Männlichkeiten: Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts 9783205127932, 3205773144, 9783205992974


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German Pages [450] Year 2005

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Männlichkeiten: Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts
 9783205127932, 3205773144, 9783205992974

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Ernst Hanisch

MÄNNLICHKEITEN Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts

B Ö H L A U VERLAG W I E N · K Ö L N · W E I M A R

Gedruckt mit der Unterstützung durch Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografìe; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-205-77314-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2005 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Druck: fgb - freiburger graphische betriebe, 79108 Freiburg Printed in Germany

DANK Zu danken habe ich: Nicole Feichtner und Brigitte Greisberger fur die Herstellung der Druckfassung. Ingrid Bauer für die kritische Durchsicht einzelner Textteile. Fanny Esterhazy für das kreative Lektorat; meiner Frau für die skeptische Lektüre und viele Diskussionen. Schließlich: Zu danken habe ich edlen Frauen.

INHALT Einleitung

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DER KRIEGER I.

Die Männlichkeit des Kriegers 1914-1918 17 1. Staatsbürger, allgemeine Wehrpflicht, disziplinierte Männlichkeit . . . . 17 2. Die Ehre des Offiziers 22 3. Das Kontrastbild: der nervöse, der verweiblichte Mann 26 4. Der Diskurs der Tapferkeit und die kreatiirliche Angst 29 5. Die Praxis der Militärgerichte 34 6. Die Spaltung des Heldenbildes: brutale und feige Offiziere Soldaten als Opfer und zähe Kämpfer trotz alldem 40 7. Die Pflicht als Heimat des Soldaten 41 II. „Nie wieder Krieg" und Remilitarisierung der Gesellschaft 48 1. Pazifisten, Klassenkämpfer, Soldaten der Republik 51 2. Der Hunger nach Ehre und die politische Gewalt 52 3. Rückkehr der Toten - Aufbruch der Jugend 56 4. Der Rausch der Jugend: zwei exemplarische Lebensläufe 63 5. Die Militarisierung von oben: der autoritäre „Standestaat" 67 III. Triumph des Soldaten 1938-1945 71 1. Imaginationen: Mann = Soldat, Frau = Mutter 71 2. Realitäten: vom konventionellen Krieg im Westen zum rassischen Vernichtungskrieg im Osten 76 2.1 Traditionelles Soldatentum im Rückzug 77 2.2 Der Vormarsch des Rassekriegers 85 2.3 Wehrdienstverweigerer - Deserteur - Widerständler - Partisan Kriegsinvalide und Kriegsgefangener 88 IV. Der Untergang des Kriegermythos 99 1. Militärische Niederlage und ökonomischer Wiederaufbau 99 2. Pazifismus und Bundesheer 106 3. Amerikanisierte Jugendkultur und der Kult der toten Männer 111 4. Militarisierung und Zivilisierung von Männlichkeiten: die beiden Nachkriegszeiten im Vergleich 118

6

Männlichkeiten

DER LIEBHABER I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Liebe und Sexualität im Fin de Siècle 1. Anatol oder der Donjuanismus 2. Alma oder das schöne Raubtier 3. Broch oder der Amphitryonismus 4. Und die kleinen Leute? 4.1 Die katholische Predigt der Reinheit 4.2 Die große Stadt: Paradies der Sinne und babylonische Hure Das Ende der Liebe: Scheidungen 1900-1950 1. Rechtliche und statistische Tatsachen 2. Konfliktfelder der Liebe in Wien 2.1 Liebe/Sexualität 2.2 Geld 2.3 Gewalt und Alkohol 2.4 Soziale Differenzen und die Rolle der Politik Die neue Sachlichkeit der Liebe 1. Krieg, Revolution, Sexualität 2. Die „neue" Frau und die „alten" Männer 3. Jugendbewegung und Jugendpsychologie 4. Die „vollkommene" Ehe 5. Die autoritäre und totalitäre Wende: der Griff des Staates in die Privatsphäre 6. Aufbau und Rückzug in die kleinen Lebenswelten 6.1 Heiratsmuster Die sexuelle Revolution 1. Die Sexualisierung der Konsumgesellschaft 2. Die Achtundsechziger-Bewegung 3. Die Kunst des Wiener Aktionismus 4. Die neue Frauenbewegung 4.1 Undine oder die Gewalt der Liebe: Ingeborg Bachmanns Klage . . . 4.2 Frauenmacht gegen das Patriarchat 5. Die Melancholie nach der sexuellen Revolution Andersgeartet: Homosexuelle Lust 1. Homophobe Panik und Homoerotik 2. Die schwarze Periode der schwulen Liebe 3. Heraus aus dem Versteck: gay und queer Als Historiker über Liebe schreiben

127 127 132 140 144 147 151 165 165 169 170 179 181 182 189 189 195 200 205 212 223 231 238 238 245 251 254 254 256 260 267 267 271 272 275

Inhalt

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DER VATER I. Metamorphosen der Väterlichkeit II. Der autoritäre V. 1. Blicke aus bürgerlichen Kindheiten 2. Blicke aus bäuerlichen und proletarischen Kindheiten 3. Kindesmisshandlungen um 1900 4. Naziväter 5. Der Vater als Mörder. Angstträume eines weiblichen Ich 6. Postskriptum zum Autoritären III. Der liberale V. 1. Jüdische Liberalität 2. Das seltene Beispiel eines fiirsorgenden Vaters 2.1 Das Kleinkind 2.2 Der Schüler 3. Der abwesende Vater in der Konsumgesellschaft IV. Der uneheliche V. 1. Der rechtliche Rahmen 2. Salzburger Beispiele 1900-1950 2.1 Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit

289 301 302 307 312 314 318 320 327 327 332 332 333 335 339 339 342 346

HOMO FABER / DER BERUFSMENSCH I. II. III. IV. V.

Erwerbsarbeit als männliche Sinnstiftung Bauern Bürger Arbeiter Angestellte

353 357 363 371 379

DER SPORTLER I. II. III. IV.

Eine Religion im 20. Jahrhundert: Körperbildung, Wettbewerb, Leistung . 387 Eine Metapher für Männlichkeit: die Jagd 392 Eine genuin moderne Kulturbewegung: der Alpinismus 397 Mann gegen Mann; Körper gegen Körper: Fußball 405

Neue Ungewissheiten über die Männer

413

8

Literaturverzeichnis Register Bildnachweis

Männlichkeiten

417 453 458

EINLEITUNG

Ohne den Kontrastbegriff „Weiblichkeit" existiert „Männlichkeit" nicht. (Robert W. Connell: Der gemachte Mann)

Natürlich hat der Feminismus die Männergeschichte auf die Beine gestellt; damals in den 1980er Jahren, als sich die Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte hin bewegte. Natürlich war die feministische Kritik an meinem Buch „Der lange Schatten des Staates. Osterreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert" der Auslöser für dieses neue Buch über „Männlichkeiten".1 Ich widerrufe damit keineswegs die Gesellschaftsgeschichte. Im Gegenteil: Sie hat erst die Voraussetzungen für das neue Buch geschaffen. „Männlichkeiten" probiert allerdings eine andere Perspektive für die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Wie bei vielen Büchern steckt auch hinter diesem Buch eine lebensgeschichtliche Problematik. Ich bin in einem kleinen Marktflecken im niederösterreichischen Waldviertel als erster Sohn einer Kleinbürgerfamilie aufgewachsen. Es gibt ein Foto, auf dem vor dem Stadel ein kleiner, blonder Bub im Mädchenkleidchen, etwas schüchtern an den Rand gerückt, sitzt; daneben thronen breit und selbstbewusst einige ältere Geschlechtsgenossen. Der blonde Bub war ich und die Frage, die sich stellt, lautet: Wie wurde aus diesem schüchternen Buben ein Mann? Der Bub wurde später Ministrant, eine etwas zweifelhafte, nicht gerade männliche Rolle. Die Nähe zum Priester, zum Altar ermöglichte zwar eine etwas herausragende Position, aber der Ministrantenkittel hatte doch etwas sehr Mädchenhaftes. Nur zwei aus der Volksschulklasse gingen in die Mittelschule der nächstgelegenen Bezirksstadt. Alle anderen mussten arbeiten, auf dem Bauernhof oder in einem Gewerbe. Dort durchliefen sie in den 1950er Jahren eine harte Schule der Männlichkeit. Mittelschüler hingegen „arbeiteten" im damaligen Verständnis des Dorfes kaum. Wie konnte man dann zum Manne werden? Eis gab zwei Möglichkeiten: harte körperliche Arbeit und den Sport. Mit 14 Jahren ging ich den Sommer über auf einem Bauernhof arbeiten. Erntearbeit fing um 6 Uhr in der Früh an und hörte um 20 Uhr auf. Das war damals noch eine ungewohnte, erschöpfende, kreuzbrechende Körperarbeit. Dann hieß es anerkennend im Dorf: Er kann auch arbeiten. Das war ein erster wichtiger Schritt zur Anerkennung als Mann. Im Dorf gab es eine Fußballmannschaft und ich war ein ganz guter Fußballer. Das ermöglichte den zweiten Schritt, der im Übrigen stets

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Männlichkeiten

/ Der A utor (rechts) als zweijähriges Kind (1942)

auch ins Wirtshaus führte, mit den manchmal rituellen Besäufnissen. Der dritte Schritt, eine ständige Freundin zu „erobern", blieb mir freilich bis zur Matura versagt. Ich verliebte mich zwar aus der Ferne in meine Englischlehrerin und dann in zwei gleichaltrige Mädchen, aber das blieb auf der Ebene der romantischen Gefühle, ohne festere Bindungen. Kurz: Mannwerden ist ein individueller biographischer Akt in einer bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen Periode. Und die geschlechtliche Sozialisation ist fundamental für die Einübung in die Gesellschaft. 2 Die Männlichkeitsrollen, die sich anboten, waren harte Arbeit als Vorbereitung für den Berufsmenschen, Sport, in den 1950er Jahren bereits ein Ersatz für die nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengebrochene Kriegerrolle, und die des Liebhabers, die freilich auch ihre Unsicherheiten hatte und erst erlernt werden musste. Was sind Geschlechterrollen, die ich in diesem Buch als Analysekategorie verwende? Soziale Rollen werden in den Sozialwissenschaften als Bündel von Erwartungen verstanden, die sich in einer gegebenen Gesellschaft, zu einer bestimmten historischen Zeit an das Individuum knüpfen. 3 Der Auftrag der männlichen Geschlechterrolle heißt: Werde ein Mann! Soziale Rollen sind primär sozialstrukturell verankert, Geschlechterrollen sind jedoch auch biologisch vom Körper her mitbestimmt. Der männliche Körper trägt biologisch einen Penis, der sich, sozial, häufig als Phallus aufführt und die Rhetorik der großen Wörter liebt. Rollen sind keineswegs starr. Es gibt kein Wesen des Mannes, das von der Biologie ausgeht und sich

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Einleitung

unverändert durch die Geschichte durchsetzt. Auch der Körper wird durch Interpretationen und Diskurse überhaupt erst „verständlich". Rollen können durch Rollendistanz verändert, umgestaltet werden, sie müssen immer neu interpretiert werden. Bestimmte Männlichkeitsrollen können auch abgelehnt werden. Das meint: Doing gender! Und es existieren Rollenkonflikte, etwa zwischen dem Liebhaber, dem Vater und dem Krieger. Tiefer verankert als die Geschlechterrollen ist der allgemeine männliche Habitus (Pierre Bourdieu) als System dauerhafter Dispositionen, als Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix. Der Habitus wirkt allgemeiner als die Geschlechterrollen, er schafft habituelle Sicherheit, er ist eine inkorporierte „zweite Natur", er verweist ebenfalls auf jenen Ort, wo Natur und Kultur eine unauflösliche Einheit bilden. Die soziale Praxis des Mannseins ist in seinem Körper eingeschrieben. Der Habitus schafft gleichzeitig Differenz (gegenüber den Frauen) und Hierarchie (gegenüber Frauen und anderen Männern). Der biologische Unterschied zwischen groß und klein, stark und schwach wird jeweils kulturell genutzt, um symbolisch die Geschlechterordnungen und Hierarchien herzustellen. Höflichkeit gegenüber dem „schwachen Geschlecht" etwa betont so explizit die männliche Dominanz.''' Am meisten Mann ist dann der, der möglichst viele maskuline Geschlechtsrollen intensiv verkörpert. In meinem Verständnis steht die Geschlechterrolle wie der Habitus an der Schnittstelle zwischen Körper und Gesellschaft.5 Auftritt des Körpers: Wederist der Körper frei interpretierbar, wie es der radikale Konstruktivismus vorschlägt - der Körper setzt Grenzen für die Diskurse und es gibt ihn vor den Diskursen - , noch ist der Körper unabhängig von den Diskursen, wie es der Biologismus meint. Geschlechterrollen sind historisch und damit veränderbar. Aber sie sind nicht beliebig konstruierbar, weil sie ein den Körper zurückgebunden sind. Von den Geschlechterrollen, wie ich sie hier verwende, verschieden sind die Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden Geschlechtercharaktere, die Mann und Frau fixe Eigenschaften zuordnen:6 Mann

Frau

Kultur Geist Vernunft

Natur

Aktivität

Öffentlichkeit Energie Tapferkeit Gewalt

Seele Gefühl Passivität Privatheit Schwäche Feigheit Güte

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Männlichkeiten

Das sind tatsächlich ahistorische Konstruktionen, die aus der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft stammten und essentialisiert wurden. Das 20. Jahrhundert hat mit der Frauenemanzipation realhistorisch gezeigt, dass diese Kategorien vielfach leer sind. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die aber jeweils erst in der Praxis ausgehandelt werden - innerhalb der Grenzen der jeweiligen zeitgenössischen Geschlechterrollen. Mann und Frau definieren sich immer gegenseitig. Und diese Rollen sind stets mit der Machtfrage verknüpft. Die seit Jahrhunderten in unserer Kultur tief verwurzelten Geschlechterrollen privilegieren eindeutig die Männer. Doch auch unter den Männlichkeitsmustern herrschen hegemoniale Beziehungen.7 In den einzelnen historischen Perioden gewinnen bestimmte Männlichkeitsrollen eine Hegemonie, während andere Rollen eher marginalisiert erscheinen. In den Kriegs- und Bürgerkriegsphasen des 20. Jahrhunderts war es eindeutig der Krieger, der andere Rollen dominierte; in den Wiederaufbauphasen war es der Homo faber, der Berufsmensch, der die anderen Rollen überragte. Die hegemoniale Männlichkeit weist so eine doppelte Struktur auf: erstens die Dominanz über Frauen und die Abgrenzung gegenüber dem Femininen, zweitens die Dominanz bestimmter Muster der Männlichkeit über untergeordnete Muster. Dabei gehört die heterosexuelle Matrix zum Kernbestand hegemonialer Maskulinität. Homosexualität ist die am stärksten ausgegrenzte Männlichkeitsform, nicht nur wegen der Verdrängung homosexueller Impulse innerhalb der dominanten Männlichkeit, sondern wegen der Verteidigung zentraler Institutionen wie Ehe und Familie. Weitere Typen untergeordneter Männlichkeit sind der „Frauenknecht", das Simandl, wie es spöttisch im Osterreichischen hieß, und der Feigling. Damit die Hegemonie funktioniert, muss sie zumindest im Prinzip von beiden Geschlechtern akzeptiert werden. In der Praxis des „doing gender" können sich allerdings viele Mischformen entwickeln, wobei dominante Männlichkeit immer auch klassen- und milieuspezifisch ausgerichtet ist.8 Männlichkeit wird in der Kindheit eingeübt und sie braucht später homosoziale Räume wie Banden, Vereine, Clubs, wo die „ernsten Spiele des Wettbewerbs" (Pierre Bourdieu) stattfinden können, wo männliche Solidarität wie Kameradschaft ihren Platz und die Inszenierung von Virilität ihre Unterstützung und Selbstvergewisserung findet.9 Solche männerbündischen Gruppen wie Cartellverband, Freimaurer, Rotary formen auch Netzwerke, die das berufliche Fortkommen fördern. Das dunkle Kapitel der Geschichte der Männlichkeit heißt Gewalt und Aggression. Während in ruhigen Zeiten, in „normalen" zivilisierten Beziehungen männliche Dominanz allein durch symbolische Gewalt hergestellt wird, bricht die Decke der Zivilisation in außerordentlichen Situationen immer wieder ein und rohe Gewalt und Aggression eruptieren. Die Geschichte der Gewalt hat im 20. Jahrhundert, allein durch die technischen Möglichkeiten, einen Höhepunkt erreicht.10 Und als Tä-

Einleitung

15

ter treten fast durchwegs Männer auf. Wie immer man das auch erklärt, Aggression ist der schwarze Schatten der Männlichkeit. Für die Psychoanalyse besteht ein unlösbarer Zusammenhang von Sexualität und Destruktion. Die virile Sexualität motiviert eine spezifische Mischung aus Lust, Angst, Neid und Hass gegenüber Frauen.11 Im militärischen Umfeld wird der Zusammenhang von Penis und Waffe besonders sichtbar. Ein Satz der militärischen „Ausbildungsspiele" drückt das klar aus: „Habe Kanone und Schießeisen. Das eine macht Kinder, das andere Waisen."12 In narzisstischen Männerkrisen mit ihren Verletzungen ist der Ausweg häufig Aggression und Vernichtung des Objektes von Hass und Begierde: Vernichtung der Frau, real oder zumindest symbolisch, aber auch Selbstvernichtung durch pausenlose Arbeit, Alkoholismus und Selbstmord. Doch die häufigste Gewalt richten Männer gegen andere Männer: im Kampf und im Krieg. Wir werden in diesem Buch der Gewalt im privaten und öffentlichen Bereich immer wieder begegnen. Männergeschichte, Männerrollen und männlicher Habitus lassen sich methodisch auf drei Ebenen diskutieren: erstens auf der Ebene der Diskurse, zweitens der sozialen Praxis und drittens der subjektiven Erfahrung und Identitätsbildung.13 Diskurse lassen sich aus den öffentlichen Reden relativ leicht rekonstruieren. Schwieriger ist es, die soziale Praxis zu erreichen. Ich habe mich bemüht, für die drei ersten großen Kapitel - Krieger, Liebhaber, Vater - immer auch Archivmaterial heranzuziehen. Das sind meist Gerichtsakten, die naturgemäß aus Konfliktsituationen entstanden und somit eine Konfliktfiguration anzeigen. Egodokumente dienen vorwiegend zur Analyse der subjektiven Erfahrung von Männlichkeit, und zwar aus der Perspektive von Männern und Frauen. Diese drei Ebenen werden in der konkreten Analyse nicht streng getrennt, sie vermischen sich, je nach der jeweiligen Fragestellung. Das Drama der Männlichkeit im 20. Jahrhundert wird am österreichischen Beispiel analysiert. Wann beginnt, wann endet das 20. Jahrhundert? Mit der Auswahl der Zäsuren werden „Grammatiken für begriffliche Perspektiven" (Jürgen Habermas) entworfen, werden zentrale Deutungsachsen gelegt. Eric Hobsbawm und Hans-Ulrich Wehler haben sich für das „kurze 20. Jahrhundert" ausgesprochen - vom Ersten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des Kommunismus in Europa.14 Bei einer Dominanz der Sozialgeschichte der Politik ergibt dieses Konzept durchaus einen Sinn. Für Osterreich könnten die Eckdaten so aussehen: vom Zusammenbruch der Habsburgermonarchie bis zum österreichischen Beitritt zur Europäischen Union 1995. Dennoch habe ich mich wieder für das „lange 20. Jahrhundert" entschieden. Verschiebt man nämlich das Dispositiv von der „Herrschaft" zur „Kultur", nimmt man Automobil, Elektrizität und Film, nimmt die Kunst als Grundsignaturen des 20. Jahrhunderts, als Leitfossilien gewissermaßen, dann beginnt das 20. Jahrhundert in unserem Raum mit den 1890er Jahren. Damals erfolgte der Aufbruch in die Moderne und das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der soziokulturellen Moderne, auch

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Männlichkeiten

mit ihren destruktiven Folgen. Damals beschleunigte sich die Verwissenschaftlichving des Sozialen, der Aufstieg der Experten.15 Damals begannen die Angestellten als soziale Gruppe ihren Durchmarsch, die Jugend wurde als soziales Aggregat entdeckt, die erste Frauenbewegung entstand, Massenparteien und Interessenverbände gewannen ein Gewicht. Das Warenhaus entwickelte sich zum symbolischen Ort einer langsam entstehenden Massenkonsumgesellschaft, die allerdings durch die beiden Weltkriege unterbrochen und verlangsamt wurde. Dieses 20. Jahrhundert begann dann auch mit einer intellektuellen Diskussion über die Krise der Männlichkeit. Von diesem Konzept her ist das Ende des 20. Jahrhunderts noch offen.

ANMERKUNGEN

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Meuser, Geschlecht und Männlichkeit, 54. Giese, Rolle, 458-462. Meuser, Geschlecht und Männlichkeit, 112-122. Brandes, Der männliche Habitus, 47-88. Mitterauer, Diktat der Hormone?, 76. Connell, Der gemachte Mann. Döge, Männlichkeit und soziale Ordnung, 30. Meuser, Wettbewerb und Solidarität, 83-98. Weisbrod, Sozialgeschichte und Gewalterfahrung. Pohl, „... vom Liebhaber zum Lustmörder", 18. Ebd., 36; Soziale Konstruktionen - Militär und Geschlechtsverhältnis; Bataille, Die Erotik. Kühne, Männergeschichte - Geschlechtergeschichte, 23; zum Erfahrungsbegriff: Buschmann, Erfahrung des Krieges. 14 Hobsbawm, Age of Extremes; Wehler, Das „kurze 20. Jahrhundert", 44-54. 15 Nolte, 1900, 281-300; Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, 165-193.

I. DIE MÄNNLICHKEIT DES KRIEGERS 1914-1918

Tears for woman and the war-whoop for man to drown the sorrow. (Charles A. Eastmen: Indian Boyhood)

1. S T A A T S B Ü R G E R , A L L G E M E I N E W E H R P F L I C H T , DISZIPLINIERTE

MÄNNLICHKEIT

Das 8. Hauptstück des Militär-Strafgesetzes von 1855 (RGBl. Nr. 19) handelte von der Feigheit. Paragraph 243 formulierte das Verbrechen der Feigheit: „Wer immer aus dem streitbaren Stande dem zu bekämpfenden äußeren oder inneren Feinde aus Besorgnis für seine eigene Sicherheit denjenigen Grad des Widerstandes, den er seiner Dienstpflicht gemäß zu leisten schuldig und fähig ist, nicht leistet, oder der persönlicher Gefahr pflichtwidrig zu entgehen sucht, oder auch nur durch Worte oder Zeichen solche Gesinnung äußert, die geeignet sind, bei Anderen Mutlosigkeit zu erregen, macht sich der Feigheit schuldig."1 Wie der Hof- und Gerichtsadvokat Ernst Franz Weisl in seinem Kommentar ausführte, können ein solches Verbrechen nur jene Militärpersonen begehen, die einen feierlichen Eid auf die Kriegsartikel abgelegt und dadurch besondere „Militär-Dienst- oder Standespflichten" zu erfüllen zugesichert haben.2 Mit diesem Eid gelobte der Soldat - nach dem Dienstreglement von 1875 -, gegen jeden Feind und wo immer und zu jeder Zeit tapfer und mannhaft zu streiten und sich nach Kriegsgesetzen und braver Kriegsleuteart zu verhalten, zu leben und zu sterben.3 Nach diesen Gesetzen, in der umständlichen Juristensprache formuliert, die auch noch während des Ersten Weltkrieges galten, gehörte der Soldat zu einem besonderen Stand, mit besonderen Standespflichten und Standesrechten. An der Spitze der Hierarchie der Standespflichten stand die Pflicht zum Gehorsam, erst an vierter Stelle kam die Tapferkeit. Die Aufstellung der Delikte reihte an erste Stelle die Subordinationsverletzung und an siebente Stelle die Feigheit.4 Das heißt: Die Männlichkeit des Kriegers war keine wilde, sondern eine gezähmte, disziplinierte. Die militärische Männlichkeit stand in einem Kontrast zur rohen männlichen Gewalt der Wirtshausraufereien und Vergewaltigungen. Seit der frühen Neuzeit gehörte gezähmte Männlichkeit zu den Voraussetzungen einer modernen Kriegsführung. Das Militär zählte wie später die Fabrik zu den Institutionen der Sozialdisziplinierung, war ein Faktor des Rationalisierungsprozesses. Der zentrale Begriff dafür hieß Manneszucht, die Fer-

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Der Krieger

tigkeit, Nerven und Muskeln willensmäßig zu beherrschen und den Einzelwillen dem Gesamtwillen unterzuordnen.5 Exerzieren, Paraden und Manöver sollten diesen Prozess der Disziplinierung einüben und darstellen, die Uniform formte „eine zweite und dichtere Haut", „ein hartes Futteral", um die Ordnung in der Welt zu zeigen „und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben" (Hermann Broch).6 Zu diesem Verschwimmenden und Verfließenden des Lebens gehört die „Feigheit", das instinktive Bedürfnis, in der Situation der Gefahr davonzulaufen. Das eben muss durch die Ideologie der soldatischen Männlichkeit, durch die militärische Disziplin, durch Drohungen mit harten Strafen verhindert werden. Das Verbrechen der Feigheit konnte man als Soldat dreifach begehen: erstens durch Nichtleisten des pflichtschuldigen Widerstandes gegenüber dem Feinde, zweitens durch Sich-Entziehen der persönlichen Gefahr, drittens durch Äußerungen der Zagheit. Das Militärstrafrecht führte in den Paragraphen 244 bis 254 beispielsweise neun Fälle der Feigheit an. In sechs der neun Fälle heißt es lapidar: „Die Strafe ist Tod durch Erschießen." Wer den Tod auf dem Schlachtfeld fürchtete, musste mit dem Tod durch das Militärgericht rechnen.7 Mit der allgemeinen Wehrpflicht von 1868 wurde - wie der k. u. k. Generalauditor Martin Damianitsch festhielt - die „ganze wehrhafte männliche Volksschaft" zum Militär eingezogen und der Pflicht der Tapferkeit unterworfen.8 Mit anderen Worten: Jeder Mann beim Militär musste im Kriege tapfer sein, sonst bestand die Drohung der Erschießung. Das nun war keine Selbstverständlichkeit, sondern bedarf der historischen Erklärung. Wie konnte der militärische Tugendkanon verallgemeinert und für edle tauglichen Männer verpflichtend gemacht werden? Noch dazu in einem multinationalen Reich, wo die Mehrheit der Einwohner Bauern waren, die „das stille und bittere Leben" lebten, Bauern, „die sich Jahrhunderte hindurch in unserem Dreck abrackern". Miroslav Krleza, der in seinen „Geschichten gegen den Krieg" diese Charakterisierung des bäuerlichen Lebens gab, entwickelte eine erste Antwort mit der These der Gott- und Schicksalsergebenheit der Bauern. Der liebe Gott hat eben die Herren eingesetzt, um „auf die armen Bauern aufzupassen, damit sie ordentlich die zehn Gebote befolgen, ihre Steuern, Zuschläge und Umlagen bezahlen, zu den Soldaten gehen und, wenn es Gott gefallt, auch in den Krieg ziehen". 9 Das ist eine mentalitätsgeschichtliche Erklärung für die Subordination der einfachen Leute den Gesetzen der Obrigkeit gegenüber, aber keine Erklärung für die geforderte Tapferkeit des Kriegers. Dazu muss man anders ansetzen. Bis weit ins 19. Jahrhundert sah man einen Widerspruch zwischen Militär und Zivilgesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft war prinzipiell auf die friedliche Konfliktlösung im Rahmen des Rechtsstaates ausgerichtet, im Gegensatz zum kriegerischen Gesellschaftstyp.10 Das Militär war ein eigener Stand, abgeschlossen von der

Die Männlichkeit des Kriegers 1914-1918

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Ti

1 1

2 Assentierung

igij

Gesellschaft, geführt von einer meist adeligen Offizierskaste. Die Bürger und Bauern blickten voller Misstrauen und Verachtung auf die Armee, als Ort der Verwilderung und Brutalisierung. Erst das Konzept des soldat citoyen, in der Französischen Revolution entworfen, brach diese Fremdheit auf. Jeder Soldat sollte Bürger, jeder Bürger sollte Soldat sein. 11 Preußen folgte und übernahm in den Napoleonischen Kriegen dieses Konzept. Von der allgemeinen Wehrpflicht gingen dann die Impulse zur Militarisierung der Zivilgesellschaft aus. Die Staatsbürgerrechte wurden an die Wehrpflicht angekoppelt. Der Entwurf des Staates zielte auf den Zusammenhalt der wehrfähigen Männer. Der Staat vermännlichte. Wer sich nicht mit der Waffe wehren konnte, blieb „Knecht". Die Freiheit war an die Wehrhaftigkeit gebunden. Wehrpflicht und Nationsbildung liefen in Preußen parallel. Die Armee wurde zur „Schule der Nation" hochstilisiert. 12 Anders in Österreich. Der tiefe Widerspruch zwischen Naüonsbildung und Staatsbildung ließ ein anderes Muster entstehen. Die Nationsbildung verlagerte sich auf die Zivilgesellschaft, die Armee gehörte in den Bereich der Staatsbildung, als Schule des Patriotismus, der übernationalen Bindung an die Dynastie, an den Kaiser. Die Armee sollte als Gegengewicht zu d e n nationalen Kämpfen dienen. 1 3 Erst in der

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Der Krieger

Postulierung der Wehrhaftigkeit als Zentrum des männlichen Geschlechtscharakters findet sich wieder ein Gleichklang zwischen Preußen und Osterreich. Nur der wehrhafte Mann ist wahrhaft männlich. In breiter Front setzte sich im 19. Jahrhundert eine Definition des Mannes durch, die auf militärischen Tugenden basierte: Wehrhaftigkeit, Ehre, Freiheit, Kameradschaft, Manneszucht, Treue. Das Militär galt ab nun als Schule echter Männlichkeit, die Assentierung als Initiationsritus. Wer nicht gedient hatte, stand im Verdacht der Unmännlichkeit. Leo Schuster schilderte in seinen Erinnerungen die Assentierung als „feierlichen Akt". Die Burschen wurden von der Dorfmusik begleitet, „die Tauglichen wurden von den Untauglichen mit Sträußchen aus künstlichen Blumen und Zigarren beschenkt, die einem auf den Hut gesteckt wurden". 14 Anschließend fand eine Tanzveranstaltung statt. Die stolze Männlichkeit konnte den Mädchen vorgeführt werden. In Italien gab es das Sprichwort: „Wer für den König nicht taugt, taugt auch nicht für die Königin." 15 Die folgende dreijährige Militärzeit war dann eine gnadenlos harte Zeit, in der, allein durch die Selbstkontrolle der Rekruten, das „weiche Gemüt" ausgetrieben, die „Weichlinge" und „Muttersöhnchen" zu harten Männern erzogen - oder zerbrochen wurden. 16 Die Selbstmordrate in der k. u. k. Armee war die höchste in Europa.17 Aus der Sicht der Schulungsoffiziere sah dieses Programm allerdings anders aus. Das „Abrichten" soll den Mann zum Soldaten machen, soll ihm die natürliche Verzagtheit und Furcht nehmen, die ihm von Kind an durch die warnenden Worte der Mutter eingeimpft wurden. Der Soldat soll in der Kaserne durch den harten Dienst vom weichen, verzärtelnden Einfluss der Frauen getrennt werden. Der Abrichter muss jedoch psychologisch erfahren sein, um die unterschiedlichen Temperamente zu erkennen und darauf einzugehen - schneidige, schwerfällige und ängstliche Temperamente. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt das Turnen als Mittel, die Schneidigen zu disziplinieren und den Angstlichen Mut, Kraft und Selbstvertrauen zu geben. Die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehende Fremdheit zwischen Turnplatz und Exerzierplatz war überwunden. Die Turnvereine bereiteten auf den Militärdienst vor, erzeugten den harten Männerkörper, ebenso keusch wie sexuell potent, durch turnerische Mutproben gestählt und abgehärtet, bereit für den vaterländischen Dienst.18 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter des Imperialismus, setzte sich in ganz Europa ein Diskurs der Verherrlichung der militärisch zugerichteten Männlichkeit durch.19 Die Differenz zwischen Mann und Frau verschärfte sich dadurch. Die Wehrpflicht revolutionierte das traditionelle Männerbild, universalisierte den Mann als Krieger, den Soldatendienst als Ehrendienst, mit dem Kern der individuellen Todesbereitschaft, die von der Zivilgesellschaft durch ein besonderes Prestige honoriert wurde.20 „Der Militärdienst ist" - wie Karl Renner als Sozialdemokrat postulierte - „die ausschließliche und zugleich die ernste Inanspruchnahme des Staatsbürgers für das

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Gemeinwesen." 21 Das korrespondierende Staatsbürgerrecht, das allgemeine Wahlrecht, blieb allerdings lange Zeit am Himmel der Versprechungen hängen und konnte erst 1907 erfüllt werden. Dieser militärische Diskurs wurde institutionell abgesichert. Das Ministerium für Kultus und Unterricht führte 1912 - mit dem neuen Wehrgesetz - die vormilitärische Ausbildung in den höheren Schulen ein. Private, halbstaatliche und staatliche Initiativen versuchten die patriotische Wehrgesinnung in der Jugend vorzubereiten. Doch der „Reichsbund der Jugendwehren und Knabenorte Österreichs" konnte sich nur in den deutschsprachigen Gebieten durchsetzen. Die Lesebücher der Volks- und Bürgerschulen postulierten die „herrlichsten Pflichten des Staatsbürgers (···): für Kaiser und Reich zu siegen oder zu sterben". 22 Die katholische Kirche rechtfertigte jeden habsburgischen Krieg als gerecht. Der Linzer Bischof Rudolf Hittmair frohlockte in einer expressionistisch stammelnden Sprache über diesen heiligen Krieg von 1914: „... mit jubelnder Begeisterung hat ganz Oesterreich erfüllt das entscheidende Wort: es ist Krieg! Und dieses in Kriegsbegeisterung aufjauchzende Oesterreich: Kaiser! das ist Dein erster Sieg in diesem Krieg! Alle Völker und Nationen, alle Stände, alle Eins, alle geeint zu flammender Hingebung von Gut und Blut fürs Vaterland: Oesterreich! das ist dein Kriegstriumph."25 Emmerich Bjelik, der Apostolische Feldvikar, feierte die eisenharte, heroische Männlichkeit: „Wie ein Fels im tosenden und brandenden Weltmeer werden wir stehen .. ," 24 Die schlagenden Studentenverbindungen hatten seit Jahrzehnten die wehrhafte Männlichkeit inszeniert und eingeübt.25 Auf dem Lande konnte die Militarisierung der Gesellschaft an die Kultur der informellen Jugendgruppen anknüpfen, wo Männlichkeit trainiert, Kraft und Geschicklichkeit ausgezeichnet, wo der Besitzanspruch an die Mädchen des Dorfes mit Gewalt verteidigt wurde, wo der Spielhahnstoß, die Schneidfeder, als Symbol schneidiger Burschenherrlichkeit galt, wie bei den Kaiserjägern auch, wo männliche Aggressivität den ländlichen Sex-Appeal ausmachte.26 Veteranenvereine, Schützen und Feuerwehr besetzten die Öffentlichkeit als Träger des Patriotismus und versöhnten das Bürgertum mit dem Militär. Die Gedienten zeigten auch im Zivilleben ein strammes Körpergefuhl, vom modernen Sport unterstützt. Die Ästhetik der Uniformen, das Sonntagskonzert der Militärmusik verdeckten die Brutalität des modernen Krieges, verschmolzen das Militär mit der Zivilgesellschaft.27 Mit dem Einjährig-Freiwilligen-Jahr wurde der militärische Ehrenkodex ins Bildungsbürgertum getragen. Kurz: Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren eine Periode, in der zahlreiche Kräfte, offen und geheim, an der Vorbereitung des Großen Krieges arbeiteten, in der die Männlichkeit des Kriegers universalisiert wurde. Freilich, Österreich konnte nicht die Erinnerung an stolze Siege in diese Politik einschmelzen; man musste weit zurückgreifen, auf Prinz Eugen und Erzherzog Karl, die bronzenen Figuren auf dem Heldenplatz. Unnachsichtig spottete Karl Kraus über

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eine Staatsgewalt, die „so oft im Männerkampf unterlag" und ihre Energien in „Hetzjagden" auf Frauen umlenkte. 28 Das gab dem ganzen Militär einen Stich ins Unernste, Spielerische, Ästhetische.

2 . D I E E H R E DES

OFFIZIERS

Jede Gesellschaft traditionellen Zuschnitts besteht aus unterschiedlichen Ehrengemeinschaften. Ehre meint dabei jenes symbolische Kapital, das die innere Kohäsion einer Gemeinschaft festlegt und ihre Kreditwürdigkeit nach außen bestimmt. Als Überhang feudal-ständischer Traditionen hob die spezielle Standesehre das Militär von der bürgerlichen Gesellschaft ab und zeichnete es aus. 29 Tatsächlich lockte die Offizierslaufbahn immer weniger; das symbolische Kapital musste als Ersatz für das fehlende materielle Kapital dienen.30 In der Öffentlichkeit sollte sich der Offizier als männliches „Gesamtkunstwerk" präsentieren. Die Differenzen zwischen bürgerlicher Gesellschaft und militärischer Ehrengemeinschaft treten in der Duellfrage besonders klar zutage. Das bürgerliche Strafgesetz wie das Militärstrafgesetz verboten den Zweikampf, aber die Streife fiel im Militärstrafrecht milder aus.31 Gleichzeitig jedoch musste jeder Offizier seine Ehre mit der Waffe verteidigen, sonst verlor er seine Charge.32 Diese Diskrepanz zwischen der Sphäre der Ehre und der Sphäre des Strafrechtes überwachte der Ehrenrat mit unnachsichtiger Härte. Das Duell galt als Krieg en miniature, der Duellant bewies seine Tapferkeit und verteidigte seine Männerwürde. Als das Duell 1917 endgültig und ohne Auswege verboten wurde, klagte das Offizierskorps, dass nun „dem Offizier die Möglichkeit genommen ist, sein heiligstes Gut, die Ehre, auf dem kurzen ritterlichen Wege des Duells zu wahren". 33 Die Durchsicht der ehrenrätlichen Untersuchungen von 1912 bis 1918 lassen ein Fünfeck kritischer Knotenpunkte der Standesehre erkennen.34 Patriotismus Geld

Alkohol

Sexualität

Standesgemäßes Verhalten

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1. Zur Ehre des Offiziers gehörte der Patriotismus, die absolute Bindung an den Obersten Kriegsherrn. Der Nationalismus des Bildungsbürgertums drang jedoch zunehmend in das untere Reserveoffizierskorps ein und schuf einen Konfliktherd. Vom Ehrenrat geahndet wurden: parteipolitische Reden in Wahlversammlungen, demonstrativ antiösterreichische Gesinnungen, Antisemitismus, kritische Zeitungsberichte, österreichfeindliche Romane, das Nichtaufstehen beim Singen der Volkshymne, verbale Verteidigung von tschechischen „Hochverrätern" usw. 2. Der Widerspruch zwischen dem mageren Salär und den gesellschaftlichen Ansprüchen zwang die Offiziere immer wieder, Schulden zu machen; die Langeweile des Garnisondienstes verleitete zum Spielen. Schulden an sich verstießen nicht gegen die Ehre, wenn sie korrekt beglichen wurden; das WEIT allerdings häufig nicht der Fall und Quelle ständiger Konflikte. Direkt ehrenrührig indessen waren „schmutzige Schulden", Schulden bei nicht satisfaktionsfahigen Schichten, bei Untergebenen, Wirten, die Verweigerung von Alimenten und ähnliches Verhalten. 3. Auch im Kernbereich männlicher Identität, der Sexualität, öffnete sich das Feld häufiger Ehrenverletzungen. Einerseits waren Offiziere sexuell attraktiv, andererseits konnten sie nur bei der Hinterlegung einer hohen Kaution heiraten. Das drängte sie ins Konkubinat. Darüber konnte man hinwegblicken, wenn die Lebensgefährtin „standesgemäß" war. Hatte eine solche „Konkubine" aber einen schlechten Ruf, war sie ein Dienstmädchen oder gar eine Prostituierte, berührte es sofort das „verfeinerte Ehrgefühl", das ein Offizier repräsentieren musste. Besonders kritisch wurde ein Ehebruch gewertet. Die Ehre der Frau lag in ihrer Keuschheit und sexueller Treue. Da sie selbst nicht dafür öffentlich eintreten konnte, musste ein Mann - Vater, Bruder, Ehemann - für sie einstehen. Die sexuelle Treue der Frau wurde zum aggressiven Kult hochstilisiert, deshalb konnte in diesem Bereich nur ein Duell Genugtuung gewähren.35 4. Dass betrunkene Offiziere in einen für einen „Gentleman nicht passenden Zustand" gerieten, ist unmittelbar einsehbar und führte zu häufigen Ehrenverletzungen: Beleidigungen, Raufereien, Verkehr mit nicht standesgemäßen Personen. Dieser letzte Punkt illustrierte den kastenmäßigen Charakter des Offizierskorps. Offiziere und Mannschaft waren sozial streng getrennt. Privater Verkehr mit Unteroffizieren und Soldaten galt als Verletzung der Ehre, ebenso der Besuch eines „von den untersten Volksklassen frequentierten Kaffeehauses". Während des Ersten Weltkrieges schuf diese hierarchische Trennung dann ein Aggressionspotenzial, das zunehmend die Armee desintegrierte. Beispielsweise stellte ein Ehrenrat während des Krieges eine Gefährdung der Ehre fest, weil ein Oberleutnant im Felde mit ihm untergebenen Unteroffizieren gemeinsam speiste, mit ihnen Karten spielte und kollegial verkehrte.36 In diesen Bereich des standesgemäßen Ver-

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haltens gehörte das ganze Duellwesen mit seinen etablierten Ritualen, feinen Nuancen und schier undurchschaubaren Schattierungen.37 Sehr plastisch tritt uns das herrenmäßige Leben der Offiziere im Ersten Weltkrieg in den unpublizierten Kriegstagebüchern des Rittmeisters Dagobert Zwilling entgegen.38 Ein Wiener Berufsoffizier, 1880 geboren, von bürgerlicher Herkunft, der im Dragonerregiment Nr. 4 diente und in der Offiziersgemeinschaft mit dem Hochadel auf Du und Du verkehrte. Die Dragoner zogen 1914 in den Krieg wie in eine Parade: „Die roten Hosen und hellblauen Waffenröcke der Kavalleristen prangen im Licht der Sonne, weithin leuchtet das Gold der Uniformen und der Kopfbedeckungen, die blank gezogenen Säbel senden blitzartige Strahlen, Gott Mars glitzert im Kriegsschmuck."39 Die Kriegsbegeisterung war kolossal, alles freute sich auf die erste Rauferei und eine „fesche Attacke".'10 Bereits im August 1914 musste auch Rittmeister Zwilling an der Ostfront vier Tage ohne Marschküche, vor allem ohne Diener verbringen.41 Fast jeden Tag gab es kleine Gefechte, man ritt nach vorne und dann zurück, die Granaten der Artillerie lösten die Eintragung aus: „Herrlich schöner Massenmord."42 Dazwischen ging man auf die Jagd. Die Jagdberichte der Tagebücher nehmen bis 1917 denselben Stellenwert ein wie die Gefechtsberichte. Nach dem Gefecht wurde diniert, vom Diener tadellos bedient. Gelegentlich kamen einige Gräfinnen als Sanitäterinnen, von den Herren pubertär umschwärmt. Der männliche Zynismus entlud sich im Witz: „Stell dir vor, wenn du mit Bauchschuss der Kiki (einer Gräfin Lamberg) in die Hände fällst, die verpatzt dir die ganze Agonie." 43 Noch im März 1918 gibt es einen großen Mulatschak mit 42 Reden.44 Ein ganz anderer Krieg fand an der Südwestfront statt. Piaveschlacht, Juni 1918: „Geschossen wird 4 Stunden, 10 Minuten Gas. Dann eine Stunde Wirkungsschießen, danach 45 Minuten Gas und IV2 Stunden Wirkungsschießen."45 Am 17. Juni 1918 wird Rittmeister Zwilling am Oberschenkel schwer verwundet. Er wird zurückgebracht. „Leichen und Fetzen armer Teufel.'"^ Das Problem des Offiziers am Verbandplatz ist allerdings ein anderes: „Verlassen ist man ohne Diener. Seit meinem Abgang vom Diener - keine Zigarette."47 Endlich - Hurra! - trifft der Diener ein. Die andere, dunkle Seite des Offizierslebens enthüllt das Tagebuch ebenfalls. Am 19. Oktober 1914 lässt der Rittmeister zwei Infanteristen wegen Feigheit verhaften, „als gelegentlich aus einem Aeroplan geschossen wird, rennen beide davon".48 Andere Soldaten werden zur Strafe „angebunden", eine berüchtigte Form der Strafe in der k. u. k. Armee.49 Im Herbst 1914 glaubt man in Galizien zwei Spione gefangen zu haben. Sie werden sofort erschossen: „Meine Chargen besorgen es. Wie Schweine. Die Leute gleichzeitig, lachen nur."50

) Κ. u .k. Offizier und Dame, um 1912

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3. DAS KONTRASTBILD: DER NERVÖSE, DER VERWEIBLICHTE

MANN

Barbara: Ich hasse die weibischen Männer. (Franz Grillparzer: Der arme Spielmann) Konträr zur Verherrlichung der militärisch zugerichteten Männlichkeit ertönte von 1880 bis 1914 die große Klage über das nervöse Zeitalter.51 Neurasthenie, die reizbare Schwäche. Ein solches männliches „Nervengigerl", ängstlich und weinerlich, näherte sich dem zeitgenössischen Bild der Frauen an. Die Arzte diagnostizierten, dass die Nervosität weibische Männer und männische Frauen erzeugte.52 Die Archäologie der Gefühle dieser Vorkriegszeit hat inzwischen den Nervositätsdiskurs als halbverdeckten Diskurs über Sexualität enthüllt, über die dominante Angst vor der Onanie, der Impotenz, der Geschlechtskrankheit, ein ständiges Begehren und ein ständiges Unvermögen.53 Tatsächlich aber waren die beiden Leitbegriffe des imperialistischen Zeitalters - „Kampf ums Dasein" und „Zeitalter der Nervosität" - aufeinander bezogen, näherten sich an und sprangen über. Die Nervenschwäche - war man überzeugt - kann nur durch die männliche Tat überwunden werden. Das eben machte die politische Gefährlichkeit der Rede über die Nervosität aus. Die AngstLust der nervösen Spannung flüchtete in den Krieg als eine Erlösung. Aus der nervösen Kraftlosigkeit erklärt sich die Anbetung der Gewalt.54 Nur nicht weich und unmännlich erscheinen! Der einflussreiche Arzt Richard Krafft-Ebing, von Deutschland nach Osterreich berufen, zählte unter den Neurasthenikern als größte Gruppe die Offiziere aus.55 Der Traum des Kriegers blieb aber die bruchlose Einheit von Liebe und Kampf, vom Sieg im Bett und auf dem Schlachtfeld.56 Der Körper der Frau wird „erobert" wie ein feindliches Gebiet. Der Friede jedenfalls - meinte mein - hatte eine ungesunde Kraftlosigkeit erzeugt. Daher der ständige Vorwurf des Eunuchentums gegenüber den Pazifisten. Der Krieg würde die Luft reinigen, die Nerven stärken; man hoffte auf die Heilkraft des „Stahlbades", wie man im Frieden auf die Heilkraft der Wasserbäder gehofft hatte.57 Der Krieg erschien als großer Orgasmus, der die nervösen Spannungen auflösen würde. In Österreich erlebte der Nervendiskurs eine besondere Ausprägung. Jacques Le Rider hat die „nervöse Empfindsamkeit" der Wiener Moderne hervorgehoben.58 Felix Dörmanns Gedicht „Was ich liebe" war eine prägnante Artikulation dieser Decadence: „Ich liebe (...) alles, was seltsam und krank".59 In einem anderen Gedicht ist die Rede von „abgestumpften wurzelwelken Nerven". 60 Dörmann repräsentierte zu Beginn des Ersten Weltkrieges auch den Umschlag - er entpuppte sich als einer der ärgsten Kriegshetzer. Ahnlich Richard von Schaukai. Er schuf mit dem Typus Herr Andreas von Balthesser den österreichischen Dandy, den aristokratischen Narziss mit den besten Manieren und voll Verachtung für die Frauen, mit einem tiefen

4 .littori I ionia ko: Portrait eines ¡ungen Mannes, um iHSo

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Widerwillen gegen die Demokratisierung (= Plebejertum) der Gesellschaft.61 Schaukal verfasste während des Weltkrieges an die hundert Kriegsgedichte.62 Seinen stärksten und einflussreichsten Ausdruck fand die Krise der Männlichkeit um 1900 bei Otto Weininger. „Geschlecht und Charakter" (1903) kann als verzweifelter männlicher Hilfeschrei verstanden werden, als Ausdruck der Urangst vor der Frau, als einzigartiger Protest gegen die Verweiblichung, letztlich: als Eingeständnis der Schwäche. Die Krise der Männlichkeit in der Wiener Moderne hat drei gegensätzliche Entwürfe hervorgebracht: den utopischen Entwurf der erlösenden Weiblichkeit, in der Extremform die Verherrlichung der Hure (Kraus, Trakl) ; die Lösung des Geschlechterkampfes durch die Vision des Androgynen; die Verhärtungen der militärischen Männlichkeit.63 Der Zusammenhang zwischen Moderne und Nervosität schlug sich im Antisemitismus nieder. Die Juden als Exponenten der Moderne wurden als besonders nervenschwach wahrgenommen, als besonders verweiblicht. Ihre schwache Körperkonstitution, ihr angeblich geringer Brustumfang, ihre angeblichen Plattfüße, ihre angebliche „Feigheit" machten sie für den Militärdienst ungeeignet. Der jüdische Körper war - in der zeitgenössischen Wahrnehmung - nicht männlich genug.64 Die neurasthenische Aufgeregtheit beschränkte sich eben nicht nur auf die Literatur. Jene Aristokratengruppe am Ballhausplatz, die den Ersten Weltkrieg provozierte, hatte vor nichts so sehr Angst, als feige zu wirken, zu verhandeln und die männliche Chance zu verpassen. Es galt, endlich zu handeln. Der Nervendiskurs wird uns auch bei den Militärgerichten begegnen, die das Delikt der Feigheit zu beurteilen hatten. Sehr klar hat bereits Rosa Mayreder das Problem vor dem Ersten Weltkrieg analysiert. Der Typus Krieger ist ein Ausdruck primitiver Männlichkeit. Für diesen ist der Krieg ein Zustand, in dem er seine Männlichkeit am intensivsten genießt. Diese Primitivität reicht jedoch in die Moderne herein. Die Furcht, unmännlich zu erscheinen, belastet das Leben des modernen kriegerischen Mannes mit einem Atavismus. Denn der moderne technische Krieg hat diese primitive Männlichkeit des Kriegers obsolet gemacht. „Kann denn gegenüber diesen rasenden Mordmaschinen, diesen Sprenggeschossen, durch welche die menschlichen Leiber haufenweise niedergemetzelt werden, wehrlos und wahllos wie Gräser durch die Sense des Schnitters - kann da noch von Tapferkeit des einzelnen die Rede sein?" 65

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4. D E R D I S K U R S DER TAPFERKEIT UND DIE KREATÜRLICHE

ANGST

Von dem Haupte der Helden leuchtet dann der Ruhm. (Adalbert Stifter: Der Hagestolz) Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. (Georg Trakl: Grodek)

Endlos strömte in der ersten Kriegshälfte das Lob der Tapferkeit, die Mythologisierung der Helden - in Aufrufen, Reden, Gedichten, Liedern und Bildern. Der technische Krieg wurde mit Gas und Torpedos geführt, aber die Phrase zog das Schwert; die Leiber wurden zerfetzt, die Toten lagen tagelang im Niemandsland, stinkend, von Maden überzogen, aber die Schülerinnen verfertigten Kappen, Strümpfe und Leibchen „für die wackeren, im Felde stehenden österreichischen Krieger". 66 Das Vaterland ruft und jeder „mannhafte Österreicher" folgt den ruhmreichen Fahnen, hieß es in den Schulen. Maria Stona dichtete in „Streffleurs Militärblatt" vom 24. Juni 1916: Kniet nieder Frauen vor den Männern, die kühn zum Kampfe ausgerückt. (...) Doch jeder ist zum Held geworden, Trägt jeder stolz sein Heldenlos.

Die Ausrückung der Helden schilderte der Grazer Gemeindebeamte Hans Hartinger in seinem Kriegstagebuch etwas weniger heldenhaft: „Wir soffen bis zur Bewusstlosigkeit und sangen wie die Indianer."67 „Wir waren wirklich geschmückt, wie die Alten ihre Opfertiere schmückten, wenn sie zur offiziellen Schlachtung geführt wurden." 68 Der Rausch der Rhetorik zog mit ins Feld. Am 27. November 1915 erließ Oberstleutnant Emanuel Gradi Edler von Angerwehr vom Krankenbett aus einen Aufruf an sein Bataillon. Er verbeugte sich vor solchen Männern, vor solch beispiellosem Heldentum; er pries die gefallenen Kameraden, „welche ihr junges Leben am Altar des Vaterlandes mit größter Hingebung opferten", fur die Verteidigung der Berge, der Heimat. „Keine Scholle der welschen Bestie!" 69 Die Heroisierung machte in erster Linie das Bildungsbürgertum betrunken. Josef Aschauer, Student aus Eferding, rückte als Reserveleutnant ein. Die Mutter entließ ihn mit Angst und Sorge, besprengte ihn mit Weihwasser, im Namen Gottes, des Kaisers und des Vaterlandes.

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Am serbischen Kriegsschauplatz ohrfeigte der Hauptmann jeden Mann, der aus Hunger seine Reserveportion aufgegessen hatte. „Die Betroffenen vergossen Tränen wie Kinder, die vom Vater bestraft werden." 70 Das Idealbild des Soldaten hingegen entwarf Aschauer in seinem Tagebuch: „Der gute Soldat ist eine Persönlichkeit (...) nicht hinterm Ofen, sondern im Wind, Regen und Schnee sieht er sich Problemen gegenüber, die er durch Überlegung und Tat anpacken muss (...) Sein Körper ist allen Anstrengungen und Entbehrungen gewachsen. Von hoher Liebe zu seinem Volk, zu seiner Heimat erfüllt, verzichtet er auf Bequemlichkeiten und stirbt vor dem Feind." 71 Dieser „Held" musste allerdings häufig trivialer mit den Läusen, dem Dreck, dem Durchfall und dem Durst kämpfen. In der Hitze des Karstes tranken die Soldaten erkalteten Urin. Eine exemplarische Propagandaschrift verfasste Anton Dörrer: „Vom Isonzo (Von der Soca) bis in die Seisera", erschienen 1916. Im Frieden, heißt es darin, mögen die Soldaten an den Nerven gelitten haben, jetzt im Krieg strahlt und leuchtet ihre Mannestüchtigkeit. Denn dieser Krieg „hat aus Knaben Männer gehämmert, furchtlose Männer, sturmbereit zur Schlacht" (A. v. Wallpach).72 Die Tiroler wie die Slowenen siegten sterbend und starben siegend. „Die jungen Alpenländer strotzen ja vor Kraft, Ubermut und Uberenergie. Auf die Dirndeln und Raufhändel verstehen sie sich besser als aufs Zuschauen."73 Hat diese Phrase des Heldentums bei den einfachen Soldaten gewirkt? Wir wissen es nicht genau. Aber es scheint, dass der Kaisermythos in den ersten Kriegsjahren noch stark genug war, um auch einfache Menschen zu motivieren. Den Tirolern und Slowenen leuchtete die Parole der Verteidigung der Heimat unmittelbar ein. Heimat war ganz konkret das kleine Dorf, das Feld, die Glocken der Dorfkirche, die alte Mutter.74 Die Bauern erlebten den Krieg wie eine Naturkatastrophe, wie Dürre, Hungersnot und Krankheit. Da galt das uralte Männergesetz der Tapferkeit vor dem Feind, da brach der urtümliche Instinkt durch, zu töten, um nicht getötet zu werden, da entstand eine elementare Kameradschaft, da sprach ein einfaches Kriegsbegräbnis direkt das Gefühl an, jenseits der Heldenphrase: September 1914, ein Hauptmann, ein Oberleutnant, ein Kadett in einem Grab eingescharrt, ein schlichtes Holzkreuz, der Oberstleutnant sagte: „Meine Herren, entblößen wir unser Haupt vor den gefallenen Helden." 75 Das ist die eine Seite. Die andere Seite enthüllt ein ungarisches Volkslied, das während des Krieges entstanden ist: „Als ich nach Galizien ging, haben auch die Bäume geweint".76 In der zweiten Kriegshälfte brach die Heldenphrase dann entzwei. Die Volksbriefe, die Peter Hanák analysiert hat, zeigen nur mehr das nackte Elend. Der Diskurs der Männlichkeit wird vom Diskurs der Gerechtigkeit abgelöst: „weinend schlafen wir ein, weinend wachen wir auf, weinend essen wir". 77 In das Bewusstsein brannte sich die Erkenntnis ein: Die oben haben alles, wir unten haben nichts. „Wenn uns nicht der Tod von der Welt erlöst, werden wir

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arme Leute unsere Kinder schlachten lassen wie Schweine, dass wir etwas zu essen haben und die Kinder Ruhe finden."78 Diese Briefe machen auf einen Rollenkonflikt aufmerksam, der ebenfalls dem Heldenpathos entgegensteht: die Differenz zwischen der Rolle des Kriegers und der Rolle des Vaters, Ehemannes, Sohnes. Landesgerichtsrat Dr. Alfons Regius notierte am 16. September 1916 aus dem besetzten Czernowitz den Fedi eines Kanzleioffizianten, der einrücken musste, nachdem sein viertes Kind knapp vorher gestorben war, die Frau blieb mit drei Kindern zurück, ohne finanzielle Mittel; dann starb auch sie. 79 Ein Wiener Arbeiter schrieb nach einer hohen Frontbesichtigung sarkastisch in sein Tagebuch: „Ein Familienvater von 5 Kindern starb den Heldentod für Kaiser und Generäle, die uns gesehen hatten, denn fürs Vaterland starb er hier nicht." 80 In Prag, lautet eine andere Notiz, kamen auf einen Mann 56 Frauen.81 Keuschheit wurde so zum patriotischen, Sexualität zum unpatriotischen Akt. Die Nachbarn beobachteten scharf. Regius beispielsweise sah den Ruf einer Ehefrau gefährdet, weil sie öfter einen fremden Mann traf: „Es ist anzunehmen, dass ihr Gatte, wenn es ein rechtschaffener Mensch ist und seine Gattin und den Ruf seines Hauses lieb hat, damit nicht einverstanden wäre." 82 Tatsächlich bewegte die Sorge um die eheliche Treue der Gattin die Seelen der Männer. Ein einfacher Soldat schrieb : „Ich habe glaubt das mein Weib die fornemste ist. Aber jetzt Sig Ich Was Si ist das Ich Nicht Ein Schreiben Wert bin." 83 1917 meldete sich ein Feldwebel zum Rapport und bat um Urlaub, dabei zeigte er den Brief seiner Ehefrau, die schrieb: Sie könne ohne ihn nicht leben. „Wenn er aber nicht auf Urlaub kommen könne, bittet sie ihn gleichzeitig um die Erlaubnis, mit einem anderen Mann verkehren zu dürfen, dass sie es ohne Mann nicht mehr aushalte." Kommentar des Tagebuchschreibers: „Auch ein Kapitel über das Weib." 84 Die Soldaten waren nicht ständig im Kriegseinsatz und mussten mit ihrer Sexualität fertig werden. Der als „Bordellchef' geltende höhere Offizier organisierte am Balkan die Feldbordelle - vor allem wegen der gefürchteten Blutrache - und tarnte sie im frommen Österreich als „sanitäre Erholungsstätten mit weiblichen Hilfskräften bei der Armee im Felde". 85 Auch beim Sex galt eine strenge Hierarchie. Rote Bordelle gab es für die Soldaten, grüne für die Offiziere, blaue für die Generalstäbler, mit unterschiedlichen „Sprungtaxen".86 Besonders den Rot-Kreuz-Schwestern wurde sexuelle Leichtfertigkeit nachgesagt, im Soldatenjargon: rote Kreuzhuren. In die Hotels in Istrien kamen ganze Kolonnen von Lastwägen voller Verwundeter. Fuhr der Wagen etwas bergauf, „rann das Blut in Strömen aus dem Wagen". 87 Ein Beobachter schrieb am 15. September 1916 in sein Tagebuch: „Ich bekomme einen schrecklichen Wutanfall. In Opcina sind Reservespitäler mit den von Gott ganz verlassenen roten Kreuzhuren. Die Verwundeten kommen in den mit Eisen bereiften Lastautos, während in den schönen Autos Huren gerade aus Triest kommen." 88

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6 „Das ist Schwester Anna" : Wandkritzelei in einem österreichischen

Reservespital

GtOffNET VW 9' 1 9 ItlNUSt'·

5 Österreichisches

Feldbordell

„Diese Bestien gehen geschniegelt und mit Lackschuhen mit den zahlreichen Etappenoffizieren herum (...) und kümmern sich einen blauen Teufel um die ihnen anvertrauten Verwundeten."89 Die weibliche Wahrnehmung der „Kamerad Schwester" sah freilich diametral anders aus: „nur das Helfen galt". 90 Neben dem deutlich spürbaren Sexualneid wirkte in solchen Äußerungen ein Konflikt, der in jedem Krieg wirksam wurde: der Konflikt zwischen Front und Etappe. Die an der Front fühlten sich im Stich gelassen und sahen in der Etappe lauter Tachinierer. „Diese hohen Herren entpuppten sich hier als Menschen, die ängstlich bemüht sind, keinen Heldentod zu sterben, denn zu dem sind wir da." 91 Die lo-

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gistischen Schwierigkeiten, eine so riesige Masse von Menschen und Material zu organisieren, wurden an der Front kaum gesehen; umgekehrt waren die Stäbe enttäuscht, wenn ihre schönen Schlachtpläne an der Realität scheiterten. Hinzu kam die in der k. u. k. Armee besonders ausgeprägte soziale Differenzierung zwischen Offizieren und Mannschaft. Das Ohrfeigen der Soldaten gehörte zum Kriegsalltag. „Nach Meinung unserer meisten Offiziere rekrutiert sich ein österreichisches Regiment aus lauter Schweinen und anderen Viehern ... " 9 2 Dazwischen standen die Chargen, die Unteroffiziere. Im Verlauf des Krieges zeigte sich, dass ein unerfahrener Reserveoffizier gut tat, sich des Rates eines erfahrenen Unteroffiziers zu bedienen, wollte er nicht rasch scheitern und - wörtlich - „ins Leere laufen". Die Natur - sagte bereits Clausewitz - rät zur Flucht, zur Feigheit, zur Eigensucht.93 Diese kreatürliche Angst war ständig gegenwärtig. Die Kriegstagebücher sind voll davon. Sehr plastisch beschreibt Hans Hartinger diese entsetzliche Erfahrung: Ein Schwärm sollte zu Kriegsbeginn einen Hügel erobern: „Schwitzend und voller Todesängste krochen wir hinauf."94 Dann die ersten Geschosse. „Mir ließ der Atem glatt aus. Es war mir, als ob mir jemand die Kehle zuschnürt. Ich hatte, mit einem Wort gesagt, keine Luft (...) Es erfasste mich gemeine dreckige Todesangst." 95 Der Offizier mochte mit Donnerstimme brüllen: „Hinauf, ihr feigen Hunde", wenn er selbst im Graben blieb, nutzte das wenig. Die große Angst führte zur Panik und das Debakel war da. Die Truppe riss aus. Selbst wenn ein Generell in dieser Situation losbrüllte: „Bagage, feige Hunde", die Truppe in Panik war nicht zu halten. Den Selbsterhaltungstrieb auszuschalten gehörte zur härtesten Probe militärischer Männlichkeit und Disziplin. An der Ostfront sind ganze Divisionen in Panik zurückgelaufen. Die Armeeführung versuchte diese kreatürliche Angst durch Alkohol zu betäuben. In einem Tagebuch findet sich eine nüchterne Schilderung eines Sturmangriffes: „Wer jemals bei einem Sturm dabei war, wird bei der Erinnerung an die entsetzlichen Minuten eines Schauderns nicht wehren können (...) Das Hinaufklettern aus dem Graben, die Hindernisse sowohl die eigenen als auch die feindlichen überschreiten und bei dem Hagel an Geschossen vorzugehen, ist keine Kleinigkeit und erfordert hohe sittliche Kraft, untermischt mit alkoholischen Zuständen. Im nüchternen Zustand sind gewöhnlich die Stürme und die Durchführung derselben sehr zahm. Es kann aber auch vorkommen, dass die Leute durch Alkoholeinfluss vollständig wütend werden." 96 In der multinationalen österreichischen Armee konnte sich nicht, wie in der deutschen, ein Verdun-Mythos ausbilden; ein Mythos, der mit der Technik verknüpft war, der die traditionelle Männlichkeit des Kriegers hinter sich ließ und den „Maschinenmensch", die „Kampfmaschine" anstrebte. Dieser „neue Mensch", der Stoßtruppenfuhrer, ohne Nerven, ohne individuelles Gewissen, nur dem Befehl ge-

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horchend, wies - trotz einiger Brüche - bereits auf das Kriegerbild des Nationalsozialismus, besonders der SS hin. In Osterreich blieb eher das traditionellere Kriegerbild aufrecht, auch wenn es Anzeichen gibt, dass im „Karstkämpfer" ein neuer österreichisch-ungarischer Soldatentypus - „die Augen erloschen wie taube Spiegel" - mythologisch heraufbeschworen wurde.97 Wie in der britischen Armee lassen sich aus den Tagebüchern grob vier Typen der Krieger herausheben: erstens die Tapferen, die aus Uberzeugung kämpften; zweitens die Stoischen und Abgestumpften, die den Krieg als unabwendbares Schicksal ertrugen; drittens die Angstlichen, die sich aufgaben und am eigenen Körper Rache nahmen (Kriegszitterer) ; viertens die Schlauen oder politisch Uberzeugten, die aus nationalen oder pazifistischen Gründen Krankheiten vortäuschten oder desertierten.98 Erst wenn man die diskursanalytischen und mentalitätshistorischen Befunde gebührend berücksichtigt, kann man die Praxis der Militärgerichte verstehen.

5. D I E PRAXIS DER

MILITÄRGERICHTE

Am 27. Juli 1924 schrieb die Arbeiter-Zeitung: Bei dem „Wettbewerb der Bestialität" im Großen Krieg habe das gemütliche Osterreich „weitaus die meisten Greueltaten zu leisten vermocht" und den „Weltrekord der Barbarei angeführt".99 Diesem Urteil folgte - mehr oder minder - der österreichische Historiker Hans Hautmann. Die „Hinrichtungsorgien" gegen angebliche ruthenische und serbische Spione sind vielfach belegt, doch die Zahlenangaben sind ziemlich vage. Es mag stimmen - so Hautmann weiter -, „dass Osterreich im Vergleich zu allen anderen kriegsführenden Mächten (das zaristische Russland nicht ausgenommen) die weitaus schärfsten Kriegsgesetze besaß", 100 aber wie sah die Praxis aus? Am Beispiel des Verbrechens der Feigheit kann man etwas genauer argumentieren. Tatsächlich waren die im Militärstrafrecht dafür vorgesehenen Strafen exemplarisch hart. Wir wissen nicht, wie viele Soldaten direkt im Kampf wegen Feigheit von den Vorgesetzten niedergemacht wurden, wir kennen nur die Statistik der Militärgerichte. Aus dem Gebiete der Gesamtmonarchie mussten 7,5 Millionen Männer einrücken, aus dem Gebiete des heutigen Österreich gab es zirka 1 Million Eingerückte. Die Anzahl der Strafsachen der Militärgerichte im Hinterland betrug - auf das Gebiet der Republik bezogen - zu Kriegsbeginn 5.431 Fälle, zu Kriegsende 56.232. Bei den angezeigten Verbrechen waren 1917 etwa 22 Prozent militärischer Natur, 46 Prozent betrafen Diebstähle und Plünderungen. Für die Zeit vom 1. November 1917 bis Ende Oktober 1918 wurden bei einem Verpflegungsstand von 1,8 Millionen Mann genau 4.476 Verurteilungen wegen Verbrechen ausgezählt. Bei den militärischen Verbrechen stand die Desertion mit 29 Prozent an erster Stelle, aber es

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7 I lenken eines russischen Spions,

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gab nur zwölf Verurteilungen wegen Feigheit. Standrechtlich verurteilt wurden während des Krieges 754 Militärpersonen, davon 39 wegen Feigheit; fünf deswegen Verurteilte kamen aus dem heutigen Osterreich.101 Das Problem der Desertion lasse ich hier aus. Es war in der k. u. k. Armee ein Massenphänomen und ging in die Hunderttausende (zirka 5 Prozent der Wehrmacht).102 Die Motive der Desertion konnten sehr unterschiedlich sein; neben Angst wirkten politische Motive mobilisierend. Am Balkan wurden die Deserteure als Helden besungen. Das Forschungsproblem ist die Differenz zwischen den harten Drohungen des Militärstrafgesetzes bezüglich Feigheit und der geringen Anzahl von Verurteilungen. Bereits in der exemplarischen Studie über „Krieg und Kriminalität in Osteireich" wurde auf die wenigen Verurteilungen wegen Feigheit hingewiesen. Die Erklärung dafür, verfasst vom Oberst-Auditor a. D. G. Lelewer, besteht aus zwei Teilen: einem exkulpierenden Teil - die kleine Zahl der „Feiglinge" gebe den militärischen (männlichen) Tugenden der alten Armee ein glänzendes Zeugnis - und einem realistischen Teil - die Richter urteilten milde, weil sie die Stresssituationen der Soldaten im Kampfe kannten, weil sie wussten, dass auch „wackere Soldaten" einmal versagen konnten; obendrein wurden die meisten Delikte disziplinarisch, ohne Anzeigen, erledigt.103 Will der Historiker ein Problem klären, so ist der Gang in die Archive noch immer einer der sichersten Wege. Im Kriegsarchiv blieben in der Zweiten Republik etwa 15.000 Faszikel Militärgerichtsakten aus dem Ersten Weltkrieg erhalten.104 Die Akten des Militärterritorialkommandos Graz (mit den Militärgerichten in Triest, Laibach, Marburg, Klagenfurt und Graz) sind besonders gut geordnet und durch Karteikarten aufgeschlossen - eine Fundgrube zum Alltag des Krieges. Eine vorläufige Aufschließung der Akten ergab, dass die Mehrheit der Strafanzeigen Desertion betraf (18 Prozent), gefolgt von Eigentumsdelikten (15 Prozent) und eigenmächtige Entfernung von der Truppe (10 Prozent).103 In wochenlanger Arbeit suchte ich aus den zehntausenden Karteikarten die Fälle der Paragraphen 243-250, Feigheit betreffend, heraus. Mit diesem Suchraster blieben etwa 60 Aktenzahlen hängen. Im Benützerraum erlebte ich dann die üblichen Enttäuschungen und Frustrationen des Historikers. Viele Akten waren Durchlaufsakten und enthielten kaum Informationen. Aus dem Rest - kombiniert mit den Kriegstagebüchern - lässt sich das oben skizzierte Forschungsproblem in den Grundzügen klären.106 Ein Ansatz zur Klärung liefert das Auftreten einer Panik. Beim 35. Landwehr-Infanterieregiment geriet der Feldwebel Stefan Jankowsky, der einen Train kommandierte, mit zwei Ulanen im August 1914 an der Ostfront in eine „fluchtartige Panik".107 Gerüchte über den stürmenden Feind versetzten die Männer in diese Panik und sie flohen mit ihren Pferden. Jankowsky wurde wegen des Verbrechens der

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8 Albin Egger-Lienz: Die Namenlosen, 1914/16

Feigheit zu sechs Monaten Kerker verurteilt. Das Urteil argumentierte: Die Panik war unbegründet, weil in Wirklichkeit kein Feind vorhanden war. Das heißt nun: Eine echte Panik hätte die Männer von der Anklage der Feigheit befreit. Das Gericht bezog ein massenpsychologisches Element in die Beurteilung mit ein. Panik - führt Elias Canetti aus - erzeugt eine fliehende Masse ähnlich einer Tierherde in Gefahr. Der innere Befehl zur Flucht bestimmt die Panik und dieser instinktmäßige Befehl steht quer zum äußeren Befehl der Tapferkeit. Das Individuum verliert in der fliehenden Masse die Kontrolle über sein Ich und ist so für seine Flucht individuell schwer zu belangen. 108 Bereits im Sommer 1914 traten an der serbischen Front Paniken auf. Hauptmann Ernst Freiherr von Jedina-Palombin seufzte in seinem Kriegstagebuch: „Was sollte ich mit allen diesen nervenschwachen Menschen tun? Nach den Kriegsartikeln wären sie alle zu erschießen gewesen. Ich habe nichts Derartiges unternommen." 1 0 9 Warum auch, wenn der führende General ständig „stockbesoffen" an der Front erscheint und seine Hauptsorge darin besteht, die im Suff verlorenen Zähne zu suchen? 110 Wenn ein Oberleutnant betrunken die Richtung des Angriffes nicht mehr weiß? 111 Auch in Galizien brachen immer wieder Paniken aus. Die große Angst beim Rückzug verstärkte das Debakel. 112 Schon der überragende Historiker Marc Bloch hat aus seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg auf die Bedeutung der Gerüchte als Ursache der großen Angst hingewiesen. Gerüchte sprangen auf, verschwanden „sie setzten die vergangenen Jahrhunderte (der schriftlichen Kultur) gleichsam außer

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Kraft".113 Gerüchte zirkulierten an der Front und im Hinterland. In Czernowitz entstanden vor der Besetzung durch die Russen immer wieder Paniken, von Gerüchten ausgelöst. Die Dienstboten fürchteten das Einbrechen der „Menschenfresser"; die Beamten flohen, was von dem ausharrenden Landgerichtsrat Dr. Regius als feiges Verhalten qualifiziert wurde. 114 Eine weitere Ursache für den Schutz vor Verurteilung wegen Feigheit waren körperliche Gebrechen, schlicht: Notdurft. Einen Landwehr-Rechnungsunteroffizier rettete ein ärztliches Gutachten, das ihm einen Durchfall bestätigte - wodurch die Entfernung von der angreifenden Truppe gerechtfertigt war.115 Ein Infanterist, ein geistig etwas zurückgebliebener Knecht, schiss buchstäblich wegen der Ruhr in die Hosen und konnte so den Angriff nicht mitmachen.116 Lapidar hielt ein Soldat fest: „die schnelle Kathi" - so der Militärjargon fur den Durchfall - „hat eigene Gesetze, verlangt auch unbedingten Gehorsam". 117 An den Grenzen zwischen körperlichen und seelischen Leiden bewegten sich psychosomatische Beschwerden, von der großen Angst verstärkt. Leutnant Ludwig Ritter von Salix - einer der wenigen Offiziere in meinen Straffallen - wurde wegen Feigheit angeklagt, weil er sich im Juni 1915 aus der Schwarmlinie entfernt hatte. Er litt unter häufigem Erbrechen. Wie die Zeugen aussagten, war er eine sehr nervöse Natur, aber nicht feige. Sein damaliger Hauptmann bestätigte: „Solange Salix an meiner Seite sich befunden hat, zeigte er sich ruhig und kaltblütig, die Situation überlegend, keineswegs zaghaft oder feige." 118 Das Gericht setzte Salix außer Verfolgung und ordnete eine Disziplinarstrafe an. Einerseits strömte der Nervendiskurs in die Beurteilungen der Gerichte ein, andererseits wirkte eine Offizierssolidarität und weiters auch eine allgemeine Truppensolidarität zugunsten der Angeklagten. Die ständige Artilleriebeschießung im Karst zerrüttete die Nerven. Von hinten kamen die Steinschläge, die weitaus mehr Verwundete forderten, von unten bestand die Gefahr, von den feindlichen Stollen in die Luft gesprengt zu werden; im Winter drohten die Lawinen.119 Selbst die Anklage beim Feldgericht musste feststellen, dass alle Offiziere durch den langen Krieg und die Unbotmäßigkeit der Marinschaft nervös sind. 120 Ständig auftretende Nervenschocks gehörten zum Kriegsalltag.121 Vor einem Feldgericht sagte ein Zeuge über einen angeklagten Leutnant: „Wohl jeder, der diese schweren Stunden mitgemacht hat, hatte mehr oder weniger Angst." 122 Der Leutnant wurde lediglich versetzt. Mehr und mehr wurde der „Kriegsneurotiker" das Gegenbild zum tapferen Krieger. Es herrschte nicht nur Truppensolidarität. Die Mannschaft beobachtete sehr genau, ob die Offiziere nervlich belastet und ängstlich waren.123 Ein Waldviertler Bauernknecht verweigerte ohne Folgen einen Befehl, weil der Offizier vorher im Kampf „feige" war.124 Der Grazer Offiziersstellvertreter Hartinger schrieb am 30. Jänner 1917 in sein Tagebuch: „Heute war gr. Gerichtstag. Eine Patrouille bestehend aus 1

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Korporal und 2 Mann (Horchposten) weigern sich nachts vor die Hindernisse zu gehen und der Korporal erklärt, dass er Vater von 7 Kindern sei und sein Leben nicht leichtsinnig wegen einer Marotte des Kommandanten auf das Spiel setze. Der Mann wird zwei Stunden lang im Graben angebunden. In mir kocht es. Vom Manne verlangt man, dass er unter allen Umständen aus seinem gesicherten Unterstand hinaus muss, während viele Offiziere im Gefühle ihrer Unersetzlichkeit nicht um eine Burg zu bewegen sind, sich einmal die Stellung ihrer Leute einzusehen."125 Der Verdacht der Feigheit lag ständig in der Luft: der Mannschaft gegenüber den Offizieren, der Offiziere gegenüber der Mannschaft. Häufig mussten die Leute mit der Pistole nach vorne getrieben werden. Im Sprachbabel der k. u. k. Armee konnte bereits ein einfaches Missverständnis den Verdacht der Feigheit nähren. Hauptmann Kohout sagte irrtümlich: Ergeben wir uns „im Namen Gottes", meinte aber „in den Willen Gottes". Fast hätte ihn sein Korporal erschossen, der pathetisch ausrief: „Ich bin ein Österreicher und ergebe mich nicht." 126 Kadett-Aspirant Wladimir Sovak machte eine Selbstanzeige, weil er geredeweise der Feigheit beschuldigt wurde: Kein Soldat könne die Beschuldigung der Feigheit auf sich sitzen lassen. Bestraft wurde er mit 16 Tagen Zimmerarrest wegen „zu kameradschaftlichem Verkehr mit der ihm unterstellten Mannschaft".127 Es gab auch die Scharfmacher, die härtere Strafen forderten. Ein Oberst machte im Jänner 1915 eine Strafanzeige wegen Feigheit eines Infanteristen und fügte hinzu: „Wenn ein Mann eigenmächtig ehrlos die Gefechtslinie verlässt, wo seine Kameraden kämpfen und bluten, um zu marodieren, so erfordert dies die schärfste Ahndung: Erschießen." 128 Meist begnügten sich die Truppenführer allerdings mit dem „Anbinden". 129 Eine Strafanzeige erforderte zu viel bürokratischen Aufwand, denn die Feldgerichte mussten juristisch korrekt vorgehen. „Bei Strafanzeigen fixiert mein den Tatbestand und muss noch einen langen Bericht schreiben, damit es der Auditor bequem hat." 130 In seinen Erinnerungen berichtet der Major des Generalstabes Franz Schubert, wie er 1918 an der Piave den Vorsitz in einem Kriegsgericht übernehmen musste. Er selbst hatte keine Ahnung von der Strafprozessordnung, der Reserve-Auditor, ein Wiener Rechtsanwalt, ebenfalls nicht, man musste erst die Bücher studieren. Da es sich um tschechische Deserteure handelte, wurde nach kurzer Verhandlung ein Todesurteil gefallt. „Uber die Hinrichtung (mir oblag die Erteilung des Schussbefehls) schreibe ich nicht. Die einzige Aufgabe, die mir in meiner Dienstzeit zufiel, die ich nicht nochmals erfüllen möchte." 131 Dort an der Piave, schreibt der Major ¿m einer anderen Stelle, wichen einmal die k. u. k. Truppen zurück. „Als sich einige flüchtend der Brücke näherten, schoss der Feldmarschallleutnant einen Flüchtenden nieder (tot). Auch ich hatte die geladene Pistole in der Hand. ,Schieß', befahl mir der FML. Ich brachte es aber nicht über mich, einen eigenen durch das Trommelfeuer verwirrten Soldaten niederzuschießen."152

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Die Antwort auf das Forschungsproblem, warum die Militärgerichte so wenige Verurteilungen wegen Feigheit aussprachen, kann so formuliert werden: Es wirkte eine gewisse Truppensolidarität. Psychologische Gesichtspunkte wurden beachtet. Man brauchte eine genaue Schilderung der Gefechtssituation; Zeugen waren kaum zu finden, weil die Verhandlungen relativ spät stattfanden. Es war schwierig, abzuschätzen, ob die Fliehenden einer feindlichen Ubermacht wichen oder aus Feigheit flohen. Kurz: Wie kann man Feigheit in der konkreten Situation genau formulieren? Das war ein juristisch schwer lösbares Problem.

6. D I E SPALTUNG DES H E L D E N B I L D E S : BRUTALE UND F E I G E O F F I Z I E R E

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S O L D A T E N ALS O P F E R UND ZÄHE K Ä M P F E R TROTZ A L L D E M

Aus dem untersuchten Quellenmaterial ergibt sich als eindeutiger Befund: In der k. u. k. Armee entstand in diesen „letzten Tagen der Menschheit" ein ungeheurer Hass der Mannschaft auf die Offiziere, ein Hass, der dann in der „österreichischen Revolution" explodierte. Charakteristisch das Schreien eines Mannes bei der Grazer Volkswehr im November 1918: „Jetzt gibt's kane Offiziere mehr, ös Hund habt's nix mehr zu reden, jetzt san mir die Herren." 133 Es war das uralten Verhältnis von Herr und Knecht, das sich in der Revolution kurzfristig umkehrte. Die „Arbeiter-Zeitung" führte einen erbitterten Kampf gegen das Offizierskorps: „So hatte das österreichische Offizierskorps in allen seinen Graden noch zuletzt in einem alles überbietenden Beispiel von Pflichtvergessenheit den Ruf der Untiichtigkeit, Feigheit und Verantwortungslosigkeit bewahrt, den es sich im ganzen Ablauf des Krieges erworben (...) Dem k. u. k. Offizier fehlte doch alles, was den Menschen über seine niedrigsten Triebe zu erheben vermag." 134 Was dann in der „österreichischen Revolution" stattfand, war die öffentliche Kastration der Männlichkeit des Offiziers. Das Soldatenbild spaltete sich. Das Negativbild konzentrierte sich auf die Offiziere, die Soldaten hingegen erschienen als Opfer (in der pazifistisch sozialdemokratischen Version) oder als zähe Kämpfer, trotz der widrigen Umstände (in der deutschnationalen Version). Die Offiziere hingegen fühlten sich tief verletzt, in ihrer männlichen Ehre gekränkt: „Wir haben den Glauben verloren. Den Glauben an dieses Vaterland, das die beispiellose Hingabe der Offiziere mit beispielloser Niederträchtigkeit bedankt hat." 155 Es begann der zähe Kampf um die Wiederherstellung der Ehre des Offiziers, um die Restituierung der Frontgemeinschaft; es begann erneut der Kampf um die Männlichkeit des Kriegers.

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7. D I E P F L I C H T A L S H E I M A T D E S

SOLDATEN

Drei Kriegstagebücher. Drei männliche Charaktere. Drei politische Anschauungen. Drei militärische Ränge. Aber sie treffen sich in der „Pflichterfüllung". Alle drei waren kritische Geister, die ihre Meinungen offen ausdrückten. Am ausgeprägtesten war diese Pflichtgesinnung bei dem Berufsoffizier Radim Kohout. 1884 in Jicin (Böhmen) geboren, 1905 als Leutnant ausgemustert, zehn Jahre später zum Hauptmann ernannt, diente er beim Infanterieregiment Nr. 70. Kohout war ein typisches habsburgisches „Mischmasch" : der Vater Tscheche, die Mutter deutsch-venezianischer Herkunft. Er wuchs zweisprachig auf und fühlte sich weder als Tscheche noch als Deutscher. Er war - wie er betonte - Böhme! 156 Als Offizier wurde er mit dem Gedanken erzogen, dass der Krieg etwas Edles sei, die vornehme Arbeit des Mannes; der k. u. k. Offizier war, daran hielt er fest, keine billige Operettenfigur. „Am Isonzo verblassten selbst die Schrecknisse von Verdun."137 Obwohl die k. u. k. Armee zu Kriegsende auf den Stand der Bettler absank, obwohl er 1918 in die tschechoslowakische Armee eintrat, hielt er an seiner altösterreichischen Gesinnung fest und ließ sich nach drei Jahren pensionieren. Die Karrieristen ekelten ihn an. „Das mir zur Gewohnheit gewordene Pflichtgefühl ist heute nicht mehr modern." 138 1912 trat er aus der katholischen Kirche aus, weil er zum Eucharistischen Weltkongress nach Wien kommandiert wurde. Ein ausgesprochener Choleriker. Er blieb Junggeselle. Er verkörperte den asexuellen, einsamen Typ, wie ihn Otto Weininger im Gegensatz zum normalen, sexuellen, verheirateten Mann entworfen hatte.139 Dieser „absolute Mann" bedurfte keines weiblichen Gegenübers. Etwas von Grillparzers „Armem Spielmann", etwas von Stifters „Hagestolz" lebte in ihm weiter. In seinen eigenen Worten: „Ich lernte Frauen nur von ihrer negativen Seite aus kennen. Im Krieg konnte man sich ihrer Hysterie kaum erwehren. Obwohl ich genug Gelegenheiten hatte, reich zu heiraten, bin ich ledig geblieben und wurde nach und nach ein Einsiedler."140 Kohout besitzt den ethnologischen Blick. Sein Kriegstagebuch ist voll von Beschreibungen der Häuser, der Kleidung, der Lebensgewohnheiten der Menschen an den verschiedenen Kriegsschauplätzen. Er ist ebenso neugierig wie exakt, ja pedantisch. Er stand vom ersten bis zum letzten Tag an der Front. Dementsprechend kritisch ist er gegenüber der Kriegsführung, der Armee im Allgemeinen, dem Hinterland ganz besonders. „Es ist ein Skandal, wie viele Offiziere sich im Hinterland drücken." 141 Immer wieder forderte er strengere Strafen für die Marodeure. Die Feldgerichte urteilten, seiner Meinung nach, viel zu milde; er plädierte dafür, die Prügelstrafe wieder einzuführen. Der Krieg am Balkan hatte seine besonderen Eigenarten: Plünderungen, Augenausstechen, Nasenabschneiden, Vergewaltigungen. Und die österreichische Armee

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war bei diesem Männerwerk mitbeteiligt.142 In Ansätzen wurde bereits ein „Vernichtungskrieg" geführt. Die Truppendisziplin brach immer wieder zusammen, was bei der ethnischen und kulturellen Vielfalt dieser Armee nicht verwundert. Kohouts Einheit bestand im März 1915 aus 113 Serben, 66 Kroaten, 32 Deutschen, 15 Ungarn und drei Ruthenen.143 Diese Mannschaft an der Isonzofront sollte zu Beginn des Krieges gegen Italien den Gruß hinzufügen: Gott strafe das treubrüchige Italien. Erbittert notierte Kohout: „Wie soll es ein Nichtdeutscher aussprechen?"144 Einmal irrte er sich beim Kartenlesen und marschierte in die falsche Richtung. Schon stand er in Verdacht der Desertion. „Man glaubte wohl, dass kein Tscheche seiner Pflicht nachkommen werde." 145 Er hasste die Juden und die Preußen. Für ihn war klar: Die Österreicher waren nur mehr die Hilfsvölker der Deutschen, nach dem Krieg würde erst richtig die deutsche Herrschaft beginnen, dann wäre die persönliche Freiheit des alten Osterreich dahin.140 1918 schrieb Kohout den Brief eines einfachen Soldaten ab, der alles über den Zustand der österreichischen Armee aussagte: „Zum Fressen haben sie nichts mehr, auch keine Bekleidung. Ich habe jeden Tag den Tod hinter mir und möchte lieber fern dieser Bande sein." 147 Aus dem Grazer deutschnationalen Milieu stammte Hans Hartinger, geboren 1880, verheiratet und Vater. Die Familie allerdings kommt in seinem Kriegstagebuch kaum vor. Er diente im Krieg als Unteroffizier, dann als Offiziersstellvertreter im Landsturmregiment (IR) 27. Seine militärische Stellung war etwas diffus. Als Offiziersstellvertreter gehörte er weder zur Mannschaft noch zu den Offizieren; jedenfalls litt er unter den Zurücksetzungen durch die Offiziere. Ein starker Trinker, der jedoch einen „steirischen Sterzverstand" besaß und sich in jeder Lage zurecht fand. Als Deutschnationaler verachtete er Adel und Kirche. Adel und Hochbürokratie kennzeichnete er als „Hochburg geistiger Impotenz" und als Hohlköpfe.148 Die Kirche begegnete ihm in der Person der Militärkuraten (Himmelskutscher), eine „feige Paffendrecksseele". „Fressen tut der Hund für zwei, saufen und rauchen für 10 und fürchten für 100."149 Wie es seinem Milieu entsprach, war er antisemitisch und antislawisch eingestellt. Die Tschechen bewertete er als höchst unzuverlässig, die Ungarn als große Maulaufreißer; die Alpenländer allein verbluteten an der vordersten Front. Nur auf seine slowenischen Soldaten ließ er nichts kommen; sie waren ein Muster an Pflichttreue gegen Kaiser und Reich.150 Aber den Gipfel der militärischen Tugenden verkörperten die Reichsdeutschen: „Stramm wie am Exerzierplatz, singend Mann und Offizier marschieren sie. Und wir: Müde und trübselig schleicht der Heerwurm auf der staubigen Straße .. ," 151 Von Zeit zu Zeit verfiel er dem Heldendiskurs, dann wiederum durchschaute er den Heldenmythos nüchtern und selbstkritisch. Für besonders tapferes Verhalten vor dem Feinde wurde er im Regimentskommandobefehl lobend erwähnt. Sein Kommentar: „lächerlich, tapfe-

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res Verhalten vor d e m Feind. Ich hatte mich höchst tapfer hinter der Felsnase versteckt." 152 Der Dritte, Heinrich Wiesinger, war ein Facharbeiter aus Wien mit gemäßigt sozialdemokratischer Gesinnung, ein begeisterter Bergsteiger. Seine Militärdienstzeit begann im Oktober 1913 beim k. u. k. Feldjägerbataillon Oberst Kopal 10 und endete im November 1918. Das „Abrichten" konnte d e m Sportler, anders als den ungelenkigen Bauernburschen und Knechten, wenig anhaben. Die „kleinen Herrgotte", die Chargen, spielten ihre Macht brutal aus. Beispielsweise mussten sich die Rekruten öffentlich selbst beschimpfen; sie mussten laut nachsagen: „Meine Murta is a Hur." 153 Der Sozialdemokrat ist nicht bereit, sich das gefallen zu lassen: Er notierte: „Meine Mutter ist mir heilig. Die lasse ich nicht in den Dreck zerren." 154 Der Abschied zu Kriegsbeginn von seiner Mutter und seinem Mädel löste - trotz der öffentlichen Begeisterung - bei ihm einen Weinkrampf aus. 155 Er war ein genialer Organisierer, der seinen Wiener Schmäh ausspielte und jenseits d e r militärischen Disziplin immer wieder schwarz Nahrungsmittel auftrieb; ständig verletzte er das Subordinationsgebot, konnte aber die Folgen schlau abbiegen. Er besaß einen praktischen Verstand, den er gegen das theoretische Wissen der Offiziere einsetzte, und als kriegserfahrener Soldat entwickelte er jene Kunst des Überlebens, die d e m kleinen Mann immer auch eine Chance bot. Er akzeptierte die militärische Disziplin nur dann, wenn es unumgänglich war. Er durchschaute die Hohlheit der Ehrenrituale und unterlief sie. Dennoch - und das war recht typisch für sozialdemokratische Soldaten - bekannte er: „Ich bin nach meiner Gesinnung kein Kämpfer für Gott, Kaiser und Vaterland, aber ich wusste von Anfang an, ich muss kämpfen für meine Heimat, für mein Volk." 156

ANMERKUNGEN

1 Militär-Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 15. Jänner 1855 für das Kaiserthum Osterreich, Wien 1855, 95; exemplarisch zur Militärjustiz: Uberegger, Der andere Krieg. 2 Weisl, Das Heeres-Strafrecht, 6. 5 Ebd., 7. 4 Ebd., 8. 5 Frevert, Militär und Gesellschaft, 8, 248-250; dies., Die kasernierte Nation, 271-301. 6 Broch, Die Schlafwandler, 1. Bd., 24-26. 7 Weisl, Heeres-Strafrecht, 66-76. 8 Martin Damianitsch, Vorrede, in: Weisl, Heeres-Strafrecht, III. 9 Krleia, Geschichten gegen den Krieg, 7 f. 10 Frevert, Militär und Gesellschaft, 7. 11 Ebd., 20 f.

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12 Ebd., 38; Hämmerle, Die allgemeine Wehrpflicht zwischen Akzeptanz und Verweigerung: Militär und Männlichkeiten in der Habsburgermonarchie, unpubliziertes Forschungsexposé. 13 Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht, 1-141. 14 Schuster, „... Und immer wieder mußten wir einschreiten!", 55. 15 Loriga, Die Militärerfahrung, 43. 16 17 18 19 20

L. Schuster, „... und immer wieder mußten wir einschreiten!", 57-68. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 220. Gradi, Programm für die achtwöchentliche Ausbildung der Rekruten. Frevert, Militär und Gesellschaft, 51, 203. Ebd., 366; Frevert, Soldaten, Staatsbürger, 69-87; allgemein: Hagemann, Heimat - Front; Hämmerle, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs, 229-264.

21 Zit. in: Allmayer-Beck, Die bewaflnete Macht, 118; Deák, Derk. (u.) k. Offizier 1848-1918. 22 Haas, Nationalbewußtsein, Patriotismus und Krieg, 1007; Winkelbauer, Deutsch-Lesebücher der Habsburgermonarchie, 39; Melichar, Metamorphosen eines treuen Dieners, 105-142; Cole, Vom Glanz der Montur, 589-591; Ostler, Vormilitärische Ausbildung. 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Achleitner, Gott im Krieg, 15. Ebd., 144; Krumreich, „Gott mit uns". Heither u. a., Blut und Paukboden. Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, 164-191. Melichar, Ästhetik und Disziplin, 283-336. Zit. ebd., 327. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann", 166-222; dies., Ehrenmänner. Deák, Derk. (u.) k. Offizier, 155-168, 107-116, Weisl, Heeres-Strairecht, 129 f. Mader, Duellwesen und altösterreichisches Offiziersethos. Ebd., 105. Ehrenrätliche Untersuchungen 1912-1918, Kriegsarchiv (KA) Wien, Präs. Nr. 268; vgl. zum Verfahren: Schmid, Das Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie, 636-653.

35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann", 209. Ehrenrätliche Untersuchungen. Mader, Duellwesen, 39-80. Dagobert Zwilling, Unpublizierte Kriegstagebücher, KA, Nachlässe, B/343. Fellner, Der Krieg in Tagebücher und Briefen, 210. Zwilling, 11.8.1914, 17.8.1914. Ebd., 19.8.1914. Ebd., 31.7.1915. Ebd., 10.3.1916. Ebd., 19.3.1918.

45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., 15.6.1918. Ebd., 17.6.1918. Ebd., 18.6.1918. Ebd., 19.19.1914. Ebd., 22.9.1914. Ebd., 19.10.1914. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Ebd., 136.

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Ebd., 144. Ebd., 400. Ebd., 402. Ebd., 419; Theweleit, Männerphantasien; Hofer, Nervenschwäche. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, 404. Le Rider, Das Ende der Illusion, 149. Dörmann, Was ich liebe, in: Die Wiener Moderne, 357. Dörmann, Intérieur, in: Die Wiener Moderne, 360. Schaukai, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. Sonnleitner, Eherne Sonette 1914, 152; reiches Material dazu: Andrian, Korrespondenzen, Notizen, Essays. Le Rider, Das Ende der Illusion, 105-228; Anderson, Otto Weininger's Masculine Utopia, 433-453. Κ. Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers, 164-274. Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit, 87. Hämmerle, Kindheit im Ersten Weltkrieg, 276; dies, „Wir strickten und nähten Wäsche für Soldaten", 88-128.

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KA, Nachlässe, B/428, 3. Ebd., 11. KA, Nachlässe, B/7, 46. KA, Nachlässe, B/507, 8.9.1914. Ebd., 38. Dörrer, Von Isonzo (Von der Soca) bis in die Seisera, 40. Ebd., 81. Für Italien eindrucksvoll: Bazzanella, Die Stimme der Illiteraten, 334-351. KA, Nachlässe, B/507, 15.9.1914. Kiss, Zerfall der Monarchie, 248. Hanák, Der Garten und die Werkstatt, 209. Ebd., 211. KA, Nachlässe, B/395, 16.9.1916; Bihl, Czemowitz im Ersten Weltkrieg, 115-121. KA, Nachlässe, B/434, 244. KA, Nachlässe, B/365, 14.1.1918. KA, Nachlässe, B/395,4.8.1917. KA, Nachlässe, B/365, 18.5.1916. KA, Nachlässe, B/428, 2.4.1917; vgl. auch den Briefwechsel von Adolf Schärfund seiner Frau im Ersten Weltkrieg: Grisold, Adolf Schärfund der Krieg, 135-254. KA, Nachlässe, B/833, 1-5. KA, Nachlässe, B/428, 26. Ebd., 169. Ebd. Ebd., 188. Bolognese-Leuchtmüller, Imagination „Schwester", 171. KA, Nachlässe, B/434, 264; aus der Sicht der Stäbe sehr eindrucksvoll: Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen. KA, Nachlässe, B/428, 309. Keegan, Die Kultur des Krieges, 41. KA, Nachlässe, B/428, 28.8.1914.

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95 Ebd. 96 KA, Nachlässe, B/428. 149. 97 Hiippauf, Schlachtenmythen und Konstruktion des „Neuen Menschen", 73; F. Weber, Frontkameraden, 119-121. 98 Bourke, Männlichkeit, Krieg und Militarismus in Großbritannien, 33. 99 Hautmann, Kriegsgesetze und Militärjustiz, 116. 100 Ebd., 105; vgl. auch: Hautmann, Zum Sozialprofil der Militärrichter, 21-30. 101 Exner, Krieg und Kriminalität, 111-126. 102 Plaschka, Innere Front, 63; dazu jetzt: Jahr, Gewöhnliche Soldaten. 103 Exner, Krieg und Kriminalität, 134 f. 104 Fodor, Die österreichischen Militärgerichtsakten, 25. 105 Ebd., 42. 106 Für Hilfen bedanke ich mich bei Hofrat Tepperberg und bei Herrn Studeny. 107 KA, Militärgericht Graz (MG), Karton (K) 34, Dst 569/14. 108 Canetti, Masse und Macht, 1. Bd., 22-24. 109 KA, Nachlässe, B/959, 13. 110 Ebd., 166. 111 KA, Nachlässe, B/434, 241. 112 KA, Nachlässe, B/428, 23; zahlreiche Beispiele bei: Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen, 54. 113 Bloch, Apologie der Geschichte, 120. 114 KA, Nachlässe, B/395,4.9.1914, 13.9.1914. 115 KA, MG, Κ 41, 1870/14. 116 KA, MG, Κ 337, E 2540/16. 117 ΚΑ, Nachlässe, B/434, 142. 118 KA, MG, Κ 151, Κ 2002/15. 119 ΚΑ, Nachlässe, B/428, 177; Klavora, Schritte im Nebel. 120 KA, Nachlässe, B/428, 401 ff. 121 KA, Nachlässe, B/365, 24.10.1917; vgl. Müller-Bach, Modernität und Trauma. 122 KA, Nachlässe, B/788, 16. 123 KA, Nachlässe, B/434, 212. 124 Ebd., 296. 125 KA, Nachlässe, B/428, 224. 126 KA, Nachlässe, B/365, 2.7.1915. 127 KA, MG, Κ 367, E 13232/16. 128 KA, MG, Κ 193, Κ 338/16. 129 ΚΑ, Nachlässe, B/365, 31.3.1915. 130 Ebd., Mai 1916. 131 KA, Nachlässe, B/833/1-5, 146. 132 Ebd., 145. 133 KA, Nachlässe, B/428, 20.11.1918. 134 AZ, 26.11.1918, zit. in: Doppelbauer, Zum Elend noch die Schande, 36. 135 Melichar, Die Kämpfe merkwürdig Untoter, 67. 136 KA, Nachlässe, B/365, Nachträgliche Bemerkungen. 137 Ebd., 4. 138 Ebd., Nachträgliche Bemerkungen.

Die Männlichkeit des Kriegers 1914-1918

139 Anderson, Otto Weininger's Masculin Utopie, 455. 140 KA, Nachlässe, B/365, Nachträgliche Bemerkungen. 141 Ebd., 2.11.1914. 142 Ebd., 2.3.1915, 21.12.1915; Holzer, Augenzeugen, 45-74 143 KA, Nachlässe, B/365, Nachträgliche Bemerkungen, 1.3.1915. 144 Ebd., 2.6.1915. 145 Ebd., 15.2.1916. 146 Ebd., 2.7.1916. 147 Ebd., 22.6.1918. 148 KA, Nachlässe, B/428, 34. 149 Ebd., 285. 150 Ebd., 100. 151 Ebd., 62 f. 152 Ebd., 50. 153 KA, Nachlässe, B/434,12. 154 Ebd. 155 Ebd., 78. 156 Ebd., 2. Bd., 9.

II. „NIE WIEDER KRIEG" UND REMILITARISIERUNG DER GESELLSCHAFT 1. P A Z I F I S T E N , K L A S S E N K Ä M P F E R , S O L D A T E N D E R R E P U B L I K

Die Sehnsucht nach Frieden und der Hass auf den Krieg hatten sich im Herbst 1918 in allen Gesellschaftsschichten festgesetzt. Die k. u. k. Armee zerfiel und mit ihr alle Autorität, auch die der militärisch disziplinierten Männlichkeit. In der österreichischen Literatur steht das Meisterwerk der Antikriegssatire, Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit" (1922), als erratischer Block. Aus den „Masken des tragischen Karnevals" schreit die Stimme des sterbenden Soldaten. Der Stimme Gottes bleibt als letztes Wort nur noch der angebliche Satz des alten Kaiser Franz Joseph: „Ich habe es nicht gewollt."1 Die kollektive Grundströmung des Pazifismus fand ihren politisch stärksten Ausdruck in der nun dominanten Sozialdemokratie. Pausenlos prasselten die Anklagen gegen das Militär, viele davon gar nicht haltbar.2 Aber die Erfahrungen des Entsetzens waren überwältigend. Selbst noch 1931, in einer ganz anderen politischen Gefühlsschichtung, klagte „das Volk" an - in fünfzig Briefen über den Krieg. Die Ehre des Menschen stand noch einmal auf gegen die Ehre des Offiziers. Ein invalider Trafikant aus Gloggnitz schrieb: „Alle jene Soldaten, welche im Krieg waren, müssen es bestätigen, dass ihre Ehre in den Kot getreten wurde und dass wir schlechter behandelt wurden als das Vieh. Und das alles für Gott, Kaiser und Vaterland."3 Noch einmal ertönte die emblematische Stimme der Mater dolorosa: „Sie schmiss das kalte, blinkende Medaillon dem Offizier zu Füßen. Riss sich das Kleid auf (...), schrie: ,Das - das für mein Kind? Für meinen goldenen, strammen, gesunden Buben? Was - Vaterland? Was hat mir das Vaterland gegeben? Wo war es, als ich beim Findelhaus stand und als ledige Mutter brutal angeflegelt wurde, als ich mich in Schmerzen quälte um meinen Buben? Hunde - Hunde - seid ihr alle!'" 4 Noch einmal wurde der Schrei der schwer verwundeten Soldaten nach der Mutter hörbar gemacht; diese Regression hin zur Mutter wird von den Anthropologen als universale Gefährdung von Männlichkeit bezeichnet.5 In hartem Kontrast zu diesen Szenen, die vom Pathos des Pazifismus durchweht sind, steht eine andere emblematische Szene, die Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg berichtet: Als 17-Jähriger zog er in den Krieg, mit Leib und Seele Soldat. Dann kam die große Katastrophe für den Adeligen und für den Offizier: der Zerfall des Habsburgerreiches. An einem grauen Novembertag 1918 ging er ins Zentrum der Stadt Linz, eine Menge von Soldaten mit roten Kokarden insultierte zwei Offiziere. Als

..Nie wieder Ki'icfí" und Ki^nii I it ai isic ιιι tifi der Gesellschaft

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Starhemberg einschreiten wollte, raubten ihm die Soldaten den Offizierssäbel und zerbrachen ihn, die schön ziselierte Klinge mit dem österreichischen Kavalleriewahlspruch: „Zieh mich nie ohne Grund, versorg mich nie ohne Ehr", ein Geschenk seines Vaters. Das war die öffentliche symbolische Kastration des Adeligen, des Offiziers, des Mannes angesichts „kreischender Weiber", die stets zum Personal derartiger Szenen gehörten.6. „Ich spuckte das Blut aus und hob die zerbrochenen Stücke meines Säbels und die Tapferkeitsmedaillen auf. ,Verfluchtes Gesindel', dachte ich, ,mit euch werde ich noch abrechnen.'" 7 Der öffentliche Pazifismus der unmittelbaren Nachkriegszeit war mit einer Männerwelt konfrontiert, die an der Front über Jahre hin die mühsam anerzogene Hemmschwelle gegenüber der Gewalt gesenkt hatte, die an die Brutalisierung durch den Krieg gewöhnt war,8 die den Krieg, wie Rosa Mayreder schrieb, als „äußerste Ausgeburt des Mannwesens" erlebt hatte9 und die durch die ständigen Erzählungen der „Heldentaten" das Konstrukt der militärischen Männlichkeit perpetuierte.10 Selbst der sozialdemokratische Pazifismus war von Ambivalenzen geprägt. Die marxistische Großanalyse schob den Krieg den kapitalistischen und imperialistischen Strukturen zu; daher werde es einen „wahren Frieden" erst im Reiche des Sozialismus geben. Gewiss wurde die planmäßige Erziehung der Jugend zum Völkerfrieden angestrebt, gewiss wurde die Verherrlichung des Krieges bekämpft, gewiss war das Bekenntnis zum Frieden ein Kernstück der sozialdemokratischen Festkultur.11 Aber der „Revolutionär", der „Prolet" war als Kämpfer konzipiert. Der Klassenkampf war ebenfalls Kampf, der den ganzen Mann erfordert. Die Errungenschaften der Revolution mussten notfalls mit der Waffe verteidigt werden. Die Ikonologie des Arbeiters zeigte den muskulösen nackten Männerkörper, durch Arbeit und Sport gestählt, der den Hammer jederzeit durch das Gewehr ersetzen konnte. 12 Das Recht des Staates, von den Männern zu verlangen, „das Gemeinwohl durch den Tod zu schützen" (Julius Tandler), galt auch für das politische Programm der Sozialdemokratie.13 Als der 1927 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Psychiater Julius von Wagner-Jauregg nach dem Krieg wegen der brutalen Behandlung der Kriegsneurotiker mit Elektroschocks an den Geschlechtsteilen angeklagt war, verteidigte ihn der führende sozialdemokratische Gesundheitspolitiker Julius Tandler mit dem Argument: Die zahlreichen Simulanten seien „MinusVarianten der Menschheit". 14 Die k. u. k. Armee zerlief. Doch die Männer waren noch bewaffnet und vom Glauben an die Gewalt erfüllt. Unbestritten herrschte die Meinung bei den Parteien, dass die neue Republik Deutschösterreich eines „bewaffneten Arms" bedurfte: für die Sicherung der Ordnung gegen die plündernden Soldaten der kaiserlichen Armee; für den Schutz der demokratischen Verfassung gegen linksradikale Revolutionsversuche; für den Kampf um die territorialen Grenzen im Sinne der so genannten „Selbstbestimmung" der Völker.15 Die „österreichische Revolution" des Jahres

,Nie wieder Krieg" und Remilitarisierung der Gesellschaft

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1918 verlief relativ friedlich. Wie Otto Bauer den Offizieren des Bundesheeres 1921 sagte, habe das Volk „nicht Köpfe abgeschnitten, sondern nur Sterne und Rosetten".16 Die „Volkswehr", sozialdemokratisch beherrscht, entstand aus dem Netz von Vertrauensleuten, die Julius Deutsch, der spätere Staatssekretär für das Heerwesen, noch in der Monarchie aufgebaut hatte. Sie war demokratisch konzipiert und stand unter der Kontrolle der Soldatenräte. Der Soldat galt als vollberechtigter Staatsbürger. Dem Offizier wurde mit dem Säbel, der verboten war, auch die Autorität genommen. Die Mannschaft beschloss, ob sie gehorchen wollte oder nicht. Mühsam konnte die Revolutionslust der kommunistischen Roten Garde gebändigt und das „Apachentum" aus der Volkswehr ausgeschieden werden. Die militärische Hierarchie hatte sich aufgelöst, auch ein fähiger Unteroffizier konnte nun zum „Volkswehrleutnant" aufsteigen, aber die Männlichkeit des Kriegers überlebte. Der Oberbefehlshaber, Feldmarschallleutnant Adolf von Boog, schwor seinen Eid „als deutscher Mann, in heißer Liebe für mein deutsches Volk und mein geliebtes Vaterland Deutschösterreich";17 er gelobte weiters, „die gesamte wehrfähige Staatsbürgerschaft zur Verteidigung des Landes auszubilden und zu erziehen zur ständigen, freiwilligen Bereitschaft, ihr eigenes Land und Volk mit Leib und Leben zu verteidigen". 18 Auch der Volkswehrmann schwor seinen Eid - in dieser Reihenfolge - als Mann, Soldat und Bürger.19 Es gab einen weit verbreiteten Hass auf den Krieg, einen Hass auf die alte Herrschaft und die alte Armee, aber der Pazifismus drang nicht sehr tief; die militärische Männlichkeit wurde kaum in Frage gestellt. Nicht an der Front gewesen zu sein, „Drückebergerei", galt weiterhin als potenzielle Schande. Die Aufgabe der Volkswehr bestand im Grunde darin, die wilde Männlichkeit der Revolution in die gezähmte Männlichkeit der militärischen Disziplin zurückzuführen. Allerhöchster Kriegsherr war nun nicht der Kaiser, sondern die Republik, das Parlament. Und der Krieg ging weiter: als Klassenkampf in Wien und als Unterstützung der „roten Armee" in Ungarn - 1.200 Volkswehrmänner gingen freiwillig an diese Front -, 20 als Grenzkampf im Norden, Osten und Süden, in erster Linie in Kärnten. Im Kärntner Grenzkampf, der seine eigene Mythologie begründete, breitete sich die Militarisierung noch weiter aus, schloss die Mittelschüler und teilweise die Frauen ein. Über den Angriff auf Völkermarkt (2. Mai 1919) heißt es in der Erzählung eines Fachlehrers: „Es war ein erhebender Anblick: Soldaten, Bauern und Zivilisten mit Gewehren in der Hand, junge Burschen und alte Männer, begleitet von wackeren Mädchen aus St. Stefan, Hamburg, St. Jakob und Griffen, die selbst mit Gewehren ausgerüstet, im ärgsten Kugelregen mitgeschossen, Verwundete verbunden oder Munition nachgetragen hatten."21 Es entstand die Heimwehr. Glocken riefen sie zum Kampf. 201 Männer und 15 Frauen sind gefallen.22 Der Historiker des Grenzkampfes, Martin Wutte, interpretierte diesen Krieg als Freiheitskampf für das deutsche Volk. Die „deutsche Sehnsucht", die in der Ersten Republik so verbreitet

Der Krieger

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war, lebte auch von einer geschlechterspezifischen Stereotypie: Die weichen, gefühlvollen, „weiblichen" Österreicher suchten den „Anschluss" an die harten, energievollen, „männlichen" Deutschen. 1938 führte der Ubermann, der gleichsam göttliche Heros, Adolf Hitler, dann Osterreich ins Reich. Zwei Jahrzehnte vorher war es der starke männliche Sozialismus in Deutschland gewesen, der die österreichischen Sozialdemokraten faszinierte.

2 . D E R H U N G E R NACH E H R E U N D DIE POLITISCHE G E W A L T

Die Feuertaufe. Da war die Luft so von überströmender Männlichkeit geladen, dass jeder Atemzug berauschte ... (Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, 1922)

Dabei hatte dieser Krieg 1914 so schön begonnen. Der Jubel bei der Abfahrt vom Nordbahnhof, die Frauen wie verrückt, „einige heben ihre Röcke in die Höhe und stellen den Preis zur Schau, der dem Sieger winkt". 23 Was brauchte ein adeliger Offizier mehr? „Ein gutes Pferd unterm Sattel, genug an Speis und Trank und Spaß mit dem Frauenzimmer in den Quartieren, nur dem gelten meine Sorgen." 24 1918 folgten die Niederlage, der Verlust des Reiches, „etwas Größeres, Weiteres, Erhabeneres als nur ein Vaterland", 25 die Demütigungen, die verlorenen Ehrenstellungen, die Sorge um die ökonomische Existenz. 1918 hatte Österreich-Ungarn 34.000 Berufsmilitärs, 16.473 Offiziere optierten für Deutsch-Österreich, die meisten wurden entlassen. Sie sammelten sich in zahlreichen Interessenverbänden und nährten das Ressentiment gegen die Republik. 26 Die Generalstabsoffiziere besetzten das Kriegsarchiv und setzten den Krieg fort, als Kampf um die Erinnerung. 27 Viele Offiziere strömten in die rechten Wehrverbände. Wie Starhemberg angekündigt hatte: „Verfluchtes Gesindel, mit euch werde ich abrechnen." 28 Ein anderer Offizier und Heimwehrführer schrieb: „Die ihre Pflicht erfüllt haben in schwerster Zeit, sind verspottet worden, verhöhnt und besudelt; dafür hat sich in den Zentralen und Kriegswirtschafts-Anstalten die krummnasige Garde vom Armeekorps Dr. Deutsch breitgemacht.. ,"29 Der antisemitische Offizier, von dem diese Zeilen stammten, war Julius Raab, der brummige Patriarch der österreichischen Politik der 1950er Jahre und Vater des Staatsvertrages. Die Welt des Schützengrabens, die Kameradschaft, in ihrer harten männerbündischen und in ihrer weichen mütterlichen Form, wurden nach dem Ersten Weltkrieg zum Modell für die Zivilgesellschaft. 30 Das Modell „Schützengraben" stand gegen das durch Konflikt und Parteienstreit durchfurchte Modell der parlamentarischen

IO Fürs/ Starhemberg spricht in Krrmsmiinster zu seinen Jägern, l y ·.·· e w fecp^-sw«• " RtijjRiN vN D HABE âVWM.HHA8*ΤΛ>-«·· acBAvr-lN AltEN SriMKvNGS-rAP&EΝ ' í a^^A'IOiErre-íRWTÍW^RüEL-OTWER-wf'HHfN-SWFONIl 2 KvHl-6ELBHCH-WEIS6-RfSl6NI6ReM)-lQ4S SASSE: "NiMMER-WlEDERSEHN-A. t>|S= ®L6EN1*ÖWNENÜEN PHRASEN HEERE: ICH BLEIB »R TREi! EWiG»-Hli&tRAV(HIE ÏWI6KE1T- ; VERBFAÎOtTS SîàWFFS-HâÔëT lEI^«-WEIMUCH-WIE t>IE WWB&rflft KEIN ENDS NIMMT· j ftH

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Schwindel der Natur; eine Drüsentätigkeit; die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips; - oder nicht doch: Es gibt eine Liebe die über jede Definition erhaben ist?" 47 Wie weit reichten die neuen Leitbilder tatsächlich? Die österreichische Gesetzgebung hatte sich wenig geändert, außer im Feld der Politik. Die Scheidung blieb für Katholiken verboten, der Mann blieb Haupt der Familie, Abtreibung und Homosexualität waren weiterhin kriminalisiert. Die „neue Frau" wurde mehr medial vermittelt als in der Realität verwirklicht. In den Kernschichten der Arbeiter und Bauern herrschten die alten Geschlechterrollen vor. Die erwerbstätigen Arbeiterinnen bezogen einen Lohn, der 50 Prozent niedriger als der Männerlohn lag. Zwei Drittel der Arbeiterinnen hatten keine Freude mit ihrer Erwerbsarbeit, träumten von einer Tätigkeit als Hausfrau. 48 Zu den Bauern reichten die neuen Leitbilder schon gar nicht. Die arbeitende Frau gehörte seit alters her zum Hof. Der „Bubikopf war im Dorf eine Provokation. Zöpfe bei den Mädchen, „Gretlfrisuren" bei den Frauen blieben bewahrt. Der Diskursbruch der dreißiger Jahre wertete die ländliche Tracht merkbar auf. Auf dem Leinde funktionierten die alten Geschlechtercharaktere wie immer. Das Idealbild war nach wie vor der „schneidige Bursche" - „stark sein, braungebrannt! Eine haarige Brust zu haben, das hielt ich damals für das Äußerste, was ein Mensch im Leben erreichen könnte."49 Noch weniger als die „neue Frau" reichte der „neue Mann" in die Tiefen der Gesellschaft. Gewiss, es existierten in den Städten der „Tangojüngling" und der „Gigolo", aber sie waren eine scheel angesehene Ausnahme. Die verrohte Männlichkeit musste im Alltag wieder zivilisiert werden. Doch die Traumatisierung der Männer durch Krieg und Niederlage hielt an. Viele flohen, wie im ersten Abschnitt gezeigt wurde, in eine Remilitarisierung durch die Wehrverbände und Männerbünde. 1926 wurde ein „Bund für Männerrechte" als Verein angemeldet.50 Die dreißiger Jahre leiteten mit den autoritären und faschistischen Bewegungen eine neue Maskulinisierung der Gesellschaft ein. Die Weltwirtschaftskrise bildete dafür den Treibsatz.

3. J U G E N D B E W E G U N G UND

JUGENDPSYCHOLOGIE

Der Jugendprotest begann vor dem Ersten Weltkrieg. Er richtete sich gegen bürgerliche Verlogenheit und Doppelmoral, wo über Sexualität, Ehescheidungen und Kinderkriegen nicht offen geredet werden durfte, wo, wie Käthe Leichter, die sozialdemokratische Politikerin und Wissenschaftlerin, später in ihren Jugenderinnerungen, die sie im Gestapogefängnis schrieb, berichtete, einem 15-jährigen Mädchen jedes Wissen über Sexualität fremd war, ein Kuss bereits als sexuelle Hingabe empfunden wurde. 51 Der Aufstand der Jugendbewegung richtete sich gegen Biertisch und Fa-

Die n e u e Sachlichkeit d e r Liebe

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milienphilistertum und gegen den Trubel der Großstadt. Innere Wahrhaftig€ > u r f d ) e n h e r a u s ! keit wollte man erreichen, ein eigenes, selbst bestimmtes Jugendreich errichten. Wandern, singen, volkstanzen, diskutieren, und zwar gemeinsam, Burschen und Mädchen. Bei den Burschen galten offene Kragen, kurze Hosen, die Verweigerung der Kopfbedeckung als Zeichen des antibürgerlichen, antimodischen Protestes, bei den Mädchen Dirndl und Zöpfe (auch bei den jüdischen Mädchen). „Pleinair-Philosophie mit Marsch-Rhythmus und HeubodenErotik", so charakterisierte der expressionistische Dichter Arnold Bronnen, der damals dazu gehörte, in seiner ErinSabrtenblatf òec Deuiicbböbtmn, nerung dieses jugendliche Lebensgefühl.52 Politisch schrieb man die liberale 2. Jofcrs Π»oerober (TKtietmonô) 1913. *· bürgerliche Gesellschaft, die liberale )6 Burschen heraus! Fahrtenblatt der DeutschDemokratie mit ihren Konflikten bereits böhmen /