende Teil von Bodmers „Schweizerdramen“ (Der Haß der Tyranney und nicht der Person, oder Sarne durch List eingenommen) führt die wirkliche Befreiung der Schweiz vor, nicht indem sich ein Einzelner von seinem Tyrannen befreit, sondern weil „dieses unterdrückte Volk“ insgesamt „aus dem Staube, wo es itzt liegt, sich aufraffen wird“, wie der Kirchherr von Sarnen prophezeit (S. 36). Am Neujahrstag 1308 dringt ein Haufen Bauern unter der „Maske der Unterwürfigkeit“ (S. 42) und unter dem Vorwand, Beringer eine Herde Schafe schenken zu wollen, in dessen Sarner Schloss ein und entwaffnet die Besatzung. Zugleich erobert ein anderer Haufen die Burg Roßberg, und ein dritter Haufen nimmt Beringer selbst auf dem Weg in die Kirche gefangen.
unser gewesen“ [p. 3f.], klagt Wolfram); ja, Bodmer milderte sogar den Stolz Geßlers noch etwas.
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Eingeleitet wird diese Aktion durch eine „stattliche Rede“ (S. 41) eines Bauern, woraufhin man sich noch einmal der eigenen Ziele vergewissert. „Heute will die Vorsehung durch uns entscheiden, ob wir ein Vaterland haben sollen; diese Jahre hatten wir keines. Da ist kein Vaterland, wo nur Civile und nicht politische Tribunale sind, wo die Gerichtshöfe des Königs und nicht des Volkes sind“, heißt es hier. Man will eine „Verfassung, die unsre Pflichten bestimmt“ und keine Gesetze mehr, die von den Grillen eines Einzelnen abhängen; man will nicht mehr um den Lohn seiner Arbeit und die Töchter sollen nicht mehr um ihre Ehre betrogen werden; „die Liebe zum Vaterland“ soll wieder aufblühen und das heißt: „die Liebe der Freyheit, des Eigenthums, der Gleichheit“ (S. 41 f.). Um dieser Ziele willen sei es im Übrigen erlaubt, so der eine Bauer, „eine heuchlerische Tücke“ anzuwenden, nämlich sich durch die „Mine der Dienstbarkeit“ und die „Sprache der Niederträchtigkeit“ Zugang zum Schloss zu verschaffen. „Ich halte desto mehr auf unsern hinterlistigen Anschlag“, meint er, „weil wir so weder des Feindes, noch unser eigenes Blut vergiessen“, wenn alles klappt wie geplant (S. 42). Nachdem der Anschlag gelungen ist und Beringer seiner Strafe zugeführt werden soll, zeigt sich erst, dass die Aufständischen die Freiheit tatsächlich verdient haben. Arnold von Melchthal, Sohn des von Beringer grausam gefolterten Heinrich von Melchthal, bittet das Leben Beringers zu schonen. Meine tapferen Freunde und Brüder, Gott hat unsere gerechte Beschützung beglücket; die Schlösser sind in unserer Gewalt, und ihre Hüter sind von uns gebunden, wir sollen wieder Gesetze und Rechte haben, und ein Eigenthum, das sie beschirmen. Laßet uns der Welt und dem König eine grosse Probe geben, daß wir die Tyranney mehr als den Tyrann gehasset haben. Wir wollen den Ruhm erhalten, daß wir das Land von den Gewaltthätigen gereiniget haben, ohne einiges Menschenblut zu vergiessen. Das Blut, das Tell vergossen hat, und Wolfenschiessen Blut, schreyt nicht gen Himmel. – Beringer soll dem König sagen, daß wir ihm hold und getreu bleiben, und keinen Irdischen über ihn erkennen; aber den Schöpfer der Menschen, den Liebhaber der Ordnung, erkennen wir über ihn, und wir wollen lieber kein Volk seyn, als eine willkührliche, unumschränkte Gewalt leiden (S. 47).
Arnolds Plädoyer verfehlt seine Wirkung nicht. Die Gemeinschaft beschließt, nach seinem Vorschlag zu verfahren. „Was Arnold gut findet, soll uns auch gefallen“, sagen sie. „Grosses Beyspiel der Mäßigung“, schwärmt daraufhin der Kirchherr von Sarne, der bis dahin stummer Zeuge der Verhandlungen gegen Beringer war: „Damit, daß ihr euch selbst so wohl regieren könnet, zeiget ihr, daß ihr würdig seyd der Freyheit“ (S. 47).129 Diese Apotheose der Freiheit, die Bodmers letztes Schweizerdrama darstellt, ist auch in der formalen Gestaltung des Volks interessant: Zunehmend verlieren die Akteure ihre Namen. Waren in der Anfangsszene noch die Bauern Johannes an der Matte, Arnold Winkelried und Claus Geißweiler namentlich aus dem „Haufen der Bauren“ als Sprecher herausgehoben worden, so heißt es nach der erfolgreichen 129
Vgl. oben die in Anm. 122 zitierte Erzählung „Das sanfte Verfahren mit dem öffentlichen Räuber“ (Bodmer: Historische Erzählungen, S. 40f.).
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Befreiung nur noch: „EINER VON DIESEM TRUPPE“ bzw. in allen folgenden Fällen: „EIN ANDERER“. Die namentlich bezeichneten Akteure der Anfangsszene treten gar nicht mehr auf. Allein der mit allem Grund für eine „Privatrache“ ausgestattete Arnold von Melchthal tritt noch einmal als individueller Charakter aus der Masse der Bauern heraus, um das zitierte Plädoyer zu halten. Ihm antworten: „ALLE“ (S. 45–47). Die erfolgreiche Befreiung durch die konzertierten Aktionen der drei Haufen formt also aus einzeln unterdrückten Bauern ein Volk, das nur noch mit einer Stimme und von sich in der ersten Person Plural spricht. Was hier sichtbar wird, ist Bodmers Versuch, die volonté générale direkt in dramatische Form zu übersetzen. Auf Vorschlag Arnold von Melchthals zwar, aber doch in seinen Entschlüssen autonom, beschließt das Kollektiv, so zu verfahren, weil es „unser wahrer Nutzen ist“: Bindet den Gefangenen loos, wir wollen ihn an die Gränzen führen, er mag in dem flachen Land erzählen, daß wir ein menschlich Eingeweid haben, und Barmherzigkeit an unserm Räuber und Schänder bewiesen haben (S. 47).
Obwohl Arnold in seiner Rede auch Tells Mord entschuldigt, ist die moralische Überlegenheit des kollektiven Handelns der Bauern gegenüber dem individualterroristischen Konzept der „Privatrache“, auf die Arnold von Melchthal trotz guter Gegengründe ausdrücklich verzichtet, nicht zu übersehen. Deshalb konnte Bodmer zwar an den Tell-Mythos anknüpfen, doch musste er über ihn hinausgehen, denn die wirkliche Befreiungstat lag für ihn in der Einnahme Sarnens durch das anonyme Volkskollektiv. Warum im Gründungsmythos der Schweiz gleichwohl Tell eine so große Rolle spielte, thematisiert das Drama in einer metareflexiven Szene auch. Bodmer selbst mochte Tell nicht besonders, das ist bereits deutlich geworden. Bereits Jahre bevor er sich selbst dichterisch mit dem Thema auseinandersetzte, hatte Bodmer am 18. Dezember 1748 an Henzi geschrieben, nachdem er die erste Fassung von dessen Tell-Grisler-Drama gelesen hatte: „Tell ist glücklich, daß die Poeten und Historici conspirieren, ihn zu einem Helden zu machen. Ich habe niemahls vil auf seinen wahren Charakter gehalten. Er dünkte mich stets ein Etourdi, der durch seinen unzeitigen Eifer die conjuration beynahe vor der Zeit verraten hätte“.130 Genau dies führt Bodmers Stück ja vor, wie ich zeigte. Nachdem nun aber das Volkskollektiv ohne Tells Mittun sich von der Tyrannei der habsburgischen Vögte befreit hat, wünscht sich der Minnesänger Rost von Sarnen, „der auch bey dem Trupp war“ und als zunächst anonymes Glied der Gemeinschaft an der Befreiungsaktion mitwirkte, aus „Entzückung“ über die wiedergewonnene Freiheit, seiner „poetische[n] Ader“ freien Lauf lassen zu dürfen. Dies gewährt man ihm: „Horchet auf, Rost will
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Zit. nach Elsbeth Merz: Tell im Drama vor und nach Schiller. Bern 1925, S. 48.
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unsere Befreyung singen, was Rost singet, werden unsere Enkel nach Jahrhunderten singen!“ (S. 48) Vielleicht hätten sich die Freiheitskämpfer den Text von Rosts Lied zuerst einmal zur Genehmigung vorlegen lassen sollen? Denn Rost besingt die „Befreyung“ mit einem „neue[n] Lied“ über den „Helden“ Wilhelm Tell. Dass der ‚unbesonnene Heißsporn‘ Wilhelm Tell zu einer eidgenössischen Identifikationsfigur wurde, liegt in der Fiktion von Bodmers Drama also nur daran, dass er das ungerechtfertigte Glück hatte, zum Helden eines Lieds zu werden, das die „Enkel“ der eigentlichen Freiheitskämpfer „nach Jahrhunderten“ noch „singen“; welch ein historisch-poetischer Irrtum! Als ob Bodmer der persuasiven Kraft seiner letzten Szene nachträglich misstraute, nannte er in einem sieben Verse umfassenden Zusatz, der im ursprünglichen Stück noch nicht vorhanden war und vermutlich erst 1774/75 entstand, im dritten Vers noch einmal die Namen seiner eigentlichen Helden, die anders als Tell ihre Privatinteressen hintanzustellen wussten und so zu – in ein Kollektiv eingehenden – Protagonisten der eidgenössischen Selbstbefreiung werden konnten: Nimm o Muse den Theil, der dir gebürt, an der Freude Dieses befreyten Volks, und weine Thränen der Wonne, Wenn du die Nahmen denkst, [Walther] Fürst, [Werner von] Stauf[f]ach, Arnold von Melchthal. Wie viel herrlicher ist ihr Lob […] als anderer Ruhm ist (S. 50).
Voraussetzung für Bodmers Darstellung der „Befreyung“ durch ein anonymes Volkskollektiv war die mythische Ferne der Vorgänge von 1307/08. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts lebte das Bergvolk in einer historischen Krisensituation auf der Grenze von barbarischer Wildheit und hyperzivilisierter Degeneration, in der „die Seele selbst eines Volkes sich zu höhern Dingen, und einer edlern Art der Sitten erhebet“, wie Bodmer in der Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften die Optimumtheorie des schottischen Gelehrten Thomas Blackwell wiedergab (7. Stück, S. 7).131 Bodmer hatte stets „das Gegenspiel grossen Ruhms und natürlicher Einfachheit, politischer Klugheit und natürlicher Wildheit, Adel der Sitten und bäuerlicher Primitivität“ bei den Alpenbewohnern fasziniert.132 Geßler, Beringer und Wolfenschießen und andere habsburgische Landvögte werden als von außen kommende Besetzer gesehen, die ein neues und zwar absolutistisches Recht einzuführen versuchen, indem sie die Allmende enteignen und unbedingten Gehorsam fordern (S. 16 und 43).133 Sie scheitern deshalb,
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Blackwells 1735 in dem Enquiry into the Life and Writings of Homer entwickelte Theorie fand im 18. Jahrhundert rasche Verbreitung; vgl. Debrunner: Das güldene schwäbische Zeitalter, S. 82–84. 132 Wehrli: Bodmer und die Geschichte der Literatur, S. 82. 133 Vgl. z.B. Bodmer: Der Haß der Tyranney, S. 8 („BERINGER. […] Was in der Luft flieget, was in den Wäldern oder in den offenen Matten umirret, was in den Flüssen und Seen schwimmt,
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weil die Erinnerung an die alte Freiheit noch frisch ist. „Kann ich vergessen, daß wir Eigenthum und Rechte hatten, da wir in der Dunkelheit lebten“, fragt Attinghausen den Landvogt Geßler, der ihm „eine neue Sonne“ verspricht (S. 13). Da die Erinnerung an die erst kurz vergangene Zeit in der dramatischen Fiktion allgemein ist, konnte Bodmer in den Schweizerischen Schauspielen die Freiheit „von ihrem Umsturz“ (S. 48) durch ein aus lauter mehr (Arnold von Melchthal) oder weniger (Wilhelm Tell) „edlen Wilden“134 bestehendes, idealisiertes Kollektiv namens „Volk“ wieder aufrichten lassen. Die wahren Umstürzler sind nämlich die habsburgischen Eindringlinge. In den anderen „Nationaldramen“,135 die innere Konflikte der Schweizer Republiken zum Thema haben, ist eine solche Darstellung des Volks nicht möglich. Bodmer musste hier eine differenziertere Darstellung wählen, weil die in den folgenden Jahrhunderten zu Oligarchien degenerierten Republiken nach Bodmers Ansicht nicht mehr von einem edlen Urvolk, sondern zum Teil von einem dumm gemachten Pöbel bewohnt wurden. Die Erinnerung an die Freiheit hat nun nicht mehr jeder Einzelne, sondern vor allem der Gebildete. „Welche Seltenheit ist nicht ein Handwerker, ein Bauer, der etwas von der Geschichte der Leibeigenschaft, von der Befreiung der Bürger und dem Zurückbleiben der Bauern weiß“, seufzte Bodmer in einem Brief.136 Aufgabe des Intellektuellen aber war für Bodmer die Verbreitung dieses Wissens, zum Beispiel mittels politischer Schauspiele.
Republikanische Antikenspiele Seinen Zeitgenossen war Bodmer aber nicht wegen seiner „Nationaldramen“ bekannt, sondern wegen der zahlreichen politischen Schauspiele römischen oder griechischen Inhalts. In ihnen dramatisierte er die damals geläufigen republikanischen Heldengeschichten um Timoleon137 oder Epaminondas, um Junius Brutus oder Marcus Brutus und viele andere.138 Stets sind sie von dem immer gleichen Freiheitspathos durchdrungen und was die Volksdarstellung angeht, lassen sich hier keine neuen Beobachtungen machen; insbesondere keine so interessanten alles ist des Königs, und er giebt es euch mit königlicher Milde. Seine Person ist in mir da“); Wilhelm Tell, S. 11 (siehe Anm. 127). 134 Vgl. Zurbuchen: Patriotismus und Nation, S. 162. 135 So nannte Bodmer in einem Brief an Schinz (18. Aug. 1773) die drei Zürich-Dramen über Brun, Schöno und Stüssi (vgl. Crueger: Bodmer über Goethe, S. 184f.). 136 An Heinrich Meister (zit. nach Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 234). 137 Zum Timoleon vgl. die Ausführungen oben S. 222–226. 138 Die Titel der politischen Dramen sind: Julius Cäsar (erschienen 1763); Marcus Tullius Cicero (1764); Der Vierte Heinrich, Kaiser, Cato der Aeltere oder der Aufstand der römischen Frauen, Marcus Brutus, Tarquinius Superbus, Italus, Timoleon, Pelopidas (1768); Octavius Cäsar, Nero, Thrasea Pätus, Die Tegeaten, Die Rettung in den Mauern aus Holz, Aristomenos aus Messenien (1769); Cajus Gracchus (1773); Patroclus, Die Cherusken (1778); Brutus und Kassius Tod (1782).
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Beobachtungen wie bei den Schweizerdramen, deren Stoffe Bodmer den Urkunden entnahm, die er als Professor für Helvetische Geschichte gut kannte. Die Dramen aus der römischen und griechischen Überlieferung sind naturgemäß viel unselbstständiger, da sie Literatur aus Literatur sind, nicht aber primäre Übersetzungsversuche der urkundlich ungestaltet überlieferten Stoffe wie bei Stüssi, Schöno, Brun oder Arnold von Brescia.139 Auch ging es ihm hier um etwas anderes. Bodmer will bewundernswerte Helden aufführen. Ihn interessierte ausschließlich deren Tugendstärke. Die Protagonisten in einem Drama, welches so große Angelegenheiten umfasset, wie die Nationalinteressen sind, müssen nothwendig starke Seelen seyen, die sich gegen Uebel, die unter hohem Schutze stehen, mit dem Muthe der heroischen Zeiten bewaffnen. Es sind Aristides, Epaminondas, Timoleon, Gracchus, die man in unsern Tagen für Stoiker und Fanatiker hält,
heißt es in seinem Aufsatz über „Politische Trauerspiehle“ (S. 915). Also müssen sie sich vor allen Dingen gegenüber korrumpierenden Verlockungen stark zeigen. Von Cäsar vor die Wahl gestellt, entweder zu sterben oder seiner Ernennung zum König zuzustimmen, entscheidet sich Cicero selbstverständlich, ohne die eingeräumte Bedenkzeit nutzen zu wollen, für den Tod (Julius Cäsar, S. 31). Marcus Brutus wählt ebenso, obwohl Cäsar ihm als Preis für die Zustimmung zu seiner Krönung einen Teil der Macht anbietet (S. 32–36). Bodmers Tugendhelden sind allesamt in das Übermenschliche gesteigert; eine Vorstellung davon vermittelt, dass Bodmer Wielands Johanna Gray, deren „ausserordentliche Frömmigkeit“ von Mendelssohn und Lessing verspottet wurde,140 eher noch zu wenig fromm fand, so dass er eine neue Johanna Gray (1761) schrieb, in der er die Tugendhaftigkeit der Heldin „noch um etliche Grade erhöhete“.141 Entsprechend hat es Bodmer später an Lessings Emilia Galotti am meisten geärgert, dass Emilia „zu schwach“ sei, „an ihre eigene Tugend zu glauben“.142 139
Unabhängig davon, dass Arnold von Brescia nur verstümmelt gedruckt wurde, sind doch die angeschlossenen „Erinnerungen“ (S. 39–47) von hohem Interesse. Hier legt Bodmer akribisch Rechenschaft von seinen mittelalterlichen Quellen ab. Man kann hier ganz gut nachvollziehen, wie Bodmer bei aller Behauptung historischer Treue in ein recht mageres Gerüst von Daten und Fakten seine politischen Ansichten einmontierte. Er bedauerte sogar, so wenig Quellen zur Verfügung zu haben und meinte über eine Figur des Fortsetzungsstücks Arnold von Brescia in Rom: „sie ist leider nur erdichtet“. 140 Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. v. I. Elbogen u.a., fortges. v. Alexander Altmann. Band 4: Rezensionsartikel in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756–1759). Bearb. v. Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Canstatt 1977, S. 375–387, hier 386: „Die Kunstrichter, welche den Dichtern raten, nichts als vollkommen tugendhafte Personen aufzuführen, mögen aus dem Exempel dieses Trauerspiels lernen, wie schädlich ihr Rat für tragische Dichter sei“; vgl. Lessing: Werke, Bd. 5, S. 206 (63. Literaturbrief): „der Mann […] hat den gutherzigen Fehler, auch unter uns schwachen Sterblichen eine Menge Cherubim und Seraphim, besonders weiblichen Geschlechts zu finden“. 141 Vorrede eines „Freundes“ zu Johann Jakob Bodmer: Drey neue Trauerspiele. Zürich 1761, S. 12. 142 Siehe den Brief Sulzers an Bodmer, 24. Dez. 1774 (Briefe der Schweizer, S. 422).
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Umgekehrt sind Bodmers Schurken wirklich große Bösewichter. „Stärke der Seele“ billigte er nämlich auch Sulla, Catilina und Cäsar zu, bloß hätten sie „ihre Stärke zur Unterdrückung des Staates angewandt“.143 Entsprechend stattete Bodmer seinen Cäsar zwar mit einem „großen Geist“ (S. 41) aus, doch denkt dieser damit teuflisch. Cäsars Plan ist es, den Senat zu zwingen, ihm die Königswürde anzubieten; sei das gelungen, will er die Demütigung noch weiter treiben und sich die Vielweiberei gestatten lassen, seine Hauptstadt nach Kleinasien verlegen und die Alleinherrschaft erblich machen. Cäsar bekennt sich als machtbesessener Despot, der aus Hass und Verachtung die ganze Welt in eine ewige Sklaverei zwingen will. Sein Ehrgeiz treibt ihn, die standhaften Republikaner umzubringen „und die andern aus einem wohlgezogenen Volke zu einem wahren Pöbel, zu Weichlingen, Wollüstlingen ohne Ehre, ohne Muth, ohne Ruhmbegierde“ (S. 16) zu machen. Ich will meiner Herrschaft eine Dauer geben; sie soll nach mir auf meine Lieblinge kommen. Wenn ich nicht mehr der sichtbare Gott seyn werde, den die Erde mehr als die unsichtbaren fürchtet, so soll das Werk meiner Macht noch bestehen; der Staat soll so gänzlich umgewandt, die alte Denkungsart, der römische Geist sollen so tief danieder gedrückt werden, daß der nichtswürdigste Mensch, wenn das Schicksal es gut findet, einen solchen auf Cäsars Thron zu setzen, nach seiner Phantasie handeln, das Volk nach seinem Gefallen plagen, ängstigen, plündern, zerstören kann. Wenn meine Thronfolger Ungeheuer sind – und in einer Reihe von unumschränkten Herrschern mögen solche entstehen, die nur die Gestalt mit dem Menschen gemein haben – so sollen sie, mitten in der Zeit, da sie in menschlichem Blute baden, und den ganzen Erdboden mit Mord und Brand anfüllen, geduldet, angebetet, vergöttert werden. Man soll Herr und Meister des menschlichen Geschlechts seyn können, ohne daß man Vernunft vonnöthen habe, oder menschliche Neigungen und Affecten besitze, selbst bey dem unversöhnlichsten Hasse gegen das Geschlecht der Menschen, und dessen täglicher Ausübung. Dem Willen des Mannes, den mein Name erhebet, soll die Ehrfurcht gegen den Vater, die Zärtlichkeit gegen die Gattin und die Kinder, gegen Ehre und Gesundheit, alles soll weichen. Was er im Schlafe oder unter den Dämpfen des Weins befiehlt, soll vollstreckt werden. Wenn er in Rom sein Pferd zum Consul ernennt, soll Rom die Stirne nicht falten. Das ist das Schicksal, das ich Rom und der Erde zugedacht habe. Urtheile, wie sehr ich sie verachte, und wie sehr ich sie hasse. (S. 20 f.)
Bodmers Cäsar ist ein geborener Tyrann; sein Hass und seine Verachtung sind gleichsam existenzieller Art und werden weder begründet noch erklärt. Wie Shakespeares Richard III. ist Cäsar ein Abkömmling der rücksichts- und gewissenlos mordenden Tyrannen der Renaissance-Dramatik in der akademischen Nachfolge Senecas.144 Das trug Bodmer den Vorwurf ein, die Gestaltung des Titelhelden verstoße gegen die Natur des menschlichen Herzens, gegen jede Wahrscheinlichkeit und vor allem aber gegen die historische Wahrheit, denn alle römischen Auto-
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Bodmer: Politisches Trauerspiehl, S. 915. Vgl. Ina Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit · der Mensch · das Werk · die Nachwelt. 2. Aufl. Stuttgart 1978, S. 395.
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ren der Überlieferung hätten Cäsar als einen zwar problematischen, aber doch edlen Charakter geschildert.145 Bodmer war aber in den Antikenstücken nicht an vermischten Charakteren interessiert. Schon in seinen Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741) reklamierte er für die Poesie das Recht, „die unvollkommenen Character, die man in der Historie findet, mittelst Zusätze, Abziehungen und Zusammensetzungen seiner Absicht gemäß auszuarbeiten“.146 Aus Gründen der demokratischen Parteilichkeit musste Cäsar daher zu einem erstklassigen Bösewicht, Brutus dagegen zu einem vollkommenen Tugendmuster werden. Die gleiche Parteilichkeit bestimmte Bodmer, sowohl seinen Julius Cäsar (geschrieben 1762, gedruckt 1763) als auch seinen Marcus Brutus (geschrieben 1761, gedruckt 1768) enden zu lassen, bevor die Attentäter sich vor dem Volk von Rom zu rechtfertigen haben. Für Bodmer muss es schwer erträglich gewesen sein, dass sich in Shakespeares Tragedie of Ivlivs Cæsar (Uraufführung 1599, gedruckt 1623) die republikanischen Attentäter durch ihren Mord so schwer versündigen, dass nur ihr Freitod sie entsühnen kann, was in der aufklärerischen Rezeption so gelesen wird, als sei Cäsar postum der moralische Sieger des Stücks. Kennzeichnend dafür ist Wielands Sicht auf das Stück, in der Brutus als Dummkopf und Cäsar als der „Grösseste der Sterblichen […], der jemals gebohren worden ist“, erscheint.147 In Shakespeares Stück ist aber ausgerechnet die Volksszene III/2 der Punkt, an dem die Verschwörer ihren Sieg aus den Händen geben und Cäsars Gefolgsmann Antony durch seine Rede vor dem Volk den letztlichen Sieg der Monarchie einleitet. In Bodmers Julius Cäsar dagegen wird in der letzten Szene Marc Anton von Brutus’ Gefolgsleuten in seinem Versteck aufgespürt und – trotz des Vorschlags einiger, ihn auch zu töten – lediglich verhaftet (S. 78: „da der Tyrann todt ist, und die Gesetze wieder aufstehen, so ist das nicht nöthig, was man Mord nennt“) und der Justiz übergeben. Bodmer schreckte also nicht davor zurück, selbst eine so bekannte Geschichte wie den Mord an Cäsar zu ‚verfälschen‘, bloß damit den tugendhaften Attentätern wenigstens poetisch zum Sieg verholfen wird.148 145
Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 10, 1. St., S. 138. Verfasser der Rezension war vmtl. Christian Felix Weiße, dessen Richard III. sich von Lessing einige Jahre später denselben Vorwurf gefallen lassen musste. 146 Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde, S. 411. 147 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Unveränderter Abdruck der Editio princeps (1767). Bearb. v. Klaus Schaefer. Berlin 1961, S. 271 (1. Fassung: 9. Buch, 2. Kap.); vgl. ders: Sämmtliche Werke. 39 Bde u. 6 Suppl.-Bde. Leipzig 1794–1811, Bd. 2, S. 260f. (3. Fassung: 10. Buch, 2. Kap.); vgl. dazu ausführlich Arnd Beise: Charlotte Corday – Karriere einer Attentäterin. Marburg 1992, S. 67f. 148 Bodmer hatte früher die Idee der poetischen Gerechtigkeit abgelehnt; entsprechende Forderungen des italienischen Dramentheoretikers Pietro di Calepio (1693–1762), mit dem Bodmer unter anderem über die „poetische Gerechtigkeit“ korrespondierte, konterte er mit dem Realitätspostulat seiner Nachahmungstheorie (vgl. Bodmer: Brief-Wechsel, S. 95–105). In einem Kommentar zu Calepios Buch Paragone della poesia tragica d’Italia con quella di Francia (1732) gestand Bodmer zwar den Dramen, „in welchen die Strafe dem Laster auf dem Fuße
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In der ersten Behandlung desselben Stoffs, Marcus Brutus, hatte Bodmer das geschichtliche Faktum, dass man Marc Antons nicht habhaft wurde, respektiert; die Attentäter wissen, dass noch einiges zu tun bleibt: wir haben nur erst den Tyrannen hingerichtet, noch ist die Freyheit nicht in ihrer wahren Gestalt da, so lange nicht die Wollüste, die Rom entnerfen, die Begierde zu herrschen, die Hoffnung, sich der Republik zu bemeistern, vertilget sind.149
Die historisch unterrichteten Leser mögen dann die feste Überzeugung der Attentäter vor ihrem nicht mehr vorgeführtem Gang aufs Capitol, dass sie die Herzen der Römer leicht gewinnen werden, als tragischen Irrtum begreifen. Das Stück selbst endet aber mit einer poetischen Apotheose des Attentats, das als von den Folgen befreite Aktion zur Erbauung „populare[r], patriotische[r] Personen, in dere[n] Gemüthern die Privattriebe durch die öffentlichen niedergedrukt sind“ (so Bodmer später),150 dienen kann: „Späte Jahrhunderte sollen diese grosse Scene in Staaten, die noch nicht sind, und in Sprachen, die noch nicht geredet werden, auf die Schaubühne bringen“.151 Erst in seinem letzten Brutus-Drama Brutus und Kaßius Tod (1782),152 „veranlaßt durch die Preisgebung der Volksparthei in Genf von Seite der Kantone“,153 wagte es Bodmer sich und seinem Publikum einzugestehen, dass nicht die Demokraten den Sieg davontrugen, sondern die Monarchisten. Zwar predigte Bodmer hier noch einmal den „unversöhnlichen Haß gegen Unterdrucker“ (S. 5), doch verschwieg er nicht mehr die Niederlage: „Die Herrschsucht hat über die Tugend folget“ einen gewissen Vorzug vor den realistischen zu, weil hier die göttliche Weltordnung unmittelbarer in die Augen falle, allein er mochte die „tragischen Scribenten“ nicht tadeln, „welche in ihren Trauerspielen den Menschen so begegnen, wie sie es in der Welt bekommen“, was nichts anderes heißt, als dass „das Gute und das Übel den Frommen und den Bösen ohne Unterschied“ begegne; ja „der gerechteste Mensch kann dem Unglück nicht entrinnen, die Verruchten werden öfters von dem Glücke mehr begünstigt als die Redlichen, und es ist gewiß, daß mancher Übelthäter der verdienten Strafe sich entzieht“ (Bodmer/Breitinger: Critische Briefe, S. 82; vgl. auch die Vorrede eines „Freundes“ zu Bodmer: Drey neue Trauerspiele, S. 13f. und 15: „eine überhangende Mauer“ höre nicht auf „zu sinken, wenn ein Gerechter darunter steht“, heißt es da sehr schön). Doch Bodmers politische Tendenziösität lässt ihn später alle poetologischen Lockerungen vergessen. Moderne Literaturwissenschaftler sprachen von einem „Rückschritt in der Theorie“ mit „noch viel unliebsameren Konsequenzen in der Praxis“ (David E. R. George: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. München 1972, S. 189). Bodmers zeitgenössischer Herausgeber Gellius dagegen empfand Bodmers Julius Cäsar-Drama als moralischer als das von Shakespeare; im Gegensatz zu dessen Drama hielt er Bodmers für „keine blendende, sondern eine sittsame Schönheit, die sich immer einen stillen, freywilligen Beyfall abnöthiget, wenn sie gleich nicht auf Entzückungen Anspruch macht“ („Vorbericht“ zu Johann Jakob Bodmer: Julius Cäsar, ein Trauerspiel. Hg. v. Johann Gottfried Gellius. Leipzig 1763, S. [6]). 149 Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 1, S. 100. 150 Bodmer: Politisches Trauerspiehl, S. 915. 151 Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 1, S. 103. 152 Zitate aus Bodmers Brutus und Kaßius Tod werden im Folgenden mit bloßer Seitenzahl des Erstdrucks von 1782 nachgewiesen. 153 Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 222.
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gesieget“, kommentieren Brutus’ Freunde das Ende der Freiheitskämpfer: „Rom ist in Banden! Mögen Mark Anton und Oktavius sich in die Welt theilen“ (S. 38). An dieser Stelle übrigens schien sich Bodmer auf den sonst nicht besonders geschätzten Voltaire zu beziehen, jedenfalls deckt sich die Haltung der unterlegenen Republikaner mit den letzten Worten Palmires in der gegen den religiösen Totalitarismus gerichteten Tragödie Le fanatisme, ou Mahomet le prophète (1741): „Tu dois régner; le monde est fait pour les tyrans“ (V/4).154 Einmal mehr ist die Sache der Tugend unterlegen; und der sehnliche Wunsch von Brutus’ Parteigängern, der Himmel möge zusehen, „damit man den Vorwurf nicht wiederholen müsse, die Götter haben die ungerechte Seite und Kato die gerechte gehalten“ (S. 17),155 erfüllt sich nicht. Bodmer restituierte in seinem letzten Stück die voraufklärerische Tragik, denn mit Brutus stirbt ein durch und durch tugendhafter Mensch. Anders als es Gottsched bei seinem Cato versuchte – bevor er seinen Moralismus praktisch156 und theoretisch157 dem Realismus aufopferte –, stattete Bodmer seinen Brutus mit keinem Fehler aus, der das Schicksal berechtigt hätte, ihn untergehen zu lassen. Deutlich wird dies im expliziten Vergleich zwischen Brutus und Pompeius. Diesen hätten nämlich die Götter fallen lassen, weil er für seine eigene Herrschaft und nicht für die Freyheit im Feld lag. Hätte Brutus wie er nach Herrschaft gestellt, so lebete Cäsar und Brutus sässe an seiner Seite. Aber Brutus Denkungsart ist nicht Wohlredenheit ohne Weisheit, sie ist Glauben an Tugend (S. 17).158
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In Goethes Übersetzung: „Die Welt ist für Tyrannen; lebe du!“ (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 in 26 Bdn. Hg. v. Karl Richter u.a. München 1985–1998, Bd. 6.1, S. 180). In diesem Vers drücke sich das Wesen des Trauerspiels aus, meinte Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., 3. Buch, § 51; Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988, Bd. 1, S. 336); für Platen war er Ausdruck der traurigen, aber wahren Lehre, die zu erteilen die „Hauptaufgabe des tragischen Dichters“ sei, nämlich „zu zeigen, daß die Welt immer so schlecht war, wie sie noch jetzt ist, und daß gerade die edelsten Menschen, sobald sie tätig in den Weltlauf eingreifen, der mächtigen Bosheit zum Opfer werden“ (Nachwort zur Liga von Cambrai, in: Sämtliche Werke. 12 Bde. Hg. v. Max Koch u. Erich Petzet. Leipzig 1910, Bd. 10, S. 209). 155 Ein geflügeltes Wort aus der Pharsalia des Lucanus (1, 128): „victrix causa deis placuit, sed victa Catoni“ (über die Niederlage des Pompeius in Thapsus 46 v. Chr.), vgl. M. Annäus Lukans Pharsalia oder Bürgerkrieg. Übers. v. Philipp Ludwig Haus. Mannheim 1792, Bd. 1, S. 7: „Der siegenden Parthei hielten die Götter, – der besiegten Kato zu.“ 156 Vgl. oben S. 197–202 zu Gottscheds Trauerspiel Die Parisische Bluthochzeit. 157 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Akademische Vorlesung […] uber die Frage: Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse? 1751, den 8 May, auf der Paulinerbibliothek gehalten. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Hg. v. dems. Leipzig 1751, Bd. 1, S. 391–405 u. 486–496. 158 Damit wird Brutus zu einem Philosophen gemacht, der – wie Bodmer in seinen Dramen – auf die Tricks der Leidenschaftserregung mittels Rhetorik oder Kunst verzichtet; vgl. Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde, S. 404: „Wenn wir die Sache in dem Grunde betrachten, so kan Wahrheit und Weisheit ohne Beredsamkeit, und Beredsamkeit ohne Weisheit seyn. Die Beredsamkeit nimmt sich vor, die Gemüther zu rühren, und darinnen eine mit Furcht, Mitleiden und Zorn vermischte Bewunderung zu erregen, so bald man aber in einen
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Damit qualifizierte sich Brutus als tragischer Held eines Märtyrerdramas, das in der Frühaufklärung abgelehnt wurde,159 da es dem Aufklärungsoptimismus und seiner Lehre von dieser als der „besten aller möglichen Welten“160 grundsätzlich widersprach. Noch der so skeptische Aufklärer Lessing verlangte in den 1760er Jahren vom Kunstwerk, dass es „ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein“ und „uns an den Gedanken gewöhnen“ sollte, „wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“;161 eine Regel, die er für die Komödie denn zwar doch aufzugeben bereit ist, nicht aber für die Tragödie, weil die „Regel“ der „poetischen Gerechtigkeit“ uns hier „mit dem Schicksale versöhnen, und Murren in Mitleid kehren“ könne.162 Eine solche Haltung empfand Bodmer als knechtisch. Im Julius Cäsar ist dies die Argumentation Servilias, der früheren Geliebten Cäsars, ihrem Sohn Marcus Brutus gegenüber: Durch seine „Widersetzlichkeit“ gegen Cäsar murre er gegen das von den Göttern beschlossene Schicksal, wirft sie ihm vor.163 Bodmers letzter Brutus dagegen macht dem „Schicksal […] des Staates halben, den es der Tyrannei überläßt, Vorwürfe“ (S. 36). Es gibt in Bodmers Freiheitsdramen keine Versöhnung mit dem status quo. Bodmers Helden bleiben wie ihr Autor unversöhnlich.164 Trotzdem kann man Bodmers letztes Drama als resignative Einsicht lesen, dass es keinen Sinn mehr habe, den stoischem „Fanatisme“165 seiner Helden weiter zu verfolgen. Denn am Ende von Brutus und Kaßius Tod ergeben sich die treuen und republikanisch gesinnten Gefolgsleute des Brutus dem bezeichnenderweise von Bodmer zeitlebens fast ausschließlich Octavius genannten Kaiser Augustus.166 Der Affect geräth, ist man nicht mehr im Stande, vernünftig von einer Sache zu urtheilen: Hingegen suchet die Philosophie nichts mehr, als uns von der Wahrheit zu überführen“. 159 Vgl. Arnd Beise: Untragische Trauerspiele: Christian Weises und Johann Elias Schlegels Aufklärungsdrama als Gegenmodell zur Märtyrertragödie von Gryphius, Gottsched und Lessing“. In: Wirkendes Wort 47 (1997) H. 2, S. 188–204. 160 So die bekannte Formulierung von Leibniz in der Theodicee (Übers. v. J. H. von Kirchmann. Leipzig 1879, S. 262 und passim). Wenn man „die Tugenden und Laster nach ihrer wahren Beschaffenheit“ in Schauspielen darstellen wolle, komme es vor allem darauf an zu zeigen – da doch „die Comödien Vorstellungen der freudigen Begebenheiten der Menschen“ seien, „hingegen die Tragödien der Trauer-Fälle“ –, dass „die freudigen Begebenheiten aus der Tugend, hingegen die Trauer-Fälle aus den Lastern kommen“, schrieb Christian Wolff (Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1740, S. 275f.). 161 Lessing: Werke, Bd. 4, S. 598 (Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück). 162 Lessing: Werke, Bd. 4, S. 684 (Hamburgische Dramaturgie, 99. Stück). 163 Bodmer: Julius Cäsar, S. 46 (II/3). 164 Vgl. Mörikofer: Die Schweizerische Literatur, S. 233: „vergebliche Versuche kühlten Bodmers Patriotismus nicht ab; vielmehr steigerte sich mit zunehmenden Jahren seine Begeisterung für die Freiheit“. 165 Bodmer: Politisches Trauerspiehl, S. 915. 166 Caius Octavius (63 v. Chr.–14 n. Chr.), nannte sich nach seiner Adoption durch Cäsar Octavianus, nach der Ermordung seines Großonkels (44 v. Chr.) Caius Julius Caesar, seit 38 v. Chr. Imperator Caesar Divi filius und erhielt 27 v. Chr. den Beinamen Augustus. Es war der Demokrat Bodmer, der – gewissermaßen den Brauch der Französischen Revolution, aus seiner Ma-
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historische Kompromiss der Aufklärung mit dem Absolutismus (und die Einsicht Bodmers, dass es keinen Sinn haben mag, immer nur die schier übermenschliche Tugend der Freiheitshelden à la Cato und Brutus zu propagieren) drückt sich in den Ausführungen des Demokraten und Brutus-Freundes Messala aus, die er Octavius gegenüber macht: Ich bin kein Brutus, und ich kenne keinen Menschen, der seinen allgemeinen Sehpunkt, seine reine Liebe zu dem Staat ohne Herrschsucht, ohne Falschheit, besitze; ich sehe, daß dem Blutvergiessen ein Ende zu machen, kein anderer Weg ist, als Rom einem Herrn zu unterwerfen […]. Ich habe gelernt, daß die Römer den Abscheu vor einem Herrscher mit den Sitten der Vorältern abgelegt haben […]. Das Uebel, welches der Widerstand mit sich bringt, ist unendlich. […] Die Herrschaft ist ein Bedürfnis worden, und in deiner Hand halt ich sie für die sanfteste (S. 44–46).
Es ist klar, dass unter solchen Umständen das Volk in Bodmers Drama keinen Platz mehr fand. Das Volk als unveränderlich dummen Pöbel zu denunzieren, fand sich Bodmer in seinen Dramen jedoch nie bereit. Seine Hoffnung in ein an sich tugendhaftes Volk zu setzen, hatte er im Alter von 84 Jahren angesichts der Verhältnisse aber aufgegeben. Immerhin blieb er dabei, dass der gerechten Sache poetisch ein Denkmal zu setzen sei.167 Seinen Zeitgenossen blieb Bodmer als beständiger Demokrat im Gedächtnis. „Von der Freyheit des Menschen und Burgers zu reden, sie zu befördern, ihre verlohrenen Rechte zu unterstützen, war sein Lieblings-Discours. Für die Demokratie hatte er die vorzüglichste Hochachtung“, schrieb Johann Rudolf Schinz 1783 in einem Nachruf auf Bodmer.168
jestät König Louis den Bürger Louis Capet zu machen, vorwegnehmend – Augustus fast immer Octavius nannte (außer in seinen Totengesprächen, vgl. Johann Jakob Bodmer: Gespräche im Elysium und am Acheron (Gesamtausgabe). Im Anhang: Zwei politische Gespräche. Mit einem Nachwort herausgegeben von Arnd Beise. St. Ingbert 2010, passim). Auf dem Titelblatt des Octavius Cäsar steht in Form eines Mottos: „Hic vir, hic est tibi quem promitti saepius audis Augustus Caesar!“ (Der Mann, der dir des öfteren als ‚Heiligerhabener Kaiser‘ begegnet sein wird!) Bodmer hielt Augustus für einen Lasterhaften, „der den Erdkreis beherrschen wollte, und sein eigenes Herz nicht beherrschen konnte“ (Vorrede), so dass er erlaubte, dass ihn „ein Weib sich unterwürfig gemachet hat“, wie Bodmer in seinen handschriftlichen „Anekdoten von dem traurigen Ende gewisser politischer Dramen“ ergänzte (ZBZ Ms. Bodmer 26.16, p. 9). Bodmer wollte den römischen Kaiser „in seinem Kabinete […], wo er die Maske des Prinzen abgelegt hat“, zeigen. Dann möge jeder entscheiden, ob Octavius „der glückliche Mann gewesen sey, für welchen die Welt, die von den gemeinen Vorurtheilen eingenommen ist, ihn hält“ (Bodmer: Politische Schauspiele, Bd. 2, S. 3f.). 167 Auch dieses Programm griff August von Platen später wieder auf: „der Geschichtsschreiber, der Dichter, ist berufen, diejenigen, die mit dem ,Wahlspruch‘ ,Die Welt ist für Tyrannen; lebe du!‘ gefallen sind, zu feiern und den frohlockenden Sieger zu brandmarken“ (Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 210). 168 Johann Rudolf Schinz: Was Bodmer seinem Zürich gewesen (als Beilage zum Zürcherischen Sammler Monatlicher Schweizerischer Neuigkeiten, Januarheft 1783); zit. nach Johann Jakob Bodmer: Schriften. Ausgew. v. Fritz Ernst. Frauenfeld 1938, S. 129; Bender: Bodmer und Breitinger, S. 14.
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„Das Volk stürmt herein. Die Türe in Trümmer.“ Volksdarstellungen beim jungen Friedrich Schiller
der Pöbel hört nie auf, Pöbel zu sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln und Himmel und Erde veralten.1
Friedrich Schiller (1759–1805) galt dem 19. Jahrhundert als der „Dichter der Freiheit“2 schlechthin, besonders der junge Schiller, der sich mit der „empörende[n] Wirklichkeit“ seiner Zeit nicht abfinden mochte.3 Als Produkt eines „naturwidrigen Beischlafs der Subordination und des Genius“ bezeichnete Schiller selbst 1784 sein erstes Drama.4 Wenn das Genie sich am Geist der Unterordnung rieb, musste daraus Rebellion entstehen. Bekanntlich ließ der erste Nachdrucker auf das Titelblatt seiner Ausgaben der Räuber 1782 und 1783 das berühmte Motto „in tirannos!“ setzen, das den „Geist der Auflehnung“, den dieses Stück atmet, so treffend kennzeichnete.5 Allerdings war die Insubordination der Räuber die eines stürmerischen ‚Kerls‘, eines literarischen ‚Genies‘ der späten Sturm und Drang-Periode. Mit dem „gemeinen Haufen, der sich überall gleich ist“,6 mochte das Genie nichts zu tun haben. Schillers Rebellion war die des großen Einzelnen, des prometheʀschen Empörers, der voller Verachtung auf den „Pöbel“ („worunter ich keineswegs die Gassenkehrer allein will verstanden wissen“, wie er anzumerken nicht vergaß) herabblickte,7 und zwar schon lange bevor der angebliche Pöbel von Paris Weltgeschichte zu machen begann. 1 2 3
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Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 1, S. 488 (Vorrede zu: Die Räuber, 1781). Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2 Bde. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a.M. 1974, Bd. 2, S. 510. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 723. Vgl. Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte. Stuttgart 1999, S. 215; in der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Räuber sprach Schiller 1781 von einer „Bitterkeit gegen die unidealische Welt“ (Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 486). Ebd., Bd. 5, S. 855. Oskar Panizza (Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. Mit Vorw. v. Bernd Mattheus u. mit einem Beitrag v. Oswald Wiener. München 1978, S. 52f.) empfahl daher 1898, zum Schutze der Jugend Die Räuber „immer und unter allen Umständen und allerorts verboten“ sein zu lassen; zum berühmten Titelkupfer merkte er an: „Die Ausgabe von 1782 hat einen ‚rechtsspringenden‘ Löwen auf dem Titelblatt, die Ausgabe vom folgenden Jahr einen ‚linksspringenden‘ Löwen, damit nur Jeder die ihm passende Gangart vorfinde; als ob es nicht schon an einem Löwen genug wäre!“ Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 938. Ebd., Bd. 1, S. 487.
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Nachdem das Volk von Paris während der Französischen Revolution seine ersten großen Auftritte gehabt hatte, stand für Schiller fest (Fünfter Brief über die „Ästhetische Erziehung des Menschen“): In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen. Es mag also sein, dass die objektive Menschheit Ursache gehabt hätte, sich über den Staat zu beklagen; die subjektive muß seine Anstalten ehren (8, 568).8
Den fast gleich lautenden Satz in Schillers Brief an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg vom 13. Juli 1793 ergänzte er dort noch durch folgende Ausführungen: Es war also nicht der moralische Widerstand von innen, bloß die Zwangsgewalt von außen, was bisher ihren Ausbruch zurück hielt. Es waren also nicht freie Menschen, die der Staat unterdrückt hatte, nein, es waren bloß wilde Tiere, die er an heilsame Ketten legte. Hätte der Staat die Menschheit wirklich unterdrückt, wie man ihm die Schuld gibt, so müßte man Menschheit sehen, nachdem er zertrümmert worden ist. Aber der Nachlaß der äußern Unterdrückung macht nur die innere sichtbar, und der wilde Despotismus der Triebe heckt alle jene Untaten aus, die uns in gleichem Grad anekeln und schaudern machen (8, 502).
Auch in seinem etwa gleichzeitigen Aufsatz „Ueber Anmuth und Würde“ (erschienen im zweiten Stück der Neuen Thalia, 1793) sprach Schiller von dem „brutaleren Despotismus der untersten Klasse“, der nach „Aufkündigung des Gehorsams gegen den rechtmäßigen Oberherrn“ ausbreche und kaum vergleichbar wäre mit der „strengen Aufsicht des Herrschers“ in einer Monarchie (8, 364). In seinen frühen Dramen interessierte sich Schiller im Wesentlichen für den Despotismus der Herren und ihre fehlgeleitete Aufklärung, kaum jedoch für den „brutaleren“ Despotismus der Unterschichten. So wie man die Briefe „über die ästhetische Erziehung des Menschen“ als kulturtheoretische Begründung der steten Gefahr des Umschlags von Aufklärung in ihr Gegenteil lesen kann, also als Begründungsversuch für eine „Dialektik der Aufklärung“,9 so kann man auch die frühen Dramen als Versuche lesen, diesen Prozess bei despotischen Herrschern nachzuvollziehen. Mit Franz von Moor zum Beispiel stellte Schiller „das Resultat eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums“ auf die Bühne, wie er selbst in der sogenannten Selbstrezension zu den Räubern schreibt. Scheinbar entsetzt stellt der „Rezensent“ fest, die „Raisonnements“ des Franz von Moor „hätten ihn not8 9
Zitatnachweise mit bloßer Band- und Seitenzahl beziehen sich auf Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a. Frankfurt a.M. 1988–2004. Vgl. Borchmeyer, „Kritik der Aufklärung im Geiste der Aufklärung“, S. 363. Vgl. die auch die Einleitung (S. XLVf.) Norbert Hinskes zu seiner Sammlung: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift und das in demselben Band abgedruckte „Fabelchen“ (S. 370), das die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 1) satirisch vorführt: Nachdem ein Affe nachts einen Zedernwald angezündet hat, brüstet er sich vor seinen eilig herbeigerufenen Brüdern: „seht, was ich vermag; / Ich, – ich verwandle Nacht in Tag!“ Die Moral von der Geschicht’ lautet: „Hans Affe ist des Nachruhms werth, / Er hat die Gegend aufgeklärt.“
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wendig veredeln sollen“, jedoch werde man von dem Dichter eines Besseren belehrt und dazu gebracht, „die Musen allgemein zu verdammen, die zu dergleichen Schelmereien jemals die Hände führen konnten“ (2, 302f.).10 Dass Franz von Moor bereits aufklärerisches Denken radikalisierte wie einige Jahre später der Marquis de Sade, hat bereits Harald Steinhagen herausgearbeitet.11 Wolfgang Riedel bemerkte in einer Studie über Schillers Anthropologie, dass der junge Schiller zwar den französischen Materialismus à la Helvétius verkenne, doch in durchaus hellsichtiger Weise: „Hellsicht und Mißverständnis liegen in der Materialismusrezeption des jungen Schiller nahe beieinander: Helvétius verkennend, erfaßt er bereits den nächsten Schritt der materialistischen Reflexion, ‚erahnt‘ er in Franz Moor die Möglichkeit der sadistischen Konsequenz“.12 Wie es später in dem schon zitierten Brief an den Augustenburger heißt, sinke der „sinnliche Mensch“ allenfalls auf das Niveau des „Tiers“ herab, „fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt sein Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit“ (8, 502), was man von Franz Moor durchaus sagen kann. Daher sei der „Anblick der Erschlaffung“, den die „zivilisierten Klassen“ böten, „noch widriger“ als der der brutalen Volksmasse, heißt es an eben der Stelle, was „umso empörender ist, je mehr Kultur selbst daran Teil hat“. Wie Dieter Borchmeyer zeigte, ist das ein alter Gedanke, den unter anderem Moses Mendelssohn in seiner Beantwortung der „Frage: was heißt aufklären?“ ausführte; auch für die Aufklärung gelte nämlich: „je edler in ihrer Blüte, desto abscheulicher in ihrer Verwesung und Verderbtheit“; die Folgen eines „Mißbrauchs der Aufklärung“ seien: „Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie.“13 Franz von Moor verkörpert diese Folgen. Er teilt seinen Charakter auch mit den Tyrannen in Schillers zweitem Schauspiel, der Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ebenso wie Gianettino Doria von Anfang an ein Despot ist, so wird es auch Fiesko selbst, wenn er sich – vor die Entscheidung gestellt – für die eigene Herzogwürde entscheidet und fantasiert, wie er „tief unten den geharnischten Riesen Gesetz am Gängelbande“ lenken wird, sich also über alle Gesetze zum Absolutisten aufschwingen möchte. Die Frage nach „Gehorchen und Herrschen“ wird für in Fiesko III/2 zu der existenzialistischen Alternative „Sein und Nichtsein“ gebracht (2, 382). Auch Franz von Moor nimmt sich vor (Räuber I/2): „Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, 10 11
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Anonym: Die Räuber. Ein Schauspiel von Friedrich Schiller. In: Wirtembergisches Repertorium der Litteratur 1782, 1. Stück. Harald Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, Aufklärung und Idealismus. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982) S. 135–157. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985, S. 180. Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Hg. v. Friedrich Gedike u. Johann Erich Biester. Ausw. u. mit einer Studie „Die Berlinische Monatsschrift als Organ der Aufklärung“ v. Peter Weber. Leipzig 1986, S. 84; vgl. Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. 3. Aufl. Darmstadt 1994, S. 269.
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daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein“ (2, 30). Und auch Dom Karlos (3, 51: Thalia-Fassung, V. 881: er sei nicht gesonnen, „zu müssen, wo er zu wollen“ gedenke)14 und sein Vater Philipp (3, 319: Buchfassung, V. 3932: „Ich will es, weil ich’s will“) gleichen sich zunächst in ihrem absolutistischen Despotismus, den Karlos allerdings und immerhin am Ende, wenn auch zu spät, überwindet. War auch Schiller am Leben der „niedern und zahlreichern Klassen“ in seinem Frühwerk auffallend wenig interessiert, so konnte er das Volk gleichwohl nicht völlig ignorieren, weil er als Dramatiker von Anfang an seine Epoche im Spiegel der Geschichte zu analysieren unternahm.
Die Räuber Schillers erstes Drama Die Räuber ist kein besonders ergiebiges Stück, was die Frage nach der Darstellung des gemeinen Volks angeht. Die Protagonisten des Dramas sind durchweg Oberschichtler. Das Volk als Kollektiv hat nur einen ziemlich erbärmlichen Auftritt im letzten Akt. Immerhin kann man darüber nachdenken, ob die Räuberbande um Karl von Moor den Charakter einer plebejischen Widerstandsgruppe trägt. So hatte man sie im Gefolge der Studentenbewegung aufgefasst.15 Doch über die einzelnen Charaktere der Räuberbande erfährt man eigentlich nicht genug. Das Personenverzeichnis des Stücks nennt sie „Libertiner, nachher Banditen“ (2, 13 bzw. 184); das heißt: Vor Gründung der Räuberbande in der „Schenke an den Grenzen von Sachsen“ sind die Freunde Karls von Moor schlicht Freigeister, also Rebellen im Geiste gegen die bestehende Ordnung. Sobald aber ihr Widerstand kein theoretischer oder auf der Ebene der Studentenstreiche angesiedelter mehr ist, verwandelt sich der Freigeist in einen Banditen. Diese Entwicklung wird in dem Stück an Spiegelberg sichtbar gemacht.16 „Indem Schiller ausdrücklich den Unterschied zwischen Libertinern und Banditen hervorhebt, wird deutlich, dass die Studenten, allen voran Spiegelberg, ursprünglich aus geistiger bzw. moralischer Opposition und nicht aus 14
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Karlos, noch in der Unbedingtheit seines Gefühls gefangen, will nicht „der unglücklichste in seinem Reich […] bleiben, wenn es ihn nichts als den Umsturz der Gesetze kostet, der glücklichste zu sein“, schließlich sei „das Gesetz […] auch mein Untertan“, erklärt er der Königin (3, 52: Thalia-Fassung, V. 909). Karlos ist hier noch weit von dem Republikanismus des Marquis Posa entfernt; „Aufopferungsfähigkeit ist der Inbegriff aller republikanischen Tugend“, heißt es in Schillers zweitem Brief über Don Karlos (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 229), doch Karlos würde zu diesem Zeitpunkt noch ohne Bedenken alles, auch das Wohl der „Menschheit“ seinem „Privatinteresse“ opfern. Vgl. „Das Räuberbuch“. Die Rolle der Literaturwissenschaft in der Ideologie des deutschen Bürgertums am Beispiel von Schillers „Räubern“. Frankfurt a.M. 1974; vgl. Scherpe, Klaus R.: Friedrich Schiller, „Die Räuber“. In: Dramen des Sturm und Drang. Interpretationen. Stuttgart 1987, S. 161–211, hier S. 191f. Vgl. Otto F. Best: Gerechtigkeit für Spiegelberg. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978) S. 277–302.
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sozialrevolutionären oder kriminellen Motiven zu Abtrünnigen der Ordnung geworden sind, daß aber auch ein Verfall vom Libertiner zum gewöhnlichen Banditen anzunehmen ist“, kommentierte Gerhard Kluge (2, 1000). Dieser Prozess wird in dem Drama sichtbar gemacht, als sich die ehemaligen Studenten nach der Befreiung Rollers der Hinschlachtung von Kranken, Greisen, Kindern und schwangeren Frauen rühmen (Die Räuber II/3; 2, 81). Ist also der Ursprung der Räuberbande keineswegs sozialrevolutionär zu sehen, so ergänzt sich die Bande aber aus dem großen Reservoir verzweifelter Menschen aus der Unterschicht, wie man der Werbungsgeschichte Spiegelbergs entnehmen kann. Er werbe nämlich die Klienten der „Bettelvögte, Stadt-Patrollanten und Zuchtknechte“ sowie diejenigen, die über die teure Zeit, „einreißende Polizeiverbesserungen“, die „Regierung“ überhaupt oder die „Physiognomik“ am meisten schimpfen, und „dergleichen“ Leute mehr (II/3; 2, 72). Es sind also die von der Natur17 und vor allem die von der Gesellschaft und ihren Institutionen Benachteiligten, die Spiegelberg wirbt. Wenn die Leute „an Saft und Kraft und Geld und Gewissen, und gutem Namen bankrut“ sind, dann seien sie reif für die Räuberbande, erklärt er (2, 73). Allerdings ist zu bedenken, warum Schiller diese Werbungsgeschichten von Spiegelberg erzählen ließ. Sie dienen dazu, Karls von Moor edle Haltung von der niederträchtigen des Spiegelberg und der meisten anderen Banditen abzusetzen. Spiegelberg befördert nach seinen eigenen Worten die Verelendung seiner Opfer, „verderbt“ sie aktiv an „Leib und Seele“, um ihnen dann – gewissermaßen als letzten Ausweg – den Beitritt zur Bande zu offerieren. Solche Leute haben ihren „Spaß“ daran, Klöster zu plündern und Nonnen zu vergewaltigen (II/3; 2, 70f.), was sie in den Augen von Autor und Publikum moralisch richtete. Mögen sie immerhin Opfer der „verfluchten Ungleichheit in der Welt“ (2, 167) sein; wenn sie sich in ihrem Unglück so verhalten, haben sie gleichwohl kein Mitgefühl verdient. Das Potenzial für eine sozialrevolutionäre Bewegung wurde von Schiller von vornherein als „Lumpen-Gesindel“ denunziert. Gegen diese Negativfolie setzte Schiller eine Szene, in der Karl von Moor ein neues Mitglied der Bande gewinnt. Anders als Spiegelberg18 warnt Karl den Anschluss suchenden Kosinsky, malt das abschreckende Bild eines beschwerlichen Räuberlebens („Fluch, Gefahr, Tod, Schande“), verhöhnt ihn als jemanden, der wohl auf Räuberromantik à la Robin Hood hereingefallen sei und was dergleichen Reden mehr sind (III/2; 2, 102f.). Karl von Moor, der seine Beute stets an „Waisenkinder“ verschenkt oder „arme Jungen von Hoffnung studieren“ lässt (II/3; 2, 17
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Hier macht sich der Einfluss der zeitgenössischen Physiognomik geltend; auch Franz von Moor ist physiognomisch hässlich („Lappländers Nase“, „Mohrenmaul“, „Hottentotten Augen“); er leitet daraus interessanterweise das Recht zu „Mord und Tod“ ab (I/1; 2, 28), das auch die Räuber für sich reklamieren. „Unwillig auf und abgehend“ beschwert dieser sich denn auch: „Ei wie dumm! wie abscheulich, wie unverzeihlich dumm! das ist die Manier nicht! Ich habs anders gemacht“ (2, 102).
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74), also selbst ein edler Räuber à la Robin Hood ist, will eben nicht Deklassierte in seine Bande aufnehmen, sondern nur edle Charaktere. In der Tat stellt sich heraus, dass Kosinsky ein „böhmischer Edelmann“ ist, den man mittels einer Intrige um Braut und Herrschaft gebracht hat. Man hat Kosinskys Erzählung geradezu als radikalisierte Variante der Geschichte von Emilia Galotti bezeichnet, doch vor allem ist sie das politische Seitenstück zu Karls von Moor eigener Geschichte, worauf schon die Namensidentität der beiden Bräute deutet. Anders als im Hause Moor handelt es sich im Fall Kosinskys nicht um die fast „private“ Geschichte zweier feindlicher Brüder, deren tragisches Schicksal von Missverständnissen und Irrtümern bestimmt wird. Kosinskys Schicksal ist ein von politischem Despotismus geprägtes. Er liebte – seine „Vorurteile des Adels“ besiegend – eine Deutsche von „bürgerlicher Geburt“, deren Schönheit aber auch dem Fürsten ins Auge stach. Kosinsky wird unter Vorwand willkürlich verhaftet, seiner Braut „die Wahl gelassen, ob sie mich [Kosinsky] lieber sterben sehen, oder die Mätresse des Fürsten werden wollte. Im Kampf zwischen Ehre und Liebe entschied sie sich für das zweite“. Kosinsky kommt also frei, will sich am Minister des Fürsten rächen („denn nur er – er nur war der höllische Kuppler gewesen“),19 wird bei einem Attentatsversuch aber verhaftet, anschließend enteignet und aus „besonderer Gnade infam aus den Grenzen gejagt“ (III/2; 2, 105). Eine solche Geschichte berechtigt in der Tat zum Hass auf eine Gesellschaft, die sie möglich machte. Kosinsky wird also von Karl in die Bande aufgenommen. Die Räuber sind entschlossen, die Braut Kosinskys aus den „Klauen des Tygers“ zu retten und den Fürsten mitsamt seinem Minister zu bestrafen: „Das ist Wasser auf unsere Mühle, Hauptmann! Da gibts was anzuzünden!“ (Ebd.) Wahrhaftig wäre hier ein Akt politischen Widerstands, ja potenziell revolutionären Handelns möglich, wie er zu dem Ethos der Moor’schen Bande – im Gegensatz zu dem der Spiegelberg’schen – passen würde: Moor nämlich, so erklärt Razmann dem mit seinem „Lumpen-Gesindel“ neu ankommenden Spiegelberg in einer früheren Szene, mordet nicht um des Raubes willen wie wir – nach dem Geld schien er nicht mehr zu fragen, so bald ers vollauf haben konnte […]. Aber soll er dir einen Landjunker schröpfen, der seine Bauren wie das Vieh abschindet, oder einen Schurken mit goldnen Borden unter seinen Hammer kriegen, der die Gesetze falschmünzt, und das Auge der Gerechtigkeit übersilbert, oder sonst ein Herrchen von dem Gelichter – Kerl! da ist er dir in seinem Element, und haust teufelmäßig (II/3; 2, 75).
Anders als seine Räuber will Karl von Moor aber nicht Kosinskys Braut befreien und rächen. Er eignet sich die politische Verfolgung Kosinskys unrechtmäßig selbst an und befiehlt den Aufbruch nach Franken, also gewissermaßen zur Befrei19
Zu den guten oder auch weniger guten Beratern und Ministern in der Aufklärungsliteratur vgl. Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit. Weimar 1996.
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ung seiner Amalia (2, 105). In dem Moment, wo eine revolutionäre Aktion möglich wäre und in der Logik der Sache liegt, wird die Handlung wieder zurückgebogen in ein „Familiengemälde aus einem fürstlichen Haus“, wie Schiller seinen Dom Karlos mehrfach nannte.20 Doch genausowenig wie Dom Karlos in Wahrheit ein bloßes „Familiengemälde“ ist, bleiben Die Räuber eines. Mit Kosinskys Geschichte werden die Elemente in das Drama gebracht, die die vordergründig eher private Handlung im Hause Moor politisieren. Franz von Moor vertritt im dramatischen Bild den Fürsten, der Kosinsky ins Elend brachte. Kaum ist es denkbar, dass ein Fürst als Fürst auf offener Bühne gelyncht werden kann. Doch Franz von Moor ist ja inzwischen „regierender Graf“. Dass die Räuber das Schloss angreifen, um den Landesherrn zu ent- und seiner Strafe zuzuführen, kann daher mit Recht als revolutionärer Akt gedeutet werden. Verschleiert wird diese Tatsache aber durch die private Rechnung, die Karl von Moor mit seinem Bruder zu begleichen hat. Die aufgeschreckten Dorfbewohner von Moor bekommen zu hören, nicht „Mörder“ oder „Diebe“ seien es, die den nächtlichen Lärm verursachen, sondern „der Teufel ists und will euern Herrn holen“ (V/1; 2, 150), womit die Bildlichkeit der Erzählung von Karls von Moor Strafexpeditionen gegen ungerechte Obrigkeiten (II/3) wieder aufgenommen wird. Wenn aus Sicht Karls von Moor die letzte Auseinandersetzung die mit dem Bruder ist, der Sohn um Vater und Braut betrogen hat, so ist aus Sicht des Franz von Moor seine letzte Stunde die eines politischen Tyrannen. Zwar „zernichtet“ ihn die Behauptung des Pastors, größere Sünden als Vater- und Brudermord gäbe es nicht, doch den ersten Stoß führte Pastor Moser als Anwalt der geknechteten Untertanen, als er Franz vorhält, er habe von den „tausenden“, für die er Verantwortung trage, „neunhundert neun und neunzig elend gemacht.“ (V/1; 2, 147). Franz, der sich in seinem eigenen Schloss nicht mehr sicher fühlt, verzweifelt vollends, als sein Diener ihm meldet, dass „ein Trupp feuriger Reiter“ nahe und „das ganze Dorf in Alarm“ sei. Er vermutet hinter dem „Tumult auf den Straßen, Geschrei – Gepolter“ und dem stetig „hörbarer“ werdenden „Getümmel“ den Aufstand seines Volks. Immer wenn ein Absolutist stürzt, versucht er mit viel zu spät kommenden Maßnahmen das Unvermeidliche aufzuhalten; so auch hier. „Geh laß alle Glocken zusammenläuten, alles soll in die Kirche – auf die Knie fallen alles – beten für mich – alle Gefangenen sollen los sein, und ledig, ich will den Armen alles doppelt und dreifach wiedergeben, ich will – so geh doch“, herrscht er seinen Diener an (V/1; 2, 149). Als die Scheiben splittern, Feuerbrände und Steine ins Schloss fliegen, erkennt Franz, dass es zu spät ist, und tötet sich selbst. Er erkennt aber nicht, dass es gar 20
Vgl. den Brief an Dalberg, 7. Juni 1784 (3, 1075): „Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße“; die Fußnote in der Thalia: „Dom Karlos ist ein Familiengemälde aus einem königlichen Hause“ (3, 137).
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nicht sein unterdrücktes Volk war, das den Aufstand probte, so dass die Überlegung, Gefangene frei zu lassen und den Armen Geld zu geben, ganz sinnlos war. Für ihn ist der „Volksauflauf“ (2, 150) die akustische Kulisse seiner Apokalypse. Für den Leser der Buchausgabe (in der Bühnenfassung ist der „Volksauflauf“ selbstverständlich gestrichen)21 dagegen wird der doppelte Charakter des Lärms deutlich. Zum einen greifen die Räuber das Schloss an, zum andern ist das Volk aus dem Dorf selbstständig herbeigeeilt, um sich und das Schloss gegen „Diebe“ und „Mörder“ zu schützen, so dass die Räuber die Leute gar „zurückschlagen“ müssen. Allerdings lassen sich die Leute von der Auskunft, dass es lediglich gegen den „Herrn“ gehe, offenbar rasch beruhigen, denn man beginnt sogleich mit dem „Sturm wider die Ringmauer“ des Schlosses (V/1; 2, 150). Auf die Bühne, d.h. in das Schloss, kommen dann nur die Räuber, nicht aber das Volk. Es hat sich dem Sturm auf das Schloss offenbar nicht angeschlossen, aber ihn auch nicht verhindert. In der Moor’schen Grafschaft existiert offenbar kein Volk, das als revolutionäres Subjekt handeln würde – und das trotz der Unterdrückung, die das Regierungsprogramm des Franz von Moor war22 und die ihn zuletzt irrtümlich, aber berechtigt vor dem eigenen Volk zittern ließ. Es war wahrscheinlich für Schiller nicht vorstellbar, dass aus dem Volk heraus politische Handlung möglich sein könnte. Der revolutionäre Aufstand wurde von Schiller nur „in der Form der unterdrückten Fantasien“ eines Tyrannen für dramatisierbar gehalten.23 Die Handlung wird von einer Stellvertretergruppe geführt, nämlich der Räuberbande, die außerhalb und nicht innerhalb der obrigkeitlichen Ordnung steht.24 Doch 21
22
23 24
Vgl. 2, 278f.; hier entfiel der (akustische) Auftritt des Volks: Auch durfte Franz auf dem Theater nicht zur letzten Verzweiflung getrieben werden, weil er lebend gefangen und dem Bruder zugeführt werden musste. Immerhin richtete die Gemeinschaft der „Räuber“ über den Tyrannen (2, 283f.), doch nur aus moralischen (der Bruder Karl darf keinen Brudermord auf sich laden), nicht aus politischen Gründen (die Räuber als Volksvertreter). Vgl. hierzu vor allem seinen „frohlockenden“ Monolog nach dem (vermeintlichen) Tod des alten Moor (II/2; 2, 68f.): „Weg mit dieser lästigen Larve von Sanftmut und Tugend! Nun sollt ihr den nackten Franz sehen, und euch entsetzen! […] Meine Aug-Braunen sollen über euch herhangen wie Gewitter-Wolken, mein herrischer Name schweben wie ein drohender Komet über diesen Gebirgen, meine Stirne soll euer Wetterglas sein! […] Streicheln und Kosen ist meine Sache nicht. Ich will euch die zackichte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geißel versuchen. – In meinem Gebiet solls so weit kommen, dass Kartoffeln und dünn Bier ein Traktament für Festtage werden, und wehe dem, der mir mit vollen feurigen Backen unter die Augen tritt! Blässe der Armut und sklavischen Furcht sind meine Leibfarbe: in diese Liverei will ich euch kleiden!“ Das Programm obrigkeitlicher Ausbeutung kann kaum deutlicher ausgedrückt werden. Im Gegensatz dazu wird der „alte Moor“ als idealer Herrscher verklärt. Er nämlich „überzuckerte seine Forderungen, schuf sein Gebiet zu einem Familienzirkel um, saß liebreich lächelnd am Tor, und grüßte sie [seine Untertanen] Brüder und Kinder“ (ebd.). Freilich ist damit die traditionelle Hierarchie nicht aufgehoben, denn nach wie vor hatte er „Forderungen“. Dass dies auch die Bauern nicht vergaßen, lernt man aus Franz’ Feststellung, dass – obwohl sein Vater seine Untergebenen geradezu „streichelte und koste“ – sie „gegen ihn störrig zurück schlug[en]“ (ebd.). Scherpe: Friedrich Schiller, „Die Räuber“, S. 197. Hans Mayer (Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt a.M. 1986, S. 184) nannte das „eine Revolte für das Volk, aber nicht durch
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die Räuber sind keine aus sich heraus sozialrevolutionär handlungsfähige Bande – denn die möglichen Träger einer solchen Haltung werden ja als „Lumpen-Gesindel“ abgetan –, sondern es sind Befehlsempfänger eines großen Einzelnen, der gleich seinem Vater als potenziell edel gesinnter Patriarch gelten kann, der sich nichtsdestoweniger als absolutistischer Führer seiner Räuberbande benimmt. Als Karl von Moor die Befreiung von Kosinskys Braut gegen den Willen aller anderen verhindert, fährt er seinen vertrautesten Freund Schweizer, der den Wunsch der Bande artikuliert hat, an und schimpft ihn einen „Verräter“ (III/2; 2, 105); das ist dieselbe Technik, mit der Franz von Moor seinen Diener Daniel gefügig macht. Weder bei Schweizer noch bei Daniel stand die Treue zum Herrn jemals in Frage, doch unterstellt genau das der Herr – heiße er nun Karl oder Franz von Moor – und erzwingt damit „blinden Gehorsam“ (IV/2; 2, 113). „Ich wills tun“, antwortet Daniel seinem Herrn zuletzt (2, 114), „geh in die Hölle, ich folge dir!“ dagegen Schweizer dem seinen (2, 105). Das Prinzip der Subordination unter eine individuelle Macht wird trotz des rebellischen Gestus’ der Räuber in dem Stück nicht angetastet. Die beiden Leitcharaktere des Dramas, Franz und Karl von Moor, unterscheiden sich in dem, was sie wollen, nicht aber darin, wie sie es wollen. Die Botschaft der Unterwerfung am Ende des Stücks (V/2; 2, 159: „Narr, der ich wähnte die Welt durch Greuel zu verschönern, und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten“)25 ist ja in Wahrheit keine. Der Entschluss, sich der Justiz zu übergeben, ist einer, wie er selbstherrlicher nicht denkbar ist; die Räuber nennen diesen Entschluss zu Recht „Groß-Mann-Sucht“ nach „eitler Bewunderung“ (V/2; 2, 160). Da sich Karl und Franz von Moor in ihrem Trieb nach unbeschränkter Selbstentfaltung so ähnlich sind, kann man sie nur darin unterscheiden, worauf ihr Handeln gerichtet ist. Sie unterscheidet vor allem das Verhältnis zum untergebenen Volk. Die „Mordkanaille“ (2, 151) Franz wird durch seine unmenschliche Haltung zu seinen Untertanen charakterisiert und disqualifiziert; Karl dagegen darf seinen Edelmut erstmals zeigen, als er seinen „Untertan“ Roller in einer waghalsigen Aktion befreit. Franz will sich auf Kosten seiner Untertanen ein gutes Leben machen und erntet dafür Hass; Karl stellt sich als freiwilliges Opfer für seine Untertanen zur Verfügung, als die sächsische Obrigkeit den Räubern bei Auslieferung ihres Chefs Amnestie anbietet, doch kann er bei der Liebe seiner Untertanen darauf bauen, dass sie das Angebot nicht annehmen.
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das Volk […], wie so oft in der deutschen Geschichte, eine autoritäre Revolte, eine Rebellion von oben“. Mayer ignorierte indes, dass die Räuber als außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges stehende Outlaws gar keine ‚Revolution von oben‘ lancieren können; diese Funktion könnte ihnen allenfalls auf der Ebene der Autorintention zuwachsen. In der Bühnenfassung wird dieses Moment noch verstärkt durch die Aufforderung der Subordination unter ein monarchisches Regime: „Gehet hin, und opfert eure Gaben dem Staate. Dienet einem Könige, der für die Rechte der Menschheit streitet. Mit diesem Segen seid ihr entlassen“ (2, 291).
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Es ist kein Zufall, dass sich Karl in einem melancholischen Anfall, der auf die Einsicht in die Unverwirklichbarkeit seiner Träume folgt, in die Rolle eines einfachen „Bettlers“ oder „Taglöhners“ fantasieren kann (III/2; 2, 98f.), Franz jedoch nicht. Karl leidet ja nicht nur an der Verstoßung durch seinen Vater, sondern an der Welt an sich, und dem Bettler und dem Tagelöhner, beide am untersten Ende der Gesellschaft angesiedelt, ist die ganze Welt und das Dasein an sich feindlich. Im Dasein des Bettlers und des Tagelöhners findet sich materialiter die Ungerechtigkeit der Welt wieder, an der der Aristokrat Karl von Moor innerlich leidet. In seiner Klage über das Elend in jeder Hinsicht äußert er – freilich in einer weder in der Bühnen- noch in der Druckfassung enthaltenen Replik: MOOR (mit den Füßen stampfend). Über die verfluchte Ungleichheit in der Welt! Das Geld verrostet in den Kisten ausgedörrter Pickelhäringe und Mangel muß Blei an die kühnsten Begierden des Jünglings legen. […] Warum sind Despoten da? Warum sollen sich tausende, und wieder tausende unter die Laune Eines Magens krümmen, und von seinen Blähungen abhängen? – Das Gesetz bringt es so mit sich – Fluch über das Gesetz, das zum Schneckenpflug verderbt was Adlerflug worden wäre! (2, 167)26
Es ist interessant zu beobachten, dass in Schillers ursprünglicher Konzeption das persönliche Unglück (Karl hat Schulden) unmittelbar mit der allgemeinen Ungleichheit und Not verknüpft, ja identifiziert wird, denn Karl von Moor springt ohne Weiteres von seinem individuellen Schicksal zu dem von „tausenden“ und wieder zurück. Auch in diesem Punkt ist er seinem Bruder vollkommen ähnlich. Auch Franz verficht eine geradezu egalitäre Philosophie der Selbstentfaltung für alle, nur dass er sie als Despot äußert: Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb, und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet bei dem Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze. (2, 28)
Franz’ Philosophie ist die des ungehemmten Sozialdarwinismus: „Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, gehe unter!“ (Ebd.) In der Tat hatte Schiller Schwierigkeiten, die moralische Differenz zwischen Franz und Karl von Moor trennscharf zu fassen. Am Ende musste er eine Volte zurück in einen theologisch-teleologisch fundierten Vorsehungsglauben schlagen, um nicht Franz von Moor in seinem prometheʀschen Selbstverwirklichungstrieb, den er mit Karl von Moor teilt, das gleiche Recht einzuräumen wie dem Bruder. Die Verachtung des Gesetzes, dem sich Karl von Moor am Ende ausliefert, wird durch diesen Akt nicht aufgehoben – und sie teilt er mit Franz. Man kann also sagen, dass die Alternative des „großen Kerls“, der „ein Brutus oder ein Katilina“ (2, 16) werden kann, in den Räubern auf die beiden Brüder 26
„Unterdrückter Bogen B“; in der Schauspielfassung von 1781 ist nur noch allgemein von „abgeschmackten Konventionen“ und der universellen „Schnürbrust“ die Rede (2, 31f.), im sog. „Trauerspiel“ von 1782 gar nur noch von der „Schnürbrust“ der „Gesetze“ (2, 198).
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bereits von vornherein aufgeteilt ist, während in Schillers nächstem Drama Fiesko seine Entscheidung erst treffen muss. Wenn ich das Kriterium der Haltung zu den Untertanen oder zum Volk im Allgemeinen erneut anlege, weil sich hier die Unterschiede zwischen Franz und Karl von Moor bei aller sonstigen Verwandtschaft am deutlichsten zeigten, so wird man finden, dass Fiesko nur eine Entscheidung treffen kann, dass seine Wahl also nur eine Scheinwahl ist.
Die Verschwörung des Fiesko zu Genua Kennzeichnend für die angesprochene Ambivalenz des „großen Kerls“ ist im Falle des Fiesko der zweifache Ausgang des Dramas. Schiller konnte dieselbe Geschichte erzählen, und das eine Mal erscheint Fiesko als „großer Mann“, das andere Mal aber als „gestrafter Verbrecher“ (2, 557). In der Buchfassung 1783 ist Fiesko ein „Verbrecher“, denn er entscheidet sich am Scheideweg nicht für den Weg des „glücklichsten Bürgers“ (II/19; 2, 378), sondern für den des „Fürsten“, der „den geharnischten Riesen Gesetz am Gängelbande“ und „die unbändigen Leidenschaften des Volks […] mit dem weichen Spiele des Zügels“ lenken will (III/2; 2, 382). In der Mannheimer Bühnenfassung von 1784 entscheidet sich Fiesko anders. Auch wenn er kurzfristig mit dem Gedanken spielt, sich „eine Krone zu stehlen“ (III/1; 2, 500), so steht für den „großen Mann“ fest, dass er im Augenblick des größten Triumphs freiwillig auf die Herrschaft verzichtet und Genuas „glücklichster Bürger“ wird (V/6; 2, 555).27 Schon die mit dem Fürsten-Amt verbundenen Fantasien in der ersten Fassung der Verschwörung des Fiesko zu Genua zeigen, dass Fiesko das Volk im Grunde verachtet. Er will es wie „stampfende Rosse“ am Zügel lenken, also für sich instrumentalisieren (III/2; 2, 382). Für Jemanden, der in dem Gegensatzpaar „Gehorchen und Herrschen“ denkt, was für ihn gleichbedeutend mit „Sein und Nichtsein“ ist (ebd.), 27
Die Leipziger Bühnenfassung von 1785 kehrte – bei grundsätzlicher Beibehaltung der Straffungen und bühnentechnischen Veränderungen der Mannheimer Fassung von 1784 zu dem „tragischen“ Schluss der Buchfassung zurück und kann daher an diesem Punkt außer Acht bleiben, denn ihr eignet am wenigsten „innere Berechtigung und äußere Überzeugungskraft“ (so Lieselotte Blumenthal: Aufführungen der Verschwörung des Fiesko zu Genua zu Schillers Lebzeiten (1783–1805). In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 17 (1955) S. 60–90, hier S. 72; vgl. dagegen Hans Heinrich Borcherdt in Friedrich Schiller: Theater-Fiesco. Die letzte neuaufgefundene Fassung der „Verschwörung des Fiesco zu Genua“. Hg. v. dems. Weimar 1952, S. 12: „Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass für die Theater auch heute nur die dritte Fassung maßgebend sein müßte“). Während die DKV-Ausgabe (Schiller: Werke und Briefe, Bd. 2) die Buchfassung (S. 313–441) und die erste Bühnenfassung (S. 443–555) vollständig bringt, aber auf die Leipziger Einrichtung ganz verzichtet, hat die Hanser-Ausgabe (Sämtliche Werke, Bd. 1) nur die Buchfassung vollständig (S. 639–751) und teilt dafür sowohl von der Mannheimer (S. 941–952) wie von der Leipziger (S. 952–965) Fassung die letzten anderthalb Akte mit.
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kann es nicht zweifelhaft sein, für welchen Weg er sich entscheidet. In der Tat weiß der einzige Republikaner aus Überzeugung in der Genueser Adelsverschwörung auch schon vor Fiesko, wie dieser sich entscheiden wird, und kann daher zu seinem Schwiegersohn sagen: „Den Tyrannen wird Fiesko stürzen, das ist gewiß! Fiesko wird Genuas gefährlichster Tyrann, das ist gewisser!“ (III/1; 2, 380). In Verrinas Gruppe, der eigentlichen Verschwörung, denn Fiesko arbeitet ja allein, denkt man vermutlich nicht viel besser über das Volk. Bourgognino träumt von heroischen Einzeltaten – einem Wilhelm Tell („der Starke ist am mächtigsten allein“) ganz ähnlich –, wie es Verrina später auch für die Beseitigung Fieskos für sich in Anspruch nimmt. Einzig Kalkagno denkt darüber nach, dass vier Patrioten vermutlich zu wenig seien, einen Staatsumsturz zu wagen: „Werden wir nicht den Pöbel aufrühren? Nicht den Adel zu unsrer Partei ziehen müssen?“ (I/12; 2, 346) Verrinas Antwort darauf ist, dass man versuchen müsste, Fiesko zu gewinnen. Der nämlich gilt als Vornehmster von Adel und arbeitet bereits daran, den „Pöbel“ aufzurühren. Durch seinen Handlanger ließ er die „Seidenhändler“ beschenken; die Gruppe der armen Handwerker scheint ihm nämlich den „Ausschlag beim Pöbel zu Genua“ zu geben (II/4; 2, 354f.). Anders als Spiegelberg rekrutiert Fiesko seine Anhängerschaft nicht, indem er sie elend macht, sondern indem er sie wohltätig unterstützt. Außerdem ist daran bemerkenswert – und hier macht sich Schillers „Quellentreue“28 positiv bemerkbar –, dass Schillers Fiesko sich nicht einbildet, selbst den Pöbel aufrühren zu können, sondern sich dazu Mittelsmänner bedient: zunächst einmal des Mohren, der selbst ein Außenseiter ist; dann aber der „Seidenhändler“ („Seidenspinner“ sollte man mit Duport du Tertre wohl besser sagen). Historisch verhält es sich nicht so, dass bloße Geschenke schon die armen Handwerker mit „Seel und Leib“ an Fiesko binden (II/4; 2, 355), sondern dass Fiesko die Seidenspinner glauben macht, er stünde auf ihrer Seite. Ich zitiere aus Duport du Tertres Darstellung des Vorgangs: Die Seidenspinner machen zu Genua eine eigene Gesellschaft aus, die sehr zahlreich ist. Die bisherigen Kriege der Republik hatten die meisten dieser Arbeiter in sehr elende Umstände versetzt. Der Graf von Fiesque, der von ihrem Elende Nachricht erhalten hatte, bezeugte viel Mitleid gegen ihre Armuth, und ließ die, die seiner Hülfe am meisten bedurften, zu sich kommen. Er versorgte sie reichlich mit Geld und Lebensmitteln, und bat sie, seine Wohlthaten nicht bekannt zu machen, weil er für das Vergnügen, das er in der Hülfe der Nothleidenden fände, keine Belohnung verlange. Er begleitete seine Geschenke mit den leutseligen und schmeichelnden Manieren, die ihm natürlich waren, und gewann die Herzen dieser armen Leute dergestalt, dass sie von diesem Tage an ihm ganz und gar zu Diensten waren. Wenn er mit den vornehmsten unter ihnen redete, so machte er ihnen auf eine versteckte Art ihre alte Freyheit wieder erinnerlich, und gab ihnen zu verstehen, dass er, ob er gleich vom Adel sey, dennoch zu 28
Schiller besaß „eine außerordentliche Quellentreue im Detail bei gleichzeitiger souveräner Veränderung großer Zusammenhänge oder wichtiger historischer Fakten“ (Christian Grawe: Friedrich Schiller, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1985, S. 48). Die Folge ist zwar mancher „dramatische Ballast“ (blinde Motive wie der Brief an Spinola etwa in Fiesco II/14; 2, 369), aber auch das Überleben mancher historischen Tatsache.
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viel Gefühl der Menschlichkeit habe, um mit dem armen unterdrückten Volke nicht Mitleiden zu haben.29
Der „Aufruhr“ wird in Schillers Stück denn auch nicht von den Verschwörern oder Fiesko in Gang gesetzt, sondern vom Volk und dem nicht-verschworenen Adel selbstständig. Gianettino Doria hatte bei der „Prokuratorwahl“ (2, 355) die geltenden Wahlgesetze missachtet und daher den Zorn der Adligen provoziert (2, 356f.). Als er anschließend die Volksvertreter („Friedensrichter“) aus dem Rathaus wirft, rottet sich das Volk zusammen. Beide Gruppen wenden sich an Fiesko; der Adel, weil Fiesko der Vornehmste von ihnen ist (II/5), das Volk, weil Fiesko sich durch Mildtätigkeit und Leutseligkeit als Verbündeter angeboten hatte (II/8). Wie gestaltet nun Schiller die Szene, als das Volk den Grafen Fiesko um Hilfe bittet? Auf der Bühne lässt Schiller „den Troß vieler Tausende“ (das Volk auf der Straße; 2, 356) von zwölf „Handwerkern“ repräsentieren, die wie ein „blinder und unbeholfener Koloß“ (so nennt Fiesko das Volk II/5 2, 358) „die Türe in Trümmer“ sprengend hereinstürzen (II/8 2, 359). Zunächst präsentiert die Volksmenge ihre Forderung: „Diese Doria müssen weg. Der Staat muß eine andere Form haben“ (2, 360). Man begründet das mit allerlei gesetzeswidrigen Vorkommnissen: Erstens habe Gianettino die Vertreter des Volks, die Friedensrichter, beleidigt; zweitens sei er gegen das Gesetz bewaffnet in das Rathaus gekommen; drittens habe er monarchische Kleidung getragen und nicht die republikanische Amtstracht wie die anderen Senatoren; viertens verletze er die Schicklichkeit, indem er seine Kutsche mit acht Rossen bespanne; fünftens halte er eine Leibwache aus ausländischen Söldnern („Ausländer wider die Kinder des Vaterlandes“); sechstens habe er statt des Familienwappens das Staatswappen an seiner Kutsche angebracht, als ob Staat und er identisch wären; und siebtens stehe im Hof des Regierungsgebäudes die Statue eines lebenden Doria (Personenkult). Alles in allem ernste Vorwürfe, die das Volk von sich aus, nicht etwa durch einen Demagogen eingeredet, gegen die Usurpation der Macht im Staat durch eine Familie vorzubringen hat. Fragt sich, warum es sich damit an Fiesko wendet? In der Tat fragt das auch Fiesko, und er bekommt zur Antwort: „Ihr seid ein kluger Mann, und sollt es nicht dulden, und sollt den Verstand für uns haben. – Und seid ein besserer Edelmann, und sollt ihm das eintränken, und sollt es nicht dulden.“ (II/8 2, 360) Auch das sind noch vernünftige Gründe. Man weiß im Volk, dass man auf Grund der gesellschaftlichen Benachteiligung (zum Beispiel, was die Bildung angeht) wahrscheinlich nicht die intellektuellen Fähigkeiten hat, eine Veränderung der Staats29
François-Joaquin Düport dü Tertre: Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen, Meutereyen und merkwürdigen Revolutionen. Breslau 1765, 3. Theil, S. 266f.; vgl. auch Jean François Paul de Gondi, Baron von Retz: Histoire de la conjuration du comte Jean Louis de Fiesque. Nach der Ausgabe von 1682 hg. v. Albert Leitzmann. Halle a. S. 1913, S. 34 u. 36f.; Chevalier de Mailly: Histoire de la Republique de Gênes, Depuis l’an 464, de la fondation de Rome, jusqu’à present […]. 3 Bde. Hollande 1697, S. 172–174. Zu den Quellen, die er in der Vorrede seines Stücks nannte, vgl. die Angaben in Schiller: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 1164f.
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form durchzuführen. Und man weiß auch, dass nur ein Edelmann über die materiellen Mittel verfügt, Soldaten anzuwerben, die man der Söldnertruppe Gianettinos entgegensetzen könnte. Heere waren damals noch immer Privat-Armeen; die Idee der „Volksbewaffnung“ war noch nicht geboren; aber auch dann hätte es des Reichtums von Fiesko bedurft, um die Waffen für das Volk zu besorgen. Dann aber griff der Autor in den historischen Vorgang ein und entlarvte sich und sein Drama, indem er die Menge („Alle lärmend“) rufen lässt: „Schlage! Stürze! Erlöse!“ (II/8 2, 361). Plötzlich ist Fiesko nicht mehr mit einer selbstständig handelnden Volksmenge konfrontiert, die eigene Forderungen hat und seine Kollaboration moralisch einklagt („Ihr […] sollt es nicht dulden“ im Sinn von: das „darf nicht geduldet werden“ – von niemandem beides 2, 360), sondern ist konfrontiert mit einer Menge Unmündiger, die von ihm „Erlösung“ erwarten. Mit einem Mal wird aus der aktiven Menge der „Republikaner“ (II/7 2, 359) eine passive Gemeinde Erlösungswilliger. Prompt gewinnt Fiesko, der während des Vortrags zunächst nicht viel zu sagen hatte, die Initiative zurück und erzählt den Handwerkern – nachdem er gefragt hat, ob sie „ein gut Wort […] annehmen“ wollten – eine Fabel aus dem Tierreich, die die Dummheit des Volks offenbart.30 Von Anhängern der „Demokratie“ wandelt Fiesko das Volk zu Anhängern der „Monarchie“ (II/8 2, 361f.). Am Ende dieser Szene hat es Fiesko geschafft, aus einer Bewegung von „Volk und Senat wider Doria“ eine von „Volk und Senat für Fiesko“ zu machen (ebd.). Fiesko gelingt es auf diese Art, aus einer „Staatsaktion“ eine „Privatrebellion“ zu machen. Diese Operation gelang dadurch, dass der Autor das Volk aus dem Reich der Geschichte in das des bürgerlichen Trauerspiels überführte und damit von einem Subjekt öffentlicher Politik zu einem Objekt privater Politik degradierte. Die Entmündigung des Volks hält in der Verschwörung des Fiesko zu Genua bis zum Ende des Stücks an. Fiesko hat sich die Herzen des Pöbels angeeignet (II/18 2, 378: „Des Pöbels Herzen sind mein“) und kann mit ihnen Wucher treiben (II/14 2, 367). Der Entmündigung des Volks entspricht die Entmündigung der aristokratischen Verschwörer, die Fiesko auf seine „Souveränität“ und völlige „Subordination“ einschwört (III/5–III/6 2, 392). Leonore spricht – wahnsinnig geworden – die Wahrheit aus, wenn sie ihren Gatten Fiesko als „Rebellen“ bezeichnet, hinter dessen Namen „Mietlinge hüpfen“ (V/5 2, 425f.). Der siegreiche Fiesko wird am Ende zum Herzog ausgerufen. „Der Pöbel vergöttert ihn, und foderte wiehernd den Purpur“, erzählt Bourgognino seiner Braut kurz vor der gemeinsamen Emigration (V/15 2, 436), mit seinem Gleichnis bestätigend, dass Fiesko seine Träume (III/2 2, 382) wahr gemacht und „die unbändigen Leidenschaften des Volks, gleich soviel 30
Peter Michelsen (Schillers Fiesko: Freiheitsheld und Tyrann. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer u.a. Tübingen 1990, S. 341–358) schrieb über die Volksvertreter in dem Stück, sie böten „in der leichten Beeinflußbarkeit, die sie an den Tag legen, den Anblick ausgesprochener Trottel“; seiner Meinung nach erscheine das Volk in Schillers Stück „lediglich als Pöbel, als kontrastierende Grundierung für den großen Mann“ (S. 343).
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stampfenden Rossen, mit dem weichen Spiele des Zügels zu zwingen“ gelernt hat. „Der Adel sah mit Entsetzen zu, und durfte nicht nein sagen“, fährt Bourgognino fort. Die anfangs von Kalkagno in die Debatte geworfenen Bundesgenossen der Verschwörung, der Pöbel nämlich und der Adel, sind wenig hilfreich. Nun bedarf es des von Bourgognino schon apostrophierten Einzelkämpfers (II/12 2, 347: „Verdopple die Gefahr, spricht der Held, nicht die Helfer“), der der Gefahr nicht ausweicht. Verrina übernimmt es, Fiesko zu töten und stellt sich anschließend dem zurückkehrenden Andreas Doria (V/17 2, 441).31 In der Mannheimer Bühnenfassung huldigen am Ende „Volk, Senatoren und Edelleute“ (V/5 2, 550) gemeinsam dem neuen Machthaber. Wenigstens von Seiten des Volks und der Edelleute geschieht das freiwillig, denn sie bilden das Gefolge des Putschisten (V/4 2, 548). Fiesko beschönigt nichts, wenn er sich dem Senat als „Eroberer auf seinem Boden“ mit einem „siegreichen Heer“ vorstellt und verkünden lässt: „der Überwinder befehle dem versammelten Rat, auseinander zu gehn – Dieses Schwert sei itzt das Gesetzbuch – diese Armee der Senat“ (V/4 2, 548). Dennoch weichen alle „erschrocken“ zurück, als Verrina auftritt – offenkundig als schlechtes Gewissen der sich selbst verratenden Republik. Als Verrina Fiesko niederstechen will, schreit das Volk herbeistürmend auf: „Fürstenmord! Fürstenmord! […] Verräter stirb! Majestätsverletzer!“ (V/6 2, 554). Verrina, bis zuletzt offenbar in der Illusion lebend, das Volk wolle die Demokratie, weicht mit einem „Blick voll Befremdung“ zurück und resigniert, doch immer noch das Volk als Souverän anerkennend: Was seh ich? – Genua, du selbst? du selbst hältst den Arm deines Retters auf? – (bitter lachend.) Rasender Tor, der du warst, Verrina! Ein Mörder wolltest du werden in deinem sechzigsten Jahr, die Freiheit dieses Volks zu verteidigen, und vergaßest zu fragen, ob dieses Volk auch befreit sein will? – Es will nicht mehr frei sein. – Es wehrt sich um seine Ketten – Ich bin dein Gefangener (V/6 2, 554). 31
Verrina ist in der Forschung umstritten. Benno von Wiese (Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 185) sah ihn als „Fanatiker“ und „Ideologen“, der sich am Ende untragisch zum Kompromiss gezwungen sieht; Rolf-Peter Janz (Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. 2. Aufl. Stuttgart 1983, S. 37–57, hier S. 51) erkannte in ihm einen bloßen Legalisten; Ursula Wertheim (Schillers „Fiesko“ und „Don Carlos“. Zu Problemen des historischen Stoffes. 2. Aufl. Berlin 1967, S. 68 u. 97), Gerhard Günther (Der Cäsar und die Republik. Der politische Gehalt von Schillers Fiesco. In: Deutsches Volkstum 11 (1929) H. 2, S. 96–102, hier S. 101) und Erich Schmidt (Einleitung zu Friedrich Schiller: Werke. Säkularausgabe. Bd. 3: Die Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe. Mit Einl. u. Anm. v. Erich Schmidt. Hg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart 1960, S. 33) sahen in ihm einen letztlich resignierenden und sich unterwerfenden Republikaner; Gerhard Storz (Der Dichter Friedrich Schiller. 4. Aufl. Stuttgart 1968, S. 69f.) sah Verrina als „Verstörten“, der mit dem Scheitern der Rebellion seine „Voreiligkeit“ bestraft sieht; Paul-Michael Lützeler (‚Die große Linie zu einem Brutuskopfe‘. Republikanismus und Cäsarismus in Schillers Fiesco. In: Monatshefte 70 (1978) S. 15–28, hier S. 22f.) dagegen interpretierte Verrina als einen Geistverwandten des Andreas Doria, dessen gerechtes Regiment lediglich hinter der Ausschweifung Gianettinos vorübergehend verschwunden war; dies interpretierte Peter Mertz (Die Uraufführung des Fiesco war in Bonn. In: Maske und Kothurn 10 (1964), S. 484–487, hier S. 487) als Sieg der „republikanische[n] Idee“.
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Man mag es als theaterkonventionell abtun, dass das treue Volk seinen Fürsten verteidigt. Doch zugleich war dies auch noch der Ernst des Dichters. Nach wie vor – also auch in der Bühnenfassung – taumelt das Volk seit seiner Entmündigung (hier II/5 2, 471ff.) besinnungslos hinter Fiesko her. Verrina muss erkennen, dass Herders Satz, „daß kein Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will“, so falsch nicht ist.32 Doch erkennen Verrina und sein Autor Schiller auch die Fortsetzung von Herders Satz an, dass nämlich solch ein Volk auch „der Sklaverei wert ist“? Was soll man mit dem Volk von Genua anfangen, das eben noch den Attentäter seines Herrn gerichtet wissen möchte und im nächsten Augenblick, kaum dass Fiesko das Zepter zerbrochen hat und mit den Worten „Seid frei, Genueser!“ „unter das Volk“ warf, „jauchzend auf die Knie“ fällt und jubelnd ausstößt: „Fiesko und Freiheit!“ (V/6 2, 554). Wird ein solches Volk die ihm gewährte, nicht errungene Freiheit zu nutzen wissen? Handelt Fiesko nicht in seiner Selbstbewunderung (2, 555: „Genuas Freiheit war in diesem Busen entschieden, ehe Verrina noch dafür zitterte – aber Fiesko selbst mußte der Schöpfer sein“) verantwortungslos? Ist dieser Opernschluss eine Demonstration für Republikanismus, Freiheit und Demokratie oder eine Parodie darauf? Schiller selbst wies in der Erinnerung an das Publikum (1784) darauf hin, dass er „mit Fleiß“ in dem Lesestück historisch treuer dichten wollte als in dem Theaterstück.33 Infolgedessen sollte man die Darstellung des Volks ganz am Ende der Bühnenfassung vielleicht so ernst doch nicht nehmen. Es dient hier offenkundig eher als Kulisse für eine rührselige Wiedererkennensszene,34 als dass es ästhetischpolitisch etwas bedeuten sollte. Die Entmündigung des Volks und seine Degradierung von einem handelnden Subjekt zu einem Objekt despotischer Willkür in der ersten Fassung des Stücks bleibt aber bestehen und festzuhalten.
Kabale und Liebe (Fassung 1784) Kabale und Liebe gilt als das politischste Drama des jungen Schiller. Vom Volk ist hier allerdings am wenigsten die Rede. Allenfalls in der sogenannten Kammerdienerszene (II/2) wird etwas von der Lebenswirklichkeit des Volks sichtbar. „Ein 32 33
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Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989, S. 367. Das mag eine Ausrede Schillers sein, der sich nach Dalbergs Änderungswünschen richten musste, aber öffentlich seine Autonomie als Autor gewahrt wissen wollte. Dennoch sollte man das Argument – zumal wenn es Schiller als Ausrede tauglich schien – ernst nehmen. Der Schluss des Stücks: „FIESKO […] Verrinas Hand ergreifend, mit Wärme und Zärtlichkeit. Und jetzt doch mein Freund wieder, Verrina? VERRINA begeistert in seine Arme stürzend. Ewig! FIESKO mit großer Rührung, einen Blick auf das Volk geworfen, das mit allen Zeichen der Freude noch auf den Knien liegt. Himmlischer Anblick – belohnender als alle Kronen der Welt – (gegen das Volk gerichtet) Steht auf, Genueser! den Monarchen habe ich euch geschenkt – umarmt euren glücklichsten Bürger. (Der Vorhang fällt.)“ (V/6; 2, 555).
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alter Kammerdiener des Fürsten“ bringt der herzoglichen Mätresse Brillanten von ungeheurem Wert. Überrascht erfährt Lady Milford, die man bereits als empfindsame und humane Frau kennenlernte (II/1), dass der Herzog diese Brillanten von dem Geld gekauft hat, das er durch die Subsidierung35 seiner „Landeskinder“ ins englische Amerika verdiente. Die „Freiwilligkeit“ des Einsatzes stellte man dadurch sicher, dass man vorlaute Frager aus dem Volk („wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe?“) durch Soldaten niederschießen ließ, so dass man „ihr Gehirn auf das Pflaster sprützen“ sah, worauf „die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika!“ (II/2 2, 591). Durch den Mund des Kammerdieners, der als Vater von „ein paar Söhnen“, die man nach Amerika verschiffte, betroffen ist, erfahren Leser und Zuschauer von einer der bitteren politischen Wahrheiten des Volks.36 Milford will den Kammerdiener damit trösten, dass sie ihm sagt, seine Söhne würden ihr „Vaterland wieder sehen“ (2, 591). Sie bekommt zur Antwort: Das weiß der Himmel! Das werden Sie! – Noch am Stadttor drehten sie sich um, und schrieen: „Gott mit Euch, Weib und Kinder – Es leb unser Landesvater – am jüngsten Gericht sind wir wieder da!“ (2, 591f.)
Das „Vaterland“ der verkauften Soldaten ist also nicht ihr Herkunftsland, denn der „vierte Stand“ kennt kein Vaterland.37 Auch die bewussteren Bürger zweifelten im 35
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Während des nordamerikanischen Befreiungskriegs (1775–1783) wurden von deutschen Fürsten insgesamt etwa 30.000 Soldaten an die englische Krone ‚ausgeliehen‘, wofür England 12 Millionen Taler zahlte (vgl. Friedrich Kapp: Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika. 2. Aufl. Berlin 1874, zit. nach 2, 1453f.). Schubart kam in einer Bilanz der „neusten Menschenschatzung“ (Teutsche Chronik auf das Jahr 1776. Von Schubart. Nr. 25, Ulm: Wagner 25. März 1776, S. 194; vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart: Deutsche Chronik. Eine Auswahl aus den Jahren 1774–1777 und 1787–1791. Hg. v. Evelyn Radczun. Köln 1989, S. 181; ders.: Werke in einem Band. Ausgew. u. eingel. v. Ursula Wertheim u. Hans Böhm. 4., durchges. Aufl. Berlin 1988, S. 76f.) auf „über 50.000 Mann“, die von ihren Fürsten „als Schlachtopfer in fremde Welten verschickt“ und die „gröstentheils in Amerika ihr Grab finden werden.“ „Nur nicht räsonniert, Kerl! schmurrte ihn der Eine von beiden Korporals mit aufgehobenem Stocke an: Fort mit uns; und macht ja nicht Miene, entlaufen zu wollen, oder wir schießen euch auf der Stelle nieder. […] Wie Faustin hörte, daß er nach Amerika sollt, ward er vollends untröstbar. Nach Amerika! rief er schluchzend, nach Amerika! Was geht uns Deutsche Englands Fehde mit seinen Kolonisten an? Finden Sie das unserm menschenfreundlichen, aufgeklärten, philosophischen Jahrhundert angemessen, daß einige Landesväter ihren Bauern das Geld nehmen, mit eben diesem Gelde die Söhne derselben, den gesündesten nervigsten Kern der Nation montieren und armieren, und dann für einige lunpige Guineen an die Britten verkaufen? Ist das etwas anders, als Europäischer, noch ärger, etwas anders als Deutscher Sklavenhandel?“ (Johann Pezzl: Faustin, oder das philosophische Jahrhundert, ²1783, S. 181; zit. nach Jost Hermand (Hg.): Von deutscher Republik. 1775–1795. Texte radikaler Demokraten. Frankfurt a.M. 1975, S. 55.) Eine Wendung von Karl Marx und Friedrich Engels (Manifest der Kommunistischen Partei. Hg. v. Iring Fetscher. Stuttgart 1969, S. 44) polemisch aufgreifend denunzierte noch Wilhelm Heinrich Riehl (Der vierte Stand. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1850, H. 4, S. 182–267; z. T. wieder in: Eckart Pankoke (Hg.): Gesellschaftslehre. Frankfurt a.M. 1992, S. 554–571, hier S. 559) die Proletarier als „vaterlandslose Gesellen“: „Der vierte Stand ist Kosmopolit, wo
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18. Jahrhundert noch an der Existenz eines „Vaterlandes“, für das es sich aufzuopfern lohne;38 so nannte Lessing „die Liebe des Vaterlandes“ eine „heroische Schwachheit“, die er „recht gern entbehre“;39 und man wandte sich entschieden gegen einen „Patriotismus“, der einen „vergessen lehrt“, dass man „ein Weltbürger sein sollte“ (Lessing)40 und zugleich ein „Bürger“ der Jahrhunderte, „welche kommen werden“ (Schiller).41 Lady Milford weiß es selbst recht genau: Das Land, das sie bewohnt, gehört dem Fürsten; es ist ausschließlich „sein Land“ (III/1 2, 588), nicht aber das seiner Bewohner. Der Herzog in Kabale und Liebe ist nur an seinem Vergnügen interes-
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die andern Stände national, ja partikularistisch sind. Der Bürger und Bauer trägt in jedem Lande sein besonderes Gepräge; der Mann des vierten Standes ist sich überall gleich. Die Zivilisation und das Elend nivellieren bekanntlich am gründlichsten, und diese beiden Kräfte sind es ja, die im Verein den vierten Stand zumeist an’s Licht gezogen und zum Bewußtsein gebracht haben“. Thomas Abbt (Vom Tode für das Vaterland. Neue verm. u. verb. Aufl. Berlin 1770, S. 17) fragte sich: „Was ist wohl das Vaterland?“ und lehnte den „Geburtsort allein“ als Kriterium ab, um stattdessen dem „Staate“ das Prädikat „Vaterland“ zuzuerkennen, dessen „heilsame Gesetze […] mir nicht mehr von meiner Freyheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staats nöthig ist“. Auch der junge Goethe (Frankfurter Gelehrte Anzeigen, Nr. XLI, 22. May 1772) polemisierte gegen das umlaufende Geschwätz über die „Liebe des Vaterlandes“ („Römerpatriotismus! Davor bewahr uns Gott“). Sein Schwager Schlosser schrieb am 31. Aug. 1772 an Lavater, nachdem er dessen Schweizerlieder erhalten hatte: „Nennen Sie diese schöne so rühmliche Dinge nicht Sünden Ihrer Jugend. Wie stolz würde ich auf mein Herz seyn wenn ich so frühe Patriotismus empfunden hätte; wie stolz auf mein Vaterland, wenn da Patriotismus möglich wär“ (J. Keller (Hg.): Die Schlosser-Lavater’sche Korrespondenz aus den Jahren 1771 und 1772. In: Zürcher Taschenbuch 103 (1893) S. 1–74, hier S. 47). Justus Möser fragte sich in einer Rezension über Friedrich Carl von Mosers Buch Von dem deutschen Nationalgeiste (Frankfurt/Main 1765): „Allein, wo finden wir die Nation? An den Höfen? Dies wird niemand behaupten. In den Städten sind verfehlte und verdorbene Copieen; in der Armee abgerichtete Maschinen; auf dem Lande unterdrückte Bauern“ (Patriotische Phantasien. Ausgewählte Schriften. Hg., mit Nachw. u. Anm. v. Wilfried Zieger. Leipzig 1986, S. 237). In eine ähnliche Richtung zielend hatte Johann Georg Zimmermann in seinem 1758 zuerst erschienenen Buch Vom Nationalstolz selbigen allenfalls Bürgern freier Republiken zugebilligt. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001, Bd. 11.1, S. 311f. (an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 14. Feb. 1759). Ebd., S. 305 (an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 16. Dez. 1758). Ebenso Christoph Martin Wieland im Peregrinus Proteus (Sämmtliche Werke. 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde. Leipzig 1794– 1811, Bd. 28, S. 110), wo das Ideal politischer Identität als „Weltbürger“ definiert wird. Für Kosmopolitismus statt kleingeistigen Patriotismus plädierte Wieland oft (siehe z.B. den Aufsatz Das Geheimniß des Kosmopolitenordens im Teutschen Merkur, August und Oktober 1788; wieder in: Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma u.a. Nördlingen 1988, Bd. 1, S. 321–348; bzw. in Pankoke (Hg.): Gesellschaftslehre, S. 45–73). Dom Karlos (1787) III/10, V. 3670ff. (3, 311); Don Karlos (1805) III/10, V. 3078ff. (3, 889). „Ich weiß von keinem Vaterlande“, sagt Marquis Posa in derselben Szene zu seinem König (V. 3620f., 3, 310; in der letzten Fassung bezeichnenderweise gestrichen). Vgl. auch Schiller im Mai 1789 in seiner Antrittsvorlesung: „Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band“ (6, 419). Zum „Begriff des ‚Weltbürgers‘“ und zur „Vorstellung vom ‚Weltbürgertum‘ bei Schiller“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz Wertheims in Edith Braemer u. Ursula Wertheim: Studien zur deutschen Klassik. Berlin 1960, S. 115–162 u. 434–450.
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siert, nicht aber an seinen Untertanen, was sich am Schicksal der vierhundert Familien ablesen lässt, die durch einen Großbrand „an den Bettelstab“ gekommen sind und nun als „Sklaven“ ihrer Gläubiger oder „in den Schachten der fürstlichen Silberbergwerke“ verderben (III/2 2, 592). Selbst ein „Menschenfeind“ wie Hutten, die Hauptfigur eines dramatischen Fragments von Schiller aus den Jahren 1786– 1789, hatte seinen Untertanen nach einer „Wassernot“ zum Wiederaufbau ein zinsloses Darlehen gewährt, das er nachher nicht einmal zurückgezahlt haben will.42 Dessen Untertanen hatten die materielle Hilfe gern angenommen, während der Kammerdiener das Geld, das ihm Lady Milford dafür geben will, dass er ihr die Wahrheit sagt, „verächtlich“ zurückweist: „Legts zu dem übrigen“, schlägt er ihr vor (II/2 2, 592). Alles Geld, das am Hof existiert, stammt aus der „ungeheuren Pressung des Landes, die vorher nie so gewesen“ (II/3 2, 595), und müsse daher als den „Landeskindern“ gestohlen angesehen werden. Der Kammerdiener hat das bei Unterprivilegierten stets gut entwickelte Bewusstsein für die Demütigung, die mit einem „Almosen“ verbunden ist. „Was aber ist das Mitleid in Wirklichkeit? Ein ganz egoistisches Gefühl“, heißt es einmal in einem Roman des Donatien Alphonse François de Sade, weil letztendlich der „Dienst [am Nächsten] nur dem Stolz des Wohltäters gedient hat“.43 Den gleichen Stolz, was eine als Verhöhnung empfundene „Bezahlung“ angeht, legt in der letzten Szene der Musikus Miller an den Tag, wenn er dem sterbenden Ferdinand von Walter die erst kürzlich erhaltene Börse wieder „vor die Füße“ wirft: „Giftmischer! Behalt dein verfluchtes Gold!“ (V/8 2, 677). Bedeutet die dem Kammerdiener und dem bürgerlichen Musikus gemeinsame Geste, dass Kammerdiener und Musiker zu einer sozialen Schicht gehören? Ja und nein. Am absolutistischen Hof galten Musiker nicht sehr viel;44 man weiß von
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Der [im Erstdruck zusätzlich: versöhnte] Menschenfeind, 5. Sz. (2, 851f.). Hutten ist philosophischer Menschenfeind, aber kein pragmatischer. „Ich habe Ehrfurcht vor der menschlichen Natur – nur die Menschen kann ich nicht mehr lieben“ (8. Sz.; 2, 865). Wegen seiner „hohen Idee von dem Menschen haßt er die Menschen“, schrieb Käte Hamburger (Schillers Fragment Der Menschenfeind und die Idee der Kalokagathie. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30 (1956) S. 367–400, hier S. 372) in Hinblick auf das mögliche Vorbild bei Shaftesbury. Donatien Alphonse François Marquis de Sade: Ausgewählte Werke. 3 Bde. Hg. v. Marion Luckow. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 3, S. 547 u. 719. Den Zynismus seiner Kunstfiguren teilte der Autor nicht, doch fand er deren Haltung ehrlicher als die „verlogene“ Position der „ehrlichen Leute“. Was Sade „meint, ist völlig deutlich: man muß entweder die Armut oder die Armen abschaffen, darf jedoch nicht durch halbe Maßnahmen die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung verewigen. Vor allem dürfen sich die Mächtigen nicht dadurch von ihren Verpflichtungen freikaufen wollen, dass sie den Ausgebeuteten einen kleinen Teil ihres Raubes zurückgeben“, fasste Simone de Beauvoir zusammen (Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus. Dt. v. Alfred Zeller. Reinbek 1983, S. 62f.). Vgl. Leo Balet u. E. Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Mit einem Nachw. v. Eberhard Rebling. Dresden 1978, S. 355f.: „Im absolutistischen Zeitalter war der Musiker Angestellter, Diener, Lakai […]. Als Diener eines Fürsten gehörte der produktive wie der reproduktive Musiker zum Stab der Angestellten. Er hatte Uniform zu tragen und an der Bediententafel zu speisen. […] Der diensttuende Musiker
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Mozarts Ärger, dass er mit dem Gesinde speisen musste und froh sein konnte, dass er „wenigstens die Ehre vor den köchen zu sitzen“ hatte, während die beiden Kammerdiener „oben an“ saßen.45 Doch in Schillers Drama wird der Musikus Miller zum Repräsentanten einer biederherzigen Bürgerlichkeit.46 Allerdings nehmen nicht alle Zeitgenossen den hier schon bestehenden Unterschied zwischen dem dritten und vierten Stand wahr. Karl Philipp Moritz etwa empfand Miller deutlich abwertend als „durchaus ein[en] pöbelhafte[n] ungezogene[n] Kerl“;47 und ein anderer anonymer Kritiker erklärte – allerdings vorsichtig aufwertend – zu dem „Karakter“ des Stadtmusikanten Miller: Er gehöre „in die niedrigere Volksklasse, scheint uns aber dem Dichter treflich gelungen zu sein. Ein Mann, der mehr nach Launen, als nach Grundsäzzen handelt, rauh, bieder und geradezu, so spricht und handelt er durch das ganze Stük, die einzige Szene ausgenommen, wo er seine Tochter von dem Selbstmorde abzubringen sucht“.48 Familie Miller begreift sich in dem Stück allerdings bereits als von dem Volk geschieden, so dass es Louise ohne Weiteres von den Lippen geht: „Ich verachte das Urtheil der Menge“ (IV/7 2, 641). Schillers Familie Miller steht gewissermaßen an einem Scheidepunkt. Sie selbst sieht sich nicht mehr als Teil der untersten Volksklasse, sondern bezieht das Gefühl ihres Werts aus sich. Auch der bürgerliche Sekretarius Wurm49 kennt sich mit „dieser Menschenart“ (III/1 2, 614) und ihrer Ehrbarkeit aus. Für den Präsidenten
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galt nicht mehr und stand sich im Durchschnitt nicht besser als ein Glasbläser oder Korbmacher.“ Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe. Ausgew., eingel. u. komm. v. Wolfgang Hildesheimer. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1985, S. 91 (an Leopold Mozart, 17. März 1781). Die Litteratur- und Theater-Zeitung für das Jahr 1784 (28. Aug. 1784) spricht in einer Rezension der Göttinger Aufführung am 3. August des Jahres (Großmannsche Truppe) von dem „alten bidern Miller“, dessen „vortrefliche“ und „herzliche“ Aufführung „die größte Rührung hervor“ gebracht hätte (2, 1388). „Musikus Miller“ wird als „hitziger aufbrausender Mann“ begriffen, „der seine Festigkeit mit aller möglichen Rauhigkeit verbindet“ (Tagebuch der Mannheimer Schaubühne; über die Aufführung am 20. Sep. 1787; 2, 1393) und als legitimer Bruder des Lessing’schen Odoardo Galotti gilt. Königliche privilegirte Berlinische Staats- und gelehrte Zeitung (4. Sep. 1784), zit. nach 2, 1374. In einer ersten Rezension in der gleichen Zeitung (20. Juli 1784; 2, 1372f.) nannte Moritz das Stück eine „Schande“ und meinte, dass damit „Geschmack und gesunde Kritik mit Füßen [ge]treten“ würden, weil es „voll eckelhafter Wiederholungen gotteslästerlicher Ausdrücke […] und voll krassen pöbelhaften Witzes, oder unverständlichen Galimathias“ sei. Tagebuch der Mainzer Schaubühne. Hg. v. Aloys Wilhelm Schreiber. 3. u. 5. St. Frankfurt a.M. 1788, S. 44f. u. 68–74; von der letzten Szene heißt es: „Hier verändert sich das Bild auf einmal, und der gute rohe Stadtpfeifer spricht wie ein moderner Philosoph, der seine Weisheit in Bildersprache kleidet. Diese Szene ist übrigens schön und erschütternd, nur in Hinsicht auf Millers Karakter unwahr“ (2, 1400). Wurm spricht die Millerin als „Frau Base“ an und unterscheidet sein „bürgerliches Vergnügen“ von der „Kavaliersgnade“ recht genau (I/2; 2, 568). Dementsprechend besteht er auch gegenüber seinem Dienstherrn Walter, der ihn auffordert, sich am „hiesigen Adel“ ein Beispiel zu nehmen, auf seiner Ehre als „Bürgersmann“ (I/5; 2, 578). Allerdings identifiziert sich Wurm in Fragen der Ehrlichkeit mit dem Adel (III/1, 2, 614), während andererseits Ferdinand von Walter aus seiner gesellschaftlichen Rolle fällt, indem er bestimmte Vorstellungen von „Ehre“ der „schlechtesten Handwerker“ übernimmt (I/7; 2, 585).
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Walter dagegen ist die „Bürgerkanaille“ (I/5 2, 577) von dem „Pöbel“ kaum zu unterscheiden; über ihr moralisches Empfinden muss er sich von Wurm unterrichten lassen. Zu Schillers Zeit kam es auf die Perspektive an. Für die Millers ist die „Menge“ nach wie vor namenlos, während man selbst um den „Ruf des Hauses“ fürchten muss und sagen kann: „Ich heiße Miller“ (I/1 2, 568 bzw. II/6 2, 606f.).50 Miller ist schon nicht mehr auf den „Gassen“ beheimatet: Dort sucht er nur seine vermeintlich verlorene Tochter oder imaginiert sich als zukünftiger Bettler (V/1 2, 652 u. 657). Der Präsident von Walter dagegen spricht, so sehr Miller auch auf seiner individuellen Identität beharren mag, diesen niemals mit Namen an, sondern als „Vater“, „Kuppler“, „Spitzbube“ oder mit dergleichen Funktionsbezeichnungen, während er selbstverständlich einen Namen führt. Die „Bürgersleut’“ sind aus seiner Perspektive bloßes „Gesindel“ (II/6 2, 606–608).
Dom Karlos, Infant von Spanien (1785/87) Nicht nur, aber auch auf die soziale Perspektive der handelnden oder sprechenden Personen kommt es an. Das kann man gut in Schillers Dom Karlos sehen, wo es zwei Arten von Volk gibt, nämlich das „gute“ niederländische und das „verdorbene“ spanische. Diese Scheidung ist natürlich nur für den Zuschauer vorhanden und für die Partei des Roderich Marquis Posa, nicht aber für König Philipp (II.), für den beide Völkerschaften sich unter dem Begriff „Untertanen“ subsumieren lassen und der auch beiden das gleiche Schicksal zugedacht hat. Spanischen Frieden und Ruhe gönne er auch den Flamändern, äußert er zu Posa (III/10),51 nicht bedenkend freilich, „wie weit noch der Abstand ist von einem blühenden Reiche zu einem glücklichen“, wie Schiller in der ersten Ausgabe seiner Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) schrieb (6, 78).52 Philipp behauptet, in Spanien „blüht / Des Bürgers Glück“, weil er den Unterschied zwischen einem blühenden und einem glücklichen Land nicht kennt – im Gegensatz zu Posa, der als verfrüht lebender Bürger des 18. Jahrhunderts die Distinktionskraft des Historikers Schiller teilt und daher unterscheiden kann zwi50
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Ob die Angst „vor dem Verlust des eignen Namens“ wirklich „die älteste Angst“ schlechthin ist, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachw. v. Jürgen Habermas. Frankfurt a.M. 1986, S. 37) behaupteten, bleibe einmal dahingestellt; es ist aber die Angst des ‚aufgeklärten Bürgers‘ im 18. Jahrhundert: Denn dies wäre ein ‚Rückfall‘ in die Anonymität der nicht unterschiedenen, nicht unterscheidbaren Menge, in das Volk, aus dem sich die Bürger im 18. Jahrhundert herausarbeiteten. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 124. Schiller strich diese Bemerkung in der Ausgabe von 1801 (vgl. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 65). Er reflektierte in dieser Passage die Pflicht des Geschichtsschreibers, auch unter einer „lachenden Außenseite“ die meistens dennoch vorhandene ‚Despotie‘ zu sehen. Als Beispiele dafür dienten ihm an anderer Stelle die Epochen des römischen Kaisers Augustus und des französischen Königs Louis XIV.
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schen der Ruhe, die Freiheit gewährt, und der in Spanien herrschenden „Ruhe eines Kirchhofs“.53 Im Dom Karlos tritt das Volk weder als Kollektiv noch in Form Einzelner tatsächlich auf; lediglich im letzten Akt dringt das Volk von Madrid wenigstens akustisch bis auf die Bühne vor. Ansonsten wird über das Volk nur geredet. Schillers Drama zeigt bloß die Innenseite der Macht, die Räume königlicher Residenzen, nicht aber den öffentlichen Raum. Das spanische Volk Gleich zu Beginn das Stücks wird vom spanischen Volk gesagt, es sei einem „andächtigen Rausch“ zum Opfer gefallen (Thalia-Fassung, V. 391);54 mit ihm ist nicht mehr zu rechnen. Den katholischen Glauben versteht Schiller offenbar als Opium, das die Kirche dem Volk verabreicht, um es ruhig zu stellen. Eine Figur wie Pater Domingo ist nicht geeignet, diesen Eindruck zu widerlegen; ihm geht es sicher nicht um das Seelenheil der Untertanen, sondern in erster Linie um die eigene Macht. Zugleich aber ist Domingo, gerade weil er machtbewusst ist und ein Glied der allmächtigen Kirche, am besten über die Lebensrealität des Volks unterrichtet. Er weiß um „Gerüchte“, die im Volk umlaufen und nutzt dieses Wissen für seine Interessen (Thalia-Fassung III/6); in diesem Fall gilt es, den König seinem Sohn Karlos, dem er sich annähert,55 erneut zu entfremden, um ihn unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck sucht Domingo dem König ein grundsätzliches Misstrauen gegen seine Gemahlin einzupflanzen, das in der Folge den geeigneten Nährboden für Behauptungen eines intimen Verhältnisses zwischen Königin Elisabeth und Prinz Karlos abgeben soll. Mittel dazu ist ihm die in den Gerüchten des Volks sich repräsentierende öffentliche Meinung, die über die mögliche Untreue der Königin spekuliert. Anders als Philipp (Thalia-Fassung, V. 1123–1126: „Schreckenlos / seh ich die Wogen der Rebellion / bis an die Stufen meines Thrones schlagen. / Mein Thron steht fest“) weiß Domingo, dass man auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen muss. Der gute Ruf darf nicht leichtfertig auf das Spiel gesetzt werden: „Guter Name / ist das kostbare einzge Gut, um welches / die Königin mit einem Bürgerweibe / wetteifern muß“ (Thalia-Fassung, V. 3921–3924).
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Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 124. Dom Karlos wird unter Angabe der Verszahl (bzw. von Akt und Szene, wenn diese insgesamt gemeint ist) zit. nach dem sogenannten Thalia-Fragment (1785–87) bzw. der ersten Buchausgabe (1787) in der von Gerhard Kluge vorgelegten Fassung in Schiller: Werke und Briefe, Bd. 3. Nach der Aussprache zwischen Philipp und Karlos bescheidet der König seinen ersten Minister Alba: „Ich will / Die Probe wagen, Herzog. Künftighin / Steht Karlos meinem Throne näher. Geht.“ (Buchausgabe II/3; so auch in der letzten Fassung, vgl. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 53.)
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Der König glaubt nicht an die „Gerüchte“, dennoch senken ihm Domingos Worte ein Misstrauen ein (vgl. Buchfassung IV/9); und die Angst des erfahrenen Machtpolitikers steckt den zunächst unbesorgten König an. Zunächst fragt er noch neugierig und halb belustigt nach den „Gerüchten“ (Thalia-Fassung, V. 3915f.), nach Domingos Andeutungen aber fragt er besorgt danach: „Was glaubt das Volk?“ (Thalia-Fassung, V. 3932). Das ist die aus frühneuzeitlichen Dramen sattsam bekannte Frage des Tyrannen nach der ihm so gefährlichen Volksmeinung. Doch hier ist es nicht eine Frage, die dem allzu selbstsicheren König entfährt (erst in der übernächsten Szene wird ihm der Untergang seiner Armada als Menetekel des eigenen Untergangs berichtet), sondern es ist eine von dem Realpolitiker Domingo provozierte Frage. Domingo nämlich weiß als Machiavellist noch: „Doch freilich gibt es Fälle wo der Glaube / des Volks – und wär er noch so unerwiesen – / bedeutend wie die Wahrheit wird“ (Thalia-Fassung, V. 3917–3919). Die vor dem König damit beschworene, von der Volksmeinung ausgehende Gefahr nutzt Domingo – nachdem er sie dem König bewusst gemacht hat – also für seine Pläne. Damit handelt das Volk zwar nicht, aber die Möglichkeit, dass es von sich aus handeln könnte, wird als politisches Mittel eingesetzt. In Kontrast dazu steht die Szene, die uns das Volk im Aufruhr zwar nicht präsentiert, doch es hören lässt. Als Philipp erschüttert durch die Wahrheit über Karlos’ und Posas Freundschaft ohnmächtig wird (Buchfassung V/5) und das Reich damit für einen Moment führungslos ist, hört man schon seit einiger Zeit „von ferne ein verworrenes Getöse von Stimmen, ein Zusammenlauten von Glocken, und ein Gedräng vieler Menschen“ (V/4). Der Lärm draußen wird stärker; man bemerkt, dass es zum Sturm auf den Palast kommt; ein Offizier stürzt herein und berichtet: Rebellion! / […] Ganz Madrid in Waffen! Zu Tausenden umringt der wütende Soldat, der Pöbel den Pallast. Prinz Karlos, verbreitet man, sei in Verhaft genommen, sein Leben sei in Gefahr. Das Volk will ihn lebendig sehen, oder ganz Madrid in Flammen aufgehn lassen. (Buchfassung, V. 5694ff.)
In dieser Situation, wo durch den Schwächeanfall des Königs ein Machtvakuum entstanden ist, das alles möglich macht, handelt allein Herzog Alba, neben dem Priester Domingo der weltliche Repräsentant der Tyrannei. „Flüchten Sie Sich, Sire – Es hat / Gefahr – Noch wissen wir nicht, wer / den Pöbel waffnet – […] Unterdessen geb’ ich / Madrid den Frieden.“ (Buchfassung, V. 5702ff. und 5725f.)56 Auch Alba weiß um die Gefahr, die vom Volk ausgeht, doch anders als 56
Dass Alba sich in dieser Situation der Verwirrung das Amt des Königs aneignet, ergibt sich schon aus seiner Formulierung, er werde Madrid den Frieden geben. So hatte Philipp selbst gegenüber Posa (III/10) seine Tätigkeit benannt: „in nie bewölktem Frieden“ lebten seine Untertanen, sagt er. Man kann davon ausgehen, dass Alba den Frieden (den Posa die „Ruhe eines
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Domingo in der oben erwähnten Szene glaubt er nicht an die Selbstständigkeit des Volks. Er nimmt an, die eigentliche Gefahr gehe davon aus, dass man „noch nicht“ den Drahtzieher des Aufstands kenne. Dass das Volk sich allein bewaffnen könne, kommt ihm nicht in den Sinn, und in der Tat hat Alba hier Recht; wenig später stellt sich nämlich heraus, dass die Königin selbst den Aufruhr „veranlaßt“ hat (Buchfassung, V. 5774), um Karlos zur Flucht zu verhelfen. Während also Domingo das potenzielle Handeln des Volks zu einem Mittel seiner Politik macht, muss sich Alba damit auseinandersetzen, dass ein politischer Gegner das Handeln des Volks als Mittel nutzt. Zwar handelt das Volk im Dienste der Intrige Elisabeths nicht als Subjekt, wie es Domingo noch fürchtete, doch immerhin ist sein Handeln in beiden Fällen, in dem potenziellen wie dem aktuellen, gegen den König und sein Regime (und dessen Repräsentanten Domingo und Alba) gerichtet. Die regierende Partei um König Philipp kann das Volk nicht als Bundesgenossen gewinnen, da dieses per se oppositionell gesinnt ist; von daher gibt es zwischen den zunächst widersprüchlich erscheinenden Szenen eine innere Einheit. Trotzdem bleibt der Kontrast zwischen der Einschätzung des Volks durch Domingo und Alba bestehen. Er kann verstanden werden als Folge von Schillers „Geschichtsidealismus“, der in seinen Dramen stets mit seinem „Geschichtsrealismus“ kollidierte, wie es Erhard Bahr darstellte. Bahr versteht unter „Geschichtsrealismus“ die Darstellung von Ereignissen, „mit denen der Dramatiker Schiller die idealistischen Konstruktionen seiner Dramen unterläuft, um der Geschichtswirklichkeit und ihrer Widersprüchlichkeit gerecht zu werden“.57 In diesem Fall bedeutet das, dass Schiller aus seiner Quelle den Volksaufruhr übernimmt, obgleich er ein eher blindes Motiv darstellt, ja sogar die Glaubwürdigkeit der dramatischen Konstruktion zu sprengen geeignet ist.58 Wozu nämlich braucht es des Volksaufruhrs? Karlos’ Flucht oder sein Besuch bei der Königin hätten eines solchen Aufwands an Mitteln nicht bedurft. Im Gegenteil möchte man sich fragen, warum der zur Besinnung gelangte Karlos sich zum Beispiel nicht an die Spitze des gerade im Aufruhr befindlichen Volks, das
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Kirchhofs“ nannte) in Madrid dadurch wieder herstellt, dass er die ‚lebendige Stadt‘ in einen ‚Kirchhof‘ verwandelt: „Die Stadt ist ruhig“ (Buchfassung, V. 5803), verkündet der General bereits in einer der nächsten Szenen (V/8). Erhard Bahr: Geschichtsrealismus in Schillers dramatischem Werk. In: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge – Dichtung – Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin 1987, S. 282–292, hier S. 282. Blinde Motive aus Treue zu überlieferten Fakten gibt es in anderen Werken Schillers auch, so z.B. in der Verschwörung des Fiesko der Bote zu Spinola nach Levanto (II/14). Edward M. Batley (Zur Problematik der Glaubwürdigkeit der Geschichte […]. In: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge – Dichtung – Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin 1987, S. 250–263, hier S. 260) las die historischen Details ausschließlich als „Beglaubigungsmittel“, um Schiller auf die Position Lessings festzulegen: eine Interpretation, die mir etwas zu forciert scheint.
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seine Befreiung fordert, setzt und König Philipp entmachtet, ohne erst den geplanten Umweg über die Niederlande zu nehmen. Man könnte antworten: Erstens seien die Gegenkräfte in Madrid zu stark, so dass ein solcher Putschversuch scheitern müsste; dagegen ließe sich einwenden, dass sich unter den aufständischen Anhängern des Karlos auch „Tausende wütender Soldaten“ befinden (s.o.) und dass Karlos auf dieser Welt ohnehin nichts mehr wichtig ist, wie er V/6 äußert, so dass der Erfolg einer Unternehmung zweitrangig wird – was er nach Posas früherem Merkspruch ohnedies ist.59 Dagegen ließe sich wiederum einwenden, dass zweitens dem Prinzen Karlos der vom Marquis Posa nachgelassene „Auftrag“ heilig ist und erfüllt werden muss, dass Karlos also in die Niederlande fliehen muss. Außerdem stünde ein Putschversuch Karls in Madrid den historisch überlieferten Fakten in einer so gravierenden Weise entgegen, dass Schiller mit dem Widerspruch seines gebildeten Publikums hätte rechnen müssen. Und vor allem darf – und das mag der entscheidende Grund sein – Karlos seine Wiedergeburt als „Mensch“ (er sei aus einem „langen schweren Traume“ erwacht, gesteht Karlos der Königin in Szene V/11)60 nicht durch aktives politisches Handeln in Frage stellen. Wie Wilfried Malsch gezeigt hat,61 bedarf das politische Handeln der „schlimmen Mittel“ (Buchfassung, V. 4096), die auf Grund der „Oekonomie“ eines Dramas62 für den gerade wiedergeborenen Karlos nicht glaubhaft dargestellt werden könnten. Ähnlich seinem Vorgehen im Wilhelm Tell (1804), wo Schiller die Revolte des schweizerischen Volks von jedem Makel dadurch rein zu waschen sucht, dass er Tells Bluttat (die heimtückische Ermordung Geßlers) ausschließlich privat und notwehrartig motiviert, um sie damit zugleich bis zum Schluss von der „öffentlichen Sache“ zu trennen,63 kann und will Schiller für Karlos als Identifikationsfigur der ersten drei Akte,64 nach ihrem langwierigen Irrtum 59
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„Vergiß nicht, dass ein Anschlag / den höhere Vernunft gebar, das Leiden / der Menschheit preßt, zehntausendmal vereitelt / nie aufgegeben werden darf“ (III/2, V. 3539ff. bzw. II/17, V. 2929ff.; 3, 150 bzw. 282). Posa in einem Monolog (III/9), der nach Erweckung des Karlos für diesen auch gelten muss: „Sein oder nicht – / Gleichviel! In diesem Glauben will ich handeln.“. Zuletzt fordert Posa von Karlos: „Er lege die erste Hand an diesen Marmor. / Ob er vollende oder unterliege – / ihm einerlei!“ (Buchausgabe, V. 5061ff.). Schiller zitierte in den Briefen über Don Karlos (Schluss von Nr. 9) diese Replik als die entscheidende, die helfen würde, den „Zweck, worauf der Künstler gearbeitet hat“, zu verstehen (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 256f.). Wilfried Malsch: Moral und Politik in Schillers Don Karlos. In: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1988, S. 207–237. Das gleiche Problem tauchte bereits während der Diskussion von Lessings Samuel Henzi auf, vgl. oben S. 241–243. Vgl. den ersten der Briefe über Don Karlos, in dem Schiller eine andere ‚Hauruckszene‘ mit der „Ökonomie des Stücks“ rechtfertigte (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 227). Vgl. Schillers Briefe. Mit Einl. u. Komm. hg. v. Erwin Streitfeld u. Viktor Žmegaþ. Frankfurt a.M. 1983, S. 454 (an August Wilhelm Iffland, 5. Dez. 1803). Vgl. den ersten der Briefe über Don Karlos, in dem Schiller die Kritik an mangelnder Einheit seines Dramas dadurch zu parieren trachtet, dass er einen Wechsel der Identifikation mit Karlos
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die Frage nach der Berechtigung der „schlimmen Mittel“, die Elisabeth für Posa stellte (Buchfassung, V. 4096),65 nicht noch einmal stellen: Karlos muß und soll ‚edel‘ sterben.66 Möglicherweise ist dies auch die Antwort auf die sich bei einem Vergleich mit den Quellen geradezu zwangsläufig ergebende Frage, warum Schiller den Volksaufruhr moralisch entwertete. Denn Schillers Quelle qualifiziert den Volksaufstand von 1568 in Madrid als vom Volk selbst verantwortet; Saint-Réal schrieb: Das Volk, bei dem es hinreichend ist unglücklich zu seyn, um gerechtfertigt zu werden, bezeugte täglich mehr Verlangen nach der Befreiung des Prinzen. Der König, der einen Aufruhr befürchtete, wagte es nicht mehr, Madrid zu verlassen.67
Dem Grundmisstrauen des Volks gegen die Obrigkeit korrespondiert eine Grundsolidarität mit den Opfern der Obrigkeit, das heißt in diesem Fall mit Prinz Karlos. Möglicherweise ist außerdem die Anhänglichkeit des Volks an den legitimen Prinzen, von der viele Autoren des 17. Jahrhunderts von Calderón bis Weise schrieben, ein weiteres Motiv. Jedenfalls schien dies Saint-Réal ein zureichender Grund, dass das Volk von sich aus die Befreiung des Prinzen fordert. Es bedurfte keiner Veranlassung zum Handeln durch die Königin. Schiller übernahm zwar das historische Faktum eines drohenden Aufruhrs, steigerte es sogar zu einem manifesten Aufstand, entmündigte aber zugleich das Volk, indem er die Revolte von der Königin veranlassen ließ. Schiller wird dafür ein ganzes Bündel von Gründen gehabt haben, die von theatralischen Erwägungen (ein nur drohender Aufstand ist schwer inszenierbar) bis zu ideologischen Vorbehalten reichten. Um bei Letzteren zu bleiben: Das spanische Volk wird nicht als Subjekt seiner Handlung gezeigt, eben weil es das spanische und nicht das nieder-
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zu Posa im dritten Akt einräumt (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 226). In der Thalia sprach er noch sehr gewollt von der Liebe eines Geliebten zu seinen Figuren bzw. zu seinem Stück (ebd., S. 221), was er in den Briefen zurücknahm. Elisabeth fragt ihn, beunruhigt durch die Selbsteinschätzung Posas: „kann die gute Sache schlimme Mittel adeln?“ (3, 327). Dass Schiller die für ihn nicht beantwortbare Frage nach der Zulässigkeit der „schlimmen Mittel“ in der Politik gestellt hat, ist ein Verdienst, das erstmals Malsch (Moral und Politik, S. 236 und passim) gewürdigt hat. In der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande wird diese Frage noch einmal am Beispiel Wilhelms von Oranien gestellt (vgl. die Charakterisierung in 6, 114f.: „Er hatte seine Staatskunst bei demselben Meister [wie der spanische König Philipp] gelernt, und war […] mit den gefährlichen Künsten bekannt worden, durch welche Throne fallen und steigen. Philipp hatte hier mit einem Gegner zu tun, der auf seine Staatskunst gerüstet war, und dem bei einer guten Sache auch die Hülfsmittel der schlimmen zu Gebote standen“). Geschichte des spanischen Prinzen Don Carlos. Aus den Werken des [César Vichard Abbé de] Saint-Réal gezogen. Eisenach: Wittekindt 1784, S. 123 (zit. nach 3, 1339); in der französischen Original-Ausgabe (S. 63) lautet die Stelle: „Le Peuple, prés de qui c’est assez d’estre malheureux pour estre justifié, témoignoit tous les jours plus de passion pour l’élargissement du Prince. Le Roy qui craignoit quelque sédition, n’oisoit plus s’absenter de Madrid“ (zit. nach Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen, hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 7.2, S. 455).
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ländische Volk ist. Es gehört zu Schillers geschichtsidealistischer Konstruktion, dass ein katholisches Volk nicht Subjekt seiner Handlungen sein kann. Es wurde zu Beginn des Dramas bereits als im „andächtigen Rausch“ liegend eingeführt und zwar im bewussten Gegensatz zum protestantischen Volk der Niederländer (Thalia-Fassung, V. 391). Der Berauschte aber ist nicht in der Lage, seine Vernunft zu gebrauchen und daher unmündig. Er wird fremdgeleitet und bedarf auch des Vormunds oder des Demagogen.68 Die Unvernunft des Volks offenbart sich in Schillers Stück in der absurden Drohung, dass man, sollte dem Prinzen etwas geschehen, „ganz Madrid / in Flammen aufgehn lassen“ würde (Buchfassung, V. 5699f.). Warum wollen sich die Leute selbst obdachlos machen? Es mag teils der etwas ‚blutrünstigen‘ Fantasie des Autors („ein gewisser Sinn für das Grausame“ nannte es Goethe)69 geschuldet sein, dass das Volk nicht nur den Palast, sondern gleich die ganze Stadt anzuzünden droht, wichtiger aber ist die dadurch erreichte Qualifizierung des aufständischen Volks als unvernünftig. Dass Schiller den Volksaufstand überhaupt inszenierte, liegt erstens an seinem Bemühen um historische Plastizität der Handlung, die er durch reiche Nutzung der Quellen im Detail anstrebte; und zweitens an der auf dem Theater entfalteten Wirkung. Ähnlich dem „Tumult“, der das Ende des Franz von Moor begleitet, dient das „Getöse“ des Aufstands auch hier als akustische Kulisse für König Philipps Zusammenbruch. Sinnenfällig wird damit das Chaos, welches das spanische Weltreich zu verschlingen droht70 und das Karlos in einer Vision schon in der ersten Szene vorweg nahm.71 Die Zeit „allgemeine[r] Gärung“72 wird so theatralisch erfahrbar. 68
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Dem widerspricht Domingos Einschätzung von der Potenzialität eigenen Denkens und Handelns des Volks. Doch muss hier die Stücklogik rettend hinzugesetzt werden, dass Domingo die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Tun im Volk lediglich behauptet, was die faktische Richtigkeit der Behauptung nicht beweist. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823– 1832. 2 Bde. Berlin o.J., Bd. 1, S. 146 (18. Jan. 1825). Schiller führte in seinem Drama den „Abend“ eines Zeitalters vor – den Philipp durch eine ‚Politik der verbrannten Erde‘ allerdings auf „mehr“ als „zehen Menschenalter“ (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 207) auszudehnen gedenkt. Und in der Tat betrug der Abstand zwischen dem Tod des historischen Infanten Carlos (am 24. Jan. 1568) und Schillers Dramatisierung genau die von der Dramenfigur angekündigten etwas über zehn Generationen, nämlich knappe 320 Jahre. Schillers Marquis von Posa, der zunächst vergeblich unternahm, „einen neuen Morgen / Heraufzuführen“ (ebd., S. 173), wird in Schillers Stück, obgleich drei Jahrhunderte oder zehn Generationen vorher geboren, dadurch zu einem unmittelbaren Zeitgenossen der späten 1780er Jahre gemacht. Die Erinnerung an ihn wird zu einem „Geschichtszeichen“ (so wird es Kant später nennen), das „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat“ und deshalb einen Vorschein künftigen Glücks mitteilt (Immanuel Kant: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 11, S. 357 u. 360f.: „Wahrsagende Geschichte der Menschheit […] ohne Sehergeist“). Karlos (I/1) „sieht in die Zukunft“ und ahnt in imaginärer Ansprache an den König den Untergang der Armada voraus, die Erschöpfung der spanischen Finanzmittel, die Niederlagen der habsburgischen Armeen, und dass die unterjochten „Völker“ „ihren Zügel zerreißen“ (Thalia-
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Das niederländische Volk Im bewussten Gegensatz zu dem spanischen Volk wird anfangs gleich das niederländische als „ein unterdrücktes Heldenvolk“ (Thalia-Fassung, V. 358) positiv eingeführt. Es steht nach Posas Worten für „die unterdrückte Menschheit“ insgesamt (Thalia-Fassung, V. 392), und so wird Posa, indem er die niederländische Sache führt, zu einem „Abgeordneten der ganzen Menschheit“ (Thalia-Fassung, V. 361). Indem Posa für die niederländische Sache kämpft, qualifiziert er sich zugleich zu einem „Bürger“ der Welt, des Universums und der Zukunft, eine Position, die Schiller als Autor für sich ebenfalls in Anspruch nahm73 und die er später als Anspruch für den ‚Dichterberuf‘ überhaupt postulierte. Posas Verhältnis zu einem Volk und damit zu allen Völkern entspricht seiner Liebe zu dem einen Menschen Karlos (als Garanten für die Verwirklichung seiner Ideale), die zugleich die Liebe zur ganzen Menschheit einschließt: „Mein Herz, / Nur einem Einzigen geweiht, umschloß / Die ganze Welt!“ (IV/24).74 Schiller versuchte hier wie anderswo eine dialektische Auflösung der bekannten Rousseau’schen Aporie zwischen „Mensch“ und „Bürger“.75 Rousseau definierte den Status des natürlichen Menschen als reines „Für-sich-Sein“ des Individuums, während er den Status des politischen Menschen als reines ‚Für-die-andern-Sein‘ verstand. Rousseaus Klage ging dahin, dass in der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Gegenwart versucht werde, das eine mit dem andern zu verbinden, was aber unmöglich sei. Wer es dennoch versuche, wisse nicht, was er will.76 Schiller wusste, was er will, und versuchte die Verknüpfung des natürlichen und politischen Menschen dennoch; doch seine Figur Posa, die diese Verbindung zu leisten hätte, ließ er scheitern. In der Freundschaft Posas zu Karlos sollte das „kühne Traumbild eines neuen Staates“ (IV/24) noch unter den Bedingungen des alten Staats Gestalt
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Fassung, V. 310ff.; 3, 32). Schiller stellte damit von Anfang an die zunächst eher ‚private‘ Handlung seines „Familiengemälde[s] aus einem königlichen Haus“ (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 224) in welthistorische Zusammenhänge. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 228. Schiller in der Ankündigung der Rheinischen Thalia (8, 897): „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Frühe verlor ich mein Vaterland, um es gegen die Welt auszutauschen“; er sei „ein Bürger des Universums, der jedes Menschengesicht in seine Familie aufnimmt, und das Interesse des Ganzen mit Bruderliebe umfaßt“ (8, 899). Vgl. den Marquis Posa im Dom Karlos (III/10; Buchausgabe V. 3531ff., 3548 bzw. 3610, 3620f., 3670f.): „Ich […] als Bürger dieser Welt […], ich kann nicht Fürstendiener sein. […] Ich weiß von keinem Vaterlande […]. Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden“ (3, 307–311). Vgl. Schillers Theosophie des Julius: „Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder Einzelne die Welt“ (Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 350). Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe. In neuer dt. Fassung bes. v. Ludwig Schmidts. 12. Aufl. Paderborn 1995, S. 12f. Vgl. Rousseaus Fragment über das „öffentliche Glück“ (1762), zit. von Martin Rang in der „Einleitung“ zu Jean-Jacques Rousseau: Émile oder über die Erziehung. Hg. v. Martin Rang. Dt. v. Eleonore Sckommodau. Stuttgart 1963, S. 68f.
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annehmen: ein notwendig und daher tragisch scheiternder Versuch. Dies wird man zu bedenken haben, wenn man sein Augenmerk auf Schillers Versuch richtet, in dem niederländischen Volk eines darzustellen, das wie Posa in sich den natürlichen und politischen Menschen vereinen und ein Bild für eine gleichermaßen natürliche wie politische Gemeinschaft abgeben sollte. Das niederländische Volk erscheint in den Reden Posas als Repräsentant der ganzen Menschheit (humani), die in ihrer Qualität als „Menschheit“ (humanum) unterdrückt wird. Doch anders als das spanische Volk in seinem „andächtigen Rausch“ ist das niederländische Volk durch die „Gährung der Köpfe“ aufgewacht. Durch die Reformation (Philipp beantwortet Posas Darlegung seiner Vorstellung von „Menschenglück“ mit der „etwas rasch“ geäußerten Feststellung: „Ihr seid ein Protestant“)77 wird aus einem bloß unterdrückten Volk ein „unterdrücktes Heldenvolk“. Wichtig für die Darstellung des revoltierenden Volks der Niederlande in Schillers Drama ist, dass es eben nicht inszeniert wird. „Der Freiheitskampf findet irgendwo hinter der Bühne statt; auf ihr wird eine kleine Gruppe von Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, vernichtet.“78 Wichtig ist der Ausschluss des revolutionären niederländischen Volks von der Handlung und von der Bühne (im Gegensatz zu dem ja wenigstens einmal akustisch präsenten spanischen Volk), damit es bloß in der „Traumrede“ erscheint: unerlässliche Basis für die Idealisierung dieses Volks zum Repräsentanten unterdrückter Menschheit. Schiller ging es in seinem Stück ja nicht um die „historische Dokumentation, sondern um die politische, im weiteren Sinne dann geschichtsphilosophische Dimension“ des niederländischen Freiheitskampfs.79 Wenn es nämlich um historische Dokumentation ging , war Schiller genötigt, auch zu sprechen von der rohe[n] zahlreiche[n] Menge, zusammengejagt aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung, von Mordbefehlen, die in jeder Stadt auf sie lauren, von Grenze zu Grenze 77
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III/10. Posa antwortet „nach einigem Bedenken“: „Ihr Glaube, Sire, ist auch der meinige“, er sei also katholisch getauft, doch komme es darauf nicht an: „Ich werde mißverstanden.“ Schiller nutzte die Existenz der beiden real vorhandenen Glaubensrichtungen (Protestantismus und Katholizismus) zur Charakterisierung der politischen Gegensätze, doch heißt dies nicht, dass er sich als Protestant begriffen hätte. Mit Anbrechen des „neuen Morgens“ einer freien und glücklichen Welt verschwänden auch alle konfessionellen Schranken, nahm Schiller an. Dass seine religiösen wie politischen Vorstellungen sich gleichwohl aus pietistischen Quellen speisten (vgl. Hans-Günther Thalheim: Zeitalterkritik und Zukunftserwartung. Zur Grundkonzeption in Schillers früher Dramatik. In: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge – Dichtung – Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin 1987, S. 141–159, hier S. 150) mag man nachträglich konzedieren, spielte aber für Schiller konzeptionell nur insofern eine Rolle, als dass er – untypisch für die Aufklärung – sich die beste aller Welten nur als zukünftige denken konnte, zugleich aber die Gewissheit ihres Kommens hatte (in Dom Karlos ist von dem „unaufhaltsamen Rad des Weltverhängnisses“ (III/10) und ähnlichem die Rede). Hans-Georg Werner: Vergegenwärtigung von Geschichte in Schillers Dom Karlos. In: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge – Dichtung – Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin 1987, S. 235–249, hier S. 237. Klaus-Detlef Müller: Die Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels in Schillers Don Karlos. In: Ebd., S. 218–234, hier S. 222.
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herumgescheucht, und bis zur Verzweiflung gehetzt, genötigt ihre Andacht zu stehlen, ein allgemein geheiligtes Menschenrecht, gleich einem Werke der Finsternis zu verheimlichen – […] – hinausgestoßen, aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Augenblick an die Rechte dieses Standes erinnert! (6, 267)80
Schiller sprach hier nicht mit dem während der Französischen Revolution entwickelten Abscheu von dem „sinnlosen Walten roher Kräfte“, die laut des Lieds von der Glocke (1799) mit der Selbstbefreiung des Volks „schrecklich“ verbunden seien;81 er wies darauf hin, dass erst viehische Behandlung die Menschen viehisch gemacht habe, dass eigentlich die Unterdrücker für die „Untaten“ und „Greuel“ der sogenannten Bilderstürmer verantwortlich waren. Doch er brachte die „verdammlichen Taten“ – die sie bleiben, wie erklärlich sie auch sein mögen – als solche zur Sprache und war als Historiker genötigt, das lichte Bild „dieser großen Revolution“ (6, 57) zu schattieren. Das aber wollte der Dichter Schiller um jeden Preis vermeiden. Er vermied daher jede konkrete Aussage zu den Vorgängen in Flandern.82 Die einzigen Gewalttaten in Flandern und Brabant, von denen im Drama gesprochen wird, hat die Inquisition verursacht, wie man an den „verbrannten menschlichen Gebeinen“ erkennt, die Posa sah (III/10). Das niederländische Volk dagegen ist nur in passivfriedlicher Weise vorgestellt: Es erduldet das „Leiden“ (Thalia-Fassung, V. 3540; Buchfassung, V. 2930) und fleht in der Person Posas um königliche Gnade: „O könnte die Beredsamkeit von allen / den Tausenden, die dieser großen Stunde / teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben“, ruft Posa Philipp entgegen (Buchfassung, V. 3848ff.); seine Forderungen im Namen des niederländischen Volks lauten: „Geben Sie, / Was Sie uns nahmen, wieder. […] Geben Sie / Gedankenfreiheit. / […] Stellen Sie der Menschheit / Verlornen Adel wieder her.“ (Buchfassung, V. 3845f., 3862 u. 3888f.) Keine Rede davon, dass „das Volk, zerreißend seine Kette, / Zur Eigenhilfe schrecklich greift!“.83 Das niederländische Volk in dem Drama bleibt eine unschuldige Größe, eigentlich eine Projektionsfläche für politische Ideale. In gewisser Weise ist es ein Abbild des Diskussionsstands der Zeit, die zwar im „Volk“ eine neue politische Bezugsgröße entdeckte und es als Träger der Souveränität anerkannte – ohne aber so recht zu wissen, „wer eigentlich das Volk war und wer für es 80 81 82
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Vgl. auch Karl-Heinz Hahn: Schiller und die Geschichte. In: Weimarer Beiträge 16 (1970) H. 1, S. 39–69. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 429–442, hier S. 439f. Dass der Bildersturm noch nicht stattgefunden habe, ist auch angesichts der laxen Chronologie in Schillers Stück (die dargestellten Ereignisse lagen realiter insgesamt zwischen April 1567 und wenigstens Januar 1568 – den um mindestens zwanzig Jahre vorverlegten Untergang der Armada gar nicht gerechnet) unwahrscheinlich: Denn der Bildersturm 1566 lag in jedem Fall vor den dargestellten Ereignissen. Aus der poetischen Welt Schillers aber ist er völlig eliminiert. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 440. Im ersten Thalia-Fragment (V. 310ff.) enthält Karlos’ Vision noch die Vorstellung der sich selbst befreienden Völker, doch hat sie Schiller später eliminiert.
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sprechen sollte“.84 So konnte Schiller im Dom Karlos das Volk zu einer Gemeinschaft autonomer Individuen stilisieren, zu einer Gemeinschaft gleichermaßen natürlicher wie politischer Menschen, um auf Rousseaus Kategorien zurückzukommen. Er nannte es ein Volk von „Millionen Königen“ (Buchfassung, V. 3846).85 Dieses Volk wäre in der Lage eine Gemeinschaft zu bilden, in der die Leute nicht bloß Staatsbürger sein können, sondern Menschen und Staatsbürger. Diese Gesellschaft wäre eine, wo der „Wert“ des einzelnen Bürgers nicht nur „in der Beziehung zum Ganzen liegt, d.h. zum Sozialkörper“,86 sondern wo zugleich auch der Staat seinen Wert aus seiner Beziehung zu dem individuellen Bürger gewinnt: „Der Bürger sei wiederum, was er zuvor gewesen, der Krone Zweck – ihn binde keine Pflicht, als seiner Brüder gleich ehrwürd’ge Rechte“ (Buchfassung, V. 3889ff.). „Freiheit“ wäre gewonnen, wenn König Philipp sich entschließen könnte, sich in diesen Bund der Gleichen einzureihen, also „von Millionen Königen ein König“ zu werden (Buchfassung, V. 3846f.), wenn er den Menschen „sich selbst zurückgegeben“ hätte (III/10) – so wie später im Wilhelm Tell der Freiherr von Attinghausen seine historische Überflüssigkeit einsieht (IV/2 V. 2420: „dann bedarf es unserer nicht mehr“) und prophezeit: „Der Adel steigt von seinen alten Burgen und schwört den Städtern seinen Bürgereid“ (V. 2431f.), was sein Sohn und Nachfolger Rudenz auch tut.87 Weil aber König Philipp sich letztlich der Forderung nach Humanität verweigert, muss es zu dem auch gewaltsamen Aufstand kommen, von dem in dem Drama indes nicht die Rede ist. „Die gute Sache hatte den schlimmen Weg der Rebellion wählen müssen“, hieß es wenig später in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (6, 82), von der noch ausführlicher zu handeln sein wird. Den „schlimmen Weg der Rebellion“ des niederländischen Volks zeigte Schiller aber in seinem Drama nicht. Weil es abstrakt bleibt, konnte er das Ideal der Freiheit durch Gleichheit offensiv vertreten. Die daraus sich ergebenden „strukturellen Widersprüche des Dramas“ qualifizierte Hans-Georg Werner als „poetische Zeichen für den geschichtlichen Aufstau vorerst unlösbarer Probleme politischen Handelns“.88 Das mag für deutsche Verhältnisse zutreffend sein, denn in der Tat musste man damals von einer „objektiven Unmöglichkeit einer wirklichen Revolution“ in Deutschland
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Roy Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung. Übers. v. Ebba D. Drolshagen. Berlin 1991, S. 43f. Goethe wird dieses Motiv in seinem Egmont (IV/2; Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München 1981, Bd. 4, S. 430) wieder aufnehmen (vgl. dazu unten S. 386–396). Schillers Dom Karlos erschien im Juni 1787, Goethes Egmont (beendet im Juli 1787) erschien zu Ostern 1788. Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, S. 12. Rudenz reiht sich (IV/2) in die Verschwörung ein (V. 2470: „Zurückgegeben bin ich meinem Volk“; V. 2503f.: „So muß ich wider euern Willen mich in das Geheimnis eures Bundes drängen“), um am Ende freiwillig auf alle Privilegien zu verzichten: „Und frei erklär ich alle meine Knechte“ (V. 3291). Werner: Vergegenwärtigung von Geschichte in Schillers Dom Karlos, S. 248.
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ausgehen,89 obwohl es auch hier die Erwartung einer bevorstehenden Revolution gab; doch in Hinblick auf Frankreich, wo Politiker „dieselben Fragen […] zu verhandeln anfingen“ (Tieck),90 muss man doch von einer auch tagespolitischen Aktualität des Stücks ausgehen. Die Abstraktheit, mit der Schiller dieses Problem behandelte, mochte zu einer für ihn erstaunlichen Nähe zu Forderungen der Französischen Revolution führen – „nie zuvor und nie danach hat sich Schiller der Ideenwelt der Französischen Revolution so angenähert, wie in diesem Menschheitsdrama“, schrieb Walter Müller-Seidel91 –, doch geht sie in jedem Fall auf Kosten seines „Geschichtsrealismus“, zumindest was die Darstellung des Volks, genauer gesagt: des niederländischen Volks angeht. Aber ähnlich wie Goethe später das politisch Enthusiasmierende in Eugène Scribes und Daniel Aubers La Muette de Portici gerade in der politisch-historischen Unbestimmtheit sah,92 so verleiht das historisch undifferenzierte „Menschheitspathos“ dem Dom Karlos seinen anhaltenden Erfolg93 – sowohl was die Begeisterung des Publikums in unfreien Situationen angeht, als auch was die Beunruhigung des Establishments durch das Stück betrifft. Sogar Schiller selbst wurde von der steten Aktualität seines Dramas wieder eingeholt. Wenn er 1794 seinen Dom Karlos ein „Machwerk“ nannte, das ihn anekele, dann deswegen, weil sich mit der Erfahrung der terreur nun nicht mehr von einer reinen Revolution träumen ließ; weil sich die Bilder der blutigen Pariser Auftritte nun auch mit den bloßen Reden über den niederländischen Aufstand unweigerlich vermischten. Erst mit dem Wilhelm Tell versuchte Schiller erneut, eine Antwort auf die Frage der Königin Elisabeth zu geben, ob eine „gute Sache die schlimmen Mittel adeln“ könne (Buchfassung, V. 4096);94 nicht zufällig zur
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Thalheim: Zeitalterkritik und Zukunftserwartung, S. 143. Tieck: Dramaturgische Blätter, zit. nach Werner, Vergegenwärtigung, S. 247. Walter Müller-Seidel: Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer u.a. Tübingen 1990, S. 422–446, hier S. 436. Eckermann: Gespräche mit Goethe, Bd. 2, S. 41 (14. März 1831). Auch Hans-Georg Werner (Vergegenwärtigung von Geschichte in Schillers Dom Karlos, S. 246 u. 248) sah den Grund dafür, dass Dom Karlos das Geschichtsbewusstsein des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland mehr geprägt habe als etwa Götz von Berlichingen, Egmont, Wallenstein oder der Prinz von Homburg, vor allem darin, dass „die Probleme einer im 16. Jahrhundert historisierten Auseinandersetzung als allgemein menschliche“ erscheinen. Walter Müller-Seidel (Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen, S. 422–446) machte deutlich, dass die Volksverschwörung im Wilhelm Tell nur dadurch gerechtfertigt ist, dass sie sauber bleibt, d.h. dass Schiller bis zum Schluss Tell und Rudenz (IV/2, V. 2515f. u. 2522ff.: „Ich war nicht dort [auf dem Rütli], ich hab nicht mitgeschworen. / Wartet ihr ab, ich handle. […] / – O Freunde! Eure Sache nicht allein, ich habe meine eigne auszufechten / Mit dem Tyrannen“) nicht an der Verschwörung teilhaben, aber die ‚Dreckarbeit‘ (z.B. Tyrannenmord) machen lässt. Zwar muss man einräumen (darauf insistierte Walter Hinderer: Jenseits von Eden: Zu Schillers Wilhelm Tell. In: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Hg. v. Walter Hinck. Frankfurt a.M. 1981, S. 133–146, hier S. 143f.), dass die Verschwörer ihr Schicksal mit dem Tells verbinden (III/3, V. 2091f.: „Mit Euch sind wir gefesselt alle und gebunden!“), doch tun sie dies nur in (mit)leidender Form; die Identität
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gleichen Zeit überarbeitete Schiller sein nunmehr Don Carlos genanntes Stück noch ein letztes Mal. Die gut zehn Jahre, die 1804 zwischen der Jakobinerrepublik und seinem Schreibtisch liegen, hatten ihn „von dem Zeitungs- und JournalZwange im Gedächtniss“,95 der ihm seinen Dom Karlos zuvor verleidete, einigermaßen befreien können.
Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung Während Schillers frühe Dramen stets einen oder mehrere außerordentliche Menschen als Handelnde zeigen, gibt es diese „hervorragende[n], kolossalische[n] Menschen“ (6, 42) à la Moor, Fiesko oder Posa in seinem Geschichtswerk nicht mehr. Hier ist das niederländische Volk der Kollektivheld der Geschichte.96 Freilich ist zu fragen, wer „das niederländische Volk“ eigentlich ist – ein Volk, das von alters her souverän genug ist, die Hand seiner Fürstin zu vergeben (6, 61) oder den König des Heiligen Römischen Reiches gefangen zu setzen, weil er die „Konstitution“ verletzte (6, 65), mit einem Wort: das „Wille“ und „Kraft“ (6, 118) genug hat, die mächtigsten Potentaten in die Schranken zu fordern. Schiller verwendete hier schon den modernen Volksbegriff, der im ausgehenden 18. Jahrhundert zu dem beherrschenden politischen Paradigma wurde und noch im ausgehenden 20. Jahrhundert den allermeisten Verfassungen zu Grunde liegt. Er entspricht dem französischen Begriff der „Nation“, den auch Schiller verwendete, um die Gemeinschaft aller Stände zu bezeichnen: Kardinal Granvella97 habe als Staatsratsvorsitzender98 „bald die gesamte niederländische Nation gegen ihn in Harnisch“ gebracht, schrieb Schiller in dem Artikel über „Des Grafen Lamoral von Egmont Leben und Tod“, der 1789 im achten Heft der Thalia erschien; sowohl nämlich der „Adel“, als auch die „Stände[versammlung]“, die „Äbte und Mönche“ als auch der „gemeine Mann“ fanden sich aus verschiedenen Gründen einig in dem Hass gegen den Minister. Die politische Situation „wirkte zusammen, die Nation mit Besorgnissen zu erfüllen und den Adel wie das Volk gegen das Joch des Ministers zu empören“ (6, 389). Wie man sieht, taucht der Begriff des „Volks“ am Ende des Zitats in der Bedeutung auf, die vordem der Kollektivsingular „gemeiner Mann“ trug. Es ist dies die gewöhnliche und bis heute anhaltende Vieldeutigkeit des Worts ‚Volk‘, die das
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der Verschwörung mit Tell wird v. a. von Geßler hergestellt (III/3, V. 2084f.: „den nehm ich heraus aus eurer Mitte, doch alle seid ihr teilhaft seiner Schuld“), von Tell aber stets bestritten. So formulierte Johann Christian Schaumann (zit. nach Arnd Beise: Marats Tod 1793–1993. St. Ingbert 2000, S. 71). Vgl. auch Müller-Seidel: Verschwörungen und Rebellionen, S. 434. Vgl. Geschichte des Abfalls, 2. Buch, 1. Kapitel (6, 130–167). Zum Staatsrat vgl. Geschichte des Abfalls, 2. Buch, 2. Kapitel (6, 168–193).
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möglich macht; wozu in diesem Satz noch die Benutzung des (Sommer 1789!) aktuellen Begriffs der Nation als Bezeichnung für die übergeordnete Einheit einlud. In der Geschichte des Abfalls aber verwendete Schiller meistens an Stelle des Begriffs der „Nation“ das Kollektivum „Volk“, nicht ohne es zuweilen auch in der Bedeutung von „Pöbel“ oder „gemeiner Mann“ zu gebrauchen. Die Unschärfe des politischen Begriffs „Volk“ auf Seiten der „Untertanen“ machte den Begriff zugleich so erfolgreich wie schwierig zu gebrauchen. Wenn es etwa um „populäre“ Dichtung ging, fühlten sich Autoren wie Gottfried August Bürger stets genötigt zu betonen: „Unter Volk verstehe ich nicht Pöbel“,99 oder: „Volk! Nicht Pöbel!“ Bürger erläuterte das 1789 so: „In den Begriff des Volkes aber müssen nur diejenigen Merkmale aufgenommen werden, worin ungefähr alle, oder doch die ansehnlichsten Klassen überein kommen.“100 Noch radikaler hatte Herder die allumfassende Einheit des Volks bestimmt, zugleich aber die von der ‚völkischen‘ Wendung der politischen Volksidee ausgehende fortschrittsfeindliche Haltung mitgeliefert: „Nur Ein Stand existiert im Staate“, schrieb Herder in einem seiner nachgelassenen Briefe, die Fortschritte der Humanität betreffend: „Volk (nicht Pöbel), zu ihm gehört der König sowohl als der Bauer; jeder auf seiner Stelle, in dem ihm bestimmten Kreise“.101 Während Herder 1792 in diesem Satz den Willen nach Unveränderlichkeit der gegebenen Ordnung ausdrückt, war Anfang des 18. Jahrhunderts für die Demokraten102 in Hamburg die Behauptung des einen Stands im Staat noch ein revolutionäres Argument gewesen. Bei Schiller aber war die Einheit des Volks keine unveränderliche und keine, die sonstige soziale und politische Unterschiede aufhob. Sie war ihm ein Hilfsmittel, geschichtliche Vorgänge zu beschreiben, die nicht durch das Wirken eines großen Einzelnen zu erklären sind. Das geht von banalen Beispielen wie der Zusammenfassung einer zuschauenden Menge103 bis zur Erklärung nationaler Beson99
Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang von Wurzbach. Leipzig 1902, Bd. 3, S. 19 („Von der Popularität der Poesie“). Ebd., S. 160 (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Gedichte). Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M. 1991, S. 767f.; zu Herders Volksbegriff vgl. Wulf Koepke: Das Wort ‚Volk‘ im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders. In: Lessing-Yearbook 19 (1987) S. 207–221. 102 Vgl. August Wygand: Gründliches Manifest […] der Hamburgischen Bürgerlichen Freiheit, 1699; dazu Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, hier insb. S. 226f.; Manfred Asendorf: Der Fall Wygand oder: Von der Bürgerrechtsbewegung zur Demokratie. Ein Beitrag über Hamburger Verhältnisse des 17. Jahrhunderts. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 18 (1989) S. 379–414; ders.: August Wygand. In: Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. v. Manfred Asendorf u. Rolf von Bockel. Stuttgart 1997, S. 700–702. 103 „Alles schrie laut auf, als er [der Graf von Hoorn] den tödlichen Streich empfing“, heißt es in dem schon erwähnten Thalia-Artikel (6, 408), und nicht etwa: „Alle schrien laut auf…“. Die Singularform bezeichnet auf das Genaueste die alle Zuschauer dieses ‚Theaters des Schre100 101
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derheiten. So konnte er von dem „Geist dieses Volks“ reden, den Philipp II. von Spanien „verderben“ wolle (6, 103); oder er individualisierte das ganze niederländische Volk, indem er es explizit einem einzelnen Menschen gleichsetzte: Nichts ist natürlicher als der Übergang bürgerlicher Freiheit in Gewissensfreiheit. Der Mensch, oder das Volk, die durch eine glückliche Staatsverfassung mit Menschenwert einmal bekannt geworden, die das Gesetz, das über sie sprechen soll, einzusehen gewöhnt worden sind oder es auch selber erschaffen haben, deren Geist durch Tätigkeit aufgehellt, deren Gefühle durch Lebensgenuß aufgeschlossen, deren natürlicher Mut durch die innere Sicherheit und Wohlstand erhoben worden, ein solches Volk und ein solcher Mensch werden sich schwerer als andere in die blinde Herrschaft eines dumpfen despotischen Glaubens ergeben, und sich früher als andre wieder davon emporrichten (6, 79).104
Prinzipiell unterscheidet sich der einzelne Mensch von einem Kollektiv vieler Menschen in seiner Verhaltensweise nicht, so legt diese Textstelle dar.105 Unter bestimmten Umständen reagieren „der Mensch oder das Volk“ gleich. Der in den Niederlanden herrschende „Geist der Unabhängigkeit“ (6, 394) sei ein von den Köpfen der Einzelnen unabhängiger Volks- oder Nationalgeist: es „durchlief ein allgemeiner Geist des Aufruhrs das Volk“ (6, 210), heißt es in dem Abschnitt „Allgemeine Widersetzung der Nation“ in der Geschichte des Abfalls (2. Buch): Man fängt an, die Rechte des Untertans hervorzusuchen, und die Gewalt der Könige zu prüfen. „So blödsinnig wären die Niederländer nicht“, hört man viele und nicht sehr heimlich sagen, „daß sie nicht recht gut wissen sollten, was der Untertan dem Herrn und der Herr dem Untertan schuldig sei; und daß man noch wohl Mittel würde auffinden können, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, wenn es auch jetzt noch keinen Anschein dazu habe.“ (6, 210)
Bereits an anderer Stelle nannte Schiller dies den „Geist der Freiheit und der Prüfung“, der durch die Reformation in die Welt gekommen sei und die „Grenzen der Religionsfragen“ überschritten hätte, so dass nunmehr „auch die Rechte der Kö-
ckens‘ (Dülmen) in eins verschmelzende Emotion des Mitleids: „Ganz Brüssel, das sich um das Schafott drängte, fühlte den tödlichen Streich mit. Laute Tränen unterbrachen die fürchterlichste Stille“ (6, 407). 104 Schiller beschrieb hier den ‚Geist dieses Volks‘, der das niederländische von dem spanischen unterscheidet. Dieser „Geist“ (6, 44) ist der eines „freien Bürgers“, der „das Licht“ der „Wahrheit“ zu erkennen in der Lage ist, während sich ihm „gedrückte, traurige Sklaven verschließen“ (ebd., S. 43). Das ist der Fall in Spanien, wo das despotische Prinzip die ganze Gesellschaft durchdringt: „Der Geist der Unabhängigkeit, der unter den spanischen Großen noch nicht hatte unterdrückt werden können, vertrug sich mit der Monarchie, ja sogar mit dem Despotismus, ‚weil eben diese Großen durch den Despotismus, den sie über ihre eigene Untertanen ausübten, daran gewöhnt waren; da im Gegenteil der niederländische Adel ganz verlernt hatte, Despotismus zu ertragen, weil er selbst freien Leuten gebot, weil er selbst keinen ausüben durfte‘“ (ebd., S. 394; die hier als ‚‘ wiedergegebenen Anführungszeichen von Schiller bezeichnen „kein Zitat, sondern eine Hervorhebung“, so der Herausgeber Otto Dann ebd., S. 825). 105 In der „Einleitung“ findet sich gar der Satz: „Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich, wie die Geschichte der Natur, und einfach wie die Seele des Menschen. Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück“ (6, 54).
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nige“ untersucht würden (6, 82).106 Nun war Schiller nicht so naiv, dass er den „Geist“ wehen ließ, wo er will, sondern er wusste, dass auf Erden der „Geist“ auch einen materiellen Träger braucht. Und an dieser Stelle entscheidet sich in der Regel die Darstellbarkeit des Volks als Subjekt. Solange Schiller von dem niederländischen Volk im Allgemeinen handelte, konnte er es als Kollektiv auch zum Subjekt seiner Sätze und damit der beschriebenen Geschichte machen. Sobald er aber untersuchte, wie „die allgemeine Stimme“ (6, 387 bzw. 391) sich konkretisierte, fiel Schiller in dasselbe Denkmuster zurück, das er Philipp und seinen spanischen Granden als machiavellistischen Kniff ankreidete. „Man überredete den König, die bisherige Verfahrungsart zu verändern, das Volk als den betrogenen Teil zu schonen, und die Großen zu züchtigen“ (6, 393),107 schrieb Schiller über die Wende in der spanischen Politik 1568, keinen Zweifel lassend, dass er als Historiker diese Einschätzung nicht teilte.108 In der Einleitung zur Geschichte des Abfalls aber sprach er selbst von der „letzte[n] vollendende[n] Hand“ (6, 44), der es bedürfe, um das „Volk, welches wir hier auftreten sehen“ (6, 42), zum Erfolg zu führen, zog also – obgleich er gerade erst den „Mangel an heroischer Größe“ für das Besondere in dieser geschichtlichen Epoche erklärt hatte (ebd.) – doch das einzelne „Genie“, einen „zweite[n] Brutus“ (Wilhelm von Oranien) aus dem Hut (6, 42 u. 44). Allerdings mühte er sich, diesen Einzelnen als Vollstrecker des Gemeinwillens darzustellen, also gewissermaßen als Träger des Volksgeists zu präsentieren. Denn Wilhelm von Oranien habe sich dadurch ausgezeichnet, dass er „großmütig seines fürstlichen Daseins“ sich entkleidete und „zu einer freiwilligen Armut herunter“ gestiegen sei, so dass er hernach wie der Marquis Posa als „Bürger der Welt“ zu einem wurde, der als Einzelner die Verkörperung des Ganzen war (6, 44). Aber auch das ist wegen seiner idealistischen Konstruktion noch kein gültiger Beweis für den behaupteten Rückfall Schillers, wenn es um konkrete Details geht. Zwar gewann er mit dem idealisierten Wilhelm von Oranien einen einzelnen Charakter, den er handeln lassen konnte, doch sollte er wenigstens das Ganze repräsentieren.109 Ganz anders sieht es aber in den Passagen aus, wo Schiller sich nicht mehr hinter einer solchen idealistischen Konstruktion versteckte. 106
Vgl. auch die „Einleitung“, wo von der Prüfung „verjährter Meinungen“ die Rede ist und von der Erinnerung des Königs „an das Naturrecht“ (6, 43). 107 Vgl. auch die ausführlichere Darstellung in der Geschichte des Abfalls (6, 282). 108 Schiller hielt den „Grad der Verwilderung“, den die „Nation“ erreicht habe (6, 161), für so groß, dass die „Großen“ gar keinen Einfluß mehr auf „das gemeine Volk“ gehabt hätten; wie konnte man also „Folgen, an welche jene nie gedacht hatten, auf ihre Rechnung setzen?“ (Ebd., S. 393.) 109 Wie erfolgreich Schiller mit diesem Konzept war, lässt sich diskutieren; sein Freund Christian Körner hielt Schillers Versuch, die Begeisterung für die einzelnen Charaktere mit dem Ideal des historischen Ganzen zu versöhnen, für misslungen, die Darstellung aber nichtsdestoweniger für „eine schätzbare Probe“ der „historischen Talente“ seines Freunds (so in dem Brief vom 9. Nov. 1788; 6, 747–749; Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 33.1, S. 244f.). Die wichtigsten Besprechungen des Abfalls bei Julius Braun: Schiller und Goethe im Urtheile ihrer
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Wie in einem „Tintenklecksenden Sekulum“ (2, 30) nicht anders zu erwarten, materialisierte sich die „allgemeine Stimme“ für den Historiker Schiller vor allem in den wenigstens 5.000 Flug- und anderen Schriften der Zeit (6, 210). „Im Jahr 1482 wurde die Buchdruckerkunst in Harlem erfunden, und das Schicksal wollte, daß diese nützliche Kunst ein Jahrhundert nachher, ihr Vaterland mit der Freiheit belohnen sollte“ (6, 73), heißt es bereits in der Vorgeschichte „dieser großen Revolution“ (6, 57). In bewährter Manier wird zunächst mit einem unpersönlichen Subjekt erzählt: „Man streut freie gefährliche Schriften ins Publikum, die die spanische Tirannei mit den gehässigsten Farben malen, die Nation an ihre Privilegien und gelegenheitlich auch an ihre Kräfte erinnern“ (6, 210). Doch in der zugehörigen Fußnote wurde Schiller dann deutlicher und schrieb: Es ist merkwürdig was für eine große Rolle die Buchdruckerkunst und Publizität überhaupt bei dem niederländischen Aufruhr gespielt hat. Durch dieses Organ sprach ein einziger unruhiger Kopf zu Millionen. Unter den Schmähschriften, welche größtenteils mit aller der Niedrigkeit, Rohheit und Brutalität abgefaßt waren, welche der unterscheidende Charakter der meisten damaligen protestantischen Parteischriften war, fanden sich zuweilen auch Bücher, welche die Religionsfreiheit gründlich verteidigten. (Ebd.)
Mag es also zunächst noch so scheinen, als unterhalte sich die Nation mittels der durch den Buchdruck hergestellten „Publizität“ mit sich selbst, so kam Schiller in der Fußnote auf einzelne, und zwar sehr wenige politische Subjekte zu sprechen, die mittels dieser „Publizität“ die Nation regierten. In gewisser Weise stand dahinter eine der üblichen Verschwörungstheorien, die annehmen, ein einzelner Demagoge oder eine Gruppe solcher seien die wahren Urheber der Rebellion. Es ist Schillers Gewissenhaftigkeit als Historiker zu danken, dass diese Vorstellung keinen Eingang in die Darstellung des Haupttexts gefunden hat. Hier ließ der Historiker mangels positiver Quellen die Frage nach der Materialisierung der „allgemeinen Stimme“ in den einzelnen Köpfen der kollektiv handelnden Menge offen. Ist in der zitierten Fußnote von dem „einzigen unruhigen Kopf“ die Rede, der als Rädelsführer ja namhaft zu machen sein müsste, so heißt es zum Ausbruch der „Bilderstürmerei“, keine Verabredung ist nötig, wo alle Augen dasselbe sagen, der Entschluß ist geboren, noch ehe das Wort ausgesprochen wird […]. Noch während dem Singen werfen sich alle, wie auf ein gegebenes Signal, wütend auf das Marienbild, durchstechen es mit Schwertern und Dolchen, und schlagen ihm das Haupt ab (6, 267 u. 269).
„Wie auf ein gegebenes Signal“ hin tut die Menge das, aber das Signal hat es nie gegeben. Alle wurden von dem gleichen Geist des Aufruhrs regiert und handelten unbewusst nach einem niemals ausgesprochenen Plan – diesen Eindruck erweckt
Zeitgenossen. Zeitungskritiken und Notizen Schiller und Goethe und deren Werke betreffend, aus den Jahren 1773–1812. 1. Abt.: Schiller. Bd. 1: 1781–1793. Leipzig 1882, S. 231–241, 254–256 u. 406–415.
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Schillers Text hier, damit Michelets berühmte Schilderung von der „Erstürmung der Bastille“ vorwegnehmend.110 Ist das kollektive Unbewusste darstellbar? In seinem Geschichtswerk behalf sich Schiller, wie wir sahen, mit allgemeinen Formeln; in seinem dramatischen Werk kommt das „wie auf ein gegebenes Signal“ einheitlich und selbstständig handelnde Volk nicht vor. Man spricht entweder von ihm (wie im Dom Karlos) oder hört es allenfalls (wie in den Räubern) oder blendet es ganz aus (wie in Kabale und Liebe). Eine Ausnahme bildet lediglich die Szene im Fiesko, die uns das zunächst noch eigenständige Volk in seiner Entmündigung vorführt. Fiesko hätte ein großer Mann werden können, wenn er wie Egmont z.B. ein „Volksfreund“ (6, 387) gewesen wäre und kein Volksverächter; und wenn er republikanische Tugend genug besessen hätte, von seinem Privatinteresse abzusehen. Denn das ungeleitete Kollektivum Volk ist eines, dessen Handlungen ambivalent sind. Denn auch wenn die Sache „gut“ ist, wofür die „Volksstimme“ (6, 91) sich erhebt und die Rebellion gewagt wird, so erfolge, „was immer erfolgen wird, solange Menschen Menschen sein werden. Auch die schlimme Sache, die mit jener nichts als das gesetzwidrige Mittel gemein“ habe, „durch diese Verwandtschaft dreister gemacht“, erscheine „in ihrer Gesellschaft“, und werde leicht „mit ihr verwechselt“, so Schillers Überzeugung (6, 82). Es sei schließlich klar, merkte Schiller am Ende des ersten Buchs seiner Geschichte des Abfalls an, wo er sich wieder über die konkrete Wirklichkeit kollektiven Handelns Gedanken machte, „daß bei einer zahlreichern Menge mehr beschränkte als erleuchtete Köpfe vorauszusetzen sind, die durch das gleiche Recht der Stimmen die Mehrheit nicht selten auf die Seite der Unvernunft lenken“. Dem könne man am besten begegnen, indem man den Kreis der politischen Führung klein hält; ein solcher „Zirkel“ sei die ideale Regierung und mit „republikanische[r] Freiheit“ vereinbar, „wenn die Mitglieder gut gewählt sind, und in einem einzigen Kopf glücklicherweise die Allgemeinheit und das Gleichgewicht sich finden, welche dort durch die Mannigfaltigkeit der Stimmen erhalten werden sollen“ (6, 128). Dass die gemachten Voraussetzungen („gut gewählt“) allzu idealistisch sind („glücklicherweise“ könne es einmal dazu kommen), wusste Schiller selbst. Aber er wusste auch, auf welche Seite er sich zu stellen habe, wenn es zur Entscheidung kommen musste. Der Freiheit folgte der Wohlstand auf dem Fuß, und dem Wohlstand folgte die „zügellose Üppigkeit“ (6, 68), so Schillers zivilisa110
„Ein Gedanke erhob sich über Paris mit dem anbrechenden Tag, und alle sahen dasselbe Licht. Eine Erleuchtung der Geister und in jedem Herzen eine Stimme […]. Niemand machte den Vorschlag, aber alle glaubten und handelten. […] Niemand, ich wiederhole es, gab den Anstoß. […] Was begab sich in dieser kurzen Nacht, in der niemand schlief, daß am Morgen alle Meinungsverschiedenheiten, alle Ungewißheit mit den Schatten der Nacht verschwunden waren und alle denselben Gedanken hatten? Man weiß, was im Palais-Royal, im Hôtel de Ville geschah, doch müßte man wissen, was am häuslichen Herd des Volkes vor sich ging.“ (Jules Michelet: Geschichte der Französischen Revolution. 5 Bde. Übers. v. Richard Kühn. Hg. v. Jochen Köhler. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 130–132; vgl. die „Einleitung“ von Jochen Köhler ebd., S. 33–38; Roland Barthes: Michelet. Frankfurt a.M. 1984, S. 203–206.)
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tionstheoretische Überlegung; unvermeidliche Folge des Reichtums einer Nation sei der anschließende Luxus nicht nur der Großen.111 „Aber wie viel erfreuender ist selbst dieses Übermaß dem Freunde der Menschheit, als die traurige Genügsamkeit des Mangels, und der Dummheit barbarische Tugend, die beinahe das ganze damalige Europa daniederdrückten!“ (6, 69) Auch der zwischenzeitliche Terror jagte Schiller noch keine übermäßige Angst ein: „Jetzt ist eine Tat getan, die keine Vergebung mehr findet, die Republik wird fürchterlich, weil sie nicht mehr zurück kann“, schrieb Schiller drei Jahre vor Begründung der Französischen Republik über die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Niederlande (6, 45). Alles dies ist Schiller 1788 bereit in Kauf zu nehmen, wenn die schon mehrfach zitierte „gute Sache“ (6, 82: „die gute Sache hatte den schlimmen Weg der Rebellion wählen müssen“) es erfordert: „Vierzig Jahre dauerte ein Krieg, […] der ein Paradies in Europa vertilgte, und ein neues aus seinen Ruinen erschuf“ (6, 45f.). Dieser Krieg „verschlang“, so Schiller an gleicher Stelle, „die Blüte der kriegerischen Jugend“, und doch nannte er ihn einen heroischen Kampf, den das niederländische Volk für die „Angelegenheit aller Menschen“ (6, 52) focht. Wenig später – ernüchtert durch den Schrecken der Französischen Revolution – verwarf Schiller die terroristische Begeisterung seiner „Einleitung“ in die Geschichte des Abfalls und schrieb, es sei eine „Barbarei“, die gegenwärtige Generation für das Glück einer zukünftigen zu opfern.112 Im Gegensatz zu Kant, der aus der Gegenwärtigkeit der Französischen Revolution mit allen blutigen Begleiterscheinungen die beruhigende Gewissheit zog, dass sich die Menschheit als Ganzes auf dem Weg zur Vollendung und Glückseligkeit befinde,113 war Schiller zu diesem Gedanken nur in Hinsicht auf eine vergangene Revolution fähig. Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Plane an der menschlichen Frei111
Schiller zitierte die „Memoires“ von Philippe de Comines (Nouvelle edition. London u. Paris 1747, Bd. 1, S. 291) bzw. Friedrich Christoph Jonathan Fischer (Geschichte des teutschen Handels. Hannover 1785, Theil 2, S. 193): „Die Pracht und Eitelkeit der Kleidung wurde von beiden Geschlechtern zu einem ungeheuren Aufwand getrieben. Auf einen so hohen Grad der Verschwendung wie hier war der Luxus der Tafel bei keinem andern Volke noch gestiegen. Die unsittliche Gemeinschaft beider Geschlechter in Bädern und ähnlichen Zusammenkünften, die die Wollust erhitzen, hatte alle Schamhaftigkeit verbannt – und hier ist nicht von der gewöhnlichen Üppigkeit der Großen die Rede; der gemeinste weibliche Pöbel überließ sich diesen Ausschweifungen ohne Grenze und Maß“ (6, 69). 112 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 21, S. 26 („Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch der Freiheit“). 113 Kant: Werkausgabe, Bd. 11, S. 358 u. 361: „Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch dieses Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, […] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte“.
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heit zu Schanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann. Nirgends durchdrang mich diese Wahrheit so lebhaft, als bei der Geschichte jenes denkwürdigen Aufruhrs, der die vereinigten Niederlande auf immer von der spanischen Krone trennte (6, 41).
Was ihn an der Darstellung dieses Ereignisses gereizt habe, so Schiller, sei nicht „das Außerordentliche oder Heroische dieser Begebenheit“ gewesen (ebd.),114 sondern dass der Held dieser Geschichte kein individueller, sondern das „Volk“ war (6, 42). Ein „friedfertiges Fischer- und Hirtenvolk“ (in Zeeland und Holland) und ein „gutartiges gesittetes Handelsvolk“ (in Brabant und Flandern), die von der „eigenen Kraft“ „überrascht“ wurden (6, 42f.), seien die Helden seiner Geschichte. In der zweiten Auflage des Buchs von 1801 strich Schiller dann allerdings diesen Satz: Die Kraft also, womit es handelte, ist unter uns nicht verschwunden; der glückliche Erfolg, der sein Wagstück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn die Zeitläufte wiederkehren und ähnliche Anlässe uns zu ähnlichen Taten rufen (6, 42; vgl. ebd., 765).115
Schillers letztes beendetes Stück Wilhelm Tell dürfte der Versuch gewesen sein, nach den Erfahrungen mit dem ersten Jahrzehnt der Französischen Revolution noch einmal der Faszination eines Freiheitskampfes nachzugehen. Anders als in seiner Geschichte des Abfalls aber wich Schiller in gleichsam mythische Gefilde aus.116 Sein historiographisches Werk hatte gegenüber diesem letzten Drama den Vorteil, wirklich geschehene Geschichte zu behandeln. Das Drama hat gegenüber dem historiographischen Werk den Vorteil, dass es länger lebt.
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Anders als „nach Ansicht vieler“ Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts war die Begründung der Niederländischen Republik für Schiller kein „Unfug“ (so formulierte prononciert Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung, S. 69) und so singulär nun auch wieder nicht: „Die Jahrbücher der Welt haben uns ähnliche Unternehmungen aufbewahrt, die in der Anlage noch kühner, in der Ausführung noch glänzender erscheinen“ (6, 41). 115 Vgl. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 34 u. 1020. 116 Vgl. Schillers Brief an Körner vom 9. Sep. 1802: „Ob nun gleich der Tell einer dramatischen Behandlung nichts weniger als günstig scheint, da die Handlung […] großentheils eine Staatsaction ist […], so habe ich doch biß jezt soviel poetische Operation damit vorgenommen, daß sie aus dem historischen heraus und ins poetische eingetreten ist“ (12, 626).
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Im Taumel des Wahnsinns. Goethes (vor)revolutionäres Volk
WEISLINGEN. Ihr sehts von eurer Seite. GÖTZ. Das thut jeder. Es ist die Frage auf welcher Licht und Recht ist. 1
In dem vierten und letzten Kapitel seiner Schrift Über das Recht des Volks zu einer Revolution, die der streitbare Philosoph, Scheibenzieher, Graveur und Arzt Johann Benjamin Erhard 1795 veröffentlichte, wird gefordert, „eine Revolution des Volks von einer Revolution, die nur vermittelst des Volks durchgesetzt wird“, zu „unterscheiden“.2 Diese Unterscheidung war damals neu und verdankte sich Erhards philosophischer Schulung durch die Werke Immanuel Kants sowie der Beobachtung und Reflexion der Ereignisse in Frankreich seit 1789. Vor der Französischen Revolution wurde eine solche systematische Trennung nicht vorgenommen, und zwar aus je nach Jahrhundert unterschiedlichen Gründen: Im 17. Jahrhundert konnte man sich das Volk als revolutionäres Subjekt der Geschichte nicht nur vorstellen, sondern man nahm mehrheitlich an, dass das Volk, wenn es denn politisch in Erscheinung träte, immer seine eigenen Interessen durchzusetzen versuchen würde. Das Volk als Instrument in den Händen irgendwelcher Dritter wurde in aller Regel als Fantasma politischer Abenteurer gewertet; davon zeugt das ausführlich behandelte dramatische Œuvre Christian Weises. Im 18. Jahrhundert hingegen verlor sich zunehmend die Idee, dass das Volk eigenständige Interessen haben und entsprechend selbstständig handeln könnte. Man war im Allgemeinen der Meinung, dass „die Masse […] zu ungebildet sei, um sich selber zu regieren oder auch nur die besten Herrscher wählen zu können“.3 Vielen Aufklärern zwischen 1750 und 1780 schien allenfalls noch denkbar, dass das Volk als Instrument brauchbar wäre. Als solches kam es ja zum Beispiel in Lessings Samuel Henzi vor. Als Kritiker des Lessingschen Henzi begegnete bereits Albrecht von Haller, der seinerzeit vor allem als Verfasser des Versuchs Schweizerischer Gedichte (1732) sowie als Professor der Botanik und Medizin in Göttingen (1736–1753) berühmt war. Seit 1767 Mitglied des „Geheimen Raths“ zu Bern, legte Haller Anfang der 1 2 3
[Johann Wolfgang Goethe:] Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. [Frankfurt a.M.] 1773, S. 37. Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hellmut G. Haasis. Frankfurt a.M. 1976, S. 91. Rudolf Vierhaus: Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789. In: Der Staat 6 (1967), S. 175–196, hier S. 193.
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1770er Jahre sein politisches Testament in Form dreier Romane (Usong, 1771; Alfred, König der Angel-Sachsen, 1773; Fabius und Cato, 1774) nieder. „Soll ich mich entschuldigen, daß ich mich mit einer Arbeit beschäftiget habe, die einen jüngern Verfasser besser zu kleiden schiene?“ fragt der 62-jährige kokett in der Vorrede zum Usong.4 Johann Heinrich Merck hätte die Frage sofort bejaht. Auf Empfehlung Sophies von La Roche las er Hallers Usong und war fürchterlich gelangweilt. Dieser Roman sei für ihn „die Niederkunft einer alten Jungfer, die immer zu früh und zu spät kömmt“, schrieb er am 28. Februar 1772 an La Roche: „Sagen Sie mir um’s Himmels willen, was soll diese Production eigentlich seyn? […] Welche Kenntniß, welche Tugend rückt dadurch einen Schritt weiter?“5 Zwei Wochen zuvor war Mercks Rezension über Hallers Roman in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (Nr. XIII, 14. Februar 1772) erschienen. Darin wurde vor allem gerügt, dass der Titelheld Usong „von Anfang bis zu Ende höchst tugendhaft“ und daher völlig uninteressant sei. Eine eingehende Besprechung verweigerte Merck mit dem Argument, dass man aus Hallers Roman nichts lernen könne, denn er sei wie „eine Wallfahrt durch die Sandwüste nach der Lampe des Propheten, die nicht brennen will“.6 Etwas anders schien dies Mercks Freund Johann Wolfgang Goethe zu sehen, über dessen Mitwirkung an der Haller-Rezension in der Forschung gelegentlich spekuliert wurde. Er stellte seiner dramatisierten Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand ein Zitat aus Hallers Usong voran: „Das Unglück ist geschehn, das Herz des Volcks ist in den Koth getreten und keiner edeln Begierde mehr fähig“.7 In Hallers Roman ist der Satz Teil einer Lehrrede des Venezianers Katharin Zeno, der dem jungen Usong erklärt, „warum“ sich „Freystaate in den Abendländern, und in Morgen[ländern] unumschränkte Herrschaften“ fänden. Begründet wird es klimatologisch: je kälter das Land, desto anarchischer die Gesellschaftsform; je milder die Gegend, desto despotischer die Herrschaft. Im klimatisch gemäßigten Europa sei „die Gleichheit der Bürger viel länger beybehalten worden“, während im Orient das warme Klima die „Leidenschaften“ entfesselte und dadurch „die Bande der Gesellschaft“ dergestalt „zerrissen“ worden seien, dass diese „mit Zwangsmitteln gezäumet werden“ musste. Der gravierende Nachteil aber sei, dass „die despotische Herrschaft in den Morgenländern“ die „Gemüther des Volkes“ erniedrige; nicht einmal „die glänzenden Beyspiele tugendhafter Kaiser“ seien 4 5 6 7
Albrecht von Haller: Usong. Eine morgenländische Geschichte, in vier Büchern. Durch den Verfasser des Versuches Schweizerischer Gedichte. Bern 1771, S. [VIII]. Johann Heinrich Merck: Briefe. Hg. v. Herbert Kraft. Frankfurt a.M. 1968, S. 66f. Ders.: Werke. Ausgew. u. hg. v. Arthur Henkel. Mit einer Einl. v. Peter Berglar. Frankfurt a.M. 1968, S. 541f. Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. In 2 Bdn. und einer CD-ROM hg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Frankfurt a.M. 1998, Bd. 1, S. 101.
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geeignet, die „Triebe, die das Herz des Volkes erhöhen“ könnten, anzustacheln; denn „das Uebel ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten, und keiner edlen Begierden mehr fähig“.8 In Zenos Darlegung bleibt offen, ob die „weichlichen Gemüther der Morgenländer“ der „Unterdrükungen“, denen sie ausgesetzt sind, nicht möglicherweise bedürfen; inzwischen wahrscheinlich schon: „das feige Volk ist des Joches gewohnt, und lernt den Namen der Freyheit von seinen knechtischen Eltern nicht“. Goethe ließ diese Überlegung bei Seite und verschärfte Hallers Tendenz, die Schuld an der Erniedrigung des Volks bei den Despoten zu finden, noch; er ersetzte das recht allgemeine Wort „Uebel“ – „alles, was unsern oder anderer Zustand unvollkommener macht“9 – durch die Vokabel „Unglück“, die „eine Sache“ bezeichnete, „wodurch unser Zustand in einem hohen Grade verschlimmert wird“, und zwar durch Umstände, „welche wir nicht vorher sehen können, oder nicht in unserer Gewalt“ hätten, wie Adelung erläuterte.10 Indem Goethe seine dramatisierte Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand unter dieses Motto stellte, machte er klar, dass er nicht nur die Geschichte eines einzelnen „großen Menschen“ schildern wollte,11 sondern zugleich auch die Entstehungsgeschichte des gegenwärtigen Despotismus, der ein ganzes Volk in einer scheinbar „ewige[n] Sklaverei“ hielt, wie Lenz es nannte.12 Er „rette das Andencken eines braven Mannes“, schrieb Goethe während der Arbeit an Gottfried von Berlichingen seinem Mentor Johann Daniel Salzmann;13 neben diesem Motiv, die Erinnerung an einen nicht nur „braven“, sondern vor allem verkannten Menschen wieder zu beleben,14 tritt aber auch das Bedürfnis, einer als
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Haller: Usong, S. 51–57 (dort auch die folgenden Zitate); Goethes Zitat steht auf S. 53. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit D. W. Soltau’s Beyträgen, revid. u. bericht. v. Franz Xaver Schönberger. 4 Bde. Wien 1811, Bd. 4, S. 733. Ebd., S. 869 (meine Hervorhebungen). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. in 2 Abt. Hg. v. Friedmar Apel u.a. Frankfurt a.M. 1985–1999, 1. Abt., Bd. 4, S. 202. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Frankfurt a.M. 1992, Bd. 2, S. 638 („Über Götz von Berlichingen“, 1773). Der junge Goethe, Bd. 1, S. 649. Vgl. Volker Neuhaus: Johann Wolfgang Goethe, Götz von Berlichingen. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1989, S. 45: „Man liebte es damals, wirkliches oder scheinbares Unrecht der Vergangenheit gutzumachen“; das Bedürfnis nach ‚Rettungen‘ aller Art übernahmen die Stürmer und Dränger von der kritischen Aufklärung (vgl. zum Beispiel Lessings „Rettungen“ des Hieronymus Cardanus, des Inepti Reliogiosi, des Cochläus, des Horaz, Plautus oder Seneca, des Simon Lemnius und Adam Neuser, oder der anonymen Nachtigall). In den Berlichingen-Dramen wird das Problem des ‚Verkennens‘ jeweils an zwei exponierten Stellen explizit gemacht“ (vgl. Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 4, S. 214 u. 248 bzw. S. 367 u. 389). „Das ‚verkannte Genie‘ ist ein zentrales Motiv in der Dichtung des Sturm und Drang“, kommentierten Dieter Borchmeyer und Peter Huber (ebd., S. 814).
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„schwächlich“ empfundenen Gegenwart15 das Bild einer „große[n] Periode“ entgegen zu halten, in der „das Genie […] am Menschen selbst arbeitete und sowohl seine Empfindungen als seine Stärke auf eine Art veredelte, wovon wir uns jetzt kaum Begriffe machen können“ – so formulierte es 1771 Justus Möser in einem Aufsatz „Über das Faustrecht“,16 der Goethe bekanntlich den „eigentlichen historischen Bildentwurf“ für sein Berlichingen-Stück lieferte.17 So wurde das Stück über Berlichingen auch zu einem Bild der gesamten Gesellschaft, denn es gehörte zur dramatischen Ästhetik des jungen Goethe, den Einzelnen „in seiner Zeitumgebung“ darzustellen.18 In seiner Rede „Zum Schäkespears Tag“ (1773), die „fast eine Art Vorrede zum Götz“ sei, wie Volker Neuhaus schrieb,19 und die weniger von Shakespeare als vom eigenen dichterischen Ethos handelt,20 sprach Goethe von dem Zusammenstoß der „prätendirte[n] Freyheit“ des Einzelnen „mit dem nothwendigen Gang des Ganzen“, den es darzustellen gelte.21 Das heißt aber nichts anderes, als dass die Darstellung des „Ganzen“ mit zu den Aufgaben des dramatischen Dichters gehört. Und in der Tat ist das ständische Panorama in Goethes Berlichingen-Stücken breit aufgefächert: Die Gesellschaft des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ist in ihren wichtigsten Vertretern gegenwärtig: der Kaiser, seine Räte, der Schwertadel (die Reichsritter Götz, Sickingen und Selbitz) und der Hofadel (Weislingen und Adelheid), die Geistlichkeit (Klosterbruder, Abt und Bischof, der zugleich Fürst ist), der gelehrte Humanist, die Bürger als Kaufleute und viel-
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In Nro. LXXIV der Frankfurter Gelehrten Anzeigen (vom 15. Sep. 1772) kritisierte Goethe Sulzers Cymbeline-Bearbeitung, weil der „Herr Verfasser aus innigem Gefühl einer kühlen, schwächlichen kritischen Sittigkeit“ sich an Shakespeares Vorlage vergangen hätte. Justus Möser: Patriotische Phantasien. Ausgewählte Schriften. Hg., mit Nachw. u. Anm. v. Wilfried Zieger. Leipzig 1986, S. 86. Vgl. Jürgen Schröder: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe. In: Sturm und Drang. Hg. v. Walter Hinck. Durchges. Neuaufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 192–212, hier S. 200. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 524. Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 85. Vgl. Hans Joachim Schrimpf in Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München 1981, Bd. 12, S. 692. Der junge Goethe, Bd. 2, S. 363. Benno von Wiese merkte zu der Stelle aus der ShakespeareRede an, dass Goethe hier „in die Shakespeareschen Tragödien seinen eignen Konflikt hineinträgt. […] In dieser Wendung zum psychologischen Charakterdrama, zur Tragödie der individuellen Seinsform und der ihr von außen und innen erwachsenden Begrenzung knüpft Goethe im Grunde stärker an Lessing als an Herder an“ (Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 8. Aufl. Hamburg 1973, S. 59). Die Formulierung „im Grunde“ verrät schon, dass hier etwas faul ist; tatsächlich lässt sich Wieses Interpretation der Stelle als Begründung des inneren und äußeren Widerständen nachspürenden Charakterdramas weder für Götz von Berlichingen noch für Egmont halten. Die Stücke sind weit stärker auf Shakespeares Folie, einem „Theater“, das einem „Raritäten Kasten“ gleiche, wie Goethe meinte (Der junge Goethe, Bd. 2, S. 363), zu lesen: also als kaleidoskopisches Zeitbild mehr denn als Charakterdramen zu werten.
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leicht auch als Mitglieder des heimlichen Gerichts, Knechte, Bauern und das fahrende Volk, die Zigeuner.22
Eine der wichtigsten Quellen für Goethes Berlichingen war die 1731 von Georg Tobias Pistorius unter dem Pseudonym Veronus Franck von Steigerwald herausgegebene Lebens-Beschreibung des „Herrn Gözens von Berlichingen, Zugenannt mit der Eisern Hand“, deren zweiter „Haupt-Theil“ „den famosen Bauern-Krieg, in welchen Er von denen Bauren mit eingeflochten worden“, enthält.23 Es ist dies die ausführlichste Beschreibung eines Erlebnis-Komplexes in der Autobiografie (der erste „Haupt-Theil“ ist zwar viel länger, aber „enthält in sich allerhand Fehden und Kriegs-Händel“, die Götz „von Jugend auf gehabt“, so dass die einzelnen Geschehnisse kürzer kommen; der dritte „Haupt-Theil“ schließlich erzählt noch viel kürzer „[e]inige andere Actiones und Reiter-Dienste, so Er ausserhalb denen Fehden gehabt“). So spielt also auch in Goethes Drama die erste deutsche Revolution der Neuzeit eine bedeutende Rolle. Freilich ergibt sich aus Goethes Interesse an seinem individuellen Helden und aus seinem Interesse an der allgemeinen „Geschichte der Welt“24 zu jener Zeit ein dramaturgischer Konflikt, den Goethe in der zweiten Fassung seines Stücks zu Gunsten des individuellen Helden löste. „Je mehr, wie im Ur-Götz, den Ursachen wie den Geschehnissen des Bauernaufstandes an Bedeutung eingeräumt wurde, desto mehr mußte die Hauptfigur verlieren […]. Sollte der Held gewinnen, so mußte dies auf Kosten der Bauern geschehen, mußten die Ereignisse des Bauernkrieges auf die Funktion einer historischen Kulisse herabgedrückt werden“, schrieb Ursula Wertheim.25 Infolgedessen verzerrte Goethe in der zweiten Fassung seines Stücks die Darstellung der aufständischen Bauern „bewußt einseitig“,26 präsentierte sie also als blutrünstige Monster, während er in der ersten Fassung des Dramas denselben Tätern und Taten mit Verständnis begegnet. Bleiben wir zunächst bei der ersten Fassung.
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Ulrich Karthaus (unter Mitarbeit von Tanja Manß): Sturm und Drang. Epoche – Werk – Wirkung. München 2000, S. 90. Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen, Zugenannt mit der Eisern Hand, Eines zu Zeiten Kaysers Maximiliani I. und Caroli V. kühnen und tapfern Reichs-Cavaliers, Worinnen derselbe 1.) alle seine von Jugend auf gehabte Fehden, und im Krieg ausgeübte ThatHandlungen, 2.) seine in dem Bauern-Krieg A[nno] 1525. wiederwillig geleistete Dienste, und dann 3.) einige andere, ausserhalb dem Krieg und denen Fehden, gethane Ritter-Dienste aufrichtig erzehlet, und dabey seine erlebte Fatalitäten mit anführet. Hg. v. Verono Franck von Steigerwald. Nürnberg 1731, S. [XVI]; „der Bauren-Krieg“ wird abgehandelt auf den S. 197– 234. Mit 38 Seiten handelt es sich um die ausführlichste Beschreibung aller seiner Erlebnisse. Der junge Goethe, Bd. 2, S. 363. Edith Braemer u. Ursula Wertheim: Studien zur deutschen Klassik. Berlin 1960, S. 43f. Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 46.
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Geschichte Gottfriedens von Berlichingen […] dramatisirt Die Handlung des Gottfried von Berlichingen ist an einem toten Punkt angelangt, als der „schröckliche Aufstand“ (217)27 der Bauern Gottfried zum letzten Mal in die Welt fordert. Gottfried ist nach vergeblichen Kämpfen gegen den Geist der Zeit von dem Kaiser auf sein Schloss verbannt worden, als die Bauernführer ihn unter Androhung von Gewalt zwingen, ihr militärischer Berater zu werden. Nicht erst an diesem Punkt, aber ab diesem Punkt durchgehend bis zum Schluss des Dramas ist Gottfried kein aktiv handelnder Held mehr – „außer Tätigkeit gesetzt“, schrieb Goethe später28 –, sondern ein nur noch reagierendes Opfer der Umstände. Ein schwacher Versuch Gottfrieds, seine Handlungsautonomie wieder herzustellen, indem er den Bauern vorwirft, sie handelten gegen die gemeinsame Abrede, so dass er sich seiner Verpflichtungen entledigt betrachte, scheitert kläglich, weil erstens die Bauern ihn schon zuvor von sich aus loswerden wollten und weil ihm zweitens der Zeitpunkt seines Ausscheidens diktiert wird: „Wenn deine Zeit um ist sollst du fort“, bescheidet ihm einer der Anführer der Bauernrebellion (231). Bevor aber „seine Zeit um ist“, wird der „Bäurische Aufruhr“ von dem Heer der Fürsten „durch eine entscheidende Schlacht“ (233) niedergeschlagen und Gottfried als ein „Rädelsführer“ der Revolte gefangen genommen. Das Erstaunliche an Goethes Drama ist nicht nur, dass es die Zeitumstände über seinen Helden triumphieren lässt (seine Willensfreiheit und also Handlungsautonomie ist wirklich nur noch „prätendiert“), sondern dass diese Zeitumstände aktiv von den Bauern bestimmt werden. Subjekt nicht nur der Geschichte, sondern auch des Dramas sind die aufständischen Bauern, selbst wenn sie am Ende unterliegen und einem grausamen Strafgericht verfallen.29
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Zitate in dem Abschnitt zur Geschichte Gottfriedens von Berlichingen […] dramatisirt werden mit bloßer Seitenzahl des vierten Bands der Frankfurter Ausgabe von Goethes Sämtlichen Werken nachgewiesen. „Gegen das Ende“ sei Götz „außer Tätigkeit gesetzt“, merkte Goethe zu seiner ersten Fassung an; diesen „Mangel“ habe er mit seiner späteren Umarbeitung beheben wollen (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 571: Dichtung und Wahrheit, 13. Buch). Goethe führte als Hauptgrund der Umarbeitung an, daß die auch bei einem „regellosen“ Drama erforderliche „höhere Einheit“ des Stücks herzustellen gewesen sei, „wobei ich freilich manches aufopferte, indem die menschliche Neigung der künstlerischen Überzeugung weichen mußte“ (ebd., S. 572). Weichen musste unter anderem die positive Zeichnung der aufständischen Bauern und Goethe hatte Recht, wenn er meinte, dass er „ein ganz erneutes Stück“ schrieb (ebd.). Vgl. zu der Bearbeitung grundlegend Ilse A.Graham: Vom Urgötz zum Götz: Neufassung oder Neuschöpfung? In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), S. 245–282; sowie die Übersicht in: Der junge Goethe, Bd. 1, S. 741–743, sowie Synopse und Paralleldarstellung auf der CD-Beilage. „Jörg Metzler ist lebendig verbrannd, die andern gerädert enthauptet, gevierteilt. das land rings umher gleich einer Metzge wo menschenfleisch wohlfeil ist“ (235), berichtet Lersee von den Maßnahmen zur obrigkeitlichen Wiederherstellung der Ordnung (vgl. Der junge Goethe, Bd. 1, S. 194).
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Goethe bereitete den Auftritt der aufständischen Bauern von langer Hand vor. Bereits in der ersten Szene tritt der spätere Bauernführer Jörg Metzler auf. Er setzt mit einem Reisekameraden gerade das „Trinkgeld“ in Bier um, das beide von einem „großen Herrn“ erhalten haben, weil sie seine steckengebliebene Kutsche wieder flott zu machen halfen. Metzler erklärt, er hätte den Herrn am liebsten in dem Hohlweg stecken lassen: Ein großer Herr könnt mir geben die Meng und die Füll, ich könnt ihn doch nicht leiden ich bin ihnen allen von Herzen gram, und wo ich sie scheren kann so tu ich’s. Wenn du mir heut nit so zugeredt hätt’st, von meinetwegen säß er noch (128).
Die Zuschauer erfahren erst im 5. Akt des Dramas, warum Metzler die großen Herren nicht leiden kann. In der sogenannten „Helfenstein-Szene“ (223–226) wird das Schicksal seines Bruders erzählt, den Otten von Helfenstein in einem Turmverlies verrecken ließ, weil er – um seine hungernde Familie zu ernähren – gewildert hatte.30 Gegenüber den Angehörigen, die um Gnade flehten, zeigte sich Helfenstein unbarmherzig: „Er stund der Abscheu wie ein ehrener Teufel, stund er und grinste uns an. Verfaulen sollen sie lebendig und verhungern im Turm knirscht er“ (224). Metzlers individuelles Bedürfnis nach Rache gegenüber Otten von Helfenstein wird verständlich, doch erklärt dies noch nicht, warum er „allen“ Herren „von Herzen gram“ ist. Darum dreht sich zunächst auch das Gespräch zwischen Metzler und seiner Reisebekanntschaft Hans Sivers in der ersten Szene des Stücks. Sivers nämlich ist ganz angetan von der ausgesuchten Höflichkeit, mit der Adelbert von Weislingen – dies war der mit seiner Kutsche steckengebliebene Herr – bei dem Bauern Metzler und dem Fuhrmann Sivers um Hilfe nachsuchte. „Liebe Freund sagt er, wahrhaftig es ist das erstemal daß mich so ein vornehmer Herr lieber Freund geheißen hat“ (127). Metzler findet es lächerlich, wie leicht sich sein Kamerad hat von der Höflichkeit Weislingens blenden lassen und unterstellt ihm, er halte Weislingen wohl gar für einen guten Herrn. Er gibt zu bedenken, dass der Teufel in der Not auch Fliegen fresse: „Ich sag’s dir, wenn sie einen brauchen, und haben einem nichts zu befehlen, da sind die vornehmsten Leut just die artigsten“ (127). Ihn könne das nicht bestechen, meint Metzler mit den schon anfangs zitierten Worten. 30
Das als „Wildfrevel“ bekannte Verbot, Felder etwa gegen Waldtiere zu verteidigen, geschweige denn eines zu erlegen, war eines der wegen seiner offenbaren Unbilligkeit meist gehassten feudalen Privilegien (vgl. Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang von Wurzbach. Leipzig 1902, Bd. 1, S. 37f.: „Der Bauer. / An seinen durchlauchtigen Tyrannen“, 1773). Ursula Wertheim (in: Braemer / Wertheim: Studien zur deutschen Klassik, S. 416 Anm. 57) brachte eine Weimarer Verordnung vom 8. Nov. 1741, wo es heißt: „Von nun an alle Wildprets-Diebe ohne ansehen der Person […] als Zigeuner offenbahre Straßenräuber und Mörder angesehen und auf Betreten über dergleichen Verbrechen aufgehencket werden, auch ohne Unterschied für Vogelfrey erkläret seyn, deren Weiber aber gebrandmarcket und in das Zuchthaus gesetzet, deren Kinder hingegen auch in dasselbe, doch ohne Brandmarckung gebracht werden sollen, daferne selbige in einerley Weise ihres resp. Mannes oder Vaters Verbrechen theilhafftig gemachet“.
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Aber so naiv, dass er sich bloß von der Höflichkeit Weislingens beeindrucken ließ, ist Sivers nun auch wieder nicht. Er nimmt den ‚sozialpolitischen Kontext‘ der höflichen Bitte durchaus wahr (128: „Er hatte drei Knechte bei sich, und wenn wir nicht gewollt hätten, würd er uns haben wollen machen“), genießt die seltene Höflichkeit eines Herrn gegenüber zwei armen Schluckern aber trotzdem. Sivers hat sich in der Welt eingerichtet und sieht zu, wo er ein höfliches Wort und drei Albus Trinkgeld ergattern kann; er hat sich mit einer offenkundig ungerechten Weltordnung mehr oder weniger arrangiert und sieht zu, dass er in ihr möglichst angenehm lebt. Ganz anders dagegen Metzler. Er trinkt nicht aus Spaß, sondern um „sich manchmal die Grillen wegzuschwemmen“. Er ist unversöhnt mit einer Gesellschaftsordnung, die es den „gnädigen Herren“ erlaube, „uns bis auf den letzten Blutstropfen auszukeltern, und daß wir doch nicht sagen sollen: ihr machts zu arg! nach und nach zu schrauben“ (129). Metzler begründet zuletzt die zu Beginn der Szene geäußerte persönliche Antipathie gegen große Herren mit dem Schicksal, dem er wie alle anderen seines Stands ausgesetzt sei. Er begreift sein Unglück also nicht als ein individuelles, sondern als ein überindividuelles, das alle Bauern trifft: er zeigt Standesbewusstsein. Das ist die Erklärung, warum er allen großen Herren „gram“ ist. Wenn Goethe im fünften Akt die grässliche Geschichte von Metzlers Bruder nachliefert, so um die Grausamkeit der Bauern gegenüber Helfenstein zu entschuldigen. Die Vorfälle bei der Eroberung der Festung Weinsberg am 16. April 1525 durch die aufständischen Bauern zählten seit jeher zu den bekanntesten Ereignissen des Bauernkriegs.31 Nach diesem ersten bedeutenden militärischen Erfolg des fränkischen „Hellen Haufens“ ließen die Bauern nach kurzem Gericht neben anderen den Grafen von Helfenstein und dreizehn weitere Adlige wie gemeine Lands31
Götz von Berlichingen konnte sich in der gegen Ende seines Lebens verfassten Autobiografie nähere Einzelheiten sparen und so heißt es dort lediglich: „Wie nun die Bauren zu Weinsperg gehandelt haben, das ist männiglich in diesen Lands-Orthen wissend, und zogen sie darnach herab den nechsten uf Horneck, und nahmen es ein ohne alle Wehr“ (Lebens-Beschreibung, S. 199f.). Pistorius merkte an: „Hier ist mit der Erst Dietrich von Weyler, als er vom KirchThurn herab mit denen Bauren gütlich gesprochen, erschossen, und hernach herunter geworffen worden. Dann führten die Bauren Herrn Grafen Ludwig von Helffenstein nebst 13. von Adel […], und vielen andern, zusammen bey 80. Personen auf einen Acker gegen Heylbronn, machten da einen Creyß, und jagten sie alle zusammen erbärmlich durch die Spieß.“ Pistorius glaubte 1731 dem Entsetzen durch Verwendung entsprechender Adjektive („gütlich“, „erbärmlich“) und durch Erhöhung der Opfer-Zahl nachhelfen zu müssen; zeitgenössische Quellen sprechen relativ nüchtern von „vierundzwainzig Person“, die man „durch die Spies“ jagte, nämlich die 14 „wolgebornen und Edlen […] mit iren Knechten“. „Nach disem allem haben sie das Schloß angezint und verprent“, hieß es damals noch (Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Gesammelt u. hg. v. Günther Franz. Darmstadt 1963, S. 335f.). Pistorius verzichtete aber auf die Sachbeschädigung zu Gunsten einer rührenden Szene, die sich Goethe natürlich nicht entgehen ließ, indem er hinzufügte, dies alles sei geschehen, „[o]hngeachtet sein des Grafens Gemahlin, Kaysers Maximiliani I. natürliche Tochter, nebst einem kleinen Kind auf dem Arm denen Bauren zu Fuß fiele, und ganz erbärmlicher Weiß, mit vielen Weinen und Klagen um des Grafen Leben bate, und daß sie solchen dem Kindlein schencken mögten, sie anflehete.“
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knechte spießrutenlaufen – eine entehrende Strafe, „die Adel und Städte in Entsetzen Erstarren ließ“32 und die man den Bauern nie verzieh.33 Goethe entlastete die aufständischen Bauern insgesamt dadurch, daß er die ungeheuerliche Tat zunächst nur als Fantasie des rachelüsternen Metzler zur Sprache kommen lässt; eine Fantasie, die selbst den anderen Hauptmännern der Bauern unheimlich ist. Metzler tritt zwar mit den Worten „Wir haben sie!“ auf, verbessert sich aber sogleich: „Ich hab sie!“ (223). Leser und Zuschauer sollen darauf eingestimmt werden, dass Metzler im Folgenden vor allen Dingen für sich und die Rache seines Bruders spricht. Die anderen Hauptleute fragen dann auch zögernd nach, ob Helfenstein wirklich sterben muss (ebd.: „Bist du noch der Meinung, daß man sie morgen ermorden soll“), retten die um das Leben ihres Mannes flehende Gräfin von Helfenstein dadurch, dass sie sie aus dem „Pfad seines Grimms“ (225) gehen heißen, suchen nach Mitteln, den aus der nicht aufzuhaltenden „Rache“ (ebd.) Metzlers entstehenden Schaden zu begrenzen (226: „Wir müssen suchen der Sache einen Schein zu geben“), oder sind überhaupt mit ihrer Ansicht nach wesentlicheren Fragen beschäftigt (ebd.: „Ich sinne drauf Bruder wenn sie tot sind was wir weiter vornehmen. […] Es fehlt uns ein Anführer, von Kriegserfahrenheit und Ansehn“). Doch nicht nur werden die Bauern als Kollektiv von der „einzigen schweren Bluttat der aufständischen Bauern im südlichen Deutschland“34 einigermaßen entlastet, indem sie sie später bedauern35 und indem die Grausamkeit des Vorgangs als einer privaten Rache entspringend dargestellt wird, sondern das Bedürfnis Metzlers wird ebenfalls in zweifacher Hinsicht gerechtfertigt: Zum einen gilt sie dem in der Tat verabscheuungswürdigen Helfenstein, einem damals wegen seiner „Brutalität“36 und seines Zynismus berüchtigten Kriegsherrn, der in Goethes Drama auch als solcher erscheint. Zum zweiten bilden Metzlers Repliken eines der großartigsten Zeugnisse affektuöser und affizierender Reden, das man in der dramatischen Sturm und Drang-Literatur finden kann, und nehmen die Leser für den Bauern ein. Sein Schmerz und seine Verzweiflung entschuldigen ihn.37 Die Verant32 33
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Manfred Kossok: Revolutionen der Weltgeschichte. Von den Hussiten bis zur Pariser Commune. Mainz 1989, S. 57. Den „jartag“ der Vorgänge von Weinsberg feierten die siegreichen Herren dadurch, dass Ostern 1526 „pauren durch die spieß gejagt und erstochen worden in beywesen irer weyber und kinder“, wie Nicolaus Thoman berichtete (sog. „Weissenhorner Historie“, zit. in Braemer/Wertheim: Studien zur deutschen Klassik, S. 419). Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 46. „Haben sie [die Bauern] ihm nicht selbst feierlich zugesagt, keine Tathandlungen mehr zu unternehmen wie die bei Weinsberg. Hörtet Ihr sie nicht selbst, halb reuig sagen, wenn nicht geschehen wär geschähs vielleicht nie“, erinnert Lersee Elisabeth von Berlichingen an die Unterhandlungen zwischen den Bauern und Gottfried (228). Günter Vogler, Max Steinmetz u. Adolf Laube: Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution. 2. Aufl. Berlin 1982, S. 239f. „METZLER. Komm |: er nimmt sie [Helfensteins Gemahlin] bey der Hand und führt sie an die Mauer :| Lege dein Ohr hier wieder du wirst sie ächzen hören, in dem Gewölbe hierbey auf
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wortung für die gegenwärtige Grausamkeit dem gefangenen Grafen gegenüber wird diesem auch explizit aufgebürdet: „Damals lernt ich was ich übe“, sagt Metzler in Erinnerung an die grausame Herrschaft des Helfenstein: „Damal war kein Gott für uns im Himmel, jetzt soll auch keiner für ihn sein“ (224). Goethe aber versuchte nicht, die Rache des Bauern zu verklären, indem er das Leid der gräflichen Familie verschwiegen hätte. Dem Schmerz Metzlers setzt er die flehende Gattin entgegen; sie hält wie die Madonna ihr kleines Kind „auf dem Arm“ (so hieß es in der Anmerkung in Götzens Lebens-Beschreibung)38 und bittet um Barmherzigkeit für ihren Mann, den Vater ihres Kindes. Sie „wirft sich“ sogar vor Metzler „an die erde“, doch kann ihn auch diese Erniedrigung der Gräfin nicht rühren: Er „tritt nach ihr“ (225). Goethe entschuldigte das Verächtliche dieser Geste nicht; er stellte sie einfach dar, so wie er – bei allem Verständnis, das er für die Gründe zu wecken sucht – auch die Brutalität von Metzlers Rachefantasien nicht beschönigte. Metzler malt sich das Spießrutenlaufen der gefangenen Edelleute mit peinigender Lust aus: Dann wollen wir sie hinaus führen, mit Blutrothen Gesichtern wollen wir dastehn, und unsre Spise sollen, sollen aus hundert Wunden ihr Blut zapfen. Nicht ihr Blut! Unser Blut. Sie gebens nur wieder wie Blutigel. Ha. Keiner ziele nach dem Herzen. Sie sollen verbluten, wenn ich sie ein Jahr hundert bluten sähe meine Rache würde nicht gesättigt. O mein Bruder! mein Bruder! Er lies dich in der Verzweiflung sterben! Armer Unglücklicher, die Flammen des Fegfeuers quälen dich rings um. Aber du sollst Tropfen der Linderung haben, alle seine Blutstropfen. Ich will meine Hände drein tauchen. und wenn die Sonne heraufgeht, soll sie zugleich sehen mich mit seinem Blute und die Felsen durch die Flamme seiner Besitztümer gefärbt (223).
Goethe aber hat sogar in diese blutrünstige Rede einen entschuldigenden Textverweis eingelassen. Mitnichten nämlich ist Metzlers Wunsch, seine Hände in das Blut des Grafen zu tauchen, Ausdruck einer besonderen Grausamkeit, oder als schuldhaftes Gegenbild zur bekannten Handwaschung des Pilatus zu sehen, wie es
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Todengebein ist ihre Ruhstätt. – Du hörst nichts. Ihr Jammer ist ein Frühlingslüfftgen – – – Er lag im Tiefen Turn und seine Gesellen bei ihm. Ich kam des Nachts, und lehnt mein Ohr an. Da hört ich sie heulen ich rief und sie hörten mich nicht. Drey Nacht kam ich ich zerkratzte die Mauer mit Nägeln und zerbiss sie mit Zähnen. – Die vierte hört ich nichts mehr nicht mehr. Keinen Schrey kein Äch[zen]. Ich horchte auf das Ächzen das Schreyn wie ein Mädgen auf die Stimm ihres Geliebten – Der Tod war stumm – ich wälzte mir an der Erde und riss sie auf, und warf mich in Dornsträucher, und fluchte biss der Morgen kam. Heisse höllenheisse Flüche über das Mördergeschlecht“ (225). Während zum Beispiel der Kupferstich aus Johann Ludwig Gottfried: Historische Chronica, Oder Beschreibung der Fuernemsten Geschichten, so sich von Anfang der Welt, biß auff vnsere Zeiten zugetragen (Frankfurt a.M. 1619 u.ö.; abgebildet z.B. in: Vogler u.a.: Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, S. 240; Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 107) den schon halbwüchsigen Knaben mit abgezogener Mütze neben seiner Mutter kniend zeigt. Goethe kannte dieses Bild (in der Ausgabe von 1742 auf S. 744), da die mit „Geschichtmaessigen Kupfferstücken“ von Matthaeus Merian ausgestattete Chronica zu seinen wichtigsten Bildungserlebnissen in Kindheit und Jugend gehörte (vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 35: „Gottfrieds ‚Chronik‘ […] belehrte uns von den merkwürdigsten Fällen der Weltgeschichte“).
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beispielsweise in Shakespeares Macbeth (V/1) vorkommt. Metzlers Problem ist nicht das der Lady Macbeth, die das Blut an ihren Händen nicht mehr los wird. Metzler imaginiert das Ritual der Befreiung nach geglücktem Tyrannozid, wie es durch Plutarch oder durch Shakespeare (Julius Caesar III/1) geläufig war; hier in der Übersetzung von Wieland, durch die Goethe Shakespeare kennen lernte: Haltet noch […] und laßt uns unsre Hände in Cäsars Blut bis an den Ellbogen baden, und unsre Schwerdter damit beschmieren; dann wollen wir gerade auf den Markt gehen, und, unsre blutrothen Waffen über unsern Häuptern schwingend, ausruffen: Friede, Freyheit, allgemeine Freyheit!39
Dass Blut „ein ganz besondrer Saft“ ist,40 ist hinlänglich bekannt, und man tut gut daran, den Abscheu der eignen empfindlichen Ohren für einen Moment hintanzusetzen, um zu verstehen, warum Goethe den Bauernführer Metzler dadurch entlastet, dass er ihn über das Blut des Grafen von Helfenstein in Entzücken geraten lässt. Von altersher gibt es die Vorstellung von der heilenden Kraft des Bluts;41 und noch Jean Paul bezog sich darauf, wenn er von einem „Blutbad“ eine „stärkende Verjüngung“ erwartete.42 Vor allem aber ist es das entsühnende Symbol für die Befreiung von Unterdrückung, wenn man sich in dem Blut des Tyrannen badet.43 Der Graf von Helfenstein wird unmissverständlich als Tyrann gezeichnet und er wird – ähnlich wie sich Metzler in der ersten Szene in das Kollektiv der Bauern einordnet – als einer von vielen seinesgleichen gesehen. Helfenstein, Eltershofen und „die übrigen“ (223) bilden zusammen das „Mördergeschlecht“ (225), die durch „ihre Tyrannei“ die Bauern und sonstigen Untertanen „zu Tode“ quälen (223). 39 40 41
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William Shakespeare: Julius Cäsar, ein Trauerspiel. Übers. v. Christoph Martin Wieland. Zürich 1993, S. 68. Vgl. oben S. 226, Anm. 123. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 58. Das Blut eines nicht natürlichen Tods gestorbenen Menschen wurde stets für heilkräftig gehalten; besonders das Blut der Hingerichteten besaß diese Eigenschaft, so dass der Henker nicht selten das Blut eines Enthaupteten auffing, um „es unterschiedlich – armen und preßhaften Leuthen, welche mit der schweren Kranckheit oder hinfallenden Sucht beladen gewesen, zu trinken [zu] geben, wovon sie curirt, gesund und heil worden“ (so ein Nürnberger Amts- und Standbuch von 1674, zit. in Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. 2. Aufl., München 1988, S. 163). Jean Paul: Sämtliche Werke. 10 Bde. in 2 Abt. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 1996, 1. Abt., Bd. 6, S. 84; Georg Büchner benutzte anderthalb Jahrzehnte später in Danton’s Tod denselben Topos, affirmativ von St. Just vorgebracht, in Verbindung mit einem Hinweis auf die Mythe von den „Töchter[n] des Pelias“, um den Blutdurst der Französischen Revolution in der Phase der Terreur zu denunzieren (Georg Büchner: Danton’s Tod. Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000. Bd. 3.2, S. 47 u. S. 124, II/7, Repl. 370). Vgl. Arnd Beise: Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. v. Markus Meumann u. Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S. 105– 124, hier S. 118–121.
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Goethe machte außerdem klar, dass dies nicht nur der verzerrende Blick eines hasserfüllten Bauern ist, wenn er zuvor schon Gottfried von Berlichingen Ähnliches sagen lässt. Die Fürsten seiner Zeit seien „ein verzehrendes Feuer das sich mit Untertanen Glück Habe Blut und Schweiß, nährt ohne gesättigt zu werden“, gesteht Gottfried seinen Knechten gegenüber (216).44 Georg und Franz Lersee berichten von den Untaten der Bauern (ebd.: „Die Bauern vieler Dörfer haben einen schröcklichen Aufstand erregt, sich an ihren Tyrannischen Herren zu rächen […]. Das Volk ist unbändig wie ein Wirbelwind, mordet, brennt, der Mann der’s uns erzählte, konnte nicht Jammer genug sagen“), doch Gottfried macht dafür die „Herren“ verantwortlich: „Wehe wehe denen großen die sich aufs Übergewicht ihres Ansehens verlassen, Die menschliche Seele wird stärker durch den Druck. Aber sie hören nicht und fühlen nicht“ (ebd.). Gottfrieds Verständnis für die aufrührerischen Bauern geht in dieser Szene sehr weit, denn die Befürchtung seines Knechts, „daß mancher von Euern Freunden unschuldig ins Feuer kommt“ (216), ficht ihn nicht an. Das ist in seinen – und war es möglicherweise in den Augen seines Autors – wohl ein unvermeidliches Übel, wenn die Herren es haben erst einmal zum Aufstand kommen lassen. Die tyrannischen Herren haben also nicht nur das Blut ihrer ausgesaugten Untertanen auf dem Gewissen, sondern auch das der guten Herren, die in der Revolution unschuldig über die Klinge springen, bloß weil sie Herren sind. Es scheint also, als ob Gottfried von Berlichingen mit den aufständischen Bauern sympathisiere; und in der Tat gibt es einige Punkte, in denen sich Gottfried und die Bauern erstaunlich gleichen. Von der Seite des Hofadels gesehen gibt es ohnehin keinen Unterschied zwischen der Widersetzlichkeit der Bauern und der Ritter. Weislingen macht sogar umstandslos Selbitz, Sickingen und Berlichingen für die Bauern-Unruhen verantwortlich: „Der Befehdungs Trieb steigt bis zu den geringsten Menschen hinunter, denen nichts erwünschters erscheint als ein Beispiel, das unbändiger Selbstgelassenheit die Fahne vorträgt“, äußert er dem Kaiser gegenüber (181). Der Ausdruck „unbändige Selbstgelassenheit“ weist auf die Gemeinsamkeit des Sturm und Drang-Helden mit der bäurischen Aufstandsbewegung hin. Gottfried, als „großer Mann“ (135), legt auf vollkommene Unabhängigkeit größten Wert, er propagiert das ‚Selbsthelfertum‘, das im Sturm und Drang überhaupt so oft gefeiert wird, überaus wirkungsvoll zum Beispiel in Schillers Räubern. Gottfrieds aus dem „Faustrecht“45 abgeleiteter Anspruch auf selbsthelferische Wiederherstellung des 44
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Schon zu Beginn des Stücks wird die soziale Not der Bauernschaft durch Gottfried thematisiert, wenn er die Herren für die „Teuerung“ verantwortlich macht, „die den armen Landmann an der Quelle des Überflusses verschmachten läßt“ (142), ein Gedanke, der der physiokratischen Theorie entstammt und die Aktualitätsbezogenheit der verhandelten Thematik noch einmal unterstreicht. Vgl. den in Anm. 16 dieses Kapitels nachgewiesenen Aufsatz von Justus Möser: „Hier lernte Goethe in der Fehde nicht lediglich eine Störung der öffentlichen Ordnung zu sehen, sondern
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verletzten Rechts – beispielsweise in der Fehde gegen den Bischof von Bamberg oder gegen die Stadt Nürnberg – unterscheidet sich in nichts von dem Anspruch der Bauern, selbsthelferisch ihre „Rechte und Freiheiten“ (229), die man ihnen nehmen will, zu verteidigen. In der Tat ist „Selbsthilfe“ ja ein juristischer terminus technicus für rebellisches Handeln, wie Ursula Wertheim mit einem Edikt Augusts III. von Polen und Sachsen belegen konnte.46 Die Bauern handeln ebenso wie Gottfried: „nicht gesetzlich, doch rechtlich“, wie sich Goethe im Rückblick ausdrückte.47 „Im allgemein gesetzlosen Zustande“, in dem sich die Gesellschaft damals befunden hätte, beweisen sich die Bauern durch ihr Handeln wenigstens aus ihrer Perspektive ebenfalls als „wohldenkende brave“ Männer, um Goethes Apostrophe Gottfrieds zu übernehmen.48 In gewisser Weise trifft für sie auch zu, dass sie von den Nachgeborenen und den Zeitgenossen „verkannt“ sind, denn sie gelten als Blutsäufer und Mordbrenner, ein Vorwurf von dem Goethe sie ja gerade zu entlasten suchte.49
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eine Selbsthilfemaßnahme, die das Unrecht bekämpft und dem Recht zum Siege verhilft.“ (Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 111; vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 505; Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 4, S. 797f.) Der König reagierte am 25. Feb. 1739 auf die großen Bergarbeiterkämpfe wegen Wegfall eines Feiertags und Brotpreiserhöhungen in und um Freiberg 1738/39, in deren Verlauf es auch zu Gefangenenbefreiungen und anderen revolutionären Aktionen kam, mit einem Edikt, das „bei unausbleiblicher Leib- und Lebensstrafe […] alle Empörungen derer Unterthanen wider die ihnen vorgesetzte Obrigkeit“ verbietet, ferner „alles Zusammen-Lauffen, Rottiren, Tumultiren und aufrührerische Empörung, Verhetz- und Aufwiegelung anderer, nicht minder alle Widersetzlichkeit gegen die Verordnungen der Oberen und Vorgesetzten […] und alle Selbst-Hülfe […] ernstlich untersagt“ (zit. in Braemer/Wertheim: Studien zur deutschen Klassik, S. 409). „Selbsthelfer“ ist literarisch allerdings nur in Goethes Charakterisierung seines Götz in Dichtung und Wahrheit (2. Teil, 10. Buch) belegt: „Die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil“ (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 413; vgl. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. München 1984, Bd. 16, Sp. 478). Ein Jahrhundert später war der Begriff für Hugo von Hofmannsthal, wenigstens aber für den ältesten Bannerherren in dessen Stück Der Turm (1924), gleichbedeutend mit ‚Demokrat‘, ‚Kommunist‘ oder ‚Anarchist‘ geworden: „mit […] den Gottesfeinden und Schwarmgeistern, den Gleichmachern und Selbsthelfern brach Asien herein und wollte Herr sein in unserem Hause wie in grausigen Tagen der Väter“ (Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller. Bd. 3: Dramen III. 1893–1927. Frankfurt a.M. 1979, S. 373). Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, S. 116; hier auch die folgende Formulierung. Er habe in Götz von Berlichingen geschildert, „wie in wüsten Zeiten der wohldenkende brave Mann allenfalls an die Stelle des Gesetzes und der ausübenden Gewalt zu treten sich entschließt“ (ebd., Bd. 9, S. 536), heißt es in Goethes Dichtung und Wahrheit (3. Teil, 12. Buch). Dass Gottfried nicht nur von den Nachgeborenen, sondern auch in seiner Zeit verkannt wird, ist seine Tragik, so jedenfalls wollte es Goethe in Dichtung und Wahrheit (3. Teil, 12. Buch) verstanden wissen: Obwohl in seinen Motiven der einzig rechtschaffene Untertan des Kaisers, erscheint er dem „Oberhaupt“ selbst „zweideutig, ja abtrünnig“ (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 536). Als dem Kaiser allmählich die objektive Gemeinschaft mit Gottfried ahndet (213f.: Weislingen berichtet über ein Gespräch mit dem alternden und zunehmend „mißmutig“ gestimmten Kaiser), ist es aber zu spät. In gewisser Weise bleibt er hinter seiner Zeit zurück (ebd.: Adelheid nennt es: „er verliert den Geist eines Regenten“) und stirbt mit der
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Goethe gelingt es in seinem Gottfried von Berlichingen, die auch explizit angesprochene Multiperspektivität, die er aus den Werken Shakespeares lernen konnte, angemessen zu gestalten. In ihrer ersten und einzigen direkten Auseinandersetzung wehrt Weislingen Gottfrieds Argumente mit dem Satz ab: „Ihr betrachtets von Eurer Seite“, worauf ihm Gottfried antwortet: „Das tut jeder, es ist die Frage auf welcher Licht und Recht ist“ (145). Die Mühe, eine Antwort auf die Frage, auf welcher Seite „Licht und Recht“ sei, zu finden, nahm Goethe dem Leser seiner ersten Fassung nicht ab. Vielmehr hat Dirk Niefanger ganz zu Recht betont, dass noch die zweite Fassung von Goethes Stück „den Diskurs um das Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit“ fortsetze und dessen „immer wieder gehörtes Credo“ formuliere: „Die Geschichte ist nicht greifbar!“, so dass der Autor gezwungen war, die Polyperspektivität der verschiedenen historischen Überlieferungen in eine „Pluralität“ der auch parteilichen Perspektiven – oder individuellen „Sehe-Punckte“, wie es im 18. Jahrhundert hieß – dramaturgisch zu übersetzen.50 Zweifellos hat der Bischof von Bamberg Recht, wenn er darauf hinweist, dass ein Reich ohne Gerichtswesen, welches erst „Ruh und Frieden“ garantiere, nicht viel mehr als „eine Mördergrube“ sei (150). In einer Gesellschaft, die nach dem „Faustrecht“ organisiert ist, gilt schlicht „das Recht des Stärkeren“, wie Campe völlig richtig in seinem Wörterbuch festhielt,51 so dass gerade die Schwachen an gesetzlichem Schutz vor der Willkür der Starken interessiert sein müssen.52 Der „Wille und die Meinung der Menschen“ seien „schwankend“, heißt es zur Begründung der Überlegenheit eines objektiven Rechts gegenüber der mittelalterlichen Personalverfassung, die „Gesetze“ aber seien „unveränderlich“ (149). Und wirklich ist in dem Drama auch von dem „blühenden Zustand“ der „Felder“ vor den Toren Bambergs die Rede, der sich allein der aufgeklärten Gesetzesherrschaft Weislingens verdanke, wie der Bischof anerkennt (166). Zweifellos hat aber auch der Pöbel recht, wenn er den Doctor iuris Olearius als Repräsentanten des neuen positiven Rechts „fast gesteinigt“ hätte, weil das Volk weiter „nach altem Herkommen“ gerichtet werden will (149). Die germanische Tradition des common law verbürgt dem Volk mehr Rechtssicherheit als das neue positive Recht, da es eine Form des Rechts ist, an dem das Volk historisch Anteil hatte und das allgemein bekannt ist (common sense). Das neue Recht aber wird von Gelehrten in einer Sprache verfasst, die das Volk nicht kennt. Die Gesetze werden gemacht, sie sind nicht durch Überlieferung da. Machen können die Gesetze aber
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alten Zeit: „In diesem Augenblick stirbt unser Kaiser, und große Veränderungen drohen herein“, stellt Weislingen (V/6) befriedigt fest. Die Passage fehlt in der zweiten Fassung. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 381–385. Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Tle. Braunschweig 1807–1811, Bd. 2, S. 29. Vgl. dazu Gottfrieds düstere Zukunftsvision: „Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Schwachen werden regieren, mit List, und der Tapfere wird in die Netze fallen womit die Feigheit die Pfade verwebt“ (247).
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nur diejenigen, welche die Macht dazu haben – also die Obrigkeit. Mit der Einführung der lateinischen Tradition eines zwar kodifizierten, aber dem gemeinen Mann nicht zugänglichen Rechts werden die Gesetze, die an sich dem Schutz der Schwachen vor den Starken dienen könnten und sollten, zugleich zu einem Instrument der Unterdrückung. Dagegen wehrt sich das Volk natürlich.53 In diesem Konflikt zwischen germanischer und lateinischer Rechtstradition, der sich in Deutschland zugleich als einer zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Gesellschaftsverständnis darstellte, bezieht Gottfried von Berlichingen eine moralisch kaum zu rechtfertigende Haltung. Er ist wie das Volk, die Bauern, der Pöbel gegen das neue lateinische Recht, weil er genau sieht, dass dies ein Instrument der Unterdrückung ist: „Da ergehn dann Verordnungen über Verordnungen, und der Kaiser vergißt eine über die andre, da sind Fürsten eifrig dahinter her, und schrein von Ruh und Sicherheit des Staats, bis sie die geringsten gefesselt haben, sie tun hernach was sie wollen“ (145).54 Doch obwohl er hier die „Geringsten“ im Munde führt, ist es ihm in Wahrheit bloß um seine eigene Fesselung zu tun: Er aber ist ein „Herr“. Dass es ihm um die Handlungsautonomie eines Ritters geht, wird an vielen Stellen deutlich, beispielsweise in der Szene mit Sickingen, wo er sich auf die unabdingbare Augenblickseingebung eines Heerführers beruft (184f.) oder in seinem utopischen Traum von der „Freiheit“, die die Freiheit des Patriarchen ist (201f.). Zwar sagt Gottfried im Kreise seiner Knechte dauernd „wir“ und „uns“, doch das konkrete Bild des Glücks wird aus der Perspektive der „Großen“ gemalt: Erst dann würde Freiheit herrschen, so Gottfried in seiner Utopie, wenn die Herren „das Übermaß von Wonne fühlen werden in Ihren Untertanen glücklich zu sein“ (202).55
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Vgl. Leonhard Bauer u. Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. 2. Aufl. München:1989, S. 205: „Man sollte […] nicht übersehen, daß die Rezeption des römischen Rechts die Entfremdung zwischen der rechtskundigen Führungsschicht […] und der ‚rechtsbetroffenen‘ Bevölkerung vertieft.“ Der zeitgenössische Terminus lautete: „despotisme légal“ (vgl. ebd., S. 196). Die patriarchalische Utopie Gottfrieds ist im Horizont des Dramas wie dem des Lesers natürlich bereits als überlebt gekennzeichnet, was im Geiste Mösers (Patriotische Phantasien, S. 89) jedoch nicht hindert, sie zu entfalten: „Nun läßt sich zwar freilich das alte Recht nicht wieder einführen, weil keine Macht dazu imstande ist. Es darf uns aber dieses nicht abhalten, die Zeiten glücklich zu preisen, wo das Faustrecht ordentlich verfasset war“. Überdies versuchte Goethe, aus der rückwärtsgewandten Utopie Gottfrieds einen zukunftsweisenden Funken zu schlagen, wenn er dessen Traum in der ganz und gar dem 18. Jahrhundert angehörenden Formulierung gipfeln lässt: „Das wäre ein Leben […], wenn man seine Haut vor die allgemeine Glückseligkeit setzte“ (202). Der Satz passt nicht zu dem sonst von Goethe gezeichneten Bild Gottfrieds, weil er eine Sequenz abschließt, in der die Aufgaben des Ritters in glückseliger Zeit unter anderem damit beschrieben werden, die „Grenzen des Reichs“ zu verteidigen (ebd.), während Gottfried an entscheidender Stelle seinen Widerspruch zu eben dieser Auffassung ausdrückt: „das Reich geht mich nichts an“ (208). In der Utopie des 3. Akts aber bezieht sich Gottfried auf das abstrakte „Reich“, mit dem er sonst nie etwas zu tun haben will, was als bewusste Aktualisierung Goethes gewertet werden muss.
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Der Unterschied zwischen Untertanen und Obrigkeit ist in Gottfrieds Utopie also mitnichten aufgehoben. Trotzdem ist das Wir-Gefühl Gottfrieds nicht zynisch, sondern entspringt seinem paternalistischem Gesellschaftsbild. Seine Sorge um Georg und Franz (207f.) illustriert, dass Gottfried die väterliche Verantwortung für seine Untergebenen wirklich empfindet und tatsächlich meint, dass es den „Geringen“ auch gut gehen wird, wenn es ihm, dem „Herrn“, wohl ist. Dies ist eine zunächst vom Autor auch dem Leser als gültig nahegelegte Interpretation der Sicht, etwa wenn er relativ zu Beginn des Dramas Bruder Martin davon in schwärmerischer Bewunderung („es ist ein Wollust einen großen Mann zu sehen“) Gottfrieds ausrufen lässt: das sei der „Mann den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden“ (135). Im Verlauf des Stücks zeigt sich dann aber, dass die „Bedrängten“ sich zu Unrecht an Gottfried wenden, wenn es darauf ankommt. Dass Miltenberg (übrigens nicht von Metzler oder anderen auf der Szene erscheinenden Bauernführern) angezündet wurde, ist Gottfried ein erwünschter Grund, seinen „Vertrag“ mit den Bauern zu lösen. Er war bei allem Verständnis und bei allen objektiven Übereinstimmungen, die ich aufzählte, niemals ein Freund der Bauern, wie sie es selbst einsehen: „wir hielten, dich für einen edlern freiern Mann, für einen Feind der Unterdrückung, nun sehen wir daß du ein Sklave der Fürsten bist“, stellen sie zu Recht fest (231). Goethe schrieb nichts, um diesen Satz der Bauern zu widerlegen. Er zwingt uns dagegen den Schluss auf, dass Gottfried zwar ein Feind der Unterdrückung ist, aber nur seiner Unterdrückung; dass Gottfried in der Tat seine Freiheit verloren hat, und nunmehr ein Sklave ist, aber nicht der Fürsten, wie die Bauern meinen, sondern der „Zeitumgebung“. Die Bauern täuschen sich über das Sklaventum Gottfrieds deswegen, weil es aus ihrer Perspektive gleichgültig ist, warum Gottfried gegen sie arbeitet: dass er es tut, stellt ihn objektiv auf die Seite der Fürsten.56 Dazu kommt sein aristokratischer Traum von Freiheit, der die Freiheit der Untertanen nicht vorsieht. Im Verhältnis zur Bauernrevolte offenbart sich sein standesherrliches Bewusstsein in aller Deutlichkeit: Für ihn ist die Bauernrevolte genauso abscheulich wie für Weislingen und die Fürsten, doch objektiv ist er ein Teil dieser Rebellion, wie Weislingen deutlich sieht. Mit dem Tod des Kaisers, der Niederschlagung des Bauernaufstands und der endgültigen Gefangensetzung Gottfrieds sind für Weislingen die drei Phänomene der alten Zeit abgetan (233). Mit Kaiser Maximilian stirbt der ‚letzte Ritter‘, der das Reich in seiner Person verkörperte (der nächste Kaiser wird nur noch Funktionsträger an der Spitze eines zum 56
Es bleibt unklar, wie sich Gottfried die Durchsetzung der Gerechtigkeit vorstellt, wenn die Bauern nichts unternehmen sollen; er wolle „ihnen zu ihren Rechten und Freiheiten behülflich sein, Wenn sie von allen Tätlichkeiten abstehen, und ihre grundlose unnütze Wut in zweckmäßigen Zorn verkehren wollen“, sagt er (229). Sogar Gottfrieds treuster Knecht Lersee erkennt wie die Bauern, dass dies in Wahrheit die Position der Fürsten ist: „Müssen nicht Fürsten und Herren ihm dank sagen, wenn er freiwillig Führer eines unbändigen Volks geworden wäre um ihrer Raserei einhalt zu tun, und soviel Menschen und Besitztümer zu schonen“ (228).
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‚Staat‘ mutierten Reichs sein), mit den Bauern stirbt das plebejische Selbsthelfertum, mit Gottfried stirbt das aristokratische Selbsthelfertum. Gottfried selbst erkennt in seinem Kerker zwar noch, dass diese drei Ereignisse zusammenhängen, aber nicht mehr, wie sie es tun. Dass sein Schicksal und das des Kaisers „einerlei“ sind, weiß er schon länger (201), doch dass nicht – wie er meint – der Ausbruch, sondern vielmehr die Niederschlagung der Bauernunruhen ein Zeichen der neuen Zeit ist, erkennt er nicht mehr.57 Das ist Gottfrieds historischer Irrtum. Obwohl also Goethe in Gottfried einen bewunderten Helden der Vorzeit auf die Bühne zu bringen trachtete,58 war er doch nicht so verblendet, dass er die Fehler und Irrtümer Gottfrieds nicht mitgestaltet hätte. Wer eindeutige Parteinahme erwartet, wird im Gottfried von Berlichingen lange suchen müssen. Das Stück ist von einer damals in Deutschland lange nicht mehr gekannten Objektivität. Sein Gottfried von 1771 ist, wie Goethe es den Dramen Shakespeares zuschreibt, ein „schöner Raritäten Kasten, in dem die Geschichte der Welt an dem unsichtbaaren Faden der Zeit vorbeywallt“.59 So wenig die Geschichte selbst parteilich ist, so wenig ist es Goethes Drama, wenn auch natürlich keinem Leser verwehrt ist, wie in der Wirklichkeit, so auch in der Rezeption der Dramenhandlung Partei zu ergreifen. Wie sehr es Goethe auf die Darstellung aller Seiten ankam, ohne „Licht und Recht“ präjudizieren zu wollen, mag ein kleines, aber aussagekräftiges Beispiel zeigen. Goethe parallelisierte im dritten Aufzug zwei Soldatenszenen, die mit der Haupthandlung nicht viel zu tun haben. In der ersten (188f.: „Wald an einem Morast“) begegnen während der Kämpfe zwischen den Reichstruppen und Gottfrieds Leuten einander zwei „Reichs Knechte“; der eine, wie sich herausstellt, auf dem Rückweg von einer Lebensmittelaquisition, der andere ist gerade dabei, zu desertieren. Genau das gleiche Bild findet man auf der Gegenseite: Zwei „Knechte“ von 57
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Ein weiteres Anzeichen dafür, dass Gottfried zunehmend die Welt nicht mehr versteht, ist zum Beispiel die von Goethe in seinem Drama widerlegte Ansicht, die Wut der Bauern sei „grundlos“ (229); oder auch, dass er nicht mehr wahrnimmt, was seine Frau sagt (234: „Du merkst nicht auf wenn ich rede“, wirft sie ihm vor). Auch wenn sein Drama jeder konventionellen Bühnenökonomie spottete (vgl. Reinhart Meyer: Mechanik und Dramenstruktur. Die Bedeutung der technischen Bühnenausstattung für die Struktur von Dramen bis zum Sturm und Drang. In: Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. Hanno Möbius. Marburg 1990, S. 95–107, hier S. 95–98 und 104–106), so hätte es Goethe doch gern aufgeführt gesehen (vgl. Neuhaus: Goethe, Götz von Berlichingen, S. 113f.; Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 487f.). Der junge Goethe, Bd. 2, S. 363. In dem Stück ist von diesem „Faden“ in anderer Form die Rede: „wenn so von allen Seiten die Wiederwärtigkeit[en] hereindringen und ohne Verbindung unter sich selbst [was Goethe erfolgreich in der Dramenform nachbildete, A.B.] auf einen Punckt dringen, dann fühlt man den Geist der sie zusammen bewegt“ (235). In der „Schäckespear“-Rede schrieb Goethe über Shakespeare, „seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punkt, |: den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat :|“, also um das, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“ (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 20: Faust I, V. 3828f.), um den Punkt also, „in dem das Eigenthümliche unsres Ich’s, die prätendirte Freyheit unsres Wollens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst“ (Der junge Goethe, Bd. 2, S. 363).
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Gottfried sind gerade damit beschäftigt, sich „am Rüstschrank“ zu bewaffnen (204), als die Reichstruppen in den Burghof von Jaxthausen eindringen und Gottfried zu „ermorden“ scheinen. Der eine Knecht desertiert „an der Mauer den Nußbaum hinunter, in Feld“, der andere eilt seinem bedrängten Anführer zu Hilfe. Es macht also keinen Unterschied, ob man dem Reich oder ob man Gottfried dient. Auf beiden Seiten gibt es „feige“ und „treue“ Knechte. Goethe brachte diese beiden Parallelszenen, um das Schema der moralisierenden Aufklärungstragödie aufzubrechen: Dort nämlich hätte es „Feige“ (189) nur auf Seiten der Bösen gegeben, während die Knechte der Guten selbstverständlich treu ergeben bis in den Tod gewesen wären. Aus dem Verhalten der Knechte auf Seiten des Reichs wie auf Seiten Gottfrieds lässt sich jedenfalls nicht ablesen, auf welcher Seite „Licht und Recht“ ist. Goethe war somit einer der ersten deutschen Dramatiker am Ende des 18. Jahrhunderts, der es wagte, die Diderotsche Frage „Est-il bon? est-il mechant?“ ebenfalls offen zu lassen.
Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel Goethes Geschichte Gottfriedens von Berlichingen […] dramatisirt kannte in den 1770er Jahren nur „ein kleiner Kreis von Freunden“.60 Immerhin handelte es sich nicht nur um einen „Skizzo“, wie Goethe das Stück Anfang 1772 in einem Brief an Herder nannte,61 sondern um eine Reinschrift, die 1832 im zweiten Band der „Nachgelassenen Werke“ (Band 42 der Ausgabe letzter Hand) gedruckt wurde. Die Polyperspektivität des Stücks und die moralische Uneindeutigkeit gehörten sicher mit zu den Eigenschaften des Dramas, die Herder in einer verloren gegangen brieflichen Kritik zu dem abschließenden Urteil kommen ließ, dass Shakespeare Goethe „ganz verdorben“ habe.62 Goethe wollte daraufhin das Drama ‚umgießen‘, wie er es nannte, nämlich „von Schlaken“ reinigen und „mit neuem edlerem Stoff“ versetzen.63 Die Handlung sollte gestrafft und stärker auf die Titelfigur konzentriert werden. Das Stück insgesamt wurde während der Bearbeitung weiter vom historischen Quellenmaterial entfernt, zugleich aber einzelne Züge aus der Autobiografie des Ritters der historischen Beglaubigung wegen neu eingearbeitet.64 Eine Orientierung an den gängigen Erwartungen ist dabei unverkennbar, wenngleich betont werden muss, dass die äußere Form des Stücks nicht gravierend verändert wurde. Die 59 Szenenwechsel der ersten Fassung ‚reduzieren‘ sich in der zweiten 60 61 62 63 64
Der junge Goethe, Bd. 1, S. 737. Ebd., S. 650. Ebd., S. 653 Ebd., S. 654. Vgl. Anke Langer: Die Quellenverarbeitung in Goethes „Götz“. Magisterarbeit am Fachbereich 9 der Philipps-Universität Marburg, Januar 1995.
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auf 56. Berlichingen blieb also ein „piece à tiroir“, wie es Bodmer nannte,65 ein episodisch gebautes Stück, in dem „alle Regeln des Drama […] bey Seite gesezt worden“ seien, wie es der anonyme Rezensent des Neuen Gelehrten Mercurius auf das Jahr 1773 (Erster Band. Altona: Burmester, 33. Stück, 19. August 1773, S. 261) formulierte.66 Noch Hegel behauptete in seinen Vorlesungen über Ästhetik (um 1820), dass sich Götz von Berlichingen dem bewussten Affront des jungen Autors „gegen alles […], was bisher als Regel gegolten hatte“, verdanke.67 Nicht nur die geschlossene Dramenform des Klassizismus hatte Goethe aufgegeben, sondern auch jede rhetorische Stilbindung, also das Decorum, welches verlangte, dass in Tragödien nur von den „allerwichtigsten Reichs- und Welt-Händlen“68 in einer erhabenen Sprache die Rede sein sollte. Goethe und Merck, die gemeinschaftlich den Erstdruck verantworteten, setzten deshalb „Schauspiel“ als Gattungsbezeichnung auf das Titelblatt der Erstausgabe, doch half dies auf längere Sicht nichts. Goethes Stück war (und blieb) Tragödie oder Trauerspiel, verweigerte aber deren oder dessen traditionelle Regeln. Schon die Eingangsszene des Stücks sei, so monierte Hegel noch, „trivial und in sich selbst prosaisch“, weil „sie nur die ganz gewöhnliche Erscheinungsweise“ der Welt zur „Anschauung“ bringe, und zwar in allzu großer Ähnlichkeit.69 Diese Anfangsszene des Erstdrucks zeigt uns den Gastraum einer „Herberge“ in Franken: zwei Bauern namens Metzler und Sievers an einem Tisch und zwei „Reutersknechte“ am Kaminfeuer; im Hintergrund Hänsel, der Wirt.70 Die beiden Bauern wollen die Bamberger Reiter provozieren und erzählen sich „noch einmal“ die Geschichte der Fehde zwischen Götz von Berlichingen und dem Bamberger Bischof, wobei der „Pfaffe“ nicht gut wegkommt. Die beiden „Reuter“ lassen sich provozieren („Was raisonnirt ihr von unserm Bischof? Ich glaube ihr sucht Händel. […] Wer heißt euch von unserm Bischof despecktirlich reden?“). Alle Vier geraten aneinander, bis der Wirt die Bambergischen „Reuter“ aus der „Stub“ wirft. „Zwey Berlichingische Reuter“, die unterdessen hereinschauen, nehmen gern die Kunde
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Vgl. oben S. 263. Faksimiliert findet sich die Rezension in Hans Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig 1988, S. 212–214. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bde. Hg. v. Friedrich Bassenge. 3. Aufl. Berlin 1976, Bd. 1, S. 266. So Johann Rist: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Eberhard u. Helga Mannack. Berlin 1967– 1982, Bd. 5, S. 378. Vgl. Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 219–239, hier insb. S. 219. Hegel: Ästhetik, Bd. 1, S. 266. Zeitgenossen empfanden dies nicht so: „Lieber noch zwanzigmal mehr Sonderbarkeiten, wie hier [im Götz] vorkommen, als das Alltagsgewäsche, das man in den deutschen Schauspielen verschlucken muß“ (Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. LXVII, 20. Aug. 1773, S. 553; vgl. Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption, S. 217). Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, S. 3–7.
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von Weislingens Anwesenheit auf und baldiger Abreise von dem benachbarten Schloss Schwarzenberg zur Kenntnis, da sie offensichtlich mit ihrem Brotherrn genau diesem nachstellen. Die Reiter des Bischofs zu verprügeln, wollen sie aber nicht helfen: „Ihr seyd ja auch zu zwey. Wir müssen fort. Adies.“ Daraufhin grummelt Sievers: „Scheiskerle die Reuter, wann man sie nit bezahlt, thun sie dir keinen Streich“. Doch wollen anschließend die Bauern hinaus, „die Bamberger aus[zu]prügeln“: „so lang ich einen Bengel hab, fürcht ich ihre Bratspiese nicht“, meint Metzler. „Dürften wir nur einmal an die Fürsten, die uns die Haut über die Ohren ziehen“, antwortet darauf Sievers – oder spricht nicht doch Metzler weiter? Im Erstdruck des Götz von Berlichingen lautet die letzte Replik der Szene I/1: „METZLER. Dürften wir nur […] die Haut über die Ohren ziehen“.71 In allen Neuausgaben wird die Replik jedoch „SIEVERS“ zugewiesen.72 Der Grund ist klar: Im Erstdruck antwortet Metzler auf Metzler, was unsinnig wirkt. Aber wo steckt der Fehler: In der Sache oder in der Auszeichnung? Eine Antwort kann nur die genaue Verfolgung der einzelnen dramatischen Charaktere im Text liefern.73 Die Frage ist einfach und kompliziert zugleich, weil Sievers (eine von Goethe erfundene Figur) nur in der Eingangsszene des Götz von Berlichingen auftaucht, nicht aber in weiteren Szenen, so dass wir bei ihm keine Entwicklung wahrnehmen können. Immerhin kennen wir Sievers schon aus der früheren Fassung des Stücks mit dem Titel Gottfried von Berlichingen, wo er keine besonders heroische Rolle spielt, sondern der ist, der sich einzurichten weiß. In Götz I/1 fällt Sievers zunächst die Aufgabe zu, durch „Erzählen“ zwei „Bamberger Reuter“ zu provozieren. Ansonsten ist er als Trinker und als moralisch verderbt gezeichnet. Er hätte gern die beiden „Berlichingischen Reuter“ für sich eingespannt und sie helfen lassen, die Bamberger zu verprügeln (Feigheit); er soll nicht „verrathen, wem“ Peter und Veit (die beiden Berlichinger) „dienen“, und tut es sofort, als Metzler ihn darum befragt: „Ich solls nit sagen. Sie dienen dem Götz“ (Verräter). Mit Metzler verhält es sich schon anders. Er kennt Berlichingen und seine Leute nicht persönlich, aber die politischen Verhältnisse und also auch Weislingen und dessen Rolle am bischöflichen Hof. Er ist solidarisch und verteidigt den geschlagenen Sievers sofort, weist den schimpfenden Wirt in seine Schranken, ahnt das Vorhaben der „Berlichingischen Reuter“ und drängt mutig darauf, die Bamberger, deren überlegene Bewaffnung er nicht fürchtet, zu bestrafen, all dies immerhin in jähzorniger Manier. Metzler begegnen die Leser im „fünften Act“ erneut: „Bauernkrieg. Tumult in einem Dorf und Plünderung. Weiber und Alte mit Kindern (und Gepäcke, Flucht.)“.74 Von einem „Hügel herunter gelauffen“ kommt Metzler gerade an, als 71 72 73
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Ebd., S. 7. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 76; vgl. Der junge Goethe, Bd. 1, S. 235. Der Erstdruck enthält kein Personenverzeichnis, das heutzutage üblicherweise dem Stück vorangestellt wird und meines Erachtens etwas voreilig Metzler und Sievers beide als „Anführer der rebellischen Bauern“ zählt (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 73). Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, S. 169.
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Link seinem Haufen die Anweisungen zum Plündern und Anzünden des Dorfs gibt. Er berichtet von dem „Fest“ von „Weinsperg“: „Wir haben sie zusammen gestochen, daß es eine Lust war. […] Hab mein Tag so kein Gaudium gehabt. […] Es lief mir so warm übers Herz wie ein Glas Brandtewein“. Zwischendurch blafft er die fliehenden Bauern an und freut sich auf den Brand des Dorfs.75 Von Milde mag er nichts wissen: „Das Rasen und Brennen und Morden“ zu enden, wie Kohl und Wild wollen, hält Metzler für Verrat: „Warum sind wir da? Uns an unsern Feinden zu rächen, uns empor zu helfen! […] Link, wir wollen die andern aufhetzen, Miltenberg dort drüben anzünden, und wenn’s Händel setzt wegen des Vertrags, schlagen wir den Verträgern zusammen die Köpf ab“.76 Den genannten Vertrag mit Götz, der als Feldhauptmann der Bauern dienen sollte, hat Metzler nie anerkannt, nach einem Verweis wegen der Mordbrennerei von Miltenberg nennt Metzler den Ritter gar einen „feigen Kerl“ und „Fürstendiener“. Dafür wird er von Götz niedergeschlagen.77 Als Letztes hört man von Metzler, er sei „lebendig verbrannt worden“.78 Die letzte Replik der Szene I/1 wird also nach alledem doch eher Metzler zuzutrauen sein als Sievers; oder sollte der Schwätzer Sievers mit seinem konjunktivisch geäußerten Wunsch als Schwätzer dastehen, während Metzler den ohnmächtigen Wunsch in die Tat umsetzt? Wie dem auch sei: Während Metzlers Bild in der ersten Szene noch ambivalent bleibt, entpuppt er sich im fünften Act als brutaler Wüterich; sogar sein Genosse Kohl meint, Metzler sei „wie ein Vieh“.79 Es gibt in der zweiten Fassung keinerlei Hinweis mehr darauf, dass die Grausamkeit Metzlers oder anderer aufständischer Bauern durch ein angetanes Unrecht motiviert sein könnte. Metzler ist grundlos blutgierig, das macht vor allem die neue Szene „Bauernkrieg. Tumult in einem Dorf und Plünderung“ klar, welche unter anderem die sogenannte Helfenstein-Szene ersetzte. Die Bauern nehmen nicht Rache an den Herren, sondern was wir sehen, ist die grausame Verfolgung von Alten, Frauen und Kindern gleichen Stands: Eine gängige Trias, die die Verfolger sofort ins Unrecht setzt. Nicht eine Spur der in der ersten Fassung des Stücks auch gegenüber den Bauernrotten noch gewahrten Objektivität ist in der zweiten Fassung noch gewahrt. Man könnte fast versucht sein zu sagen, sie sei die Umarbeitung Eines, der sich selbst anschickte, ein „Fürstendiener“ zu werden. Doch immerhin ging Goethe bei der Zähmung80 seines Aufsehen erregenden, dramatischen Erstlings nicht so weit, das Schema der moralisierenden Aufklä-
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Ebd., S. 170f. Ebd., S. 177. Ebd., S. 183. Ebd., S. 191. Ebd., S. 177. Vgl. Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 1997, S. 107: „die Sprache ist in der Druckfassung gemäßigter. Die Überarbeitung kann […] als ein Akt der Selbstbändigung des Autors verstanden werden.“
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rungstragödie in Gänze wieder einzuführen. Die beiden zitierten Parallelszenen im „dritten Act“, die auf beiden Seiten Memmen und Mutige zeigen, blieben mit nur geringen Retuschen auch in der zweiten Fassung stehen. Insofern kann man sicher nicht sagen, dass in der zweiten Fassung auch sämtliche persönlichen Beziehungen umgestaltet worden wären, so dass die „Treue zwischen Götz und den ‚Seinen‘ […] bis zum letzten Glied hinunter“ reiche;81 den Knecht, der „nicht leben“ will, wenn sein Herr „sterben“ muss, gab es in der ersten Fassung bereits, ebenso wie sein Gegenstück, den Knecht, der an „der Mauer den Nußbaum hinunter ins Feld“ flieht, wie es noch in der zweiten Fassung heißt.82 Doch ist nur zu verständlich, warum diese Kleinigkeit bei Lesern des Dramas übersehen werden kann: Denn schon in der ersten Szene, die ich ja ausführlich referierte, werden die Berlichinger als ausgesprochen ‚ritterlich bis ins letzte Glied‘ eingeführt. Die beiden „Reuter“ weigern sich ja, dem unmoralischen Ansinnen Sievers’ nachzukommen, weil sie eine Übermacht von vier gegen zwei ‚unfair‘ fänden. Eine solche Exposition färbt selbstverständlich auf die weitere Lektüre des Dramas ab. Götz, seine Leute und seine Positionen werden durch die am Anfang gleich gegebenen Signale der Sympathielenkung in der zweiten Fassung des Stücks wesentlich stärker als in der ersten Fassung gegenüber rivalisierenden Personen und Positionen bevorzugt. Da fällt dann ein feiger Verräter unter den Knechten von Götz nicht mehr besonders ins Gewicht. Zumal es sich sowieso um einen der Unterschichtler handelt, die in Götz von Berlichingen generell nicht mehr gut wegkommen. In dieser Hinsicht hat Goethes „Initiationstext des Sturm und Drang“83 an der in verschiedenen anderen Details (z.B. dem Geschlechterdiskurs84) geführten ‚Aufklärungskritik‘ keinen Anteil mehr. Ansonsten blieb er allerdings Provokation genug. Dazu gehört unter anderem, dass in frühneuzeitlicher Manier nicht nur geschichtliche Vorgänge unmittelbar dargestellt werden sollten, sondern in dem Schauspiel zugleich die „Meinungen und Vorstellungen, welche die geschichtlichen Parteien von ihnen haben“, zur Darstellung gelangen; „Goethe hat an mehreren Stellen seines Schauspiels die Geschichte von Götz als erzählte, d.h. durch die Anschauungsform eines Subjekts
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So formulierte Langer: Die Quellenverarbeitung in Goethes „Götz“, S. 136. Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, S. 144; Der junge Goethe, Bd. 1, S. 166f. Luserke: Sturm und Drang, S. 110; vgl. Volker Neuhaus: Götz von Berlichingen als konstituierendes Dramas des Sturm und Drang. In: Révolutions culturelles, politiques et sociales dans l’espace germanique (XVIIIe–XXe siècle). Hg. v. Jeanne Benay. Nancy 1996, S. 7–25. „Ihr Liebhaber der Liebesepisoden, sehet hier die Liebe zwischen Marien und Weislingen, voll wahren Ausdrucks“, begeisterte sich ein Anonymus (Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. LXVII, 20. Aug. 1773, S. 554; Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption, S. 218). Man darf aber auch an die etwas komplexer angelegte Beziehung von Adelheid und Weislingen bzw. seinem kurzfristigen Nachfolger Franz denken, wo noch in der zweiten Fassung individuelle, ästhetische, politische und sexuelle „Freyheit“ enggeführt und dadurch auf originelle Weise problematisiert wird.
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perspektivierte und interpretierte Geschichte dargestellt“.85 Der Zugang zur Geschichte kann nur ein vermittelter sein, lehrt noch die zweite Fassung; allerdings verweigert sie den Bauern weitgehend das eigene Wort, die eigene Meinung und Ansicht. Sie werden nur noch äußerlich dargestellt; der Diskurs des Aufstands wird in einen über den Aufstand verwandelt. Immerhin fiel das kaum auf, schon weil die meisten die erste Fassung nicht kannten und die in der zweiten Fassung restituierten allgemeinen Vorurteile gegen den aufständischen Pöbel teilten. In den meisten zeitgenössischen Reaktionen steht das Erstaunen über die ungewöhnliche Form des Dramas im Vordergrund.86 Ich zitierte bereits Hegels Statement, das fast ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des Stücks die Ignoranz gegenüber den klassischen Dramenregeln immer noch problematisch fand. Aber schon die unmittelbaren Zeitgenossen kannten auch Auswege: Form sey Form, und hätte der V[erfasser] in chinesischer Form geschrieben, wir würden sein Genie schätzen müssen. […] Unter den episodischen Scenen, wähle sich jeder nach Belieben, es sind ihrer zur Wahl genug. […] Schon durch die Neuheit, dieses Versuches, sollte das Stück sein Glück machen.87
Es machte sein Glück.88 Goethe benutzte einen frühneuzeitlichen Stoff, um damit gegen die überkommenen Dramenregeln und andere Konventionen zu opponieren. Das kam historisch genau zum richtigen Zeitpunkt. Zugleich verbirgt sich in der Figur des Götz aber auch der Anspruch des jungen Sturm-undDrang-Autors: Sie, die als Sekte beschimpften Autoren, sind die eigentlichen Bewahrer der Tradition. Sie reklamieren das Recht der Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit; was ihnen als aufgeklärtes Zeitalter begegnet, empfinden sie als Abweichung.89
Dies gilt uneingeschränkt für Gottfried von Berlichingen; es gilt nicht mehr im gleichen Maße für Götz von Berlichingen. In der zweiten Fassung des Stücks unterwarf Goethe „Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit“ der Vorzensur der aufklärerischen Ideologie. Während ein paradigmatischer Aufklärer wie Lessing an den Aporien seiner eigenen Ideologie gelegentlich scheiterte, war der junge Goethe durchaus bereit, sich in bestimmten Punkten, zum Beispiel in der Darstellung rebellischer Unterschichten, ohne Weiteres der herrschenden Ideologie anzupassen und alle aufklärerische Zweifeltugend über Bord zu werfen. Ohne jeden Kompromiss bewahrte Goethe seine Individualität in der formalen Präsentation; was die 85 86 87 88 89
Walter Hinderer: Götz von Berlichingen. In: Goethes Dramen. Interpretationen. Hg. v. dems. Stuttgart 1992, S. 13–65, hier S. 33. Vgl. die systematisierte Übersicht Hans Hennings im Nachwort zu seiner Sammlung: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption, S. 358–362. Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. LXVII, 20. Aug. 1773, S. 553–555; Henning, Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption, S. 217–219. Luserke: Sturm und Drang, S. 118: „Goethes Götz von Berlichingen fand viele Nachahmer. Zwischen 1775 und 1811 erscheinen allein 38 Ritterdramen.“ Ebd., S. 117.
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dargestellten Inhalte angeht, war Goethe in den 1770er Jahren aber offenbar ziemlich flexibel. Als älterer Mann enthistorisierte Goethe seinen Götz von Berlichingen im Rückblick noch weiter. In seiner autobiografischen Geschichtsklitterung Dichtung und Wahrheit (geschrieben zwischen 1809 und 1814) erklärte er, wie aus einem Stück, das an einem weltgeschichtlichen „Wendepunkt“ angesiedelt gewesen war (Gottfried von Berlichingen), eines wurde, das einen „Wendepunkt der Staatengeschichte“90 behandelt, derer es viele gibt. Goethe gab zu, dass er sich mit Götz von Berlichingen von seiner „Sucht“ nach Kritik an der Obrigkeit – sie „sei monarchisch oder aristokratisch“ – „befrei[t]“ habe,91 und zwar mit schönem Erfolg: „Durch Götz von Berlichingen aber war ich gegen die obern Stände sehr gut gestellt“.92
Egmont. Ein Trauerspiel kein deutsches Stück, wo der Freiheit des Volkes mehr das Wort geredet würde als in diesem (Johann Peter Eckermann)93
Egmont sei eine Art „gesteigertes Götz-Drama“,94 meinte Jürgen Schröder einmal und erläuterte an anderer Stelle: Beide sind Helden des 16. Jahrhunderts, der entscheidenden Wende zur Neuzeit, […] beide erhalten ihre Größe mehr durch ihre attraktive Menschlichkeit als durch erhabene Leidenschaften und Taten, beide sind Lieblinge des Volkes, beide passionierte Reiter, am liebsten in freier Natur und langen Beratungen und planmäßigem Handeln abhold […], beide fallen durch hinterlistigen Verrat ihrer politischen Feinde, beide glauben ihre Loyalität gegenüber ihrem höchsten Herrn […] niemals verletzt zu haben, beide werden vom Volk, dort von den Bauern, hier von den Bürgern im Stich gelassen, und beide werden am Ende als Todgeweihte in einen höhern Raum entrückt.95
In diesem Abschnitt interessiert von den genannten Merkmalen nur, ob Egmont wirklich als Liebling des Volks dargestellt und später von ihm im Stich gelassen wird, und wie die Darstellung des Volks an sich in diesem letzten Drama Goethes vor der Französischen Revolution ausfiel.
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Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, S. 170. Ebd., Bd. 9, S. 536 Ebd., Bd. 10, S. 116. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 in 26 Bdn. Hg. v. Karl Richter u.a. München 1985–1998, Bd. 19, S. 493. Schröder: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe, S. 198. Jürgen Schröder: Poetische Erlösung der Geschichte – Goethes Egmont. In: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Hg. v. Walter Hinck. Frankfurt a.M. 1981, S. 101–115, hier S. 101.
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„Nachdem ich im Götz von Berlichingen das Symbol einer bedeutenden Weltepoche nach meiner Art abgespiegelt hatte, sah ich mich nach einem ähnlichen Wendepunkt der Staatengeschichte sorgfältig um. Der Aufstand der Niederlande gewann meine Aufmerksamkeit“, schrieb Goethe im Rückblick.96 Er hatte das Stück wahrscheinlich schon bald nach der Fertigstellung der zweiten Fassung des Berlichingen-Dramas im März 1773 begonnen und periodisch daran weiter gearbeitet bis zum Herbst 1775. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Egmont „beinahe zustande“ gebracht, wie er sich in Dichtung und Wahrheit erinnerte.97 Zu diesem Zeitpunkt waren vermutlich die ersten beiden Szenen des Stücks, die übrigen Volksszenen, der Auftritt von Egmont und Klärchen am Ende des dritten Akts, die Dialoge Egmonts mit Oranien, Alba und Ferdinand sowie die Traumvision geschrieben oder „konzeptionell entworfen“.98 Doch ist aus diesem Stand der Arbeit kein Manuskriptblatt erhalten. Erst gegen Ende 1778 wandte sich Goethe wieder dem liegengebliebenen Stück zu, schrieb bis 1782 gelegentlich ein paar Zeilen, bevor er sich in Italien dem Stück wieder intensiver zuwandte. Anfang Juli 1787 lag der erste Akt in Reinschrift vor, Ende des Monats ebenfalls der zweite, dritte und vierte; mehrfach zwischen dem 1. August und 1. September wird Egmont für „fertig“ erklärt, das letzte Mal dann am 5. September 1787: „heute ist Egmont eigentlich recht völlig fertig geworden. Der Titel und die Personen sind geschrieben und einige Lücken, die ich gelassen hatte, ausgefüllt worden“.99 Einschätzungen und Sphären Obwohl Egmont zu den bekanntesten und sicher auch besten Stücken Goethes gehört, hat sich die Forschung vergleichsweise wenig um das Drama gekümmert. Insbesondere gilt das für die Darstellung des Volks, die im Mittelpunkt meiner Studie steht.100 Diese Situation ist eine Folge der frühen Interpretationsansätze von Schiller und Goethe selbst. Schiller hatte in seiner 1788 erschienenen Rezension 96 97 98 99
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, S. 170. Ebd., S. 181. Horst Hartmann: Egmont. Geschichte und Dichtung. 2. Aufl. Berlin 1988, S. 17. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 11, S. 394. Im Druck erschien das Stück im fünften Band von Goethes Schriften, der 1788 in Leipzig erschien. Erhalten ist lediglich die diesem Druck zu Grunde liegende Handschrift Goethes bzw. eine Abschrift Herders. Die Abweichungen späterer Drucke bis hin zur Ausgabe letzter Hand sind so gering, dass ich aus praktischen Erwägungen im Folgenden den Abdruck in Goethes Werken (Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 370–454) unter Angabe der bloßen Seitenzahl zitiere. 100 Eine Ausnahme ist Gonthier-Louis Fink, der „Bild und Bedeutung des Volkes in Goethes Egmont“ untersuchte (In: Das Subjekt der Dichtung. Hg. v. Gerhard Buhr u.a. Würzburg 1990, S. 223–242); allerdings enthistorisierte er Goethes Darstellung und ignorierte den Handlungsverlauf des Dramas, wenn er vorschlug, die Volksdarstellung des Stücks als „Diptychon“ zu lesen, das „die zwei Seiten der Natur des niederländischen Volkes als Antwort auf das jeweilige politische Regime“ zeige (S. 240), nämlich vor dem dritten Akt das selbstbewusst republikanische Volk, nach dem dritten Akt das ängstlich geduckte Volk.
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von Egmont die „Einheit dieses Stücks“ allein in der Figur des Titelhelden gesehen und so der bis heute verbreiteten Einschätzung Egmonts als reinem „Figurendrama“ (Wolfgang Kayser) Vorschub geleistet.101 In Folge dessen werden alle anderen Figuren in dem Stück „häufig nur in ihrer expositionellen Funktion für den Helden berücksichtigt“, wie Heinrich Clairmont mit Bezug auf die Figuren Machiavells und der Regentin beklagte, was aber genau so auch für die Volksfiguren gilt.102 Goethes eigener Versuch, die „Konzeption Egmonts“ von seiner späteren „Konzeption des Dämonischen“ her aufzuschließen,103 hat in der Literaturwissenschaft noch verderblichere Folgen gehabt, weil sie endgültig den Blick für die historisch-politischen Dimensionen und den „Polyperspektivismus“ des Stücks verbaut hat.104 Unabhängig von ihren sonstigen politischen Ansichten kapitulieren die Interpreten regelmäßig vor dem Unbenennbaren des „Dämonischen“, das wahlweise „die weiterwirkende Macht des Mythischen […], der gerade der bedeutende Mensch […] unterworfen bleibt“ (Peter Michelsen), oder „– bis heute – jenen unverfügbaren Restbezirk der menschlichen und menschheitlichen Geschichte, der nicht in Rationalität und Machbarkeit aufgeht“ (Jürgen Schröder), bezeichne.105 Nachdem schon Konrad Schaum Zweifel angemeldet hat, ob die Kategorie des „Dämonischen“ auf Egmont übertragbar sei, wird man gut daran tun, auf diesen Begriff ein für allemal zu verzichten, da er vielleicht etwas zur Erklä-
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Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 5, S. 933 („Über Egmont, Trauerspiel von Goethe“; zuerst in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 227, 20. Sep. 1788). Wolfgang Kayser schrieb in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 598f.: „Alle Teile des Bühnengeschehens, d.h. alle Szenen und Akte sind einhellig auf die Gestalt Egmonts und ihr Schicksal bezogen. Es gibt nicht, wie im Götz, eigenwertige Darstellungen des Raumes, und es gibt ebensowenig eine etwa der WeislingenHandlung vergleichbare Nebenhandlung mit eigenem Schwerpunkt: alles weist auf Egmont als die strukturbestimmende Schicht des einheitlichen Ganzen. Wir stehen vor einem Figurendrama.“ Kayser formulierte hier die opinio communis der älteren Forschung. 102 Heinrich Clairmont: Die Figur des Machiavell in Goethes Egmont. Prolegomena zu einer Interpretation. In: Poetica 15 (1983), S. 289–313, hier S. 292. 103 Vgl. das Schema (1810) für das 20. Buch von Dichtung und Wahrheit (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 590). Goethe führte seine Gedanken 1813 in seiner Autobiografie (4. Teil, 20. Buch) aus (ebd., Bd. 10, S. 175ff.). 104 Vom „Polyperspektivismus“ sprach schon Clairmont (Die Figur des Machiavell in Goethes Egmont, S. 291). Ein paar Jahre später nahm Hans Reiss (Goethe, Möser and the ‚Aufklärung‘: The Holy Roman Empire in Götz von Berlichingen and Egmont“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986), S. 609–644) die historischpolitische Dimension des Stücks in den Blick: Das wenig originelle Fazit lautete, dass Goethe aktuelle politische Probleme im historischen Gewand behandle (S. 642); es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Goetheforschung, dass man noch Mitte der 1980er Jahre explizit darauf hinweisen musste, dass Egmont „too is a historical drama which takes place in a political setting“ (ebd., S. 624). 105 Peter Michelsen: Egmonts Freiheit. In: Euphorion 65 (1971), S. 274–297, S. 294; Schröder: Poetische Erlösung der Geschichte, S. 109.
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rung einzelner Charaktere, aber sicher nichts zur Interpretation des Stücks insgesamt beiträgt.106 Stattdessen sollte man Goethes Motiv und Verfahren, Egmont zu schreiben, ernst nehmen: die Suche nach einem „Wendepunkt der Staatengeschichte“ und das „fleißige“ Studium der „Quellen“, weil er sich „treu an die Geschichte“ halten wollte und „nach möglichster Wahrheit“ strebte.107 Es ging Goethe nicht bloß um einen problematischen Charakter, sondern um die möglichst unmittelbare und lebendige Vergegenwärtigung eines historischen Vorgangs, wie er in der Autobiografie selbst schrieb. Die ersten Szenen des Dramas dienen dementsprechend nicht bloß der Vorbereitung von Egmonts erstem Auftritt durch „dreifache Spiegelung“ (Rudolf Ibel),108 sondern zugleich und mehr noch der Konstitution des historischen Handlungsraums, in dem sich Egmont bewegt. Alle drei Sphären – die des Volkes auf der Straße, die der Liebe in Klärchens Wohnung und die der Kabinettspolitik in den drei Palästen Margaretes, Egmonts und Albas – bleiben bis auf eine Ausnahme (V/1) ständig getrennt. Volkmar Braunbehrens stellte für die sogenannten Volksoder Bürgerszenen richtig fest, dass sie „in sich abgeschlossen“ sind und den Blick in eine Sphäre öffnen, „die für sich lebt“,109 was mutatis mutandis auch für die anderen Bereiche gilt. Egmont bewegt sich zwar in allen drei Bereichen, doch ist er nicht in allen gleichermaßen zu Hause. Es ist zu vermuten, dass der „Graf“ und „Prinz von Gaure“ eigentlich nur in der Sphäre der Kabinettspolitik beheimatet ist, und tatsächlich gibt der Text genügend Hinweise für seine Fremdheit in den anderen Bereichen. Bekanntlich hat Klärchen Schwierigkeiten, in dem Ritter des Ordens zum Goldnen Vlies, der sie besuchen kommt, ihren Egmont zu sehen, so dass der Graf sich verbal in einen öffentlichen und in einen privaten Egmont zweiteilen muss, um sie zu beruhigen (III/2). Immerhin gelingt es ihm aber, in der privaten Sphäre eine Gemeinsamkeit herzustellen. In der Sphäre des Volkes aber bleibt er bis zum Ende völlig fremd. In der bereits erwähnten Szene mit Klärchen bekennt er die unüberbrückbare Kluft, als er – erinnert an die Liebe des Volks zu ihm – bedauert: „Hätt ich nur etwas für sie getan! könnt ich etwas für sie tun!“ (413.) Am Ende versteigt er sich gar zu den bekannten Sätzen, er sei „geliebt von einem Volke, das nicht weiß, was es will; geehrt und in die Höhe getragen von einer
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Konrad Schaum: Dämonie und Schicksal in Goethes Egmont. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 41 (1960), S. 139–157; vgl. Volkmar Braunbehrens: Goethes „Egmont“. Text – Geschichte – Interpretation. Freiburg/Breisgau 1982, S. 204–236, hier bes. S. 236. Den „Begriff des Dämonischen“ als einen „vorwissenschaftlichen Versuch Goethes, auch für die Geschichte eine Gesetzmäßigkeit zu finden“, retten zu wollen (Edith Braemer: Goethes Egmont und die Konzeption des Dämonischen. In: Weimarer Beiträge 4 (1960), Sonderheft, S. 1011– 1028), ist ein überflüssig gewordener Versuch, der wenig zum Verständnis Egmonts beiträgt. 107 Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 19. Buch (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, S. 170); 4. Teil, 20. Buch (ebd., S. 176); ergänzt durch den Bericht über Goethes Gespräch mit Eckermann und Hutton am 10. Januar 1825 (ebd., Bd. 4, S. 593). 108 Rudolf Ibel: Johann Wolfgang Goethe, Egmont. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1981, S. 23. 109 Braunbehrens: Goethes „Egmont“. Text – Geschichte – Interpretation, S. 102.
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Menge, mit der nichts anzufangen ist“ (415). Wenn Egmont im weiteren Verlauf des Stücks dann doch noch zu einem „Exponenten“ des niederländischen Volks wird (im Gespräch mit Alba nämlich) – was aber noch nicht erlaubt, ihn als Vertreter der „Interessen der dramatis persona Volk“ oder „Volksheld und gesteigerte Inkarnation des Niederländischen“ zu bezeichnen110 –, dann fast wider seinen Willen und jedenfalls „zu spät“.111 Wie sehr er den Kontakt zum Volk im weiteren Verlauf des Stücks verloren hat, zeigt seine ganz unsinnige Hoffnung, das Volk werde ihn aus dem Gefängnis befreien (V/2). Die Verkennung der wirklichen Lage geht so weit, dass er jetzt von der angeblichen Zuneigung spricht, die er zu dem Volk gehabt habe, woran es sich nun dankbar erinnern solle, während vordem ja umgekehrt von der Zuneigung des Volks zu ihm die Rede war, auf die er keine Antwort wusste. Noch deutlicher wird seine Verblendung durch die Formulierung: „Ach Klärchen, wärst du Mann, so säh ich dich gewiß auch hier zuerst“ (440). Die Zuschauer und Leser des Stücks wissen aber im Gegensatz zu Egmont längst, dass Klärchen mehr „Mut und Verachtung der Gefahr“ (436) besitzt als irgendein Mann – und zwar deswegen, weil sie (im Gegensatz zum Volk) von ihm geliebt wurde, so dass sie bereit ist, sich für ihn einzusetzen (V/1). Warum aber sollte sich das Volk für Egmonts Befreiung einsetzen? Was zwischen Egmont und Alba gesprochen wurde, kann das Volk naturgemäß nicht wissen, denn Egmont wurde noch im Culenburgischen Palast verhaftet (IV/2). In der einzigen Szene aber, die Egmont im direkten Kontakt mit den „Bürgern von Brüssel“ und anderen aus dem „Volk“ zeigt, ist sein Verhalten nicht dazu angetan, sich das Volk als Ganzes zum Anhänger zu machen. Begegnungen mit dem Volk Nur ein einziges Mal, nämlich gleich bei seinem ersten Auftritt überhaupt, kommt Egmont in persönlichen Kontakt mit Menschen aus dem Volk (II/1).112 Er tritt auf, als es nach internen Meinungsverschiedenheiten im Volk – davon wird noch zu sprechen sein – zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, und zwar tritt er objektiv in
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Hannelore Schlaffer: Dramenform und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona „Volk“. Stuttgart 1972, S. 71; Schröder: Poetische Erlösung der Geschichte, S. 106 (vgl. ebd., S. 108: „als symbolischen Repräsentanten“). Eine solche Ansicht verlangt die abenteuerlichsten Gedankenkonstrukte, soll sie noch irgend mit dem Text vermittelt werden. So war Schröder genötigt, Egmont ein „unbewußtes Wissen“ zu unterstellen, „das sich sowohl auf die nationelle Repräsentanz des eigenen Lebens wie auf die undurchschaubare Gesetzmäßigkeit des mit ihm korrespondierenden Geschichtsganzen bezieht“. 111 Fink: Bild und Bedeutung des Volkes in Goethes Egmont, S. 240. 112 Es ist lächerlich davon zu sprechen, dass sich Egmonts Volksverbundenheit in seinem Besuch bei Klärchen zeige, die dann als Mädchen aus dem Volk ebenfalls zu dessen Repräsentantin stilisiert wird (Michelsen: Egmonts Freiheit, S. 280; Schröder: Poetische Erlösung der Geschichte, S. 107). Diese beiden Sphären haben nichts miteinander zu tun; als Klärchen dem Volk gegenübertritt, ist sie nicht „bei“, sondern „außer sich“ (V/1).
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der Rolle eines Handlangers der spanischen Obrigkeit auf, lässt sich von dem vorgefallenen „Tumult“ lediglich von einer der beteiligten Parteien berichten und verspricht dem konservativen Zimmermeister „allen Beistand“. Die Behauptung des Zimmermeisters, Egmont habe sich dadurch als „echter Niederländer“, der „gar so nichts Spanisches“ an sich habe, erwiesen, wird sofort durch die fachmännische Bemerkung des Schneiders Jetter als ideologisch entlarvt und Lügen gestraft: „Hast du das Kleid gesehen? Das war nach der neuesten Art, nach spanischem Schnitt“ (395). „Das Volk“, das sich vorher unter dem Einfluss des Aufklärers Vansen in ein Kollektiv verwandelt hat, das mit einer Stimme spricht (392 und 393), wird von Egmont wieder individualisiert („Geht auseinander“) und in seine Schranken gewiesen („geht an euer Gewerbe! […] Bleibt zu Hause“). Der Ruf nach „Freiheit“ wird von Egmont fälschlich als Ruf nach ‚mehr Freiheit‘ aufgefasst und den „Leuten“ verwiesen: „Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall soviel Freiheit, als er braucht“ (394). War man vorher noch der Meinung, dass Egmont und Oranien „für unser Bestes“ sorgen würden, so zeigt sich die Entfremdung zwischen dem Volk und dem Grafen Egmont schon in den Exekutionsfantasien des Schneiders Jetter: „Sein Hals wär ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter“ (395). Nachdem Alba mit seinen Truppen in Brüssel einmarschiert ist und das Regiment übernommen hat, treffen sich Anfang des vierten Akts wieder einige Bürger, doch der Ton ihrer Unterhaltung hat sich merklich gewandelt. Schon die Szene macht deutlich, dass sich die Handlungsspielräume verengt haben: Traf man sich im zweiten Aufzug noch auf einem „Platz in Brüssel“, so nunmehr in einer „Straße“ (IV/1); die Aufforderung auseinander zu gehen muss gar nicht mehr von außen kommen, sondern die Bürger selbst äußern immer wieder das Verlangen, nicht bei einander zu bleiben. Man vermutet nicht mehr, daß Egmont für „unser Bestes“ sorge, sondern setzt seine Hoffnung darauf, dass er „sein Bestes tut“ (417). Die darin ausgedrückte implizite Hoffnung, dass er damit zugleich für alle sorge, ist aber eine trügerische, weil sie die Idee einer organischen Gemeinschaft von Fürst und Untertanen voraussetzt, die auch Egmont in seinem Gespräch mit Oranien entwickelt (II/2), die aber in Wahrheit nicht existiert, wie sich rasch herausstellt, als Vansen die entscheidenden Fragen stellt: „Willst du einen Aufruhr erregen, wenn sie ihn gefangennehmen? […] Wollt ihr eure Rippen für ihn wagen?“ (419) Der Schrecken über die Zumutung, die in diesen Fragen liegt, macht die Angesprochenen zuerst nahezu sprachlos („Ah!“, „Eh!“), führt dann aber dazu, dass sie die bitteren Wahrheiten, die ihnen Vansen ins Gesicht sagt, leugnen, ja ihn beschimpfen, wie man etwa den Boten für die schlechte Nachricht bestraft, die er bringt. Im fünften und letzten Akt schließlich gibt es nicht einmal mehr Illusionen über Gemeinsamkeiten zwischen Egmont und den Bürgern. Als Klärchen ihnen von Egmont sprechen will, wird sie sogleich zurecht gewiesen: „Nennt den Namen 383
nicht! Er ist tödlich“ (435). Als sie nicht aufhören will, von Egmont zu sprechen, gehen die Bürger einfach fort. Welch ein Unterschied zur ersten Szene des Stücks (I/1), wo die bloße Nennung des Namens „Egmont“ wiederholt zu „Hoch“-Rufen Anlass gibt (372–374). Doch wird es nützlich sein, die Entwicklung der Volksmeinung chronologisch zu verfolgen, denn ganz so einfach, wie ich es bisher darstellte, scheint die Sache doch nicht zu sein, denn zumindest in der ersten Szene ist noch etwas von der scheinbaren Harmonie zwischen Fürst und Untertanen zu spüren, auf die Egmont noch zu einem Zeitpunkt, da das Volk sich schon von ihm abgewandt hat, seine Hoffnungen gründet, von eben diesem Volk befreit zu werden. Das Schützenfest Das Schützenfest, dessen Ende die erste Szene vorführt, findet in einer noch vergleichsweise friedlich-harmonischen Atmosphäre statt. Man lebt nach altem „Herkommen“ (371) miteinander. Dass das Land von den Spaniern regiert wird, scheint verhältnismäßig wenig spürbar, denn diese respektieren offenkundig die niederländischen „Gesetze“. Die Formulierung Jetters, dass „der Spanier“ die Gesetze „uns doch bisher [hat] lassen müssen“ (371), deutet mit ihren Vokabeln aus der Sphäre des Zwangs („doch“, „müssen“) aber bereits auf eine nicht völlig entspannte Situation hin. Deutlich antiabsolutistisch ist die noch gleichsam spielerische Konfrontation zwischen dem Sieger des Armbrustschießwettbewerbs, dem „Ausländer“ Buyck, der als „König“ des Schützenfests „Gesetze und Herkommen“ nicht achten will, und den demokratisch gesinnten Bürgern, die ihm sein Verhalten gegen die Tradition noch einmal durchgehen lassen wollen (371: „doch ohne Präjudiz!“), weil er ihnen wohl will. Da der Schützenkönig Buyck „froh“ ist „wie wir“, was der Krämer Soest als wichtiges Kriterium für einen akzeptablen Fürsten benennt (372), weil er „Gemüt“ hat, wird er von den Brüsseler Bürgern im Laufe der Szene, obwohl eigentlich ein Fremder, doch als „Landsmann“ (376) akzeptiert und integriert. Dagegen verschärft sich die anfänglich noch kaum spürbare Konfrontation zwischen den Niederländern und den Spaniern im Verlauf des geselligen „Schwätzens“ (375), weil zu der eher allgemeinen Abneigung gegen die wenig volkstümliche Art des spanischen Königs die Erinnerung an konkrete Übel etwa der „spanischen Besatzungen“ (376) während des letzten Kriegs hinzukommen. Trotzdem bleibt die Konfrontation latent, weil erstens kein Spanier anwesend ist und weil zweitens mit der Regentin Margarete ein annehmbarer Kompromiss zwischen dem populären Niederländer Egmont und dem unbeliebten Spanier Philipp an der Spitze der Regierung steht; drittens droht erst die Veränderung, die geeignet ist, die Situation eskalieren zu lassen: nämlich die Einführung der Inquisition, von der Soest noch glaubt, sie „kommt nicht auf“ (375).
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Die Religionsfrage wird zwar mit der politischen Frage der Fremdherrschaft verknüpft, doch hat sie eine ganz eigene Qualität, wie sich im weiteren Verlauf des Stücks herausstellt. Man weiß sehr wohl, dass es nicht nur „um der Religion willen“ geschieht, dass die Kirchenmacht ausgebaut wird (374: „vierzehn neue Bischofsmützen im Lande“). Man versucht auch, auf der Ebene des Nationalitätenunterschieds mit diesem Problem umzugehen. Die Inquisition wird als etwas empfunden, das in Spanien seinen Platz haben mag, aber nicht hier in den Niederlanden, wo die Devise „leben und leben lassen“ (372) gelte: „Wir sind nicht gemacht, wie die Spanier, unser Gewissen tyrannisieren zu lassen“ (375). Man ist aber nicht bereit oder in der Lage, die eigentümliche und gefährliche Qualität der Auseinandersetzung zwischen der Inquisition und der neuen Lehre aus Deutschland zu erkennen. Fast mit „unschuldigem“ Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass man „Rebell“ genannt wird und Gefahr läuft, seinen „Kopf zu verlieren“, nur weil man sich von der neuen Lehre affizieren lässt (375). Man ist in diesem Punkt wesentlich naiv (gewissermaßen eine Folge der angeblichen Nationaleigenschaft „leben und leben lassen“), jedenfalls naiver als die spanische Regierung, die sehr wohl weiß, dass man nach den Rechten der Kirche bald auch anfängt die der Könige zu untersuchen, wie Schiller sehr schön den gleichsam natürlichen Gang der Aufklärung beschrieb (SWB 6, 82). In diesem Punkt ist sich Egmont – so lässlich er mit seinen eigenen Vorschriften umgeht113 – im übrigen völlig einig mit der spanischen Regierung: Auch er ist ein Feind der neuen Lehre, die er ausdrücklich als „fremde Lehre“ bezeichnet (395) und die er ein „Übel“ nennt, dem „kräftig zu begegnen“ sei (395). Er widerruft damit seine frühere Toleranzpolitik, von der Buyck noch schwärmt (374), vor allem deswegen, weil der Zusammenhang zwischen demokratischem Tumult und der neuen Lehre immer offensichtlicher wird. Insofern erweist sich Egmont eben nicht als einer der Adligen, von denen sich das Volk Widerstand gegen die Inquisition erwartet. Den Zusammenhang zwischen Gewissensfreiheit und politischer Freiheit erkennen die Bürger in der ersten Szene des Dramas noch nicht, obwohl sie ihn schon erkennen könnten, wie man aus ihrer Beschreibung der Predigten ersieht (375). Dadurch, dass die Konflikte erst latent sind und die politischen Implikationen der neuen Lehre nicht gesehen werden, weil man das Gespräch am entscheidenden Punkt abbricht (375: „Frisch, ihr Herren! Über dem Schwätzen vergeßt ihr den Wein […]“), ist es möglich, dass die Stimmen114 der einzelnen Bürger sich am Ende der Szene zu einem „Kanon“ (eine Ende des achtzehnten Jahrhunderts als außerordentlich antiquiert und künstlich empfundene Musikform) vereinigen, das 113
Entgegen früheren Anweisungen will er einige Bilderstürmer bzw. einen protestantischen Prediger nicht hinrichten lassen, allerdings nicht aus einem inhaltlichen Grund, sondern weil er „des Hängens müde“ ist (397). 114 Zu dem Thema der „Stimmen“ vgl. Paul Böckmann: Goethe, Egmont. In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. 2 Bde. Hg. v. Benno von Wiese. 2. Aufl. Düsseldorf 1964, Bd. 1, S. 148–169.
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heißt, man vereinigt sich zu einem Kollektiv, bei dem die Einzelstimmen nach wie vor hörbar bleiben, aber dennoch ein Ganzes geben, was sinnfällig die angeblich natürliche Lebensart der Niederländer (430: „ein jeder rund für sich, ein kleiner König“) symbolisieren soll. Dass sich „ALLE“ auf die Formel „Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit!“ (377) vereinigen können, ist also mit dem Ausblenden des möglichen Konfliktpotenzials erkauft. Die sozusagen kanonische Harmonie des Szenenschlusses ist daher auch nicht wieder herstellbar und mit dem zweiten Akt ein für allemal verloren. Auseinandersetzung auf dem Platz in Brüssel Die für die vorliegende Studie interessanteste Szene in Egmont ist die erste Szene des zweiten Akts. Sie führt das Volk in seiner ganzen Komplexität vor. Aus der ersten Szene des Stücks begegnen Zuschauern und Lesern nur Soest und Jetter wieder. Sie waren schon in I/1 die eigentlichen Meinungsträger, während die Soldaten Buyck und Ruysum eher als Stichwortgeber funktionierten. Während in I/1 die Auseinandersetzung innerhalb des „Volks“ dadurch vermieden wurde, dass die Gespräche rechtzeitig abgebrochen wurden oder dass man sich freiwillig vom Wettbewerb zurückzog (wie Jetter) und die eigentliche Aufgabe an Buyck, den Soldaten Egmonts delegierte, bricht II/1 den Scheinkonsens des harmonischen Kanons auf. Soest und Jetter werden nach zwei Seiten hin ergänzt: nach der einen, ‚konservativen Seite‘ durch den Zimmermeister, nach der anderen, ‚revolutionären‘ durch den Schreiber Vansen. Den ersten Auftritt hat der Zimmermeister, der über bilderstürmerische Aktivitäten berichtet und zugleich bedauert, dass dadurch „unsre gute Sache“ desavouiert würde. Jetzt könnte man freilich seine „Gerechtsame“ nicht mehr vortragen, da man dadurch zu leicht in den Ruch des „Aufwieglers“ gerate (389). Im Gegenteil fühlt sich der Zimmermeister durch die „Händel“ der Bilderstürmer bedroht und erbietet sich, die Regentin gegen die „Aufwiegler“ zu verteidigen – koppelt allerdings noch seine Verteidigung der Regentin an die Verteidigung der niederländischen „Rechte und Freiheiten“ durch die Regentin, während der kurz danach hinzutretende Seifensieder als „ein treuer Untertan, ein aufrichtiger Katholik“ und aus Abscheu vor allen „Händeln“ keinerlei Bedingungen mehr zu denken wagt (390). Ohne dass sich Soest und Jetter irgend zu dieser Position geäußert hätten, tritt der Gegenspieler des Zimmermeisters und des Seifensieders auf, Vansen nämlich. Vansen hat außer seinem Gruß noch gar nichts gesagt, als er von dem Zimmermeister schon bekämpft wird: „Gebt euch mit dem nicht ab, das ist ein schlechter Kerl“, heißt es (390). Vansens Antwort, dass man ihn ruhig anhören solle, wird durch die anwesenden Soest und Jetter gebilligt, woraufhin Vansen von der Verfassung der Niederlande erzählt; er betätigt sich als Aufklärer, der „Herkommen“ 386
und „Historie“ daraufhin befragt, wie alles gekommen ist. Dass diese Erkenntnisse weitergegeben werden, passt dem vielleicht genau so gut unterrichteten Zimmermeister nicht (391: „Haltet Euer Maul! das weiß man lange! Ein jeder rechtschaffene Bürger ist, soviel er braucht, von der Verfassung unterrichtet“), doch haben die Bürger Soest und Jetter sowie „Mehrere“ andere aus dem umstehenden „Volk“ das Bedürfnis unterrichtet zu werden. Vansen erzählt ihnen, wie die „Vorfahren“ „Privilegien“ und „Freiheiten“ erstritten hätten, worauf er sich wieder einen Anwurf einfängt, diesmal vom Seifensieder: „Was sprecht ihr von Freiheiten?“ Hierauf antwortet zum ersten Mal in dieser Szene „DAS VOLK“: „Von unsern Freiheiten, von unsern Privilegien! Erzählt noch was von unsern Privilegien!“ (392) Schon hier vermutlich ist Seifensieder in das „uns“ nicht mehr integriert wie eine Seite später, wo das „VOLK“ ihn wegen seiner Drohungen gegen Vansen verwarnt und schließlich Vansen gegen den tätlichen Angriff des Seifensieders („er schlägt ihn“) verteidigt. Jedenfalls fordert das „VOLK“ insgesamt – es spricht mit einer Stimme und nicht mehr mit vielen Stimmen im Kanon – Vansen mehrfach auf, Weiteres von den „Privilegien“ zu berichten. Vansen tut nichts anderes als zu berichten, welche urkundlich verbürgten Rechte die Niederländer haben und zitiert zu diesem Zweck „zwei-, dreihundert Jahre“ alte Bücher (391f.).115 Freilich: Er tut das nicht ohne Absicht: „Wir könnten die spanischen Ketten auf einmal sprengen“, sagt er gleich zu Beginn, „wenn jetzt einer oder der andere Herz hätte, und einer oder der andere den Kopf dazu“ (390). Man könnte darüber spekulieren, ob er sich (er wird einmal als „Herr Doktor“, als der „Gelahrte“ tituliert; 393) mit dem „Kopf“ meint und die Bürger mit dem „Herz“; allein der Text gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür. Vansen spricht von Kopf und Herz gleichberechtigt (beweist auch „Herz“, wie man später sieht vgl. 417) und appelliert an „Kopf“ und „Herz“ seiner Zuhörer. Jedenfalls geht es ihm darum, die spanischen Ketten los zu werden, das heißt den alten Zustand einer gegenseitigen Verpflichtung von Obrigkeit und Untertanen wieder herzustellen. Der Seifensieder dagegen vertritt das absolutistische Prinzip des Untertanenstaats. Vansen versucht das Volk, als es darauf verweist, Egmont und Oranien träten „für unser Bestes“ ein, zu eigenem Handeln zu bewegen und geht damit über die Szene I/1 hinaus: „Eure Brüder in Flandern [= Bilderstürmer] haben das gute Werk angefangen.“ Wie zu erwarten erbittert das den Seifensieder so sehr, dass er Vansen zu schlagen beginnt, doch nun greift das Volk, oder zumindest ein Teil des Volks, selbstständig in das Geschehen ein und verteidigt seinen Aufklärer: „Sie 115
Vansen hat in der Forschung einen schweren Stand. Für Elizabeth Wilkinson (Sprachliche Feinstruktur in Goethes Egmont. In: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Hg. v. Heinz Otto Burger. Darmstadt 1972, S. 353–390, hier S. 377) war er ein Demagoge, der den „Begriff der Freiheit als einen Köder“ missbrauche, „mit dem er friedliebende Bürger zur Zerstörung der bestehenden Ordnung aufzuwiegeln“ versuche, doch räumte sie im gleichen Atemzug ein, dass „vieles, was er predigt und verficht, notwendige Voraussetzung zur Erhaltung der Freiheit ist“.
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fallen den Seifensieder an“, nachdem sie klar erkennen, wessen Partei er hier eigentlich vertritt: „Bist du auch ein Spanier?“ (393) Es ist wichtig hier festzuhalten, dass es an diesem Punkt nicht zu einer wirklichen Vereinigung mehr kommt; sprach man zuvor noch mit einer Stimme, so handelt man aber nicht mehr in einem Sinne: „Buben pfeifen, werfen mit Steinen, hetzen Hunde an, Bürger stehn und gaffen, Volk läuft zu, andere gehn gelassen auf und ab, andere treiben allerlei Schalkspossen, schreien und jubilieren“ (393). Es kam Goethe an dieser Stelle offensichtlich darauf an, das Chaos und Durcheinander eines Tumults darzustellen und damit das Gegenstück zum Szenenschluss von I/1, wo alles sich in der harmonischen Ordnung des Kanons vereint. Wollte Goethe damit das Volk denunzieren, wie Peter Michelsen116 händereibend meinte? Ja und nein lautet die Antwort. Was Goethe hier zeigen wollte, ist nicht die Anarchie des sich selbst überlassenen Volks, sondern der ihn bei ähnlichen Gelegenheiten immer wieder frappierende Umschlag von ordnender Vernunft in eine scheinbare Unordnung. Was wir sehen sollen, ist eine gleichsam karnevaleske Szene, ohne dass hier das Bedrohliche, Bedenkliche und Unbefriedigende, das etwa „das Römische Carneval“ wie jedes Volksfest in Goethes Augen auszeichnete,117 durch das Heitere entschärft wird. Doch was geschieht eigentlich? Nichts Besonderes: Bürger stehen und gaffen, wie es immer geschieht, wenn irgendwo irgendetwas passiert, weitere kommen hinzu. Andere dagegen promenieren weiter, als ob nichts wäre – auch kein ungewöhnliches Verhalten. Ergänzt wird dies aber durch die Steine werfenden und Hunde hetzenden Buben: wenngleich noch auf der Ebene des ‚Kinderspiels‘ entschärft, doch bereits ein bedenkliches Zeichen.118 Im Römischen Carneval werden Gipskugeln („Confetti“) geworfen und Pferde gehetzt („Abrennen“), was in beiden Fällen bisweilen zu ernstlichen Verletzungen führt; doch ist dies aufgehoben in 116 117
Michelsen: Egmonts Freiheit, S. 275. Vgl. besonders Anfang und Schluss von Johann Wolfgang Goethe: Das Römische Carneval. Weimar 1789, S. 3–6 u. 67–69. 118 Vgl. William Hogarth: „The Four Stages of Cruelty“ (1751): Der Lebenslauf Tom Neros, dessen Karriere als Gewalttäter mit kindlicher Tierhatz begann und nach einem Mord am Galgen bzw. in der Anatomie endete (William Hogarth. Der Kupferstich als moralische Schaubühne. Hg. v. Herwig Guratzsch. Stuttgart 1987, S. 174–181, Nr. 32 a–d). „Man rechnet diese Stücke unter unsers Künstlers beste Werke“, heißt es in dem 1783 auf deutsch erschienenen Auszug aus John Nichols Hogarth-Buch (Beiträge zu Wilhelm Hogarth’s Lebensbeschreibung. Leipzig 1783, S. 155). Die Serie gehörte gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Kontinent, besonders in Frankreich, zu den populärsten Stichfolgen des englischen Künstlers (vgl. Frederick Antal: Hogarth und seine Stellung in der europäischen Kunst. Übers. v. Fritz Gay. Dresden 1966, S. 336). Unter Blatt 1 stehen die Verse: „While various Scenes of sportive Woe / The Infant Race employ, / And tortur’d Victims bleeding shew / The Tyrant in the Boy“ (deutsch in: William Hogarth 1697–1764. Das vollständige graphische Werk. Red.: Berthold Hinz u. Hartmut Krug. 2. Aufl. Gießen 1986, S. 159: „Mit aller Art Thierquälerei / Treibt Kindheit noch ein Spiel dabei / An Anderer Schmerzen Freude haben, / Zeigt den Tyrannen schon beim Knaben“).
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einem „Fest“, einem Fest freilich auch, das dem Volk „nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst giebt“.119 Das „Getümmel“ des Römischen Carneval aber schlägt, seines festlichen Charakters trotz der „Schalkspossen“ (393), die man auch hier findet, entkleidet, um in einen „Tumult“ (394), denn Zuschauer und Schälke versammeln sich nicht um einen festlichen Mittelpunkt, sondern um einen „Streit“.120 Egmont spricht auch vom ‚Feiern des Volks an einem Werktag‘ (394), wobei natürlich in erster Linie das Nicht-Arbeiten, sondern müßig Herumstehen oder -gehen gemeint ist, doch auch das ‚Pöbelfest‘, zu dem die Rauferei gehört, mit assoziiert werden muss. Ausgelöst hatte diesen „Streit“ (393) allerdings der Seifensieder und nicht etwa Vansen. Die Bürger, die durch Vansens Aufklärungen zwar erregt genug sind, als dass sie „Händel“ anfangen könnten, bekommen die Händel von dem sich als „Spanier“ gerierenden Seifensieder aufgedrückt. Sie verteidigen ihre Privilegien gegen den absolutistisch gesinnten Seifensieder, wie die Niederländer insgesamt sie nach Vansens Vorstellungen gegen die Spanier verteidigen sollen. Insofern hat der Zimmermeister nicht Unrecht, wenn er zu Egmont sagt: „Sie schlagen sich um ihre Privilegien“ (394). Egmont, der hier als Fremder im doppelten Sinn wie ein ‚deus ex machina‘ (der Zimmermeister begrüßt ihn als „Engel des Himmels“) auftritt, nämlich in spanischem Kleid und als ständisch fremder Graf, wird zur zentralen Figur, um die alle, nachdem der „Tumult“ sich nach und nach stillt, herumstehen. Er mahnt die Bürger zu Ruhe und Passivität, wiederholt die antiaufklärerischen Parolen des Zimmermeisters und reklamiert alle Handlungspotenz für sich. Indem er das Volk zur Ruhe zwingt, lädt er sich die Verantwortung für dessen Schicksal auf, eine Verantwortung, die er nicht tragen kann. Das Volk als politisches Subjekt wird in II/1 ausgeschaltet und zwar von Egmont selbst. Weil er sich aber zunehmend als Repräsentant des Volks fühlt, auch in diese Rolle gedrängt wird, die er ohne Zwang prätendierte, liegt am Ende, so wie es die gemäßigten Bürger schon anfangs wollten, alle Last auf seinen Schultern, und mit ihm scheitert auch Vansens Freiheitskonzept. Denn im Grunde wollen Vansen und Egmont Ähnliches, doch sind ihre Vorstellungen über den Träger der politischen Aktion verschieden. Egmont kämpft als Absolutist für die Ziele Vansens, Vansen setzt auf das selbstständig handelnde Volk. Der Gegenspieler Alba ist zwar als Absolutist Egmont nicht unähnlich, aber in seinen Zielen (Unterdrückung statt „Freiheit“) natürlich gegen Egmont und die Niederländer eingestellt.
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Goethe: Das Römische Carneval, S. 37–41, 50–54 u. 4. Goethe: Das Römische Carneval, S. 4, 33 u. 66 bzw. 38–40 u. 44f.
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Das Ende Nachdem Alba das Regiment in Brüssel übernommen hat, ist auch Egmont politisch kalt gestellt. Er selbst hat zuvor das Volk entmündigt. Diesem bleibt nun wenig mehr zu tun oder zu sagen übrig. Nur noch insgeheim („He! Pst!“) kann man sich ansprechen. Die Bürger sind jetzt alles andere als „kleine Könige“ (430), wie Egmont in seiner Verkennung der inzwischen eingetretenen Lage behauptet, sondern von „erbärmlicher Mattigkeit“ (417). Der Zimmermeister bescheidet Jetter: „sei ruhig!“ (415); und Soest: „Still!“ (416) Die Hoffnung auf Egmont (417: „der ist allein was vermögend“) ist trügerisch, wie die Bürger von Vansen erfahren; dieser würde dem Grafen Egmont raten, nicht zu trauen, sondern zu fliehen (418): „Wo nichts herauszuverhören ist, da verhört man hinein“ (419). Vansen hat seinen Shakespeare aber nicht gut genug gelesen und weiß daher nicht, dass Herzog Alba kreuzgefährlich ist, denn er ist keiner der „dickbäuchigen“, sondern einer der „schmalleibigen“ Männer (420).121 Doch Vansen vermutet, auf lange Sicht werde es gehen wie immer: Auch dieser „Herzog“ müsse essen, trinken, schlafen wie andere Menschen. […] Am Anfange geht’s rasch; nachher wird er auch finden, daß in der Speisekammer unter den Speckseiten besser leben ist und des Nachts zu ruhen, als auf dem Fruchtboden einzelne Mäuschen zu erlisten. Geht nur, ich kenne die Statthalter (418).
Mag Vansen Statthalter im Allgemeinen kennen; Alba aber kennt er offenbar schlecht, den doch (jedenfalls im vierten Buch von Schillers Abfall der Niederlande) „die ganze Nation als einen Barbaren kannte, und als einen Fremdling und Feind ihrer Verfassung verabscheute“.122 In dem Moment, als sich in Brüssel „eine tote Stille“ ausbreitet (ebd., 355), glaubt der nunmehr blind gewordene und zu zweifelhaften Mitteln greifende ‚Aufklärer‘, das alte „Wesen vor wie nach“ treiben zu können (417), sobald man des Herzogs Handlanger korrumpiere: „Ich hab ein paar Nichten und einen Gevatter Schenkwirt; wenn sie von denen gekostet haben, und werden dann nicht zahm, so sind sie ausgepichte Wölfe“ (420).
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Vgl. Shakespeares Julius Caesar I/2 (Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin 2002, S. 4386): „Let me haue men about me, that are fat, / Sleeke headed men, and such as sleepe a nights: / Yond Cassius has a leane and hungry looke, / He thinkes too much: such men are dangerous“ (in Wielands Übersetzung von Shakespeare: Julius Cäsar, ein Trauerspiel I/4, S. 20: „Ich wollt’ er wäre fetter; zwar fürcht’ ich ihn nicht, aber doch, wenn Cäsar sich fürchten könnte, so kenn’ ich keinen andern Mann, vor dem ich mich so sehr hüten würde, als diesen magern Caßius“). 122 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a. Frankfurt a.M. 1988–2004, Bd. 6, S. 345; Schiller bezog sich an dieser Stelle in der Fußnote zur genannten Seite auf genau die beiden historiografischen Werke, die Goethe als Hauptquellen für sein Drama nutzte, nämlich Emanuel von Meterens Beschreibung deß Niderländischen Kriegs und Famianus Stradas De Bello Belgico (vgl. ebd., S. 757f.; sowie Hans Wagener: Johann Wolfgang Goethe, Egmont. Erläuterungen und Dokumente. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1989, S. 39).
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Anders als Jetter und der Zimmermeister hat Vansen aber offenbar Albas Truppen noch nicht genau genug in Augenschein genommen. Während der konservative Zimmermeister kaum verhohlen die Zucht von Albas Soldaten bewundert (416: „Gelt! das ist eine andre Art von Krebsen, als wir sie sonst gewohnt waren“), beschreibt Jetter sie auf eine Weise, die jegliche Hoffnung wie die von Vansen, man könne ihnen von der menschlichen Seite wohl beikommen, als Illusion entlarvt: Es schnürt einem das Herz ein, wenn man so einen Haufen die Gassen hinabmarschieren sieht. Kerzengrad mit unverwandtem Blick, Ein Tritt, so viel ihrer sind […]; diese Kerle […] sind wie Maschinen, in denen ein Teufel sitzt. […] Es wird nicht gut (416).
Mit diesen Maschinen will der Herzog von Alba die bürgerliche „Ruhe“ – die „Ruhe eines Kirchhofs“, meinte Marquis Posa123 – ein für alle Mal festzurren. Und es scheint ihm auch zu gelingen. Vansen ist aus der Handlung ausgeschieden, Soest und Jetter haben sich beide die Position des Zimmermeisters angeeignet (V/1). Egmont, der sie verraten hat, interessiert sie nicht mehr. Die Bürger lassen Klärchen, die sie im „Namen“ Egmonts zum Widerstand gegen die spanische Despotie aufstacheln will, stehen. „Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk und träumt von Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung“ (441). Für das ebenso realitätsblinde wie verliebte Klärchen selbst gibt es keine Rettung mehr. Der spanischen Gewaltherrschaft ist es gelungen, ihr „Herz, das nach der Freiheit sich regt, auf ewig zu zerknirschen“, wie es Brackenburg formuliert (441). Sie tötet sich selbst. Brackenburg sah jedoch nicht, dass nicht „jedes Herz, das nach der Freiheit sich regt“, auf ewig zerknirscht bleiben muss. Gerade weil es in Egmont am Ende „keine Rettung“ (450) mehr gibt, kann es mit der Verheißung zukünftiger Freiheit enden. Alba spannte die spanische Unterdrückung auf einen Grad, der nicht zu halten war, wie die Zeitgenossen sehr wohl wussten. Bei allen „Strömen Bluts, die er fließen ließ“, blieb Alba doch „im ruhigen Besitz seiner Herrschaft“, so schrieb Schiller, so lange er der „Staatskunst getreu blieb“, „für Einen, den er zum Schlachtopfer aussuchte, […] zehn andre“ zu gewinnen, „die er vorüberging“. Aber als er „jeden ohne Ausnahme drückte“, leitete er selbst den Untergang der spanischen Herrschaft ein. „Sein rasender Entwurf schien zu sein, die ganze Nation zum Bettler“, also zu Geusen, „zu machen“, und dadurch machte er das ganze Volk zu Geusen, also zu Aufständischen.124 Die Ausweglosigkeit am Ende des Egmont ist die conditio sine qua non für den von Schiller gerügten „Salto mortale in eine Opernwelt“,125 nämlich die traumhafte Erkenntnis Egmonts, dass sein „Blut und vieler edlen Blut“ Voraussetzung für den Gewinn der Freiheit für 123
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1997, Bd. 2, S. 124. 124 Schiller: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 362 u. 366; vgl. zu dem Doppelsinn von „Bettlern“ und „Geusen“ in Schillers Darstellung ebd., S. 236–238, 247, 360, 800 u. 808f.; die Begriffe „Nation“ und „Volk“ sind hier in Schillers Sinne „synonym gebraucht“ (vgl. ebd., S. 873). 125 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 942.
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das brave „Volk“ ist (453). Erst und nur in diesem Moment wird Egmont zu einem Repräsentanten seines Volks und seiner Nation, die die Freiheit ausschließlich dadurch erringen können, dass sie durch das Meer von Blut schreiten, das Alba ihnen abzapft. Schon einen Augenblick später gibt sich Egmont partiell wieder seiner Selbsttäuschung hin. „Auch ich schreite einem ehrenvollen Tode aus diesem Kerker entgegen“, meint er; „ich sterbe für die Freiheit“ – das ja –, „für die ich lebte und focht“ – das sicher nicht. Er stirbt für die Freiheit des niederländischen Volks, lebte aber wie Götz von Berlichingen nur für seine eigene Freiheit;126 mag sein, dass beide in dem Moment überein kommen, da er sich „leidend“ opfert (453). Das Volk haben beide verlassen, Götz die „Bauern“ ebenso wie Egmont die „Bürger“. Des Volks endliche Befreiung ist nur durch eine außerdramatische Referenz (z.B. bei Schiller: „Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit“ durch das „Volk, welches wir hier auftreten sehen“127) oder gar nicht mit dem Dramentext zu vermitteln (zu Lebzeiten Goethes konnte von einer Befreiung der Bauern noch kaum die Rede sein128). In Egmont aber wird das zuvor unter anderem von dem Protagonisten in den Hintergrund gedrängte Volk durch die Vision vor seinem Opfer immerhin in „poetischer Verklärung“ (Schröder) zwar nicht der Geschichte, sondern nur des eigenen Tods wieder in die dramatische, wenn auch nicht historische Utopie des Dramenschlusses hineingenommen. Bemerkenswert an dieser Schlussvision („die Lichterscheinung Klärchens“ und Egmonts Auslegung) ist, wenn man sie einmal nicht auf eine abstrakte „höhere Bedeutung“ hebt,129 sondern daraufhin befragt, was sie in politischer Hinsicht
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An keiner Stelle gibt es einen Hinweis darauf, dass Egmont unter „Freiheit“ etwas anderes versteht als die Möglichkeit, offen, fröhlich, gutherzig, ohne zu überlegen, was gestern war, noch sich um morgen zu sorgen, zu leben: Seine Freiheit ist „keine programmatische Idee, sondern die Art und Weise seines Daseins und seines Lebensstils“, worauf schon Manfred Lefèvre (Der Deus ex Machina in der deutschen Literatur. Untersuchungen zu Dramen von Gryphius, Lessing und Goethe. Diss. FU Berlin 1968, S. 189) hinwies. Insofern ist Egmonts Freiheit eine höchst individuelle Freiheit, die man vielleicht mit „Autonomie“ oder „Selbstbestimmtheit“ (Braunbehrens: Goethes „Egmont“. Text – Geschichte – Interpretation, S. 92) benennen kann und die am besten in der bestehenden Ordnung zu verwirklichen ist. Wollte man Egmonts nirgends explizit formuliertes politisches Programm auf den Punkt bringen, so hieße es: „Verteidigung des status quo. Was immer Egmont sagt, fordert, schlichtet, läuft auf die Bestätigung eines fest etablierten Zustands hinaus, den Egmont in keine Richtung zu ändern wünscht“ (ebd., S. 83). 127 Schiller: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 41f. 128 Zur Lage der Landbevölkerung um 1800 vgl. Jürgen Kocka: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800. Bonn 1990, S. 81–95. 129 So äußerte sich Johann Stephan Schütze am 12. November 1806 gegenüber Goethe, der ihm natürlich zustimmte („Goethe lobte mich über mein Lob“), siehe Goethes Gespräche. Hg. v. Woldemar Freiherr von Biedermann. 10 Bde. Leipzig 1889–1896, Bd. 2, S. 130; Wagener: Goethe, Egmont, S. 64.
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materiell bedeutet, dass Goethes Egmont die „Freiheit“ auf einem nicht wesentlich anderen Weg erreichbar glaubt als fast fünfzig Jahre später Büchners St. Just: „Soll […] ein Ereigniß, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur d.h. der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? […] Die Menschheit wird aus dem Blutkessel […] mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum Erstenmale geschaffen“.130 Auch Egmont spricht davon, dass die „göttliche Freiheit“ mit „blutbefleckten Sohlen“ aufgetreten sei, „die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. […] Nein, es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg!“ (453) In dem letzten Bild wird noch einmal auf den Vergleich des aufständischen Volks mit den unzähmbaren Wassermassen eines reißenden Stroms oder einer vernichtenden Sturmflut – wie bei Barthold Feind im Haus Jacob (1703): „wer kann die gewaltsame Fluht hemmen, wenn sie einmahl in dem durchgebrochenen [D]eich herein stürtzet?“131 – angespielt, der in der Frühen Neuzeit topisch war. Diesen Aufstand fürchtet Alba am meisten: „Wer will das Volk hindern loszubrechen? Wo ist die Macht, sie abzuhalten?“ (427) Albas tragischer Irrtum ist, dass er mit Egmonts Hinrichtung diesen Aufstand mit herbeiführt, statt ihm zu steuern.
Nachspiel (Satyros oder der vergötterte Waldteufel) In satirischem Gewand ist das Thema der politischen Masse von Goethe 1773 in einem kleinen „Drama“ mit dem Titel Satyros oder der vergötterte Waldteufel behandelt.132 Mit Satyros tritt uns ein ‚falscher Prophet‘133 entgegen, oder wie Goethe es formulierte: einer jener in der Sturm und Drang-Zeit herumziehenden „Menschen […], die, ohne sonderliche Talente, mit einem gewissen Geschick sich persönlichen Einfluß zu verschaffen wissen“.134 „Gott ist Gott und ich bin ich“, ist Satyros überzeugt (V. 111) und treibt gegenüber den „Mädgen“ die Selbstvergottung noch weiter: „Mein ist die ganze weite Welt / […] Ich herrsch übers Wild und Vögel Heer, / Frücht auf der Erden und Fisch im Meer. / Auch ist aufm ganzen Erdenstrich / Kein Mensch so weis und klug als ich“ (V. 169–174). Auf Psyche verfehlt seine Selbstpreisung die Wirkung 130 131
Büchner: Danton’s Tod, S. 46f. u. 123f. (II/7, Repl. 370). Barthold Feind: Das verwirrte Haus Jacob, Oder Das Gesicht der bestrafften Rebellion An Stilcke und Lütze. Schau-Spiel. Faksimile-Druck der Ausgabe von 1703. Hg. v. W. Gordon Marigold. Bern 1983, S. 5 (I/2); vgl. oben S. 135. 132 Zitiert unter Angabe der Versnummer nach: Der junge Goethe, Bd. 1, S. 327–344. 133 Vgl. Leo Löwenthal (unter Mitarbeit von Norbert Guterman): Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator (1949), deutsch in: Leo Löwenthal: Schriften. 5 Bde. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt a.M. 1990, Bd. 3: Falsche Propheten, S. 9–159. 134 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 562.
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nicht, zumal er ihre Sinnlichkeit zu reizen vermag; ihre Freundin Arsinoë, die Tochter des Oberpriesters, hingegen ist irritiert, ja ihr „ekelt“ (V. 224) sogar vor dem hässlichen Waldteufel. Sie zieht sich daher bald aus der Handlung zurück. Als Satyros zu einer Rede über „Wahrheit und Natur“ anhebt, versammelt sich „allerley Volcks“ um „den mächtig Redner“, weil sein „Wort durch Marck und Bein“ dringe (V. 239–241). Satyros preist „die goldene Zeiten“, als die Vorväter noch ohne „Neid gen Himmel blickten“, „frey / wie Wolcken“ das einfache Leben genossen, unbedrängt von Eigentum und Arbeit zufrieden waren mit „rohen Castanien“ (V. 246–274). Weil sie keine „Sklaven“ (V. 243) mehr sein wollen, jubeln die Leute dem als „heiliger Prophete“ (V. 318) Verehrten zu und folgen ihm zurück zur Natur in die Wildnis, die seine wahre Heimat ist. Zwar hat mindestens der Oberpriester Hermes schnell von der „neuen Religion“ eine „verfluchte Indigestion“ (V. 286f.) – alle kauern „wie die Eichhörngen“ im „Kreise“ und „haben Castanien in den Händen und nagen dran“ –, doch hindert das das „Volck“ nicht, Satyros weiter als „Gott“ zu verehren (V. 314, 317, 331, 338): „Sinket nieder, betet an!“ (V. 321f.) Den hinzukommenden Einsiedler, den Satyros zu Beginn beraubt und der ihn in unbekleidetem Zustand kennt und daher ein „ungezogen schändlich Tier“ nennt (V. 333), will das „Volck“ wegen Gotteslästerung hinrichten. Den Einsiedler zu retten ist indes Eudora, die Gattin des Priesters, entschlossen, weil sie entsetzt ist, welchen „Blutdurst“ Hermes und das „ganze Volck“ entwickelt haben. Ihr graut vor der neuen Religion. Doch weiß sie ein Mittel, den falschen „Propheten“ (V. 376) zu entlarven: Sie will ihn zu einer Vergewaltigung provozieren und hofft, dass ihre Hilfeschreie genug „Gewalt“ über „das Volck“ ausüben werden (V. 404–408), als dass dieses den nunmehr seines Lendenschurzes Beraubten als Tier erkennend verjage. Das Vorhaben gelingt: die „Hülfe“-Rufe wecken das Mitleid des Volcks, die aufgestoßene „Tühre des Heiligtuhms“ enthüllt Eudora, „sich gegen des Satyros Umarmungen verteidigend“, dessen Phallus ihn dabei als „Tier“ nur zu kenntlich macht (V. 464–473). Voller Empörung verjagt man Satyros: „Geh wir begehren deiner nit“ (V. 483). Goethes Satyrspiel wirft mehr Fragen auf als man je hoffen kann zu beantworten. Seit jeher irritierte es die Interpreten, dass Goethe hier Dinge persiflierte, an die er selbst in dieser Zeit zu glauben schien (das „Evangelium naturhaften Lebens“; die „Denkweisen“ der Hermetik, die er damals pflegte).135 Wolfgang Kayser empfand dies als „grotesk“: „Die Verkündigung an sich ist gültig: daß sie aber vor diesem Volke und aus diesem Munde erklingt, das hat etwas von dem Grauen, das wir empfinden, wenn unsere Welt aus der Ordnung, aus den Formen gerät, indem eine unheimliche Macht einbricht“.136 Die „Abgründigkeit“, von der Kayser 1953 sprach, ist gespeist von der Erinnerung an das damals erst vor wenigen Jahren 135 136
Vgl. Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München 1968, S. 154; Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1987, Bd. 1, S. 202–204. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 554.
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untergegangene Dritte Reich. ‚Dieses Volk‘ und ‚dieser Mund‘: Das übersetzte noch Karl Otto Conrady als: „Der narkotisierende Führer, das narkotisierte Volk“.137 Aber handelt es sich wirklich um eine in der Historie „immer wieder“ vorkommende Geschichte, die in diesem Stück zwischen Satyros und dem Volck abläuft, wie Conrady meinte? Satyros wendet sich zunächst nicht an das Volck, sondern versucht bei den „Mädgen“ Eindruck zu schinden. Psyche verfällt ihm relativ rasch, Arsinoë bleibt skeptisch und holt ihren Herrn Papa. Diesem hält Satyros eine kleine Predigt gegen das „unseelig Geschick“, in dem er lebe, wie man schon daran sehe, dass er gekleidet gehe (Psyche ist beeindruckt: „O wie beschweert mich schon mein Keid“; Arsinoë ist entflohen). Diese kleine Predigt macht das Volck aufmerksam auf den Fremden; es kommt aus freien Stücken zusammen, um den „mächtig Redner“ zu hören. Die folgende Rede an das Volck bleibt zunächst in den Bahnen des rousseauistischen „Zurück zur Natur“, gebrochen allerdings durch Wielandischen bzw. Voltairischen Witz.138 Dass sich das Volck so leicht bereden lässt, die Zivilisation (V. 244f.: „Häuser“, „Sitten“) hinter sich zu lassen, um an den „Ursprung“ der Geschichte zurückzukehren, ist vielleicht nicht unverständlich: Die Zivilisation bedeutet für das Volck Sklaverei, der Naturzustand dagegen „Gleichheit und Freiheit“. Da diese beiden nach Goethescher Überzeugung „nur in dem Taumel des Wahnsinns genossen werden können“,139 ist es nicht verwunderlich, dass dem Volcke alsbald schwindelt. Zu der karnevalistischen Utopie gehört indes auch die verkehrte Welt, und so ist es folgerichtig, dass das Volck des Satyros Losung „Herren der Erden“ (V. 282) begeistert aufnimmt: „Unser die Welt!“ (V. 284) Anschließend sitzt das Volck „im Wald“ („Vierter Ackt“) und lauscht den nächtlichen Lehren des „Prophete[n]“ (V. 318). Übernächtigt deliriert es im religiösen Rausch. Von Weltbeherrschung kann keine Rede mehr sein. Das Volck fühlt 137 138
Conrady: Goethe. Leben und Werk, Bd. 1, S. 203. „Entäussert biß auf die Haut / […] Und nun ledig des Drucks / Gehäuffter Kleinigkeiten […] fühlt was Leben sey, / […] Der Baum wird zum Zelte / Zum Teppich das Gras / Und rohe Castanien / Ein herrlicher Fraß“ (V. 263–275). Es ist bekannt, dass sich Goethe hier an Wielands satirischen Aufsatz „Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Zustand der Natur des Menschen zu entdecken“ (1770) anlehnte, wo unter anderem unter Rekurs auf Strabo und Plinius richtig gestellt wird, dass der „natürliche Mensch“ wohl kaum Eicheln, wie Rousseau (Schriften. 2 Bde. Hg. v. Henning Ritter. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 196: „sich unter einer Eiche sättigt, aus der ersten Quelle seinen Durst stillt und unter eben dem Baum sein Ruhebett findet, der ihm sein Mittagsmahl gereicht hat. Hiermit sind alle seine Bedürfnisse befriedigt“) behauptete, sondern doch wohl eher „Kastanien“ fraß (Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde. Leipzig 1794–1811, Bd. 14, S. 196f.). Voltaire an Jean-Jacques Rousseau, 30. Aug. 1755: „Ich habe Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten […]. Niemals ist so viel Geist aufgewandt worden, uns zu Tieren zu machen. Man bekommt Lust, auf allen vieren zu laufen, wenn man Ihr Buch liest“ (Voltaire: Korrespondenz aus den Jahren 1749 bis 1760. Übers. v. Bernhard Henschel. Hg. v. Rudolf Noack. Frankfurt a.M. 1978, S. 65). 139 Goethe: Das römische Carneval, S. 69.
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sich erhöht, indem es sich erniedrigt (V. 323 u. 330f.: „Sey uns gnädig! / […] Wir sind dein / […] Ganz dein!“) und in eine freiwillige Knechtschaft begibt (V. 345: „verlaß uns nicht“). Der Castanien-Fraß hat das Volck in einen bösen Traum versetzt („Träume rühren gemeiniglich von der Verdauung her“140), vielleicht weil es sich um wilde Kastanien handelte, die Satyros seinen Getreuen zu essen gab, die aber von „sehr bitterm Geschmack und nur zur Viehfütterung zu gebrauchen“ sind.141 Das im kollektiven „Taumel des Wahnsinns“ befindliche Volck fordert den Tod des Einsiedlers, der den „Propheten“ (V. 376) dadurch zu lästern wagt, dass er ihn als das bezeichnet, was er ist. Das Volck ist dies zu erkennen aber nicht mehr von sich aus in der Lage. Es bedarf eines Anstoßes von außen, und das sind die „Hülfe“-Rufe der sich gegen die Vergewaltigung durch Satyros wehrenden Eudora. Sofort erwacht das Volck aus seinem Wahn. Quasi in einen Naturzustand versetzt ist es aber auch mit der natürlichsten Empfindung des ‚guten Menschen‘ begabt: dem Mitleid. Und „der mitleidigste Mensch ist“ bekanntlich „der beste Mensch“,142 und so erweist sich das Volck letztlich als ‚rettendes Volk‘ und verjagt den unsittlichen Strolch. Schon Neumair von Ramsla hatte in seinem Traktat über den Auffstand der Untern wider ihre Regenten und Obern festgehalten, es sei „kein Ding auff der Welt, welches den Menschen hefftiger zu Hertzen gehet, auch sie mehr bewegt, wider jhre Regenten zusammen zu schweren, als wenn jhnen die Weiber geschendet werden“.143 Das Volck, das bereit war, um seiner Freiheit willen die Bande der Zivilisation abzuschütteln, wird in dem Moment zum revolutionären Volk, da der „Prophet“ des Naturzustands gegenüber den Töchtern und Frauen des Volks übergriffig wird. Hatte Satyros das Volck einlullen können, indem er ihm vorgaukelt, seine wahren Bedürfnisse zu befriedigen und selbst ein göttlicher Führer voller „Edelmuth“ (V. 424) zu sein, so wird er sogleich zum Opfer der Revolte, als er seine Herrschaft überspannt, die Macht missbraucht und sich als Despot erweist. Das kann auch die schönste Ideologie und die stärkste Droge nicht verhindern. Goethes Satyrspiel ist wohl doch kein überzeitliches Lehrgedicht über die Verführbarkeit des immer und ewig sich gleichenden Volks. Es arbeitet relativ genau mit zeitgenössisch geläufigen Motiven und Theoremen. Das Volck in diesem kleinen Drama ist auch nicht so unmündig, wie häufig getan wird. Es verfolgt am Anfang und am Ende seine ureigensten Interessen; lediglich im „Vierten Ackt“ verfällt es dem verführerischen Sound der hermetischen Lehre des Satyros: Das aber ist die (Wort-) Magie, die auch Faust (zum Beispiel in der „Nacht“, im „Stu140 141
Mahler Müllers Werke. 3 Bde. Hg. v. Anton Georg Batt u.a. Heidelberg 1811, Bd. 3, S. 342. Damen Conversations Lexikon. Hg. v. C. Herloßsohn. 10 Bde. Leipzig [später Adorf] 1834– 1838, Bd. 6, S. 90. 142 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11.1, S. 120. 143 Johann Wilhelm Neumair von Ramsla: Von Auffstand der Vntern wider ihre Regenten und Obern sonderbarer Tractat. Jena 1633, S. 60; vgl. oben S. 54.
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dierzimmer“) praktiziert (V. 311–313: „Und auf und ab sich rollend ging / Das All und Ein und Ewig Ding / Immer verändert! Immer beständig!“).144 Und die hat schon ganz andere Geister in ihren Bann gezogen. Ob das Volck, aus dem Traum von einer besseren Welt erwacht, sich wieder in die Zivilisation zurück begibt oder im Wald bleibt, erfahren wir nicht. Das Stück endet vorher. Wir hören nur noch, dass „eine“ für seine ‚glühenden Blicke‘ so empfängliche „Jungfrau“ (Psyche wohl) mit Satyros davon zieht (vgl. V. 484).
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Goethe selbst wies Carl Friedrich Zelter in einem Brief vom 11. Mai 1820 auf diese Verwandtschaft hin (Goethes Werke. [Weimarer Ausgabe.] 143 Bde. in 4 Abt. Hg. im Auftr. d. Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919, 4. Abt., Bd. 33, S. 28; vgl. Karl Friedrich Zelter u. Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel. Eine Auswahl. Hg. v. Hans-Günter Ottenberg. Leipzig 1987, S. 219).
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Schlussbemerkung
Als „Bruder meines Geistes“, „als Märtyrer für die Wahrheit“, rühmte Christian Friedrich Daniel Schubart den zweihundert Jahre älteren Nicodemus Frischlin (1547–1590).1 Schubart affizierte vor allem der „Fürstenhaß“ Frischlins, seine Adelskritik, die ihn als Gefangenen in die Feste Hohenurach führte, wo er bei einem Fluchtversuch ums Leben kam. Für das Thema der vorliegenden Studien ist hingegen vor allem Frischlins prägnante Formulierung der Poetik des (frühneuzeitlichen) Geschichtsdramas von Interesse, die sich in einem disputatorischen Stück findet, in dem die Gleichrangigkeit, wenn nicht Überlegenheit des neuzeitlichhumanistischen Deutschlands gegenüber der klassischen Antike erwiesen werden soll: Ivlivs Redivivvs (entstanden seit 1572, Erstdruck 1585). In diesem Stück, das bereits 1585 durch Julius’ Bruder Jacob Frischlin „auß der lateinischen“ Sprache „in die Teutsche transferiert“ wurde, findet sich in der zweiten Szene des ersten Akts eine selbstreflexive Passage, die man durchaus auf die Dichtung überhaupt beziehen kann, besonders aber auf das explizit angesprochene Drama beziehen muss; Cicero erklärt dem neuzeitlichen Herzog Hermann: Gleich wie mann kan jn einem Spyl, Ain könig wider offt vnd vil, Persönlich praesentieren vnd stellen, Mit seinem leben vnd thatten erzehlen. Alls wann er leibhafftig da stiendt, Also wir auch auff erden seindt, Diß ist die kunst aller Poeten, Die todten von dem Todt aufferwecken (V. 191–198).2
Anders als die Historiografie im Allgemeinen vermag es das Drama („Spyl“), die Gestalten der Geschichte (V. 180: „die verstorbnen“) „leibhafftig“ wieder zu „praesentieren“, ihr „leben“ und ihre „thatten“ also „lebendig“ (V. 180) zu vergegenwärtigen, als geschähen sie tatsächlich noch einmal.3 Diese, „deß Poeten macht“ (V. 42), die Vergangenheit und ihre Protagonisten „aüs dem grab“ (V. 41) zu ziehen, wird von Geschichtsdramatikern bis in das 19. Jahrhundert hinein immer wieder beschworen. Eines der bekanntesten Beispiele ist der am 28. Juli 1835 von
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Vgl. Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke. Berlin 2004, S. 95126–95128. Nicodemus Frischlin: Ivlivs Redivivvs. Comoedia. In d. Übers. v. Jacob Frischlin. Hg. v. Richard E. Schade. Stuttgart 1983, S. 27 (I/2). Vgl. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, S. 82– 87.
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Georg Büchner an seine Eltern geschriebene Brief über sein Drama Danton’s Tod: Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzteren dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt […], er macht vergangene Zeiten wieder aufleben.4
Für die in dem einleitenden Abschnitt als Realisten bezeichneten Dichter erschien der am ehesten Erfolg versprechende Weg, „vergangene Zeiten wieder aufleben“ zu lassen, der über die Wiederbelebung handelnder „Charaktere“ zu sein, also die Anwendung des Frischlinschen redivivus-Modells, anstatt historische „Charakteristiken“ zu entwickeln.5 Als Goethe sich Ende 1771 an die Dramatisierung der „Geschichte eines der edelsten Deutschen“ machte, war es ihm – anders als die späteren Äußerungen es nahe legen – erst in zweiter Linie um den weltgeschichtlichen „Wendepunkt“ Anfang des 16. Jahrhunderts gegangen, sondern primär darum, dass er „einen edeln Vorfahr (die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen) im Leben darstelle“.6 Die zeitgenössischen Rezensionen lesen das Stück auch auf genau dieser Folie. Das Neuartige am Berlichingen-Drama schien manchem nicht die geschickte Thematisierung einer bestimmten soziopolitisch-historischen Konstellation zu sein, sondern dass es Goethe gelang, in seinem dramatischen Bilderbogen die handelnden Menschen zum „Leben“ zu erwecken. „Dieser V[erfasser] hat sie, wie von Todten wieder auferweckt“.7 Die ‚Neuartigkeit‘ von Goethes Drama war also im Wesentlichen die Wiederaufnahme einer poetischen Verfahrensweise, die in der Frühen Neuzeit gang und gäbe war. Sie wurde dann auch für die Darstellung des Volks produktiv, wenn den Dramatikern nicht bloß daran gelegen war „bonorum virorum laudes decantare“,8 also den Ruhm und das Andenken ‚großer‘ Männer zu singen, sondern wenn es ihnen darum ging, „das Leben einer Zeit“ in toto zur Anschauung zu bringen. Zu diesem Zweck galt es nicht nur, sich und den Zuschauern zu vergegenwärtigen, „wie einem Könige oder Fürsten zu muhte sey“,9 sondern sich auch „in das
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Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Pörnbacher u.a. München 1988, S. 305f. Vgl. ebd., S. 305. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 143 Bde. in 4 Abt. Hg. im Auftr. d. Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919, 4. Abt., Bd. 2, S. 7f. (an Johann Daniel Salzmann, 28. Nov. 1771). Hans Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig 1988, S. 555. So Nicodemus Frischlin in seiner Hildegardis Magna (1579), zit. nach Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, S. 85 Anm. 133. Johann Rist: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Eberhard u. Helga Mannack. Berlin 1967–1982, Bd. 5, S. 378.
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Leben des Geringsten“ zu versenken (Büchner),10 um es in dem Ensemble gesellschaftlicher Kräfte und Gegenkräfte glaubwürdig darstellen zu können. Dies war mindestens so lange vonnöten, wie das ernste Drama als pädagogische Einrichtung zur Erkenntnis der Welt, wie sie ist, gebraucht wurde. Dabei war es gleichgültig, ob man das Drama als Schule der Könige, Schule des Hofstaats oder Schule des „Volcks“ verstand.11 Immer galt es, die Stücke als Schattenrisse der wirklichen Welt – so die Metaphorik bei Christian Weise12 – auch in Details möglichst wahrhaftig, und im Sinne von mimetischer Ähnlichkeit möglichst wahrscheinlich zu machen. Das Leben des Volks und noch mehr die politischen Aktionen der Unterschichten waren in der Frühen Neuzeit brisant genug, als dass man sie im pädagogischen Welttheater der Zeit verstehen lehren musste, um sie unter Umständen einhegen und befrieden zu können. Dabei war es möglicherweise von Vorteil, wenn die Autoren ausgebildete Juristen waren wie etwa Pedro Calderón, Pierre Corneille, Daniel Casper von Lohenstein, Barthold Feind oder eben auch Johann Wolfgang Goethe; von früh auf waren sie an den alten Rechtsgrundsatz „audiatur et altera pars“13 gewöhnt, es schien ihnen selbstverständlicher zu sein, auch die ‚andere‘ Stimme des Volks, und zwar nicht nur in komisch verzerrter Form oder denunzierend, zu Gehör zu bringen als etwa den Theologen oder Pfarrerskindern, die seit jeher gewöhnt sind, einer Wahrheit nachzulauschen. Auch eine solche Herkunft musste indes nicht daran hindern, Volkes Stimme zu hören und zu schätzen; mitunter war es allerdings nötig – so im Fall Johann Jakob Bodmers –, dass der Betreffende zuerst durch Rousseau „zurecht gebracht“ wurde.14 Welche Schwierigkeiten dagegen die einleitend so genannten Idealisten mit dem Volk als politischem Subjekt hatten, weil sie „die Welt nicht“ nur „zeigen“ wollten, „wie sie ist, sondern“ vor allem, „wie sie sein solle“,15 wurde in den Kapiteln über die Dramen der Pfarrerssöhne Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing deutlich. Während Gottsched noch stärker an der Tradition des 17. Jahrhunderts partizipierte, sie jedenfalls kannte, und es möglicherweise daher schaffte, die klassizistischen Dramenregeln mit dem politischen Inhalt noch eini10 11
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Georg Büchner: „Lenz“. Marburger Ausgabe. Band 5. Hg. v. Burghard Dedner u. Hubert Gersch. Darmstadt 2001, S. 19, 37 bzw. 60. „Schule der Fürsten“: Georg Philipp Harsdörffer: Poetischen Trichters zweyter Theil. Nürnberg 1648, S. 80 (vgl. Poetik des Barock. Hg. v. Marian Szyrocki. Stuttgart 1982, S. 121); „Schule des Hofstaats“: vgl. Arnd Beise: Die Hofbühne als pädagogische Anstalt: Stieler, Anton Ulrich, Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 12 (2002), S. 167–187; „Schule des Volcks“: Daniel Georg Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie, deren Uhrsprung, Fortgang und Lehrsätzen. Kiel 1682, S. 732 (vgl. Poetik des Barock, S. 168). Vgl. oben S. 126 u. 182. Über Herkunft und Verbreitung in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. die kurze Notiz bei Georg Büchmann: Geflügelte Worte und Zitatenschatz. Völlig durchges. u. verb. Neuausgabe. Stuttgart 1953, S. 273f. Vgl. oben S. 288, Anm. 77. Büchner: Werke und Briefe, S. 306.
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germaßen glaubwürdig zu verbinden (besonders glücklich im Agis, König von Sparta), scheiterte Lessing bei der Darstellung des Volks an den Aporien seiner Ästhetik und Philosophie, wenn er diese Darstellung nicht sogar bewusst aus dem Gebiet der schönen Literatur ausschloss. Wie stark in einem solchen Fall weltanschauliche Prämissen die Lektüre beeinflussen können, zeigt das Beispiel des Gelehrtenstreits über Thersites aus Homers Ilias: Im neunten Kriegsjahr vor Troja kommt es bekanntlich zwischen Agamemnon und Achill zu einem Streit über Kriegsbeute, der auf Kosten Achills entschieden wird, was diesen bewegt, sich und seine Myrmidonen aus dem aktiven Kampf zurückzuziehen: „Niemals mehr in den Rat, den männerehrenden, ging er, / Niemals mehr in die Schlacht“ (1, 490f.).16 Agamemnon plant daraufhin, trotz des Ausfalls seines stärksten Bündnisgenossen die Schlacht zu gewinnen. Durch einen Trick will er sich eines doppelt motivierten Heers versichern. Nicht er will den Kampf befehlen, sondern das Griechenheer selbst soll den Kampf wollen. Zu diesem Zweck rät er, sich verstellend, in der Volksversammlung zur Aufgabe des Kampfs und zur Heimkehr (2, 110–141). Andere sollen die Krieger dann bewegen, von Agamemnon die Fortsetzung des Kriegs zu verlangen. Odysseus übernimmt die heikle Aufgabe, zu einem Zeitpunkt, als „die Menge“ zu den Schiffen stürzt, das Ruder herumzureißen. Von den „Königen“ und den „edlern Männern“ verlangt er ruhige Überlegung, ob Agamemnons Vorschlag der Heimkehr vielleicht nur eine Finte war (2, 190–197); die Leute aus dem Volk aber „schlug“ er und drohte ihnen: „Halt du! Rege dich nicht und hör auf anderer Rede, / Die mehr gelten denn du! Unkriegerisch bist du und kraftlos, / Nie auch weder im Kampf ein Gerechneter, noch in dem Rate! / Nicht wir alle zugleich sind Könige hier, wir Achaier! / Niemals frommt Vielherrschaft im Volk, nur einer sei Herrscher, / Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos / Zepter gab und Gesetze, daß ihm Obergewalt sei“ (2, 200–206). An diesem einzigen Punkt wird die Beschränkung auf die heroische Oberschicht in der Ilias durchbrochen und es kommt das widersetzliche Volk zu Wort. Ungeachtet Odysseus’ Gebot zu schweigen erhebt Thersites die Stimme. Thersites ist ein Rebell gegen die herrschende Ordnung (2, 214: „Immer verkehrt, nicht der Ordnung gemäß, mit den Fürsten zu hadern“, sei Thersites’ Anliegen)17, und was wichtiger ist, er ist dies als Unterschichtler. Er spitzt die Vorwürfe des Achilleus aus dem ersten Gesang zu und beschuldigt Agamemnon, sich die von ihnen, den wirklichen Kämpfern, eroberten Schätze anzueignen. In der Kränkung des Achilleus sieht er vor allem die Kränkung der kämpfenden Soldaten und fordert daher
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Im Folgenden unter Angabe von Gesang und Vers zit. nach Homer: Ilias / Odyssee. In der Übertr. v. Johann Heinrich Voß. Mit einem Nachw. v. Wolf Hartmut Friedrich. München 1963. Geoffrey Stephen Kirk (Homer and the Epic. Cambridge/Mass. 1996, S. 44) sprach vom „anarchical behaviour of Thersites“.
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die Abreise: Möge doch Agamemnon sehen, wie er ohne seine Untertanen zu seinen Schätzen komme. Seine Rede (2, 225–242) trägt Thersites im Namen aller „Achaier“ vor und entsprechend harsch ist die Reaktion der Herrschenden. Odysseus springt sofort herbei und bläut Thersites unter „drohenden Worten“ den Rücken: „Eine Striem erhub sich mit Blut aufschwellend am Rücken / Unter des Zepters Gold“ (2, 267f.). Agamemnon hatte es nicht gewagt, König Achilleus für seinen „Trotz“ (1, 278) verprügeln zu lassen, doch der Unterschichtler Thersites wird mit dem „Herrscherstab“ verprügelt. Anschließend „erhub sich der Städteverwüster Odysseus“, das blutige Zepter in der Hand, und „gebot Stillschweigen den Völkern, / Daß die Nächsten zugleich und die äußersten Männer Achaias / Hörten des Redenden Wort und wohl nachdächten dem Rate“ (2, 278–282). Odysseus appelliert – unterstützt von Nestor – an die Ehre (2, 296–298: „Ich tadele nicht die Achaier, / Daß man traurt bei den Schiffen und heimstrebt. Aber es wär uns / Schändlich doch, die so lange geweilt, leer wiederzukehren!“) und die Gier (2, 354–356: „daß keiner zuvor wegdräng und strebe zur Heimkehr, / Eh er allhier mit einer der troischen Frauen geruhet, / Eh er gerächt der Helena Angst und einsame Seufzer!“) der Soldaten und bringt so das Volk der Danaer dazu, die Aufforderung Agamemnons zur Schlacht laut zu begrüßen: „wie die Meerflut / Brüllt um den hohen Strand, wann kommend der Süd sie emporwühlt / Am vorragenden Fels“ (2, 394–396), sei das Volk bereit zum Kampf. Schon in der Ilias war die Rede davon, dass das „Volk“ (2, 278) die Züchtigung des Thersites mit Lachen begrüßt habe. Dem seien die lästerlichen Reden vergangen, freut sich „mancher“ (2, 271 ff.). Die Aufklärer lachten an dieser Stelle mit. Zugleich war ihnen ihr eigenes Gelächter anstößig. Eine symptomatische Position trug der damals in Göttingen lehrende Philosophieprofessor Christian Adolf Klotz in seinen Epistolae Homericae (1764) vor. Er stellte die Echtheit der ThersitesEpisode in Frage und empfahl sie zu streichen. Sein Hauptargument war, dass das Gelächter des Lesers „an einem sehr ungeschickten Orte“, nämlich in einem heroischen Gedicht erregt würde.18 Das Lachen selbst stand damals unter dem Verdacht, unvernünftig zu sein;19 jedenfalls aber als unvernünftig galt „die unsinnigste Ab18
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Christian Adolf Klotz: Epistolae Homericae. Altenburg 1764, S. 24 bzw. 32ff.; „loco admodum inepto“ kann – anders als Herder (Schriften zur Literatur. Bd. 2: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Hg. v. Regine Otto. Berlin 1990, Bd. 2.1, S. 191: „an einem sehr ungeschickten Orte“) meinte – auch heißen: „mit einer ziemlich törichten Passage“, wie der Kommentar (ebd., Bd. 2.2, S. 95) vorschlägt. Gleichgültig aber, ob das Erzählte an sich oder der Ort, an dem es erzählt wird, „töricht“ ist, „sprütze“, so Klotz, die Episode das „göttliche Gedicht“ mit bedeutenden „Flecken“ an, die es „nicht wenig verunstalten und dem Leser Verdruß bereiten“. Vgl. AT Jesus Sirach 21,29: „Ein Narr lachet überlaut, ein Weiser lächelt ein wenig“; lautes Lachen galt im 18. Jahrhundert dem Niedrig-Komischen, worüber „ein Kluger entweder gar nicht lacht, oder sich doch schämt, gelacht zu haben“, wie Gottsched (Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig 1751, S. 654) meinte. „Ein unmäßiges Gelächter kündigt nichts als eine ausschweifende Seele an, die jenseits der Grenzen der Vernunft hinaus getrieben worden. […]
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wechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß“,20 welche die stilistische und moralische Einheit des Werks sprenge. In seiner Kritik der Epistolae Homericae bemängelte Herder, dass Klotz das „Lächerliche“ anstatt des „Häßlichen“ zum „Hauptcharakter“ der Thersites-Szene gemacht habe und „mir bogenlang von einem Possenreißer, von einem unleidlichen Gaukler, von einem beschwerlichen unanständigen Lachenerwecker“ rede, „den ich nicht kenne“.21 Die Forderung nach Einheitlichkeit des ernsten Tons im heroischen Gedicht nannte Herder eine „abenteuerliche Mönchsfeierlichkeit“, damit auf den christlichen Ursprung des ablehnenden Affekts gegenüber dem Lächerlichen deutend.22 Den gleichen Vorwurf aber, unberechtigt das „Lächerliche“ in den Vordergrund gestellt zu haben, machte Herder zuvor schon Lessing.23 Lessing, der in seinen Laokoon (1766) Klotz, einen „Gelehrten, von sonst sehr richtigem und feinem Geschmacke“, wegen seines Wunsches die Stelle zu streichen, angriff,24 rückte in der Tat das Problem des „Lächerlichen“ in den Vordergrund. Homer habe die „äußerste Häßlichkeit in dem Thersites geschildert“,25 meinte Lessing, und versuchte anschließend den antiken Epiker deswegen zu rechtfertigen. Einer „Rechtfertigung“ aber bedürfe es nach Lessing, weil der Gegenstand der Poesie an sich das Schöne sei. Doch indem der Dichter die „widerwärtige Erscheinung körperlicher Unvollkommenheit“ des Hässlichen abschildere, höre es „gleichsam, von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu sein“ auf. Die Wirkung der Schilderung sei nämlich die von dem Dichter hervorgerufene „vermischte Empfindung“, in diesem Fall des „Lächerlichen“. Lessing folgerte daraus: „Homer macht den Thersites häßlich, um ihn lächerlich zu machen“.26 Das eigentlich Lächerliche nunmehr sei der Kontrast zwischen der eingebildeten Wichtigkeit des Thersites mit seiner wahren Nichtigkeit und die relative „Unschädlichkeit“ der Folgen. Dass Thersites seine „hämische Verkleinerung des Agamemnon“ nur „mit ein paar blutigen Schwielen“ bezahlen muss, erlaubte Lessing mitzulachen. Hätte
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Man muß also dem Possenspiel dies lärmende Gelächter überlassen, das sich für den Pöbel schickt“, schrieb Mercier (Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Übers. v. Heinrich Leopold Wagner. Leipzig 1776, S. 88f.) und empfahl das „sanfte, edle, rührende Lächeln“. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 4, S. 550 (Hamburgische Dramaturgie, 68. Stück). Herder: Schriften zur Literatur, Bd. 2.1, S. 199. Ebd., S. 205. Ebd., S. 160f.; Herder polemisierte gegen Klotz schon anlässlich der Besprechung der entsprechenden Passage in Lessings Laokoon (ebd. S. 162–167). Lessing: Werke, Bd. 6, S. 156 (Laokoon, Abschnitt XXIV). Ebd., S. 148. Ebd., S. 148–150. Noch Jean Paul schien Thersites (wie den Irus aus der Odyssee) in erster Linie als „lächerlichen Charakter“ wahrzunehmen, doch zeigt seine Bemerkung von der „niederländischen Schleichware“ in einem Werk der „italienischen Klasse“ zugleich, dass ihm die soziale Komponente des Hässlichen bewusst zu sein schien (vgl. Jean Paul: Sämtliche Werke. 10 Bde. in 2 Abt. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 1996, 1. Abt., Bd. 5, S. 255: Vorschule der Ästhetik, 12. Prgr., § 72).
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Thersites seinen Angriff „mit dem Leben bezahlen müssen“, so würde man „aufhören über ihn zu lachen“ und Thersites würde zum Gegenstand des Mitleids.27 Diese Überlegungen machen indes nicht wirklich einsichtig, warum Thersites unbedingt hässlich sein muss, um lächerlich zu sein. Lessing hatte dieses Problem selbstverständlich auch bemerkt, aber nicht wirklich zu beantworten gewusst. Er kann es auch von seiner Position aus nicht beantworten, weil er auf das Lächerliche hinaus will, das Hässliche aber gegeben ist. Nun galt es schon spätestens seit Gottsched als ausgemacht, dass man über körperliche Gebrechen, für die der damit Behaftete nichts kann, nicht spotten dürfe.28 So versuchte Lessing einen nicht besonders gelungenen Umweg über die Analogie der körperlichen Hässlichkeit zum Charakter des Thersites zu nehmen, um zum Lächerlichen zu kommen.29 Diese Schwachstelle in Lessings Argumentation fiel Johann Gottfried Herder natürlich sofort auf und er scheute sich nicht, sie genüsslich auszustellen, um Lessings Laokoon-Projekt insgesamt zu diskreditieren: Lessing hat Homer durch sein Gewebe von kritischen Regeln selbst verwickelt, und nun will er mit ihm hinaus, wo er kaum durchkommt. […] Mich dünkt, Herr Lessing tue einen Fehlstreich, 27 28
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Lessing: Werke, Bd. 6, S. 150. Gottsched sprach in seiner Dichtkunst noch einmal aus, was er an sich („auch ohne mein Erinnern“) für selbstverständlich hielt: „daß unschuldige natürliche Fehler nicht unter die Satire fallen. Z. E. ein Höckerichter, Lahmer, Einäugigter, u. d. gl. müssen [= dürfen] von keinem rechtschaffenen Poeten, ihrer Gebrechen halber, verspottet werden: es wäre denn, daß sich ein solcher Mensch für einen Adonis hielte, oder an seinem verstümmelten Leibe, durch seine Laster selbst Schuld hätte“ (Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 560). Lachen dürfe man, so Gottsched, nur über eine Unvollkommenheit („Über Vollkommenheiten lachet man wohl nicht“, heißt es in einer Bemerkung Gottscheds zu Adam Daniel Richters Aufsatz „Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne“, der 1741 in den Critischen Beyträgen erschien, vgl. Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1982, S. 329 Anm. 364), die „demjenigen, der [sie] an sich hat, keinen Schmerz verursachet“ (Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 643; Schriften zur Literatur, S. 186), um ausgerechnet das Aussehen Thersites’ als Beispiel anzuführen, freilich vorgebend, dass Aristoteles dies Beispiel anführe, was nicht der Fall ist (vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 9 bzw. 17). Homers Thersites bildet sich nicht ein, ein Adonis zu sein und für sein Aussehen (er ist lahm, bucklig und glatzköpfig) kann er auch nichts, weswegen er nicht wegen seines „Gesichts“ (Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 643), sondern nur wegen seiner Boshaftigkeit „bestrafenswürdig“ ist (ebd., S. 560). Lessing: Werke, Bd. 6, S. 150. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass Lessing die Hässlichkeit an sich auch schon ihren Teil zum Lächerlichen beitragen sieht (ebd.), so wie er etwas später in der Hamburgischen Dramaturgie (28. Stück; Lessing: Werke, Bd. 4, S. 361f.) auch gegen das moralische Verbot, über „Gebrechen“ zu lachen, polemisierte, weil er das Lachen über Ungeschicklichkeiten eines Behinderten noch nicht für ein „Verlachen“ (das er mit „Verachten“ gleichsetzte) hielt. Lessings verständlicher Affekt gegen das Konzept der sächsischen Typenkomödie (ebd., S. 363: „Die Komödie“ solle „durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen“), lässt ihn hier über das Ziel hinaus schießen. Seine Bemerkung, der „wahre allgemeine Nutzen“ der Komödie liege „in dem Lachen selbst“, der ja zunächst noch im Sinn des physiologischen Nutzens, den Kant später dem Lachen zuschreibt, interpretiert werden könnte, wird desavouiert durch die Bemerkung, nützlich sei die „Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken“ (ebd.). Damit aber wird das Lächerliche doch wieder in der Behinderung lokalisiert. Lessings Bemerkung, es ginge schließlich darum, „die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen“ (ebd.) wirkt zynisch.
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um die Verlegenheit zu zerstücken. […] Die Schärfe des Bogens hat nachgelassen: erschlafft liegt er da! Mit einer solchen Zugabe hat Herr Lessing den größten Teil seines Buches widerlegt.30
Herder interpretierte die Thersites-Episode „nach griechischen Begriffen“31 und verstand sie daher erstmals in ihrer wahren Bedeutung. Der „Hauptcharakter Thersites’“ sei „nicht lächerlich, sondern häßlich“, denn „er schmähet die Könige“ zwar, „aber gewiß nicht als Hofnarr, sondern als Feind, als Todfeind“.32 Der entscheidende Punkt sei nämlich, dass Thersites zu einem „kritischen Zeitpunkte als ein Redner im Namen der ganzen griechischen Canaille“ auftrete, „alles abzusagen, was solche Thersites in der griechischen Armee auf ihren Herzen hatten“, kurz: Er sei „die Stimme des Pöbels“ und deswegen hässlich.33 Wenn Homer, so Herders Argumentation, den Thersites hässlich gezeichnet habe, so weil er die Abscheulichkeit der niederen Stände in ein Bild bringen wollte; wenn zum Schluss Thersites noch lächerlich gemacht würde, so nur deshalb, weil Homer noch einen weiteren „verkleinernden Zug“ in die Episode bringen wollte.34 Wenn König Odysseus den Thersites „en canaille“ (wie es sich für Gesindel gehöre)35 behandle und, „statt ihn als Kronverbrecher zu töten, ihn nur gelinder“ strafe, so doch nur um ihn noch verächtlicher zu machen. „Der Mund des griechischen Pöbels“ ist es nicht einmal wert, im Sinne des Gesetzes, das bekanntlich für das crimen maiestatis laesae die Todesstrafe vorsah, wirklich ernst genommen zu werden.36 Herder also betonte den Klassen- oder Ständekonflikt, wo Lessing ihn entweder ignorierte oder nicht einmal wahrnahm.37 Dass Lessing den Konflikt wirklich nicht wahrnahm, scheint mir indes zweifelhaft. Er selbst sprach immerhin von der Möglichkeit, dass „die Verhetzungen des Thersites“ erfolgreich gewesen sein könnten, die „Meuterei“ stattfinden und „das aufrührerische Volk“ seine „Heerführer verrä30 31 32 33 34
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Herder: Schriften zur Literatur, Bd. 2.1, S. 157f. Ebd., S. 159 und öfter. Ebd., S. 158. Ebd., S. 165. Seit der Antike spricht man davon, dass Unglück und Elend lächerlich machen, vgl. Juvenal: „nil habet paupertas durius in se / quam quod ridiculos homines facit“ (Saturae 3, 152f.; Römische Satiren. Übers. v. Christoph Martin Wieland u.a. Hg. v. Werner Krenkel. 3. Aufl. Berlin 1984, S. 345); 1742 zitierte Holberg diese Verse in seiner Autobiografie (Nachricht von meinem Leben in drei Briefen an einen vornehmen Herrn. München 1982, S. 21), 1786 paraphrasierte Karl Philipp Moritz die Stelle (Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Hg. v. ErnstPeter Wieckenberg. 2., durchges. Aufl. München 1997, S. 129): „Traurig ist das Los der Armut, weil sie die Unglücklichen lächerlich macht“. Herder: Schriften zur Literatur, Bd. 2.1, S. 159. Ebd., S. 166. So argumentierten Günter und Ingrid Oesterle: ,Gegenfüßler des Ideals‘ – Prozeßgestalt der Kunst – ,Mémoire processive‘ der Geschichte. Zur ästhetischen Fragwürdigkeit von Karikatur seit dem 18. Jahrhundert. In: „Nervöse Auffassungsorgane des inneren und äusseren Lebens“. Karikaturen. Hg. v. Klaus Herding u. Gunter Otto. Gießen 1980, S. 87–130, hier S. 103: „Lessings klassizistisches Dogma verhindert die Wahrnehmung sozialer Gegensätze ebenso wie die Existenz von Häßlichem in den Werken der Alten.“
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terisch“ zurücklassend „wirklich zu Schiffe“ hätte gehen können. Das wäre schlechthin „schrecklich“ gewesen, meinte Lessing, ohne indes diese Variante ernsthaft zu bedenken.38 Das Schreckliche wäre für ihn dann der Darstellung des Hässlichen im Thersites entsprungen, nicht aber dem dargestellten Vorgang selbst. Indem Lessing also die Diskussion stets in die Bahnen der Ästhetik zu lenken versuchte, abstrahierte er bewusst von der politischen Parteinahme Homers, die Herder herausstellte. Das klassizistische Dogma, das den Dichter als unparteiischen Sachwalter einer überhistorischen und überindividuellen Humanität betrachtete, brachte Lessing dazu, den dargestellten sozialen Gegensatz nicht diskutieren zu wollen. In ähnlicher Manier wollte Lessing alle „Dinge“, die uns nicht „an den Gedanken gewöhnen“, dass sich in „dem Ganzen des ewigen Schöpfers“ „alles zum Besten auflöse“, aus der Dichtkunst verbannt wissen; „wenn wir“, so schrieb er in der Hamburgischen Dramaturgie, „Vertrauen und fröhlichen Mut behalten sollen“, so sei „es höchst nötig, daß wir an“ all „die verwirrenden“ Dinge, die unser Vertrauen in die gerechte Weltordnung erschüttern könnten, „so wenig, als möglich, erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!“39 Zu diesen Dingen scheint für Lessing auch das in der Revolte selbstständig handelnde Volk gehört zu haben. Bei den Stürmern und Drängern änderte sich das Verhältnis zu diesen Dingen gründlich. Sie waren bereit, das Volk als Bezugsgröße für „die Bildung eines neuen geistigen Lebens“ (wie sich Büchner ausdrückte)40 zu akzeptieren und gelegentlich auch das Volk als politisches Subjekt ernst zu nehmen. Wie unterschiedlich weit man dabei gehen konnte, zeigen die Beispiele Schillers und Goethes. Zugleich waren die Jahrzehnte der sogenannten Sturm und Drang-Bewegung aber auch diejenigen, in denen der zu keinem Zeitpunkt scharf umrissene Kollektivbegriff ‚Volk‘ anfing, endgültig zu zerfallen. Ohne dass seine synthetisierende Kraft jemals gänzlich aufgegeben worden wäre, wird zunehmend differenziert und von Staatsvolk, Nation, Menge, Masse, Proletariat, Pöbel und so weiter gesprochen. Besonders unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der nachnapoleonischen Restauration verlor das Wort „Volk“ im Deutschen allmählich 38
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Lessing: Werke, Bd. 6, S. 151. Allein die Möglichkeit, dass es Thersites hätte gelingen können „Unheil“ zu stiften, wäre geeignet, Lessings Konstruktion der Lächerlichkeit Thersites’, für die „Unschädlichkeit“ (vgl. Aristoteles: Poetik, S. 35: Kap. 5, 1449a) unabdingbare Voraussetzung ist (Lessing: Werke, Bd. 6, S. 150), zu gefährden. Bezeichnenderweise sprach Lessing in seinem Brief an Klotz (9. Juni 1766), der Thersites ja auch hauptsächlich als lächerliche Figur verstand, dann aber doch von dem „häßlichen Thersites“, der unter ihnen „eben so wenig Unheil stiften“ solle, „als es ihm vor Troja zu stiften gelang“ (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2001, Bd. 11.1, S. 449). Der Unruhestifter fügt sich letztlich nicht der verharmlosenden Interpretation als lächerliche Figur, sondern wird hässlich, d.h. zum Auslöser der Fehde zwischen Klotz und Lessing (vgl. Briefe antiquarischen Inhalts, [2. Theil,] 51. Brief; Lessing: Werke, Bd. 6, S. 373f.). Ebd., Bd. 4, S. 598f. Büchner: Werke und Briefe, S. 320.
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seinen konkreten Sinn und wurde zu einem verfassungsrechtlichen Terminus ohne materielle Verknüpfung mit den Unterschichten des 19. Jahrhunderts.41 Die „kopernikanische Wende in der semantischen Entwicklung des Volksbegriffs“ habe Herder herbeigeführt, meinte Schönemann in seinem begriffsgeschichtlichen Artikel.42 Vor Herder war im 18. Jahrhundert der pejorative Begriff ‚Volk‘ als Kollektivum für soziale Unterschichten weitgehend durchgesetzt. Herder dagegen verstand unter ‚Volk‘ eine ideelle Gemeinschaft, die durch gemeinsame Kultur, Tradition und Sprache definiert ist. Das Volk war ihm nicht mehr eine Gruppe innerhalb oder unterhalb der Nation, sondern die Nation selbst.43 Eine Untersuchung der unterschichtlichen dramatis figura ‚Volk‘ im frühneuzeitlichen Drama kommt daher zu diesem Zeitpunkt an ihr natürliches Ende. Nach der Französischen Revolution begann auch in der Literatur für das ‚Volk‘ eine neue Epoche.
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„In ebendem Maße […], in dem der Volksbegriff aufgewertet wurde, verlor er nicht nur seine pejorative Einfärbung, sondern auch seine Tauglichkeit als Sozialbegriff überhaupt. Im politisch-sozialen Sprachgebrauch war damit durch semantische Verschiebung eine Art lexikalischer Leerstelle entstanden – eine Leerstelle, die später mit dem modernen Massenbegriff besetzt werden sollte“ (Bernd Schönemann: Volk, Nation, Nationalismus, Masse: Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner u.a. Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 281–380, hier S. 337). Ebd., S. 283. Immerhin legte Herder den imaginären Charakter seiner emphatischen Beschwörungen des deutschen Volkes als deutsche Nation offen, wie Hans-Martin Blitz (Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 360) anmerkte. Auch ist es keineswegs so, dass für ihn tatsächlich alle Deutschen zum deutschen Volk gehörten. Zu Herders „Volk“ gehörten nicht der Adel oder der höhere Klerus und auch nicht die sozial Deklassierten, die als Pöbel ausgegrenzt wurden. Wenn er „Volk“ sagte, schien „Herder an städtisches Bürgertum, Handwerker und Bauern zu denken“ (Hans Adler: „Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee“. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. v. Regine Otto. Würzburg 1996, S. 271–284, hier S. 271).
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Literaturverzeichnis
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Serini 1782.
– Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter. Mit einer Vorr. v. Johann Jacob Breitinger. Zürich: Orell 1741 (Reprint Frankfurt a.M.: Athenäum 1971). – Der alte Heinrich von Melchthal im Land Unterwalden, Oder: die ausgetretenen Augen. [Ohne Ort: ohne Verlag] 1775. – Der Haß der Tyranney und nicht der Person, Oder: Sarne durch List eingenommen. [Ohne Ort: ohne Verlag] 1775. – Die Cherusken. Ein politisches Schauspiel. Augsburg: Mauracher 1778. – Die gerechte Zusammenschwörung. [Geschrieben Juli 1762.] ZBZ Ms. Bodmer 26.6; J614. – Die Schweizer über dir Zürich. Ein politisches Trauerspiel. Erster und zweyter Theil. [Geschrieben Oktober 1757; durchgesehen März 1770.] ZBZ Ms. Bodmer 26.1; G445; J614; P30; W341. – Drey neue Trauerspiele. [1. Johanna Gray; 2. Friedrich von Tokenburg; 3. Oedipus.] Zürich: Heidegger 1761. – Geschichte der Stadt Zürich. Für die Real-Schulen. Mit hoher Approbation. Zürich: David Bürgklj 1774. – Gespräche im Elysium und am Acheron (Gesamtausgabe). Im Anhang: Zwei politische Gespräche. Mit einem Nachw. hg. v. Arnd Beise. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2009. – Geßlers Tod, oder: das erlegte Raubthier. [O.O.: ohne Verlag] 1775. – Historische Erzählungen die Denkungsart und die Sitten der Alten zu entdecken. Zürich: Orell, Gessner u. Comp. 1769. – Julius Cäsar, ein Trauerspiel. Hg. v. dem Verfasser der Anmerkungen zum Gebrauche der Kunstrichter [= Johann Gottfried Gellius]. Leipzig: M. G. Weidmanns Erben u. Reich 1763. – Nachricht Von der Beschaffenheit und dem Inhalt des alten Codicis legum, der Richtebriev der Burger von Zürich, betitelt. In: Helvetische Bibliothek, Bestehend In Historischen, Politischen und Critischen Beyträgen Zu den Geschichten Des Schweitzerlands. Zweytes Stück. Zürich: Conrad Orell u. Comp. 1735, S. 5–12. – Odoardo Galotti, Vater der Emilia. Augsburg: J. J. Mauracher 1778. – Persönliche Anekdoten (1777/78). In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1892 N. F. 15 (1892) S. 90–122. – Politische Schauspiele. [Bd. 1:] Marcus Brutus. Tarquinius Superbus. Italus. Timoleon. Pelopidas. Zürich: Orell, Geßner u. Comp. 1768. – Politische Schauspiele. Zweytes Bändgen: Aus den Zeiten der Cäsare. [1. Octavius Cäsar; 2. Nero; 3. Thrasea Pätus.] Lindau [usw.]: Typographische Gesellschaft 1769.
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– Politische Schauspiele. Drittes Bändgen: Von griechischem Innhalt. [1. Die Tegeaten; 2. Die Rettung in den Mauern von Holz; 3. Aristomenes von Messenien.] Lindau [usw.]: Typographische Gesellschaft 1769. – Politisches Trauerspiehl. In: Johann George Sulzer (Hg.): Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 2 Bde. Leipzig: M. G. Weidmanns Erben u. Reich 1771 u. 1774, Bd. 2, S. 914–916. – Rudolf Brun, ein Politisches Trauerspiel. [Geschrieben März/April 1758; durchgesehen Februar 1770 und Dezember 1773.] ZBZ Ms. Bodmer 24.15; H431; J614; P6133; P6189; W341; W355. – Rudolf Schöno, ein Trauerspiel, par tiroirs. [Geschrieben Juli 1761; durchgesehen Dezember 1773.] ZBZ Ms. Bodmer 26.2; W341. – Schriften. Ausgewählt von Fritz Ernst. Frauenfeld: Huber 1938. – Schweizerische Schauspiele. Mit einem Nachw. hg. v. Albert M. Debrunner. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1998. – Wilhelm Tell, oder: der gefährliche Schuß. [O.O.: ohne Verlag] 1775. Boileau-Despréaux, Nicolas: Le Lutrin. L’art poétique. Avec une Notice biographique, une Notice historique et littéraire, des Notes explicatives, des Jugements, un Questionnaire et des Sujets de devoirs par René d’Hermies. Paris: Larousse 1933. Börne, Ludwig: Sämtliche Schriften. 5 Bde. Neu bearbeitet u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Dreieich: Melzer 1977. Botero, Giovanni: Della Ragione di Stato, Libri dieci. Di nuovo, in questa quarta editione dall’istesso autore in alcuni luoghi mutati, & accresciuti di diversi discorsi, & altre cose memorabili […]. Torino: Gio[vanni] Dominico Tarino 1596. Boxhorn, Marcus Zuerius: Historia Universalis sacra et profana, a Christo nato ad annum usque MDCL […]. 2 Bde. Leiden: Peter Leffen 1652. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden (1967). Hg. v. Suhrkamp Verlag in Zus.arb. mit Elisabeth Hauptmann. 7. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Breitinger, Johann Jakob: Unterredung von den Geschichten der Stadt Zürich. Zürich: Bürgkli 1774 (gewöhnlich angebunden an Bodmer: Geschichte der Stadt Zürich). Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hg. v. Wilhelm Körte. Zürich: Geßner 1804. Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. Geschrieben in den Jahren 1759 bis 1763 [recte: 1765]. 24 Theile nebst doppelten Register. Berlin u. Stettin: Friedrich Nicolai [1759–] 1766 (Reprint in 4 Bdn. Hildesheim: Olms 1974). Brüggemann, Fritz (Hg.): Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. (Deutsche Literatur […] in Entwicklungsreihen: Reihe Aufklärung, Bd. 8). Leipzig: Reclam 1934 (Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964). Büchner, Georg: Danton’s Tod. Marburger Ausgabe, Band 3.2. Hg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. – „Lenz“. Marburger Ausgabe, Band 5. Hg. v. Burghard Dedner u. Hubert Gersch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. – Leonce und Lena. Marburger Ausgabe, Band 6. Hg. v. Burghard Dedner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. – Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Pörnbacher u.a. München: Carl Hanser u. Deutscher Taschenbuch Verlag 1988. Klassische Bühnendichtungen der Spanier. Hg. u. erkl. v. Max Krenkel. Bd. 1: Calderon. / Das Leben ist Traum. – Der standhafte Prinz. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1881. Bullinger, Heinrich / Hans Sachs: Lucretia-Dramen. Hg. v. Horst Hartmann. Leipzig: Bibliographisches Institut 1973. Bürger, [Gottfried August]: Sämtliche Werke in vier Bänden. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang von Wurzbach. Leipzig: Max Hesse [1902]. – Gedichte. Hg. v. Ernst Cosentius. Berlin [usw.]: Bong 1914. Burton, Robert: Anatomie der Melancholie (1621). Übers. u. mit einem Nachw. v. Ulrich Horstmann. 3. Aufl. Zürich [usw.]: Artemis 1990. Calderón de la Barca, Pedro: Das Leben ist ein Traum. Schauspiel in drei Akten. Nachdichtung von Eugen Gürster. Stuttgart: Reclam 1955.
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– Dramen. In der Übertragung von Johann Diederich Gries (weltliche Schauspiele) u. Joseph von Eichendorff (geistliche Schauspiele), mit einem Nachw. v. Edmund Schramm. München: Winkler 1963. Calepio, Conte Pietro di: Paragone della Poesia tragica d’Italia con quella di Francia e una difesa con l’apologia di Sofocle. [Hg. v. Johann Jacob Bodmer.] Zürich: Rordorf 1732. Campe, Johann Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Tle. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1807–1811 (Reprint Hildesheim: Olms 1969–1970). Charron, Pierre: Das Liecht der Weißheit, Zu Erforschung deß Ursprungs und wahrer Eigenschafften aller Dinge Den Weg zeigend (französisch zuerst 1601). 3 Bücher in 2 Tln. Ulm: Kühn 1668 bzw. 1669. Chodowiecki, Daniel: Monatskupfer zum Göttinger Taschenkalender mit Erklärungen Georg Christoph Lichtenbergs 1778–1783. Hg. v. Ingrid Sommer. Frankfurt a.M.: Insel ²1977. Colerus, Johannes: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza (1705). In: Baruch Spinoza: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hg. v. Carl Gebhardt. 2. Aufl. Hamburg: Felix Meiner 1977, Bd. 7, S. 53–98. Corneille, P[ierre]: Horatius. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dt. v. Karl Theodor Gaedertz. Leipzig: Reclam [1875]; Nachdruck 1929. – Œuvres complètes. 3 Bde. Textes établis, présentés et annotés par Georges Couton. Paris: Gallimard 1980, 1984 u. 1987. – Polyeucte Martyr. Tragédie chrétienne en cinq actes / Polyeukt der Märtyrer. Christliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dt. v. Albert Benda. Freiburg i.Br.: Herder 1948. – The Chief Plays. Translated into English Blank Verse with an Introductory Study of Corneille by Lacy Lockert. Princeton: Princeton University Press 1952. Cramer, Carl Friedrich: Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) Hamburg: Gottlieb Friedrich Schniebes 1777 (Reprint Bern: Peter Lang 1969). Creizenach, W[ilhelm] (Hg.): Die Schauspiele der englischen Komödianten. Berlin u. Stuttgart: Spemann [1887]. Crueger, Johannes: Bodmer über Goethe. 1773–82. (Aus d. ungedruckten Nachlaß Bodmers auf der Zürcher Stadtbibliothek.). In: Goethe-Jahrbuch 5 (1884) S. 177–216. Damen Conversations Lexikon. 10 Bde. Hg. im Verein mit Gelehrten u. Schriftstellerinnen v. C[arl] Herloßsohn. Leipzig: Fr. Volckmar [später Adorf] 1834–1838. Descartes, René: Ausgewählte Schriften. Übers. v. Arthur Bichenau (Werke) u. Fritz Baumgart (Briefe). Hg. v. Gerd Irrlitz. Leipzig: Reclam 1980. Diderot, Denis: Jacques der Fatalist und sein Herr. Übers. v. Jens Ihwe. Zeittafel v. Robert Steiger. Anm. u. Nachw. v. Hans Hinterhäuser. München: Winkler 1983. – Jacques le fataliste et son maître. Présenté par Jean Dutourd. Paris: Gallimard 1959 bzw. 1966. Die Discourse der Mahlern. [Hg. v. Johann Jacob Bodmer u.a.] Zürich [ohne Verlag] 1721–1723 (Reprint Hildesheim: Olms 1969). Dramen der Shakespearezeit. Hg. u. eingel. v. Robert Weimann. Bremen: Schünemann 1964. Düport dü Tertre, François-Joaquin: Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen, Meutereyen und merkwürdigen Revolutionen. Tl. 3. Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn & Gampert 1765. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823–1832. 2 Bde. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft (C. A. Koch) o.J. Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres. 17 Bde. Hg. v. Denis Diderot u. Jean Le Rond d’Alembert. Paris: Briasson, David, Le Breton, Durand 1751–1765. Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Ausgabe in 8 Bdn. Lateinisch u. deutsch. Hg. v. Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967–1980. Erhard, Johann Benjamin: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hellmut G. Haasis. Frankfurt a.M.: Syndikat 1976. Ernst, Jacob Daniel: Außerlesene Gemüths-Ergetzlichkeiten, Das ist: Funffzig sonderbare Lust und Lehrgespräche, in welchen Von viel und mancherley Historischen, Natürlichen, Ethischen, Politischen, wie auch Theologischen Sachen, von unterschiedlichen Personen erbauliche Unterredung gepflogen […]. Magdeburg: Lüderwald 1682.
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Feind, Barthold: Das verwirrte Haus Jacob, Oder Das Gesicht der bestrafften Rebellion An Stilcke und Lütze. Schau-Spiel. Faksimile-Druck der Ausgabe von 1703. Hg. v. W. Gordon Marigold. Bern [usw.]: Peter Lang 1983. – Deutsche Gedichte. Erster Theil [mehr nicht erschienen]. Stade: Hinrich Brummer 1708 (Reprint hg. v. W. Gordon Marigold. Bern [usw.]: Peter Lang 1989). – Masagniello Furioso. Drama Musicale / Die Neapolitanische Fischer-Empörung. Musicalisches Schauspiel. Auf dem grossen Hamburgischen Theatro vorgestellet. Im Jahr 1706. Reprint in: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. 3 Bde. Hg. v. Reinhart Meyer. München: Kraus Reprint 1980, Bd. 2, S. 191–254. Fénélon, François de Salignac de la Mothe: Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca, Oder Der seinen Vater Ulysses suchende Telemach. Aus d. Franz. des Herrn von Fenelon, in deutsche Verse gebracht, mit den darzu gehörigen Anmerkungen erläut. v. Benjamin Neukirch (1727). Erster Theil. 3., verbesserte Aufl. Nürnberg: Endter u. Engelbrecht 1751. Feuerbach, Paul Johann Anselm: Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht. Landshut: Philipp Krüll 1813 (Reprint Leipzig: Zentralantiquariat 1970). Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahre 1772. Hg. v. Bernhard Seuffert. Mit einer Vorr. v. Wilhelm Scherer. Heilbronn: Henninger 1882–1883 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. Jahrhunderts, Bd. 7 u. 8). Friedrich II. von Preußen [gen. „der Große“]. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben nach seinen Schriften, seinem Briefwechsel und den Berichten seiner Zeitgenossen. 2 Bde. Hg. v. Franz Eyssenhardt (1886). 2. Aufl., neubearb. u. erg. v. Georg Winter. Leipzig: Grunow 1910 (Reprint Braunschweig: Archiv-Verlag 1999). – Poetische Seitensprünge. Gedichte. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Wolfgang Widdel. Mit Ill. v. Franz Zauleck. [Übers. v. versch. Dichtern d. 19. Jh.s.] Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt [um 1987]. – Schriften und Briefe. Übers. v. Herbert Kühn. Hg. v. Ingrid Mittenzwei. Anm. u. Register v. Joachim Kundler. Leipzig: Reclam 1985 bzw. Frankfurt a.M.: Röderberg 1986. Frischlin, Nicodemus: Ivlivs Redivivvs. Comoedia. In der Übersetzung von Jacob Frischlin. Hg. v. Richard E. Schade. Stuttgart: Reclam 1983. Gazzotti, Pietro: Historia delle guerre d’Europa arrivate dall’anno 1643 sino al 1680. 2 Bde. Venezia: Pezzana 1681. George, David E. R.: Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. München: C. H. Beck 1972. Giannone, Pietro: Bürgerliche Geschichte des Königreichs Neapel. 4 Bde. Übers. v. O(tto) Ch(ristian) von Lohenschiold mit Anmerkungen [Bd. 3–4: von Johann Friedrich Le Bret]. Leipzig: Hartknoch 1758–1770. Giraffi, Alessandro: Le Rivolutioni di Napoli. [Napoli: o.V.] 1647; Padova: Sarti 1648. Goertz, Hans-Jürgen (Hg.): Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. München: C. H. Beck 1984. Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. [Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775.] In zwei Bänden u. einer CD-ROM hg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Frankfurt a.M.: Insel 1998. [Goethe, Johann Wolfgang:] Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. [Frankfurt a.M. u. Darmstadt: Selbstverlag] 1773 (Faksimile der Erstausgabe in: Hans Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig: Zentralantiquariat 1988, S. 1–206). – Das Römische Carneval. Weimar u. Gotha: C. W. Ettinger 1789 (Reprint Dortmund: Harenberg 1978). – Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.a. 21 in 26 Bdn. München: Carl Hanser 1985–1998. – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [Frankfurter Ausgabe.] 40 Bde. in 2 Abteilungen. Hg. v. Friedmar Apel u.a. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985– 1999. – Schriften zur Literatur. Einführung u. Textüberwachung von Fritz Strich. Zürich: Artemis / München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977 (= Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 14).
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– Werke. [Weimarer Ausgabe.] 143 Bde. in vier Abtheilungen. Hg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Böhlau 1887–1919 (Reprint München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987). – Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München: C. H. Beck 1981. Goethes Gespräche. 10 Bde. Hg. v. Woldemar Freiherr von Biedermann. Leipzig: Biedermann 1889–1896. Gottfried, Johann Ludwig: Historische Chronica, Oder Beschreibung der Fuernemsten Geschichten, so sich von Anfang der Welt, biß auff vnsere Zeiten zugetragen: Nach Aufftheilung der vier Monarchien, vnd beygefuegter Jahrrechnung, auffs fleissigste in Ordnung gebracht, vnd in Acht Theil abgetheilet; Mit viel schoenen Contrafakturen, vnd Geschichtmaessigen Kupfferstücken, zur Lust vnd Anweisung der Historie, gezieret. Frankfurt a.M.: Matthäus Merian 1642. Gottsched, Johann Christoph: Akademische Vorlesung […] uber die Frage: Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse? 1751, den 8 May, auf der Paulinerbibliothek gehalten. Leipzig: Joh. Gottlob Imman. Breitkopf [1751]. Auch in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Hg. v. Johann Christoph Gottsched. Bd. 1, Leipzig: Breitkopf 1751, S. 391–405 u. 486–496. – Ausgewählte Werke. Hg. v. Joachim Birke [Bd. 1–4 u. 6.1–6.3] bzw. P[hillip] M. Mitchell. 12 in 24 Bdn. Berlin [usw.]: Walter de Gruyter 1968–1987. – Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart: Reclam 1982. – Sterbender Cato. Im Anhang: Auszüge aus der zeitgenössischen Diskussion über Gottscheds Drama. Hg. v. Horst Steinmetz. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam 1984. – Sterbender Cato. Nach der ältesten Ausgabe von 1732 hg. u. eingel. v. Otto F. Lachmann. Leipzig: Reclam [1887]. – Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig: Breitkopf 1751 (Reprint Damstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962). Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Panthea. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Die Deutsche Schaubühne […]. Fünfter Theil, […] ans Licht gestellet von Joh[ann] Christoph Gottscheden. Leipzig: Breitkopf 1744 (Reprint hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart: J. B. Metzler 1972), S. 1–66. Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen, Zugenannt mit der Eisern Hand, Eines zu Zeiten Kaysers Maximiliani I. und Caroli V. kühnen und tapfern Reichs-Cavaliers, Worinnen derselbe 1.) alle seine von Jugend auf gehabte Fehden, und im Krieg ausgeübte ThatHandlungen, 2.) seine in dem Bauern-Krieg A[nno] 1525. wiederwillig geleistete Dienste, und dann 3.) einige andere, ausserhalb dem Krieg und denen Fehden, gethane Ritter-Dienste aufrichtig erzehlet, und dabey seine erlebte Fatalitäten mit anführet. Mit verschiedenen Anmerckungen erläutert, und Mit einem vollständigen Indice versehen, zum Druck befördert, von Verono Franck von Steigerwald. Nürnberg: Adam Jonathan Felßecker 1731 (Reprint Hildesheim u. New York: Georg Olms 1977). Gracián, Baltasar: Criticón oder Über die allgemeinen Laster des Menschen. Übers. v. Hanns Studniczka. Mit einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ u. einer Bibliogr. v. Hugo Friedrich. Hamburg: Rowohlt 1957. – Das Kritikon. Übers. u. komment. v. Hartmut Köhler. Nachw. v. Hans-Rüdiger Schwab. Zürich: Ammann 2001. Gryphius, Andreas: Dramen. Hg. v. Eberhard Mannack. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991. Hagedorn, Friedrich von: Poetische Werke. Hg. v. Johann Joachim Eschenburg. Fünfter Theil: Auszüge des von Hagedornischen Briefwechsels. Hamburg: Carl Ernst Bohn 1800. [Haller, Albrecht von:] Usong. Eine morgenländische Geschichte, in vier Büchern. Durch den Verfasser des Versuches Schweizerischer Gedichte. Bern: Verlag der neuen Buchhandlung 1771. Happel, Eberhard Werner: Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannte Relationes Curiosae [Auswahl aus Bd. 1–5; zuerst Hamburg: Wiering 1683–1691]. Hg. v. Jürgen Westphal u. Uwe Hübner. Berlin: Rütten & Loening 1990.
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Harsdörffer, Georg Philipp: Poetischen Trichters zweyter Theil […]. Nürnberg: Wolffgang Endters 1648 (Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969). Hauptmann, Gerhart: Sämtliche Werke. (Centenar-Ausgabe.) Hg. v. Hans-Egon Hass. Bd. VI: Erzählungen. Theoretische Prosa. Frankfurt a.M. u. Berlin: Propyläen Verlag 1963. Hebbel, Friedrich: Werke. 5 Bde. Hg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. München: Carl Hanser 1963–1967. Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexicon […]. Neu hg. v. Johann Joachim Schwab. Leipzig: Gleditsch 1770 (Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. 2 Bde. Hg. v. Friedrich Bassenge. 3. Aufl. Berlin u. Weimar: Aufbau 1976. – Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969–1979. Herder, Johann Gottfried: Schriften zur Literatur. Bd. 2: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen (1769). Hg. v. Regine Otto. Berlin u. Weimar: Aufbau 1990. – Werke in zehn Bänden; Bd. 3: Volkslieder / Übertragungen / Dichtungen. Hg. v. Ulrich Gaier; Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher; Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Hg. v. Martin Bollacher; Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, 1994, 1989 u. 1991. Hobbes, Thomas: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und vom Bürger. Deutsch hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig: Felix Meiner 1918. – Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller. Bd. 3: Dramen III. 1893–1927; Bd. 7: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1979. William Hogarth 1697–1764. Das vollständige graphische Werk. Redaktion: Berthold Hinz u. Hartmut Krug. 2. Aufl. Gießen: Anabas 1986. William Hogarth. Der Kupferstich als moralische Schaubühne. Katalog: Karl Arndt; Mitarbeit: Ruth Wurster. Hg. v. Herwig Guratzsch. Stuttgart: Gerd Hatje 1987. Holbach, Paul Thiry de: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Übers. v. Fritz-Georg Voigt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. Holberg, Ludvig: Nachricht von meinem Leben in drei Briefen an einen vornehmen Herrn (1742– 1743). Leipzig: Dieterich bzw. München: C. H. Beck 1982. Homer: Ilias / Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Nach dem Text der Erstausgaben (Ilias Hamburg 1793, Odyssee Hamburg 1781), mit einem Nachw. v. Wolf Hartmut Friedrich. München: Winkler 1963. Horatius Flaccus, Quintus: Sämtliche Werke. Lateinisch/Deutsch. 2 Bde. Hg. v. Hans Färber u. Wilhelm Schöne. 8. Aufl. München [usw.]: Heimeran 1979. Hoyers, Anna Ovena: Geistliche und Weltliche Poemata. Amsteldam: Bey Ludwig Elzevieren 1650. Hrotsvitha von Gandersheim: Dulcitius. Abraham. Zwei Dramen. Übers. u. hg. v. Karl Langosch. Stuttgart: Reclam 1964 (Nachdruck 1993). Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 2., durchges. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. [Übers. u.] hg. v. Raoul Richter. 6. Aufl. Leipzig: Dürr’sche Buchhandlung 1907. Huyssen, Heinrich von: Curieuse und vollständige Reiß-Beschreibung Von gantz Italien, worinnen der gegenwärtige Zustand nicht allein des Päpstlichen Hofs, sondern auch anderer Höfen, Republiquen und Städten in Italien beschrieben, und was in denselben merckwürdiges zu sehen, in einer angenehmen Correspondentz von einer berühmten Feder vorgestellet wird. Freyburg [d.i. Leipzig]: Joh. Georg Wahrmund 1701.
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Huyssen, Hendrik van: Tegenwoordigen toestand van het Panselyke Hof nevens alle andere Hoven, Republyken En Vorrnamste Steden van Italien, In verscheide Missives beschreven, door seecker naeukeurigh Reysiger, welcke sigh in de jaren 1690. 1691. 1692. daer heft bevonden. Utrecht: Anthony Schouten 1696 bzw. Leyden: Frederik Haring 1697. Jaucourt, Louis de: Sklaverei (Encyclopédie, Bd. 5, 1755); Sklavenhandel (Encyclopédie, Bd. 16, 1765). In: Artikel aus der […] Enzyklopädie, S. 426–431 u. 766–768. Jean Paul: Sämtliche Werke. 10 Bde. in 2 Abteilungen. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1996. Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze (1760). 2. Aufl. hg. v. Heinrich Gottfried Scheidemantel. Mitau: Steidel 1771 (Reprint Aalen: Scientia 1969). Kant, Immanuel: Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Neu hg. u. komment. v. Marie Rischmüller. Hamburg: Felix Meiner 1991 (KantForschungen, Bd. 3). – Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Gerhard Lehmann. Stuttgart: Reclam 1963 (Nachdruck 1986). – Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Keiser, Reinhard / Barthold Feind: Masaniello oder Die neapolitianische Fischer-Empörung. Bühnenfassung: Johanna Rudolph. Musikalische Einrichtung: Horst Richter. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1967. Keller, J. (Hg.): Die Schlosser-Lavater’sche Korrespondenz aus den Jahren 1771 und 1772. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1893. N. F. 16. Jg. (103. Jg. der Gesamtauflage.) Zürich: Höhr & Fäsi 1893, S. 1–74. Klinger, Friedrich Maximilian: Das leidende Weib. Ein Trauerspiel. Leipzig: Weygand 1775. / Die neue Arria. Ein Schauspiel. Berlin: August Mylius 1776. Beide wieder in: Sturm und Drang. Dramatische Schriften. Plan u. Auswahl von Erich Loewenthal u. Lambert Schneider. 3. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider 1972, Bd. 2, S. 9–64 bzw. S. 125–202. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. 4. Bd. Carlsruhe: Christian Gottlieb Schmieder 1775. – Oden und Epigramme. Leipzig: Reclam [1893]. Klotz, Christian Adolf: Epistolae Homericae. Altenburg: Richter 1764. Kluckhohn, Paul (Hg.): Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Berlin: Junker u. Dünnhaupt 1934. Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen. Hg. v. Gert Ueding. [„(B)ehutsam dem modernen Gebrauch angepaßt(er)“ „Text der dritten Aufl. (Hannover 1790)“.] Frankfurt a.M.: Insel 1977; 8. Aufl. 1987. – Ausgewählte Werke in zehn Bänden. Im Auftr. der Adolph-Freiherr-von-Knigge-Gesellschaft zu Hannover hg. v. Wolfgang Fenner. Hannover: Fackelträger Verlag 1991–1996. La Boétie, Etienne de: Von der freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitw. v. Neithard Bulst übers. u. hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1980. La Fontaine, Jean de: Die Fabeln. Gesamtausgabe. Übers. v. Rolf Mayer. Düsseldorf: Diederichs 1964. Lange, Samuel Gottlob: Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime. Halle: Carl Hermann Hemmerde 1747. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodicee. Übers. v. J[ulius] H[ermann] von Kirchmann. Leipzig: Dürr 1879. – Politische Schriften. 2 Bde. Hg. u. eingel. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt bzw. Wien: Europa Verlag 1966–1967. Lemprière’s Classical Dictionary. [Reprint der „revised version (…) of 1850“.] London: Bracken Books 1994. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1774 (Reprint hg. v. Christoph Weiß. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2001). – Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel 1992. Lesage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Übers. v. Konrad Thorer (1941). 18.–27. Tsd. Leipzig: Insel 1958. Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. Hg. v. Ion Contiades. Frankfurt a.M.: Insel 1968.
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– Thyestes. Edited with Introduction and Commentary by Richard John Tarrant. Atlanta: Scholars Press 1985. Shakespeare, William: Complete Works. English and German. Hg. v. Mathias Bertram u. Mark Lehmstedt. Berlin: Directmedia 2002. – Julius Cäsar, ein Trauerspiel. Übers. v. Christoph Martin Wieland. Zürich: Haffmans Verlag 1993 (= Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übers. v. Wieland. Hg. v. Hans u. Johanna Radspieler, Bd. 9). Sieyes, Emmanuel-Joseph: Qu’est-ce que le Tiers Etat? Édition critique avec une introduction et des notes par Roberto Zapperi. Genf: Droz 1970. Siri, Vittorio: Il Mercurio overo Historia de’ correnti tempi […]. Bd. 10. Casale: Giorgio del Monte 1668. Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übers. u. hg. v. Horst Claus Recktenwald. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996. Sophokles: Dramen. Griechisch u. deutsch. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. einem Nachw. v. Bernhard Zimmermann. 2. Aufl. München: Artemis 1985. Spinoza, Baruch: Theologisch-politisches Traktat. Übers. u. hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg: Felix Meiner 1955. Steinmetz, Horst (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Frankfurt a.M. u. Bonn: Athenäum 1969. Stieve, Gottfried: Europäisches Hoff-Ceremoniel, worinnen Nachricht gegeben wird, was für eine Beschaffenheit es habe mit der Prærogativ, und dem daraus fliessenden Ceremoniel, welches zwischen Kayser und Königl. Majestäten, Churfürsten, Cardinälen und freyen Republiquen, dero Gesandten und Abgesandten beobachtet wird […]. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1715. Stumpf, Johannes: Schweizer Chronik. Zürich: Christoph Froschauer 1554. Sulzer, Johann George: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 2 Bde. Leipzig: M. G. Weidmanns Erben u. Reich 1771 u. 1774. Szarota, Elida Maria: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition. Texte u. Kommentare. 4 in 7 Bdn. München: Wilhelm Fink 1979–1987. Telldramen des 18. Jahrhunderts (Samuel Henzi: Grisler ou l’ambition punie. Hg. v. Manfred Gsteiger / Johann Ludwig Am Bühl: Wilhelm Tell. Hg. v. Peter Utz). Bern u. Stuttgart: Paul Haupt 1985. Theater und Aufklärung. Dokumentation zur Ästhetik des französischen Theaters im 18. Jahrhundert. Hg. v. Renate Petermann u. Peter-Volker Springborn. Mit einer Einl. v. Martin Fontius. Berlin: Henschel 1979. Tocqueville, Alexis de: Der alte Staat und die Revolution. Übers. v. Franz. v. Theodor Oelckers, durchges. v. Rüdiger Volhard. Mit einem Nachw. u. Anm. hg. v. Jacob P. Mayer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. Toussaint LeMoyne Des Essart, Nicolas: Dictionnaire universel de police contenant l’origine et les progrès de cette partie importante de l’administration civile en France […]. 8 Bde. [abgebrochen mit dem Bd. „Pau–Pol“]. Paris: Moutard 1786–90. Vergil[ius] Maro, Publius: Sämtliche Werke. Hirtengedichte ǜ Landbau ǜ Katalepton ǜ Aeneis. Hg. u. übers. v. Johannes u. Maria Götte. München: Heimeran 1972. Voltaire: Geschichte (zuerst in: Encyclopédie, Bd. 8, 1765). In: Artikel aus der […] Enzyklopädie, S. 527–529. – Korrespondenz aus den Jahren 1749 bis 1760. Übers. v. Bernhard Henschel. Hg. v. Rudolf Noack. Frankfurt a.M.: Röderberg 1978. Weise, Christian: Compendium Politicum, Brevibus Capitibus sic adornatum, Ut Nobiliorum Parentum Filii Jam in Gymnasiis tum ad Latinam in differendo Extemporalitatem, tum ad Academica Studia præparari possint. Zittau: Hartmann 1682. – Die drey ärgsten Ertz-Narren In der gantzen Welt (1673). Hg. v. W. Braune. Halle a.S.: Max Niemeyer 1878. – Masaniello. Trauerspiel (1683). Hg. v. Robert Petsch. Halle a.S.: Max Niemeyer 1907. – Masaniello. Trauerspiel. Hg. v. Fritz Martini. Stuttgart: Reclam 1972.
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– Politische Fragen, Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica, Welcher Gestalt Vornehme und wolgezogene Jugend hierinne Einen Grund legen, So dann aus den heutigen Republiqven gute Exempel erkennen, Endlich auch in practicablen Stats-Regeln den Anfang treffen soll, Nebst einer ausführlichen Vorrede und einem zulänglichen Register. [2. Aufl.] Dresden: Johann Christoph Mieth 1698. – Politischer Redner. (Reprint der Ausgabe von 1681.) Kronberg i.Ts.: Scriptor 1974. – Sämtliche Werke. 25 Bde. Hg. v. John D. Lindberg (bis 1988) bzw. Hans-Gert Roloff (ab 1991). Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1971 ff. – Trauer-Spiel von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello und andere Dichtungen. Hg., mit Nachw. u. Erläut. v. Klaus Schaefer. Leipzig: Reclam 1986. Wieland, C[hristoph] M[artin]: Geschichte des Agathon. Unveränderter Abdruck der Editio princeps (1767). Bearb. v. Klaus Schaefer. Berlin: Akademie Verlag 1961. – Sämmtliche Werke. [Sog. „wohlfeile“ Ausgabe letzter Hand.] 39 Bde. u. 6 Supplement-Bde. Leipzig: Göschen 1794–1811 (Reprint Hamburg: Stiftung zur Förderung von Wissenschaft u. Kultur 1984). – Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans u. Johanna Radspieler. Nördlingen: Greno 1988. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Philosophische Untersuchungen. Hg. v. Peter Philipp. Leipzig: Reclam 1990. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. 5. Aufl. Frankfurt a.M. [usw.]: Renger 1740. ZBZ = Archivalie in der Zentralbibliothek Zürich, mit Angabe der Signatur. Zedler = Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 64 Bde. u. 4 SupplementBde. Leipzig u. Halle: Johann Heinrich Zedler 1732–1754. Zelter, Karl Friedrich / Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel. Eine Auswahl. Hg. v. HansGünter Ottenberg. Leipzig: Reclam 1987. Zigler und Kliphausen, Heinrich Anselm von: Historisches Labyrinth der Zeit Darinnen die denckwürdigsten Welt-Händel, Absonderlich aber die richtigsten Lebens-Beschreibungen aller ietzt lebenden und verstorbenen Könige in Europa und theils Asia, samt der Groß-Meister des Deutschen Ordens in Preußen und der Heer-Meister in Lieffland, etc., Nebst behörigen Marginalien und einem Dreyfachen vollständigen Register, Mit sonderbahrer Anmuth verwickelt und in ungezwungener Ordnung wiederum auffgelöset werden. Leipzig: Gleditsch 1701. – Täglicher Schau-Platz der Zeit, Auf welchem sich ein iedweder Tag durch das gantze Jahr mit seinen merckwürdigsten Begebenheiten, so sich vom Anfange der Welt, biß auf diese ietzige Zeiten, an demselben zugetragen, vorstellig machet (1695). 3. Aufl. Leipzig: Gleditsch 1728. Zimmermann, Johann Georg: Vom Nationalstolz. Über die Herkunft der Vorurteile gegenüber anderen Menschen und anderen Völkern. Nach der Ausgabe Zürich 1768. Hg. u. gekürzt von Giovanni Blumer u. Alfred Messerli. Zürich: Tanner + Staehelin 1980.
2. Neuere Darstellungen Adler, Hans: Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. v. Regine Otto. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 271–284. Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. Hg. v. der Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Leipzig: Duncker & Humblot 1875–1912. Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen u. Basel: Francke 1994.
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Personenregister
Abbt, Thomas 19, 157, 242, 332 Adelung, Johann Christoph 19, 35, 357 Adler, Hans 407 Adorno, Theodor W. 155, 316, 335 Aesopus Latinus 58 Agis IV. Sparta 185, 198 Aischylos 27, 31, 221 Aisopos 41f., 137–139 Alba, Fernando Álvarez de Toledo de 125 Aleman, Mateo 168f. Alembert, Jean Le Rond de 250 Am Bühl, Ludwig 299 Amos (Prophet) 167 Aniello, Tommaso (Masaniello) 125, 127, 168, 172, 175, 244, 249 Antal, Frederick 388 Anwyl, Fritz Jakob von 267 Appianos (Alexandreus) 89, 246 Aristides (der Gerechte) 308 Aristoteles 1–4, 8, 31, 43f., 90, 124, 126, 182–184, 187f., 203, 404, 406 Arminius (Hermann) 260 Arnold von Brescia 295f. Arnold, Gottfried 6 Arntzen, Helmut 186 Asendorf, Manfred 348 Attalos II. Philadelphos 91 Attalos III. Philometor 91 Auber, Daniel-François-Esprit 346 Aubignac, François-Hédelin de 90 Auerbach, Erich 96, 98f. August III. Polen 367 August von Sachsen 6 Augustus; Caius Octavi(an)us 79, 313, 335 Avianus 137 Ayrer, Jakob 119 Babrios 137
Baechtold, Jakob 32 Bahr, Erhard 336 Balet, Leo 333 Ball, John 67, 187 Balzac, Honoré de 131 Barner, Winfried 125, 130, 241, 255 Barudio, Günter 125, 153 Baßler, Moritz 26 Batley, Edward M. 338 Battafarano, Italo Michele 127, 168 Bauer, Leonhard 369 Baumann, Reinhard 269 Bayle, Pierre 196 Beauvoir, Simone de 333 Becher, Johann Joachim 143, 153 Becker-Cantarino, Barbara 169 Béhar, Pierre 105 Behrmann, Georg 24, 207–220 Beik, William 16 Beise, Arnd 2, 25, 30, 35, 76, 110, 124, 126f., 161, 166, 182, 186, 192f., 206, 224, 234, 265, 271, 277, 292, 302, 310, 313, 347f., 365, 373, 400 Bellegarde, Jean-Baptist Morvan de 138 Bender, Wolfgang 262, 314 Benjamin, Walter 104, 121 Bergethon, Roald K. 237 Berghaus, Günter 119 Berlichingen, Götz von 8, 359, 362, 399 Berns, Jörg Jochen 30 Best, Otto F. 318 Best, Thomas W. 81, 156 Bichel, Ulf 18 Bickert, Vera Brigitte 72 Bidermann, Jakob 130, 147 Bielfeld, Jakob Friedrich von 207, 213 Bierbrauer, Peter 36, 49, 163, 166 Bircher, Martin 294 Blackwell, Thomas 306
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Blanckenburg, Friedrich von 224 Blättler, Sidonia 15 Blickle, Peter 16, 146, 154, 158, 164, 179 Blitz, Hans-Martin 19, 190, 407 Blumenthal Lieselotte 325 Boccaccio, Giovanni 32 Böckmann, Paul 385 Bodemann, Eduard 287 Bodin, Jean 46 Bodmer, Johann Jakob 24, 207, 218–224, 226–228, 242, 257–314, 373, 400 Böhme, Hartmut 26 Bohnen, Klaus 228 Boileau-Despréaux, Nicolas 254 Borcherdt, Hans Heinrich 325 Borchmeyer, Dieter 316, 357 Börne, Ludwig 172 Bossuet, Jacques Bénigne 284 Botero, Giovanni 46 Boxberger, Robert 244 Boxhorn, Marcus Zuerius 127, 169 Bradshaw, John 117 Braemer, Edith 381 Braun, Julius 350 Braunbehrens, Volkmar 381, 392 Brecht, Bertolt 20, 22 Bredekamp, Horst 16 Breitinger, Johann Jakob 262f., 292f., 311 Brenner, Peter 112 Breuer, Ingo 13, 14, 144 Brun, Rudolf 277, 280 Brutus, Lucius Iunius 241, 307 Brutus, Marcus Iunius 307, 310, 314, 350 Büchmann, Georg 400 Büchner, Georg 3, 4, 5, 60, 113f., 365, 393, 398, 400, 406 Bürger, Gottfried August 19, 28, 156, 348, 361 Bullinger, Heinrich 32–34 Burger, Harald 81 Burger, Heinz Otto 147 Burke, Peter 27, 29 Burton, Robert 118 Cade, Jack 61, 68 Caemmerer, Christiane 122
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Caesar, Caius Iulius 40, 185, 192, 222, 309 Calderón de la Barca, Pedro 23, 72–80, 88, 95, 120, 124, 132, 172, 178, 340, 400 Calepio, Pietro di 262, 310 Caligula, Caius Caesar 125 Camerarius, Joachim 29 Campe, Johann Heinrich 19, 368 Cardano, Gerolamo 357 Carew, George 141 Carleton, Dudley 141 Catilina, Lucius Sergius 309 Cato, Marcus Porcius 185, 314 Celtes, Conrad 29 Cenni, Enrico 173 Charron, Pierre 16, 46, 49 Chartier, Roger 27 Chassiron, Pierre Mathieu Martin de 242 Cheneval, Francis 286 Chodowiecki, Daniel 254 Christina von Schweden 51 Clairmont, Heinrich 380 Clapmaier, Arnold 133 Cochläus, Johannes 357 Colerus, Johannes 169 Collatinus, Lucius Tarquinius 241 Collot d’Herbois, Jean-Marie 74 Comines, Philippe de 353 Concini, Concino 170 Conrady, Karl Otto 394f. Corneille, Pierre 23, 87–96, 99, 104, 178, 181, 184, 206–212, 224, 234, 400 Cramer, Carl Friedrich 251 Crassus, Marcus Licinus 246 Creizenach, Wilhelm 118f. Croce, Benedetto 173 Cromwell, Oliver 117, 140, 283 Crueger, Johannes 259, 264, 307 Dacier, André 183 Dalberg, Wolfgang Heribert von 330 Dändliker, Karl 280 Dann, Otto 349 Debrunner, Albert M. 222, 259, 264, 299, 306
Dedner, Burghard 188 Delumeau, Jean 49 Descartes, René 230 Diderot, Denis 91, 149f., 372 Dietl, Cora 31 Diodoros (Siculus) 89, 212 Dionysios von Halikarnassos 32 Dippel, Horst 126 Diwald, Hellmut 67, 187, 270 Domitianus, Titus Flavius 43 Dreyer, Johann Matthias 216 Dubos, Jean-Baptiste 90 Ducret, Michel 233 Dülmen, Richard van 50, 135, 146, 349 Dullaert, Jan 118 Dupleix de Clarens, Scipion 89 Duport du Tertre, François Joaquin 326f. Ebert, Klaus 40 Eckermann, Johann Peter 341, 346, 378, 381 Eggert, Walther 121 Egmont, Lamoral de 347, 352 Elizabeth I. England 111 Engel, Johann Jakob 226 Engels, Friedrich 157, 331 Enguerrrand VII. de Coucy 270 Epaminondas 307f. Erasmus von Rotterdam, Desiderius 39– 41, 45 Erhard, Johann Benjamin 355 Ernst, Jacob Daniel 116f., 119f. Euripides 299 Farge, Arlette 16, 20, 21, 50, 174 Feind, Barthold 132, 152, 168, 181, 201, 204, 243f., 393, 400 Fénélon, François de Salignac de La Mothe 144 Fick, Monika 236 Fink, Gonthier-Louis 379, 382 Fischer, Friedrich Christoph Jonathan 353 Fischer-Lichte, Erika 30 Flamininus, Titus Quinctius 90 Flaminius, Caius 90 Florus, Iulius Annaeus 246
Forster, Georg 229 Frank, Ingeborg 72, 79 Franklin, Benjamin 229 Franz, Günther 38 Franzbach, Martin 74 Freinsheim, Johannes 192 Freud, Sigmund 17 Freudenberger, Uriel 302 Freudenthal, Jacob 169 Friedenthal, Richard 394 Friedrich II. Preußen 205f., 250f. Friedrich III. Hl. Röm. Reich 270 Frischlin, Jacob 398 Frischlin, Nicodemus 398f. Fritsch, Matthias J. 282 Füssli, Johann Konrad 233–235 Fuetter, Emanuel 232 Fulda, Ludwig 122 Furetière, Antoine 28 Gail, Anton J. 42 Gazzotti, Pietro 168 Gebhardt, Carl 169 Geertz, Clifford 26 Gellius, Johann Gottfried 311 George, David E.R. 29, 31, 311 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 221, 257–259 Gestrich, Andreas 16, 47 Giannone, Pietro 168 Giraffi, Alessandro 168 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 260 Goertz, Hans-Jürgen 177 Goethe, Johann Wolfgang 2, 8, 10f., 13, 19, 22, 25, 39, 72, 156, 166, 183, 259, 280, 332, 341, 345f., 355–397, 399f., 406 Goeze, Johann Melchior 251–253, 255 Göhring, Martin 28 Goldmann, Lucien 99, 104 Gottfried von Friesland 51 Gottfried, Johann Ludwig 364 Gottsched, Johann Christoph 4, 12, 24, 29, 115, 122, 156, 181–209, 216, 219, 248, 258, 260, 287, 312, 400–402, 404 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 198
439
Graber, Rolf 76, 193 Gracchus, Caius Sempronius 192 Gracchus, Tiberius Sempronius 192, 308 Gracián, Baltasar 47, 49, 80 Graf, Ruedi 23, 183 Graham, Ilse A. 360 Granvella, Antoine Perrenot de 347 Grawe, Christian 326 Gregor, Joseph 72, 75, 79f. Griewank, Karl 162 Grimm, Jacob und Wilhelm 18, 367 Grimm, Jürgen 89 Großmann, Gustav Friedrich 334 Grotius, Hugo 188 Grumbach, Wilhelm von 6 Gryphius, Andreas 87, 118f., 123f., 137f., 140, 181f., 205 Günther, Gerhard 329 Günther, Horst 9 Gundolf, Friedrich 119 Gustav Adolf von Mecklenburg 118 Guterman, Norbert 393 Haasis, Hellmut G. 146 Habermas, Jürgen 253 Habersetzer, Karl-Heinz 119 Hagedorn, Friedrich von 207 Hahn, Karl-Heinz 344 Halbig, Michael 86 Haller, Albrecht von 233f., 355–357 Haller, Gottlieb Emanuel 233f. Hamburger, Käte 333 Hanakdan, Benjamin 216, 237 Hannibal Barkas 90 Hansen, Günther 116, 118f. Happel, Eberhard Werner 167f. Harald I. Dänemark 301 Harsdörffer, Georg Philipp 17, 400 Hartmann, Horst 379 Hattaway, Michael 57 Hauptmann, Gerhart 2 Hazard, Paul 1 Hebbel, Friedrich 2, 10, 11, 29 Hederich, Benjamin 222 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 28, 29, 149–151, 188, 228, 373, 377
440
Heilingsetzer, Georg 154 Heinrich IV. Frankreich 185 Heinse, Wilhelm 222 Heinsius, Daniel 127 Heinze, Johann Michael 242 Heitmüller, Ferdinand 212 Heitner, Robert R. 192, 217, 258 Heitz, Gerhard 146 Helfenstein-Wiesensteig, Ludwig V. 39, 362 Helvétius, Claude Adrien 317 Henning, Hans 373, 376f., 399 Hennings, August 249 Henzi, Samuel 231f., 234f., 244, 249, 281, 299, 305 Herder, Johann Gottfried 19, 150, 169, 278, 330, 348, 358, 372, 379, 402–407 Hess, Adolf 168 Heß, Johann Kaspar 262, 300 Hettner, Hermann 2 Heydebrand, Renate von 186 Hillman, Richard 70 Hillmann, Heinz 239f. Hinderer, Walter 346, 376f. Hinske, Norbert 317 Hirzel, Johann Kaspar 298 Hobbes, Thomas 16, 187f. Hofmann, Michael 315 Hofmannsthal, Hugo von 11, 367 Hogarth, William 388 Holbach, Paul Thiry de 155 Holberg, Ludvig 166, 405 Holenstein, André 149 Hollmer, Heide 198 Holzberg, Niklas 43 Homeros 203, 222, 401f. Hönsch, Ulrike 169 Hoorn, Philippe II. de MontmorencyNivelle de 348 Horatius Flaccus, Quintus 40, 44f., 357 Horkheimer, Max 155, 316, 335 Horn, Arno 155, 180 Hoyers, Anna Ovena 45 Hrotsvit von Gandersheim 30 Huarte de San Juan, Juan 46 Huber, Peter 357
Hubschmid, Hans 279, 287 Humboldt, Wilhelm von 2, 246f. Hume, David 1 Huyssen, Hendrik von 166 Ibel, Rudolf 381 Ibrahim I. Osman. Reich 105 Ignatios Diakonos 137 Illi, Martin 280 Ireton, Henry 117 Jacobi, Friedrich Heinrich 255 Jacobs, Jürgen 201, 203 Jahn, Bernhard 261 Janz, Rolf-Peter 329 Jaucourt, Louis de 187 Jean Paul (Friedrich Richter) 365, 403 Jesus Christus 69, 102f., 283 Jesus Sirach 402 Johannes (Evangelist) 103 Jolliphus, Joris 118 Juderias, Julián 169 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 251f. Justinus, Marcus Iunianus 89 Juvenalis, Decimus Iunius 40, 405 Kaiser, Marianne 113, 121f., 131, 179 Kant, Immanuel 188, 221, 227, 282, 284, 286, 293, 341, 353, 355 Kapp, Friedrich 331 Karl I. England 117–119, 140, 161, 190, 243 Karl II. England 117, 140 Karl VII. Frankreich 270 Karl IX. Frankreich 185 Karl V. Hl. Röm. Reich 173 Karthaus, Ulrich 359 Katharina von Medici 196 Kayser, Wolfgang 380, 394 Keiser, Reinhard 168 Kemp, Wolfgang 103 Kiernan, Victor G. 269 Kirk, Geoffrey Stephen 401 Kleist, Heinrich von 74 Kleomenes III. Sparta 192, 198 Klinger, Friedrich Maximilian 188, 226
Klippel, Diethelm 282 Klopstock, Friedrich Gottlieb 209, 240, 251, 260 Klotz, Christian Adolf 258, 263, 402f., 406 Kluge, Gerhard 318f. Knigge, Adolph von 256 Kocka, Jürgen 392 Kommerell, Max 79 Kormart, Christoph 112 Körner, Christian 350 Koselleck, Reinhart 227 Kossok, Manfred 363 Kraft, Stefan 139, 179 Kramer, Martin Eberhard 120 Krause, Helmut 112 Kremer, Manfred 122, 155 Kroisos von Lydien 198 Krüger, Johann Christian 166 Kühlmann, Wilhelm 84 Kyros II. Persien 198 La Boétie, Etienne de 150, 228 La Roche, Sophie von 356 La Rochefoucauld, François de 95, 113f. Lafontaine, Jean de 138 Lange, Friedrich Albert 315 Lange, Samuel Gottlob 232, 234 Langer, Anke 372, 376 Langosch, Karl 30 Languet, Hubert 6 Lau, Theodor Ludwig 284 Laube, Adolf 363 Lauer, Georg 33 Lauer, Robert A. 76 Lavater, Johann Caspar 332 Le Bossu, René 182 Le Roy Ladurie, Emmanuel 159 Lefèvre, Manfred 392 Leibniz, Gottfried Wilhelm 47, 123, 189, 280, 313 Lemnius, Simon 357 Lemprière, John 91, 212f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 9, 20–22, 228, 357 Leopold IV. Österreich 271
441
Leopold II. Hl. Röm. Reich 5 Lesage, Alain René 136 Lessing, Gotthold Ephraim 6f., 9, 10, 12, 21, 24, 29, 120, 137, 143, 157, 176– 178, 183, 188, 210, 216, 224–257, 308, 313, 332, 355, 357f., 377, 396, 400f., 403–406 Lessing, Karl 120, 244, 255 Lessing, Theodor 124 LeszczyĔski, Józef 180 Leu, Hans Jacob 267 Lichtenberg, Georg Christoph 1, 7, 165, 208, 230, 254, 280, 289 Lichtwer, Magnus Gottfried 205, 209 Lillo, George 225 Lipsius, Justus 46f., 138 Livius, Titus 32, 40, 48, 58, 208, 224, 241f. Locher, Jacob 31, 32 Locke, John 187, 282 Lockert, Lacy 209 Loeb, Ernst 237 Logau, Friedrich von 136 Lohenstein, Daniel Casper von 5, 23, 105–110, 124, 153, 181, 192, 205, 400 Lope de Vega Carpio, Félix 75 Louvet, Jean-Baptist 228 Löwenthal, Leo 393 Lucanus, Marcus Annaeus 312 Lucretius Tricipitinus, Spurius 241 Ludolph, Hiob 17, 132, 144, 166, 168 Ludwig XIII. Frankreich 88, 170 Ludwig XIV. Frankreich 28, 88, 153, 335 Ludwig XV. Frankreich 153 Ludwig XVI. Frankreich 119, 162, 314 Lünig, Johann Christian 48, 154 Lützeler, Paul-Michael 329 Lukas (Evangelist) 37, 69, 102f. Luserke, Matthias 375–377 Luther, Martin 17, 163 Luynes, Charles d’Albert, Herzog von 170 Lyotard, Jean-François 3 Lyttelton, George 249 Machiavelli, Niccolò 47–49, 148, 163, 238 Mailly, Augustin-Joseph de 327
442
Maintenon, Françoise d’Aubigné de 99 Mallet, Edme-François 259 Malory, Thomas 225 Malsch, Wilfried 339 Mandeville, Bernard 114, 128, 143f. Mann Philipps, Margaret 41 Mannack, Eberhard 119, 179 Manzoni, Alessandro 11 Marat, Jean-Paul 150, 252 Marcus Antonius 311 Maria von Medici 170 Marivaux, Pierre Carlet de 28 Markov, Walter 209 Markus (Evangelist) 102 Markwardt, Bruno 182 Marlowe, Christopher 88, 131, 178 Martens, Wolfgang 204, 320 Martialis, Marcus Valerius 42f. Marti-Weissenbach, Karin 233 Martyn, Benjamin 218 Marx, Karl 22, 157, 331 Maria I. Schottland 111 Masen, Jakob 23, 80–87, 130 Matis, Herbert 369 Matt, Peter von 302 Mattenklott, Gert 238 Matthäus (Evangelist) 41, 102 Matussek, Peter 26 Mauritius, Tiberius Flavius 84 Mauthner, Fritz 227 Maximilian I. Hl. Röm. Reich 362 Mayer, Hans 322f. Meier, Albert 207, 213, 217, 221, 237, 257, 261, 263 Meise, Helga 118 Meißner, August Gottlieb 249 Melchinger, Siegfried 70, 87f., 99 Mendelssohn, Moses 247, 249–251, 255– 258, 308, 317 Mentzel, Elisabeth 118 Mercier, Louis-Sébastien 14, 15, 253, 255, 298f., 402f. Merck, Johann Heinrich 356, 373 Merian, Matthaeus 364 Mertz, Peter 329 Merz, Elsbeth 305
Merzhäuser, Andreas 139, 179 Meteren, Emanuel van 390 Meyer, Reinhart 22, 371 Michelet, Jules 101, 352 Michelsen, Peter 328, 380, 382, 388 Millar, John 187 Milton, John 282–284, 286, 288 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti de 150 Mittenzwei, Ingrid 251 Mitternacht, Johann Sebastian 112–114 Molière (Jean-Baptist Poquelin) 254 Montaigne, Michel de 1, 49, 150, 228 Montesquieu, Charles de Secondat de 187, 228 Morhof, Daniel Georg 400 Mörikofer, Johann Caspar 259f., 263, 297f., 299, 307, 311, 313 Moritz, Karl Philipp 334, 405 Mornet, David 50 Moser, Friedrich Carl von 151, 157, 282, 332 Möser, Justus 157, 332, 358, 366f., 369 Mozart, Wolfgang Amadeus 334 Muchembled, Robert 47 Müller, Friedrich (Maler) 396 Müller, Hans-Joachim 76 Müller, Heiner 68 Müller, Klaus-Detlef 343 Müller, Lothar 26 Müller, Monika 61 Müller-Seidel, Walter 346f. Münkler, Herfried 45, 47, 133, 152 Muhammad IV. Osman. Reich 105 Muir, Kenneth 58 Mulsow, Martin 284 Mylius, Christlob 233 Nabis von Sparta 198 Negelein, Paul 143 Nepos, Cornelius 213 Nestle, Wilhelm 58 Neuber, Friederike Caroline 207 Neuhaus, Volker 357–359, 363f., 366f., 371, 376 Neukirch, Benjamin 144
Neumair von Ramsla, Johann Wilhelm 16, 50– 55, 68, 171, 396 Neuser, Adam 357 Neuß, Franz Josef 131 Nichols, John 388 Nicolai, Friedrich 5, 213, 216 Niefanger, Dirk 13, 185, 206, 231f., 238, 368, 398f. Niessen, Stefan 75 Nikomedes II. Bithynien 89 Nikomedes III. Bithynien 91 Nützler, Caspar 43 Oesterle, Günter und Ingrid 405 Olivarez, Gaspar de Guzmán, Conde de 136 Opitz, Martin 9, 14, 15, 29, 140, 181 Ort, Claus-Michael 115 Ovidius Naso, Publius 40 Palm, Hermann 122 Panizza, Oskar 315 Parker, Alexander A. 80 Pascal, Blaise 299 Passe, Crispin de 103 Paulus 187 Percy, Thomas 278 Petsch, Robert 121, 168 Pezzl, Johann 22, 331 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 14, 237 Philipp II. Spanien 340, 349f. Phocas, Flavius 84 Pilatus, Pontius 364 Pirckheimer, Willibald 165 Pistorius, Georg Tobis 359, 362, 364 Platen, August von 11, 312, 314 Platon 44 Plautus, Titus Maccius 40, 357 Plinius Secundus d.Ä., Caius 395 Plutarchos 58, 79, 150, 192, 198, 213, 246, 365 Polybios 89 Pompeius Trogus, Gnaeus 89 Pontanus, Jacobus 29 Popitz, Johannes 141 Porter, Roy 18, 29, 345, 354
443
Prior, Mathew 278 Probst, Christian 146 Prusias I. Bithynien 90f. Prusias II. Bithynien 89, 90f. Pufendorf, Samuel 112, 188 Puschmann-Nalenz, Barbara 66 Pyrrhon von Elis 1 Racine, Jean 23, 96–105 Rädle, Fidel 30 Raith, Werner 246 Raleigh, Walter 57 Ramler, Karl Wilhelm 245f. Rang, Martin 342 Ranke, Leopold von 2 Raupach, Ernst 3 Rauscher, Wolfgang 139 Rebling, Eberhard (E. Gerhard) 333f. Rebmann, Georg Friedrich 132 Reding, Ital 267 Reichelt, Klaus 110, 112, 114 Reimarus, Hermann Samuel 251–253 Reiss, Hans 380 Retz, François Paul de Gondi de 327 Revel, Jacques 16, 50, 174 Reynold, Gonzague de 284 Richard III. England 9, 10 Richter, Adam Daniel 404 Richter, Dieter 159 Rieck, Werner 196f., 202 Riedel, Emil 137 Riedel, Wolfgang 317 Riehl, Wilhelm Heinrich 331f. Riemer, Johannes 111f. Rist, Johann 17, 49, 123, 373, 399 Robespierre, Maximilien 228 Rohr, Julius Bernhard von 48f., 148, 153 Roloff, Hans-Gert 40 Rosa, Salvator 127 Rosenplüt, Hans 30 Rousseau, Jean-Jacques 187, 250, 284– 286, 288, 295, 298, 342, 345, 395, 400 Rudé, George 50 Rudin, Bärbel 119 Rudolph, Johanna 168
444
Sachs, Hans 32, 111 Sade, Donatien-Alphonse-François de 317, 333 Saint-Réal, César Vichard de 340 Sartre, Jean-Paul 120, 178 Saxo Grammaticus 302 Scenna, Anthony 258, 263 Schauer, Hans 131 Schaum, Konrad 380 Schaumann, Johann Christian 234, 347 Scherpe, Klaus R. 318, 322 Schiller, Friedrich 18f., 25, 105, 156–158, 193, 217, 252, 254, 299–301, 315–354, 366, 379f., 385, 390–392, 406 Schilling, Hans 118 Schindler, Norbert 146 Schings, Hans-Jürgen 130 Schinz, Johann Rudolf 314 Schipa, Michelangelo 138 Schlaffer, Hannelore 22, 382 Schleder, Johann Georg 154, 167–170 Schlegel, Johann Elias 213, 234, 248, 253f. Schlobach, Jochen 12 Schlosser, Johann Georg 332 Schmauß, Johann Jakob 7 Schmidt, Erich 329 Schmidt, Jul. 89 Schneider, Reinhold 87, 94 Schöffler, Herbert 262, 300 Schöne, Albrecht 14, 18, 119, 139 Schönemann, Bernd 407 Schönemann, Johann Friedrich 207 Schöno, Rudolf 271 Schopenhauer, Arthur 29, 59, 312 Schottenius, Hermann 23, 34–43 Schramm, Eduard 75, 80 Schrimpf, Hans Joachim 358 Schröder, Hans-Christoph 116 Schröder, Jürgen 358, 378, 380, 382, 392 Schubart, Christian Friedrich Daniel 331, 398 Schütze, Johann Friedrich 119, 212f. Schütze, Johann Stephan 392 Schultze, Johannes 137 Schulze, Winfried 141
Scribe, Eugène 346 Seeck, Gustav Adolf 59 Seidensticker, Bernd 27 Selle, Götz von 7 Seneca d.J., Lucius Annaeus 31, 137, 243–245, 309, 357 Sengle, Friedrich 3, 11, 13, 183, 257 Settala, Ludovico 46, 154 Sforza, Lodovico 51 Shakespeare, William 20, 21, 23, 44, 56– 72, 80, 113f., 120, 131, 154, 174, 187, 222, 242, 258f., 278, 294, 298, 309– 311, 358, 365, 371f., 390 Siegrist, Christoph 257 Sièyes, Emmanuel Joseph 28 Siri, Vittorio 168 Smith, Adam 187 Solbach, Andreas 164 Sommer, Andreas Urs 12 Sophia-Eleonora von Hessen-Darmstadt 118 Sophokles 140, 150, 206 Sorg, Norbert 113 Spartacus 245, 249 Speerli, Leonore 263, 286 Spinoza, Baruch 169 Spyk, Hendrik van der 169 Stackhouse, Janifer Gerl 119 Stahr, Adolf 240, 254 Starobinski, Jean 104 Stebler, Mciael 268 Stein, Peter 27 Steinhagen, Harald 317 Steinhöwel, Heinrich 32 Steinmetz, Horst 18 Steinmetz, Max 363 Stenzel, Jürgen 242 Stieler, Kaspar 118 Stieve, Gottfried 153 Storz, Gerhard 329 Strabo 395 Strada, Famianus 390 Straumann, Heinrich 294 Strosetzki, Christoph 72, 75, 79 Stüssi, Rudolf 266 Stumpf, Johannes 266
Sulla, Lucius Cornelius 309 Sulzer, Johann Georg 257, 259, 262, 265, 308, 358 Szarota, Elida Maria 81 Tardel, Hermann 116 Tarquinius Superbus, Lucius 241 Telemann, Georg Philipp 207, 260f. Tell, Wilhelm 298f. Tenrentius Afer, Publius 30 Thalheim, Hans-Günther 343, 345f. Thoman, Nicolaus 363 Thou, Jacques Auguste de 196f. Tieck, Ludwig 346 Timoleon 307f. Titus Flavius Vespasianus d.J. 43 Tobler, Gustav 220, 262, 264, 294 Tocqueville, Alexis de 15, 16 Toussaint Le Moyne Des Essart, Nicolas 50 Troßbach, Werner 165 Tschudi, Aegidius 299 Tyler, Wa(l)t(er) 52, 67, 187 Ulbrich, Claudia 158 Ulrich, Conrad 293 Unger, Thorsten 186 Valentin, Jean-Marie 84 Valerius Maximus 40 Vergilius Maro, Publius 40, 221f. Vierhaus, Rudolf 355 Vogler, Günter 363 Vollenhoven, Herman van 103 Voltaire (Arouet, Jean-Marie) 6, 196, 224, 280, 312, 395 Volz-Tobler, Bettina 263 Voßkamp, Wilhelm 124 Wagener, Hans 123, 390, 392 Wanger, Bernd Herbert 118 Waniek, Gustav 213 Wehl, Feodor 217 Wehrli, Max 298, 306 Weise, Christian 7f., 10, 14, 22f., 44, 98, 100, 114–116, 120–181, 188, 201, 205, 244, 282, 340, 355, 400
445
Weiße, Christian Felix 9, 260, 310 Wende, Peter 117, 161 Werner, Hans-Georg 343, 345f. Wernier, Niklaus 232 Wertheim, Ursula 329, 332, 359, 361, 363, 367 Wieland, Christoph Martin 5, 242, 298, 308, 310, 332, 365, 395 Wiese, Benno von 329, 358 Wilhelm von Oranien 340, 350 Wilkinson, Elizabeth 387 Wittgenstein, Ludwig 18 Wölfel, Kurt 257 Wolff, Christian 148, 189, 313 Wuermeling, Henric L. 145 Wygand, August 348
446
Zedler, Johann Heinrich 167 Zeeden, Ernst Walter 141 Zeidler, Christian 114 Zeller, Konradin 128, 141, 179 Zellweger, Laurenz 294 Zhender-Stadlin, Josephine 298 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anselm von 127, 135f., 141, 143, 145f., 154, 167f., 170 Zimmermann, Johann Georg 332 Zimmermann, Joseph Ignaz 299 Zinn, Karl Georg 67f. Zorn, Rudolf 48 Zurbarán, Francisco de 102 Zurbuchen, Simone 263f., 307 Zwingli, Ulrich 33, 295