Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands: Band 12 1963 [Reprint 2020 ed.] 9783112319710, 9783112308530


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German Pages 574 [576] Year 1964

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Table of contents :
INHALT
AUFSÄTZE
DIE PEGAUER ANNALEN, DIE KÖNIGSERHEBUNG WRATISLAWS VON BÖHMEN UND DIE ANFÄNGE DER STADT PEGAU
DIE WENDISCHEN VIERTEL IN LUCKAU 1546 (mit einer Planskizze)
GENERAL HANS GEORG VON ARNIM UND DIE BERLINER HANDELSHÄUSER WEILER UND ESSENBRÜCHER IM DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGE
DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT
NEU BEGINNEN. EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES WIDERSTANDES DER ARBEITERBEWEGUNG GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS
MISZELLEN
HOHBUOKI > HOBEKE > HÖHBECK
KLOSTERFLUCHT UND KLOSTERZUCHT IM 15. JAHRHUNDERT
LITERATURBERICHTE
POLNISCHE FORSCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE
FORSCHUNGEN AUS DEM BEREICH DER MITTELDEUTSCHEN TOPONOMASTIK
LEHREN AUS DER GESCHICHTE BETRACHTUNGEN ZU EINER FRANZÖSISCHEN DARSTELLUNG DER JÜNGSTEN DEUTSCHEN VERGANGENHEIT
BUCHBESPRECHUNGEN
A. ALLGEMEINES
B. EINZELNE GEBIETE
ZEITSCHRIFTENUMSCHAU FÜR 1962
NACHRUF
ANHANG
REGISTER ZU DEN BUCHBESPRECHUNGEN
Recommend Papers

Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands: Band 12 1963 [Reprint 2020 ed.]
 9783112319710, 9783112308530

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J A H R B U C H FÜR DIE G E S C H I C H T E M I T T E L - UND O S T D E U T S C H L A N D S B A N D 12

J A H R B U C H FÜR DIE GESCHICHTE MITTEL- UND OSTDEUTSCHLANDS P U B L I K A T I O N S O R G A N DER H I S T O R I S C H E N K O M M I S S I O N ZU B E R L I N

HERAUSGEGEBEN VON

W I L H E L M B E R G E S UND HANS H E R Z F E L D IM A U F T R A G E D E S

FRIEDRICH-MEINECKE-INSTITUTS DER F R E I E N U N I V E R S I T Ä T B E R L I N B A N D 12

1963

WALTER DE GRUYTER & CO. • B E R L I N vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

REDAKTION HENRYK

SKRZYPCZAK

Assistenz Sabine Wilke * Manuskripte sind nach vorheriger Anfrage an die Herausgeber zu richten: 1 Berlin 45 (Lichterfelde), Tietzenweg 79 (Historische Kommission zu Berlin)

Band 1—10 erschienen im Max Niemeyer Verlag, Tübingen

©

Archiv-Nr. 481964/1 Copyright 1964 by Walter de Gruyter & Co. • vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: W. Büxenstein GmbH., Berlin

INHALT AUFSÄTZE Hans P a t z e , Die Pegauer Annalen, die Königserhebung Wratislaws von Böhmen und die Anfänge der Stadt Pegau Rudolf L e h m a n n , Die wendischen Viertel in Luckau 1546 (mit einer Planskizze) Klaus S c h w a r z , General Hans Georg von Arnim und die Berliner Handelshäuser Weiler und Essenbrücher im Dreißigjährigen Kriege Karl-Alexander H e 11 f a i e r , Die politische Funktion der Burschenschaft von ihren Anfängen 1814 bis zum Revolutionsjahr 1848 an der Universität Halle-Wittenberg Hans J . R e i c h h a r d t , Neu beginnen. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus

1 63 78 103 150

MISZELLEN Herbert W o l f , Hohbuoki >Hobeke>Höhbeck Gerd H e i n r i c h , Klosterflucht und Klosterzucht im 15. Jahrhundert. Zur Geschichte Chorins

189 195

LITERATURBERICHTE Herbert H e 1 b i g und Adelheid S i r a s c h , Polnische Forschungen zur mittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Herbert W o l f , Forschungen aus dem Bereich der mitteldeutschen Toponomastik . . . . Hermann W e b e r , Lehren aus der Geschichte. Betrachtungen zu einer französischen Darstellung der jüngsten deutschen Vergangenheit

207 258 270

BUCHBESPRECHUNGEN (einschließlich Ergänzungsbibliographie) A. Allgemeines: 1. 2. 3. 4.

Hilfsmittel, Fest- und Sammelschriften Allgemeine und zeitlich begrenzte Darstellungen SBZ und Wiedervereinigung Die deutschen Ostgebiete (nach 1945) und das Vertriebenenproblem

279 286 335 355

B. Einzelne Gebiete: 1. 2. 3. 4. 5.

Berlin Brandenburg Mecklenburg Pommern West- und Ostpreußen

358 388 399 402 405

VI

INHALT 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Provinz Sachsen und Anhalt Thüringen Land Sachsen Die Sorben Schlesien Rand- und Zwischengebiete ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

418 424 436 458 461 470 FÜR

1962

Liste der bearbeiteten Zeitschriften

478

A. Allgemeines: 1. 2. 3. 4.

Hilfsmittel. Allgemeine Ostkunde Allgemeine Literatur in zeitlicher Folge SBZ und Wiedervereinigung Die deutschen Ostgebiete (nach 1945) und das Vertriebenenproblem

488 493 499 508

B. Einzelne Gebiete: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Berlin Brandenburg Mecklenburg und Pommern West- und Ostpreußen Provinz Sachsen und Anhalt Thüringen Land Sachsen Schlesien Rand- und Zwischengebiete

510 516 520 523 529 533 536 541 551

NACHRUF

Berthold Schulze (von Johannes Schultze)

555

ANHANG

Bericht über die Tätigkeit der Historischen Kommission zu Berlin in den Jahren 1963 bis 1964 Register zu den Buchbesprechungen Korrekturnachtrag zu Band 11 (Die M a r k Lipani)

557 563 568

HANS PATZE DIE PEGAUER A N N A L E N , DIE K Ö N I G S E R H E B U N G W R A T I S L A W S V O N B Ö H M E N U N D DIE A N F Ä N G E DER S T A D T P E G A U I. D i e Pegauer A n n a l e n II. W i p r e c h t II. v o n Groitzsch und die Königserhebung W r a t i s l a w s II. v o n Böhmen III. D a s K l o s t e r Pegau unter Wiprecht II. I V . Die topographische Entwicklung der S t a d t V . A b t Siegfried v o n Röcken V I . Stifterdenkmale D i e A n f ä n g e der S t a d t Pegau, 2 5 k m südlich Leipzig am linken U f e r der W e i ß e n Elster gelegen, sind in landes- und verfassungsgeschichtlichen A r b e i t e n 1 w i e d e r h o l t behandelt w o r d e n . Auch die Bedeutung, die das Benediktinerkloster St. J a c o b zu Pegau und sein Stifter W i p r e c h t v o n Groitzsch f ü r die Kirchengeschichte und die Frühzeit der deutschen Ostsiedlung hatten, w u r d e n gewürdigt. 2 D i e vergleichenden städtegeschichtlichen Untersuchungen, in denen 1 Siegfried Rietsdiel, Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis, Leipzig 1897, S. 121. zwischen — Johannes R. Kretzschmar, Die Entstehung von Stadt und Stadtrecht in den Gebieten der mittleren Saale und der Lausitzer Neiße ( = Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgesdiichte 75), Breslau 1905, S. 47—49. — Alexander Gündel (Landesverwaltung und Finanzwesen in der Pflege Groitzsch-Pegau von der Mitte des XIV. bis zur Mitte des XVI. Jh.s [ = Bibliothek der sächsischen Geschichte und Landeskunde 2. Bd., 2. H.], Leipzig 1911, S. 1 ff.) handelt eingehend über die Vögte des Klosters. — Johannes Hohlfeld ( S t a d t r e c h n u n g e n als historische Quelle, phil. Diss. Leipzig 1912) wertet die bereits im 14. Jh. einsetzenden Stadtrechnungen für die Verfassungs-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte und die Topographie aus; Abdruck der Stadtrechnung von 1399 ebd., S. 135—174. Die auf S. 134 wiedergegebene Rekonstruktion des Pegauer Stadtplanes für das 15. Jh. ist in den Proportionen so stark verschoben, daß sie zu Fehlschlüssen führen kann. — Walter Schlesinger, Die Anfänge der Stadt Chemnitz und anderer mitteldeutscher Städte, Weimar 1952, S. 87—92. 2 Th. Flathe, Wiprecht von Groitzsch, in: Arch. f. d. Sachs. Gesch. 3 (1865), S. 82—127. — Blumschein, Wiprecht von Groitzsch, in: Zs. d. Ver. f. thüring. Gesch. u. Altertumskunde. 10, NF 2 (1882), S. 331—396. — Otto Posse, Die Markgrafen von Meißen, Leipzig 1881, S. 250 bis 264, mit Stammtafel der Wipredite. — Volkstümlich ist gehalten M. Meiner, Wiprecht von Groitzsch und Abt Windolf von Pegau, Großdeuben b. Leipzig 1927. — Walter Heinich ( W i p -

1

Jahrbuch 12

2

HANS PATZE

Pegau berücksichtigt wurde, haben den Rahmen abgesteckt, in den die Frühgeschichte dieser heute bedeutungslosen Kleinstadt zu stellen ist, und entheben uns der Gefahr einer isolierten Betrachtungsweise, wenn wir im folgenden einige Details eingehender beschreiben, die einer vergleichenden Forschung leicht entgehen konnten. I Wie für zahlreiche andere Städte, die in Verbindung mit einer bedeutenden Kirche entstanden sind, steht für die Erforschung der Frühgeschichte von Pegau eine verhältnismäßig große Zahl Quellen zur Verfügung. Für die Abtei Pegau haben geurkundet: die Päpste Paschal II. 1104 Jan. 30 und Viktor IV. 1162, 3 Kaiser Friedrich I. 1172 4 und 1181, 5 Papst Innocenz III. 1198 6 und Kaiser Friedrich II. 1215. 7 Ferner bildet ein von Erzbischof Albert von Magdeburg und den Bischöfen Engelhard von Naumburg und Ekkehard von Merseburg zwischen Abt Siegfried von Pegau und Markgraf Dietrich von Meißen im Jahre 1219 8 gefällter Schiedsspruch eine ergiebige Quelle für die Aufhellung des topographischen und verfassungsrechtlichen Zustandes der Stadt am Anfang des 13. Jahrhunderts. Weitere Urkunden tragen indirekt zur Vervollständigung des Bildes bei. Auch die Chroniken liefern für unsere Zwecke reiche Informationen. Teilnehmend hat der Chronist vom Lauterberg das Schicksal des bereits genannten Abtes Siegfried von Pegau (1185—1223) beschrieben.9 Ausführlich berichten die Annales Pegavienses, die bis 1227 reichen, über das Kloster und seinen recht von Groitzsch und seine Siedlungen

[ = Mitteldeutsche Heimat 8 ] , Dresden 1932) ist durch

siedlungskundige Beobachtungen nützlich. — Herbert Heibig ( D e r wettinische [=

Ständestaat

Mitteldeutsche Forschungen 4 ] , Münster/Köln 1955, S. 6 2 — 6 5 ) bietet eine zuverlässige

Zusammenfassung über Wiprecht und seine Söhne. 3

Annales Pegavienses,

in: MG, SS X V I , S. 248. — Ph. Jaffe, Regesta Pontificum

Romanorum,

Leipzig 1885/88, N r . 5969. Künftig zit.: Jaffe. 4

Anton Chroust, Unedierte

Königs-

und Papsturkunden,

in: Neues Arch. 16 (1891), S. 144

bis 146 (Viktor IV. S. 1 5 9 — 1 6 1 ) . — Stumpf, Die Reichskanzler

vornehmlich

des 10., 11. und

12. Jh.s, Innsbruck 1865 ff., N r . 4137. Künftig zit.: Stumpf. 5

P . Kehr, Urkundenbuch

Künftig zit.: UB Merseburg. 6

UB Merseburg,

Nr.

des Hochstifts

Merseburg

1 ( 9 6 2 — 1 3 5 7 ) , Halle 1899, N r . 125.

— Stumpf, N r . 4325.

140 ist an Bischof Eberhard von Merseburg gerichtet. Eine entspre-

chende Urkunde stellte Innocenz am gleichen Tage (1198 Juli 13 Rom) für das Kloster Pegau aus; A. Potthast, Regesta Pontificum 7

Chroust, a. a. O., S. 146 f.

8

UB Merseburg,

9

Siehe unten S. 47 f.

N r . 166.

Romanorum,

Berlin 1874/75, Nr. 327.

DIE PEGAUER

ANNALEN.

3

Stifter. 10 Sie sind in einem Codex des 12. Jahrhunderts, der bis 1854 in der Stadtkirdie zu Pegau lag und zuletzt in der Universitätsbibliothek Leipzig verwahrt wurde, überliefert.11 Seine Blätter enthalten eine Abschrift der Chronik Ekkehards von Aura von der Hand des Pegauer Annalisten ( = Schreiber A) (Bl. l - 2 0 0 r ) und die Annales Pegavienses12 mit ihren Fortsetzungen, die noch einen Teil von Bl. 224 r einnehmen. Auf dem Rest von Bl. 224 r und auf Bl. 224 v finden sich einige spätere Einträge, die hier nicht interessieren. Auf Bl. 225-232 v hat der Pegauer Annalist ( = Schreiber A) die älteste bekannte Fassung der Chronik von Goseck überliefert.13 Der Inhalt des Codex ist für die geistige Welt eines solchen Reformklosters überaus bezeichnend. Der Pegauer Annalist befriedigt sein und seiner Brüder Interesse an der Geschichte mit der Weltchronik Ekkehards von Aura. Man darf annehmen, daß der Annalist zwischen 1125 und ca. 1149 die Rezension D, welche bis 1125 reichte und Zusätze aus Schwarzach hat, aus der Mater von Pegau, eben Schwarzach, original oder in einer Abschrift in seine Hand bekam.14 Die Abschrift dieser bedeutendsten Weltchronik salischer Zeit muß nun den historischen Sinn des Schreibers so stimuliert haben, daß er selbst Geschichte zu schreiben beschloß. Er setzte nicht die Weltchronik, durch deren Kopie das Pegauer Jacobskloster mit der geistigen Welt der Reform und des Frankenlandes auch historiographisch verbunden wurde, fort. Dazu waren die Informationsmöglichkeiten in Pegau zu beschränkt, wie sich zeigte.15 Aber der geschichtliche Sinn konnte sich an dem erproben, was die Weltchronik nicht bot, gewissermaßen eine Etage unter der Weltgeschichte: Man konnte die Geschichte des Klosters schreiben. Der Kreis der Geschichtsschreibung dieser Zeit verengt sich, kleinere Objekte werden vor die Linse geholt und für die Nachwelt scharf beleuchtet. Unser Pegauer Annalist folgt dem Zug der Historiographie der Reformklöster, ihre eigene Geschichte und das Leben ihres from10 Annales Pegavienses et Bosovienses, hrsg. v. G. H. Pertz, in: MG, SS X V I , Hannover 1859, S. 232—270. Künftig zit.: PA. 1 1 Ludw. Ad. Cohn, Die Pegauer Annalen aus dem zwölften und dreizehnten Jh., in: Mitt. d. Gesdiichts- u. Altertumsforsch.Gesellschaft d. Osterlandes 4 (1854), S. 472—533, bes. S. 485 f. 1 2 Die Handgleidiheit von Ekkehard von Aura, Pegauer Annalen bis 1149 und Gosecker Chronik hat Pertz festgestellt; vgl. MG, SS X V I , S. 233. 1 3 Rudolf Köpke hat seiner Ausgabe des Chronicon Gozecense in: MG, SS X , S. 140—157 nur zwei Handschriften des 16. Jh.s zugrunde gelegt, die Handschrift des Pegauer Annalisten aber offensiditlidi übersehen; vgl. Richard Ahlfeld, Das Chronicon Gozecense, in: Deutsches Arch. 11 (1954), S. 74—100. Ahlfeld bestätigt (S. 93) die Handgleidiheit von Ekkehards Chronik mit den Pegauer Annalen und der Gosecker Chronik, die er für eine Abschrift vom Original hält. 1 4 R. Holtzmann in: Wattenbach-Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Deutsche Kaiserzeit I, Berlin 1942, S. 493. — G. Waitz in: MG, SS VI, S. 14. 1 5 Siehe unten S. 6, Anm. 27.



H A N S PATZE

4

men, der Reform ergebenen Stifters darzustellen. Auch der Pegauer Annalist verkündet als ersten Programmpunkt in der Praefatio, er wolle über die Gründung des Klosters handeln. 16 Sodann beschäftigten ihn die Ahnen des Stifters. Er verfolgte ihre Reihe weit zurück. Hohes Alter der Stifterfamilie erfüllte sowohl deren lebende Mitglieder als auch den Konvent mit Ahnenstolz. Der PA sagt, er sei mit dieser Genealogie einer Empfehlung von Wiprechts Mutter nachgekommen, die also ein deutliches Interesse hatte, die Ahnenreihe des Geschlechts an der Spitze der Gründungsgeschichte von Pegau stehen zu sehen.17 Vermutlich hat die alte Dame, die als dritte Äbtissin von Vitzenburg a. d. Unstrut starb, 18 den Stammbaum selbst mitgeteilt. Die Ahnenreihe tat der Auffassung Genüge, daß höheres Alter der Sippe höheren Adel schafft.19 Der adlige Gründer trägt den Ahnenkult auch in das vermeintlich von allem laikalen Zugriff befreite Reformkloster, in dem die Stifter ihre Grablege finden, und die Mönche machen sich selbst in dem Bestreben, statt des fehlenden königlichen Gründers einen Stifter aus alter Familie vorzuweisen, zum Künder solchen adeligen Ahnenbewußtseins. Mit anderen Schriftstellern dieses historiographischen Typs teilt der Pegauer Annalist die Absicht, in seinem Geschichtswerk mit dem Tatenbericht des Stifters die wichtigsten Rechtstitel des Klosters zu vereinigen. Er fügte die Urkunde Bischof Albuins von Merseburg von 1105, durch die dem Kloster die Zehnten in der zum Burgward Groitzsch gehörenden Pfarrei 20 übertragen 16

MG, SS X V I , S. 2 3 4 , 2 . 27: Igitur de fundatione Bigaugiensis coenobii intendentes scribere, primo quidem progeniem fundatoris eius ab avis et proavis paulo altius ordientes, narrationem ordiamur. 17 A. a. O., S. 235, Z. 47: Haec quasi per excessum dicta, cum tantae genealogiae nobilitate nos cogente, tum ob commendationem domnae Sigenae, quae fundatorem Bigauiensis coenobii feliciter genitum educavit, tarn insigne genus posteritatis agnoscere cupiens rugosa fronte paululum relaxata lector benignius accipiat. 18 Ihr Todestag ist ein 24. Februar. Über Vitzenburg, das Wiprecht durch Erbfall gewann, berichtet der Annalist zum Jahre 1110. In diesem Jahre heiratete Wiprecht in zweiter Ehe Kunigunde von Beichlingen und sein Sohn Wipredit III. zugleich Kunigundes gleichnamige Tochter. Da der P A in diesem Abschnitt bis ins Jahr 1147/48 vorgreift und mehrfach Dinge berichtet, die „zu dieser Zeit" geschahen, ist nicht alles zum Jahre 1110 zu setzen. So dürfte das Todesjahr Sigenas zwischen 1110 und 1121/23 liegen, w o Wiprecht auf Rat Ottos von Bamberg das Kloster von Vitzenburg nach Reinsdorf übertrug und in ein Doppelkloster unter dem Korveyer Abt Liutger verwandelte; Erich Frh. v. Guttenberg, Das Bistum Bamberg ( = Germania sacra II. Abt. 1. Bd. 1. T.), Berlin und Leipzig 1937, S. 130. 19 Uber die heidnischen Vorstellungen des P A vgl. Walter Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter ( = Mitteldeutsche Forschungen 27) I, Köln, Graz 1962, S. 226. Künftig zit.: KG Sachsens. 20 MG, SS X V I , S. 247, Z. 40 ff.; ÜB Merseburg, Nr. 89. — Schlesinger, KG Sachsens II, S. 365.

DIE PEGAUER

ANNALEN.

5

wurden, und die Schutzurkunde Papst Paschais II. von 1104 21 in seine Annalen ein. Urkundenabschriften gibt es in chronikalischen Quellen schon vor dem 11. Jahrhundert, aber die Aufnahme von echten und unechten Urkunden in Annalen und Chroniken wird für die Reformklöster geradezu charakteristisch. Die Autoren dieser nach höherer Rechtssicherheit strebenden Zeit verleihen ihrer Darstellung damit zugleich größere Quellennähe. Die Absicht, einerseits den Stifter und seine Familie in den von den Reformern gesetzten Schranken zu halten und die eigenkirchenrechtlichen Elemente zurückzudrängen, andererseits die Taten des Stifters für Kirche und Welt zu rühmen, führt dazu, daß wir heute an solchen Klostergeschichten vortrefflich das Bild hochmittelalterlicher Herrschaftbildung studieren können. Der PA hat diesen historiographischen Typ für sein Kloster in idealer Weise verwirklicht, und es verdient Beachtung, daß er ein zweites Paradigma dieser historiographischen Gattung der Reformklöster, die Chronik von Goseck, in seinen Codex eintrug.22 Bis 1125 hat sich der Annalist offensichtlich überwiegend auf die mündlichen Berichte seiner Gewährsleute, vor allem wohl, wie man vermutet hat, auf die Erzählungen des bedeutenden Abtes Windolf, verlassen,23 den er als lebend erwähnt (gest. 1156). 24 Bis zum Tode Wiprechts 1124 fehlt es dem Berichterstatter nicht an Stoff. Nicht weil er Reichsgeschichte schreiben will, sondern weil sein Held Wiprecht, der immer im Zentrum seiner Darstellung steht, an der Reichsgeschichte hervorragenden Anteil nimmt, weitet sich das geschichtliche Bild des Annalisten auf diese aus. Nur in wenigen Fällen hat er an Ekkehard von Aura Anlehnung gesucht. Er wollte gar nicht seine Kloster- in die Reichsgeschichte hineinweben, sondern nur jene berichten. Mit dem Ende von Wiprechts II. Leben ging ihm der Stoff aus. Auch die Handschrift Ekkehards von Aura in seinem Codex versiegte als Quelle. Dem Autor scheint die Feder zu stocken. Er weiß nicht mehr weiter und schreibt von 1125 bis 1137 die Erfurter Peterschronik, an zwei Stellen auch die Magdeburger Annalen, wörtlich aus. Der Eintrag Bucco Wormaciensis episcopus obiit zu 1149 ist der letzte Satz aus seiner Feder. Man muß annehmen, der Annalist hat dieses Jahr nicht überlebt. Allerdings steht dem entgegen, daß in der am Anfang gegebenen Genealogie als jüngste Person Pfalzgraf Otto von Wittelsbach genannt wird. Er wird noch nicht als Herzog von Bayern bezeichnet, obgleich der zu 1180 schreibende Fortsetzer der Annalen über die Verleihung 21

Siehe oben Anm. 3.

22

Abt Nenther von Goseck kam aus Pegau.

23

M G , SS X V I , S. 234, Z. 3 3 : . . . sicut verídica

aliis audierunt,

tum qui viderunt

liante Deo simpliciter 24

et interfuerunt,

et sine verborum

M G , SS X V I , S. 259, Z. 40.

ambagibus

eorum relatione

quorum

plerosque

scire volentibus

comperimus, superstites aperiemus.

tum qui ab

vidimus,

auxi-

6

HANS

PATZE

des Herzogtums an Otto in Altenburg genau berichtet. Cohn 2 5 hat geschlossen, daß der Pegauer Annalist A, der ausdrücklich bemerkt, daß nach dem Tode Ottos I V . von Wittelsbach 1155 sein Sohn, der spätere Herzog, Pfalzgraf wurde, nach 1155 und vor 1180 geschrieben haben müsse (wohl zwischen 1155 und dem Tode des vermutlichen Hauptgewährsmannes, Abt Windolf, 1156 Mai l ) . 2 6 Es bleibt gleichwohl unerklärlich, daß Autor A von 1149 bis mindestens 1155/56 die Feder einem anderen, dem Schreiber B, überlassen und geschwiegen hat. Für die historiographische Technik des Schreibers A ist bemerkenswert, daß er die „gesta" zunächst komplex, ohne chronologisches Gerüst niederschreibt. Erst die eine wörtliche Übernahme aus Ekkehard gibt ihm Anlaß zur Jahresangabe 1079. Fortan versucht er, seinen Bericht bestimmten Jahren zuzuordnen. Die Jahreszahlen 1081 bis 1089 hat er zwar eingetragen, weiß aber nichts zu berichten. Das passiert ihm auch später noch ein paarmal. Wegen chronologischer Ungenauigkeiten ist der Annalist in seiner Glaubwürdigkeit besonders für die Zeiten Heinrichs I V . abgewertet worden. 27 Stenzel 28 hat die Lebensgeschichte Wiprechts zum größten Teil für unbrauchbar erklärt. Andere stimmten ihm zu. 29 Abwegig ist der kritische Hinweis von Cohn, die Vita Wiprechts sei in ihrem früheren Teil wenig durch Parallelquellen beglaubigt und durch Märchen entstellt. Wie kann man einen Autor allein deshalb anzweifeln, weil seine Nachrichten singulär sind? Man wird vielmehr alles das, was nicht aus anderen Quellen als irrig zu widerlegen ist, als glaubwürdig hinnehmen müssen. 26

Cohn (s. Anm. 11), S. 477.

28

Wilhelm Wattenbach (Deutschlands

Geschichtsquellen

im Mittelalter

bis zur Mitte

des

13. Jh.s, II, 3. Aufl., Berlin 1874, S. 250) hat sich Cohns Ansatz zu 1155/56 angeschlossen, während B. Schmeidler (in: Wattenbach-Holtzmann I, S. 602, Anm. 113) die Aufzeichnung des ersten Teils um 1148/49 ansetzt. 27

Es wäre notwendig gewesen, die von Pertz und Cohn über die Sdireiberhände getroffenen

Feststellungen nochmals zu überprüfen, insbesondere sich zu vergewissern, ob die Ausführungen über die Genealogie der Wiprechte (SS X V I , S. 335) tatsächlich von Schreiber A stammen. Leider ist der Codex (Ms 1325) nach Mitteilung der Universitätsbibliothek Leipzig vom 17. 12. 1963 nicht aufzufinden.



W . Wattenbach

(Deutschlands Geschichtsquellen

im

Mittelalter,

II,

3. Aufl., 1874, S. 250) vermutet, daß Schreiber A 1149 schloß, weil sein Exemplar der Erfurter Annalen möglicherweise in diesem J a h r endete. 28

G. A. Stenzel, Geschichte

Deutschlands

unter

den fränkischen

Kaisern

I, Leipzig 1827,

S. 455, Anm. 45. 29

Flathe (s. Anm. 2), S. 84: „In nichts, was über den engen Horizont seines Klosters hinaus-

liegt, ist er unbedingt zuverlässig." Das Urteil Spangenbergs s. u. S. 12, Anm. 40. Blumschein (s. Anm. 2, S. 337 f.) empfiehlt Vorsicht bei der Benutzung der älteren Nachrichten, hält aber das, was seit der Regierung des Abtes Windolf (1101) berichtet wird, für zunehmend glaubwürdig.

DIE PEGAUER ANNALEN .

7

Noch sind ein paar kurze Bemerkungen über die Fortsetzer des eigentlichen Pegauer Annalisten ( = Schreiber A) zu machen. Schreiber B holte zunächst einige Einzelheiten für die Jahre 1140 bis 1149 nach. Man muß annehmen, daß Schreiber B die Handschrift der Erfurter Annalen nicht mehr zur Verfügung hatte, denn er benutzt bei Textabhängigkeit die Magdeburger Annalen. Für die Jahre 1176-1181 wird er zunehmend ausführlicher. Ganz offensichtlich konnte er sich gut unterrichten, weil sich die Ereignisse der Reichsgeschichte zum Teil in Thüringen abspielten. Vielleicht war er 1181 bei Barbarossa in Erfurt und Altenburg. Eine kurze Geschichte der Pegauer Äbte, die bis auf den 1277 wegen Unfähigkeit abgesetzten Thammo reicht, hat J . B. Mencken 1728 abgedruckt. Diese Abtsgeschichte eines Anonymus bietet einige wichtige selbständige Nachrichten zur Geschichte von Pegau unter Abt Siegfried von Röcken.30 Sie ist in einem Codex überliefert, der außerdem genaue Weisungen darüber enthält, wie das Jahrgedächtnis des Stifters, Wiprechts II. von Groitzsch, und anderer Wohltäter des Klosters gefeiert werden soll; ferner beinhaltet die Handschrift die Abtsreihe bis zur Reformation, mehrere jüngere Urkunden des Klosters (1250-1456), das für die weitreichenden Beziehungen des Klosters aufschlußreiche Kalendar sowie das Kalendar des von Pegau aus gegründeten Klosters Chemnitz. II Wiprecht von Groitzsch, mit dessen Namen die Anfänge von Pegau untrennbar verbunden sind, stammte aus der Gegend von Stendal-Tangermünde.31 Dort hatte sein Vater, Wiprecht I., die Balsamorum regio als väterliches Erb30 Anonymus de fundatione et benefactoribus ecclesiae Pegaviensis cum catalogo abbatum Pegaviensium et diplomatibus ad idem monasterium pertinentibus, item calendarium Pegavieme ex antiquo codice bibliothecae academie Lipsiensis, cuius aetas ex his verbis colligitur: Hunc librum dominus Cunradus abbas dedit s. Jacobo apostolo in Pygavia anno benedictionis sue XXXVI, id est annoMCCCIII, in: Joh. Burchhard Mencken, Scriptoresrerum Germanicarum ..., Tom. II, Leipzig 1728, Sp. 101—164. 3 1 Der P A läßt den Stammbaum der Wiprechte in der vierten Generation vor Wiprecht II. von Groitzsch mit den Brüdern Emelricus rex Teutoniae, Ditmarus Verdunensis und Herlibo Brandenburgensis, „welche Harlunger heißen", beginnen. Der P A sucht also die Verbindung zu einer stirps regia herzustellen. E. Ploß (Bamberg und die deutsche Literatur des 11. und 12. Jh.s, in: Jb. f. fränk. Landesforsch. 19, 1959, S. 279) vermutet in „Emelrich" eine Zusammensetzung aus Ermenridi und Amal-, dem Geschlechtsnamen der Gotenkönige. In Ditmarus Verdunensis wird der Vater Dietrichs von Bern gesehen; vgl. dazu auch Flathe (s. Anm. 2), S. 87ff. — Mit Herlibos Söhnen Swetibor und Wulf dürfte die Genealogie bereits zuverlässig sein. Abwegig ist es, wenn Blumschein (s. Anm. 2, S. 346) sagt, Wiprecht könne seiner Abstammung nach kein Slawe sein. Die Angaben des P A entsprechen dem Bild, das uns etwa Adam von Bremen vom sächsisch-slawischen Grenzraum entwirft. Wiprecht I., der Sohn Wulfs, ist einer jener — säch-

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HANS P A T Z E

gut besessen.32 Wiprecht I. hatte die Tochter des Grafen Goswin d. Ä. von Großleinungen (b. Mansfeld), Sigena, geheiratet. Ihre Mitgift bestand aus Mohrungen und Gatersleben. Aus dieser Ehe Wiprechts I. mit Sigena von Leinungen gingen zwei Töchter hervor, von denen die eine ein gewisser Heinrich von Leinungen, die andere Werner d. Ä. von Veltheim heiratete. Dieser Werner von Veltheim hatte zwei Söhne, Werner und Adelgot. Letzterer war 1107—1119 Erzbischof von Magdeburg. Die Veltheimer werden uns in Pegau begegnen. Wiprecht I. hinterließ als spät geborenen33 Sohn unseren Wiprecht von Groitzsch. Seine Mutter Sigena verwand die Trauer schnell und heiratete den Grafen Friedrich von Lengefeld in Franken. Diese Beziehung nach Franken sischen — Adligen, denen gar nicht an einer Missionierung des Slawenlandes gelegen war, denen es viel lieber war, wenn dieses Gebiet weiter heidnisch blieb und sie Plünderungszüge unternehmen konnten: Wicpertus igitur senior Balsamorum . . . possidens fines memor cum paternae virtutis tum iniuriarum quas in expulsione sui jratrumque suorum pertulerat frequenter barbarorum provinciam et praecipue urbem, quae Posduwlc [Pasewalk], id est urbs Wolfi, barbarica lingua dicitur, incursu militari vexabat, praedamque incredibilem crebro asportans comprovincialibus cunctis inde largiebatur. Sic favorem tarn nobilium quam plebium ad fidelitatis gratiam sibi asciverat; SS X V I , S. 235, Z. 35 ff. Es dürfte wenig Quellenstellen geben, die uns ein so realistisches Bild der Plünderungspraxis des sächsisdien (?) Adels liefern. Von Phantastereien und Unglaubwürdigkeit des Annalisten kann hier keine Rede sein. Ebensowenig ist in Zweifel zu ziehen, daß Wiprechts I. ältester Bruder Otto nach Byzanz (Graecia) und der zweite, Hermann, nach Rußland (Ruscia) ging. Kiew wirkte in der Mitte des 11. Jh.s unter Jaroslaw d. Weisen, dessen Heiratspolitik über ganz Europa, vor allem in die skandinavischen Staaten reichte, auf den sächsisdien Adel außerordentlich anziehend. Sächsische und thüringische Adlige haben in dieser Zeit Ehen mit russischen Fürstinnen geschlossen; vgl. Raissa Bloch, Verwandtschaftliche Beziehungen des sächsischen Adels zum russischen Fürstenhause im 11. Jh., in: Festschr. f. Albert Brackmann, Weimar 1931, S. 185 ff. Wir verweisen ferner auf die normannischen Söldner aus Kiew und England in der byzantinischen Armee seit der Mitte des 11. Jh.s, um zu zeigen, welch hohe Wahrscheinlichkeit den Meldungen des Pegauer Annalisten über die Vorfahren Wiprechts innewohnt. 3 2 Johannes Schultze ( N o r d m a r k und Altmark, in: J G M O 6, 1957, S. 91) zweifelt die Nachricht, daß Wiprecht v. Groitzsch mit Tangermünde belehnt wurde, an. Die Stader müssen in der zweiten Hälfte des 11. Jh.s Tangermünde, das im Balsamerland liegt, besessen haben. Dem widerspreche, daß nach dem Pegauer Annalisten Wolf, der Großvater Wiprechts, das Balsamerland erobert habe: Praeterea Balsamorum regio sorte bellica cessit eius dominio. Es fragt sich, ob man die Quelle so interpretieren darf. Ein Widerspruch ergibt sich nur, wenn man die Herrschaft im Balsamerland als lückenlose Flächenherrschaft, in der kein Raum für eine andere gewesen sei, versteht. Das ist unmittelalterlich. Genau wie Wiprecht v. Groitzsch in seiner Heimat und in Groitzsch mit dem Adel Fehde führte und eroberte, so hat sein Großvater sich im Balsamerland eine Herrschaft aufgebaut. Das schließt die Anwesenheit des Staders nicht aus und macht den Annalisten nicht unglaubwürdig. 3 3 MG, SS X V I , S. 235, Z. 31 . . . ex eadem filium genuit. . . quemque . .. posthumum reliquit. — Posthumus ist nicht als „Nachgeborener" zu verstehen, später heißt es (ebd., Z. 41), Wiprecht I. sei gestorben Wicperto filio adhuc puerulo.

DIE PEGAUER

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ANNALEN

sollte für die Gründung des Klosters Pegau und die Kolonisation im Lande zwischen Schnauder und Mulde wichtig werden. Sigena hatte vom Grafen Friedrich von Lengefeld einen Sohn Friedrich und eine Tochter, die, mit einem Grafen Ruotger vermählt, den späteren Erzbischof Ruotger von Magdeburg (1119—1125) gebar. Sigena vertraute Wiprecht von Groitzsch dem Markgrafen Udo von Stade an, der ihm die Schwertleite erteilte 34 und ihn mit Tangermünde belehnte. Wiprecht scheint, was durch sein Verhalten in Groitzsch und Pegau bestätigt wird, schon damals ein ziemliches Rauhbein gewesen zu sein. Dem Markgrafen wurde von mehreren - Adligen - der Rat gegeben, Wiprecht auf ehrenvolle und friedliche Weise aus dem Balsamerland zu entfernen. Diesem Wunsch entsprach Udo von Stade. Er nahm Wiprecht mit in die ihm gehörige Mark Zeitz 3 5 und übertrug ihm im Tausch 36 für die regio Balsamorum das municipium Groitzsch. 37 Für Tangermünde gab er ihm andere zur Nordmark gehörige Lehen. Die Machtbasis Wiprechts war zunächst sehr schmal. Sofort geriet er mit den bereits in der Gegend von Pegau und Zeitz ansässigen Adligen in Streit. Wir können hier in aller Klarheit verfolgen, wie sich ein Mann einfach mit rücksichtsloser Gewalt gegen seinesgleichen durchsetzt und hochkämpft und eine Herrschaft aufbaut. Der Pegauer Annalist beschreibt eindrucksvoll, wie sich der Adel sofort gegen den Eindringling zusammenschart. Während wir über die Erfassung des Landes durch den niederen Adel in der Zeit der Ekkehardinger kaum etwas wissen, enthüllt der Annalist ein geschlossenes Bild von den in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bereits vorhandenen Rittergütern. Gegen Wiprecht verschwören sich Beterich von der Burg Teuchern, Friedrich von Kitzen, Fizelin von Profen und sein Bruder von (Elster-)Trebnitz und Hageno von Tubichin. Wiprecht kann ihnen nicht 34

Wiprecht I. war edelfreien Standes, wie schon seine Ehe mit der Gräfin von Leinungen zeigt,

gehörte aber nicht dem Fürstenstand an. Der Annalist kommt offensichtlich nidit mit dem für das ausgehende 11. Jh. charakteristischen ständischen Aufstieg seines Helden zurecht. Deshalb läßt er ihn schon bei der Schilderung der Schwertleite anklingen: gladio deinde militari a tanto principe 35

[Udo v. Stade], utpote prineipum

collega quandoque

futurus,

nobiliter

accingitur.

..

Die Mark Zeitz scheint nach dem Tode des Markgrafen Otto von Meißen aus dem Hause

Weimar (1067) wieder verselbständigt worden zu sein. 1069 wird vom Burgward K a y n a und fünf zu diesem gehörigen Dörfern gesagt, sie liegen in der Grafschaft des Markgrafen U d o (II.); DHIV,

N r . 228 (verunechtet); vgl. Richard G.Hucke, Die Grafen

von Stade.

900—1144,

Stade 1956, S. 135 f. Dieses Diplom, die Zehnturkunde Bischof Albuins von Merseburg und die Nennung von Groitzsch in den Pegauer Annalen sind die einzigen Nachweise für die Herrschaft Udos II. in der Mark Zeitz. 36

Blumschein (s. Anm. 2, S. 340) zweifelt den Tausch an, weil die Objekte ungleich gewesen

seien. Wir können Umfang und Wert der Objekte nicht beurteilen. 37

Groitzsch muß Wiprecht II. von Udo zu Lehen erhalten haben, denn in der Urkunde

Bischof Albuins von 1105 liegt der Burgward G. noch in der Grafschaft des Markgrafen Udo.

HANS PATZE

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Widerpart leisten und hält es für das klügste, sich einige Zeit auch aus dieser Gegend zu entfernen. 37a Was der Annalist nun berichtet, ist entweder Zeugnis der Phantasie eines Schriftstellers, der alle Momente seiner Fabel ohne einen logischen Fehler gemeistert hat, oder ein in den Grundzügen wahrer Geschichtsbericht, dessen für das Ganze naiv-wahre Tendenz Fehler im Detail eher bestätigen als erschüttern können. Wir werden sehen, was man von ihm zu halten hat: Wiprecht läßt seine Ministerialen Hertwig (von Leipen) und Peter mit dem Auftrag zurück, sie sollten vor Beterich von Teuchern mit der Burg Groitzsch kapitulieren; es war nur an eine Ubergabe auf Zeit gedacht. Sobald Wiprecht sich durch seinen Dienst für den Böhmenherzog und König Heinrich I V . politische Hilfe gesichert hatte, kehrte er zurück und griff seine Eigentumsrechte an Groitzsch wieder auf. Weshalb Wiprecht mit 100 Kriegern sich zu Wratislaw von Böhmen begibt, liegt auf der Hand. Heinrich hatte nach dem Tode des Markgrafen Dedi (1075) die Lausitz dem Böhmenherzog übergeben 38 und seine Hilfe 1076 außerdem durch die Übertragung der Mark Meißen belohnt, die jedoch Markgraf Ekbert praktisch noch zehn Jahre behauptete. 1075 und 1076 hatte der König versucht, mit Hilfe Wratislaws aus Böhmen nach Sachsen vorzustoßen. Mit einem sicheren Gefühl dafür, daß er sich nur in Anlehnung an Mächtigere gegen die renitenten Standesgenossen würde durchsetzen und eine Herrschaft aufbauen können, operierte Wiprecht zwischen dem Böhmenherzog als dem königstreuen Markgrafen von Meißen und dem König und gegen den Adel, der in Sachsen und der Mark dem König feind war. Diese Linie, auf die sich Wiprecht gedrängt sah, wenn er seine eigenen Ziele erreichen wollte, zieht sich durch den Bericht des PA hindurch und läßt jede Tat Wiprechts als folgerichtig und ihre Uberlieferung als glaubwürdig erscheinen. Es verstand sich, daß Wiprecht sich nicht an Ekbert I I . von Meißen anschließen konnte. Der 37

a Bei der Gelegenheit der Erörterung der Grundherren in der Umgebung von Pegau im

11. Jh. sei auf eine Urkunde von 1405 hingewiesen, durch die Erzbischof Otto von Bremen wegen zu großer Entfernung Güter in der Nähe von Pegau ( f e u d a quorumcunque situatorum

prope opidum Pegow...

presertim

bonorum,

que dicuntur

bonorum

die Moenen .. .) an das

dortige Jacobskloster verkauft. Soweit man die Beziehungen zwischen Bremen und dem Osterland übersehen kann, sind diese Güter entweder durch U d o von Stade an Bremen gelangt oder sie gehören tatsächlich zu den Gütern, die Adalbert von Bremen während der Unmündigkeit Heinrichs IV. an sich gebracht hatte. Adam von Bremen berichtet, es habe sich um das Pleißenland gehandelt. Pegau gehört zwar nicht dazu, aber hier mag man eine Ungenauigkeit des weit entfernten Chronisten in K a u f nehmen. Druck der Urkunde von 1405 bei Joh. Peter von Ludewig, Reliquiae 38

manuscriptorum

Posse, Markgrafen

. . . II, Frankfurt und Leipzig 1720, S. 3 3 0 — 3 3 3 .

von Meißen,

Wiprechts siehe unten S. 15, Anm. 45.

S. 177 ff. mit Belegen. Ober den Zeitpunkt der Flucht

DIE PEGAUER ANNALEN .

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Markgraf stand bereits in den Reihen der sächsischen Fürstenopposition, eben der Leute, die ihn nicht hochkommen ließen. Die Art, wie Wiprecht mit seinen Kriegern auf Heldenfahrt an den H o f eines fremden Herrschers zieht, ein paar Leute auf seiner vorläufig einzigen Burg zurückläßt, die Gewalt seines Schwertes verkauft, hat etwas Episches, paßt aber durchaus ins 11. Jahrhundert. Es erinnert an die Praktiken, mit denen die Normannen wenige Jahrzehnte früher in Unteritalien ihre Herrschaften aufgebaut haben. Wiprecht macht am Hofe des Böhmenherzogs sofort Politik; er empfiehlt Wratislaw, den Königstitel zu gewinnen. 39 Als Rat und als politisches Ziel liegt ein böhmisches Königtum in dieser Zeit nicht außerhalb des Wahrscheinlichen, und man muß sich nur wundern, mit welcher Konstanz der Bericht des Pegauer Annalisten gegen alle methodischen Grundsätze immer wieder beiseite geschoben worden ist. 40 Einseitig wurde der Bericht des Cosmas von Prag, obwohl er chronologische Schwierigkeiten bereitet und Cosmas die von ihm im gleichen Zusammenhang überlieferte Prager Bistumsurkunde verändert, sich also verdächtig gemacht hat, als einzig glaubwürdige Mitteilung über die erste böhmische Königserhebung betrachtet. Der viel längere Bericht des Pegauer Annalisten über die Erhebung Wratislaws wurde verworfen, weil er nicht in die Chronologie des Cosmas paßt und es dazu keine Parallelquelle gibt. Was der Annalist dann über den Italienzug Heinrichs I V . berichtet, gilt dort, wo es sich kontrollieren läßt, als zuverlässig. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Vorgeschichte der Königserhebung ein Produkt der Phantasie sein soll, nur weil sie der Annalist als einziger zu berichten weiß. Kaum jemand kann über Vorgänge am böhmischen H o f so gut unterrichtet sein wie die Pegauer Mönche, die sich der besonderen Gunst des Böhmenherzogs erfreuten und in Wratislaws Tochter Judith, der Gemahlin Wiprechts, eine vortreffliche Berichterstatterin lange Zeit zur Verfügung hatten. 38

MG, SS X V I , S. 236, Z. 35 ff. Wiprecht empfiehlt die Annahme des Königstitels aus inner-

politisdien Gründen, nämlidi weil er so den böhmischen Adel sich besser gefügig machen könne. 40

Franz Paladty (Geschichte von Böhmen

I, 1844, S. 316 ff.) beschreibt den Romzug auf

Grund der Pegauer Annalen, schildert jedoch die Krönung Wratislaws zu 1086 auf Grund von Cosmas. — Flathe (s. Anxn. 2), S. 95, Anm. 2 4 : „Freilich unterliegt des Pegauer Mönchs Angabe, daß es Wipredit gewesen, der diesen Anschluß Wratislaus' an Heinrich bewirkt habe, starkem Zweifel, da er selbst über die Königskrönung des Herzogs so schlecht unterrichtet ist [ ! ] , daß er sie vor den Zug nadi Italien statt ins Jahr 1086 und nach Würzburg statt nach Mainz verlegt." — Blumschein (s. Anm. 2), S. 344 f.: „Auf dessen R a t wird ferner sogar v o r der Expedition nach Italien Wratislaus gegen gewisse Bedingungen . . . mit der Königskrone von Böhmen in Würzburg beschenkt." — Paul Sander {Der Kamp} zweiten Exkommunikation

Heinrichs IV. und Gregors VII. von der

des Königs bis zu seiner Kaiserkrönung

[März

1080 bis März

1084],

phil. Diss. Straßburg, Berlin 1903, S. 160 ff.) widmet den Pegauer Annalen einen eigenen E x -

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H A N S PATZE

Die Erhebung Wratislaws zum König als politische Möglichkeit paßt zunächst einmal zu den Ereignissen in Polen. Boleslaw von Polen hatte 1075 den Sachsen Hilfe gegen Heinrich IV. versprochen. 1076 kämpfte der Pole, unterstützt von Kiew unter Wladimir, gegen Böhmen. Auf Seiten Polens stand Gregor VII. 1075 hatte der Papst Legaten zur Durchführung der polnischen Kirchenorganisation, die Boleslaw erbeten hatte, nach Polen entsandt. 41 Während Heinrich IV. sich im Bann befand und mit seiner Absetzung rechnen mußte, hatte sich Boleslaw am 25. Dezember 1076 in Gnesen selbst gekrönt. Im Reich hatte man darauf ablehnend reagiert. 1077 führte Boleslaw d. Kühne auf Bitten Gregors VII. Izaslaw, dessen Beziehungen - vor allem aber die kurs, auf dessen methodische Mängel im einzelnen einzugehen ist. — H . Spangenberg, Die Königskrönung Wratislavs von Böhmen und die angebliche Mainzer Synode des Jahres 1086, in: MIÖG 20 (1899), S. 394, Anm. 2: „Die in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s verfaßten Pegauer Annalen sind besonders in ihrem ersten Theil, der Biographie Wiprechts von Groitzsch, durch Irrtümer und sagenhafte Erfindungen fast bis zur Unbrauchbarkeit entstellt." Zwar gibt Spangenberg auf sieben Zeilen noch eine kurze Zusammenfassung des Pegauer Annalisten, doch wird in dieser bis jetzt als grundlegend betrachteten Arbeit über Wratislaws Königtum der Bericht nicht ernsthaft überprüft. Es folgt dann nur noch eine Bemerkung über die von Wratislaw gezahlten 4000 Talente, wobei Sp. den Leser über die Frage, ob er dem Annalisten glaubt oder nicht, in einen merkwürdigen Schwebezustand versetzt: „Da Wratislavs Krönung nach Ansicht des Annalisten nicht 1085 zu Mainz, sondern 1080 oder 1081 zu Würzburg geschehen, ist es schwer zu entscheiden, ob Heinrich IV. die angegebene Summe in Wirklichkeit zu Mainz vor der Krönung oder vielmehr 1081 vor dem Romzuge überreicht wurde." Mit Paladcy, Tomek und Huber, die er zitiert, scheint Sp. dieses sonst nicht überlieferte Detail aus dem Pegauer Bericht zu akzeptieren. Gründe, weshalb diese Einzelheit glaubwürdig, alles andere aber unglaubwürdig sein soll, werden von Sp. nicht angegeben. — Meyer v. Knonau (]bb. Heinrichs IV. und Heinrichs V. 4, 1903, S. 549 f.) übernimmt Spangenberg und bemerkt nur, daß Sp. auch die Ansetzung zu 1080 bis 81 durch die Pegauer Annalen bespreche. — Adolf Bachmann (Geschichte Böhmens I. Bd., Gotha 1899, S. 268) hat den Aufsatz von Spangenberg offensichtlich noch nicht gekannt. Er setzt die Krönung zu 1086 an und zitiert Cosmas, entnimmt aber dem Pegauer Annalisten (Bachmann, S. 266) die Angabe über ein Kontingent zum Römerzug 1081. — Bertold Bretholz (Geschichte Böhmens und Mährens bis zum Aussterben der Premysliden [1306], München und Leipzig 1912, S. 177 f.) übernimmt den Bericht der PA über den Romzug und die von den Böhmen geleistete Hilfe ohne Bedenken, unterschlägt aber die Königserhebung aus den PA. — Arnold Köster (Die staatlichen Beziehungen der böhmischen Herzöge und Könige zu den deutschen Kaisern von Otto dem Großen bis Ottokar II. [ = Gierkes Untersuchungen, 114. H.], Breslau 1912, S. 96) bezeichnet ohne nähere Begründung den Bericht der PA über die Zahlungen des Böhmenherzogs für die Königserhebung als unzuverlässig, ebenso wird S. 103 die Meldung über den Würzburger Hoftag 1080 als falsch bezeichnet. — Wilhelm Wegener, Böhmen]Mähren und das Reich im Hochmittelalter, Köln/Graz 1959, S. 103: „Nur die Pegauer Annalen verlegen irrig die Königserhebung durch Kaiser Heinrich nach Würzburg." 41

The Cambridge History of Poland, Cambridge 1950, S. 40 ff. Tadeusz Grudzinski (Polityka papieza Grzegorza VII wobec panstw Europy srodkowej i wschodniej [1073—1080], Torun 1959, S. 106 ff.) vermutet, daß die ersten Beziehungen zwischen Gregor VII. und Polen bereits 1073 aufgenommen wurden.

DIE PEGAUER

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ANNALEN.

seiner Frau Gertrud, einer Tochter Mieskos I I . — zur Westkirche wir jetzt genau kennen, auf den Thron von Kiew, nachdem Swiatoslaw 1076 gestorben war. Die Hoffnungen Hildebrands, das Kiewer Reich wieder an Rom anzuschließen, erwiesen sich als nichtig, denn Izaslaw vergaß den Papst, als er ihn nicht mehr brauchte. 1076 hatte Gregor V I I . durch einen Legaten DemetriusZwonimir von Dalmatien krönen und investieren lassen. In der Zeit des Sturzes Heinrichs I V . war Gregor V I I . intensiv beschäftigt, im Osten Europas ein eigenes politisches System aufzubauen und das Werden selbständiger Königreiche, die sich aber möglichst Rom kommendierten, zu fördern. In Ungarn hatte der Papst, als Salomo sein Reich 1074 von Heinrich I V . zu Lehen nahm, protestiert 42 und Ungarn als Lehen des Apostels Petrus in Anspruch genommen. 1077 gewann Ladislaus mit polnischer Hilfe den Thron. In Polen sind die Verhältnisse in den nächsten Jahren dunkel, vor allem die Affäre des 1079 des Verrates an Boleslaw angeklagten und verurteilten Bischofs Stanislaus von Krakau. Die Forschung vermutet, daß Böhmen und das Reich hier die Hand im Spiele gehabt haben, um den gefährlichen Boleslaw zu beseitigen und durch den schwachen und lenkbaren Wladislaw-Hermann zu ersetzen. Ein Zusammenhang zwischen der Hinrichtung Stanislaus' und der Flucht Boleslaws zu Ladislaus von Ungarn scheint zu bestehen. Der Zeitpunkt der Flucht ist nicht klar. Boleslaw hat sich offenbar nach 1079 noch einige Zeit halten können. 1081/82 starb er. So viel wird deutlich, daß der Böhmenherzog ca. 1079 sich als Parteigänger Heinrichs I V . einer gegnerischen Front papsttreuer Fürsten gegenübersah; 43 denn auch Markgraf Luitpold I I . von Österreich war abgefallen und die Mark Wratislaw übertragen worden. Allerdings waren die böhmischen Verhältnisse von schweren Spannungen erfüllt, weil Bischof Gebhard (Jaromir) von Prag (1068-1089/90), der Bruder Wratislaws, gegen dessen Willen den Bischof Johann von Olmütz in der Absicht bedrängte, dieses Bistum wieder dem Prager Sprengel einzuverleiben. Gregor V I I . , der mehrfach in diese Streitigkeiten eingriff, hat Gebhard von Prag zeitweise abgesetzt. 44 42

Tadeusz Grudzinski (Boleslaw Szczodry.

Zarys dziejöw

panowania.

Cz^sc I. [ = Rocz-

niki towarzystwa naukowegu w Toruniu 57, 2 ] , Torun 1953, S. 210) sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Bündnis Boleslaws II. mit den Sachsen und dem Sturz Salomons von Ungarn durch Geisa 1074. Geisa wurde 1074 gekrönt. „Im polnisch-sächsischen Bündnis bedeutete das Aufhetzen

Geisas gegen Salomon eine Leistung Boleslaus' zugunsten

der

Sachsen." — Der zweite Teil des Buches von G. ist bisher nicht erschienen. — Herrn H . G. H e r mann und Frau D. Ziems danke ich für die Übersetzung der polnischen Literatur. 43

Zu ihnen gehört auch Michael von Serbien, der von Gregor VII. 1077 ein vexillum erbat,

aber offensichtlich nicht erhielt; Georg Hofmann, Papst Gregor VII. und der christliche in: Studi Gregoriani I (1947), S. 177. 44

Das Register Gregors VII., hrsg. v. E. Caspar, I, Berlin 1920, Nr. 78.

Osten,

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H A N S PATZE

Das ist der Rahmen, vor dem man eine Königserhebung Wratislaws sehen muß. Es war für Heinrich IV. eine Notwendigkeit, den Böhmenherzog an sich zu fesseln, zumal wenn er sich mit dem Gedanken eines Italienzuges trug. Dazu mußte er sich im Rücken in jeder Weise sichern. Außerdem mußte ihm die Waffenhilfe des Böhmen, wenn er sie um irgendeinen Preis gewinnen konnte, willkommen sein. Man muß nun fragen: Besteht die Wahrscheinlichkeit, daß Wiprecht den Böhmenherzog in einer so wichtigen Frage wie der Königserhebung beraten hat; ist dem Pegauer Annalisten in diesem Punkt zu glauben? Kein anderer als Cosmas von Prag charakterisiert uns mehrfach mit höchst eindringlichen Worten Wiprecht als den einflußreichsten Ratgeber in der Umgebung Wratislaws.44» Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß Wiprecht, wie der Pegauer Annalist berichtet, dem Herzog von Böhmen riet, seine Erhebung zum König zu erbitten und daß er ihm dabei nach bestem Vermögen helfen werde. Der Annalist weiß, daß zu dieser Zeit die Sachsenkriege den König beschäftigten, stellt aber dieses Problem mit einem Satz zurück, lenkt auf den von Heinrich geplanten Italienzug, sieht aber zugleich die Verknüpfung beider Konflikte. Der Italienzug setzt voraus, daß die Sachsen sich ruhig verhalten. Die Sachsen mit zu bekämpfen, ist Wiprecht bereit. Er begibt sich von Wratislaw zu Heinrich IV. Das muß vor der Schlacht von Flarchheim am 27. Januar 1080 gewesen sein; denn Bruno berichtet, daß ein Wiprecht mit anderen sächsischen Adligen nicht lange vor diesem Tag zum König überge44a

Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag, hrsg. v. B. Bretholz, Berlin 1923, S. 144 zu 1088: Ein nadi Polen geflüchteter böhmischer Ritter sucht die Gnade Wratislaws durdi Vermittlung Wipredits . . . remeans de Polonia adiit Wigbertum generum regis rogans, ut per eius suffragia pristinam domini sui possit redire in gratiam. Sed quia hic Wigbertus vir erat in rebus valde discretus, nolens, ut in aliquo socerum suum offenderet. Cosmas, S. 167f.: Et quamvis ipse nosset, inter suos quid esset in quoquam clerico, tarnen recolens illud Salomonis dictum: Omnia, fili, fac cum consilio, advocat Wigbertum, suum per sororem generum, virum sapientem et in talibus negociis eruditum valde et perspicacem, cui et ait: „Tu tempore patris mei regis Wratizlai semper in curia primus inter amicos fuisti, tu mores et vitam Boemorum perspexisti, tu non solum laicos, verum etiam clericos omnes intus et in cute nosti, tuo consilio nunc episcopum eligere volo." Ad hec heros in propria verba non inproprie respondit, „Olim" inquiens, „dum rex pater tuus viguit, meum consilium valuit; nunc horum vivunt homines morum, qui semetipsos putant aliquid esse, cum nihil sint... Est patris tui et nunc tuus capellanus .. nomine Hermannus. Hic Semper fuit regis in servicio constans .. Tunc dux... ait: «... Hic ergo faciam Pragensis episcopus ut sit." — S. 226 zu 1123 nennt Cosmas Wiprecht alter Ulixes. — S. 229 zu 1124: Hisdem diebus moritur gener Wratizlai regis Wigbertus, de quo supra satis meminimus.

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DIE PEGAUER A N N A L E N .

gangen sei.45 Der Pegauer Annalist schreibt die Beteiligung Wratislaws an der Schlacht aus Ekkehard von Aura aus und fügt selbständig hinzu: Huic hello affuit et Wicpertus bellicis eventibus Semper insignis. Wiprecht hat seine Mithilfe an der Niederwerfung der Sachsen unter der Bedingung angeboten, daß der König und die übrigen Fürsten bereit seien, ihm den Schaden, den er neulich im Osterland - von den Adligen in der Umgebung Pegaus - erlitten habe, zu ersetzen. Fürsten und König stimmten dieser Forderung zu. Da ging Wiprecht noch einen Schritt weiter und gab sein eigentliches Anliegen preis, weil er die Stunde für günstig hielt. Nicht nur das Gelobte werde er zum Nutzen des Reiches tun, sondern noch mehr, wenn Kaiser und Fürsten seinen Ratschlägen zustimmten. Es werde der kaiserlichen Würde nicht schaden, sondern nützen, wenn er geschehen lasse und befehle, daß Herzog Wratislaw von Böhmen zum König gekrönt werde. Jener werde dem königlichen Schatz 4000 Talente hinzufügen und obendrein seinen Sohn mit 300 Bewaffneten auf den Italienzug schicken.46 Der „Kaiser" zerbrach sich schon den Kopf (mente fluctuare) über die Verwirrung des Reiches, wie er nämlich die einen, d. h. die Sachsen, niederhalten und die anderen antreiben könne. Hier wird vom Annalisten ganz klar gesagt, wie Wiprecht die Zwangslage des Königs ausnutzt, um ihm das Königtum für den Böhmen abzunötigen. Zwisdien Sachsenkrieg und Kaiserkrone soll der Böhme König werden, weil ein ehrgeiziger Adliger minderen Ranges Politik machen und sich dabei eine Herrschaft erringen will. Wiprecht legt noch etwas zu. Er verpflichtet sich eidlich, dem König 60 Mann zum Italienzug zuzuführen. Darauf beschwören alle Fürsten das Gelübde Heinrichs, Wiprecht sei der kaiserlichen Huld würdig, wenn er das Gesagte mit Taten kompensiere, wenn er über das hinaus, was er schuldig sei, seine Pflicht tue. Mit diesem Versprechen wurde Wiprecht vom König und den Fürsten zu Wratislaw nach Böhmen entlassen. Er berichtete dem Herzog, was er für seine Würde und seinen Namen getan habe, brachte ihm bei, daß er dem Kaiser 4000 Mark Silber und der Kaiserin 30 Pfund schicke und überredete ihn geschickt (luculentula ratione), er solle obendrein seinen Sohn Borwoi mit 300 Gewaffneten nach Italien senden. 45

Brunos Buch vom Sachsenkrieg.

Neu bearbeitet von Hans-Eberhard Lohmann ( =

Deut-

sches Mittelalter. Kritische Studientexte. [ M G H ] 2), Leipzig 1937, S. 109: Sed ille [Heinrich IV.] . . . Saxones . . . diviserat, ut non diu ante diem proelii Widekin,

Wiprecht

ronis filius, cum multis aliis a Saxonibus

. Sander (Der Kampf

ad hostes transirent..

et Theodericus,

GeHein-

richs IV. und Gregors VII. . . ., S. 168) erwägt mit Argumenten, die in keiner Weise zwingend sind, daß Wiprecht erst nach der Schlacht von Flarchheim zum Böhmenkönig geflohen sein könne. — Vgl. audi Otto Posse, Die Markgrafen 46

von Meißen,

S. 184 f.

V. Novotny in: Ceske dejiny I, 2 (1913), S. 2 1 8 — 2 6 1 , räumt der Angabe eine gewisse

Wahrscheinlichkeit ein. Frdl. Hinweis von K.-D. Grothusen.

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HANS PATZE

Die Fürsten, ausgenommen die Sachsen, wie der Annalist richtig betont, kommen zu einem Hoftag nach Würzburg. 47 Der Herzog von Böhmen traf ein, von den vornehmsten Adligen, über die er verfügt, umgeben, Wiprecht ging mit dem versprochenen Schatz voraus. Der Kaiser befahl und der Spruch der Fürsten stimmte zu, daß Wratislaw durch den Erzbischof von Mainz und die Bischöfe von Konstanz und Würzburg die Königsweihe (regalis benedictio) empfange. Von einer Beteiligung Heinrichs durch die Verleihung eines Kronreifs, wie sie Cosmas schildert, ist hier nicht die Rede. Der Grund mag in einem wichtigen Sachverhalt liegen, nämlich: Wie konnte Heinrich, der vorerst nur königliche Würde besaß, einen König machen? Es ist möglich, daß den Beteiligten und dem Pegauer Annalisten, der als später Lebender von Heinrich vor der Kaiserkrönung, vor allem in diesem Zusammenhang, bald 4 7 Sander (a. a. O., S. 164) hält eine Verwechselung mit dem Würzburger Hoftag Barbarossas von 1158 für möglich, um so eher „als der Verfasser . . . in seinem Romfahrtberidit allem Anschein nach wirklich einige Episoden aus dem Römerzuge Friedrich Rotbarts hineingewebt hat". Der Nachweis für diese Motivübernahme wird nicht geführt. Sander fährt fort: „Völlig unglaubwürdig wird aber die Pegauer Darstellung hinsichtlich ihrer Angaben über den Tag von Würzburg dadurch, daß sie auf ihn die Erhebung Wratislaws zum König verlegt. Schon der Umstand, daß sie hierbei die Krönung durch den Erzbischof von Mainz und den Bischof von Würzburg vollziehen läßt, die doch im Jahre 1081 zu den heftigsten Gegnern Heinrichs IV. zählten, macht sie verdächtig, und obendrein steht ihr auch noch das Zeugnis Cosmas' entgegen, demzufolge die Rangerhöhung Wratislaws erst im Jahre 1086 eintrat." Methodisch ist es unzulässig, einem Zeugnis von zweien willkürlich den Vorzug vor dem anderen zu geben, ohne die Unbrauchbarkeit des anderen zu erweisen. Recht zu geben ist Sander darin, daß die Bischöfe von Mainz und Würzburg die Weihe Wratislaws nicht vorgenommen haben können, denn sie standen auf Seiten Rudolfs von Schwaben.

Ein Irrtum bezüglich der Bischöfe, die vom PA nicht mit Namen genannt werden, ist 60 Jahre später denkbar. Dagegen ist es ganz unwahrscheinlich, daß der PA die Krönung Wladislaws 1158 — ob er sie erlebt hat, bleibt zumindest offen — zum Kern der Geschichte Wiprechts gemacht hat, um den sich dessen ganzes Leben und alle politischen Maßnahmen kristallisieren. Nimmt man die Erhebung Wratislaws und die von Wiprecht dabei geleistete Beihilfe aus den Pegauer Annalen heraus, so fallen sie in der kausalen Verflechtung der Ereignisse in sich zusammen. Man muß sich doch fragen: Was hatte der Autor gewonnen, wenn er die Würzburger Krönung von 1158 hernahm und sie in einem höchst raffinierten Verfahren in die Vita Wiprechts, die Politik Heinrichs IV. und den Italienzug von 1081—84 hineinphantasierte? War der Effekt und die in diesem Augenblick notwendig zu erfindende historische Fabel so ertragreich, daß sich das lohnte, wenn der Lebensgang des Pegauer Klosterstifters ganz anders gelaufen wäre? Wie ist es möglich, daß die entscheidenden kontrollierbaren Fakten stimmen, der Hauptkomplex aber vorsätzlich verändert sein soll? Für Bischof Otto von Konstanz, der auf Seiten Heinrichs IV. stand, ist eine Mitwirkung in Würzburg nicht ausgeschlossen; vgl. Regesten zur Geschichte d. Bischöfe von Constanz 1, bearb. von Paul Ladewig u. Theodor Müller, Innsbruck 1895, Nr. 510—514, jedoch ohne Nennung der Pegauer Annalen.

DIE PEGAUER ANNALEN .

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als Kaiser, bald als König spricht, dieses Dilemma aufging. Es scheint, daß Heinrich und die Fürsten in Würzburg nur eine Teilhandlung vorgenommen, 4 8 vielleicht nur eine verbindliche Zusage für die spätere Prager Krönung abgegeben haben, weil Heinrich noch nicht Kaiser war, man aber den Böhmen als Wächter im Reiche gegen die Sachsen während des Italienzuges und seinen Sohn als Verbündeten in Italien nicht einbüßen wollte. Aber wenn diese Meldung des P A zutrifft, ist ein wichtiger Sachverhalt gewonnen. Den Tag von Würzburg zeitlich zu fixieren, bereitet nicht die geringste Schwierigkeit. Es ist der Aufenthalt Heinrichs IV. in Würzburg in der zweiten Hälfte des August 1079. 4 9 Der König war schon zum K a m p f gegen die Sachsen gerüstet, die in Würzburg fernblieben. In Würzburg waren päpstliche Legaten eingetroffen, von denen Heinrich verlangte, sie sollten Rudolf von Schwaben bannen. Das taten sie nicht. Der König schickte sofort sein Heer gegen die Sachsen, verhandelte aber doch erst noch einmal. Ein Waffenstillstand wurde geschlossen. Weihnachten 1079 verbrachte Heinrich in Mainz und rüstete weiter. Gregor V I I . machte durch seine Legaten den letzten Versuch, zwischen Heinrich und den Sachsen einen Frieden herbeizuführen. Die Lega4 8 Aus einem heute verlorenen Codex von St. Emmeram hat Pez eine Gruppe von zehn Briefen, die an König Wratislaw gerichtet sind bzw. ihn betreffen, ediert. Sie sind zuletzt abgedruckt worden in: MGH, Brief Sammlungen der Zeit Heinrichs IV., bearb. v. Carl Erdmann u. Norbert Fickermann, Weimar 1950, S. 387—400. Ober Diktat und Verfasser dieser Briefgruppe hat die Forschung verschieden geurteilt. Bernhard Schmeidler ( K a i s e r Heinrich IV. und seine Helfer im Investiturstreit, Leipzig 1927, S. 151 ff.) hat die Wratislaw-Briefe dem sogen. Mainzer Diktator zugeschrieben. Erdmann (a. a. O., S. 382) stellte eine einheitliche Verfasserschaft in Frage und war der — wohl zutreffenden — Ansicht, daß die Sammlung, in deren Mittelpunkt Wratislaw steht, in dessen Umgebung entstanden sein und auf den eingegangenen Briefen beruhen muß. Zuletzt hat H . K o l l e r {Zur Echtheitsfrage des Codex Udalrici, in: Anzeiger der phil.-hist. K l . d. Österreich. Ak. d. Wiss. 1952, Nr. 25 [ = Mitt. d. Wiener Diplomata-Abt. d. M G H 3 ] , S. 402 ff.) die Verfasserschaft des „Mainzer Diktators" zwar bestritten, jedoch an einheitlichem Diktat festgehalten; er betrachtet die Briefe als eine Fiktion. Die Beweisführung K.s scheint mir nicht ausreichend. Auch wenn es sich nur um eine Fiktion handeln sollte, so würde ihnen inhaltlich doch ein Quellenwert zuzubilligen sein. Die Frage: Wer verdreht absichtlich die Tatsachen? wäre auch für diese (Stil-)Übung zu stellen. Wir lassen die Echtheitsfrage offen. Immerhin sei bemerkt, daß unsere Auffassung von einer stufenweisen Erhebung Wratislaws aus einer Datierungsschwierigkeit zu helfen vermag, vor die sich Erdmann (a. a. O., S. 385) gestellt sah: Brief 1 ist von Clemens I I I . an W. glorioso principi Boemorum gerichtet. Erdmann fiel auf, daß W. nicht mehr als dux, aber noch nicht als rex angeredet wird und schloß daraus, daß die Erhebung W.s zum König zwar schon stattgefunden habe, aber von Clemens noch nicht anerkannt sei. Er setzte den Brief daraufhin zu ca. 1088—1092. Sofern man dem Titel in der Adresse überhaupt Gewicht beilegen will, könnte princeps den Rang Wratislaws nach der Würzburger Erhebung und vor der Prager Salbung bezeichnen. D a in Brief 1 Heinrich IV. bereits Kaiser ist, wäre der Brief nach 1084 März 31 zu setzen. — Herrn Kollegen Classen danke ich für den freundlichen Hinweis auf die Arbeit von Koller. 49

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Meyer v. Knonau, Jbb. Heinrichs

Jahrbudi Ii

IV. u. Heinrichs

V. 3, S. 213 ff.

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ten, die schließlich auch die kirchliche Partei im Reiche gegen sich aufbrachten, zogen ab. Am 27. Januar 1080 schlug Heinrich IV. mit Wratislaw zusammen die Schlacht von Flarchheim. Bruno 50 berichtet, daß die Böhmen nicht geringe Verluste hatten und der Burggraf (praefectus) von Prag fiel. Er ist zweifellos einer der auserwählten Großen, die Wratislaw mit nach Würzburg gebradit hatte. Wie bemerkt, hat der Pegauer Annalist51 in seinem Werk als einzige Stelle die Schlacht von Flarchheim aus Ekkehard von Aura, den er in seinem Codex stehen hatte, wörtlich übernommen, seine Vorlage aber um ein Wort erweitert, das dem folgenden erst den richtigen Sinn gibt: Ibi Vratizlaus dux e t rex Boemiae regalem lanceam Ruodolfi adeptus, quae exinde permissione Imperator is semper quemvis illius gentis ducatu insignem in omni festiva processione praecedit. Die Überreichung der Königslanze Rudolfs von Schwaben erhält doch erst den rechten Sinn, wenn man weiß, was in Würzburg vorausgegangen war und was Ekkehard von Aura nicht berichtet hat. Beim Tode Wratislaws zeigt der PA, daß er eine Persönlichkeit zu charakterisieren versteht. Er sagt vom ersten böhmischen König: vir utique in suo principatu omnibus antecessoribus suis honoris ac potentiae seu diviciarum dignitate incomparabilis. Auf dieses typische Herrscherlob wird ein kontradiktorisches Urteil aufgesetzt: etiam imperatori cunctisque principibus Teutonicis formidabilis, regni tarnen cooperator fidissimus. Vermutlich meint der PA mit dem imperator noch den rex vor der Kaiserkrönung. In den Nöten von Heinrichs Königtum hat Wratislaw dem Salier beigestanden: in multis necessitatibus rege Heinrico regnante frequenter comprobatus. Es scheint, daß der PA von einer zweiten Erhebung durch den K a i s e r Heinrich IV., sicher aber von der Verleihung des Königsreifes gewußt hat. Er schreibt: et ideo non immerito regii nominis excellentia ab eodem imperatore sublimatus regali quoque circulo et lancea primus in ea gente insignitus.52 Man möchte meinen, der PA war sich bewußt, welche Funktion die Übertragung der Lanze Rudolfs von Rheinfelden an Wratislaw in dessen stufenweiser Erhebung hatte. Bei Ekkehard von Aura, der nichts von den Würzburger Vorgängen weiß, erscheint die Übertragung der Königslanze unmotiviert. Zu dieser Königserhebung, die möglicherweise als Pendant zum eben erneuerten polnischen Königtum gedacht war, mochte sich Heinrich als König ermächtigt fühlen. Der Pegauer Annalist berichtet anschließend zu 1080 von einem Zug Wratislaws durch den Gau Nisan nach Leipzig, wobei Wiprecht dem Heere voran50 Brunos Buch vom Sachsenkrieg, S. 65 f. 5 1 MG, SS XVI, S. 241, Z. 34. 5 2 MG, SS X V I , S. 245, Z. 12.

S. 109 f., vgl. dazu Wegener in: 2 R G GA 72 (1955),

DIE PEGAUER A N N A L E N .

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zieht. Auf Rat Wiprechts erwartet der Böhme die Ankunft Wiprechts bei Würzen (Wossin),53 während dieser inzwischen bei Belgern plünderte. Durch rechtzeitiges Eintreffen Wiprechts werden die Sachsen, die die Böhmen bedrängen, in die Flucht geschlagen. Die Böhmen können abziehen. 54 Währenddessen hatte Heinrich IV. die Synode von Brixen abgehalten. Der Böhme wurde auf einen Hoftag nach Regensburg geladen. 55 Offenbar war durch die Königserhebung seine Hoftagspflicht bereits auf Regensburg beschränkt worden. Dort wird das Heer gesammelt. Bayern, Böhmen und die anderen Stämme ziehen über die Burg Weida a. d. Elster nach der Burg (munitio) Hohenmölsen und in Richtung auf die Elster. Die Sachsen greifen den aus Thüringen heranziehenden König an. Man erfährt nicht, ob die Vereinigung mit den Böhmen und Bayern rechtzeitig gelang. Das Heer Heinrichs wird von Hohenmölsen bis Wiederau versprengt. Die Sachsen setzen nach. Rudolf von Rheinfelden wird am Arm verwundet nach Merseburg gebracht und stirbt nach drei Tagen. Wratislaw und Wiprecht, die an der Schlacht von Hohenmölsen teilgenommen haben, geleiten Heinrich mit wenigen Getreuen nach Böhmen. Die Abwesenheit Wiprechts - und die Schwäche der königlichen Sache nach der Niederlage von Hohenmölsen - wird von Wiprechts Gegner Beterich von Teuchern benutzt, um seine Soldaten anzugreifen. Diese erschlagen Beterich aber auf der Flucht in Queisau. Die beiden Ministerialen Wiprechts, Hertwig und Peter, die auf Weisung ihres Herrn zur Täuschung Beterichs von Teuchern diesem die Burg Groitzsch übergeben hatten, öffnen jetzt die Burg Wiprecht wieder. In ihr werden zwei feste Türme erbaut. Wenn man sich an den vom PA gebotenen Stoff hält, so folgt nun der erste Italienzug Heinrichs IV. Wratislaw tut, was er als Gegenleistung für die Königserhebung versprochen hat. Unter Führung seines Sohnes Borwoi stellt er 300 Mann mit Kriegsgerät. Mit Zustimmung Heinrichs wird Borwoi auf Bitten des besorgten Vaters dem besonderen Schutze Wiprechts anvertraut. Bei Ulm treffen sie auf das Heer des Königs. Vor Heinrich steigen sie über die Alpen und verwüsten Burgen und Städte der Lombardei. Die Vorhut hatte Flathe (s. Anm. 2), S. 96: wahrscheinlich Hohenwussen b. Mügeln. Sander (Der Kamp} Heinrichs IV. und Gregors VII. . ., S. 26 f.) und Meyer v. K n o n a u (a. a. O. 3, S. 332) akzeptieren diesen Bericht des P A . — Posse, Die Markgrafen von Meißen, S. 187. 53

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5 5 M G , S S X V I , S. 241, Z. 4 4 : Interea imperator ab Ytalia rediens curiam suarn Boemo apud Radisponam indixit. Sander (a. a. O., S. 164 f.) hält nicht für ausgeschlossen, daß es sich dabei um die Rückkehr von der Brixener Synode handelt, erwägt aber, ob der P A nicht die Zusammenkunft Heinrichs IV. mit Wratislaw in Regensburg 1084, die bezeugt ist, meinen könnte. Zu erweisen vermag Sander die Richtigkeit seines Verdachtes auch hier nicht.

2*

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im Sinne der Kriegstechnik dieser Zeit bereits ganze Arbeit geleistet, als der König eintraf. Die Einzelheiten der Kämpfe und Belagerungen übergehen wir. Die Taten Wiprechts im Kampf um Rom hat der Held dem Geschichtsschreiber vielleicht noch selbst erzählt, in der Ferne der Zeit übersteigert und verklärt: Wie er den von den Römern eingeschlossenen König in letzter N o t heraushaut, indem er ihm sein Schwert leiht. Zusammen mit einem seiner Soldaten ersteigt Wiprecht 1083 die Mauer der Leostadt, während der König gegen die Tore stürmt. 56 Fast gelingt es Wiprecht, den Papst, der die Engelsburg erreichen will, zu fassen. H a r t wird um die Pforten von St. Peter (?) gekämpft, ohne Schild, nur einen Dolch in jeder H a n d , stürmt er an der Spitze der Menge die Kirche, und nun schaudert es den Annalisten, wie sein Held in berserkerhafter Wut überschäumt. Das Sakrileg ist vollkommen. Der Papst muß in das Sanktuarium flüchten. Die Szene wirkt wie ein düsteres Vorspiel des Tages von Anagni. Gregor befindet sich in der Gewalt Wiprechts, man verhandelt und streitet. Schließlich wird der Papst mit dem König versöhnt, die durch Blut befleckte Kirche neu geweiht. Wir wissen aus anderen Berichten nichts von einer Gefangennahme des Papstes durch die Leute Heinrichs. Der Annalist berichtet zu anschaulich und in den allgemeinen Zusammenhängen auch richtig, als daß man alles der Phantasie oder der Anleihe im Heldenlied zuschreiben müßte. Nicht auseinandergehalten hat der Annalist die beiden Päpste. Stets ist nur vom apostolicus die Rede. So bleibt unklar, daß Clemens I I I . Heinrich gekrönt hat. 57 Wiprechts Leute reiben sich im Kampf f ü r den Kaiser auf, auch die Böhmen. Von sechzig bleiben fünf und von dreihundert neun. Aber ohne Furcht gehen sie in den Tod. So entsteht ein erschütterndes Bild der Italienzüge. Heinrich zieht nach Verona zurück und leistet sich dort den Scherz, Wiprecht einen Löwen entgegenzuschicken. Der Held vermag sich der plötzlichen Gefahr mit bloßer H a n d zu erwehren. Das Tier schüttelt sich und trollt sich. Die erwartete Sensation bleibt aus. Der Erzähler kann im Verhalten des Löwen nichts anderes als ein Walten der göttlichen Vorsehung erblicken. Nach der Zwischenfrage, was dieser Scherz solle, zeigt der Held seine reale Seite: Er wolle jetzt nach Hause ziehen, er glaube, sich durch die f ü r das Reich ertragenen Mühen und Gefahren einen angemessenen Lohn verdient zu haben. Was an diesem Italienzug gut gelaufen sei, verdanke er, der Kaiser, ihm, Wiprecht. Für den Wirklichkeitssinn der Zeit ist es doch nun be56

Meyer v. Knonau (Jahrbücher 3, S. 477) bemerkt, daß Landulf, die Vita Heinrici IV und der P A in ihrem Bericht über die Einnahme der Leostadt im wesentlichen mit Gregors VII. eigener Schilderung übereinstimmen. 57

MG, SS X V I , S. 239, Z. 8.

DIE PEGAUER ANNALEN .

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zeichnend, daß die Löwenepisode nicht ausgewertet wird, um die Kraft und den Mut des Helden zu beweisen, sondern der Held remonstriert gegen den Kaiser: Er wolle nach Hause zurückkehren und anderen dienen, die seiner Zuverlässigkeit bedürften; sein Leben sei ihm zu schade, um es in einem Spiel mit Bestien zu riskieren. Wütend und gefürchtet wendet er sich vom Kaiser ab. Der Held ist so verärgert, daß der Kaiser nicht mehr direkt mit ihm sprechen kann, sondern den Erzbischof von Mainz und andere Fürsten bitten muß, an seiner Statt aus Kirchengut und anderen herrschaftlichen Einkünften Wiprecht zu entschädigen. Nur mit Mühe gelingt es den Fürsten, Wiprecht so weit zu besänftigen, daß er die Gaben annimmt, die statt des Kaisers sie ihm anbieten: Der Erzbischof von Mainz gibt 1300 Talente Beneficium, der Kölner den ganzen Orlagau, die Bischöfe von Halberstadt und Münster je 500, die Äbte von Fulda und Hersfeld je 300 Talente. Der Kaiser entschuldigt sich nochmals, bevor er wagt, ihm die Burg Leisnig zu übereignen. Später gibt ihm Heinrich zum Königshof Allstedt ein Lehen von 300 Talenten und den Hof Dornburg. Wiprecht und Borwoi erhalten vom Kaiser die Erlaubnis, nach Hause zurückzukehren. Auf Rat Wiprechts belohnt der Kaiser die böhmischen Soldaten. Dann verwendet sich der Böhme bei Heinrich IV. für eine Entschädigung Wiprechts, worauf der Kaiser dem Borwoi empfiehlt, sein Vater, Wratislaw, solle an Stelle des Kaisers Wiprecht belohnen und sich dabei dessen erinnern, daß er, Wratislaw, seine neue Würde soeben mit kluger Vermittlung Wiprechts von Groitzsch errungen habe.58 Sie kehren nach Hause zurück. Borwoi bittet seinen Vater, Wiprecht an Stelle des Kaisers für seine Taten zu belohnen. Wiprecht schlägt kostbare Waffen, die der König von Ungarn gerade übersandt hat und die ihm der Boemus rex übergeben will, aus. Auch von den reichen Schätzen, die ihm der rex anbietet, nimmt er nur einen geringen Teil. Schließlich teilt Borwoi seinem Vater den geheimen Wunsch Wiprechts mit: Er solle Wiprecht seine erwachsene Tochter Judith anvertrauen. Diese Ehe sei für den Schutz Böhmens nützlicher, als wenn er sie mit dem Großfürsten von Kiew oder dem König von Ungarn verheirate. Wratislaw gibt diesem Wunsche nach und führt Wiprecht seine Tochter, die er mit varia ornamentorum insignia ausstattet, zu. Damit nicht genug. Die politische Zielstrebigkeit Wiprechts geht weiter. Die Provinz, die der Böhmenkönig seiner Tochter als Mitgift be5 8 MG, SS X V I , S. 240, 2 . 36: At ille [Wiprecht] nil inpraesentiarum se sed curri oportunum foret tunc postulaturum allegabat; hoc tamen desiderare, ut eodem Boemicì regis fìlio mediante et prò eo, ut confìdebat, sagaciter intercedente, eius patri remunerandus commendaretur, ut vice imperatoris eius servicium recompensaret non immemor proprii honoris et nominis Wicperto fideliter ac sagaciter amministrante nuper recuperati.

H A N S PATZE

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stimmt hatte und die man wohl in Böhmen zu suchen hat, lehnt Wiprecht ab, vielmehr erbittet und erhält er außerhalb dieser vorgesehenen Provinz die pagi Nisan und Bautzen. Seiner Gemahlin erbaut er als Witwensitz die Burg (urbs) Sdiwerzau (8 km sw. Pegau). Wir halten hier zunächst einen Augenblick inne. Was wir bisher aus den Pegauer Annalen mitgeteilt haben, bildet eine eng verzahnte Einheit kausaler Zusammenhänge. Die vom PA mitgeteilten Fakten werden von der Forschung als glaubwürdig akzeptiert. 59 Selbst das, was der Annalist über den Italienzug berichtet, stimmt in entscheidenden Punkten mit anderen Quellen überein. Einzelheiten haben sich in der Erinnerung verschoben oder sind übertrieben. Vieles von dem, was er sagt, läßt sich aus anderen Quellen stützen. Der Angelpunkt von Wiprechts Leben, von dem sein Aufstieg seinen Ausgang nimmt, ist die Vermittlung zwischen Heinrich IV. und Wratislaw. Man wird bei der Kritik einer Quelle Irrtümer über Details durchgehen lassen, die Erfindung des Kernstückes des Berichtes aber nicht unterstellen dürfen, solange sie nicht evident erwiesen ist. Der PA verfügte in seinem Kloster über beste Informationsmöglichkeiten über die Vorgänge in Böhmen. Sein Hauptgewährsmann, Abt Windolf, hatte Jahrzehnte in engster Verbindung mit Wiprecht II. gestanden. Es ist kaum denkbar, daß der PA - unter den Augen des Abtes - die Rolle des Klostergründers bei der Königserhebung Wratislaws frei erfunden hat. Sein Bericht hat in der Forschung neben der Darstellung, die Cosmas von Prag gegeben hat, nicht bestehen können. Durchgesetzt haben sich die Ausführungen, die H . Spangenberg 60 über die Krönung Wratislaws auf Grund von Cosmas gemacht hat. Indes scheint uns, daß sich die beiden Quellen nicht ausschließen, sondern sich vereinbaren lassen. Spangenberg ist der Meinung, daß im Frühjahr 1086 - zu diesem Zeitpunkt berichtet Cosmas über das Ereignis - für eine Synode zu Mainz, auf der Heinrich IV. die Rangerhöhung des Böhmen vornahm, kein Raum sei. Ob sein Versuch, die Erhebung Wratis5 9 Auch über die Thronkämpfe in Böhmen während der Jahre 1109/10, in die Wiprecht auf Seiten Borwois eingegriffen hat, ist der P A erstaunlich gut informiert; M G , S S X V I , S. 250 f. Daß Wiprecht II. unter den verschiedenen Kandidaten für Borwoi eintritt, erklärt sich einleuchtend aus der gemeinsamen Teilnahme am Romzug von 1081. Die Gegnerschaft Heinridis V. gegen Borwoi und Wiprecht II. hat wiederum die Gefangennahme Wiprechts III. durch den König zur Folge. Wiprecht II. kann den Sohn nur gegen die Preisgabe von Leisnig, Nisan, Budessin und Mohrungen aus der Gefangenschaft auf der Burg Hammerstein befreien. Heinrich V. gibt diese Güter Hoyer von Mansfeld zu Lehen und macht sich damit Wiprecht II. endgültig zum Feind. Die Verschwörung mit anderen sächsischen Fürsten gegen den König muß Wiprecht mit dreijähriger Gefangenschaft auf dem Trifels büßen, nachdem sein Sohn nur durch Verzicht auf Groitzsch und andere Besitzungen die Todesstrafe abgewendet hat. Somit schließt sich der Kreis von Wiprechts Schicksal, das auch im Niedergang aufs engste mit der böhmischen Sache verbunden ist. 60

Siehe oben Anm. 40.

DIE PEGAUER

ANNALEN.

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laws mit der Mainzer Synode von 1085, 6 1 auf der der Gottesfriede verkündet wurde, in Zusammenhang zu bringen, geglückt ist, stellen wir dahin. Cosmas berichtet, daß auf dem Tag von Mainz der Kaiser unter Zustimmung aller Reichsfürsten den Herzog von Böhmen sowohl an die Spitze Böhmens als auch Polens stellte, indem er seinem Haupt mit eigener Hand einen Königsreif aufsetzte und befahl, daß Erzbisdiof Egilbert von Trier ihn in Prag zum König salbe und ihn mit einem Diadem kröne. 62 Dann wird zunächst ausführlich 6 1 Uber eine Auszeichnung des Herzogs von Böhmen auf dem Reichstag von Mainz 1085 berichtet nur ein Nachtrag zu den Altzeller Annalen aus dem 15. Jh., für den Spangenberg ohne Angabe von Gründen selbständigen Wert beansprucht.

MG, SS X V I , S. 4 1 : 1085. Bohemia fit regnum antea ducatus sub Henrico tercio imperatore. Henrichs III. imperator Maguncie in presencia electorum tarn spiritualium quam secularium principem Wratislaum ducem Bohemie magnifice decoravit, coronam regalem capiti suo itnponens, sublimavit in regem; precipiens archiepiscopo Treverensi, ut Präge in ecclesia metropolitana iuxta morem unctionis Romanorum regum, hoc est in capite, pectore, inter et trans scapulas atque manus ungat in regem et ipsum regalibus insigniis in proprio suo regno decoret. Quod et fecit et tarn ipsum quam uxorem suam coronis regalibus insignivit. Que unctio iuxta morem Romanorum regum in coronacione singulorum regum Boemie in eius perhennem memoriam iugiter observatur. Idem rex jundavit ecclesiam Wissengardensem magnifice et ibidem requiescit in domino; sedes est parrochialis. — Leider hat Spangenberg von dieser Quelle des 15. Jh.s nur wiedergegeben. Wenn man alles liest, kann man nur sagen: Vorden ersten Satz bis decoravit trefflich! oder: Bedenklich? Der Altzeller Schreiber weiß es zu genau. Ich fürchte, man wird letzteres sagen müssen und Spangenberg bestreiten müssen, daß der Altzeller Schreiber, der sein wichtigstes Argument für 1085 ist, selbständigen Wert hat. Altzelle besaß eine unserer besten Cosmas-Hss., die Hs. A 3a (12./13. Jh., Bretholz, Ausgabe, S. L V I I I ff.). Wenn der Altzeller Schreiber seine Nachricht über die Erhebung Wratislaws aus dieser Hs. genommen hat, so wäre der Ansatz zu 1085 nur durch Irrtum, das Wissen, daß Wratislaw Wisserad gegründet hat, gar nicht zu erklären, denn Cosmas weiß davon nichts bzw. schreibt darüber nichts. — Dagegen fehlten in Hs. A 4 , die 1870 in Straßburg verbrannte, Cosmas' Worte Anno — Romanorum. Damit gerät die Königserhebung Wratislaws ins J a h r 1085, das in A 4 vermerkt war. A 4 enthielt auch die Gründungsgeschichte von Wisserad, in der Wratislaw als Stifter bezeichnet wird (Bretholz, Ausgabe, S. 252—254). Allerdings würde auch diese Hs. (bzw. eine mit ihr zusammenhängende) nichts über die Grabstätte Wratislaws ergeben. — Die Bemerkungen des Altzeller Schreibers über Salbung und Krönung sind, wie der Wortlaut ziemlich deutlich verrät, kaum etwas anderes als in die Vergangenheit zurüdcprojiziertes Wissen über diese Zeremonien, wie sie dem Schreiber aus der Gegenwart bekannt waren. So bestehen größte Bedenken, dem Altzeller Zusatz des 15. Jh.s selbständigen Wert zuzusprechen. 82 Cosmas, hrsg. von Bretholz, I I , 37, S. 134 ff.: Anno dominice incarnationis MLXXXVI. Iubente et peragente Romanorum imperatore tercio Heinrico augusto celebrata est sy in urbe Magoncia, u b i IUI archie pisc o pi et XII presules, quorum no d us magna nomina post docebimus, simul cum abbatibus monasteriorum residentes plu r i m a d e er e t a super statu s anete ecclesie scriptis roboraver unt. In quo conventu idem cesar omnibus s u i r e gni optimatibus, ducibus, marchionibus, satrapis et episcopis assentientibus et collaudantibus ducem Boemorum Wratizlaum tarn Boemie quam Polonie prefecit et inponens capiti eius manu sua re-

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HANS PATZE

über die Abgrenzung des Bistums Prag gehandelt. Den Bericht des Jahres 1086 beschließt Cosmas mit der Schilderung der Prager Krönung am 15. Juni. Egilbert von Trier salbt den mit den königlichen Herrschaftszeichen versehenen Wratislaw und setzt ihm ein Diadem und seiner Gemahlin einen Reif aufs Haupt. 6 3 Geistlichkeit und Adel akklamieren dreimal. Am dritten Tage kehrt der Erzbischof reich beschenkt zurück. Nun hat neuerdings Dusan Trestik die starke stilistische Abhängigkeit des Cosmas von Regino von Prüm nachgewiesen.64 Sie besteht auch bei der Schilderung der Synode von Mainz. Wenngleich die wörtliche Anlehnung an eine Vorlage noch nicht gegen die inhaltliche Selbständigkeit eines Textes spricht, so ist doch auf Grund dieser Beobachtung und der noch folgenden Beanstandungen der Eindruck nicht ganz zu beseitigen, daß Cosmas einen zumindest leicht schwankenden Boden für die Rekonstruktion dieses wichtigen Ereignisses der Geschichte Böhmens bildet. Auch ist nicht zu übersehen, daß Cosmas anders als der PA - keine Begründung für die Rangerhöhung Wratislaws gibt. Man hat sie deshalb als einen Akt der Dankbarkeit des Kaisers betrachtet. Der Historiker wird eher an den harten Handel: Krone gegen Hilfe zum Italienzug glauben, den er nur vom Blatte abzulesen und nicht zu rekonstruieren braucht. Außerdem weiß er, daß der zweite König von Böhmen rund 80 Jahre später unter gleichen Umständen erhoben worden ist. 6 4 a Nachdem Cosmas die Krönung Wratislaws in Mainz durch Heinrich I V . geschildert hat, geht er auf die Angliederung des Bistums Olmütz an Prag ein, die Heinrich I V . in Mainz verfügt haben soll. Bei dieser Gelegenheit wird Bischof Johannes von Olmütz von Cosmas bereits als tot bezeichnet, während die Olmützer Bischofsliste 65 seinen Tod erst am 25. November 1086 meldet. galem circulum,

iussit archiepiscopum

Treverensem

treopoli Praga in regem ungat et diadema

nomine Egilbertum,

capiti eius imponant.

ut eum in sede stta me-

— Sperrungen bezeichnen die

Obereinstimmungen mit Regino von Prüm zum Jahre 8 9 5 ; vgl. u. Anm. 64. Aus dem Schreiben Erzbischof Hartwigs von Magdeburg (und Abtes von Hersfeld) ( M G H ,

63

Briefsammlungen

. . ., S. 391, N r . 3) ist zu entnehmen, daß Hartwig darauf geredinet hatte, den

König zu salben; vgl. auch Schmeidler, Kaiser Heinrich Dusan Trestik, Kosmas a Regino,

64

IV., S. 183 f.

in: Ceskoslovensky (Sasopis historicky 8 (1960), S. 580,

und Barbara Krzemienska-Dusan Trestik, O dokumencie

praskim

z roku

1086,

in: Studia

zrödloznawcze 5 (1960), S. 84. Herrn Dr. Trestik, Prag, danke ich für den Hinweis auf die beiden wichtigen Aufsätze. 64

> Nach Vincenz von Prag (MG, SS X V I I , S. 668) versprach Wladislaw unmittelbar, nach-

dem Barbarossa am 18. Jan. 1158 in Regensburg die Krönung vorgenommen hatte, er werde dem Kaiser bei der Bekämpfung Mailands beistehen. Bekanntlich haben die Böhmen auch dieses Versprechen eingelöst; Henry Simonsfeld, Jahrbücher

des Deutschen

Reiches unter Friedrich

1, Leipzig 1908, S. 603. 65

Vgl. dazu die Literatur bei Bretholz, Cosmas-Ausgabe, S. 135, Anm. 4.

/.,

DIE PEGAUER

ANNALEN.

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Die Prager Krönung fand nach Cosmas nach dem Mainzer Reichstag, und zwar am 15. Juni statt. Man gerät also durch den Tod des Johannes v. Olmütz bereits in Schwierigkeiten, wenn man den Mainzer Reichstag von 1086 auf 1085 setzt. Aber auch wenn man ihn zu 1086 beläßt, bleibt die Schwierigkeit. Gebhard von Prag erreichte in Mainz, was er seit je angestrebt hatte: die Wiedervereinigung der Diözese Olmütz mit Prag. Cosmas hat die bekannte Urkunde Heinrichs IV. (D H IV, Nr. 390) über diesen Rechtsakt im vollen Wortlaut in seine Chronik aufgenommen und - ganz ungewöhnlich - auch das Monogramm nachgezeichnet. Eine Ausfertigung dieses Diploms besitzen wir bekanntlich nicht. Außer durch die Handschriften des Cosmas ist es durch eine Nachzeichnung des ausgehenden 11. Jahrhunderts im HStA. München und eine Abschrift in einem Mainzer Register des 13./14. Jahrhunderts (samt einer von dieser abhängigen Abschrift) im Staatsarchiv Würzburg bekannt, v. Gladiß hat in der Urkunde das Diktat des Herimann A erkannt, der alle von ihm unterfertigten Diplome auch selbst verfaßt habe. Als Diktat des Herimann A können nidit angesprochen werden die Teile von der Arenga bis zur Dispositio einschließlich der Grenzbeschreibung. W. Schlesinger66 hat zuletzt auf folgende Unstimmigkeit bei Cosmas hingewiesen: Den Ausstellungsort Regensburg, den Nachzeichnung und Abschriften haben, läßt Cosmas weg. Man hat den Eindruck, daß es geschehen ist, um eine Übereinstimmung mit seiner gerade ausgesprochenen Behauptung zu erreichen, die in D H IV, Nr. 390 genannten Geistlichen seien alle 1086 in M a i n z gewesen. Eine Diskrepanz wäre um so schlimmer gewesen, als das actum in D H IV, Nr. 390 auf Regensburg lautet, auf das es hier ja gerade ankommt. Da Cosmas betont, Wratislaw habe g e g e n die Absicht seines Bruders Gebhard, die Diözese Olmütz mit Prag zu vereinigen, Widerstand geleistet, so verwundert es, daß in D H IV, Nr. 390 die Wiedervereinigung beider Kirchenprovinzen nicht nur mit Zustimmung, sondern sogar auf Bitten Wratislaws erfolgt. 67 Cosmas läßt sine und suoque weg und verzichtet damit auf die Angabe des Grundes für diese Maßnahme. Er hat also bei der Wiedergabe der Prager Urkunde offensichtlich zwei Veränderungen vorgenommen, von denen eine, die Auslassung des Handlungsortes Regensburg, für unseren Gegenstand von Belang ist. Wenn D H IV, Nr. 390 echt ist, wie H . Beumann gezeigt hat, so verliert doch die Behauptung des Cosmas, er sei in Mainz dabei gewesen, als Heinrich IV. die Urkunde vollzog, an Glaubwürdigkeit. 66

H e l m u t Beumann und Walter Schlesinger, Urkundenstudien zur deutschen Ostpolitik unter III., in: Arch. f. Diplomatik 1 (1955), S. 243 ff. 67 H . Beumann u. W. Schlesinger, Urkundenstudien, S. 246: „Es liegt nahe zu vermuten, daß die endgültige Zustimmung Vratislavs zur Wiedereingliederung Mährens in die Prager Diözese der Preis war, den er für die endgültige Erhebung zum Könige zahlen mußte." Otto

H A N S PATZE

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Es hat sodann das Erstaunen der Forschung erregt, daß in D H IV, Nr. 390 Wratislaw als dux bezeichnet wird, obgleich Cosmas gerade mit großem Nachdruck die Krönung des Herzogs durch den Kaiser beschrieben hat. Schmeidler68 hat dies damit erklärt, daß Heinrich IV. die von ihm vollzogene Krönung nicht als endgültig angesehen habe. Diese Deutung vereinbart sich mit unserer Auffassung. Die Mitteilungen des PA und des Cosmas lassen sich zu folgendem Bild vereinigen: 1079/80 hat Heinrich IV. unter Vermittlung Wiprechts II. gegen die Stellung eines Truppenkontingentes für den Italienzug und eine — zweifellos für das gleiche Unternehmen benötigte - erhebliche Summe einer Erhebung Wratislaws in Würzburg in Form einer Salbung zugestimmt. Eine Krönung hat Heinrich noch nicht vorgenommen, weil er noch nicht die Kaiserwürde besaß. Nachdem er diese 1084 erlangt hatte, stand der Erhebung eines Herzogs zum König nichts mehr im Wege. 1085/86 hat Heinrich IV. Wratislaw einen Kronreif aufs Haupt gesetzt und der Erzbischof von Trier die mehrgliedrige Handlung durch Salbung und Krönung mit einer Krone in P r a g zum Abschluß gebracht. Wir hätten es bei der Erhebung des ersten Königs von Böhmen mit einem stufenweisen Akt — vergleichbar der deutschen Königserhebung69 - zu tun, der durch die politische und rechtliche Situation bedingt war. Es scheint uns nicht ausgeschlossen, daß bei der Prager Krönung der Nachdruck auf der Erhebung Wratislaws zum König von Böhmen und Polen lag. Cosmas sagt, Wratislaw sei tarn Boemie quam Polonie vorgesetzt worden. Wenn in Prag der besondere Akzent darauf lag, daß Wratislaw auch zum polnischen König gemacht wurde, so wäre damit der Brief Erzbischof Wezilos an Clemens III. einleuchtend erklärt. Wezilo von Mainz bittet den Papst um Verständnis für den von Heinrich IV. an Wratislaw verliehenen Titel eines Königs von Polen.10 Es kann nicht überraschen, wenn Clemens III. es nicht ohne Schmeidler, Kaiser Heinrich IV., S. 182. Heinridi Mitteis, Die deutsche Königswahl. Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle, 2. Aufl., Brünn, München, Wien 1944, S. 48. 70 MGH, Brief Sammlungen der Zeit Heinrichs IV., S. 390, Nr. 2: Significavit autem nobis rex Boloniorum, ut ita dicamus salva vestri reverentia, immo humiliter implorat familiari devotione, quia offendisset vestre serenitatis clementiam magis hac sola nominis simplicitate quam alicuius importunitatis conscientia . . . Intimamus itaque paternitati vestrq de eodem supplici vestro, nostro filiolo, quia quicquid in hac re factum est, ex prqcepto filii vestri domni imperatoris et totius regni consensu et astipulatione definitum est. Nec immerito. Wezilo weist sodann auf die Verdienste Wratislaws um Kaisertum, Reich und Clemens I I I . hin. — Brief Nr. 10 ist von Erzbisdiof Wezilo ebenfalls gerichtet an Glorios(us) Boloniorum re(x) O. ( = Wratislaw). Es wäre denkbar, daß Boloniorum von Pez, auf den wir uns verlassen müssen, aus Boemorum verlesen ist, doch wird seine Wiedergabe eben durch Cosmas gestützt. Mit Ausnahme des Briefes 68

69

DIE PEGAUER

ANNALEN.

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weiteres akzeptierte, daß Wratislaw den erst 1076 neu geschaffenen Titel eines Königs von Polen beanspruchte. Die Erweiterung des Königstitels auf Polen geht offenbar parallel mit der Ausdehnung des mit Prag vereinigten Bistums Olmütz bis nach Krakau, das unzweifelhaft polnisch war. Der Bischof von Krakau wendet sich nur an den König Wratislaw von Böhmen, nicht von Polen. 71 Für Heinrich IV. bedeutete die Verleihung des polnischen Königstitels an Wratislaw keine Gefahr, da in den polnischen Kernlanden nach dem Tode Boleslaws II. der deutschfreundliche Wladislaw-Hermann regierte. Er begnügte sich mit dem Herzogstitel. 72 Die Frage, weshalb der Bericht des Pegauer Annalisten über die Königserhebung Wratislaws in Würzburg verworfen werden konnte, dürfte leicht zu beantworten sein. Der Annalist hat einen Fehler begangen, den ihm die quellenkritische, faktenorientierte Forschung des 19. Jahrhunderts nicht nachgesehen hat und der ihn vor allem um die Glaubwürdigkeit brachte: Als er den Satz niederschrieb Vratislaus regali benedictione sublimatur, ging das gesunde Temperament des Historikers mit ihm durch. Die Spannung der Ereignisse, die zur Königserhebung Wratislaws geführt hatten, nahm ihn gefangen, und er schilderte das Abenteuer des Italienzuges Borwois und Wiprechts mit Heinrich IV. Damit brach er aus dem annalistischen Schema aus, das für von Clemens I I I . (a. a. O., Nr. 1), der an den princeps Boemorum adressiert ist, und des Briefes Nr. 7, den Bischof Lambert von Krakau an den König von Böhmen riditet, wird Wratislaw stets nur König genannt, eine Tatsache, die in einer soldien Briefsammlung auffällt. Die Adresse ( M G H , Brief Sammlungen, S. 396, Nr. 7) scheint uns sehr bezeichnend zu sein: Gloriosi nominis, vitq quoque non ingloriosioris, regi Boemiq L. Cracoviensis epsicopus summi regis gratiam et ab ipso vitam, salutem atque gloriam. Man ist versucht, auch aus dem T e x t des Briefes Ressentiments gegen König Wratislaw herauszulesen. Während Beumann und Schlesinger D H I V , Nr. 390 für echt halten, erklärte v. Gladiß das Diplom von der Arenga bis zur Dispositio mit Einschluß der Grenzbeschreibung für interpoliert, weil es in diesen Teilen nicht dem Diktat des Herimann A entspricht. Die Gründe für die Verwerfung sind unzureichend. Gleichgültig, ob das Konzept der Grenzbeschreibung aus zwei Teilen zusammengesetzt der Kanzlei vorgelegt wurde, wie die Forschung angenommen hat, und wie es sich mit der Bestimmung einzelner Punkte verhalten mag, Krakau wird auf alle Fälle von ihr erfaßt. Den Versuch von Zakrzewski, Krakau und andere in Kleinpolen gelegene örtlichkeiten auf Orte in Mähren umzudeuten, hat Bernhard Stasiewski (Untersuchungen über drei Quellen zur ältesten Geschichte und Kirchengeschichte Polens [ = Breslauer Studien zur historischen Theologie 2 4 ] , Breslau 1933, S. 159 ff.) zurückgewiesen. Konjekturen für Einzelheiten der Grenzbeschreibung schlägt vor Ludmil Hauptmann, Das Regensburger Privileg von 1086 für das Bistum Prag, in: M I Ö G 62 (1954), S. 146—154. Eine Parallele zwischen der Regensburger Urkunde von 1086 und der Erhebung Wratislaws zum König von Böhmen und Polen sieht Hans Hirsch, Das Recht der Königserhebung durch Kaiser und Papst im hohen Mittelalter, Neudruck aus: Festschrift f. E. Heymann (1940), Darmstadt 1962, S. 17. 71

72

The Cambridge

History

of Poland

(wie Anm. 41), S. 43.

HANS PATZE

28

ihn, der in der Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb, sowieso nur ein vorgegebenes war. Ohne Verständnis für die literarische Gestalt und innere Folgerichtigkeit erhob eine spröde Quellenkritik den Zeigefinger und sprach das Verdikt über den Annalisten. Es ist bereits alles in Ordnung, wenn man nach sublimatur eine Cäsur setzt und dort einrückt, was in SS X V I , S. 241, Z. 33 bis S. 242, Z. 7 gesagt wird. Der Annalist ist auch völlig korrekt, wenn er die Jahreszahlen 1081—1084 nur notiert, aber nichts berichtet;73 denn das, was er zu sagen weiß, den Italienzug, hat er bereits (S. 237, Z. 31 bis S. 241, Z. 32) erzählt.74 III Wir haben die Taten Wiprechts auf dem Italienzug Heinrichs IV. absichtlich wenigstens mit knappen Worten wiedergegeben, obgleich sie als bloße Erfindungen des Annalisten zum Ruhme des Klostergründers gelten. Sie mögen nicht in jeder Einzelheit zutreffen. Es ist aber nicht am Wahrheitsgehalt des Gesamtkomplexes zu rütteln: Der Edelfreie Wiprecht, der am Ende des 11. Jahrhunderts im mitteldeutschen Osten keinen Raum mehr findet, in dem er sich eine Herrschaft aus dem Nichts aufbauen kann, macht große Politik und dient in der großen Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst und in den inneren Kämpfen des Reiches dem Kaiser mit dem eindeutigen Ziel, sich damit die Grundlagen einer Herrschaft zu erdienen. Die Forschung hat Grafschaftsrechte, Burgen, Allode, Rodungen, Wildbänne, Vogteien und andere Verfassungselemente als Grundlagen der hochmittelalterlichen Herrschafts73

Auch die Jahre 1 0 8 5 — 8 9 bleiben ohne Eintrag. Für diese Zeit wußte er offensichtlich nichts

zu berichten. 74

Sander (Der Kampf Heinrichs IV. und Gregors VII

, Diss. Straßburg 1893, S. 162) be-

mängelt, daß der P A vor der Schlacht von Hohenmölsen von einem siebenjährigen Italienzug berichtet. Der P A sagt S. 239, Z. 13 f.: . . . transacta septenni

revolutione

temporis . . . Auf diesen

Zeitraum ist er offenbar dadurch gekommen, daß er zweimal Zeitangaben machte und diese irrig addierte. Sie liegen übereinander. Der P A sagt von den lombardischen Städten, sie seien vier Jahre vom Kaiser belagert worden. Wenig später heißt es: Imperator exercitus copia, Romam arta obsidione

tamYtalici

quamTeutonici

vallavit, et triennio circiter in eodem statu duravit.

fidens Die

Einzelheiten der Züge Heinrichs zwischen der Lombardei und Rom weiß der Annalist nicht mehr, aber er weiß, daß der König vier Jahre um die lombardischen Städte und — stets mit Unterbrechungen — drei Jahre um Rom gekämpft hat. Beides ist im Grunde richtig, nur hätte der P A nicht den Fehler begehen und beide Zeitangaben addieren dürfen. Pertz hat ohne Schwierigkeiten die Hauptereignisse durch beigefügte Jahreszahlen richtig dem ersten Italienzug des Königs zuweisen können. Man muß bei der Kritik des P A doch davon ausgehen, daß er das Faktengerüst wenige Lagen weiter vorn in seinem Codex bei Ekkehard-Frutolf las. Was er aus mündlicher Tradition über die Beteiligung Wiprechts wußte, wollte er hinzufügen. Wie konnte der P A beabsichtigen, einen Italienzug zu erfinden? Andererseits darf man nicht übersehen, daß der P A von Frutolf-Ekkehard nur eine sehr spärliche Information über den ersten Italienzug Heinrichs IV. erhalten konnte.

29

D I E PEGAUER A N N A L E N .

bildung erkannt. Wir müssen an unserem Beispiel festhalten, daß die Voraussetzungen für eine solche Herrschaft, in der die „klassischen" Elemente vertreten sind, politischer Unternehmungsgeist, Mut, Umsicht und Ausdauer sind, eben die eindeutig politisch-militärische Leistung. Das Land Orla, die Burgen Dornburg und Leisnig lagen so zueinander, daß seine Burg Groitzsch, die zwischen diesen neuen Besitzungen eine zentrale Lage hatte, immer noch große Bedeutung für Wiprecht besaß. So erstaunt es nicht, daß Wiprecht, sobald sich die Kämpfe zwischen König und Sachsen beruhigt hatten und ihn 1090 der Tod Ekberts vor einem drohenden neuen Angriff gerade noch bewahrte, an der gleichen Stelle, in Groitzsch, den Ausbau seiner Macht von neuem begann. Er suchte wiederum seiner Burg Groitzsch gegenüber auf dem leicht erhöhten Auenrand einen Ansatz zu gewinnen. Der Raum, wo er das vermochte, war immer noch schmal. Hart südlich Pegau erstreckte sich das Bistum Naumburg-Zeitz. Oderwitz, Costewitz, Greitschütz, Trautzschen und Tannewitz oberen Teils, möglicherweise auch Tannewitz niederen Teils, Elstertrebnitz und Eulau gehörten dem Hochstift. 75 Von diesen Dörfern besaß nur Eulau kein Rittergut. Offensichtlich wollte sich Wiprecht auch der Stadt Zeitz bemächtigen. Zeitz entbehrte des direkten Schutzes, seit 1028 der Bischofssitz nach Naumburg verlegt worden war. 76 In Zeitz war nur ein Kapitel zurückgeblieben, dessen Propst gerade in diesen Jahren, 1095, zum ersten Male bezeugt ist.77 Anlaß, gegen das Gebiet des Bischofs von Zeitz vorzugehen, war um so mehr gegeben, als Bischof Günther von Naumburg (1079—1090), ein Sohn des Grafen Gero von Brehna, zur Partei der Sachsen gehörte. Während einer Fehde rückte Wiprecht von Leipen (ö. Groitzsch) aus, wo einer seiner Ritter saß, in Zeitz ein, wo sich seine schärfsten Gegner, Ekelin (Ezelin) und Hageno, aufhielten. Ezelin fiel mit 17 Mann im Kampf gegen Wiprecht, während Hageno und andere in die Jacobskirche, wo sie vom Asylrecht Gebrauch machen wollten, flüchteten. Die Kirche wurde in Brand gesteckt. Als die Eingeschlossenen entweichen wollten, wurden sie geblendet.78 Nach diesen und anderen Gewalttaten hält der Held Einkehr und denkt an sein Seelenheil. Auf Rat der Bischöfe Hartwig von Magdeburg und Werner von Merseburg unternimmt er 75

Heinich, Wiprecht von Groitzsch (s. Anm. 2), S. 11. — Schlesinger, KG Sachsens I, S. 179 f.

78

Walter Schlesinger, Meißner Dom und Naumburger Kulturgesch., H . 2), Münster, Köln 1952, S. 49 ff. 77

Urkundenbuch des Hochstifts Magdeburg 1925, Nr. 99. 78

Naumburg

Westchor

( = Beihefte zum Ardi. f.

1 (967—1207), bearb. von Felix Rosenfeld,

MG, SS X V I , S. 241: . . . sicque exire compulsi, quod ad ecclesiae asilum confugissent.

oculorum

tantum

lumine privantur,

eo

30

fit » c 3 O er i

•ti

HANS PATZE

DIE PEGAUER

ANNALEN.

31

eine Wallfahrt nach Rom. Der Papst (apostolicus) erlegt ihm auf, adpatriarcham Hyspaniensium (nach Santiago di Compostela) zu wallfahren. Dieser fordert ihn auf, eine Kirche zu bauen, weil er eine zerstört habe, und gibt ihm den Daumen des hl. Jacobus mit. Wiprecht ist bereit, eine Zelle mit 6 Brüdern einzurichten. Er kehrt in seine urbs Leisnig zurück und berät, wo in seinem Herrschaftsbereich ein für den Bau eines Klosters geeigneter Ort sei. Die Meinungen gehen auseinander. Man entscheidet sich schließlich für einen Platz in der Umgebung der urbs Groitzsch. Wiprecht geht mit seinem Begleiter Giselher über Eula, 7 9 wo sie beschließen, die verfallene hölzerne Kirche zu renovieren, nach Groitzsch. Einige seiner Ratgeber empfehlen ihm hier, das Kloster nach Nible, jetzt Altengroitzsch, zu legen. 80 Aber andere geben zu bedenken, daß die Burg (Castrum) belagert werden und der Platz (des danebenliegenden Klosters) den Feinden als Zuflucht dienen könnte, was nach den Worten des Annalisten später auch geschah. Hier ist einmal in aller Klarheit die Rolle des Klosters in militärischen Überlegungen des Mittelalters zum Ausdruck gebracht. Wesentlich scheint uns, daß sehr genaue Erwägungen und eben auch solche, die unserem Utilitätsdenken entsprechen, angestellt worden sind. Man ist versucht, eine solche Überlegung auch für die endgültige Wahl des Platzes zu unterstellen. Zunächst die einfache Feststellung des Annalisten: „Dann geschah es, daß er diesseits des Elsterflusses, wo jetzt das Dorf Wolftitz bei dem Dorf Pegau (Bigaugiensis villa) liegt, weil diesseits der Straße ein hinreichend geeigneter und weiter Platz frei war, diesen für das große Werk bestimmte. Aber weil die öffentliche Straße (publica platea) für viele häufige Begehung notwendig machte und dies den Dienern Gottes geschadet hätte, wurde auch dieser Rat als unbrauchbar aufgegeben. Und als er mit sorgfältiger Überlegung alles ringsum gemustert hatte, erkannten sie einen Platz an der Westseite des Dorfes Pegau, wie wir glauben, als von Gott für dieses Werk vorbestimmt und hinlänglich geeignet. Er gehörte aber nicht ganz zu seiner Herrschaft. Ein gewisser Erpo hatte ein Gut (municipium) nahe dieser Stelle (contiguum). Er besaß keinen Erben, war aber Wiprecht durch Verwandtschaft und Freundschaft sehr In Eula ist später der hl. Burkhard, der erste Bischof von Würzburg, verehrt worden. Sein Kult dürfte durch Wiprecht und die von ihm herbeigeholten Siedler in das Land an der Wyhra gebracht worden sein; vgl. Herbert Heibig, Untersuchungen über die Kirchenpatrozinien in Sachsen auf siedlungsgeschichtlicher Grundlage ( = Eberings Histor. Studien, H . 361), Berlin 1940, S. 340 f. Schlesinger, KG Sachsens I, S. 164 f. 79

M G , SS X V I , S. 244, Z. 4 : . . . quibus visum est, ut in loco quodam eminenti eidem castro adiacenti, Nible antiquitus, nunc Aide Groisch dicto id fieret. — Der Namenswechsel von Altengroitzsch ist schwer zu deuten. Man möchte in A. den ersten Standort der 1030 zuerst genannten Burg Groitzsch suchen. Mit dem Castrum kann nur eine Burg Altengroitzsch gemeint sein, obwohl es überrascht, daß A. bei der Burg liegen solle (adiacens) und Feinde, die die Burg belagern, in dem von dieser (Groitzsch) 2 km entfernten A. Zuflucht suchen sollen. 80

32

H A N S PATZE

eng verbunden." Erpo stimmte Wiprechts Plan der Klostergründung an diesem Platze zu und wurde von ihm in Sachsen mit Lehen abgefunden. Er befahl, den Platz einzuebnen und die Befestigung niederzureißen. Man fragt sich, ob der Anlage auf dem linken Elsterufer nicht die Absicht zugrunde lag, auch diese Seite des wichtigen Flußüberganges zu beherrschen. Es ist doch überraschend, daß man am Ende des 11. Jahrhunderts nicht mehr von einer gottverlassenen Gegend im Gebiet östlich der Saale sprechen kann. Der Verkehr ist so rege, daß er ein kontemplatives Dasein stört. Für Wiprecht mußte es nicht nur wichtig sein, diesen Verkehr finanziell zu nutzen, sondern auch einen unangreifbaren Festpunkt und nicht nur Grundstücke auf dem anderen Auenrand zu besitzen. Nachdem er bei seinen offensichtlichen Versuchen einer gewaltsamen Festsetzung am Ortsadel gescheitert war, war eine klösterliche Immunität, über die er die Erbvogtei besaß, ein unantastbares Bollwerk. Diese nicht zu beweisende Überlegung gewinnt am ehesten an Wahrscheinlichkeit, wenn man sieht, wie die Straße als Gesichtspunkt zuerst in den Überlegungen des Stifters auftaucht. Es muß also unmittelbar neben dem Kloster, vermutlich zwischen dem späteren Amtsgericht und der Obermühle der befestigte grundherrliche Hof des Erpo gestanden haben. Über die Herkunft Erpos lassen sich nur Vermutungen anstellen. Daß er mit Wiprecht Güter in Sachsen tauscht, deutet auf Sachsen als Herkunftsgebiet. Allerdings wäre auch an Thüringen zu denken, wo Erpo im 9. Jahrhundert als Name bei Gotha bezeugt ist. Wie dem auch sei, wir haben im 11. Jahrhundert eine Reihe deutscher Grundherren in stark befestigten Rittersitzen auf der flachen Flußterrasse der Elster zwischen Zeitz und Pegau. Damit wird weiter deutlich, daß es sich bei Landverleihungen Konrads II. und Heinrichs III. an die Ekkehardinger keineswegs um Einzelerscheinungen handelt, sondern daß eine beträchtliche Zahl deutscher Ritter in die slawischen Dörfer eingedrungen ist. 81 Ein solcher Grundherr in der (slawischen) villa Bigavia war Erpo. Sein Hof war so stark befestigt, daß auch noch die mehr als 40 Mönche unter Abt Windolf mit der Einebnung der Wälle beschäftigt waren. Sie legten darauf den Klostergarten an. 82 Wiprecht gab seinem Vorhaben einen größeren Rahmen. Sein Schwiegervater, König Wratislaw v. Böhmen, schoß zum Klosterbau 70 Talente zu. Die Bischöfe Hartwig von Magdeburg, Walram von Zeitz, den kaisertreuen Nachfolger Günthers, und Albuin von Merseburg gewann er, der Grundsteinlegung 8 1 Uber die Verhältnisse in der Mark unter den Ekkehardingern vgl. Hans Patze, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen ( = Mitteldeutsche Forschungen 22), Köln, Graz 1962, S. 109 ff. 8 2 MG, SS X V I , S. 247.

DIE PEGAUER

33

ANNALEN.

und den Friedhöfen die Weihe zu erteilen. Wenn der Stifter bei der Grundsteinlegung - nach dem Beispiel Kaiser Konstantins - 12 Körbe Steine an die zwölf Ecken des Fundamentes trug, 83 so war das nicht eine der Bußgesten, zu denen sich der mittelalterliche Mensch, selbst ein Heinrich I I . von England, ohne Zögern bereit fand, sondern in dieser Zeit war es in ganz besonderem Maße die Erfüllung der Demutsforderungen der Reformer, wie sieBernold von St. Blasien und andere immer wieder aussprachen. In drei Jahren sollte das Werk, nicht wie andere Kirchen durch die Arbeit bezahlter Werkleute, sondern durch die Hand der Ritter und ihrer Hintersassen-hauptsächlich wohl dieserbis zu den Turmspitzen emporwachsen. Trotz solcher Einsparungen benötigte man beträchtliche Summen. Wiprecht mußte seinen Schwiegervater um finanzielle Hilfe ein zweites Mal angehen. Wratislaw schickte nochmals 300 Talente. 84 Als sachkundige Männer, die er bereits zur Beaufsichtigung des Baues benötigte, holte Wiprecht aus Münsterschwarzach Bero als ersten Abt und drei Brüder herbei. Da sich Bero für die Führung seines Amtes nicht umsichtig genug erwies, beschloß Wiprecht II., ihn zu entfernen, zumal er, trotz aller Bemühungen um die Stiftung, die Zahl der Mönche nicht erhöhen konnte. 8 5 Er starb schon am 23. Dezember 1092. Der Glanzpunkt in der Geschichte des Klosters war der Tag seiner Weihe. Die Feierlichkeiten begannen am 25. Juli 1096 und zogen sich fünf Tage hin. Es war Wiprecht gelungen, Erzbischof Hartwig von Magdeburg, die Bischöfe Albuin von Merseburg, Ezelin von Havelberg und Walram von Naumburg zu laden. Die Anwesenheit hoher Geistlicher bei der Klosterweihe war keine Besonderheit, dagegen das Auftreten der Gemahlin des Stifters. Am ersten Tage der Feierlichkeiten ging Judith unter der Krone und in königlichen Gewändern einher. Die Krone bestand aus Gold und Gemmen. Uber dem gold8 3 Nach Cosmas cont. Wissegrad, trug auch Wratislaw die ersten zwölf Körbe Steine zum Bau des Klosters Wyscherad herbei; Cosmas, hrsg. v. Bretholz, S. 253. 84

Das Calendarium

Pegaviense

1728, Sp. 119 verzeichnet: Fratizlaus

bei Mencken, Scriptores rex pater fundatricis

rerum

Germanicarum

II, Leipzig

mille talenta. Die Freigebigkeit des

Königs für Kirchen scheint bekannt gewesen zu sein. Das Kloster Hersfeld, durch die Heeresdurchzüge in den Sachsenkriegen verarmt, bat den König von Böhmen ebenfalls um eine Spende; MGH, 85

Briefsammlungen

der Zeit Heinrichs

Kassius Hallinger (Gorze-Kluny

IV., S. 395 f., Nr. 6.

I, Rom 1950, S. 4 0 5 — 4 1 1 ) unterstellt dem P A , der ver-

mutlich der Hirsauer Richtung angehörte, eine polemische Berichterstattung über Abt Bero, der aus der „Junggorzer" Gruppe hervorgegangen war. Mit Recht wendet sich Schlesinger

(KG

Sachsens II, S. 618 f.) gegen Überspitzungen Hallingers. Offensichtlich wenig Verständnis hat er, wie sein Urteil über Wiprecht zeigt, für die spannungsreiche Frömmigkeit eines mittelalterlichen Laien. 3

Jahrbuch 12

34

H A N S PATZE

durchwebten Mantel, der einer Dalmatika vergleichbar war, trug sie einen ebenfalls golddurchwebten Ubermantel. 86 Krone und königliche Gewänder legte sie auf dem Altar zu Ehren Gottes und des hl. Jacobus nieder, brachte also ein sogenanntes „Kronenopfer" dar. Die Abtei Pegau ist, was bisher noch nicht bemerkt wurde, in ähnlicher Weise ausgezeichnet worden wie bedeutende Stifter und Klöster durch Könige und Kaiser. 87 Nachdem Judith dem Heiligen diese Gaben dargebracht hatte, trug sie an den folgenden Tagen imitierte Herrschaftszeichen, die man gekauft hatte und die auch noch großen Eindruck machten. Abermals frappiert nun der Annalist durch seine nüchterne Betrachtungsweise: Man könne fragen, wohin die Krone gekommen sei. Soviel er erfahren habe, habe sie später Abt Windolf für Besitzungen, die er in Thüringen erwerben wollte, nützlich angelegt. Den Mantel aber habe später Wiprecht d. J., als er an Stelle seines Vaters dem Kaiser nach Italien folgte, unter dem Versprechen mitgenommen, er wolle den Geldwert des Mantels dem Kloster zurückzahlen. Unterwegs konnte er den Bischof Burchard von Münster für den kostbaren Mantel interessieren.88 Der Bischof zahlte 40 Mark, aber bis zu seinem Tod hat der jüngere Wiprecht das Geld den Mönchen nicht abgeliefert. 86 MG, SS XVI, S. 245: Eodem die domna Iudita comitissa [!], filia Fratizlai Boemici regis, coronata et auro textis induviis regaliter adornata processiti et coronam auro gemmisque insignitam, et cicladem auro textam instar dalmaticae et preciosissimi operis, quam sub mantello ferebat etiam auro texto, haec duo insignia... super altare deo sanctoque Iacobo dicavit. De quibus scire volentibus, si quo devenerit, queratur, sicut comperimus, coronam quidem postea domnus Windolfus abbas pro possessionibus in Thuringia comparandis utiliter expendit, cicladem vero domnus Wicpertus iunior postmodum vice patris in Ytaliam ad imperatoris obsequium profecturus sustulit, data pollicatione, quantum valeret tantum argentum se restituere. Burchardus autem Monasteriensis episcopus ... ciclade considerata, 40 marchas pro ea dedit. Sed Wicpertus ab Ytalia reversus, multis intervenientibus impedimentis eas solvere non potuit ante suum obitum. 8T Percy Ernst Schramm (Herrschaftszeichen: gestiftet, verschenkt, verkauft, verpfändet. Belege aus dem Mittelalter, in: Göttinger Nachrichten, phil.-hist. Kl., 1957, Nr. 5, S. 161—226) hat unser Beispiel nicht aufgenommen. 88 Als sich Wiprecht 1117 mit Heinrich V. aussöhnt, erhält er Groitzsch und Leisnig zurück. Erzbischof Adelgot von Magdeburg belehnt ihn mit dem Burggrafenamt in Magdeburg, der Kaiser belehnt ihn gegen das Versprechen von 2000 Mark mit der Lausitz. Bevor Wiprecht den Reichstag von Worms verläßt, schenkt er ihm eine cappa dalmatica seu tunica, die merkwürdigerweise Bischof Burchard von Münster dem Kaiser gegeben hatte! Eine auf Pegauer Brakteaten vorkommende Krone kann nur die des deutschen Königs sein, nicht die von Wiprechts Gemahlin, wie H . Buchenau audi erwägt; H . Buchenau und B. Pick, Der Brakteatenfund von Gotha (1900), München 1928, S. 122.

DIE PEGAUER A N N A L E N .

35

IV Zum ersten Ausstattungsgut 89 gehörte die beim Kloster gelegene civitas Pegau „mit Ausnahme der am weitesten gegen Norden gelegenen Straße". 90 Unter der civitas hat man die vorstädtische Siedlung zu verstehen. Der Terminus civitas, der zur Zeit des Annalisten zweifellos schon die damals vorhandene Stadt bezeichnet, ist von ihm also ungenau auf das Ende des 11. Jahrhunderts angewendet worden. Unter der gegen Norden gelegenen Straße hat man wohl das „Vorwerk" zu verstehen. Diese „ganz außen gelegene" Straße hatte einst Wiprechts Mutter Sigena Werner d. Ä. von Veltheim zu Erbrecht überlassen.91 Da sie darüber verfügen konnte, muß es ihr Eigengut gewesen sein, das sie entweder als Wittum von ihrem Gemahl Goswin von Leinungen oder als Schenkung von ihrem Sohn Wiprecht besaß. Daß es sich dabei nicht allein um die Straße, sondern auch um die an ihr stehenden Gebäude handelte, dürfte mit einiger Sicherheit feststehen. Man darf schließen, daß es in Pegau vor der Gründung der Stadt außer dem sicher bezeugten Gut des Erpo ein weiteres gab, das an der Stelle der heute „Vorwerk" genannten Straße lag und ursprünglich Wiprechts Mutter Sigena und dann Werner d. Ä. von Veltheim gehörte.92 Die Vermutung, daß es Wiprecht darauf ankam, im Schutze des Klosters auf dem linken Elsterufer festen Fuß zu fassen, bestätigt sich. Nachdem der Annalist mitgeteilt hat, daß der Bau der Klostergebäude schnell voranschreiten sollte, stellt er fest: Inzwischen baute sich Wiprecht nahe am Kloster, an der Stelle, wo jetzt das Spital liegt, eine Kurie und ließ in dieser sogleich eine Niko89 MG, SS X V I , S. 245, Z. 40 ff.: Dotavit enirn eam civitate platearum extrema, versus septentrionem sita.

eidem adiacente

. . . excepta

una

90 MG, SS. X V I , S. 245, Z. 43. Weiteres Stiftungsgut sind die Dörfer Hilpertitz (mit Weinberg; SS X X I I I , S. 204, Z. 24; jetzt zu Rippach n.Weißenfels), Pörsten (nö.Weißenfels), 9 H u f e n in Stöntzsch (w.Pegau), 10 Schilling in (Bad) Lausick, Leipen (ö. Pegau), 4 H u f e n in Bockwitz (ehem. Rittergut in Flur Borna), die Kirche in Lausick mit dem Zehnt v o n 16 Dörfern, die Kirche, 2 H u f e n und 1 Mühle in Diemarsdorf (wohl Dittmannsdorf bei K i t z s c h e r . . . Borna), die Kirche in Gloveldechdorf (Wü. Köllsdorf b. Bad Lausick) und 9 H u f e n in Suxdorf (sö. Zeitz). 91 Huic etiam Wernhero extrema Bigaugiensis villae platea iure hereditario cesserat. Es ist nicht völlig sicher, ob der im vorangehenden Satz genannte Werner d. Ä. v o n Veltheim, der Schwiegersohn der Sigena oder dessen ebenfalls erwähnter gleichnamiger Sohn gemeint ist. Über die Genealogie der Herren v o n Veltheim, späteren Grafen v o n Osterburg, vgl. H a n s K. Schulze, Adelsherrschaft und Landesherrschaft ( = Mitteldeutsche Forschungen 29), Köln/Graz 1963, S. 58. 92 Zu erwägen wäre, ob mit dem heutigen „Vorwerk" der Platz des 1308 genannten allodium nostrum antiquum identisch ist; allerdings sagt die betr. Urkunde nicht, daß das Vorwerk in Pegau lag; Ludewig, Reliquiae manuscriptorum II, S. 263.



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H A N S PATZE

lauskapelle errichten. 93 Wo ist der Hof zu lokalisieren? Wenn die Kurie Erpos südlich des Klosters zu vermuten ist, so hat man den Hof Wiprechts auf den übrigen drei Kreissektoren um das Kloster zu suchen. Es muß von vornherein eingeräumt werden, daß die Kurie nicht mit Sicherheit zu fixieren ist und deshalb auch die Standortbestimmung der Nikolaikirche offenbleiben muß. So viel scheint gewiß, daß mit dem Spital nicht ein Spital innerhalb des Klosterbereiches gemeint ist, sondern eine Institution der Bürgerschaft. Das später bezeugte Spital zum H l . Geist, zu dem eine Heilig-GeistKapelle gehört hat, suchte Hohlfeld an der Breitstraße/Ecke Klostergasse. 94 Es ist zweifellos identisch mit dem 1219 genannten Spital. 95 Das Spital von ca. 1150 wird an der Stelle der Nikolauskapelle bzw. Nikolaikirche gelegen haben; denn bis zum Beweis des Gegenteiles muß angenommen werden, daß die capella und die basilica des hl. Nikolaus, f ü r deren Altar und Priester Judith zwei Königshufen in Bockwitz stiftete, 96 identisch sind. Die Nikolauskirche, deren Parochie im Spätmittelalter nach Ausweis der Kirchenrechnungen einen Teil der westlichen Stadt, vor allem aber ganz Carsdorf umfaßte, wird von Hohlfeld, ohne daß es dafür Zeugnisse gibt, vor dem Obertor gesucht. Dies scheint mir unwahrscheinlich. Für die Lokalisierung der Nikolaikirche ergeben sich m. E. drei Möglichkeiten, von denen die erste, wie angedeutet, den Vorzug verdient: 9 7 1. Das an der Stelle des Hofes Wiprechts eingerichtete Spital ist identisch mit dem späteren Hl.-Geist-Spital. Dieses hätte dann eine eigene Kapelle zum H l . Geist erhalten, während die ursprüngliche Nikolauskapelle zur Pfarrkirche erhoben worden wäre und fortan getrennt vom Spital bestanden hätte. Die 83 MG, SS X V I , S. 244, Z. 39: Curiam Interim sibi eidem operi contiguam in loco, ubi nunc hospitale situm est, constituit, in qua kapellam Deo et beato Nicoiao confessori statim construi fccit. 94 H o h l f e l d (s. Anm. 1), S. 112. 95 UB Merseburg, N r . 166. 96 MG, SS X V I , S. 249, Z. 25: Praeter ista domina Iuditha, cum adhuc viveret kasulam viridis coloris cum aurifrisio huic ecclesie [Kloster] dederat, sed et beati Nicolai basilicam tarn altaris quam sacerdotis praeparatura et duobus mansis regalibus in villa Borkwice dotaverat, ad usum scilicet presbiteri qui iugiter ibidem missarum sollempnia celebraret. — In Saalfeld hatte Pfalzgraf E z z o vor 1034 eine nodi in Resten vorhandene Nikolauskirche gestiftet, die etwa 200 m v o m Alten Markt entfernt ist und vermutlich zum H o f e Ezzos gehörte. W e n n nicht die allgemeine Ausbreitung des Heiligen der Kaufleute in dieser Zeit, so könnte die Nikolauskirche von Saalfeld, das in dem Wiprecht gehörenden Orlaland lag, die Anregung für die Pegauer Nikolauskirche gegeben haben. 97

M. E. müßte eine gründliche Durchsicht der Pegauer Stadtrechnungen, Stadtbücher und der Rechnungen der Nikolauskirche eine Lokalisierung des Gebäudes ermöglichen. D i e Kirche war vom Kloster abhängig. 1535 wird die Kirchrechnung v o n St. Nikolaus in dem Kloster in der Vogtei gelegt; H o h l f e l d , a. a. O., S. 112.

DIE PEGAUER

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ANNALEN.

Nikolauskirche hätte also in der Klostergasse Nähe Breitstraße gestanden. Diese Situation wäre durch die Nähe zu Carsdorf und zum Schloßplatz, an dem wir den ersten Markt vermuten, einleuchtend. Zugleich lag die Kirche in der Nähe der Breitstraße, der Hauptdurchgangsstraße. 2. Man könnte den H o f Wiprechts an der Stelle des späteren Schlosses am Eingang der Schloßstraße in den Schloßplatz suchen. Dieses Schloß hat dem Herzog Friedrich Heinrich von Sachsen-Zeitz (1668—1713) zeitweise als Sitz gedient. Es ist zu vermuten, daß an dieser Stelle das 1427 von Friedrich dem Streitbaren seiner Gemahlin Katharina als Leibgedinge verschriebene Schloß gelegen hat 9 8 und dieses seinen Vorgänger in dem H o f Wiprechts hatte. Das Spital von 1150 müßte dann in die Breitstraße/Ecke Klostergasse transferiert worden sein. Am Schloßplatz/Eingang Schloßstraße wäre dann die Nikolaikirche zu suchen. Ob die dort 1902 gefundenen Gebeine vom Friedhof dieser Kirche stammen, steht dahin. 3. Als dritte Möglichkeit kommt eine Stelle direkt beim Kloster am Schloßplatz, nördlich oder östlich der Klostermauer in Frage. In diesem Falle wären alle Spuren der Kurie und der Nikolauskirche verwischt. Die Nennung einer Nikolauskirche vor 1110 deutet darauf hin, daß wir noch zu Zeiten Wiprechts I I . mit der Entwicklung eines Marktverkehrs in Pegau zu rechnen haben. Er dürfte, wie sich ziemlich sicher zeigen läßt, durch den zweiten Pegauer Abt, Windolf (1100-1150, gest. 1156), bedeutend gefördert worden sein. Der erste Abt, Bero, der nahe beim Eingang des Klosters bestattet wurde, war ein gutmütiger, aber willensschwacher Mann, der die Hoffnungen Wiprechts nicht erfüllt hatte. Unter ihm hatte die Klosterzucht zu wünschen übriggelassen. D a sich damals die Regel der Hirsauer schon höchst erfreulich auszubreiten begann, wie der PA festhält, und in Sachsen vor allem im königlichen Kloster Korvei unter Abt Markward in Blüte stand, begab sich Wiprecht dorthin und erbat geeignete Gehilfen zur Besserung der Disziplin im Kloster Pegau. Abt und Konvent von Korvei bestimmten Windolf, der bereits einer Prälatur und der Klosterschule von Korvei vorgestanden hatte, nach Pegau zu gehen. Sie bestimmten ihn zum Abt von Pegau." Vor seinem Eintritt in Korvei war Windolf Kanoniker in St. Martin in Heiligenstadt gewesen. Nach 88

CDS I, A b t . B , Bd. 4, N r . 5 7 8 : Pegaw slo

ß und stad und closter doselbist.

geschlossen scheint, daß mit diesem Schloß das antiquum

allodium

.. Nicht aus-

gleichzusetzen ist, das 1480

zweimal genannt wird, einmal als Wohnsitz von des Abtes Richter namens Nuwert (Hohlfeld, S. 98). Wenn Hohlfelds Vermutung (S. 113) richtig ist, hätte dieses Allodium in der Schloßstraße gelegen, was als Sitz des Klosterrichters gut denkbar wäre. 99

H . Jacobs, Die Hirsauer,

1961, S. 64.

38

H A N S PATZE

Pegau brachte er mehrere liturgische Bücher und Reliquien des hl. Veit und anderer Heiliger mit. Da der Kampf zwischen Regnum und Sacerdotium damals so hart tobte, daß niemand in dieser Landschaft mit einem Priester kommunizieren wollte, der zu Heinrich V. stand, ließ Wiprecht seinen Abt in Erfurt durch Erzbischof Ruthard von Mainz, der sich dort aufhielt, zum Priester weihen. Man kann sich nicht dem Eindruck entziehen, daß der Annalist seine ganze Schilderungskraft aufgewendet hat, um uns zu zeigen, daß sich in Windolf eine neue Epoche darstellte, deren er, der Berichterstatter, sich bewußt war. Was er auf einer Seite schildert, läßt sich in den drei Worten: Frömmigkeit, Arbeit und Recht zusammenfassen. Diese drei Faktoren haben in wechselseitiger Verklammerung das ausgehende 11. Jahrhundert in die Zukunft wirkend geprägt. 100 Im Werke Windolfs läßt sie der Annalist begeistert zu uns sprechen. Was hier geleistet wurde, das wurde nicht planlos, sondern bewußt vollbracht. Die Klostergebäude werden durch neue ersetzt, die Zahl der Mönche steigt auf über 40. Die Trümmer des Gutes des Erpo werden beseitigt, der Platz eingeebnet und in einen Garten verwandelt. An der Wyhra legt Windolf das nach ihm benannte, aus dem Wald gerodete Dorf Abtsdorf an, baut dort eine Kirche und einen Klosterhof. Der Ertrag des Dorfes Wolftitz wird verbessert. Wiprecht wird zum Helfer der Mönche in ihrem Eifer und holt aus Franken, wo seine Mutter in Lengefeld verheiratet ist, die Kolonisten herbei. Sie siedeln sich auf dem gerodeten Land an und besitzen es zu Erbrecht, und das Dorf und das Land, das ein jeder von ihnen in Gemeinschaft mit seinen Genossen besät hat, dürfen sie nach ihrem Namen benennen. 101 Dies ist ein bis zur Ortsnamenbildung hinab genauer Siedlungsbericht, Spiegel eines neuen Wirklichkeitssinnes. Sich mit Windolf gegenseitig überbietend, gründet Wiprecht im Zentrum des Neusiedelgebietes in Lausick eine Propstei für sechs Mönche, die er zur Pfarrei der umliegenden Dörfer erhebt. Die Kirche wird unter den Schutz des hl. Kilian gestellt.102 Die Zehnten aller dieser und anderer Dörfer, die zwischen Schnauder und Wyhra im Burgward Groitzsch lagen, wurden durch Urkunde Bischof Albuins von Merseburg dem Kloster Pegau zugewiesen. Von den 17 Dörfern, die genannt werden, tragen zwölf 100 Vgl. die ganz ähnliche Schilderung der Rodung des Thüringer Waldes durch Ludwig d. Bärtigen: MG, SS XXIV, S. 819 f. u. SS X X X , 1, S. 518. 101

MG, SS XVI, S. 247, Z. 21: . . . colonos inde transtulit, quos praefatum pagum, silva funditus exstirpata, praecepit incolere et hereditario iure deinceps possidere, ac, ut ridiculosum quiddam inseramus, quemlibet illorum cum familiolae suae contubernio villam vel possessionem proprio labore consitam, etiam ex suo nomine nuncupare. 102 Zur Architektur der Kirdie vgl. Herbert Küas, Architektur und Keramik in der Kilians-Kircbe zu (Bad) Lausick, in: Ausgrabungen und Funde 5 (1960), S. 102—108.

St-

DIE PEGAUER A N N A L E N .

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Dorf-Namen, eines gibt seine Entstehungsweise durch den Namen Monichoroth zu erkennen. 103 Die Urkunde wurde in die Pegauer Annalen aufgenommen. 104 Auch versuchte man das Rechtsverhältnis des Klosters in der Kirchenorganisation festzulegen. Wiprechts Ritter Luvo ging 1104 nach Rom und erlangte von Paschal II. eine Urkunde, die das Kloster unter den Schutz des Hl. Stuhles stellte.105 Die Vogtei sollte immer dem Senior der Stifterfamilie zustehen. Stirbt sie in männlicher Linie aus, so sollten Abt und Konvent einen neuen Vogt wählen. Das Kloster erhielt das Begräbnisrecht. Alle Weihehandlungen blieben dem Bischof vorbehalten. Pegau war also ein päpstliches Schutzkloster, das jährlich die zur Anerkennung dieses Verhältnisses übliche Goldmünze zu liefern hatte, aber kein Eigenkloster. 106 Eben diese lockeren Beziehungen zur Kurie konnten für den Diözesanbischof ein Ansatzpunkt für den Versuch sein, sich das Kloster ganz zu unterwerfen. Sehr wahrscheinlich ist bereits unter Abt Windolf (1100-1150) in Pegau der erste Marktverkehr in Gang gekommen. Auf das Bestehen einer Nikolaikirche vor dem Jahre 1110 wurde bereits hingewiesen. Für frühen Marktverkehr in Pegau sprechen insbesondere Brakteaten. Einen solchen aus dem Fund Gerstenberg hat v. Posern-Klett mit Vorbehalt dem Abt Windolf zugeschrieben.107 Völlig eindeutig kann aus der Legende eines anderen Brakteaten (11501168) Windolfs Nachfolger, Abt Heinrich, als Münzherr erkannt werden.1078, 103

Über diese sehr instruktive Pfarreigründung „aus wilder Wurzel" vgl. Schlesinger, KG Sachsens II, S. 365 f. 104

MG, SS XVI, S. 247, Z. 35 ff. — UB Merseburg, Nr. 89.

105

MG, SS XVI, S. 248, Z. 5 ff. — Viktor IV. bestätigte 1162 die Urkunde Paschais II.; Neues Arch. 16 (1891), S. 159, Nr. 5. 108

Johannes Engelmann, Untersuchungen zur klösterlichen Verfassungsgeschichte in den Diözesen Magdeburg, Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz (etwa 950 bis etwa 1350) ( = Beiträge z. mittelalt. u. neueren Gesdi., hrsg. v. F. Schneider, 4), Jena 1933, S. 11, glaubt der Urkunde entnehmen zu können, Wiprecht habe sein Eigentumsrecht verloren, habe aber die erbliche Klostervogtei zurückbehalten. Er habe durch die Übertragung an Rom die nähere Verbindung mit den deutschen Herrschern verhindern wollen. Letztere Auffassung hat Schlesinger ( C h e m n i t z , S. 84, Anm. 2) mit Recht bezweifelt. 107 C. F. von Posern-Klett, Münzstätten und Münzen der Städte und geistlichen Stifter Sachsens im Mittelalter, Leipzig 1846, S. 284 ff. u. Taf. XLV Nr. 11—13. Heinrich Buchenau und B. Pick (Der Brakteatenfund von Gotha [1900], München 1928, S. 132) erwägen für diese Münze auch Herkunft aus einer Halleschen Prägestätte und verweisen in diesem Zusammenhang auf den Besitz der Burggrafschaft Magdeburg durch Wiprecht (seit 1118) und der Vogtei über das Neuwerkskloster zu Halle. — Den Hinweis auf die Erwähnung des Gerstenberger Fundes bei Buchenau verdanke ich Herrn Dr. Heß. lOTa v. Posern-Klett, a.a.O., S. 286 f. — Walter Hävernick, Die mittelalterlichen Münzfunde in Thüringen ( = Veröffentlichungen der Thüring. Hist. Kommission 4), Jena 1955, S. 165.

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H A N S PATZE

Diese Münzbelege zeigen, daß das Münzrecht von den Äbten schon vor dem Privileg Barbarossas von 1172 ausgeübt wurde. 108 Königliche Verleihung dieses Rechtes ist nicht zu erkennen. Als Stätte des ältesten Markthandels ist mit einiger Sicherheit der jetzige Schloßplatz anzusprechen. V In einem neuen Entwicklungsstadium tritt uns die Stadt im Privileg Barbarossas von 1172 entgegen.109 Es ist zu fragen, wie der Kaiser zu dieser Beurkundung kommt. 1134 war das Geschlecht Wiprechts II. mit seinem Sohn Heinrich in männlicher Linie ausgestorben. Die Burg Groitzsch wurde durdi Wiprechts II. Tochter Bertha dem dritten Sohn des Markgrafen Konrad von Meißen, Dedo, zugebracht.110 Nach dem Tode seines Vaters führte Dedo in mehreren Urkunden den Titel Graf 111 von Groitzsch. Die Burghut in Groitzsch übten Burggrafen aus. In dieser Stellung erscheinen 1157 ein Theodericus castellanus de Groiz, 1168 Henricus burcgravius in Groiz und derselbe 1170 als castellanus de Groice. Weder für Dedo noch für dessen Burggrafen lassen sich Beziehungen zum Kloster Pegau nachweisen. Aus dem Quellenbefund muß man schließen, daß das Kloster nach dem Aussterben der Groitzscher in männlicher Linie jedenfalls nicht den Schwiegersohn Wiprechts II. zum Vogt gewählt hat. Die Schutzvogtei scheint automatisch an den König übergegangen zu sein. Das über die Pegauer Angelegenheiten gut unterrichtete Chronicon montis sereni112 berichtet im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, die Vogtei habe dem König zugestanden. Es muß offenbleiben, ob der Chronist damit auch die Rechtsverhält108

Dies betont schon Buchenau, Fund Gotha, Fund Bardowik. 109 110

S. 121. Er verweist neben v. Posern auf den

Chroust (s. Anm. 4), S. 144 f. Gündel (s. Anm. 1), S. 1 ff.; dort die Nachweise.

111 Wiprecht II. wird vorn P A zunächst nur (domnus) Wicpertus genannt. Auch in der Urkunde Bischof Albuins v o n Merseburg 1104 wird er so bezeichnet. 1106 heißt er comes, auch im Privileg Paschais II., doch bleibt der Annalist bei einfachem „Wiprecht". 112 MG, SS X X I I I , S. 203, Z. 20: Advocacia ecclesie Pigaviensis inmediate ad imperatorem pertinet nec iure feodi cuiquam conferri potest, sed habet potestatem ahbas eligendi advocatum, ad quantum temporis spacium voluerit, quemcumque sibi viderit expedire. Nachdem der A n o n y mus diesen Satz wörtlich v o m P A übernommen hat, fügt er hinzu: Quam libertatem Syjfridus abbas multis laboribus et expensis primo a Friderico postmodum a filio ipsius Heinrico et deinde a Friderico Heinrici filio imperatoribus datis sibi privilegiis acquisivit. Ein Privileg H e i n richs VI. ist nicht erhalten. Schlesinger vermutet mit guten Gründen den Übergang der Vogtei auf Kaiser Lothar auf dem Merseburger Reichstag 1136; Schlesinger, Chemnitz, S. 85; vgl. auch KG Sachsens II, S. 187.

DIE PEGAUER A N N A L E N .

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nisse des Klosters unmittelbar nach dem Tode Wiprechts II. charakterisieren will oder ob er nicht die Urkunde Barbarossas im Auge hat. Uber einen Untervogt, der für das Kloster vor allem Bedeutung besitzen mußte, erfahren wir zunächst nichts. 1172 setzt Kaiser Friedrich I. fest, daß ohne Zustimmung des Abtes und der Brüder kein anderer als der römische Kaiser Vogt des Klosters sein solle. Dieses sollte das Recht besitzen, den Untervogt frei zu wählen. Ein Anspruch der Erben des Untervogtes auf die Übernahme dieses Amtes bestand nicht, es sei denn, Abt und Konvent gaben ihre Zustimmung. Sie konnten einen auf dem Erbgang ins Amt gelangten Untervogt jedoch absetzen. Diese Bestimmungen sind der Kern des Privilegs von 1172. Ihre Setzung oder ihre bloße Erneuerung waren offenbar dadurch erforderlich geworden, daß damals schon ähnliche Spannungen zwischen Abt und Untervogt bestanden, wie sie 1181 offenkundig sind. Untervogt war 1172 der Reichsministeriale Friedrich von Groitzsch, der 1168 zusammen mit seinem Bruder Sigebodo als Zeuge auftritt, als Bischof Johannes von Merseburg mit dem Kloster den Zehnten in Carsdorf, Dobergast und Pegau gegen sieben Hufen mit sechs Höfen in Stolpen tauschte.113 Sigebodo führt die Herkunftsbezeichnung „von Groitzsch" nicht in Urkunden, die in Mitteldeutschland ausgestellt worden sind.114 Wir wenden uns von den Vogtei- den marktrechtlichen Bestimmungen der Barbarossa-Urkunde von 1172 zu. - Wenn die Münze schon vor 1172 geprägt hat, also die Urkunde Barbarossas in diesem Punkt nur ein bestehendes Rechtsverhältnis bestätigt, darf man dies auch für den Zoll, zweifellos einen Marktzoll, und den Markt selbst vermuten. Münzprägung läßt einen ziemlich sicheren Schluß auf Marktverkehr zu. Von einer Gründung der Stadt durch den Kaiser kann man nicht sprechen, nur von einem Schutz des Klosters und seiner am Markt bestehenden Rechte gegenüber den Übergriffen des kaiserlichen Untervogtes. Die planmäßige Anlage der Oberstadt mit der Laurentiuskirche auf dem großen Kirchplatz und dem heutigen Markt muß, wie sich ergeben wird, 1172 überhaupt oder nahezu abgeschlossen gewesen sein. In der Oberstadt haben wir also auch die zweite der erkennbaren Entwicklungsstufen der Siedlung Pegau zu suchen. Außer den bereits genannten Gebäuden kennen wir in derBreitstraße, diel413 als P lutea lata bezeichnet wird, die Domus iudeorum.115 Wohl in der Salzgasse hat man das im 15. Jahrhundert bezeugte Hospicium Luterbach zu suchen, in dem durch die Stadt reisende vornehme Personen untergebracht und die Schöffenessen abgehalten wurden. 116 Das 113 114 115 118

ÜB Merseburg, Nr. 102. Gündel (s. Anm. 1), S. 3. Hohlfeld, Stadtrechnungen als historische Quelle, S. 108. Hohlfcld, a.a.O., S. 102 u. 108.

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H A N S PATZE

Viertel, in dem das Hospicium liegt, ist das des Marktmeisters. In der Breitstraße, die nach Hohlfeld vermutlich ein eigenes Viertel bildete, sind im 15. Jahrhundert von 22 nachweisbaren Siedlungen 15 in den Händen von Handwerkern. Die Laurentiuskirchplatz und Markt verbindende Kramergasse (1488: Platea institorum) und Schlossergasse sprechen durch ihren Namen für sich. Wo „die kleine dorncze" des Rates sich befand, wissen wir nicht. In der Oberstadt, wohl in der Nähe des Schloßplatzes, auf alle Fälle gegen den Mühlgraben hin, liegt im 15. Jahrhundert das Frauenhaus (prostibulum). 117 Am Markt ist das Geleitshaus zu suchen.118 Gebäude, deren Zweckbestimmung üblicherweise als Hinweis auf die ältesten Teile einer Stadt gedeutet werden kann, liegen also in der Oberstadt. Der Laurentiuskirche ist beträchtlich höheres Alter zuzusprechen als das Jahr 1207, in dem sie zuerst genannt wird. 119 Es läßt sich nicht bündig beweisen, aber doch wahrscheinlich machen, daß sie noch der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angehört. 1160 wird durch den Bischof Johannes von Merseburg (1152 bis ca. 1171) die Marienkirche, die an der Mariengasse, also in der Unterstadt, lag, geweiht.120 Dies ist der erste sichere Anhaltspunkt für Bautätigkeit in der Unterstadt. Man könnte, damit die bisherige Auffassung bekräftigend, sagen, die Nennung der Marienkirche zu 1160 beweise nicht, daß die Stadt, sich von Westen nach Osten entwickelnd, sich nun über den heutigen Mühlgraben vorgeschoben hatte, sondern ihre Anfänge liegen überhaupt im Osten, wie man schon bisher meinte. Dem stehen außer den bereits angeführten Gesichtspunkten Nachrichten über die Anlage der Unterstadt gegenüber, wie sie für so frühe Zeit nur selten auf uns gekommen sind. Das Chronicon montis Serení berichtet, daß 1189 Abt Siegfried der Translatio des hl. Otto von Bamberg beiwohnte und Reliquien mit nach Pegau brachte.121 Der Abt errichtete zunächst eine Holzkirche iuxta civitatem 117

Hohlfeld, a.a.O., S. 114. Hohlfeld, a.a.O., S. 109. 119 MG, SS XVI, S. 260, Z. 13: Basílica s. Mariae in Pigowe consecratur a Johanne episcopo Merseburgensi. Die Weihenachricht der Marienkirche zu 1160 schließt aus, die Kirdie, die u. W. nie Pfarrechte besaß, mit der in den Annales Pegavienses zu 1096 genannten Marienkapelle gleichzusetzen; für Luminarien in der Marienkapelle spendete Judith 10 Schilling in Lausick. Es dürfte sich um eine Kapelle im Kloster handeln. Grössel ( N e u e sächsische Kirchengalerie, Ephorie Borna, S. 833) zweifelt an der Existenz der Marienkirche überhaupt. 120 MG, SS XVI, S. 267, Z. 25 Nachtrag zu 1207 von Hand Ende 13./Anfang 14. Jh. Bauu. Kunstdenkmäler, Königreich Sachsen, 15. H. Amtshauptmannschaft Borna, bearb. v. R. Steche, Dresden 1891, S. 88, weist auf romanische Reste (gekoppeltes Rundbogen-Fensterpaar) im südöstlichen Teil der Doppeltürme hin. Steche gibt an, die Kirdie sei 1190 errichtet. Ein Beleg dafür ist nicht bekannt. 121 MG, SS XVI, S. 267, Z. 17 Nachtrag zu 1189 von Hand Ende 13./Anfang 14. Jh. Translatio sancti Ottonis facta est, in qua translatione domnus Syffridus abhas fuit, et inde reliquias sancti Ottonis attulit et ei ecclesiam construxit. 118

DIE PEGAUER A N N A L E N .

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Pigaviensem.122 Die Präposition sagt bereits hinreichend deutlich, daß die Ottenskirche v o r der damaligen Stadt lag. Mit großem Geldaufwand mußte das Gelände entwässert werden, damit ein Gebäude für die Unterbringung von Mönchen errichtet werden konnte. Die Bodenbeschaffenheit überrascht nicht, da der Platz vom heutigen Elsterufer nur ca. 150 m entfernt ist und von Hochwassern gelegentlich erreicht worden sein dürfte. Eben die Nachricht über den feuchten Untergrund des heutigen Ottomarsplatzes macht auch die verschiedentlich ausgesprochene Auffassung, daß der Königsplatz der alte Markt vor der Plangründung des Abtes sei, unwahrscheinlich. Daß der Fischmarkt mit der südwestlichen Ecke des Königsplatzes gleichzusetzen sei, ist nur eine Vermutung Hohlfelds, 123 aber nicht zu erweisen. Und selbst wenn die Lokalisierung des Fischmarktes richtig ist, kann dieses Argument noch nicht die einwandfreien Zeugnisse für das höhere Alter der Oberstadt aufwiegen. Es spricht auch nicht für die Priorität der Unterstadt, wenn im 15. Jahrhundert am Mühlgraben Fleischer, um St. Otto Weber und im Norden der Unterstadt Gerber ansässig sind. Der Standort der Fleischer und Gerber erklärt sich aus ihrem Wasserbedarf. Angehörige dieser Berufe sind im 15. Jahrhundert auch in der Oberstadt nachzuweisen.123® In dieser Zeit umfaßt die Unterstadt ca. 95, die Oberstadt ca. 127 Hofstätten. Schon die rein topographische Untersuchung spricht für den Vorrang der Ober- vor der Unterstadt. Der Pegauer Anonymus, der bisher für die Stadtgeschichte nicht herangezogen wurde, bestätigt mit Worten, was wir nur aus dem topographischen Befund erschlossen ha1 2 2 MG, SS X X I I I , S. 202, Z. 32: Contigit enim translacionem fieri corporis sancti Ottonis Bavenbergensis episcopi, cuius reliquias cum abbas impetrasset et ecclesiam ex lignis in eins honore iuxta civitatem Pigaviensem construxisset, tantus illuc fidelium concursus factus est, ut 800 marce de sacrificio primi anni computarentur. Durat autem usque hodie concursus idem, etsi offerendum videatur numerus decrevisse. Non autem abbas circa tanti boni patronum negligens erat, sed primo ipsum oratorium ligneum a duobus cardinalibus, qui tunc apostolice sedis legacione in Teutonia fungebantur, dedicari fecit; deinde paludem, in qua constructum erat, sumptibus magnis desiccans, circa ipsam ecclesiam decentem ex coctis lateribus edificavit redditusque, quantos poterat, tempore oportuno loco ipsi acquirens, reguläres in eo canonicos instituere intendebat. . . Neuerdings hat D. Zühlke (Pegau — Struktur einer Stadt im li.ll6.}h., in: Sachs. Heimatbll. 6, 1960, S. 507 f.) die Entwicklung der Stadt von Ost nach West durch Eintragung der 1453 genannten Hausstellen in Hohlfelds Stadtplan zu beweisen versucht. Die Verteilung auf die einzelnen Straßen muß nach der Quellenlage teilweise hypothetisch bleiben; so sehe idi z. B. an der Westseite der Klostergasse keinen Raum für Grundstücke. Verteilt man diese Grundstücke etwa auf die Schloßstraße und den Schloßplatz, so ergibt sidi dort eine größere Dichte. Auch wenn an der Breitstraße im Mittelalter einzelne Baulücken vorhanden gewesen sein sollten, so würde diese Tatsache nidit die vorgebrachten, u. E. eindeutigen direkten schriftlichen Zeugnisse für eine Entwicklung von West nadi Ost aufheben. 123 123a

Hohlfeld, Stadtrechnungen . . . , S. 106. Hohlfeld, a. a. O., S. 96 f.

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HANS PATZE

ben.124 Er bezeichnet es als eine göttliche Schickung, daß Abt Siegfried während seines Streites mit dem Bischof von Merseburg der Translatio Ottos von Bamberg beiwohnte und v o r d e r S t a d t ( f o r a s civitatem) ein Kirchlein aus Holz erbaute, das von zahlreichen Gläubigen besucht wurde. Da wir wissen, daß die Ottenskirche am Ottomarsplatz ( = Ottensplatz) gestanden hat, muß die damals vorhandene Stadt die Oberstadt sein, die nunmehr eindeutig als Altstadt bezeichnet werden kann. Abt Siegfried ließ später die hölzerne durch eine Backsteinkirche ersetzen und „ordnete den Bau der N e u s t a d t an". Damit gab er der Stadt im Grundriß die Gestalt, die sie bis an die Schwelle der Neuzeit bewahrt hat. Aber auch im Aufriß verdankt sie ihm bedeutende Veränderungen. Uber das Wasser — die Elster oder den Mühlgraben, wenn dieser damals schon vorhanden war — baute er eine steinerne Brücke. Die Nikolaikirche ließ er vergrößern und über ihrem Chor einen Turm errichten. Uber einem [Stadt] tor ließ er ein Torhaus erbauen. Ob die Altstadt bereits von einer Mauer umschlossen war oder diese erst bei Anlage der Neustadt um Alt- und Neustadt zugleich geführt wurde, wissen wir nicht. Mit Sicherheit müssen Ober- und Unterstadt 1219 von einer Befestigung begrenzt gewesen sein, denn anders haben das damals genannte Ober- und Untertor (strata . . . a porta Marseburgense ad portam, que tendit Grotz) keine sinnvolle Funktion. Das Bild, das wir über die topographische Entwicklung der Stadt gewonnen haben, widerspricht der bisherigen Auffassung.125 Der Ausbau der Stadt erfolgte nicht von Ost nach West, sondern von West nach Ost. Es ergeben sich, wenn wir zusammenfassen, folgende Etappen: 1. ca. 1090 bestehen im Bereich der Altstadt zwei Adelshöfe, zu denen vermutlich einige bäuerliche Hofstätten gehören. 2. 1092 wird das Kloster gegründet. Wiprecht baut eine Kurie mit Nikolaikapelle, die wenige Jahre später zur Pfarrkirche erhoben wurde. Sie war zweifellos die zum ersten Markt, der sich wohl am Schloßplatz entwickelte, gehörige Kirche. 3. Wohl noch vor der Mitte des 124

Anonymus (s. Anm. 30), Sp. 105: Deinde

bus dedicari

fecit et postea ecclesiam

quantos poterat loco ipsi acquisivit. per aquam stravit. Ecclesiam erexit et domum edificavit.

super valvam

decentem

ipsum oratorium

ligneum

ex coctis lateribus

a duobus

edificavit

Postea situm nove civitatis ordinavit

sancti Nycholai et magnum

hic superius

cenaculum

ampliavit

redditus

et pontem

et turrim

eciam cum cellario

super

omnia ex

cardinaliquoque lapideum chorum lateribus

Der pons lapideus ist wohl doch mit der Elsterbrücke gleichzusetzen, wie die Nen-

nung dieser Brücke im Jahre 1219 wahrscheinlich macht; UB Merseburg,

Nr. 166. Da in dieser

Urkunde auch das Ober- und das Niedertor erwähnt werden, beziehe ich die vom Anonymus genannte valva auf eines der Stadttore, während Füssel (s. Anm. 125 a) darunter das Klostertor versteht, offenbar weil anschließend vom Speisesaal und Keller — des Klosters — die Rede ist. 126

W. Schlesinger, KG Sachsens II, S. 409.

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12. Jahrhunderts begann die Anlage der Oberstadt mit der Pfarrkirche St. Laurentius und dem großen Markt. 4. Um 1200 Gründung der Neu-(Unter-) Stadt durch Abt Siegfried mit der Ottenskirche als Pfarrkirche. 1253 Der Leistungen des Abtes für den Ausbau der Stadt werden wir uns erinnern müssen, wenn von seinem Kampf gegen die Wettiner im benachbarten Groitzsch, der nun erst recht verständlich wird, und vom Grabmal Wiprechts die Rede ist. Zunächst lenken wir den Blick nochmals auf die rechtlichen Verhältnisse in der Stadt unter Kaiser Friedrich I. 1181 hat sich Barbarossa zum zweiten Male in Pegau als Schlichter eines Streites zwischen dem Abt Eckelin und dem Untervogt und Reichsministerialen Friedrich von Groitzsch eingeschaltet. Das Diplom, das der Kaiser in Altenburg ausstellte, zeigt ihn nur als Obervogt des Klosters tätig. Der Abt ließ dem Kaiser das Dorf Heinersdorf 126 , das er offenbar als Reichslehen besaß, auf. Der Stauf er gab Friedrich von Groitzsch Heinersdorf, Hufen in Droskau, Bockwitz und die Kirche in Clobelochstorph mit der Dos und den Meßpfennigen, ausgenommen den Zehnt des Dorfes, zu Lehen. Als Gegenleistung übergab Friedrich von Groitzsch dem Kloster alles, was er als Eigen oder Lehen in Pegau besaß und was seine Hintersassen von ihm in Pegau zu Lehen hatten. Ausgenommen blieb, was ein gewisser Pilgrim und Conrad vom Abt zu Lehen trugen. Die Bestimmung sagt deutlich, daß es sich hier nicht um Reichsgut handelte, sondern um Klosterbesitz, den sich Friedrich von Groitzsch als Untervogt angeeignet und teilweise als Lehen weitergegeben hatte. Wir erfahren weiter, daß Friedrich eine Mühle hatte anlegen lassen. An dieser Stelle sollte von niemand sonst eine Mühle gebaut werden. Ein Weidengebüsch (•virgulta) war zwischen dem Vogt und dem Abt umstritten und wurde dem Abt zurückgegeben. Es hat den Anschein, daß bei dieser Zurückdrängung des Vogtes nicht nur der Abt, sondern auch die Bürgerschaft mitwirkte. Der Kaiser wollte nicht, daß diese Vereinbarung vom Reichsministerialen Friedrich, seinem Bruder (Sigebodo) oder einem ihrer Erben gebrochen werde; er bestimmte, daß weder Abt noch Vogt einem Ritter erlaubten, in der Stadt Grundstücke zu kaufen oder dort zu wohnen. Die Kaufleute sollten ihre Höfe nicht an Ritterliche, sondern nur an Kaufleute verkaufen, die Markthandel ausübten. Diese Bestimmung ist, wenn nicht auf Betreiben der Kaufleute, so bestani25a Uber St. Otto als Pfarrkirche vgl. F. A. Füssel, Anfang und Ende des 443 Jahre denen Klosters S. Jacob zu Pegau, Leipzig 1857, S. 40 f. Der Propst des Klosters war Pfarrer an St. Otto. 126 UB Merseburg, Nr. 125: . . . statuimus, ne tarn abbas quam, advocatus aream vel aliquem possessionem in Bigowe quemquam militum deinceps emere aut inhabitare permittant; mercatores eciam areas vel curtes suas non militibus, sed mercatoribus, qui forensia iura exequantur, vendant.

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doch unter ihrer Mitwirkung zustande gekommen und läßt uns die Anfänge einer sich bildenden Kaufmannsgemeinde erkennen. Wir haben hier eine Anordnung vor uns, die andernorts in das kodifizierte Stadtrecht eingegangen ist. An ein selbständiges Gericht der Bürgerschaft wird man noch nicht zu denken haben. Grundstücksübereignungen, die sich ja noch ganz unter der Kontrolle des Abtes und Vogtes befanden, werden vom Vogt im Vogtgericht, das im Spätmittelalter meist vor der Pforte von St. Jacob gehalten wurde, 127 vorgenommen worden sein. Wir haben damit den rechtlichen und topographischen Entwicklungsstand der Stadt am Ende des 12. Jahrhunderts erreicht. VI Mit dem Ende des Staufers besteigt den Pegauer Abtsstuhl Siegfried von Röcken (Rekkin), dessen fünf Romreisen nicht nur tragisches Persönlichkeitsschicksal, sondern Symbol der zerbrochenen Einheit von Sacerdotium und Regnum sind. Rechtsuchend treibt es ihn zwischen seinem Kloster, in dem er den nicht mehr vom Kaisertum beherrschten Territorialgewalten preisgegeben ist, und der Kurie hin und her, die das - kirchliche - Recht des ganzen Abendlandes ordnet, aber glaubt, des weltlichen Armes entraten zu können, der dem Rechtsspruch zur Rechtswirklichkeit verhelfen muß. Die Vita des Abtes Siegfried von Röcken ist nicht nur ein exemplarisches Ereignis aus der Zeit des Thronstreites, sondern auch ein weiteres höchst interessantes historiographisches, quellenkritisches Problem. Wir konnten schon mehrfach zeigen, wie wenig die wissenschaftliche Betitelung„Annales Pegavienses" mit einer Jahr für Jahr fortschreitenden Registrierung der Zeitereignisse zu tun hat. In der letzten, der dritten Fortsetzung der Annalen erfährt man beispielhaft, welchen Zufällen unser Wissen ausgeliefert sein kann. Der zweite Fortsetzer der Annalen, der die Jahre 1182 bis 1190 schreibt, erwähnt den Regierungsbeginn Siegfrieds, zeichnet im übrigen nur Reichs-, aber keine Lokalgeschichte auf. Der dritte Fortsetzer bringt ab 1191 spärliche Nachrichten zur Reichsgeschichte. 1192 und 1193 schweigt er ganz. Zum Jahre 1215 berichtet er ausführlich über die Kämpfe des Markgrafen Dietrich mit der Stadt Leipzig, setzt aber seine Erzählung, ohne neue Jahresangaben, bis ins Jahr 1227 fort und schließt mit dem Tode Landgraf Ludwigs d. Hl. in Otranto. Cohn 1 2 8 hat überzeugend dargetan, daß der Bericht, den er ab 1215 gibt - vielleicht auch schon die Jahre 1191 ff. - nach 1236 geschrieben ist. In diesem Bericht wird Abt Siegfried überhaupt nicht erwähnt. 127

128

Gündel, Landesverwaltung,

Cohn (s. Anm. 11), S. 523 ff.

S. 192 ff.

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Dagegen hat eine Hand des ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts (nach Pertz) zwischen der letzten Meldung von Fortsetzung 2 (1190) und dem Beginn von Fortsetzung 3 (1191) ganz kurz, hauptsächlich unter rechtlichen Gesichtspunkten zu den Jahren 1189 und 1207 über den Streit Siegfrieds mit dem Bischof von Merseburg berichtet. Dieser Schreiber erzählt ganz nüchtern; er war ohne Zweifel nicht an dem beteiligt, was wir von anderer Seite erfahren. Während die Pegauer Annalen schweigen, zeichnet der Chronist vom Lauterberg, der Kustos Martin, ein erregendes Bild der Ereignisse im Kloster, die die Feder der Pegauer Annalistik stocken ließen. Der Chronist kennt sich in Pegau so gut aus, daß man vermutet hat, 129 er stamme aus der Gegend von Pegau. Das braucht nicht der Fall zu sein. Martin hatte eine vorzügliche Informationsquelle über die Pegauer Vorkommnisse, die jahrzehntelang im Lande allgemeines Aufsehen erregen mochten, im Konvent des Lauterberges. Der Kanoniker Heinrich von Röcken, der selbst schwerste Querelen mit seinem Propst austrug, war der Neffe des Pegauer Abtes. Wenn Martin nicht selbst durch Pegau gekommen ist, so dürfte er durch Heinrich Nachrichten erhalten haben, oder der Abt ist gelegentlich auf dem Lauterberg erschienen. In Pegau jedenfalls waren die Kämpfe des Konventes mit dem Abt Anlaß, daß man keine Zeit fand, diesen Abschnitt der Geschichte des Klosters aufzuzeichnen, oder es für besser hielt, ihn zu verschweigen. Abt Siegfried hat vom Beginn seiner Regierung an seine ganze Kraft daran gesetzt, die libertas seiner Kirche im geistlichen wie im weltlichen Recht zu erhalten. Im Konvent machte er sich unbeliebt, als er auf strenge Einhaltung der Regel drängte. Die Empörung der Mönche über diese Forderung war groß. Die Frömmigkeit des Abtes war mit einem ausgeprägten Nützlichkeitssinn gepaart. Die von ihm begründete Ottenskirche erbrachte jährlich 800Mark Einnahmen, so groß war der Zustrom der Wallfahrer. Es klingt unwahrscheinlich, daß die Mönche Ursache gehabt haben sollen, ihren Abt, der die Stadt erweiterte und ihre Bauten verbesserte, bei Bischof Eberhard von Merseburg (1170-1201) wiederholt wegen schlechter Verwaltung anzuklagen. Nun haben die Mönche, so meint der Chronist vom Lauterberg, entweder die Freiheit des Klosters vom Diözesanbischof vorsätzlich verheimlicht oder nicht darüber zu sprechen gewagt oder sie haben, was der Chronist zu ihrer Ehre erwägt, nichts davon gewußt, daß das Kloster vom Bischof unterdrückt wurde, bis Abt Siegfried - homo natus ad laborem - kam und die dem Kloster zustehende Freiheit wiederherstellte. Die Mönche übertrieben ihre Klagen, als sie vor dem Bischof standen. Vom Diözesan bedrängt, wandte sich Abt Sieg129

L. Rundnagel, Die Chronik des Petersberges bei Halle und ihre Quellen, Halle 1929, S. 68.

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fried an die Kurie und unterstellte das Kloster abermals päpstlichem Schutz. Zu diesem Zweck begab er sich zu Coelestin I I I . Diese Romreise muß zwischen 1185 und 1197 stattgefunden haben. Coelestin strich in dem Privileg Paschais die Stelle, auf welche die Merseburger Bischöfe ihr Recht, Priester und Kirchen des Klosters zu weihen, gründeten und befreite die Laurentius- und die Ottenskirche von der bischöflichen Gerichtsbarkeit. Innocenz I I I . bestätigt 1198, 1 3 0 daß Siegfried von Coelestin ein Privileg und andere Schreiben erlangte und diese nach seiner Rückkehr in Gegenwart seiner Mönche und einiger Merseburger Kanoniker verlesen ließ. Bischof Eberhard bewunderte den Unternehmungsgeist des Abtes und gewann dessen Kaplan, den Mönch Thimo von Colditz, also einen Angehörigen des bekannten Reichsministerialengeschlechtes, für sich. Thimo war beim Bischof geblieben, während der Abt wegging. Man weiß nicht recht, ob man dies auf die Romreise beziehen soll oder nur auf eine Reise des Abtes nach Merseburg, bei der Thimo in Merseburg zurückblieb. Bischof Eberhard drang auf Thimo ein, er solle ihm sagen, auf welchen Rechtsgrund der Abt seine Appellation nach R o m gestützt habe. 131 Der Kaplan antwortete, daß der Abt dies vermöge der Exemption getan habe, über die er ein Privileg besitze. Darauf wurde der Bischof noch zudringlicher und ersuchte ihn, er solle ihn dessen versichern, indem er ihm, wenn er könne, das Privileg aushändige. Thimo, der den Schlüssel zu der Kiste besaß, in der die Urkunde verwahrt wurde, versprach das und lieferte das Privileg aus. Der Bischof las die Urkunde und warf sie — „wie man sagt", fügt der Chronist hinzu - ins Feuer. 132 Nicht genug damit. Thimo, der auch das Amt des Kustos versah, und einige andere Amtsträger des Konventes beluden zwei Wagen mit den Schätzen ( o r n a m e n t a ) des Klosters und brachten den Raub nach Merseburg. Der Abt enthob die Täter ihrer Ämter. Dies geschah, während sich Siegfried in R o m mit den Abgesandten des Bischofs auseinandersetzte und schließlich erreichte, daß päpstliche Richter mit Zustimmung der bischöflichen Beauftragten sich der Sache annehmen sollten. Der Bischof wurde durch Urteil gezwungen, alles, was er hatte wegführen lassen, nach Pegau zurückzubringen. 133 130

Unsere Darstellung stützt sich im folgenden auf den Chronisten und das Schreiben Inno-

cenz' III. an Bischof Eberhard von 1198 Juli 13 R o m ; UB Merseburg,

N r . 140. Das inhaltlich

gleichlautende Schreiben an den Abt von Pegau ist abgedruckt bei Ludewig, Reliquiae criptorum

Manus-

II, S. 201 ff. Es ist nicht möglich, die chronikalische Darstellung in den Einzelheiten

mit der Schilderung Innocenz' abzustimmen, vor allem nicht in der zeitlichen Ordnung. Trotzdem ist der Lauterberger Bericht im vollen Umfange glaubwürdig. 1 3 1 MG, SS XXIII, S. 202, Z. 11: ...secrete et cum instancia rogabat, ut sibi proderet, sciret, qua fiducia nisus abbas appellare presumpsisset. 132

Ehrenfeuchter bemerkt in MG, SS X X I I I , S. 202, Anm. 58 unter Hinweis auf die im

Schreiben Innocenz' III. (s. o . ) erwähnte Urkunde Coelestins III., hier irre der Chronist. 133

4

si

MG, SS X X I I I , S. 202, Z. 25.

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Eberhard von Merseburg wandte sich daraufhin an den Kaiser, wohl bereits Heinrich VI., und teilte ihm schriftlich mit, der Abt habe zum Schaden des Honor imperii die römische Kirche aufgesucht und ein Privileg zum Nachteil des Kaisers erlangt. Diese Feinheit verdanken wir dem Schreiben Innocenz'III. an den Bischof von Merseburg, dem damit bedeutet wurde, daß man in Rom informiert war, wenn ein Bischof die Kurientreue eines Reichsabtes beim Kaiser ausspielte.134 Der Kaiser lud nun den Abt auf einen Hoftag und verlangte Einsicht in das Privileg. Als er es entgegengenommen hatte, verweigerte er die Rückgabe.135 Der Abt bemerkte, daß er auf diese Weise unter Druck gesetzt werden sollte. Er machte sich zum zweiten Male auf den Weg nach Rom. Nachdem er von der Kurie ein Mandat erlangt hatte, luden die Richter die Parteien vor, um den Fall gemäß dem päpstlichen Auftrag zu behandeln. Aber während dies geschah, nahm Erzbischof Ludolf von Magdeburg dem Abt, der auf Verlangen des Bischofs von Merseburg durch kaiserliches Mandat von Amt und Lehen (ab officio beneficioque) suspendiert war, die Verwaltung des Klosters und übertrug diese (cura) zwei Rittern. 136 Der Streit zwischen Abt und Bischof ging indessen weiter. Der Abt scheint während all dieser Auseinandersetzungen versucht zu haben, immer das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Dies hat offenbar das Begehren des Bischofs, das Kloster in seine Abhängigkeit zu bringen, noch mehr gereizt, so daß der Bischof Heinrich VI. so lange bestürmte, bis der Kaiser den Abt in lateinischer Sprache für einen Sohn des Todes erklärte. Er soll unter anderem Cuno von Münzenberg, „dem durch seine Grausamkeit berüchtigten Manne", erlaubt haben, den Abt, wo man seiner habhaft werde, umzubringen.137 Nur mit Rat und Hilfe des kaiserlichen Kämmerers Dietrich von Mühlhausen, mit dem der Abt sehr nahe verwandt war (consanguinitate próxima), konnte er die Huld des Kaisers zurückgewinnen. Der Abt war bereit, sich einem Schiedsspruch zu unterwerfen. Ein Schiedsgericht, das sich aus Geistlichen und Laien, darunter dem Reichstruchseß (Kehr: Markward v. Anweiler) zusammensetzte, sprach das Urteil. Wie es lautete, erfahren wir aus dem Schreiben Innocenz' III. nicht. Es kann nicht günstig ausgefallen sein, denn der Abt zog zum dritten Male nach Rom. Dieser Verhandlung zwischen dem Abt und dem Merseburger Kustos als Prokurator des Bi134 UB Merseburg, S. 118: . . . scripsisti imperatori, eum contra honorem imperii ad Romanam ecclesiam accessisse et Privilegium in eius preiudicium impetrasse. 135 Ebd.: Unde motus imperator curiam indixit abbati et precepit sibi Privilegium presentari, quod receptum noluit ipsi postmodum resignare. 136 UB Merseburg, S. 118 Mitte. 137 MG, SS XXIII, S. 202, Z. 44.

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schofs wohnten als Auditoren im Minus officium der jetzige Innocenz III., damals Kardinal Lothar von s. Sergius und Bacchus, Kardinal Johannes von s. Stefano und Kardinal Johannes von s. Prisca bei. Nachdem man die Parteien vernommen hatte, wurden mit ihrer Zustimmung Richter delegiert, die eine Untersuchung anstellen sollten, mit der Ausnahme, daß die Untersuchung der Freiheit des Klosters mit seinen beiden Kapellen dem Apostolischen Stuhl vorbehalten bleiben sollte. Als aber die Richter kraft apostolischer Autorität die Parteien vorluden, bezeichnete sie der Bischof als verdächtig und unterstellte ihnen vielfältige Verdachtsgründe. Eberhard wollte ihr Urteil abwenden, appellierte an den Apostolischen Stuhl. Nach seiner Rückkehr leistete er aber vor den Richtern das sacramentum calumpnie und führte Zeugen vor. Die Richter hörten beide Parteien, sandten die versiegelten Protokolle nach Rom ein und nannten einen Termin, an dem sie sich zur Urteilsverkündung in Rom einfinden sollten. Der Abt erschien abermals - bereits zum vierten Male persönlich in Rom, während der Bischof den Kanoniker H. und den Scholaster Bernhard von s. Nikolai in Magdeburg schickte. Die bischöflichen Beauftragten sagten, die Protokolle, welche die delegierten päpstlichen Richter eingesandt hatten, sollten nicht veröffentlicht werden und ihnen sei kein Glauben zu schenken, da sie sowohl von verdächtigen Richtern als auch nach der rechtmäßig eingelegten Appellation aufgenommen und niedergeschrieben worden seien. Dagegen beharrte der Abt auf dem Gegenteil, zumal die bischöflichen Gesandten gar nicht das Recht hätten, vor Gericht zu stehen (personam standi iudicio non habebant), da sie exkommuniziert seien und dem Bischof auferlegt sei, bei Strafe der Suspension in eigener Person zur Verhandlung zu erscheinen. Da Bischof Eberhard das nicht getan hatte, unterzog er sich der Suspension. Die Beauftragten des Bischofs behaupteten aber, Eberhard könne wegen Krankheit und Alter nicht erscheinen. Sie sagten ferner, der Abt habe Abtei und Priestertum vom Bischof empfangen. Der Abt sei von den Mönchen, unter denen der Bischof öfter Frieden und Eintracht wiederhergestellt habe, vieler Vergehen überführt worden. Man warf ihm vor, daß er die für die Armen vorgesehenen Mittel verschwende und der Glauben (religio) darniederliege. Man hielt dem Abt Sakrileg, Simonie und viele andere Verbrechen vor. Der Abt schickte schließlich Nachricht über alle Belästigung, die ihm zugefügt werden konnte, an den Erzbischof von Magdeburg. Da er aber weder selbst noch durch einen Beauftragten den Erzbischof aufsuchte, entschied der Erzbischof, daß nichts zum Schaden der (Merseburger) Kirche veranlaßt werden dürfe. Etwa an dieser Stelle muß man wohl die haarsträubenden Vorgänge einschalten, über die der Chronist vom Lauterberg im Anschluß an den Ausgleich zwi4»

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sehen Kaiser Heinrich VI. und Abt Siegfried berichtet. Es heißt: D a der Abt den Eindruck hatte, daß die päpstlichen Richter allzu großes Entgegenkommen gegen den Bischof zeigten, forderte er vom Papst andere Richter. Es wurden der Dekan von Trient und der Magister Prepositinus v. Cremona geschickt. Sie stellten Verhöre an und nahmen Protokolle auf. Aber bevor diese dem Papst bekanntgemacht werden konnten, wollte Bischof Eberhard dem „Leben und dem Streit ein Ende" machen. Er bediente sich wieder des Mönches Thimo von Colditz, der allerdings nicht selbst in Erscheinung treten konnte. Er hatte seine Kustodenstelle verloren. Thimo ersuchte seinen Bruder Heinrich, den Abt durch Bewaffnete gefangennehmen zu lassen und zu zwingen, daß er Thimo wieder in sein Amt einsetze. Sie wurden des Abtes habhaft und wollten ihn zwingen, innerhalb von drei Tagen, während deren man ihn halbnackt und hungern ließ, den Mönch wieder als Kustos einzusetzen. Aber als sie ihm weder durch Drohungen noch mit gezogenen Schwertern ein Versprechen abzwingen konnten, ließen sie ihn am vierten Tag zu Fuß wieder nach Pegau laufen. Nachdem Thimo später von den Brüdern vertrieben worden war, hat ihn der verdiente Lohn erreicht. Aber damit hatten sich die Verhältnisse in Pegau noch keineswegs beruhigt. Zu einem anderen Zeitpunkt bemächtigten sich die Mönche eines Hauses in der Nähe des Klosters, das für ihre Zwecke erbaut worden war, plünderten den Klosterkeller aus, trugen Vorräte zusammen, zogen Bewaffnete und Knechte dort zusammen und versuchten, den Abt zu vertreiben. Siegfried holte den Vogt Friedrich von Groitzsch herbei. Der Vogt brachte die im Hause befindlichen Bewaffneten, von denen die meisten ihm durch Huld verbunden waren, dazu, abzuziehen. Die Mönche im Haus gaben nicht nach, sondern standen kampfentschlossen an den Fenstern und bewarfen diejenigen, die angreifen wollten, mit Steinen. Der Vogt ließ eine Tonne, aus der man den Boden herausgeschlagen hatte, auf einem Wagen befestigen, mit trockenem Holz, Pech, H a r z und Fett füllen, anzünden, gegen das Gebäude vorschieben und auf diese Weise die Aufrührer ausräuchern. Das Haus wurde abgebrochen. D a die Mönche sahen, daß sie auf diese Weise ihren verhaßten Abt nicht loswerden konnten, versuchten sie, ihn umzubringen. Aber den Bruder, dem die Aufgabe zufiel, seinem Abt das vergiftete Gericht zu servieren, verließen die Nerven, er begann zu klagen und zu heulen, bevor Siegfried noch den ersten Bissen genommen hatte. Der Abt verzieh dem Täter, einem Mönch Tobias, in dem er nur den Handlanger der Verschwörer erkannte. Auch über diese stellte er keine Untersuchung an. Als der Abt die dem Kloster Pegau gehörige Propstei Schkölen aufsuchte, bot ihm der dortige Mönch ein besonders zubereitetes Gericht an. Siegfried kostete davon, gab seinem Bruder Heinrich (dem Vater des Kanonikers Hein-

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rieh von Röcken), der bei ihm war, und anderen davon. Der Abt entkam nur mit Gottes Hilfe der Vergiftung, sein Bruder starb daran, desgleichen zwei Maurer und vier Knaben. Der Abt verstieß den Mönch aus der Propstei und der Pegauer Kirche. Im ganzen soll Abt Siegfried im Laufe der Zeit mehr als 26 Mönche aus solchen Gründen vertrieben haben. Nur wenige von ihnen wurden vor dem Tode des Abtes wieder aufgenommen. Aber weder diese Verstoßungen noch der Tod Bischof Eberhards von Merseburg setzten dem üblen Treiben ein Ende. 138 Der Bischof suspendierte, nachdem ein Rat abgehalten worden war, den Abt wiederum von Amt und Lehen. Inzwischen erschien der Kardinalpresbyter Johannes von s. Stefan in Monte Celio in Pegau, um zwischen Abt und Mönchen zu vermitteln. Der Abt hielt sich damals nicht in Pegau auf, sondern verbarg sich in nahegelegenen Dörfern. Für ihn verhandelte ein Magister O. Der Kardinal bestätigte die gegen Siegfried von Röcken ausgesprochene Suspension. Wieder, zum fünften Male, reiste der Abt nach Rom, verschwieg die wahren Rechtsverhältnisse und verlangte ein Privileg, das angeblich nur alte Rechte bestätigte. In Wirklichkeit hatte das Kloster diese Rechte nicht besessen.139 Bischof Eberhard I. mißtraute den delegierten Richtern des Papstes und appellierte nach Rom. Als die bischöflichen Beauftragten außerdem das erschlichene Privileg des Abtes gelesen hatten, gingen von beiden Parteien wieder Boten an die Kurie. Es wurden andere Richter mit der Schlichtung beauftragt. Abt Widerold von Goseck, Erzbischof Ludolf von Magdeburg und die Bischöfe Thimo von Bamberg und Dietrich von Meißen stellten den Frieden zwischen Bischof, Abt und Mönchen wieder her. Siegfried gab nicht nach. Unter Bruch seines Versprechens machte er sich heimlich, nunmehr zum sechsten Male, auf den Weg nach Rom und erhob erneut Klage gegen Bischof und Mönche und erlangte Mandate an zwei der delegierten Richter. Bischof Eber138

MG, SS X X I I I , S. 204, Z. 15. Die Hand des 13./14. Jh.s (SS XVI, S. 267, Z. 16 ff.), die bereits zu 1189 über den Streit berichtet, bemerkt zu 1207, also unter falschem Jahr, Siegfried habe an der Kurie nachgewiesen, daß das Kloster frei sei. Darauf sei geändert worden, was im Privileg Paschais II. gestanden habe (s. o.), daß nämlich der Diözesan Mönchs- und Kirchenweihen vornehmen solle. Der Schreiber weiß mehr, als im Schreiben Innocenz' III. für Pegau stand (Potthast, Nr. 327), wenn er sagt: Insuper ecclesia saneti Laurentii in civitate, in qua ius episcopale episcopus exereuit, domnus Celestinus apostolicus ipsam ecclesiam cum suis pertinentiis ab omni iurisdictione eiusdem episcopi in perpetuum duxit penitus eximendam, statuens ut eadem capella eidem abbati et monasterio suo eure commissi de cetero specialis existat, nec possit in ea episcopus Mersburgensis contra voluntatem abbatis et successorum suorum deineeps ius aliquod exercere. Et tunc temporis ecclesia saneti Ottonis etiam exempta fuit ab omni iure episcopali. 139

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hard antwortete mit erneuter Appellation an den Apostolischen Stuhl. Schließlich nahm Propst Hartmann von (St. Moritz in) Naumburg ein Protokoll auf, das mit drei Siegeln versehen war und von einem Mann gegeben war, den die meisten für exkommuniziert hielten. Der Papst, inzwischen Innocenz III., setzte zu Auditoren dieses Prozesses den Kardinal Peter von s. Caecilia und den Kardinalbischof Octavian von Ostia ein. Diese unterrichteten Innocenz I I I . über das bisher Geschehene. Innocenz hielt sich an das vom Erzbisdiof von Magdeburg gesprochene Urteil, ausgenommen diejenigen Kapitel, die gegen die Libertas des Klosters und der beiden Kapellen 140 gerichtet waren, da der Abt, auch wenn er es wollte, von Rechts wegen nicht auf das Freiheitsprivileg, das die Zugehörigkeit des Klosters zu ius et proprietas des römischen Stuhles festlegte, verzichten könnte. Die Untersuchung der Freiheit des Klosters hatte sich die Kurie in jeder Phase des Prozesses vorbehalten. Es wurde n u n dem Bischof freigestellt, gegen den Freiheitsanspruch des Klosters Rechtsmittel anzuwenden, inzwischen jedoch sollten Abt und Kloster den alten Status behalten und nicht unter die bischöfliche Obödienz gezwungen werden.141 Innocenz beauftragte nun die Äbte von (St. Georg in) Naumburg und Georgenthal sowie den Propst von St. Severi in Erfurt, dem Abt alles das, was ihm an Schätzen seiner Kirchen, Privilegien und Indulgenzen durch den Bischof oder dessen Helfer genommen worden sei, zurückzugeben und Untersuchungen über Freiheit oder Unterstellung des Klosters anzustellen. Bis zum endgültigen Spruch sollte die Appellation ausgeschlossen sein. Der Papst wollte einen bestimmten Termin setzen, an dem sich die Parteien zum Empfang des Spruches in Rom einfinden sollten.142 Was darauf geschehen ist, wissen wir nicht. Der Tod Eberhards I. von Merseburg, der 1198 zuletzt erscheint, setzte dem Streit kein Ende. Jetzt brach die ganze Misere des Thronstreites über das Kloster herein. Sofort nach dem Tode Heinrichs VI. überließ König Philipp v. Schwaben im Widerspruch zu den Privilegien die Vogtei über Pegau dem Grafen Dietrich von Sommerschenburg, der 1190 seinem Vater Dedo als Graf von Groitzsch gefolgt war. Der Staufer, der in Ichtershausen und Mühlhausen gewählt worden war, mochte sich dazu entschlossen haben, weil er den Wettiner auf seine Seite bringen wollte. Dietrich setzte sich in den Besitz der Kirche und zwang die Bürger sofort unter seine Gewalt. Der Abt wurde von den Mannen des Grafen gefangen und aus dem Kloster vertrieben. Ein Jahr 140 141 142

Siehe oben S. 42, Anm. 119. ÜB Merseburg, S. 121. ÜB Merseburg, Nr. 141.

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fand er in der Burg Werben, 143 wo ihn Herzog Bernhard von Sachsen aufnahm, Zuflucht. 144 Als sich die beiden Wettiner, Markgraf Dietrich d. Bedrängte und Dietrich von Groitzsch, entzweiten, kehrte der Abt, unterstützt vom Markgrafen, der Soldaten in die Stadt legte, nach Pegau zurück und konnte der Gewalt des Grafen von Groitzsch Widerstand leisten. Der Graf verhielt sich schließlich nachgiebiger, wenn der Abt zu dessen Lebzeiten sich auch nie ruhig seiner Freiheit erfreuen konnte. Man darf damit rechnen, daß der Abt und die Stadt seit etwa 1200 ruhigere Zeiten hatten. Damals dürfte vor allem Siegfried die zahlreichen Münzen geprägt haben, die von ihm erhalten geblieben sind. Unter ihm weist v. Posern-Klett 32 Gepräge nach. 145 Auch wenn nicht jede der Münzen, die keine Legende haben, dem Abt zuzuweisen sein sollte, bleiben noch immer 22 Münztypen, die Abt Siegfried zuzuschreiben sind. Ein Teil ist zweifellos unter Dietrich von Groitzsch geprägt worden. N u n hat Graf Dietrich von Groitzsch in seiner Eigenschaft als Vogt mindestens eine, wahrscheinlich aber fünf Münzen geprägt. Der Vogt trat also eindeutig in wirtschaftliche Konkurrenz mit dem Abt. Das Münzbild ist das Krückenkreuz des Pegauer Abtes. In die vier Sektoren sind der Kopf (des hl. Jacobus), Schwert, Adler und Reichsapfel, einmal statt des Schwertes ein Turm eingestellt. Die Umschrift lautet T E O D E R I C U S COMES oder einfach TEODERICUS. 1 4 6 Als Dietrich von Groitzsch 1207 starb, übernahm sein Bruder, Markgraf Konrad, die Vogtei, die er zusammen mit dem Verstorbenen vom König empfangen hatte. Konrad ließ von persönlichen Kränkungen des Abtes ab, weil dieser seinen Sohn aus der Taufe gehoben hatte. Siegfried soll zu Lebzeiten Dietrichs von Groitzsch versucht haben, die Vogtei auch gegen einen hohen Preis für das Kloster zurückzuerwerben. Unvorsichtigerweise ließ sich der Abt dazu hinreißen, den Grafen einen Apostaten zu nennen. Graf Dietrich hatte als Magdeburger Kanoniker den Grad eines Subdiakonen erlangt. Er soll aber den geistlichen Stand aufgegeben haben. Während er die Universität Paris (scolae) besuchte, war dort ein Streit zwischen Bürgern und Klerus ausgebrochen, in den er seine Bedienten zugunsten der Kleriker hatte eingreifen lassen. Diese hatten bei dieser Gelegenheit Totschlag begangen. Dietrich hatte deshalb Zweifel an einer erfolgreichen geistlichen Karriere bekommen. 147 143

Sicher nicht Werben bei Pegau, wie Ehrenfeuchter (MG, SS X X I I I , S. 204, N o t e 67) angibt, sondern Werben a. d. Elbe. 144 MG, SS X X I I I , S. 204, Z. 21. 145 v. Posern-Klett (s. Anm. 107), S. 287 ff. 146 v. Posern-Klett, a. a. O., S. 300 f. 147 MG, SS X X I I I , S. 204, Z. 45.

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Nach dem Tode des Markgrafen Konrad (1210) versuchte Dietrich d. B. mit allen Mitteln zu erreichen, daß man ihn zum Vogt von Pegau wählte. Abt Siegfried widersetzte sich und machte sich damit den Markgrafen zum Feind. Der Wettiner trachtete, wie wir wissen, nach dem wichtigsten Teil der Vogtei, der Herrschaft über die von Abt Siegfried erweiterte Stadt, die eben jetzt als Brückenkopf auf dem linken Elsterufer einen erhöhten Wert zu gewinnen begann. Der Abt verkannte den Wandel der Zeiten, wenn er seine Freiheit durch den Papst geschützt glaubte und sich gegen seinen Diözesan und zugleich gegen den Landesherren stellte. Der Markgraf suchte nun dem Abt zu schaden, so sehr er konnte. Die Anlage der Neustadt Pegau beantwortete er damit, daß er die vor der Burg Groitzsch, die ihm nach Erbrecht zugefallen war, gelegene Siedlung (villa) befestigte, Markt, Zoll und Münze einrichtete und allen denjenigen, die in Groitzsch Handel treiben wollten, den Besuch von Pegau untersagte. 148 Es wurde ein Handelskrieg in Miniatur gegen den Abt in Szene gesetzt. D a in diesem Zusammenhang ausdrücklich von der Errichtung einer Münze gesprochen wird, scheint es angebracht, vier der fünf Münzen, die v. Posern-Klett dem Grafen Dietrich von Groitzsch zuschreibt, auf Markgraf Dietrich d. Bedrängten zu beziehen, der den Titel Markgraf von Meißen nur auf einer Münze führt. Wenn der Markgraf in Groitzsch prägt, wo er ja nicht in seiner Eigenschaft als Vogt tätig ist, ist die Unrechtmäßigkeit seines Handelns um so deutlicher. Er bemächtigt sich der königlichen Symbole und des Münzbildes des Klosters, um seine Münze gegen die des Abtes durchzusetzen. Wahrscheinlich hat die große Zahl der Gepräge des Abtes darin ihren Grund, daß Siegfried durch häufige Münzverrufungen den Markgrafen ausstechen wollte. Gegen den flagranten Bruch seiner Vogtrechte forderte der Abt päpstliche Richter an. Es wurden der Bischof, Dechant und Domscholaster von Würzburg entsandt. Abt Siegfried konnte damit alle Versuche des Markgrafen unwirksam machen. Nach Vernehmung von Zeugen sprachen die päpstlichen Richter ein Urteil zugunsten des Abtes und übertrugen die Exekution dem Bischof von Brandenburg, der in Groitzsch vor Burgmannen und Einwohnern (villani) kraft päpstlicher Autorität Markt, Münze und Zoll aufhob und alle, die in dem Ort ihren Wohnsitz zu Marktrecht hatten, kraft apostolischer Autorität exkommunizierte. Diese Maßnahme ist für die Verhältnisse im Reich während des Thronstreites nicht weniger bezeichnend als die Münzprägung des Vogtes mit königlichen Herrschaftszeichen. Sie zeigt, daß der Papst sich bei Zwiekur M G , SS X X I I I , S. 205, Z. 5 ff.: Ad extremum vero ante Castrum Groiz, quod ei hereditario iure obvenerat, villam muniens forum instituit et teloneum et monetam omnibusque provincialibus ab illa parte tarn emere quam vendere volentibus, ne Pigaviam pergerent, irtterdixit. 148

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für berechtigt hielt, an Stelle des Königs Gewalt mit geistlichen Zwangsmitteln über einen unbotmäßigen Untervogt zu üben. Dies entsprach der Auffassung Innocenz' III. Der Abt verlangte für die Schäden, die er vom Markgrafen und seinen Vorgängern erlitten hatte, eine Entschädigung von 7500 Mark und wollte, daß deshalb das Interdikt über das ganze Land des Markgrafen verhängt werde. Da schaltete sich Erzbischof Albert von Magdeburg als Vermittler ein und erlangte von beiden Parteien die Zustimmung, daß er selbst und die Bischöfe Engelhard von Naumburg und Eckehard von Merseburg als Schiedsrichter fungierten. Sie bestätigten das Urteil, das uns erhalten ist, über den Markt Groitzsch. Die Schiedsmänner sprachen 1219 ihr Urteil 149 auf Weisung des Königs. Der Markgraf mußte die Straße durch Groitzsch entweder aufgeben oder um den Ort herumführen, brauchte diesen aber nicht zu zerstören. In Groitzsch durfte kein Kornmarkt abgehalten noch eine Münze betrieben oder ein Geldwechsel vorgenommen werden. Der Zoll sollte folgendermaßen erhoben werden: Mit Wein oder Tuch beladene Wagen sollten von jedem Rad einen Pfennig, jeder mit anderem Gut beladene Wagen sollte nur zwei Pfennig geben. Der Markgraf sollte die neue Brücke zerstören und weder dort noch anderswo eine neue zum Nachteil der Abtei errichten. Der Markgraf sollte dem Abt 500 Mark zahlen von künftige Ostern bis Ostern über ein Jahr. 150 Dieser Betrag sollte zum Nutzen des Klosters angelegt werden. Wenn der Markgraf die Zahlung in dieser Frist versäume, solle er ohne Mahnung exkommuniziert werden. Wenn sich zwischen den Leuten des Markgrafen und den Hintersassen der Dörfer des Abtes in der Umfriedung der Abtei ein Streit erhebe, solle das Urteil darüber beim Abt liegen. In jedem bürgerlichen Streit, der die Hintersassen des Abtes betreffe, solle das Urteil des Abtes gesucht werden. Die Beamten des Markgrafen, sowohl die Schulzen als auch die Bedellen {tarn villici quam bedelli), sollten gegen die Hintersassen und Güter der Abtei kein Recht beanspruchen. Dagegen sollte der Abt die Zugbrücken (pontes tracticii) zerstören und andere errichten, so wie sie seit jeher gewesen waren. Die Straße durch Pegau sollte vom Merseburger (Ober-)Tor bis zum Groitzscher (Unter-)Tor ungehindert sein. Dort sollte nur der Zoll in der alten Höhe erhoben werden. Man kann also schließen, daß auch der Abt den Zoll erhöht hatte. Die (Elster-)Brücke in Pegau sollte von den Hintersassen des Abtes an den ihnen seit alters zugewiesenen Stellen hergerichtet werden. Vom Brückenbau sollen Abt, Spital und Pfarrer befreit sein. Abt und Markgraf gaben sich den Friedens149 150

UB Merseburg, Nr. 166. MG, SS XXIII, S. 205, Z. 20 hat die gleiche Bestimmung.

58

H A N S PATZE

kuß. Endlich hatte Siegfried von Röcken, nachdem er über 30 Jahre unerschrocken für die Rechte seiner Kirche gekämpft hatte, Ruhe von vieler Mühsal. Freilich hatte er unter allen Übeln stets die Gunst des päpstlichen Stuhles von Coelestin bis Honorius III. genossen. Mit Hilfe ihrer Privilegien hatte er die Freiheit seines Klosters erfolgreich verteidigt. Der auf Eckehard folgende Bischof Dietrich von Merseburg erneuerte den Streit mit dem Abt von Pegau nicht. Dessen Nachfolger Eckehard II. machte nur einen schwachen Versuch in dieser Richtung. Als der Bischof ihm - aus gegebenem Anlaß - Weisung erteilte, den Gottesdienst einzustellen, beanstandete der Abt in französischer Sprache die mangelhafte Anrede, in der das frater weggelassen war, und sagte, daß er nicht auf bischöfliche Weisung, sondern aus Respekt vor demErzbischof den Gottesdienst einstelle. Der Chronist vom Lauterberg hat den stolzen Abt von Pegau, der sich in der zerbrechenden hochmittelalterlichen Weltordnung, vom König den landesherrlichen Gewalten preisgegeben, mannhaft behauptete und keinen Schritt zurückgewichen war, treffend charakterisiert: Sigfridus Pigaviensis abbas obiit, vir strennuus et qui in multis ecclesie sue cognoscitur profuisse maxime in conservanda eius libertate tarn in spirituali iure quam in seculari, pro qua re multis desudans laboribus eciam vite sue periculum nonnumquam expertus est.151 In nichts unterschied sich dieser Abt, der stets in einer Schaffellmütze umherlief, vom Beispiel der Alten. Seinem Beispiel - schließt der Chronist sollten die heutigen Prälaten, die nach so viel Neuheiten streben, nacheifern! VII Die bewegte Regierung des Abtes Siegfried von Röcken bildet den Höhepunkt in der Geschichte des Klosters Pegau. Fortan teilte es die Geschicke zahlloser Klöster: Es mußte sich in die Einheit eines Territorialstaates, des wettinischen, einordnen; wenngleich der Abt noch Stadtherr blieb, über ihm stand der Landesherr. Neben den Annalen und der Gestalt der Stadt ist aus der hochmittelalterlichen Epoche Pegaus ein bedeutendes Zeugnis auf uns ge1 5 1 MG, SS X X I I I , S. 201, Z. 39 ff., und S. 206, Z. 2 ff. — Nach dem Tode des Abtes machte auch der Kanoniker Heinrich von Röcken, ein ebenso streitbarer Mann wie sein Onkel, seinen Frieden mit dem Propst Dietrich vom Lauterberg, mit dem er sich mehr als zehn Jahre gestritten hatte. Er w a r in seiner Sache auch mehrfach nach Rom gereist. Sein Onkel hatte ihn zum Propst der s. Otto-Kirche in Pegau machen wollen. Heinrich hatte sich geweigert, schließlich doch drei Tage vor dem Tode seines Onkels nachgegeben. Der nach dem Tode Siegfrieds gewählte A b t Heinrich, ein Mann von weniger strengen Auffassungen, vertrieb Heinrich von Röcken aus der Pegauer Otto-Kirche.

DIE PEGAUER

ANNALEN.

59

kommen: das Grabmal, das das Kloster einst seinem Stifter meißeln ließ. Es befindet sich heute im Südturm der St.-Laurentius-Kirche. 152 Es ist bisher, soweit ich sehe, noch nicht bemerkt worden, daß Wiprechts Grabmal nur die Ergänzung zu dem in der Mitte des 12. Jahrhunderts bereits vorhandenen Cenotaph seiner Gemahlin Judith war. Der Pegauer Annalist berichtet im Anschluß an die Beisetzung der comitissa, der auch ihre Brüder und die Bischöfe von Meißen, Merseburg und Zeitz beiwohnten, ihre Leiche liege nicht dort, wo sich jetzt ihr Monumentum befinde, sondern unter dem Kreuzaltar. 1 5 3 Monumentum kann nur als „Grabmal", schwerlich als Grabplatte gedeutet werden. Das würde heißen, daß St. Jacob in Pegau neben dem Grabmal Rudolfs von Schwaben im Dom zu Merseburg, dem Grabmal Widukinds in Enger (ca. 1100), dem Grabmal von Pippins Gemahlin Plektrudis in St. Maria im Kapitol in Köln eines der frühesten (Stifter-) Grabmäler besessen hat, die wir kennen. Zu der Schaffung des Grabmales der Judith mag das Merseburger Grabmal Rudolfs von Schwaben angeregt haben. Ob das Pegauer aus Metallguß bestand, darf bezweifelt werden. Beim Tode seiner Gemahlin stiftete Wiprecht dem Kloster den wertvollen golddurchwebten Mantel der Verstorbenen, aus dem eine Kasel gefertigt wurde. Der Goldbesatz wurde einem anderen Mantel (cappa) aufgesetzt. Auch einen großen, mit Gold, Gemmen und Messing geschmückten Schrein, drei große (Vortrage-)Kreuze aus den gleichen Materialien, die offenbar auf silberne Ständer gesetzt werden konnten, vermachte Wiprecht dem Kloster. Ferner werden ein Weihwassergefäß und zwei Leuchter mit byzantinischer Schmelzarbeit (fusilis), die sich für den Hauptaltar eigneten und aus ihrem Hausrat stammen sollten, genannt. Ein Schleier diente zur Verhüllung des Altars an den Festen, an denen das Evangelium gefeiert zu werden pflegte. Ein Teil dieser Gegenstände hatte, wie der Annalist gesteht, das Schicksal der Krone und des Mantels, den Judith bei der Weihe gestiftet hatte, geteilt. Sie wurden teils in Zeiten des Hungers versetzt, teils zum Ankauf von Gütern verwendet. Gute Abbildungen in: Bau- und Kunstdenkmäler, Königreich Sachsen, 15. H . Amtshauptmannschaft Borna, bearb. v. R. Steche, Dresden 1891, S. 91 ff. Steche weist auf die Verwandtschaft mit dem Grab Dedos in Wechselburg hin. 152

1 5 3 MG, SS X V I , S. 2 4 9 : Sciendum tarnen, quia in loco ubi munimentum eius factum apparet, ibi corpus non iacet, sed in crepidine altaris sanctae crucis, qui locus indicio tali manet adhuc notabilis. Idem altare tunc in altiori loco positum erat. — Wir weisen generell darauf hin, daß alle für die Kunstgeschichte wesentlichen Stellen der Annales Pegavienses sich finden bei Otto Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen zur Kunstgeschichte des 11. und 12. Jh.s für Deutschland, Lothringen und Italien, Berlin 1938, und zwar Nr. 1067—1077, 2659, 2732, 2956.

60

HANS PATZE

D a der Annalist über die im Kloster vorhandenen wertvolleren Gebrauchsund Kunstgegenstände mit ziemlicher Ausführlichkeit spricht, des Stiftergrabes aber nicht gedenkt, hat es noch nicht existiert. Diese Folgerung entspricht der stilistischen Einordnung des Wiprechtsgrabes, die die kunstgeschichtliche Forschung vorgenommen hat. Adolf Goldschmidt verdanken wir eine intensive und kluge Auseinandersetzung mit der hervorragenden Skulptur Obersachsens am Beginn des 13. Jahrhunderts. Goldschmidt gehörte bekanntlich jener Forschungsrichtung an, die von der Zwangsläufigkeit künstlerischer Entwicklung von geringerer zu höherer Qualität überzeugt war und Kenntnis des vorhandenen als Voraussetzung des zu schaffenden Werkes betrachtete. Da Goldschmidt der Ansicht war, daß der Pegauer Wiprecht den Freiberger Meister der Goldenen Pforte zu Freiberg voraussetzte, „der Freiberger Portalmeister wohl der Erfinder sei", 1 5 4 und da er Freiberg mit Rücksicht auf die Bamberger Portale nicht vor ca. 1230 glaubt ansetzen zu können, vermutet er, daß Wiprechts Grabmal ca. 1230/40 geschaffen wurde. Das in der Schloßkirche zu Wechselburg befindliche Grabmal Dedos von Groitzsch und seiner Gemahlin Mechthild setze stilistisch den Pegauer Wiprecht voraus und wird ca. 1240 datiert. Man kommt damit etwa noch in die Zeit des Abtes Siegfried von Röcken, dessen Bedeutung für das Kloster und die Erhaltung seiner Freiheit und vor allem die bauliche Gestaltung der Stadt, der St.-Nikolaus-Kirche und des Klosters deutlich geworden sein dürfte. Im Anschluß an die Überlegungen von Walter Schlesinger 155 über die politische Programmatik der Naumburger Stifterfiguren, die zu einer wohl kaum mehr zu erschütternden Neudatierung der Naumburger Figuren geführt haben, wird man für den Ansatz des Pegauer Wiprechts zu einem Analogieschluß verführt, dem man nur schwer widerstehen kann. Man ist geneigt, den Abt Siegfried mit Bischof Engelhard von Naumburg und den nachfolgenden Pegauer Abt Thimo aus dem Hause Colditz mit Dietrich von Naumburg in Parallele zu setzen. Unter Thimo, der dazu beigetragen hat, das Kloster dem Bischof von Merseburg zu unterwerfen, ist eine solch großartige Verewigung des vor ca. 100 Jahren verstorbenen 154

Adolph Goldschmidt, Die Skulpturen

von Freiberg

und Wechselburg,

Berlin 1924, S. 23 f.

Abbildungen Dedos und Medithildes Taf. 80, Wiprechts Taf. 89. — August Fink (Die Grabplastik

in Sachsen von den Anfängen

bis zur zweiten Hälfte

des dreizehnten

figürliche

Jahrhunderts,

phil. Diss. Berlin 1915, S. 44 ff.) weist bereits auf die Zusammenhänge des Wiprecht-Grabes mit Freiberg hin. Audi er betrachtet Wiprecht als Voraussetzung für das Wechselburger Doppelgrab. Zum Typ des Stiftergrabmals vgl. H . Borgwardt, Die Typen Deutschland. 155

Meißner

des mittelalterlichen

Grabmals

in

Phil. Diss. Freiburg 1939. Dom und Naumburger

Westchor. Ihre Bildwerke

in geschichtlicher

( = Beihefte zum Archiv f. Kulturgeschichte, H . 2), Münster/Köln 1952, S. 46 ff.

Betrachtung

61

DIE P E G A U E R A N N A L E N .

Stifters, dem das Kloster Existenz und Freiheit verdankte, wenig wahrscheinlich, viel eher unter dem Abt, der sein Leben daransetzte, um diese Freiheiten zu erhalten. Kann kein Zweifel sein, daß die Zahl der Männer, die solcher Spitzenleistungen fähig waren, klein war, wenn nicht überhaupt das meiste dieser obersächsischen Plastik von nur einem Mann stammt, so ergäbe sich das Paradoxon, daß dieser Mann den Pegauer Abt und seinen Gegner, Dedo von Groitzsch, durch vortreffliche Plastik festgehalten hat. Freilich wollen wir nicht - das sei ausdrücklich betont - der Zwangsvorstellung verfallen, solche Werke müßten, weil es im Falle Naumburg so schön stimmt, immer mit einer politischen Programmatik geschaffen sein. Die Dinge können auch ganz anders gelaufen sein. Belanglose Zufälle können zum Entstehen eines solchen Werkes geführt haben, die wir nicht kennen. Auffallend am Grab Wiprechts ist die an ähnlichen Werken nicht zu beobachtende Kostbarkeit des Materials. Das Werk war mit 223 Glasflußstücken und Halbedelsteinen besetzt. P. E. Schramm hat die Vermutung ausgesprochen, daß die Edelsteine des Marburger Elisabethschreins aus dem Schatz Friedrichs II. stammten. 156 Man könnte in unserem Falle daran denken, daß Halbedelsteine verarbeitet wurden, die aus dem Besitz Judiths stammten. Wir wissen nicht nur von den z. T. mit Edelsteinen besetzten Geräten, die ihr Gemahl aus ihrem Nachlaß dem Kloster stiftete, sondern Judith hatte am Weihetag des Klosters nicht nur Krone und Mantel, sondern auch Edelsteine und Elfenbeinschnitzereien zum Schmuck einer Kanzel gestiftet. 157 Es ist möglich, daß diese Kanzel als Vorbild für die Verarbeitung von Edelsteinen und Glasschmelz, die auch technische Schwierigkeiten bereitete, in Stein diente. 158 Auch ist es denkbar, daß die trotz aller Wechselfälle reichen Einkünfte, die der umsichtige Abt Siegfried dem Kloster durch die Einführung des Kultus des hl. Otto verschaffte, die großzügige Ausstattung des Stiftergrabes, mit dem das Gedächtnis Wiprechts so betont gefeiert wurde, ermöglichten. Nicht nur die Skulptur des Markgrafen erinnerte täglich an seine Taten, sie sprachen auch als Fresken von den Wänden der Klosterkirche. Cohn 159 hat vor über hundert Jahren eine Notiz veröffentlicht, die wir bei dieser Gelegenheit wieder aufgreifen möchten: „In dem Kloster des hl. Jacob zu Pegau waren die Thaten des Stifters, des Grafen Wiprecht von Groitzsch, in Gemäl156

Percy Ernst Schramm, Kaiser

Friedrichs

II. Herrschaftszeichen,

M G , SS X V I , S. 2 4 6 , Z. 4 : Ded.it preterea cristallinos et eburneos sculpturis instgnes. 157

158

Fink ( D i e figürliche Grabplastik..

ad ornamentum

Göttingen 1 9 5 5 , S. 32. pulpiti

lapides

scachorum

., S. 46 f.) sieht in der Technik der eingesetzten Glas-

flüsse eine Beziehung zur älteren Stuckplastik z. B. des Grabmals v o n Enger und der Madonna von Erfurt. 1 5 9 Cohn, Pegauer Annalen, S. 475, Anm. 9 aus L H A Dresden Cop. 1 3 1 1 , Bl. 1 1 2 b.

62

H A N S PATZE

den dargestellt. Nach einem Schreiben des Burggrafen von Leisnig, Hugo, vom 15. April 1515, sendete dieser den Maler Sebald 1 6 0 dahin, um des Grafen Weyprechts Leben und Geschichte, wie solche in der dasigen Kirche abgemalt, abzuvisieren, und bat den A b t zu Pegau, ihm das alles anzuzeigen und zu unterrichten, sonderlich die Verse dabei zu verzeichnen." Leider läßt sich nichts über das Alter dieser Wandbilder, die mit dem Abbruch der Klostergebäude verlorengegangen sind, sagen. Der Stifter hat im Kloster hohe Verehrung genossen. D a s zeigen nicht nur die Bildwerke, von denen wir Kenntnis haben. Aus einer Aufzeichnung aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts wissen wir genau, wie das Totengedächtnis für Wiprecht II. gefeiert wurde und wie es sich von den Feiern für andere Verstorbene unterschied. 181 N a c h t r a g : Erst nach dem Umbruch dieses Aufsatzes hatte ich Gelegenheit, Pegau wieder zu besuchen. Die Ortsbesichtigung hat midi in den vorgetragenen Auffassungen über die Entwicklung der Stadt bestärkt. Die villa B. des l l . J h . s (s. o. S. 31) lag (mit der nicht lokalisierbaren Wü. Wolftiz) zweifellos ebenso auf dem linken Ufer des Mühlgrabens (auch „Kleine Elster" genannt, also offenbar ein natürlicher Wasserlauf [s. o. S. 44]) wie die sogen. „Oberdörfer", die sämtlich den geringen Niveauunterschied des Auenrandes ausnützen. Die bisher vermutete — hochwassergefährdete — Lage der villa zwischen Mühlgraben und Elster widerspräche also auch vergleichenden siedlungskundlichen Beobachtungen in der Umgebung. Auf spätere planmäßige Anlage der Unterstadt (s. o. S. 44) deutet deren Weiträumigkeit, insbesondere die große Breite der Straßen, wie sie für „Neustädte" typisch ist. Urkundlich sind Stadterweiterungen zur gleichen Zeit wie in Pegau bekanntlich in Merseburg und Altenburg nachweisbar. — Eine eindeutige Klärung der Lage des Schlosses (s. o. S. 37) war mir nicht möglich. Als solches gelten die Häuser Schloßstr. 33 und Schloßplatz 1, doch weist A. Günther (Neue Sachs. K G , Ephorie Borna) für Zwecke der Hofhaltung auch Ausbau der Klostergebäude nach. Beides braucht sich nicht auszuschließen. Die genannten Grundstücke haben im Stadtgebiet die fortifikatorisch günstigste Lage. — Die erste Burg Wiprechts (s. o. S. 31, Anm. 80) befand sich in Altengroitzsch. Sie nahm den Sporn westlich des Dorfes am Steilhang des Auenrandes über der Schwennigke ein und wird durch einen gut wahrnehmbaren Graben von der Siedlung getrennt. Auch in der mündlichen Überlieferung ist diese Stelle, wie eine Befragung ergab, als erste Burg Wiprechts bekannt.

1 6 0 Sebald ist offenbar sonst nicht bezeugt; vgl. Thieme-Bedker, Allgemeines bildenden Künstler, hrsg. v. Hans Vollmer, Bd. 30, Leipzig 1936. 1 6 1 Anonymus (s. Anm. 30), Sp. 103.

Lexicon

der

RUDOLF

LEHMANN

D I E W E N D I S C H E N V I E R T E L I N L U C K A U 1546 (mit einer Planskizze) Vor einigen Jahren hat Johannes Schultze den Stadtvierteln eine allgemein orientierende Untersuchung gewidmet 1 und dabei darauf hingewiesen, daß für eine gründliche Untersuchung dieses Problems eine umfassende oder doch ausreichende Ausbreitung lokalen Materials fehlt, da die Ortsgeschichtsschreibung zumeist entweder gar keine oder nur unzureichende Angaben macht. 2 Diese Feststellung gilt auch für die Niederlausitz. Ausdrücklich bezeugt sind hier nach den bisherigen Ermittlungen Viertel bzw. auf sie hinweisende Viertelsmeister in den vier landtagsfähigen Städten des alten Markgraftums, Luckau, Lübben, Guben und Calau, im brandenburgischen Cottbus, in den bis ins 16. Jahrhundert auch niederlausitzischen Städten Beeskow und Storkow, im sächsischen Senftenberg und in Golßen im alten Luckauer Kreis, und zwar sämtlich erst im 16. und 17. Jahrhundert. Die Anfänge einer Vierteleinteilung reichen möglicherweise bis in die Zeit zurück, als die räumliche Gestaltung der Stadt im wesentlichen abgeschlossen war (erste Umwehrung), für die Mehrzahl wohl im 14., für einige erst im 15. Jahrhundert. Aber zu voller Wirksamkeit der Viertel und damit zu ihrer ausdrücklichen Benennung dürfte es in unserem Gebiet erst im Zusammenhang mit dem Abschluß der städtischen Gerichts-, Finanz- und Wehrverfassung und wohl in Verbindung mit einer inneren Strukturwandlung in der Stadtverwaltung gekommen sein, d. h. etwa seit der Wende des 15. Jahrhunderts. 3 Am frühesten werden Viertel in Luckau genannt, die vier Viertel im Stadtregister von 1517, dann weiterhin in den noch vorhandenen von 1520, 1521, 1522, 1523, 1546, 1550 usw.,4 1

J. Schultze, Die Stadtviertel.

Ein städtegeschichtliches

Problem,

in: Blätter f. dtsch. Landes-

gesch. 92 (1956), S. 1 8 — 3 9 . 2

Schultze, a. a. O., S. 24.

3

Es sei u. a. auf die damals beginnende stärkere Differenzierung der städtischen Geschäfts-

führung hingewiesen, die mit dem Anwachsen der Aufgaben auch bald die Bestellung besonderer Stadtschreiber, wenigstens in den vier Kreisstädten, erforderlich machte. 4

Luckau, Stadtarchiv.

64

RUDOLF L E H M A N N

Viertelsmeister 1525, 1526, 1674. 5 In Lübben kennen die ältesten Stadtrechnungen von 1420 bis 1432 und 1434 bis 1442 keine Vierteleinteilung: sie begegnet erst (vier Viertel) in denen von 1523 bis 1528, 6 Viertelsmeister seit 1539. 7 In Guben geschieht der Viertelsmeister im Rechnungsbuch von 1556/57 Erwähnung, 8 während die Viertel (drei) erst im Urbar von 1670 ausdrücklich aufgeführt werden. 9 In Calau treten sie nicht in den Stadtrechnungen von 1410/11 bis 1415/16 auf, Viertelsmeister erst in denen von 1570/71 bis 1588/89. 10 Von den späteren vier Cottbuser Vierteln: Luckauer, Spremberger, Sandower (entsprechend den drei alten Toren) und Mühlenviertel wird das erste zuerst 1617, 11 das zweite 1652 12 erwähnt. In Storkow und Beeskow finde ich nur die Viertelsmeister aufgeführt, 1582 und 1596 bzw. 1618 13 und 1626. 14 Für Senftenberg bringen Erbzins- und Steuerlisten von 1474, 1529, 1546, 1551, 1586, 1597 und 1607 keine Angaben; erst 1670 erscheinen vier Viertel. 15 Golßen hatte 1548 drei Viertel und dementsprechend drei Viertelsmänner.16 Bei Sorau begnügt sich E. Engelmann mit der lakonischen Bemerkung für die Zeit nach 1815: „Für die Verwaltung bestand die uralte 5

Vgl. R. Lehmann, Die Urkunden des Luckauer Stadtarchivs in Regesten, Berlin 1958, N r . 346, 348 u. 463. — Ober die Bestellung der Viertelsmeister 1662 O. Eichler, Sparmaßnahmen der Stadt Luckau 1662, in: Der Heimatwanderer, Ludtau 1939, N r . 5/6. 6 Vgl. UB Lübben II, bearb. von W. Lippert, Dresden 1919, enthält die Stadtrechnungen des 15. u. 16. Jahrhunderts. 7 Erwähnt der viertelsleuth eydt im Eingang des 1538 einsetzenden 3. Stadtbuchs von Lübben, vgl. die Arbeit W. Lipperts über dieses in: Niederlausitzer Mitt. 21 (1933), S. 20. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts werden sie häufig genannt. 8 Vgl. H . Jentsdi, Das Rechnungsbuch der Stadt Guben auf das Jahr 1556157, in: Niederl. Mitt. 5 (1898), S. 282. 9 Vgl. K. Gander, Das Urbar der Stadt Guben vom Jahre 1670, in: Niederl. Mitt. 20 (1932), S. 44. 10 Vgl. R. Moderhack, Die ältere Geschichte der Stadt Calau, Calau 1933, S. 154 f., 157, 161, 202 u. Anm. S. 308, Nr. 354 u. S. 319, N r . 596. 11

Vgl. Niederl. Mitt. 10 (1909), S. 199.

12

Vgl. ebd., S. 206.

13

Vgl. C. Petersen, Die Geschichte des Kreises Beeskow-Storkow,

Beeskow 1922, S. 258 u.

291. 14

Vgl. C. Petersen, a. a. O., S. 266 u. 277.

15

Dresden LHA, Loc. 31 913 (1474) u. Landsteuerregister N r . 321, Nr. 5 (1546); Potsdam LHA, Amt Senftenberg, Erbzinsregister-Bruchstück 1529, Erbbuch 1551, Zinsregister 1586 u. 1597; Senftenberg Stadtarchiv, Mühlbuch 1609 (erhalten?) und Spezifikation der am 5. IX. 1670 abgebrannten Stadtgebäude u. Bürgerhäuser. Weitere Belege aus dem Stadtarchiv bis 1812. 16 Vgl. A. Arndt, Golßen nach der Stadtordnung Kr. Luckau (1941), S. 43.

vom Jahre 1548, in: Heimatkalender f. d.

D I E W E N D I S C H E N V I E R T E L I N L U C K A U 1546

65

Einteilung in vier Quartiere",17 und C. Jung gedenkt der Stadtviertel im Abschnitt Die Gesamtanlage der Stadt mit keinem Wort. 18 In der folgenden Untersuchung soll ein Sonderfall behandelt werden, der mir nur in e i n e m Ort der Niederlausitz und zwar nur aus e i n e m Jahr kürzlich bekannt geworden ist, nämlich das Vorkommen wendischer Viertel in Luckau 1546. 19 Während in den noch erhaltenen dortigen Stadtrechnungen von 1517, 1520, 1521, 1522, 1523, 1550 bis 1552, 1559/60, 1564-1566, 1572

:::;::;:::

vorhandene Stadtmauer

MMMMM II.

. ,

2

ehemalige G a s s e n

Ü Ü I I Ü

III.

. .

3 Roter (Tor-) Turm

7

3888888$

IV.

. .

4 Zugang erst seit 19. Jahrh.

8 Strafanstalt (ehemal. Klostergelände)

.

.

Wege

,

.

Calauer Tor

6 ehemal. Dominikanerkirche .

Georgenkirche

bis 1578, 1578-1582, 1583, 1586 bis 1591, 1595 20 lediglich von den vier Vierteln und von den Vorstädten vor dem Sandischen Tor und vor dem Calischen Tor die Rede ist, führt die Geschoßeinnahme-Einteilung von 1546 auf: 1. virtel, 2. virtel, der stad 3. oder wendisch virtel, der stad 4. und ander wen1 7 Vgl. E. Engelmann, Geschichte der Stadt Sorau im Jahrhundert ihrer Selbstverwaltung 1832—1932, Sorau 1936, S. 47. 1 8 Vgl. C. Jung, Die Stadt Spremberg in der Niederlausitz, Berlin 1914, S. 19 ff. 1 9 Im Stadtregister dieses Jahres in dem noch nicht neu geordneten Luckauer Stadtarchiv. 2 0 Sämtlich, wie auch die Rechnungen von 1546, in Luckau, Stadtarchiv.

5 Jahrbudi 12

66

RUDOLF LEHMANN

disch virtel, ferner vorsteter zu Sanda. Teutzsche — Töpfferendiscb; In der Calischen vorstadt. Teutzsche - Wendisch. Nicht ausgeschlossen ist natürlich, eher fast anzunehmen, daß diese Benennung auch in den nicht erhaltenen Rechnungsbänden vor und nach 1546 vorhanden war, während die Frage, wann und wie lange, völlig offenbleibt. Die ausdrückliche Scheidung in deutsche und wendische Viertel, die hier gemacht wird, wirft ein Problem auf. Bevor wir den Versuch unternehmen, es zu klären, wollen wir einen kurzen Blick auf Bautzen in der Oberlausitz werfen, das noch heute z. T. von sorbischer Bevölkerung umgeben ist und in dem auch, wie noch heute, Sorben ansässig waren. Die ältesten Geschoßlisten vom Anfang des 15. Jahrhunderts, 21 die nach Straßen gegliedert sind, verzeichnen schon eine Windissegasse, während die ausdrückliche Benennung eines wendischen Viertels wohl einer viel späteren Zeit angehört und in der Lokalisierung selbst anscheinend geschwankt hat. Als das jüngste nach dem Ortenburger, Laun- und Reichenviertel bezeichnet es der Chronist A. Böhland 1831;22 ob und wieweit allerdings seine Behauptung, diese Vierteleinteilung der Stadt sei (erst) durch den Bürgermeister Anton Böhmer (Anfang des 17. Jahrhunderts) vorgenommen worden, zutreffend ist, muß dahingestellt bleiben.23 M. E. ist die Benennung: wendisches Viertel nur so zu verstehen, daß hier ursprünglich und vorzugsweise, aber nicht ausschließlich Bürger wendischer Abstammung wohnten, da es deren auch in den anderen Vierteln gegeben haben wird. 24 In den kleineren im sorbischen Siedlungsbereich liegenden oberlausitzischen Städten (Kamenz, Löbau, Hoyerswerda) sind sogenannte wendische Viertel nicht bekannt. Wir kommen auf das Luckauer Problem zurück, suchen zunächst die beiden wendischen Viertel zu lokalisieren, unterziehen dann die Namen der Bewohner hinsichtlich der Volkstumszugehörigkeit einer Prüfung, werfen weiter einen Blick auf die gleichzeitigen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Vorgänge in Stadt und Umgebung und versuchen uns schließlich ein Bild von dem Charakter der Stadtwerdung und der räumlichen Entwicklung Luckaus zu machen. 1. Die Geschoßliste von 1546 selbst bietet keine Anhaltspunkte zur räumlichen Festlegung der Viertel, denn sie nennt nur die Namen der Bürger. Wir vergleichen nun diese Liste mit den Hauskauf- und -Verkaufseintragungen im 21

Vgl. J. Jatzwauk, Die Bevölkerungsund Vermögensverhältnisse der Stadt Bautzen, Bautzen 1912, S. 3 f. — Abdruck der Geschoßlisten in: Bautzener Geschichtshefte I X (1931) ff. 22 A. Böhland, Die merkwürdigsten Schicksale der Oberlausitz und ihrer alten Hauptstadt Budissin, Budissin 1831, S. 265. 23

Böhland, a. a. O., S. 154. Vgl. dazu nodi F. Wilhelm, Die Bedeutung der Gassen- und Straßennamen im alten und neuen Bautzen, 1935, w o vom wendischen Graben und der Wendischen Straße gesprochen wird. 24

DIE WENDISCHEN VIERTEL IN LUCKAU

1546

67

ältesten Gerichtsbuch der Stadt aus den Jahren 1519 bis 154 3.25 Dabei dürfen wir uns allerdings nicht verhehlen, daß der Besitzerwechsel, wie die Eintragungen selbst zeigen und ein Vergleich der Namen in den Listen von 1520 ff.26 mit der von 1546 lehrt, im ganzen Zeitraum recht stark war. Beispielsweise kommen von den 56 Namen des zweiten Viertels um 1520 ein Vierteljahrhundert später nur noch etwa 20 vor. Immerhin lassen sich Feststellungen machen, die weiter führen, denn sehr viele Veräußerungseinträge geben die Lage der Häuser nach Gassen und sonstigen örtlichkeiten genauer an. Der Vergleich ergibt nun, daß die clostergasse, die sporgasse, die monchegasse, die badstube und das nonnenhaus im ersten Viertel, die webergasse und die beckergasse im zweiten Viertel, die lange gasse und die judengasse im dritten Viertel, das am Sandischen thore endigte, lagen und die sakgasse im vierten Viertel. Das in der von Lucka rinckmauer in der webergassen gelegene, dem Kloster Dobrilugk seit 1298 27 gehörige Haus mit Hof erwarb die Stadt 154 8.28 Von diesen Benennungen erhielten sich bis in die neuere Zeit die Klostergasse, deren Lage sich ohnehin von selbst ergibt, und die Lange Straße. Andere Namen bzw. die Gassen selbst verschwanden, wie die Judengasse, manche Namen wurden geändert, wie der der Sporgasse, die übrigens 1436 Kleine Schmiedegasse hieß,29 der Großen Gasse, die zur Hauptstraße, der Mönchgasse, die zur Nikolaistraße wurde, der Nonnengasse, die vom Markt aus südlich des Klosterbezirks zur Mauer führte,30 der Webergasse, die später zur Hintergasse, dann zur Logenstraße umgetauft wurde. Die Sackgasse hieß im 19. Jahrhundert Alte Schulgasse.31 Jedenfalls läßt sich durch die Gassen und örtlichkeitsbezeichnungen die Lage der Viertel wenigstens in großen Zügen bestimmen.32 Das erste und wichtigste Viertel lag im Raum zwischen geistlichen Gebäuden, Kloster und Markt, das zweite schloß sich südlich an, das dritte südwestlich und das vierte westlich. Die Viertel scheinen in ihrer Hauptlage im wesentlichen die Jahrhunderte hindurch nicht verändert worden zu sein. Eine statistische Tabelle von 1817, in der außer den Hausnummern in fort25

Luckau Stadtarchiv.

26

Abgedruckt die Luckauer Bürgernamen nadi Abschrift von Professor Dr. Spatz bei E .

Mucke, Bausteine

zur Heimatkunde

des Kreises

Luckau,

Luckau 1918, S. 11—14.

27

Vgl. UB des Klosters

28

Vgl. R. Lehmann, Die Urkunden

29

Vgl. Lehmann, a. a. O., N r . 164.

30

Ein Eintrag von 1524 im Gerichtsbuch nennt das grawen

kloster gehörig) kegen

Dobrilugk

den nunnen

und seiner

Besitzungen,

des Stadtarchivs

über gelegen.

Luckau,

Leipzig/Dresden 1941 f., N r . 99. Berlin 1958, N r . 396. monchs

haus (zum Dominikaner-

Die Nunne war jedenfalls ein Beginenhaus, an

dem die danach benannte Gasse entlang führte. Sie ist noch auf einem Stadtplan aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts (jetzt Potsdam L H A ) eingezeichnet, später aber verschwunden. R. Scharnweber, Das Nonnenhaus

5"

in Luckau,

in: Luckauer Kreisztg. (1940), Nr. 226.

31

So in einer Liste der Zivileinwohner von 1846. Luckau Stadtarchiv.

32

Siehe die beigefügte Planskizze.

Vgl.

RUDOLF LEHMANN

68

laufender Zählung auch noch die Viertel angegeben sind,33 beweist das. Die Zählung beginnt mit dem vierten Viertel, wobei bemerkt wird, daß die Hausnummern 62 bis 74 zum ersten Viertel gehören. In diesem liegen die Hauptkirche, die Hauptwache, das Rathaus, die Torwächterwohnung, das Zuchthaus, das Seminarienhaus, beide an der Stelle der ehemaligen Klostergebäude, und das Syndikathaus. Im zweiten Viertel liegt u. a. das Brauhaus (auf dem Münchhof, also dort, wo einst die Dobrilugker Mönche ihre Niederlassung hatten). 34 Zum dritten Viertel wird außer der Töpferkammer 35 und der Dienerwohnung das (Sandoer) Tor gerechnet. Von dieser Liste aus lassen sich die zu den einzelnen Vierteln gehörenden Gassen bzw. Häuser genauer feststellen, wenn man noch die Liste der Zivileinwohner von 1846,36 die nur die Straßen bzw. Gassen mit den Hausnummern angibt, heranzieht und weiterhin noch eine Liste von etwa 1900,37 die die alten und neuen Straßenbezeichnungen mit den alten und neuen Hausnummern vergleichend nebeneinanderstellt. Die neuen Hausnummern, straßenabschnittsweise von — bis —, stehen nun auf einer zwischen 1898 und 1911 gedruckten Karte Luckau und Umgebung38, und zwar in einem Stadtplan als Nebenkarte. Danach ist es möglich, die Viertel annähernd genau abzugrenzen und auf einer Planskizze (siehe S. 65) darzustellen, annähernd, weil natürlich im Laufe der Zeiten einzelne Häuser abgebrochen, zusammengelegt oder auch hinzugekommen sind. Bezeichnend ist, daß die Viertel räumlich nicht ganz geschlossen, vielmehr miteinander verzahnt erscheinen. Danach dürfte wohl doch mit gewissen Veränderungen in der Zugehörigkeit zu rechnen sein - worauf auch die oben angeführte Bemerkung zur Liste von 1817 hindeutet -, 3 9 die im Laufe der Zeit eingetreten sein können, weil mit den Veränderungen in der Einwohnerzahl auch die der bewohnten Gebäude nicht gleichbleibend ist. Bezeichnend ist übrigens noch, daß je zwei Viertel (I und II, III und IV) bis an eins der beiden Tore laufen. Am Markt hatten vielleicht, wenn man den südwärts anliegenden Häuserblock als späteren Zubau bezeichnet (vgl. im folgenden), mindestens drei Viertel (I bis III) Anteil. Wir kommen auf diese Möglichkeit in anderem Zusammenhang zurück. Das erste Viertel erscheint deutlich als das älteste und bedeutendste. 33

Statistische Tabelle der Kreisstadt Luckau f. d. Jahr 1817. Luckau Stadtarchiv.

34

Vgl. Anm. 27.

35

Sie lag an der Verbreiterung der Hauptstraße vor der Einmündung der Langen Straße; hier auch der Töpfermarkt. 36

Vgl. Anm. 31.

37

Luckau Stadtarchiv.

38

Gez. von A. Goerner, Dr. vom Geogr. Institut Jul. Straube, Berlin o. J.

39

Vgl. die Angabe in der Anm. 33 genannten Tabelle.

DIE W E N D I S C H E N VIERTEL I N LUCKAU 1546

69

2. Nach dieser räumlichen Festlegung der Viertel, die, um es nochmals zu betonen, nur eine annähernde sein konnte, wenden wir uns der Namenuntersuchung zu. Aufgeführt werden 1546 insgesamt 239 Besitzer, und zwar im ersten Viertel 72, im zweiten 53, im dritten 60 und im vierten 54, wobei zu beachten ist, daß der gleiche Name mehrfach vorkommt. Es ergibt sich, daß, sieht man von den Herkunftsnamen ab, insgesamt nur etwa 25 sorbischklingende auftreten, das sind nur knapp 11 v.H. Noch überraschender lauten die Feststellungen für die einzelnen Viertel. Im ersten Viertel zählen wir etwa 10,40 im zweiten Viertel 6,41 im dritten, also ersten wendischen Viertel nur 4,42 im vierten, also zweiten wendischen Viertel, nur 5.43 Nun ist ja bekanntlich der Aussagewert eines Namens hinsichtlich der Volkstumszugehörigkeit des Trägers nicht eben groß, 44 da auch Personen mit deutschklingenden Namen sorbischer bzw. ursprünglich sorbischer Herkunft, solche mit sorbischklingenden aber schon im deutschen Volkstum aufgegangen sein können. Immerhin ist diese Feststellung merkwürdig. Eine weitere verstärkt diesen Eindruck. Von den 12 Ratspersonen und 3 ehemaligen im Jahre 154645 waren zwar 7 im ersten und 4 im zweiten Viertel ansässig, aber auch 2 im dritten und 2, darunter der regierende Bürgermeister, im vierten. Und weiter, von den 6 Schöffen, die damals genannt werden, 46 wohnten 3 im dritten und 2 im vierten Viertel. Ratsmitglieder und Schöffen aber konnten nur Deutsche sein,47 und es werden nicht die einzigen Deutschen in diesen „wendischen" Vierteln gewesen sein. Da nun andererseits ihre ausdrückliche Nennung doch irgendeinen Sinn gehabt haben muß, wird man vielleicht anzunehmen haben, daß sie 1546 als die Viertel angesehen wurden, in denen ehemals vorzugsweise Wenden angesiedelt worden waren, die später mehr 40

Dalebitz, Nuck, Demitz, Belichin, Peschk, Dobran, Kornats, Pelichin (2), Pocho. Scharban, Budak, Krako, Spretz, Pelen, Demitz. 42 Ritze, Leppisch, Laurisch, Pele. 43 Kulitzger, Klebes, Jarisch, Borch, Scheme. 44 Auf die UnZuverlässigkeit der Personennamen im Hinblick auf das Volkstum ihres Trägers weist z. B. auch J. Blüthgen, Die Lausitzer Wenden im geographischen und historischen Kräftefeld, Sonderdrude aus der Festschrift f ü r E. Schwarz ( = Jahrb. f. fränk. Landesforschg. 21, 1961), S. 401, hin. 45 Paul Hans, Bürgermeister, Michel Koppe, Mithelfer, Merten Schultes, Rochius Schlöffe, Matteus Richter, Michel Gersdorf, Urban Falkenhain, Merten Jenichen, Mattes Fleischer, Nickel Schinkel, Mattes Wyseman, Peter Muller und die alten Herren Michel Pruntzel, Jorg Schultes, Peter Krako. 46 Michel Pruntzel (der unter den alten Ratsherren genannte), Richter, Thomas Hempel, Hans Schinkel, Merten Hoenrath, Jacof Adelman, Hans Beicha, Bernhard Getzschman. 47 Vgl. die Regelung der Verhältnisse des Rats und Bürgermeisters über die radtspersonen, so deutzscher art sein sollen, im 3. Lübbener Stadtbuch von 1539 ff. Bl. 8, in: Niederl. Mitt. 21 (1933), S. 22. 41

70

RUDOLF LEHMANN

oder weniger im deutschen Volkstum aufgegangen sind, oder auch, worauf noch eingegangen werden muß, als die Ortsteile, in denen schon vor der eigentlichen Stadtgründung eine wendische Bevölkerung ansässig war. Die Bezeichnung war jedenfalls 1546 nicht mehr recht zutreffend, eher eine historische Erinnerung. Dazu würde auch passen, daß in den vorausgehenden Stadtrechnungen, soweit sie vorhanden sind, diese Unterscheidung nicht gemacht wird. Wir müssen aber noch die Frage aufwerfen, warum dies gerade 1546 oder allgemeiner, da ja auch noch weitere Jahre in Betracht kommen könnten, im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts geschah. Möglicherweise waren dafür auch keine tieferliegenden Erwägungen des Stadtschreibers oder besondere Absichten im Spiele. Wir wollen uns aber doch nach möglichen hintergründigen Erscheinungen umsehen, indem wir, soweit es die Quellenlage gestattet, einige Blicke auf die Volkstumsverhältnisse und die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorgänge in Stadt und Umgegend in jenem Zeitabschnitt werfen. 3. Nach der Angabe des um 1530 schreibenden sog. Pirnaer Mönches lebte um Luckau, über das er sich einigermaßen unterrichtet zeigt, damals noch vil wendisch volck.i8 Wenden gab es zu dieser Zeit natürlich auch in den beiden westlich und östlich an die Stadt anschließenden Vorstädten, weniger in der Sandoer, wo sich 1546 unter den 26 ausdrücklich als Teutzsche vorsteter Bezeichneten nur 3 oder 4 wendischklingende Namen finden,49 stärker unter den 31 mit zu dieser Vorstadt rechnenden sog. Toepferendischen,50 Am stärksten müssen sie in der Calischen Vorstadt vertreten gewesen sein, denn hier führt die Liste neben 7 Teutzschen nicht weniger als 82 Wendische auf, unter ihnen eine größere Zahl mit wendischen Namen. 51 In der Stadt selbst hatte der Rat mindestens seit 1526 gegen die wendischen Einwohner anzukämpfen, die danach strebten, das Braurecht zu erhalten und ohne Einschränkung in die Zünfte und Innungen Einlaß zu finden.52 Der Kampf, der darum entbrannte, nahm zeitweise erbitterte Formen an; wiederholt ist von Aufruhr und Zusammenrottung die Rede, ja es wird sogar einmal davon gesprochen, daß sich die Wendischen heimlich vornemen lassen, es hetten die Teutschen etzliche hundert jar das regiment gehabt, sie wolten nun auch dermaleins Vgl. Neues Lausitzisches Magazin 20 (1842), S. 313. Pitze, Simcko (2), Batzig. 50 Roback, Drogen (2), Nuck, Borin, Jurichin, Nux. — Vgl. R. Scharnweber, Vom Lucksche Tepperende, in: Mitteilungsbl. d. Vereins der Luckauer in Groß-Berlin (1934), S. 27 und Das Nopperquartal und die Kommune Tepperende in Luckau, in: A. a. O. (1936), S. 12. 51 Dobran, Mitha, Bilack, Ranckow, Kokro, Nucke, Garan, Mirisch, Kopitz, Natusch, Kotan, Nalbus (2), Luschkin, Miritzsch. 62 Vgl. den Vertrag Windisch und Deutzsch ausgeschriben vom 17. Juli 1526 Luckau, Stadtarchiv, Brief-Kopialbuch 1542—1548, Bl. 12 b. 48

49

DIE W E N D I S C H E N VIERTEL I N L U C K A U 1546

71

regiren.53 Diese Äußerung läßt darauf schließen, daß es damals wohl auch Auseinandersetzungen über einen stärkeren Einfluß auf das Stadtregiment gab, an denen deutsche wie wendische Bürger beteiligt waren. Ganz unzweifelhaft stand das Aufbegehren der Wenden, aber auch die Haltung des neuen Landvogts Graf Schlick54 in Zusammenhang mit dem Eindringen und der Durchführung der reformatorischen Bewegung in der Stadt, 55 mit weltlich gedeuteten und auf die äußeren Verhältnisse bezogenen christlichen Lehren und Auffassungen, wie sie auch für die bäuerlichen Bewegungen der Zeit bezeichnend sind. Derartige Bewegungen traten, wohl schon 1546, im Lande selbst, und zwar ganz in der Nähe von Luckau, in dem Aufruhr der wendischen Untertanen von Uckro, der auf andere Dörfer überzugreifen drohte, deutlich in Erscheinung.56 Die 20er bis 40er Jahre des 16. Jahrhunderts waren auch sonst von ständiger Unruhe erfüllt. Mit dem dahinsiechenden Dominikanerkloster stand die Stadt, die begehrlich auf dessen Kostbarkeiten und Besitz schaute, in langwierigen Streitigkeiten, 57 stark in Mitleidenschaft gezogen wurde sie durch die kriegerischen Vorgänge um das Kloster Dobrilugk 1541 und 1546.58 Dies ist in knapper Skizzierung der Hintergrund, vor dem sich die Auseinandersetzung mit den wendischen Einwohnern in Luckau abspielte. Von altersher wurden hier keine Wenden in die Zünfte aufgenommen, 59 auch vom Braurecht waren sie ausgeschlossen. Wollten sie dieses ausüben, 53 In einer undatierten, jedenfalls nach dem 18. August 1542 abgefaßten Instruktion für einen Abgesandten aus Ludcau. Luckau, Stadtarchiv, Aktenband betr. Biermeilenangelegenheiten u. dergl. 16. u. 17. Jhrh., Bl. 6 b. 64 Auf Heinrich Tunkel von Bernitzko, der von 1509 bis 1539 Landvogt war, folgte nach einer Interimszeit von 1 % Jahren, während der Hans von Minckwitz auf Drehna als Verweser der Landvogtei tätig war, im Oktober 1540 als neuer Landvogt Graf Albrecht Schlick, der der Reformation zugeneigt war. 65 Vgl. darüber R. Lehmann, Geschichte der Niederlausitz, Berlin 1962, S. 215. 68 Vgl. Destinata Literaria et Fragmenta Lusatica d. i. Unternehmungen der Gelehrten und gesammelte alte, auch neue zur Niederlausitzischen Historie und Gelehrsamkeit gehörige Stücke, Bd. 1, Lübben 1738, S. 706—708. Der Aufruhr wird dort in das Jahr 1548 verlegt, er dürfte aber wohl schon 1546 zum Ausbruch gekommen sein. 67 Vgl. R. Lehmann, Die Urkunden des Ludsauer Stadtarchivs, Nr. 346 (1525), 347 (1525), 353 (1529), 355 (1530), 363 (1535), 365 (1536), 373 (1538), 391 (1547?), 396 (1548). 68 Vgl. R. Lehmann, Aus der Vergangenheit der Niederlausitz, Cottbus 1925, S. 93 ff. Die Besetzung des Klosters Dobrilugk durch Kurfürst Johann Friedridi im August 1541 und ihre Folgen. 69 Uber den Ausschluß in anderen niederlausitzisdhen Städten vgl. R. Lehmann, Geschichte des Wendentums in der Niederlausitz bis 1815, Leipzig, Berlin 1930, S. 66 ff. — Über den ganzen hiermit zusammenhängenden Fragenkomplex vgl. D. G. Hopp, Die Zunft und die Nichtdeutschen, in: Wiss. Beiträge z. Gesch. u. Landesk. Ost-Mitteleuropas, Nr. 16, Marburg/Lahn 1954. Ms.

72

RUDOLF

LEHMANN

mußten sie es käuflich erwerben. Im Juli 1526 wurde auf Betreiben des Landvogts Tunkel in wendischer und deutscher Sprache eine Vereinbarung abgefaßt, 6 0 daß der Wende das Recht, Bier zu brauen, erblich durch Entrichtung von 3 Schwer tschock je Bier an den R a t kaufen könne, ein Deutscher, der eine Wendin zur Frau habe und umgekehrt, nur für die halbe Summe. Es ist nicht ganz klar, ob bzw. wieweit diese Vereinbarung durchgeführt wurde, wahrscheinlich aber wurde es damals oder erst später wendischen Handwerkern gestattet, gegen eine Geldabgabe wenigstens in einige Zünfte einzutreten. 61 Doch die Wenden waren mit solchen Zugeständnissen nicht zufrieden; sie besaßen ja auch nicht volles Bürgerrecht, sondern nur margrecht, d. h. das Recht, in einem Markt zu leben. 1542 wandte sich Antonius Albrecht, 62 der den Rat darum gebeten hatte, ihm aus bruderlicher liebe und christlicher Ordnung Bier zu brauen zu gestatten, in einer Klageschrift an den Landvogt Schlick, in der er die Forderung erhob, die Stadt solle die, so windisch sein, nit ausschlissen, sonder zu dem selbigen birbrawen und hantwergen ane underscheit komen lassen. Der Rat, dem diese Schrift zur Stellungnahme zuging, war äußerst entrüstet über das Verlangen und überhaupt über das unaufhörliche Drängen der Windischen. Wan ine ein wenig gonst beschickt, so heißt es in seiner Antwort, 6 3 so wissen sie doch nicht, wie sie sich genug uberheben sollen und yderman gleichen zu sein sich dunken, zuletz auch alle ding gemein haben wollen, Weichs mehr aufrurischen dan christlich ist. . . Und ab wol für goth dem hern und in christlichem glauben und sacramente kein ansehung der person nicht sey, so ist doch damit keine policey nicht uffgehaben, darinne hohe und nider stende und underscheidt der leute sein müssen, und ist nit wie die libe, wie sie meynen, dan unßer Uber her Christus selbs die weltlichen Ordnungen nicht verwirft usw. Der R a t bittet dann darum, die Stadt bei ihren alten Rechten und Gewohnheiten bleiben zu lassen und den Kläger mit seinem Verlangen abzuweisen, dan uns sonsten [weil jedenfalls die Innungen widerstrebten] unzeliche zerruttunge, unordenung, widerwillen, zank und unruge, auch emporung zu besorgen were, wie vormals mehr gescheen. Der Landvogt aber war der Meinung, daß der frühere völlige Ausschluß der Wenden von den Zünften und Innungen wie auch die unter seinem Vorgänger vereinbarte nur teilweise Zulassung der Christlichen lieb ungemeß sei, und drang darauf,

60

Vgl. den Anm. 52 erwähnten Vertrag.

61

Vgl. die Anm. 53 genannte Instruktion, in der von einem Vergleich die Rede ist, das

die

Wendischen umb ein genants gelt in etzliche zunfl gelassen wurden. 62

Der Name weist auf einen Deutschen, der sich aus nicht ersichtlichen Gründen zum Sprecher

der Wenden madite. 63

Luckau, Stadtarchiv, Brief-Kopialbuch 1 5 4 2 — 1 5 4 8 , Bl. 13 f., stark korrigierter Entwurf

eines Schreibens an den Landvogt vom 18. August 1542: die Windischen

irs brawens

halben.

DIE WENDISCHEN VIERTEL IN LUCKAU

1546

73

den Wenden durch Abänderung der Geburtsbestimmung uneingeschränkten Zutritt zu verschaffen. Die Stadt hat dann, wir wissen nicht, in welchem Jahre, an allerhöchster Stelle durch einen Abgesandten die Bitte vorgetragen,64 die Bestimmung wenigstens nicht über die in anderen zur Krone Böhmen gehörenden Landen gültige hinaus verändern zu lassen, d. h. damit einverstanden zu sein, daß fortan allain der wendischer art zu achten, des vater wendisch wereund das einer, der deudscher art ist und ein weih wendischer art freiet, dasselbige sein weih zu teutscher art wandele [?], ire kinder auch rechter teutscher art gehalten werdend Bei weitergehender Veränderung der Bestimmung wären die Luckauer nicht mehr in der Lage, den Bürgerkindern Geburtsurkunden über deutsche Art auszustellen, so daß diese dann in anderen Landen und Städten in keine Innung oder Zunft aufgenommen würden. Ob dem Verlangen der Stadt entsprochen wurde, steht dahin. Anscheinend blieben die Dinge noch eine Weile in der Schwebe, denn die Zänkereien und Feindseligkeiten zwischen den Bürgern und Handwerksleuten deutscher und wendischer Geburt gingen weiter, und die Wenden, die alle bürgerlichen Pflichten und Lasten mit geschoß, steuern, folgen, wachen und andern gleich den Deutschen zu tragen hatten, empfanden ihre Einschränkungen immer stärker als unerträgliche Härte. Die Mißstimmung gewann neuen Auftrieb, nachdem der Landvogt in einen Streit zwischen den deutschen und wendischen Schuhmachern eingegriffen und deren Gleichberechtigung verfügt hatte. Drei Jahre danach, nach fortgesetzten Klagen der Wenden, vielleicht im Jahre 1546, schritt Graf Schlick zu einer endgültigen Regelung, indem er die Gleichberechtigung auf alle übrigen Handwerke und darüber hinaus auf die bürgerlichen Rechte überhaupt ausdehnte. Es heißt in der Verfügung,66 deren Datum nicht ausgefüllt ist, die aber das Siegel des Landvogts trägt, das von nhu an und alspalt und hinfurder zu ewigen gezeiten alle und jeder itzige und zukünftige purger und handtwergsleute in der stad Luckau, so wendischer gehurt und ahkunft sein von vater oder mutter, es sei der man oder das weip wendisch, wann sie genügsame kuntschaft her ehlichen gehurt haben von vater und mutter, auch sonst der vorachten leut nicht sein, so man in redlichen handwergen oder ehrlichen bürgerlichen hantierungen pflegt zu tadeln (welche wir hiermit aus64

Vgl. die in Anm. 53 genannte Instruktion.

86

In dieser Weise hatte Kurfürst Joachim I. von Brandenburg zwischen den Viergewerken

und den Bürgern wendischer Nationalität in Cottbus 1525 einen Vergleich herbeigeführt. Im Laufe der nächsten Jahre erreichten die Wenden hier völlige Gleichstellung; 1549 lehnte es Markgraf Johann den Innungen gegenüber unter Hinweis auf die Gleichheit der deutschen und wendischen Nation ab, eine neue Abmachung zu treffen, vgl. R . Lehmann, Geschichte des dentums . . . , S. 78 f. 86

Vgl. R . Lehmann, Die Urkunden

des Luckauer

Stadtarchivs,

N r . 378.

Wen-

74

RUDOLF LEHMANN

trucklich ausgeschlossen haben wollen), zugleich den Teutzschen ire handwercken sambt andern bürgerlichen narungen und gewerben, auch mit bierbreuen und -schencken, keufen und verkeufen, handeln und wandeln, nichts ausgenommen, ein jeder nach seinem besten vermugen treiben, pflegen und gebrauchen sollen und mugen, von dem radt und Deutzschen, auch sonst von menniglich doran ungehindert. Als sicher ist übrigens anzunehmen, daß sich auch auf deutscher Seite Stimmen erhoben haben, die für eine Gleichberechtigung der Wenden eintraten bzw. ihrem Verlangen wenigstens freundlich gegenüberstanden. Dahin dürfen wir den oben erwähnten Antonius Albrecht rechnen, und auch Jakob Eberhard, der 1546 für das Spielen des windisch scheltlied derer von Uckro bestraft wurde. 67 Wir dürfen wohl annehmen, daß die obige Regelung in Kraft gesetzt wurde und allmählich zu einer Beruhigung des Lebens in der Stadt führte; wenigstens ist von weiteren Zwistigkeiten und Kämpfen nichts bekannt. Worauf sich der unter dem 5. Dezember 1550 von König Ferdinand angekündigte Rechtsbescheid seiner Räte wegen der windischen Lehrjungen68 bezieht, den die Stadt eingeholt hatte, wird aus dem allgemein gehaltenen Schriftstück nicht recht deutlich. Im Hinblick auf die Entwicklung und Zuspitzung der hier geschilderten Auseinandersetzungen aber kann es erklärlich erscheinen, wenn die wohl kaum mehr recht zutreffende Unterscheidung in deutsche und wendische Viertel dem Stadtschreiber, der dem Verlangen der Wenden wohl nicht unfreundlich gegenüberstand, beim Eintrag der Jahresrechnung in die Feder floß. Indessen muß diese Unterscheidung eine tiefere Grundlage haben; ihr Ursprung gehört doch wohl einer älteren Zeit an, möglicherweise sogar der Zeit vor der eigentlichen Stadtgründung oder wenigstens der, als Deutsche in größerer Zahl sich in der werdenden Stadt niederließen. Wir wollen daher noch versuchen, uns über die räumliche Entwicklung Luckaus einige Klarheit zu verschaffen. 4. Ausgangspunkt für die Stadtanlage bildete eine auf dem heutigen Schloßberg im Norden des alten Stadtkerns gelegene slawische Burg, an deren Stelle in der Zeit der deutschen Landnahme (11./12. Jahrhundert) ein deutsche trat. 6 9 Eine befestigte Anlage (Schloß) hat es hier übrigens noch bis zum Dreißigjährigen Kriege gegeben, wo sie nach Beschießung und Einnahme durch sächsische Truppen 1644 geschleift wurde.70 Südlich der Burg, im Umkreis der späteren Nikolaikirche, bestand oder entwickelte sich wahrscheinlich eine Burg67 68 89

Stadtregister 1546, Bl. 32. Vgl. R. Lehmann, Die Urkunden

des Luckauer Stadtarchivs, N r . 398.

Vgl. K . - H . Marsdialleck, Urgeschichte des Kreises Luckau, Kirchhain 1944, S. 284.

7 0 Vgl. J . Vetter u. A. Petersen, Chronik der Stadt Luckau im Markgraftum N.lL., Luckau 1904, S. 24 f., wo auch über die weiteren Schicksale der Ruinen und des Schloßbergs überhaupt

berichtet wird.

75

D I E W E N D I S C H E N V I E R T E L I N LUCKAU 1546

siedlung, 7 1 die natürlich durch einen Z u g a n g u n m i t t e l b a r m i t der F e s t e in V e r b i n d u n g s t a n d 7 2 u n d in der sich vielleicht neben slawischen

Bewohnern

auch Deutsche, soweit sie nicht in der B u r g selbst U n t e r k u n f t f a n d e n , niederließen. E i n kleines, noch nicht massiv aufgebautes G o t t e s h a u s

(Burgkapelle)

u n t e r h a l b derselben m a g der a n f a n g s noch geringen B e w o h n e r z a h l

längere

Z e i t genügt h a b e n . D i e B u r g m u ß in a d m i n i s t r a t i v e r u n d militärischer

Be-

ziehung eine gewisse B e d e u t u n g g e h a b t h a b e n ; sie sicherte die ein w e n i g südw ä r t s in W e s t - O s t r i c h t u n g über das Bersteflüßchen l a u f e n d e S t r a ß e , die w e i t e r i m W e s t e n wie i m O s t e n in eine A n z a h l z. T . schon f r ü h bezeugter F e r n v e r b i n d u n g e n 7 3 ausstrahlte. E s h a n d e l t sich bei diesem W e g s t ü c k aller

Wahr-

scheinlichkeit nach u m die heutige, in leichter Schwingung durch die A l t s t a d t f ü h r e n d e L a n g e S t r a ß e , die die k ü r z e s t e V e r b i n d u n g zwischen den s p ä t e r e n beiden T o r e n 7 4 bildete. E s ist nicht ausgeschlossen, d a ß sich a n ihr ein M a r k t u n d eine M a r k t s i e d l u n g g e r a u m e Z e i t v o r der eigentlichen entwickelte,

die, ähnlich

w i e die Burgsiedlung,

Stadtgründung

mindestens z. T .

auch

von

H a n d w e r k e r n u n d G e w e r b e t r e i b e n d e n slawischer H e r k u n f t b e w o h n t w u r d e . Sicherlich v o r der M i t t e des 1 3 . J a h r h u n d e r t s , w e n n nicht schon e t w a s f r ü h e r , 7 5 b e g a n n d a n n , als landesherrliche G r ü n d u n g , die p l a n m ä ß i g e A n l a g e der 7 1 Schon R. Mielke (Der Stadtplan von Luckau, in: Der Heimatwanderer, Luckau 1933, Nr. 4) vermutete hier einen dörflichen Kern, der mindestens älter sei, als die spätere koloniale Stadtanlage südlich der Hauptstraße. 7 2 Im Gerichtsbuch der Stadt von 1519 ff. Bl. 46b findet sidi ein Eintrag zu dem Jahre 1537 über ein Häuslein in der schlosgassen. 7 3 Hier kreuzte sich ein von Halle—Leipzig über Torgau, Schlieben nach Lübben, Frankfurt a. O. führender Straßenzug, dessen Teilstück von Luckau nach Terpt 1397 als rechter Weg und Straße bezeichnet wird, mit einem von Magdeburg über Jüterbog, Dahme laufenden (der Einzugsrichtung der deutschen Siedler im 12./13. Jahrhundert), der über Tornow, Cottbus weiter nach Schlesien lief. Er wird schon 1283 als strata publica erwähnt, 1371 die Strecke von Luckau aus ostwärts als sehr alt bezeugt, vgl. W. Lippert, Cottbus als Knotenpunkt von Handelsstraßen im 14. Jahrhundert, in: Niederlausitzer Mitt. 3 (1894), S. 73 ff. 7 4 Sandosches Tor, nach dem Dorf Sando, das nicht mit der Sandoer Vorstadt verwechselt werden darf, im Westen; Calisches Tor, nach der Stadt Calau, im Osten. Das Calowische Tor wird erstmals 1460 erwähnt, vgl. R . Lehmann, Die Urkunden des Luckauer Stadtarchivs, Nr. 208. 7 5 Luckau wird erstmals erwähnt 7. VI. 1275 (UB Dobrilugk, Nr. 64); von da an häufen sich die Nachrichten über das schnell aufblühende Gemeinwesen. 29.1.1276 urkundet hier Markgraf Heinrich d. Erlauchte; Erwähnung des markgräflichen Kellermeisters Lubeslaus in L. (UB Dobrilugk, Nr. 66), 17. I X . 1283 ist vom Niederlagsrecht der Luckauer die Rede (Worbs, Inventarium diplomaticum Lusatiae inferioris, B. 1, Lübben 1834, Nr. 251), 6. X . 1283 von der Ubermittelung bestimmter Satzungen nach Beeskow (Gallus, C. S. G. u. Neumann, J. W., Beiträge zur Geschichte und Altertumskunde der Niederlausitz, 2. Lief., Lübben 1838, S. 167 f., Nr. 1), 15. V I . 1285 vom Handwerk der Schuhmacher (Gallus u. Neumann, a. a. O., S. 171 f., Nr. 4), 26. VI. 1286 von Luckauer Silber-Mark (Niederl. Mitt. 18, S . 7 , Nr. 2), 10.11.1290 gewährt Markgraf Dietrich d. Jüngere einen Jahrmarkt (R. Lehmann, Die Urkunden des Luckauer Stadt-

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RUDOLF L E H M A N N

Stadt in üblicher Weise zwischen der Burgsiedlung und der Marktsiedlung, von denen die erste teilweise, die zweite völlig in das neue Straßenschema einbezogen wurde. Dabei dürfte die Lange Straße noch unmittelbar am Marktplatz entlang gegangen sein, der demnach fast ein Quadrat von etwa 100 X 100 m Fläche bildete. Weil das Gotteshaus in der alten Burgsiedlung nicht ausreichte oder baufällig geworden war, hatte man auf dem Markt eine neue Kirche, immerhin bescheidenen Ausmaßes, gebaut, die kleine Georgenkirche, die 1386 als quondam parrochialis ecclesia, que nunc pro capella tenetur, bezeichnet wird. 76 In die Stadtplanung bezog man übrigens auch das Dominikanerkloster im Nordosten ein, als dessen Stiftungsjahr 1291 angenommen wird. 77 Eine feste Umwehrung, 78 die durch einen aus der Berste gespeisten Stadtgraben gesichert wurde - sie ist heute noch in erheblichen Resten vorhanden - , dürfte erst nach Fertigstellung der Klosterbauten geschaffen worden sein. In den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts hatte man an Stelle der Burgkapelle mit dem Aufbau einer neuen, aus festem Material gefügten größeren Kirche begonnen,79 die der Jungfrau Maria und dem Heiligen Nikolaus geweiht war. 80 Sie scheint 1311 fertiggestellt gewesen zu sein, wenn auch die Innenausstattung, wie eine Ablaßgewährung von 1327 andeutet, noch längere Zeit in Anspruch genommen haben wird. Jedenfalls wurde dieses Gotteshaus, das schon um die Jahrhundertwende eine Erweiterung erfuhr, nun zur Pfarrkirche, so daß die Marktkirche zur Kapelle herabsank. Vielleicht steht mit dieser Veränderung auch eine Bebauung des Südteils des ehemaligen sehr groß angelegten Marktplatzes in Zusammenhang, die infolge Anwachsens der Bevölkerung notwendig geworden sein mag. Da die vom Sandoer Tor zum Markt führende Hauptstraße ostwärts nicht weiterführte, waren die Fuhrleute, die weiterfuhren, genötigt, am Markt wie bei archivs, Nr. 2), 6. VI. 1298 urkunden der Schultheiß Wolfker, die Ratmannen und die ganze Gemeinschaft der Bürger ( U B Dobrilugk, Nr. 99) u.s.w. 76 Vgl. R. Lehmann, Die Urkunden des Luckauer Stadtarchivs, Nr. 46. 77 Vgl. R. Lehmann, Niederlaus. Klosterverzeichnis, in: Niederl. Mitt. 16 (1924), S. 24. 78 Vgl. O. Eichler, Die Ringmauer der Stadt Luckau, in: Heimatkalender f. d. Kr. Luckau (1936), S. 67—69. 79 Erste urkundliche Erwähnung 1281 bei J. G. L. Wilke, Ticemannus sive vita illustris principis Theoderici quondam iunioris Thuringiae Landgravii Orientalis et Lusatiae Marchionis . . . , Lipsiae 1754, Urkundenanhang S. 96, Nr. 72. 80 Vgl. jetzt Nikolaikirche Luckau ( = Das christliche Denkmal, H. 47), Berlin 1961. Dr. Else Landers nimmt an, daß aus der Zeit um 1281 der querrediteckige Quaderunterbau der Türme stammt und daß das zugehörige frühgotische Langhaus 1327 beendet sein muß. Gegen die Jahrhundertmitte, so folgert sie weiter, sei nach Abbruch des alten, kleineren Langhauses ein größerer Backsteinbau getreten und 1375 habe nadi der Stiftung der Reliquie (Haupt des Heiligen Paulinus) ein dritter Bauabschnitt eingesetzt, der bis um 1388 dauerte und in dem das Kirchenschiff erheblich verlängert wurde.

DIE WENDISCHEN VIERTEL IN LUCKAU

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1546

der Einfahrt in die Lange Straße eine scharfe Biegung zu machen, um an das Calauer Tor zu gelangen, und in umgekehrter Richtung naürlich ebenso. Wir kommen auf das eingangs aufgeworfene Problem zurück. Vielleicht hat man sich bei der Bildung und der räumlichen Abgrenzung der Viertel, deren Ursprung sich zeitlich nicht genauer festlegen läßt, die aber doch wohl nicht von Anfang an bestanden haben, durch die ehemals vorhandene und z. T . noch in der Form erhaltene Burgsiedlung und die Tatsache, daß auch im Süden der späteren Stadtanlage vorzugsweise Wenden angesiedelt waren, mit bestimmen lassen. Diese Verhältnisse blieben wohl in der Erinnerung haften und fanden dann (falls nicht auch noch in anderen Jahren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) 1546 aus Gründen, über die wir nur eine Vermutung aussprechen konnten, in der Benennung zweier Viertel als wendische, die ja ungefähr in den gleichen Teilen der Stadt zu lokalisieren sind, Ausdruck. Ungefähr, denn wir müssen freilich auch damit rechnen, daß im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts räumliche Veränderungen infolge von Stadtbränden und aus anderen Gründen eingetreten sind. 81 Man kann natürlich auch daran denken, daß möglicherweise in diesen Zeiten, besonders nach Seuchen, aber auch aus wirtschaftlich bedingten Ursachen wendische Bewohner aus den umliegenden Dörfern nach der Stadt gekommen und hauptsächlich im südlichen und östlichen Teil der Stadt, d. h. im 3. und 4. Viertel angesiedelt worden sind. Wir müssen es bei solchen Vermutungen belassen; völlig einwandfrei klären läßt sich m. E. das Problem nicht. 81

Räumliche Veränderungen sind vor allem auch in den späteren Jahrhunderten eingetreten.

Sie wurden, so weit es möglich war, auf der beigefügten Planskizze mit berücksichtigt. Auf dem Anm. 30 erwähnten Stadtplan aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts ist nicht nur die Nonnengasse, die später noch als Feuergasse bekannt war, eingetragen, er führt auch die spätere Logenstraße bis zur Einmündung der Langen- in die Hauptstraße weiter und zeigt an der Schulstraßenecke eine etwas größere unregelmäßige Ausbuchtung. Von dem zweifellos einst vorhandenen inneren Umgangsweg an der Stadtmauer, der streckenweise noch bis ins 19. Jahrhundert als Wirtschaftsweg benutzt wurde oder doch bekannt war, hat sich nichts erhalten. Man hat die Hausgärten bis zur Mauer erweitert oder verschiedentlich Gebäude an die Stadtmauer gebaut, diese z. T. sogar als Grundmauer für Häuser benutzt. Die beiden Ausgänge im Norden der Altstadt und der im Süden wurden erst 1834 geschaffen. Sehr instruktiv werden diese Veränderungen behandelt von O. Eichler, Die Ringmauer

der Stadt Luckau, in: Heimatkalender

f. d. K r . Luckau (1936), S. 6 7 - 6 9 und von R. Scharnweber, Verschwundene

Wege in Luckau, in:

Luckauer Kreisztg. (1941), N r . 298. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf zwei andere topographisch und baugeschichtlich wertvolle Aufsätze von Scharnweber hingewiesen: vergessene

Kapelle

(Hauptstr.

3), in: Luckauer Kreisztg. (1940), N r . 151 und Das

in Luckau, in: A. a. O., N r . 226.

Eine

Nonnenhaus

KLAUS

SCHWARZ

G E N E R A L H A N S GEORG V O N A R N I M UND DIE BERLINER HANDELSHÄUSER WEILER U N D E S S E N B R O C H E R IM D R E I S S I G J Ä H R I G E N K R I E G E Als im Jahre 1611 der uckermärkische Landvogt Bernd von Arnim starb, trat sein etwa dreißigjähriger1 Sohn Hans Georg das väterliche Erbe mit dem Schloß Boitzenburg als Mittelpunkt an. Irgendwie hervorgetreten war er bis dahin nicht. Studien an den Universitäten Frankfurt a. d. Oder und Leipzig und Reisen hatten wohl den größten Teil seiner Zeit in Anspruch genommen. Der ihm als dem einzigen erbberechtigten Sohne zugefallene Besitz war mit Schulden überhäuft. So mußte Hans Georg von Arnim schon 1612 Anleihen aufnehmen2 und im folgenden Jahr seinen Anteil am Hause Boitzenburg und das Gut Krewitz an Leonhard von Arnim verschreiben, weil er diesem 200 000 Tl. schuldete.3 Die uckermärkische Landschaft beanspruchte die Rüdszahlung von 10 000 Tl. Kontributionsgeldern, die sie seinem Vater vorgestreckt hatte. 4 Im gleichen Jahr 1613 lieh er sich von der Witwe Otto von 1 1581 als Geburtsjahr geben an Ernst Daniel Martin Kirchner, Das Schloß Boytzenburg und seine Besitzer, insonderheit aus dem von Arnimschen Geschlechte, Berlin 1860, S. 222, Karl Gustav Heibig, in: Allgem. Deutsche Biographie, I, Leipzig 1875, S. 568, und Ernst Devrient, in: Das Geschlecht von Arnim, II. Teil, Bd. 2, Prenzlau 1922 [künftig zit.: Geschlecht v. Arnim], S. 45 (wo er als beim Tode des Vaters dreißigjährig bezeichnet wird), die erste Hälfte des Jahres 1583 dagegen Georg Irmer, Hans Georg von Arnim. Lebensbild eines protestantischen Feldherrn und Staatsmanns aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Leipzig 1894, S. 2, 365 Anm. 3, Werner Konstantin v. Arnswaldt, in: Das Geschlecht von Arnim, I I I . Teil, Taf. 8, und Heinz Gollwitzer, in: Neue Deutsche Biographie, I, Berlin 1953, S. 372. Gewißheit läßt sich aus dem bisher bekannten Material nicht gewinnen. 2 Schuldverschreibung Arnims über 2000 Tl. gegen Abraham von Hohendorf vom 25. Dez. 1612/4. Jan. 1613, Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, I. Hauptabt. Rep. 92, Arnim, Teil B. Das im folgenden benutzte ungedruckte Material entstammt ausschließlich diesem Bestand, dem Nachlaß Hans Georg von Arnims im früheren Boitzenburger Familienarchiv. 3 Das Geschlecht von Arnim, I. Teil (Urkundenbuch), S. 392. — Tl. wird hier zur Wiedergabe von Taler und Reichstaler benutzt, da die Quellen selbst nicht unterscheiden. 4

Devrient, Geschlecht

von Arnim, S. 47.

GENERAL H A N S GEORG V O N A R N I M

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Blankenburgs 5851 pommersche Gulden, 5 verschrieb sich dem Handelsmann Heinrich Hacke zu Berlin mit 3658 Tl. und suchte weiter durch umfangreiche Verkäufe, bei denen er das Prenzlauer Haus und den Anteil seines Vaters an Gerswalde und Stegelitz aus der Hand gab,6 seine finanziellen Nöte zu überwinden, deren ganzer Umfang gar nicht aus dem nur lückenhaft erhaltenen Material zu überblicken ist. Einen Ausweg, den häuslichen Mißlichkeiten zu entgehen und sich die Aussicht auf beträchtliche Einnahmen zu eröffnen, schien der Eintritt in den Kriegsdienst zu bieten, den Arnim im Sommer 1613 vollzog, als er schwedischer Oberst wurde. Ohne daß es zu einer über die Werbungstätigkeit hinausgehenden militärischen Verwendung gekommen wäre, gab er den Militärdienst vorläufig wieder auf, widmete sich aber in der Folgezeit bei der fast fünf Jahre währenden Brautwerbung Gustav Adolfs um Maria Eleonore, die Tochter des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg, weiter den schwedischen Interessen. Eine wesentliche Verbesserung seiner Vermögenslage erreichte er dabei trotz beachtlicher Einkünfte 7 nicht und konnte deshalb die Folgen einer Klage der Gläubiger auf die Regulierung seiner Schulden in Höhe von 36 822 Tl. nicht abwenden. So trat der Konkurs ein. Die verbliebenen Güter gerieten unter Schuldenverwaltung, deren Aufhebung der 1641 verstorbene Arnim nicht mehr erlebte.8 1621 fand er neuerdings Beschäftigung als Oberst, nun aber bei dem Feinde Schwedens, Polen. Solche Frontwechsel, denen man bei Arnim noch des öfteren begegnet, waren an der Tagesordnung und hinterließen selten mehr als vorübergehende Verstimmungen. Der Oberst war in erster Linie Unternehmer, der für einen bestimmten Betrag eine Truppe von festgelegter Stärke aufzustellen hatte. So sollte Arnim 3000 Mann und 400 Reiter zusammenbringen, für deren Unterhalt er monatlich 37 600 polnisdie Gulden erhielt, von denen er zugleich seine eigene Besoldung zu nehmen hatte. 9 Da der nunmehr polnische Oberst nur gegen die Türken focht, stand seiner 1623 erfolgenden Rückkehr auf die schwedische Seite kein ernsthaftes Hindernis entgegen. Audi diesmal blieb eine Verwendung im Kampf aus. Zu dem wenigen, was aus dieser Zeit über Arnim bekannt ist, gehört seine lebhafte Klage vom Januar 1625, 8

Kirchner, Schloß Boytzenburg . . . , S. 224. Devrient, Geschlecht von Arnim, S. 47, der den Namen des Berliner Kaufmanns Harke gelesen hat. 7 So ergibt sidi aus einem Brief Oxenstiernas an Arnim vom 17./27. Okt. 1617, daß ihm 1000 Tl. zugesagt waren; im Oktober 1618 erhielt er von Gustav Adolf eine goldene Kette, vgl. Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 19. 8 Irmer, a. a. O., S. 40, Kirchner, Schloß Boytzenburg . . . , S. 224, Devrient, Geschlecht v. Arnim, S. 49. 9 Kirchner, a. a. O., S. 228. s

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daß ihm trotz mehrfachen Ansuchens bei Gustav Adolf noch keine Abrechnung geschehen sei. Seine Ansprüche waren auch noch nicht befriedigt, als er im Herbst 1625 nach Deutschland zurückkehren wollte, so daß er sogar alles, was er gerade besaß, an in Schweden bleibende Freunde verkaufen mußte. So arm wie jetzt habe er noch nie Schweden verlassen, schrieb er im Oktober an Oxenstierna. 10 Zurückgekommen verschwieg er freilich dieses Mißgeschick und behauptete in einem Brief an den Vizekanzler des Kammergerichts, Arnold de Reyger, vom 26. Dezember 1625/5. Januar 1626, er habe um der Ordnung der häuslichen Vermögensangelegenheiten willen seinen „gentzlichen Abscheidt (mitt großen Wiederwillen Ihr Konigl. May.)" und unter Zurücksetzung eines Gutteils seines Glücks genommen. Den Winter 1625/26 verbrachte Arnim auf Boitzenburg als ein Mann, für den die weitere Tätigkeit als Offizier die Hauptquelle von Einnahmen sein mußte, wenn er ein Leben im aufwendigen Stil eines Edelmanns seiner Zeit führen wollte. So kam ihm das Angebot Wallensteins, in kaiserliche Dienste zu treten, offenbar nicht ungelegen. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge, und die vorläufige Bestallung im Juni 1626 hielt den Kurfürsten und die Stände der Mark nicht davon ab, Arnim das Kommando über die neugeworbenen brandenburgischen Truppen anzutragen. Jetzt mußte er endgültig wählen und entschied sich für die Kaiserlichen. Die Motive dazu hat er ausführlich in einem eigenhändigen Schreiben an Bernd von Arnim auf Gerswalde und Grünow vom Weihnachtstage 1626 dargelegt. 11 Die Vorteile des brandenburgischen Dienstes sah er darin, daß er seinem Landesfürsten und Vaterland, „dehme auch unsere Vohrfaren unseres Geschlechtes nuhnmehr über achthundert [!] Jahren mitt zimblichem Nutzen und Vorteill gedihnet haben", verbunden sei, sich nicht weit von seinen Besitzungen zu entfernen brauche und vielleicht auch in seinen Forderungen vom Kurfürsten leichter befriedigt werden könne. Dem stehe gegenüber, daß der Kurfürst mit der besten Mannschaft nach Preußen gegangen sei und man sich auf die verbleibenden Lehnpferde und das Landvolk nicht verlassen könne, er aber die Verantwortung für etwaige Rückschläge tragen müsse. Sollte er den einträglichen kaiserlichen Dienst aufgeben, so sei er auch nicht sicher, ob er ebensoviel in Brandenburg bekomme. „Fordere ich ein Groeßes, so ist es der Landschafft ein Beschwerde; nehme ich wenig, so ist es mein Schade". Im gün10

Irmer, Hans Georg von Arnim,

11

Irmer hat dieses Schreiben nicht herangezogen und meint deshalb (a. a. O., S. 4 4 ) zum Ein-

S. 39, 42.

tritt des eifrigen Lutheraners in kaiserliche Dienste: „Man erfährt zunächst von keiner Seite das Geringste, auf Grund dessen man diesen Schritt des Obersten in das rechte Licht zu setzen vermöchte." Ähnlich Karl Wittich, Zur Würdigung

Hans Georgs von Arnim,

Sächsische Geschichte u. Altertumskunde 22 (1901), S. 24.

in: Neues Archiv f.

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GENERAL HANS GEORG VON ARNIM

stigsten Falle könne er während der Zeit unmittelbarer Gefahr auf seine Besoldung rechnen; bei ungünstigem Ausgang aber entfielen alle seine Hoffnungen. „Bei den kaiserlichen Dinsten aber ist die Besoldung ansehnlich und groeße Hoffnung zuhr ansehnlichen Recompens und Erstattungk." Am 7./17. Januar ernannte ihn Wallenstein zum Inhaber des Infanterieregiments Graf Wilhelm Wratislaw. Seine Aufgabe war es vorerst, den Einmarsch der Kaiserlichen in die neutrale Mark vorzubereiten, der im Frühsommer 1627 erfolgte. Arnim schien als Landeskind besonders geeignet, die Dänen aus seiner Heimat zu entfernen. Wirklich gelang es ihm, sie nach Mecklenburg abzudrängen, nachdem sie dem Lande schweren Schaden zugefügt und auch das Schloß Boitzenburg vollständig ausgeplündert hatten. Nachsetzend erreichten die Kaiserlichen auch ihren Abzug aus Mecklenburg und wandten sich nun nach Pommern, wo nur Stralsund ihnen die Stirn bot, weshalb es zu der berühmten monatelangen Belagerung kam, die im August 1628 erfolglos abgebrochen werden mußte. Die Versorgung der Truppen in Pommern, die dem Lande zufiel, war höchst ungenügend, denn jedermann suchte sich den Forderungen der ungebetenen Gäste zu entziehen. So berichtete Arnim an Wallenstein, daß er wochenlang weder Brot noch Bier erhalten habe und deshalb von seinem eigenen Geld 130 Last Korn kaufen mußte. 12 Unter diesen Verhältnissen erwog er seinen Rücktritt. Ihn davon abzubringen, trug vielleicht die von Wallenstein eröffnete Aussicht für den Fall bei, daß er erfolgreich bei der Absetzung Christians IV. von Dänemark durch die Stände des Landes und der Wahl Kaiser Ferdinands II. zum neuen König mitwirke: „Richts der Herr aber, das es angehen wirdt, so sey er versichert, das ihm Ihr Matt, eine große Recompens geben werden". 13 Zusagen zu gewaltigen Kontributionsleistungen wurden zwar im Herbst und Winter 1627/28 in Mecklenburg und Pommern erzwungen, aber die wirklich einkommenden Beträge waren weit kleiner und nur Tropfen auf den heißen Stein. Konnte man die Truppe noch hinhalten, weil sie sich den fehlenden Unterhalt schon selbst verschaffen würde, so entstanden große Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Kriegsmaterial. Hier kam nur Barzahlung in Frage. Wer zu ihr nicht fähig war, mußte hinter der kapitalkräftigeren Gegenseite zurücktreten. Wo Kontributionsleistungen in Geldform erfolgten, bestanden die Münzen mitunter aus Stücken verschiedener Herkunft von unterschiedlichem Schrot und Korn, auf deren Einzelverrechnung die WaffenIrmer, a. a. O., S. 72. Friedrich Förster, Albrechts von Wallenstein Jahren 1627 bis 1634 .. ., I, Berlin 1828, S. 168. 12 13

6

Jahrbuch 12

. . . Briefe

und amtliche

Schreiben

aus

den

82

KLAUS SCHWARZ

hersteiler kaum eingingen. Besonders auf dem Lande waren an Stelle von Barzahlungen Sachlieferungen, vornehmlich in Form von Getreide, üblich. War aber die Truppe leidlich damit versorgt, so brachte der Rest nur wirklichen Nutzen, wenn er in großen Mengen in den Städten zum dortigen Verzehr oder zum Export in getreidearme Gebiete verkauft werden konnte. Alle diese Schwierigkeiten, die in modernen Heeren eine Legion von Intendanten und Zahlmeistern zu beheben sucht, mußten von irgend jemand überwunden werden. Arnim hat sich dabei weitgehend an das Berliner Handelshaus Weiler-Essenbrücher gehalten. Was davon an schriftlichem Niederschlag in seinem Nachlaß auf uns gekommen ist, reicht nicht aus, um ein lückenloses Bild dieses Geschäftsverkehrs, der zum erstenmal im Februar 1628 bezeugt ist, zu vermitteln, erlaubt es aber doch, einige Blicke in die Lebensgewohnheiten eines in der Mark beheimateten Generals des Dreißigjährigen Krieges und das Geschäftsgebaren des bedeutendsten Unternehmens seiner Art in der kurfürstlichen Residenz zu tun, dessen Vorgeschichte dazu kurz anzudeuten ist. 14 Leonhard Weiler war aus dem Herzogtum Jülich nach Berlin eingewandert, wo er 1576 in der angesehenen Krappeschen Handlung erscheint, die er nach seiner Heirat mit der Tochter des Inhabers Jobst Krappe und dessen Tod von 1585 bis 1601 leitete. 15 Die Handlung bestand danach unter dem Namen „Leonhard Weilers Witwe und Erben" weiter, die eigentliche Leitung hatte jetzt Leonhards Vetter Jakob Weiler inne, der ebenfalls aus dem Jülicher Land gebürtig war. Zur besseren Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber dem kurfürstlichen H o f gingen die Weilerschen 1612 eine Verbindung mit dem gleichfalls als Gläubiger auftretenden Handelshaus „Ambrosius Sturms Witwe und Tilmann Essenbrücher" ein. Auch dessen Gründer kamen aus dem Rheinland. Ambrosius Sturm, der 1608 verstorben war, stammte aus Werden a. d. Ruhr, sein Schwiegersohn und Nachfolger Essenbrücher aus Brachelen im Jülichschen. 1 4 Irmers fast 4C0seitige Biographie Arnims nennt die Namen Weiler und Essenbrücher nicht einmal; auch die biographischen Abrisse von Kirchner und Devrient bringen darüber nichts, andere Abschnitte des von mehreren Verfassern herrührenden Werkes Das Geschlecht von Arnim aber Angaben über die Beziehungen anderer Glieder der Familie zu den Berliner Kaufleuten (vgl. die Personenregister, wo es im II. Teil, Bd. 2, statt Thielemann v. Eschwege Essenbrücher heißen muß). 1 5 Die folgenden Angaben heben nur das für unseren Zweck Wesentliche aus der von Hugo Rachel, in: Hugo Rachel, Johannes Papritz u. Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, I, Berlin 1934, S. 320 ff., und Eberhard Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege, Berlin 1927, S. 104 ff., gründlich erforschten Geschichte dieser Häuser hervor, wo allerdings mit Ausnahme einer Bürgschaft Essenbrüchers „für den Generalleutnant von Arnheim" (Rachel, a. a. O., S. 345) die Beziehungen zu Arnim gar nicht erwähnt werden, da die Darstellung vornehmlich auf Kammergerichtsakten beruht.

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ARNIM

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1619 erfolgte die Vereinigung beider Häuser auf zwölf Jahre 16 durch Vereinbarung eines völligen Gemeinschaftshandels, außerhalb dessen kein Partner eigene Geschäfte führen durfte. Teilhaber waren neben Jakob Weiler und Essenbrücher noch die vier hinterlassenen Kinder Leonhards und der Sohn Sturms. Die Handlung war um diese Zeit schon vom bloßen Warenhandel zu umfangreichen Geld- und Bankgeschäften übergegangen. Als Hauptkunde trat der kurfürstliche Hof auf, der sich freilich bereits in Friedenszeiten mit der Bezahlung Zeit ließ und bei der im Laufe des Krieges fortschreitenden Zerrüttung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu ihr immer unfähiger wurde. Eine Rechtsklage gegen ihn war unmöglich, so daß die Kaufleute ständig größere Summen entbehren mußten, was zu einer wachsenden Inanspruchnahme ihres Kredits zwang. Als Geschäftsführer der Handlung waren nur Jakob Weiler, der 1628 verstarb, Leonhards Sohn Christian und sein Schwiegersohn Peter Engel tätig. Rachel ist es aufgefallen, daß sich Essenbrücher nach diesen Nachrichten nicht aktiv am Handel beteiligt haben soll, und er meint dazu: „Essenbrücher, der ein sehr rühriger Kaufmann war, kann sich aber unmöglich mit der Rolle des stillen Teilhabers . . . begnügt haben; er trieb vermutlich ein besonderes Geschäft, und zwar den Weinhandel". 17 Aus dem Schriftwechsel der Jahre 1628 bis 1635 ergibt sich nun, daß Essenbrücher gegenüber Arnim die Firma vertrat und sowohl daheim 18 wie auf Geschäftsreisen ein alles andere als stiller Teilhaber war. Wann und wie die Geschäftsverbindungen aufgenommen worden sind, ist nicht zu ersehen. Vielleicht ist Arnim schon durch seinen Vater darauf gebracht worden, der bei Weiler und Essenbrücher bereits vor der Jahrhundertwende bedeutende Schulden gemacht hatte. 19 Der früheste erhaltene Beleg ist eine in Greifswald ausgestellte Quittung vom 24. Februar/5. März 1628. In ihr bestätigt Essenbrücher den Empfang von 12 000 Tl. in bar, die er nach Berlin mitnehmen und bis auf weitere Anordnung Arnims bei sich in Verwahrung behalten sollte. Weiter hat er in Prenzlau von Oberst Ernst Georg von Sparr 3000 und von Franz Joachim von Arnim und Adam von Winterfeldt 3750 Tl. entgegenzunehmen, ferner in Leipzig vom Bürgermeister 16

Zum Zeitpunkt der Aufhebung der Vereinigung vgl. jedoch unten S. 93. Berliner Großkaufleute . . . , S. 328, auch Faden, Berlin im 30jährigen Kriege, S. 287. Zur Person Essenbrüchers vgl. die für ihn gehaltene Leichenpredigt in der Stedernschen Sammlung der Universitätsbibliothek Göttingen, Bd. 75, N r . 12. 17

18

Essenbrüchers Wohnhaus lag in der Breiten Straße, sein K a u f g e w ö l b e in der Gertraudtenstraße in Kölln a. d. Spree; v o n 1619 an war das Weilersche Haus an der Langen Brücke auf der Berliner Seite Sitz der Gemeinschaftshandlung. Vgl. Faden, a. a. O., S. 9 ff., Rachel, a. a. O., S. 327. 19

6*

Rachel, a. a. O., S. 336.

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10 000 Tl. laut Obligation der Stadt Rostock und noch anderes mehr, bis schließlich außer den schon empfangenen 12 000 Ansprüche auf insgesamt 29 950 Tl. angeführt sind. Daß es sich hierbei zumeist um Einkünfte aus der Kontribution handelte, ist offensichtlich. Essenbrücher war beauftragt, sie einzubringen und die bei ihm deponierten Beträge nach Weisung des Eigentümers auszugeben, sicher zum beachtlichen Teil für Waffenkäufe. Rüstungsgegenstände wurden damals über große Entfernungen von den Kaufleuten herangeschafft. In einem Brief des Leonhard Übeljung aus Köln vom 30. Januar/9. Februar 1628 an Essenbrücher, den dieser an Arnim zur Information urschriftlich weiterreichte, werden z. B. die Preise der verschiedenen Arten von Kürassen mitgeteilt und genaue Angaben über die für den Wassertransport bis Frankfurt a. M. und die Weiterführung „auf der Achse" notwendigen Papiere gemacht. Wenn Essenbrücher den Auftrag erteile, werde er nach den Versicherungen des Kölners von ihm so ausgeführt, „als wans mich selbsten angienge". Während der Fortgang dieser Angelegenheit im dunklen bleibt, ist ein am 26. Mai/5. Juni 1628 gemeldeter Ankauf von 1000 Musketen durch Essenbrücher für Arnim sicher. Valentin Sturwald brachte sie aus Suhl nach Berlin und erhielt dafür 1650 Tl. Obwohl weitere Kontributionsbeträge eingegangen waren, hatte Essenbrücher durch diese und anderweitige Zahlungen den Rest, der bei der jüngsten Abrechnung verblieben war, nicht allein ausgegeben, sondern über 2000 Tl. aus eigener Kasse einstweilen vorschießen müssen. Um diese wieder hereinzubekommen, wünschte er „ein scharff betrauliches Schreiben" an die in der Kontributionszahlung säumigen Städte. Anderer Einkünfte wegen wollte er am nächsten Tage nach Alten-Plathow reisen, wo er auf lauter magdeburgische, anhaltische und märkische Münzen rechnen müsse, bei denen erst noch zu sehen ist, „wie ich sie an Mann bringe". Ferner kündigte Essenbrücher die Lieferung von Rüstwagen und eines Zeltes aus Dresden an. Besonders interessant ist der anschließende Satz: „Das Crucefix, worumb ich zu Augspurgk ein Gehäuße verfertigen laßenn, hab ich nunmehr wiederumb alhier bey mir sowohl auch den Kelch, Flaschen unndt Kannen; waß ich ferner damit thun soll, will ich hierauff erwarten". Der Vorwurf einer Hinneigung Arnims zum Katholizismus ist einige Jahre später nach Eintritt in den sächsischen Dienst wiederholt gegen ihn erhoben worden, und Irmer sieht gerade in der Behauptung des schwedischen Residenten in Berlin, Joachim Transehe, Arnim habe von einer Abgabe der Prager Juden ein Kruzifix gekauft, eine besonders haltlose Verdächtigung mit durchsichtiger Tendenz. 20 2 0 Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 164, bringt einen auszugsweisen Abdruck von Transehes Brief, der trotz des Einschlusses in Gänsefüßchen keineswegs wörtlich ist und den höhnischen

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Wie man aus Essenbrüchers Brief erkennt, sind derartige Vermutungen doch nicht ohne konkreten Anhalt gewesen. Auch an den umfangreichen Lieferungen von Belagerungsgerät durch den Berliner Kaufmann Jakob Wedingen 21 war Essenbrücher beteiligt, weshalb es dem Schreiber Arnims bei der Herstellung einer Rechnung für die Zeit vom 3./13. Mai bis 7./17. September unklar war, an welchen von den beiden Händlern nun Zahlungen zu leisten waren. Weitere Nachrichten über die Beziehungen zwischen Essenbrücher und Arnim fehlen aus diesem Jahre. Zweifellos hat es Arnim auch ansehnliche persönliche Einnahmen gebracht. Sein Sold stieg auf dem Papier durch die Ernennung zum kaiserlichen Feldmarschall am 20./30. April 1628 um 1500 rh. Gulden, von denen er seinen und seiner Diener Aufwand bestreiten sollte; aber seine Einkünfte entstammten sicher nur zu einem geringen Teil dieser in Wirklichkeit nur spärlich fließenden Quelle, 22 sondern hauptsächlich der Kontribution und vielleicht auch der Kriegsbeute, denn sonst wäre es nicht denkbar, daß ihm der Lübecker Goldschmied Karsten Schröder am 29. Mai/8. Juni des gleichen Jahres die Fertigstellung von Tafelgeschirr für 1855 Tl. melden konnte, während der Preis weiterer bestellter Gegenstände noch gar nicht berechnet war. 2 3 Nach der Aufhebung der Belagerung Stralsunds verbrachte Arnim den Herbst und Winter in Pommern und der Uckermark, bis er im Frühjahr 1629 zum Heereszug nach Preußen abging, von dem er vorzeitig im Hochsommer des Jahres zurückkehrte, weil seine Lage in Preußen wegen des InteressenTon des Residenten kaum ahnen läßt, der schreibt, Arnim „hatt von dem Gelde, so ihme die Prager Juden geben müßen, ein Cruzifix für 3000 Rthler gekaufft, seine Devotion damit zu erwecken. Ich sorgk, wenn die Churf. Armada zusammen und gegen den in Böhmen und Schlesien ligenden Feindt solte angeführt, und der von Arnimb für die Armee, das Cruzifix in der Handt haltende (alß ein Si bona-Knab für die Schüler, welche die Leiche zu Grabe begleiten) solte herspaciren, dörfften die Crabatn wol nicht anders meinen, eß kerne ein Cardinal daher cum benedictione apostolica et sacro exercitu, und sich zum Arnimb schlagen". 2 1 Kirchner, Schloß Boytzenburg . . . , S. 248. 2 2 Vgl. dazu unten S. 89. 2 3 Devrient, Geschlecht v. Arnim, S. 50, kommt mit seiner Feststellung, daß Arnims amtliche Tätigkeit zur Genesung seiner Vermögenslage beigetragen habe, der Wirklichkeit näher als Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 40, der von seiner bis zum Tode währenden Armut spricht. Es erscheint wenig sinnvoll, Arnim mit modernen Maßstäben zu messen und ihn entweder als makellos oder aber geldgierig hinzustellen, wie man es zu einer Zeit tat, als Irmer eine These zur Verteidigung seiner Dissertation (Hans Georg von Arnim als kaiserlicher Oberst und Feldmarschall, Halle 1877, S. 28) der Rechtfertigung seines Helden gegen den von Onno Klopp (Tilly im Dreißigjährigen Kriege, II, Stuttgart 1861, S. 147) erhobenen Vorwurf der Habgier widmete. Keinem Offizier wäre damals eingefallen, sein Leben ohne Aussicht auf Gewinn der Kriegsgefahr auszusetzen. Wie mit den Jahren politische und religiöse Motive Arnims Handeln stärker zu beeinflussen begannen, ist hier nicht auszuführen.

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gegensatzes zwischen Polen und Brandenburg unhaltbar geworden war. Aus dieser Zeit ist nur ein Kaufkontrakt erhalten, den Arnim auf der Hinreise am 15./25. April 1629 in Stettin mit Essenbrücher abschloß. Er verkaufte dem Berliner Handelsmann 500 Wispel Roggen, die ihm sein Proviantmeister im Stift Magdeburg zu liefern hatte, für je 20 Tl. Ein Paß Wallensteins für den zollfreien Transport auf dem Wasserwege bis Hamburg war vorgesehen; die sonstigen Kosten hatte Essenbrücher zu übernehmen. Wenige Tage zuvor hatte sich dieser bereits für Arnim gegen mehrere Gläubiger auf 2200 Tl. verbürgt. 24 Weitaus mehr Einblick in die Beziehungen gewährt die Korrespondenz aus der Folgezeit bis zum Ende des Jahres 1630. Arnim befand sich vom Herbst 1629 bis zum Sommer 1631 in keinem festen Dienstverhältnis. Zwar nötigten ihn die Teilnahme an politischen Verhandlungen und private Interessen häufig zu Reisen und längeren Aufenthalten außerhalb der Uckermark, aber er war nicht mehr den Zufälligkeiten des Kriegsglücks ausgesetzt, womit es zusammenhängen mag, daß die Belege für den Geschäftsverkehr in reicherer Zahl überliefert sind. Gleich nach der Rückkehr aus Preußen rechnete Arnim am 9./19. September 1629 in Prenzlau mit Essenbrücher ab. Danach hatte keiner mehr etwas vom anderen zu fordern, weshalb sie sich wechselseitig Quittungen und Dokumente zurückgaben. Sicher war das für den Kaufmann, der ja nur zu häufig von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Tod des Partners erfuhr, eine große Erleichterung, und Essenbrücher zögerte nicht, neue Wünsche zu erfüllen. Diese bestanden vornehmlich darin, daß Arnim um Mithilfe bei der Verschönerung des durch die dänische Plünderung heruntergekommenen Boitzenburger Hauses bat. So kaufte er, wie er Essenbrücher am 18./28. Oktober mitteilte, sechs Gemälde, die ihm dieser zur Ansicht übersandt hatte. Ihr Verkäufer, Bernhard Wilhelm von Oppersdorf, erhielt dafür von Essenbrücher 150 Tl. ausgezahlt. Auch veranlaßte Arnim den Kaufmann, den Berliner Bilderschnitzer Andreas Kummer, der die Kanzel der Petrikirche gefertigt hatte, 25 zu ihm nach Boitzenburg zu entsenden. Kummer erhielt dafür am 11./21. November einen Vorschuß von 50 Tl.; am 20./30. des Monats wurde eigens ein Wagen zur Abholung entsandt, der auf dem Rückweg gleich eine Tonne oder einen Eimer Weinessig mitbringen sollte, „so guet ist". Am 2./12. Dezember 1629 bestellte Arnim rheinischen und französischen Wein für 279 Tl. Am 14./24. Dezember bat er, seinem Trompeter auf der Durchreise 20 Tl. auszuzahlen, damit dieser ihm in Dresden noch ein Zelt 24

Rachel, Berliner Großkaufleute, S. 345. Vgl. Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin, bearb. von R. Borrmann, Berlin 1893, S. 251. 25

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bestellen könne, 2 6 „den es gefeltt mihr doch beßer im Feldt alß im H a u ß e zu wohnen". Einen Monat später 2 7 übersandte der Oberstleutnant Georg A d a m von Trautisch ein Verzeichnis von Kleiderwünschen Arnims, der sich für eine Reise zu Wallenstein mit einem neuen ä-la-mode-Rock ausstatten wollte und dazu Elentierhaut für das Koller, Atlas, Taft, schöne Knöpfe und Schnüre, ein französisches Degengehenk u. a. mehr brauchte, so daß wieder eine Rechnung über 150 Tl. erwuchs. Aber nicht nur der in der Uckermark sonst nicht zu erfüllenden Wünsche hatte sich Essenbrücher anzunehmen, er wurde auch weiter zur Abwicklung der Geldgeschäfte herangezogen. A m 23. November/3. Dezember bat Arnim, dem Stettiner Kaufmann Nikolaus Tonnenbinder 4 0 0 Tl. zu zahlen. Zehn Tage später erhielt Trautisch auf Arnims Weisung in Kölln a. d. Spree 2 0 Tl., damit er den Ständen des Kreises Lebus einen „sehr hart geschriebenen" Brief überbringen konnte, weil sie mit ihren Kontributionszahlungen im Rückstand waren. Im Februar 1630 betätigten sich im Auftrage Arnims die Obersten Hatzfeld in Stettin und Rochow in Rostock in ähnlicher Mission. Essenbrücher mußte dabei auf der H u t sein, daß nicht jemand ohne Wissen des Feldmarschalls in dessen Namen Geld forderte. So schlug er dem Oberstleutnant Leutersam die Zahlung von 5 0 0 Tl. ab, weil er ihm nicht „ H a n d und Siegel" Arnims vorweisen konnte. Arnim billigte das, zumal er diese Zahlung nur auf Grund einer Bürgschaft für den Obersten von Götze leisten sollte. A m Ende blieb ihm freilich doch nur die Anweisung übrig, und so händigte Essenbrücher das Geld am Neujahrstage 1630 in Leipzig aus, wo er oft in Handelsgeschäften auftrat. Es würde zu weit führen, jede einzelne dieser Zahlungen genau zu belegen. Es empfingen der Ingenieurhauptmann Bastian Fuß 2 8 am 14./25. [ ! ] Januar 1 6 3 0 500, Dam George Gans Edler H e r r zu Putlitz am 11./21. Februar 500, Busso Clamor von Arnim 20 und ein Doktor Henkel am 3./13. März 100 Tl. von Essenbrücher auf Anweisung Arnims. Auch der aus Glogau vertriebene und von Arnim als Feldprediger angenommene Valentin Preibisch mußte sich wegen seiner Besoldung an den Händler wenden, der ihm für ein Quartal 125 Tl. und je einen Wispel Roggen und Gerste verabfolgte. Nicht klar wird das Vorhaben Arnims, als er in einem Brief vom 27. Februar/9. März 1630 Essenbrücher dringend bat, an die pommerschen Kommissare 2 0 0 0 Tl. zu 2 6 In einem Schreiben des Johann Friedrich von Kotteritz vom l . / l l . Jan. 1628 teilte dieser mit, daß ein Zelt in Dresden 340 Tl. koste. 27

Das Orig. ist versehentlich auf den 14. Jan. 1629 datiert.

E r ist übrigens der auf Bitten des Kurfürsten von Arnim entsandte Festungsbaumeister von Berlin gewesen (vgl. Faden, Berlin im 30jährigen Kriege, S. 179 f., der Bastian Fürst liest), der sich vor und nach der brandenburgischen Bestallung im Dezember 1630 im Dienste Arnims befand. 28

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zahlen, um einen ihm ungelegenen Wollhandel zunichte zu machen. Essenbrücher scheint auch an diesem Artikel verdient zu haben, denn Arnim versprach, ihm mit göttlicher Hilfe dafür hohen Nutzen zu verschaffen. Die Verbindung zwischen den privaten Finanzgeschäften und der großen Politik der Zeit wird dann deutlich, wenn Arnim wie Ende April 1630 zu Verhandlungen aufbrach und Essenbrücher ihm durch seinen Schwiegersohn 500 Tl. nach Köpenick hinausbringen lassen sollte, die er zur Reise brauchte, ja schließlich sogar die Fahrt zu einem - ungenannten - Fürsten, die er hochnötig fand, nur antreten konnte, wenn er bis zum nächsten Tag die Barmittel dazu erhielt. Trotz dieser dringlichen Ersuchen gewinnt man nicht den Eindruck, daß sich Arnim in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten befunden hat. Gewiß gab es Tage, da seine Kasse leer war, aber dann gingen doch wieder größere Summen ein, die ihm aus der augenblicklichen Verlegenheit halfen. Seine Anweisungen sind 1630 nach den vorhandenen Quittungen prompt ausgeführt worden; die von ihm genannten Rückzahlungstermine schwanken zwischen Tagen und Wochen. Mögen sie auch nicht immer genau eingehalten worden sein, so zeigen doch gelegentliche Gesamtabrechnungen, daß er bei Essenbrücher keine so alten Rückstände hatte, wie sie damals sonst durchaus üblich waren. Für den großen Umfang des Handels, der aus den vereinzelten Belegen nicht deutlich werden kann, zeugt eine von Leonhard und Jakob Weilers Erben, Tilmann Essenbrücher und Konsorten aufgestellte Rechnung, die auf acht Folioseiten bis ins einzelne gehend die vom 6./16. September bis 22. November/2. Dezember 1630 erfolgten Lieferungen nach Boitzenburg enthält, die nach Einbeziehung kleinerer Barschulden schließlich 1707 Tl., 13 Gr. und 7 Pf. ausmachten, wobei Textilien wieder die größten Kosten verursachten. Das Leben eines armen Mannes hat der Feldmarschall nach fast zwei Jahrzehnten kriegerischer Betätigung nicht mehr zu führen brauchen, sondern konnte zum erstenmal ernsthaft daran denken, die von seinem Vater übernommene Schuldenlast abzutragen. 29 Er bezifferte Ende des Jahres 1630 die Forderungen, die ihm aus seinem Dienst beim Kaiser erwachsen waren, auf 264 050 Gulden. Darunter fielen 42 000 Gulden für seine Stelle als Oberst zu Fuß, 43 200 als Oberst zu Pferd, 27 000 für sein Feldmarschallamt und 19 200 für die gleichzeitig innegehabten beiden Hauptmannsposten. Neben diesen Soldforderungen stellte Arnim fast in gleicher Höhe solche, die ihm durch die Gewährung von Vorschüssen entstanden sein sollten,30 so z. B. durch 29

Devrient, Geschlecht v. Arnim, S. 59. Förster, Albrechts von W'alienstein . . . Briefe und amtliche Schreiben . . . , II, S. 167, spricht unrichtig nur von rückständigem Sold, ohne auf Einzelheiten einzugehen oder Wallensteins Ausstellungen zu erwähnen. 30

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Kauf von Artilleriezubehör „lautt meines Kaufmanns Rechnungen" allein 15 400 Gulden, weiter für 700 Kürasse 13 650 und für 2300 Monturen 13 800 Gulden. Wenn man auch annehmen darf, daß Arnim diese Vorschüsse teilweise nur auf seine Rechnung setzte, während sie in Wirklichkeit von den Kaufleuten geleistet worden und bei Bezahlung die Gelder an sie weiterzuleiten waren, so beweist doch die Höhe der Soldansprüche, die sich aus der Anhäufung von Offiziersstellen in einer Hand erklärt, wie sehr hervorragende Kommandos schon auf legalem Wege zur Besserung zerrütteter Vermögensverhältnisse beitragen konnten. Was Arnim wirklich erhalten hat, ist allerdings nicht auszumachen.31 Wallenstein sandte ihm am 9./19. Januar 1631 seine Aufstellung mit der Bemerkung zurück, daß zwar die meisten Posten richtig befunden worden seien, die Soldforderungen aber zu hoch geschraubt wären, da sie nicht nur das auf seine Person Kommende enthielten, sondern wie man wohl ergänzen muß - auch die für die Angehörigen seiner Stäbe aufzuwendenden Gelder. Die politische und militärische Lage des protestantischen Norddeutschland verschlechterte sich in den Frühjahrsmonaten des Jahres 1631 außerordentlich. Voller beklemmender Sorgen blickte man hier auf das seit dem März belagerte Magdeburg. Jedermann war sich darüber im klaren, daß das Schicksal der eingeschlossenen Stadt auch ihn selbst betraf, so weit man auch scheinbar vom Schuß lebte. Wie die Stimmung um diese Zeit, kurz vor der Zerstörung der Elbmetropole am 10./20. Mai 1631, in Berlin war, schildert ein Brief, der von hier an Arnim gerichtet wurde. Er stammt aus der Feder der braunschweigischen Herzogin Anna Sophie, einer Tochter des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund. Sie war als sechzehnjähriges Mädchen mit Friedrich Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel verheiratet worden, fand aber dann mehr Gefallen an dem späteren Feldmarschall Franz Albrecht von Sachsen-Lauenburg, der bei der Schürzenjagd größere Erfolge als in seinen Feldzügen errang. Nach Entdeckung dieses Verhältnisses war die Ehe nicht mehr zu retten. Anna Sophie durfte nur noch auf den ihr als Leibgedinge verschriebenen niedersächsischen Amtsdörfern bleiben oder in ihre Vaterstadt Berlin zurückkehren, wo sie sich denn auch die längste Zeit aufhielt. Am 9./19. Mai, einen Tag vor dem Fall Magdeburgs, schrieb sie aus der Residenz: „Die Sachen stehn hier sehr gefährlich. Der Allmechtige verbeßer es. Ein 31 Der schwedische Resident in Dresden, Laurentius Nicolai, meldete im April 1632, daß Wallenstein 10 000 Tl. durch Wechsel bezahlt habe, vgl. Die Verhandlungen Schwedens und seiner Verbündeten mit Wallenstein und dem Kaiser von 1631 bis 1634, hrsg. von Georg Irmer, I ( = Publikat. aus d. Preuß. Staatsarchiven, 35), Leipzig 1888, S. 160. Förster, a. a. O., III, Anhang S. 117 f., sieht in dem Ausbleiben des Soldes den Hauptgrund für Arnims Ausscheiden aus dem kaiserlichen Dienst.

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gutter Frieden wehr hoch nöhtig. Ich zihe, wils Gott, die ander Woche auff meine Empter, den hier wils in der Lenge vohr midi nicht sein. Drumb ist es beßer, bey Zeitten drauß alß zu lange geharret, den es sitzett alles auff den Sprung. Der König [Gustav Adolf] hatt es auch selber gerahten, sie sollen sich von hier weg begehben."32 Aber die Schwäche und Uneinigkeit der evangelischen Verbündeten konnte endlich doch überwunden werden. Sachsen rüstete auf. Am 21. Juni/1. Juli 1631 wurde Arnim zum Feldmarschall Kursachsens ernannt und übernahm die Führung seiner Armee, in der die Besoldung weit höher war als bei den Schweden und Kaiserlichen.33 Aus den erhaltenen Abrechnungen über die Einnahmen und Ausgaben Arnims 34 ergibt sich, daß er am 22. September/ 2. Oktober 4033 Tl. für Waffenlieferungen an Essenbrücher auszahlen ließ. Bereits einen Monat zuvor waren ihm 500 und „wegen deß Interesse", also wohl als Zinsen, 50 Tl. zugesprochen worden. Gustav Adolfs Infanterie und die von Arnim geführte und sicher teilweise mit den von Essenbrücher gelieferten Waffen ausgerüstete sächsische Kavallerie schlugen die Kaiserlichen am 7./17. September bei Breitenfeld vernichtend und beseitigten fürs erste den auf Norddeutschland lastenden Druck. Wie unzulänglich wir über die Kosten der Rüstung und erst recht über den Verdienst der Kaufleute unter32 Einen ernsthaften Widerstandswillen hat es in der Stadt nicht gegeben, in der mit Bitterkeit vermerkt wurde, daß sich der Kurfürst in besonders kritischen Situationen nach Ostpreußen zurückzog (vgl. Irmer, Hans Georg von Arnim als kaiserlicher Oberst und Feldmarschall, S. 15, Anm. 2). Die Bürgerschaft widersetzte sich vielmehr nadi Kräften dem Ausbau der Befestigung. „Den Gedanken an eine erfolgreiche Verteidigung wagte sie gar nicht zu fassen, sie sprach nur immer von den unseligen Folgen eines feindlichen Sieges" (Faden, Berlin im 30jährigen Kriege, S. 210). 33 Vgl. Karl Gustav Heibig, Gustav Adolf und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg 1630—1632, Leipzig 1854, S. 109. 34 Es handelt sich hierbei um ein starkes Heft mit den von Arnims Sekretär Köhler aufgestellten Abrechnungen für die Zeit vom 8./18. August 1631 bis 19./29. Nov. 1634, das nicht den gesamten Zahlungsverkehr verzeichnet, sondern nur die durch Köhlers Hände gegangenen Gelder. Insgesamt werden Einnahmen und Ausgaben in Höhe von 71 095 Tl. belegt, von denen 8934 an Essenbrücher gezahlt wurden. Diese Rechnungen werfen auch einige Streiflichter auf das Alltagsleben eines Generals im 30jährigen Kriege. So ergibt sich, daß Arnim vom September 1631 bis zum Dezember 1633 im Spiel mit seinen Obersten 1628 Tl. gewann und 1927 verlor, wobei sich besonders Oberst Christoph Vitzthum von Eckstedt hervortat, der ihn an drei Abenden um 900 Tl. erleichterte. Nicht weniger kostspielig war ein Besuch in Auerbachs Keller, wo eine Zeche von 200 Tl. entstand. — Das alte Repertorium des Nachlasses verzeichnet (S. 823) unter dem 4. März 1634 eine „Nachweisung der Einnahme und Ausgabe während der Jahre 1631 und 1632 für den von Arnim", die leider ebenso verlorengegangen ist wie ein offenbar undatiertes „Verzeichnis dessen, was Essenbrücher zur Artillerie schaffen wollen" (Repert., S. 1120). Diese Stücke waren auch unter den in das Landeshauptardiiv Potsdam gelangten Splittern des Nachlasses nicht aufzufinden.

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richtet sind, liegt nicht zuletzt an der Unsicherheit der damaligen Rechnungsführung selbst. Als Arnims Sekretär Köhler im Herbst 1635 die Feststellung der restlichen Forderungen des Feldherrn an den Kurfürsten betrieb, mußte er am l . / l l . Oktober bei seinem Herrn anfragen, ob im Januar 1632 11 000 oder 16 000 Tl. für Waffenlieferungen an Essenbrücher gezahlt worden seien, weil aus den vorhandenen Belegen keine Sicherheit darüber zu erlangen war. Arnim trat um diese Zeit auch als Vermittler auf, wenn es galt, Verhandlungen über Rüstungskäufe anzubahnen. So richtete der ihm persönlich nahestehende schwedische Feldmarschall Dodo von Kniphausen an ihn die Bitte, sich bei den Weilerschen in Berlin zu erkundigen, ob sie zur Lieferung von 700 Rüstungen, 560 Arkebusierrössern, 140 Musketen und anderen Kriegsmaterials in der Lage seien.35 Arnims private Finanzlage war in diesen Monaten sehr gut. In einem Brief an den Syndikus Elias Pauli, der für ihn des öfteren finanzielle Angelegenheiten in Stettin regelte und seine Vertretung in den Erbauseinandersetzungen vor dem Berliner Kammergericht wahrnahm, rühmte er sich am 9./19. Januar 1632, daß er keine Obligationen zu zedieren brauche, „den 1000 Tahler kan ich, Gott lob, noch wol selbsten zalen". Am 30. Januar/ 9. Februar ließ er eine Fülle von Silbersachen zum Umgießen in Leipzig einliefern, darunter allein 28 vergoldete Tischbecher. Von Elias Pauli, der doch eine halbwegs zutreffende Vorstellung von Arnims Zahlungsfähigkeit gehabt haben muß, stammt auch der am 12./22. April gemachte Vorschlag, er solle zur Befriedigung der Gläubiger seines Vaters 20 000, ja 25 000 Tl. Essenbrücher zur Verfügung stellen; „waß der H . Tileman an Gelde erobern würde, bliebe E. Excell. bei ihme so guth bevor alß ob Sie es selber im Kasten hetten". Für das Herstellen einer goldenen Kette und einiger Silbersachen zahlte Arnim schließlich am 5./15. Mai an Andreas Kauxdorf in Leipzig allein schon einen Abschlag von 1000 Tl. Der aus dem Frühjahr 1632 vorliegende Schriftwechsel mit Essenbrücher36 wirft auch einiges Licht auf die Herkunft der Forderungen der Konsorten an die schlesischen Stände, die Rachel37 unklar geblieben war. 1630 hatte der 35 Undat. Schreiben N r . 103. D i e chronologische Einordnung ist nicht sicher vorzunehmen. Aus der in Frage kommenden Zeit sind datierte Schreiben Kniphausens nur v o m April und Juni 1632 erhalten; am 26. April/6. Mai bat er Arnim, seiner „bey Tilleman und sonsten" nicht zu vergessen. Mit dem Berliner K a u f m a n n stand er daneben schon selbst im Briefwechsel. Das undatierte Schreiben dürfte dem vorangegangen sein. 36 Zwei Schreiben dazu v o m 28. und 30. März 1632 sind verloren. 37 Berliner Großkaufleute . . ., S. 341 f.: „Die sämtlichen Weiler-Sturm-Essenbrüchersdien Handelskonsorten hatten auch bei den schlesischen Ständen eine Forderung v o n 16 162 Rtl. stehen, über die sonst keine Andeutung zu finden ist. Man w e i ß daher nicht, ob die Konsorten dieses Darlehen etwa in der Kriegszeit gemacht haben oder ob sie, was wahrscheinlicher ist,

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Oberstleutnant im St. Julianischen Regiment Wengersky Weilers Erben 500 Wispel Korn zum Kauf angeboten, die sie unter der Bedingung akzeptierten, daß gegen Erlegung der Zölle der Transport nach Hamburg ungehindert durchgeführt werden könnte. Wengersky aber vermochte diese Bedingung nicht zu erfüllen, da Wallenstein jede Verbringung elbeabwärts bei Todesstrafe verbot. Daraufhin mußte die Kaufhandlung das Getreide den Kaiserlichen überlassen und wurde wegen der Bezahlung an die schlesischen Stände gewiesen. Da wir von dem angeführten Getreideverkauf Arnims an Essenbrücher im April 1629 wissen, daß der Wispel etwa 20 Tl. kostete, hat sich die Forderung 1630 auf rund 10 000 Tl. belaufen. Hinzukommende Zinsen und andere Verbindlichkeiten 38 trieben sie noch höher, während andererseits das Handelshaus dadurch selbst Schuldner Wengerskys wurde. Noch 1647 war dieses Geschäft nicht abgewickelt und belastete die Erben schwer.39 Das für diese Frage herangezogene Schreiben der Konsorten vom 11./21. April 1632 erwähnt noch eine für die kommerzielle Tätigkeit wichtige Maßnahme des brandenburgischen Kurfürsten Georg Wilhelm, nämlich sein 1631 ausgesprochenes Verbot, Zahlungen an Offiziere der kaiserlichen Armee zu leisten. Gerade diese aber hatten ihre Kriegsbeute bei den Handelsleuten sicher angelegt geglaubt. Natürlich wirkte sich diese Beschlagnahme des „Feindvermögens" nicht zum Nutzen der Handlungen, sondern des Kurfürsten aus, der es an sich zog. Auch weiterhin regulierte Essenbrücher den Finanzverkehr Arnims, suchte in seinem Auftrage Forderungen einzutreiben und erinnerte ihn an Zahlungen an die Gläubiger, die sich in erster Linie an den Berliner hielten, weil der zwischen Dresden und den Kampfgebieten in Böhmen, Schlesien und Mitteldeutschland ständig wechselnde Feldherr für sie gar nicht ohne weiteres zu erreichen war. Aus diesem Verhältnis erwuchsen Spannungen, denn es fiel Essenbrücher jetzt schwer, Arnims ständige Wünsche zu erfüllen. So hatte er wohl unbedacht eine Arnim hinterbrachte Äußerung getan, daß er ihm „nichtt eines Groschen Whertts trauen wollte", die er zwar am 11./21. Juni 1632 lebhaft abstritt, ohne jedoch leugnen zu können, daß er den erhaltenen Auftrag zur Lieferung von Gewürzen für 100 Tl. nicht ausgeführt hatte, angeblich weil er nicht sicher war, daß Arnim viel daran liege. Hätte er das gewußt, so durch Übertragung in den Besitz dieses Schuldtitels gelangt sind. Bei den Liquidationsverhandlungen hatte man davon keine Kenntnis, es wird also nidit in den Handelsbüchern verzeichnet gewesen sein." 38

So nennt Essenbrücher am 26. Sept./6. Okt. 1632 noch Forderungen von 1 458 Tl. für

Weizenlieferungen in das Provianthaus zu Wolgast, womit er vom Obersten Hatzfeld an die schlesischen Fürsten und Stände verwiesen worden sei, und von 5 9 2 0 Tl. an den R a t von Sagan. 39

Rachel, Berliner

Großkaufleute

. . ., S. 349.

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wäre das Gewürz abgegangen, obwohl kein Geld dazu vorhanden sei, sondern er seinen Kredit hätte ausnutzen müssen. Essenbrücher, der sich von dieser Zeit an fast ständig in Geldschwierigkeiten befand, lag soviel an seinem Partner, daß er jeden Verdacht zu beseitigen suchte, indem er darauf hinwies, daß er doch schon mit „etzlichen Tausenden" dem Herrn gedient habe und ihn zur endgültigen Klärung der Angelegenheit selbst aufsuchen wollte. Den Grund für diese Zähigkeit darf man darin sehen, daß Essenbrücher hoffte, bei Arnim ein Darlehen aufnehmen zu können. Am 20./30. August schrieb er davon, daß ihm die Michaelismesse bald auf den Hals komme, weshalb er dringend bitte, mit einem Stück Geldes seiner neu angefangenen eigenen Handlung auszuhelfen, denn „es kompt mier von den Meinen gannz nichtts einn". Am 11./21. September drängte er, ihn „vor dißmahlen nichtt hulfflos zu laßen", und nannte schließlich am 26. September/6. Oktober eine Summe von 5000 bis 6000 Tl. als notwendige Unterstützung, für die er mit eigenen Forderungen Sicherheit leisten könnte. Kurz vor Abfassung des letzten Briefes hatte Arnim die Eroberung Schlesiens in die Wege geleitet. Essenbrücher wies deshalb gleich darauf hin, daß er auch an den Rat von Sagan und die schlesischen Fürsten und Stände Ansprüche zu stellen habe, deren Eintreibung Arnims Eingreifen erleichtern würde. Die Schwierigkeiten Essenbrüchers führten dazu, daß die Gläubiger Arnims den beschwerlicheren Weg einschlugen und sich über seinen Kopf hinweg an den General selbst wandten, so der französische Juwelier Johann Putini, der ein Kleinod für 650 Tl. angefertigt hatte, ohne von Essenbrücher mehr als die Vertröstung auf die kommende Michaelismesse zu erhalten, so daß er selbst nach Dresden zu reisen beschloß. Ähnlich überging Joachim Werner von Alvensleben Essenbrücher und hielt sich direkt an Arnim, bei dem er Schulden hatte, um der Prozeßdrohung des Kaufmanns entgegenzuwirken. 40 Bernd von Hagen dagegen hoffte nodi am 19./29. Juli 1632, mit Essenbrüchers Hilfe einen Aufschub bei Arnim zu erreichen. Im Spätsommer des Jahres 1632 erlosch die 1619 gebildete Gemeinschaftshandlung. 41 Die gesamte Masse wurde auf alle Teilhaber umgelegt, d. h. die 40

Vgl. Alvenslebens Briefe vom Juni 1632 an Essenbrücher (undat. Schreiben N r . 2 1 3 ) und

vom 21./31. Juli an Arnim. 41

Rachel, Berliner

Großkaufleute

. . ., S. 329, nennt als Zeitpunkt der Auflösung schon den

vertraglich vereinbarten Ostertermin 1631. Dem widersprechen die Schreiben der Firma, die noch am 11../21. April 1632 als „Jakob und Leonhard Weilers Erben, Tilmann Essenbrücher und Konsorten" erscheint. „Jakob Weilers unmündige Kinder" datieren am 29. Juli/8. August 1635 die Aufhebung der Sozietät auf Michaelis 1632; Essenbrücher bezeichnet dagegen schon am 20../30. August 1632 seine eigene Handlung als neu angefangen. Anscheinend handelt es sich um eine mehrmonatige Übergangszeit der Abwicklung.

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Firma liquidiert. Es entstanden nun wieder zwei getrennte Handelshäuser, nämlich Leonhard und Jakob Weilers Erben in Berlin und in Kölln die Handlung Tilmann Essenbrüchers, an der nun auch sein gleichnamiger Sohn, sein Schwager Ambrosius Sturm der Jüngere und sein Schwiegersohn Johann Schilling teilhatten. Die Abwicklung ging nur mühsam voran, denn die finanziellen Verhältnisse waren äußerst unübersichtlich und keinesfalls günstig. In den Beziehungen zu Arnim wandelte sich durch diese Veränderung wenig, da Essenbrücher stets den Geschäftsverkehr mit ihm in der Hand behalten hatte. So ging auch die Beschaffung militärischen Bedarfs weiter. Essenbrücher erhielt von Arnim am 7./17. November den Auftrag, dem Oberstleutnant Hans von Rochow für fünf Kompanien zu Fuß Ausrüstungsgegenstände zu liefern. Diese Bahnen wurden in den folgenden Jahren nicht verlassen. Es beteiligte sich auch Jakob am Ende, der nach dem Tode Jakob Weilers als Teilhaber eingetreten war 4 2 und am 9./19. Januar 1633 eine Rechnung über 43 Tl., 4 Gr. für den Leibarzt des kurz vorher zum Generalleutnant beförderten Arnim ausstellte, die in der damals üblichen Form Medizin und Genußmittel als Apothekengut zusammenfaßte. Essenbrücher fungierte derweilen weiter als Bankier des Feldherrn. So sandte ihm dieser am 2./12. März 1633 1000 Tl. und bat den Kurfürsten Johann Georg von Sachsen am 13./23. Mai und nochmals am 20./30. Juli, die rückständigen 7000 Tl. dem von ihm bevollmächtigten Berliner Kaufmann zukommen zu lassen.43 Dieser besorgte auch weiterhin die Ausführung der Bestellungen. Daß die Geldschwierigkeiten fortbestanden, zeigt eine am 10./20. Oktober 1633 ausgestellte Schneiderrechnung Gottfried Gerlings' 44 über auf Essenbrüchers Begehren für Arnim angefertigte Kleidungsstücke in Höhe von 9 Tl., 14 Gr., die erst am 24. Februar/6. März 1639 beglichen wurde und übrigens das einzige Zeugnis über den Fortbestand der Beziehungen nach 1635 ist. Freilich wird im Herbst 1633 auch niemand in Berlin an die Begleichung kleinerer Rechnungen gedacht haben, denn das Herannahen eines Korps unter dem Befehl des Grafen Philipp von Mansfeld rief größte Bestürzung hervor, bis Wallenstein die Truppe zurückrief, denn er 42

Faden, Berlin im 30jährigen

43

Vgl. Wallensteins

Kriege,

Ende. Ungedruckte

S. 107. Briefe und Akten, hrsg. von Hermann Hallwich, II,

Leipzig 1879, S. 2 7 0 (der den Namen mit Eschenbergger und Eschenbogger wiedergibt), die in Anm. 34 genannten Rechnungen und die Reinschrift vom 16./26. Juli, an der Arnim außer der Änderung des Datums eine Korrektur durch Streichung des letzten Absatzes vorgenommen hat, in dem ursprünglich die an den Kurfürsten gerichtete Bitte enthalten war, ihm kürzlich ausgehändigte 1000 Tl. nicht von der an Essenbrücher zu zahlenden Summe abzuziehen. 44

Gerlings ist der Berliner Schneider des Feldherrn gewesen, der mindestens von 1631 an

für Arnim tätig war, die erste Bezahlung aber nicht vor dem 24. Febr./6. März 1634 erhielt. Auch in Prenzlau ließ Arnim arbeiten, wofür die dortigen Schneidermeister am 29. Juni/ 9. Juli 1635 218 Tl. rückständigen Lohn zu fordern hatten.

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sah keinen militärischen Sinn in einer Eroberung der brandenburgischen Residenz, „es were denn, das nur die Plünderung der Stadt dar durch gesucht werde". 45 Im April 1634 traf sich Essenbrücher mit Arnim in Torgau, als dieser in Gegenwart des Kurfürsten die sächsischen Truppen musterte. Alle Forderungen des Kaufmanns wurden beglichen,46 so daß er sehr daran interessiert war, sich den kräftigen Zahler zu erhalten. Als er erfuhr, daß Arnim bei einer Feuersbrunst einen Teil seines persönlichen Eigentums verloren hatte, ließ er ihm aus eigenem Antrieb am 4./14. Oktober ein Reiterkleid, Mantel und Zobelmütze zusenden. Daß er hier so schnell reagierte, während er doch im Juni 1632 eine Bestellung einfach hatte unter den Tisch fallen lassen, sollte wohl gute Stimmung für zwei Anliegen machen, die er im gleichen Brief Arnim vortrug. Er hatte in Dresden, wohin er verwiesen worden war, nur 1650 Tl. bekommen und bat nun nochmals um eine Aushilfe mit einigen tausend Talern, da er Zeit seines Lebens „deß Geldes nichtt höher benöttigett gewehßen". 47 Nicht weniger am Herzen aber lag ihm, einen Hinweis des hervorragenden Politikers und Militärs auf das künftige Geschick Berlins zu erhalten. Am 6./16. September hatten die Schweden eine schwere Niederlage bei Nördlingen erlitten. Die evangelische Koalition war einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Das brandenburgische Korps, das unter dem Kommando Banners focht, wurde abberufen, die Sachsen traten den Rückzug aus Böhmen an. Unter diesen Verhältnissen schien eine Verlagerung des Kriegsschauplatzes nach Norden sicher, und ebenso wie nach der Magdeburger Katastrophe 1631 wurde die Frage aufgeworfen, „ob man auch dießes Ohrtts den "Wintter sicher bleiben möchtte, den man die Gefahr alhier selber unß groß macht, daß man nichtt weiß, waß man anfangen soll". So steht es von Schreiberhand in dem Brief vom 4./14. Oktober, und Essenbrücher fand die Sache so wichtig, daß 45

Wallensteins

Ende,

II, S. 120.

Vgl. Essenbrüchers Bestätigung vom 13./23. April und die in Anm. 34 genannten Rechnungen, die die Zahlung von 1841 Tl. nachweisen, der bereits im Februar eine solche in Höhe von 1500 Tl. vorangegangen war. 46

47

Faden hat (besonders in dem Aufsatz Berlin im Dreißigjährigen

dem Weltkriege,

Kriege. Ein Rückblick

nach

in: Mitteilungen d. Vereins f. d. Geschichte Berlins 44 (1927), S. 47 f.) darauf

hingewiesen, daß die laute Klage über die schlechten Vermögensumstände in Berlin wie anderswo so verbreitet war, daß man nur mit Vorsicht daraus auf die wahren Verhältnisse schließen kann. Sicher haben auch die Kaufleute zu Übertreibungen geneigt, aber der schließliche Zusammenbruch der Häuser zeigt doch, daß ein wahrer Kern in Essenbrüchers Schilderungen steckt und Ernst Kaebers summarisches Urteil (Berlins Wirtschaflsleben Krieges,

zur Zeit des

Dreißigjährigen

in: Berliner Wirtschaftsberichte 5 (1928), S. 44), der Handel Berlins habe im Kriege

eher verdient als gelitten, nur für die erste Kriegshälfte zutrifft.

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KLAUS SCHWARZ

er eigenhändig am Schluß anfügte: „Weil alhier so gahr wunderliche Reden gehen und alles so gahr gefehrlichen gemachet wird, als bitte ich E. Exel., Sie wolten mir es durch einen eigen Botten in großem Geheim Ihr Bedenken cito melden, weil ich von mein Armut und das Wenige und Geringe, [was] ich habe, noch nichts wegkgebracht habe, wie ich es anstellen soll und wurhin E. Exel. vermeinen. Auch stehen E. Exel. Sachen, so ich in meine Verwahrung gehabt, auch noch alhier. Konte gleichfals berichtet werden, wie ich es damit zu halten hete." Arnims Antwort dürfte beruhigend ausgefallen sein, denn Essenbrücher blieb in der Stadt. 4 8 Auch ließ Arnims Freund, Herzog Franz Albrecht von Sachsen-Lauenburg, gerade in diesen Tagen sein Vermögen von Dresden nach Berlin in Sicherheit bringen, 49 und der Generalleutnant selbst beschloß im Januar, sich nach Ende seiner sächsischen Dienstzeit in Berlin niederzulassen, 50 weshalb er auf die Suche nach einem eigenen Hause ging. Davon zeugt ein Brief der schon genannten Herzogin Anna Sophie vom 12./22. März 1635, in dem sie ihm erklärte, sie würde ihm, wenn es nach ihrer „Affektion" ginge, am liebsten ihr eigenes Haus schenken, sonst aber überlasse sie ihm die Feststellung des Preises durch einen Sachverständigen und ebenso die Bestimmung des Zahlungstermins. Arnims Interesse an einer festen Wohnung in der Residenz ist klar: er hatte hier oft diplomatische Verhandlungen im Auftrage des Kurfürsten von Sachsen zu führen und ebenso seine Privatangelegenheiten vor seinem Landesherrn und dem Kammergericht zu betreiben, die um so mehr in den Vordergrund traten, je mehr er sich mit dem Gedanken an ein Ausscheiden aus dem sächsischen Dienst vertraut machte, den er im Juni 1635 ausführte. Der Erwerb von Stadthäusern durch den Adel erfolgte damals ohnehin häufig, wie denn ja auch Arnims Vater ein solches in Prenzlau besessen hatte. In finanzieller Hinsicht erfreulich ist der Winter 1634/35 für Essenbrücher nicht verlaufen. So mußte er am 24. Oktober/3. November melden, daß er dem Wunsch Arnims nach Auszahlung von 900 Tl. an seine Schwester Elisabeth Katharina nicht nachkommen könne, weil er selbst keine 100 Tl. von seinen Schuldnern erhalten habe, wie es auch diesmal für ihn die schwerste 4 8 Seine und Arnims Habe verlagerte er aber wohl doch teilweise. Darauf deutet die Auskunft von Arnims Beauftragtem Bodo von Bodenhausen vom 11./21. Sept. 1635 aus Hamburg hin, daß Essenbrüchers „eingesetzte Sachen" noch dort ständen. Hamburg war ein von den reicheren Berlinern bevorzugter Zufluchtsort während des Dreißigjährigen Krieges, vgl. Faden, a . a . O., S. 186.

Vgl. Die Verhandlungen Schwedens . . . (s. Anm. 31), II, S. 388, 393. Vgl. Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 311 u. 329 über das Angebot des Kurfürsten Georg Wilhelm vom Ende des Jahres. 48

60

GENERAL HANS GEORG VON ARNIM

97

Leipziger Messe seines Lebens gewesen sei. Verärgert beklagte sich der Schwager Joachim Georg von Arnim bei dem Generalleutnant, daß er vergeblich nach Berlin gefahren sei, da sich Essenbrücher zu keiner Zahlung, „auch nicht biß auff 25 Thl. bahr", verstanden habe. Etwas später, am 6./16. November, ging ein Schreiben aus der Weilerschen Handlung ab, in dem dringend um die Rückzahlung von 200 Tl. und 45 Tl. Zinsen für ein auf dem Konventstage zu Leipzig im März 1631 gewährtes Darlehen gebeten wurde. Arnim hielt jetzt den Zeitpunkt für gekommen, endlich die Gläubiger an seiner väterlichen Erbschaft abzufinden. Offenbar hat ihm der Gedanke vorgeschwebt, seine zahlreichen Forderungen eintreiben und zur Tilgung verwenden zu können. Dabei sollte der Oberst Konrad von Burgsdorf helfen, der Verbindungsmann zwischen Arnim und dem Kurfürsten Georg Wilhelm war und großen Einfluß am Hofe besaß. Er erhielt am 18./28. November Obligationen über 12 579 Tl., die Essenbrücher für Arnim aufbewahrt hatte, und im Dezember nochmals solche über 46 275 Tl. direkt von dem General ausgehändigt, die er eintreiben wollte, „gleich wehren mir dieselben würcklich cedirt unndt abgetredten". Anscheinend versprach sich Arnim nicht nur von der einflußreichen Stellung Burgsdorfs einen Erfolg, sondern auch wegen dessen starken persönlichen Interesses, da er ihm außerdem selbst finanziell verpflichtet war. In späteren Schreiben ist des öfteren von 8000 Tl. die Rede, die an Burgsdorf gezahlt wurden. 51 Zu durchschauen sind diese Vorgänge oft nicht. Das sehr freie Umgehen mit fremdem Geld war üblich. So lieh Arnim im November 1631 aus sächsischen Ausrüstungs- und Werbegeldern dem Kurfürsten von Brandenburg 50 000 Tl., zu deren Rückzahlung einschließlich der aufgelaufenen 9000 Tl. Zinsen Georg Wilhelm jedoch im April 1635 nicht in der Lage war, so daß als Aushilfe nur die Verpfändung von Ämtern an den Generalleutnant übrigblieb. 52 Am 30. November/10. Dezember 1635 hatte sich die Kassenlage Brandenburgs noch nicht gebessert; der Kurfürst beteuerte, daß „uns alle unsere Mittel zurückbleiben, unndt fast niemandt etwas vorzustrecken hat". 5 3 Wo die zur Verfügung stehenden Machtmittel ein härteres Auftreten ermöglichten, scheute man nicht davor zurück. Dem Herzog von Öls, der ge6 1 Vgl. zu diesen Vorgängen vor allem die Quittung Burgsdorfs über die erhaltenen Obligationen und die Schreiben Arnims an Johann Georg und Elias Pauli, alle vom 18./28. Nov. 1634, sowie undat. Schreiben N r . 171. Karl Spannagel (Konrad von Burgsdorf, Berlin 1903, S. 28, Anm. 2), der die umfangreiche Korrespondenz Burgsdorfs mit Arnim nicht gekannt hat, gibt darüber keine Aufschlüsse.

Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 327. Die endgültige Verrechnung ist erst nach Arnims Tode mit seinem Lehnserben Kurt Ludolf von Arnim erfolgt, vgl. Devrient, Geschlecht v. Arnim, S. 72. 62

53

7 Jahrbudi 12

98

KLAUS

SCHWARZ

beten hatte, den Termin einer Zahlung von 3222 Tl. „noch etwaß weiters hinnauß zu erstrecken", drohte Arnim am 20./30. April die militärische Exekution an. Zur Vermeidung war die kurzfristige Überweisung nötig, die an die Flandrinschen Erben zu Leipzig oder die Sandreutersche Handlung in Frankfurt a. O. erfolgen sollte. Hier zeigt sich, daß Essenbrücher nicht der einzige Bankier war, mit dessen Hilfe Arnim seine Geschäfte tätigte; den Löwenanteil hat allerdings der Berliner Kaufmann behalten. Aber besonders Leipzig bot nach dem Eintritt in den sächsischen Dienst manche Gelegenheit zum Anknüpfen weiterer Beziehungen, wobei Essenbrücher auch selbst anläßlich seiner Messebesuche als Vermittler auftrat. Ebenso kaufte Arnim gern in Dresden bei dem Juwelier Michael Ayrer, der ihm eine Kette und mehrere diamantenbesetzte Kleinodien und Armbänder lieferte, darunter im April 1634 Schmuckstücke für 240 Tl. „dem Oberstltn. Rochow aufs Kindtauffen zum Patengelt". Nach seinem Ausscheiden aus dem sächsischen Militärdienst im Frühsommer 1635 5 4 hielt sich Arnim wieder häufiger in Boitzenburg auf und betrieb den Ausbau des Schlosses weiter. Er wandte sich deshalb an Burgsdorf, damit ihm dieser einen Maurer aus Berlin vermittelte, erhielt aber von dem Obersten am 22. Juni/2. Juli eine für die Situation Berlins aufschlußreiche Vertröstung zur Antwort: „Denn begehrten Maurer wollte ich alsofort gern hinausgeschicket haben; sie seind aber auch dieses Orts zimblich bey nötig, sunderlich guete Maurer, denn deren seind wenig alhier, und die noch hier sein, die sein bereits bey anderen in Arbeit engagiret". 55 Daneben wurde die Essenbrüchersche Handlung wieder zu Warenlieferungen herangezogen. So übersandte Johann Schilling in Abwesenheit seines Schwiegervaters am gleichen Tage ein Faß Rheinwein, so gut wie er „in unserem ganzen Vohrrahtt vorhanden", und 54

Im Juli trat Arnim nochmals als brandenburgischer Gesandter auf und gab ein großes

Bankett. In diesem Zusammenhang erzählt Oberst Christian Vitzthum von Eckstedt, daß er den Gedanken aufgebracht habe, die Offiziere sollten 30 0 0 0 Tl. zusammenbringen und Arnim dadurch „wieder zum Generalat obligiren". Aber sie lehnten das in dem Glauben ab, die Kriegskunst auch ohne ihn zu beherrschen. Vgl. Fr. Budczies, Der Feldzug die Mark Brandenburg

der sächsischen Armee

in:

Märkische Forschungen 16 (1881), S. 306, und dazu Rudolf Graf Vitzthum, Der Verfasser

des

Tagebuches

1635

1635 und 1636. Aus dem Tagebuch

durch

eines Zeitgenossen,

Vitzthumschen

im Jahre

bis 1639,

in: Forschungen zur Brandenburg, u. Preuß. Ge-

schichte 45 (1933), S. 364. 55

Die Zahl der Arbeitskräfte verminderte sich durch die Abwanderung aus Berlin mit der

Zeit so stark, daß der Kurfürst am l . / l l . Sept. 1639 schließlich bei Verlust von Bürgerrecht und Eigentum jeden Wegzug verbot, worauf sämtliche Verordneten und die ganze Bürgerschaft von Berlin und Kölln protestierten, daß es nicht zugelassen werde, „in andere sichere Wege und ö r t t e r sich zu begeben". Die Eingabe ist abgedruckt in den Beiträgen während

des Dreißigjährigen

1872, S. 72 f.

Krieges (=

zur Geschichte

Berlins

Schriften des Vereins f. d. Geschichte Berlins, 6), Berlin

G E N E R A L H A N S GEORG V O N A R N I M

99

zwei Faß Zerbster Bier, wie es in Berlin und Leipzig nicht besser zu bekommen sei. Fünf Tage später ließ er das in der Handlung lagernde Silbergeschirr und Leinenzeug Arnims nach Boitzenburg abtransportieren, dem er Gewürze, Konfekt und Lebensmittel beigab; anderes, darunter ein großes Uhrwerk und ein Gemälde, paßte nicht mehr auf den Wagen und sollte nachkommen. Bei dem Leinenzeug fehlten einige Servietten, „so in dem Pankett wegkgekomen". Außer Essenbrücher hielten nun auch die selbständigen Weilerschen Erben ihre Beziehungen zu dem General aufrecht. An beide Häuser gelangten Briefe, die sie an Arnim weiterleiteten. Die Sachlieferungen erreichten bald wieder einen großen Umfang. Zwischen dem 5./15. Februar und 8./18. Juli 1635 hat Arnim allein von Essenbrücher Gegenstände im Wert von 920 Tl., 14 Gr. erhalten, vornehmlich Kleidung, weiter Kästen und Schlösser, nicht zuletzt aber Gewürze und Delikatessen, deren Vorhandensein in Berlin mitten während des Krieges man kaum vermuten sollte, nämlich Pfeffer, Ingwer, Muskat, Zimt, Rosinen, Mandeln, Kapern, Datteln, Marzipan, spanische Brezeln, Nürnberger Pfefferkuchen, 50 Zitronen, vier Schock Bücklinge, Korinthen-, Mandel-, Kandis- und Zimtkonfekt und anderes mehr. Nicht nur diese Rechnung hatte Arnim zu begleichen, auch ältere Schulden, die sich oft auf mehrere tausend Taler beliefen, kamen auf ihn zu. Erwähnt sei als eines von vielen Beispielen nur, daß Weilers Erben bei der Aufhebung der Sozietät eine Forderung auf 56 Wispel 10 Scheffel Getreide zugesprochen erhalten hatten, die von Essenbrücher 1628 durch Barzahlung von 1600 Tl. begründet worden war. Als die Handlung das Korn bei den Städten Zehdenick, Templin und Lydien, an die sie verwiesen worden war, eintreiben wollte, erklärten diese, Arnim habe ihnen wegen ihrer Verarmung Erlaß der Schulden gewährt. Nun verlangten die Weilerschen am 29. Juli/8. August, Arnim sollte selbst das bare Geld, das er empfangen hatte, zurückzahlen, „weill es Deroselben ein Geringes ist". Desgleichen baten sie nochmals um die Erstattung des Darlehens vom Konventstage 1631, die trotz der Mahnung im November 1634 nicht erfolgt war. Zur Unterstützung der Dringlichkeit ihres Anliegens führten sie an, daß der Oberst Wengersky auf die Rückzahlung eines ihnen gewährten Darlehens bestehe, wozu sie nicht in der Lage seien, „weill unns aus der Handelung nichts als Schulden gegeben worden". Am 28. August/7. September gingen von Essenbrücher wieder Wein, Essig, Zucker und Gewürz ab, am 5./15. September „Spezereien und Waren", am 8./18. September Tuche, Kümmel, Pomeranzenschalen, Zitronat, Seife und welsche Nüsse für 95 Tl., 22 Gr., 6 Pf., am 4./14. Oktober Bernauer Bier;56 58

Weshalb Arnim sich das Bier aus der Mittelmark kommen ließ, wird aus dem Bericht seines Hofmeisters Gottfried von Sparr vom 1./11. Okt. deutlich: „Es ist noch etwa eine Tonne 7*

100

KLAUS

SCHWARZ

Bestellungen Arnims auf einen dreisitzigen Wagen, Gußkannen und Becken liefen bei ihm. Lieferanten, Gläubiger und Darlehenssuchende wußten sehr wohl, daß jetzt die Zeit der Abrechnung gekommen war, um die Arnim einst bei Gustav Adolf und Wallenstein angehalten hatte, während es nun Sache des Kurfürsten von Sachsen war, die im vierjährigen Militärdienst aufgelaufenen Forderungen Arnims zu begleichen. Die sich dabei eröffnenden Aussichten veranlaßten den Herzog Hans Albrecht von Mecklenburg, Koadjutor des Stiftes Ratzeburg, ihn durch Busso Clamor von Arnim am 6./ 16. September um eine Aushilfe von 15 000 bis 20 000 Tl. zu bitten, und sie beflügelten sicher auch Essenbrüchers guten Willen zu immer neuen Lieferungen. 57 Um die Abrechnung voranzutreiben, entsandte Arnim seinen Sekretär Johann Köhler nach Sachsen, der noch vor der endgültigen Feststellung der Gesamtsumme darauf hinweisen sollte, daß Arnim fürs erste mit der sofortigen Zahlung nur der Hälfte einverstanden sei. 58 Anfangs bestand dazu wohl Hoffnung, denn Köhler wurde von Tag zu Tag vertröstet, der Generalkommissar Joachim von Schleinitz werde Geld bringen. Als er schließlich mit leeren Händen eintraf, war Kurfürst Johann Georg „sehr endtrüstet, haben auch gestern den von Schleinitz aufm Schloß alhier vorm Churf. Gemach hart angeredet, undt möchte woll ein Mehres erfolget sein, wanß am anderen Ohrtte geweßen". Die fertiggestellte Abrechnung bezifferte Arnims Forderung auf 58 338 Tl. und wurde ihm mit einem Begleitschreiben übersandt, in dem Johann Georg seinen guten Willen zur Auszahlung zwar beteuerte, gleichzeitig aber darauf hinwies, daß seine geringen Einkünfte für die Unterhaltung der Armee draufgingen; „werdet Euch derhalben biß zu bequemerer Gelegenheit dißfals zu gedulden wissen". Noch am 6./16. März 1637 aber hatte Arnim nicht mehr als das neuerliche kurfürstliche Versprechen erhalten, „mihr edtwas raichen zue lassen". 59 Das letzte Zeugnis des Briefwechsels, das sich im Nachlaß Arnims findet, ist ein Brief Essenbrüchers vom 24. Dezember 1635/3. Januar 1636 an Arnim Bernauhisdi Bihr vorhanden. Wan das aus, weis ich nicht, was Ihr Exellentz trincken werden, dan das Prentzlauwer Bihr ist von dem neuhen Maitz so boß, das es der Her Magister unt die Tromppetter nicht trincken wollen". 5 7 Essenbrüdier hat übrigens nie versucht, seine Ansprüche an Arnim auf dem Klagewege durchzusetzen, so sehr er auch nach der von Rachel, Berliner Großkaufleute . . . , S. 358 gegebenen Charakteristik sonst dazu neigte: „Von den leitenden Personen erweckt vor allem Essenbrüdier den Eindruck eines überaus gewinnsüchtigen, rücksichtslosen Geschäftsmannes. Keiner hat es so viel mit den Gerichten zu tun wie er; es hat den Anschein, als wäre er von seinen zahllosen Prozessen völlig in Anspruch genommen". 6 8 Vgl. dazu die an Arnim gerichteten Schreiben Köhlers vom 6./16. Sept. und 29. Sept./ 9. Okt. und Johann Georgs vom 30. Sept./lO. Okt. 1635. 5 9 Anscheinend hat Arnim nie mehr als 6000 von den 58 338 Tl. erhalten, vgl. Irmer, Hans Georg von Arnim, S. 321 Anm. 4, 351.

101

GENERAL HANS GEORG VON ARNIM

„in Hamburg oder wo S. Exc. anzutreffen". Unzufrieden mit den Bedingungen des Prager Friedens war Arnim aus dem sächsischen Dienst geschieden und nun gezwungen, vor den nach Norden marschierenden Kaiserlichen aus seiner durch neuerliche Einquartierungen schwer bedrückten Heimat 6 0 zu entfliehen, weil er die Gefangensetzung befürchten mußte. Er selbst hatte keine 500 Tl. bei sich und konnte deshalb seine restlichen Schulden an Essenbrücher nicht bezahlen. Dieser drängte jedoch darauf und bat sogar noch um ein Darlehen von 1000 Tl. So stehen sich General und Kaufmann in der Mitte des Krieges gegenüber, der eine auf der Flucht ohne genügende Mittel, der andere dem Konkurs nahe auf der Suche nach einem Geldgeber, der ihn wieder einige Wochen über Wasser hält. Die völlige Zerrüttung von Wirtschaft und Finanzen und besonders der Zusammenbruch des Kreditwesens ließen die Kriegsgewinne, die Essenbrücher nicht zuletzt bei der Beschaffung von Waffen in Arnims Auftrag 6 1 gemacht hatte, schnell zerrinnen. Essenbrücher starb 1639, nachdem er sich mit seinem Sohn über dessen Ansprüche zerstritten hatte. Zurück blieb, wie auch bei der Weilerschen Handlung, 62 ein Trümmerhaufen, der zwar eine unübersehbare Masse von Forderungen enthielt, die aber nicht einzubringen waren, weshalb die eigenen Schulden ungedeckt bleiben mußten. Die Liquidation der Firma war unvermeidlich. 63 Arnim wurde nicht von den Kaiserlichen ergriffen, sondern nach Schweden verschleppt, weil man ihm dort den Übertritt Sachsens auf die kaiserliche Seite in die Schuhe schob und Argwohn gegen sein weiteres Verhalten hegte. 64 Er war so von allen Mitteln entblößt, daß er in Stockholm zugrunde gegangen wäre, hätte nicht Herzog Franz Albrecht mit eigenem Gelde seinen Unterhalt bestritten. 65 Nach abenteuerlicher Flucht kehrte Arnim nach Deutschland zurück, wo er mit schwersten finanziellen Bedrängnissen zu kämpfen hatte. Im Juni 1639 besaß er z. B. nicht mehr als zehn Taler bares Geld. 66 D a 60

Vgl. Devrient, Geschlecht v. Arnim, S. 66 f., Kirchner, Schloß Boytzenburg

61

Es ist klar, daß das vorliegende Material keine sicheren Zahlenangaben über den Umfang

. . S . 291.

der Lieferungen erlaubt. Mit Vorsicht könnte man etwa 40 0 0 0 Tl. als die Summe nennen, die wahrscheinlich die von Essenbrücher für Arnim getätigten Rüstungskäufe verschlungen haben. 62

Zur weiteren Entwicklung vgl. außer der bereits genannten Literatur

Genealogie

der Familie

63

Rachel, Berliner

64

Vgl. Emil Schieche, Schweden

schen Kanzlers

Fr. Budczies,

Zur

Weiler, in: Der Deutsche Herold 19 (1888), S. 158 ff. Großkaufleute

Axel Oxenstierna,

. . ., S. 330, 3 5 9 f. und Nordwestdeutschland

1634. Ein Memorial

des

schwedi-

in: Blätter f. deutsche Landesgeschichte 97 (1961), S. 116 f.

65

Irmer, Hans Georg von Arnim,

66

Irmer, a. a. O., S. 352. Die Wertlosigkeit der Obligationen wird klar, wenn man sich vor

S. 348.

Augen hält, daß dieser am Rande der N o t stehende Mann dem Herzoge Franz Albredit zur Sicherung für dessen Zahlungen in der Zeit der Gefangenschaft am 8./18. Jan. 1640 Schuldverschreibungen über 30 000 Tl. zedieren konnte.

102

KLAUS SCHWARZ

führte er den letzten Frontwechsel durch: er wurde Oberbefehlshaber des kaiserlichen und sächsischen Heeres gegen Schweden. Schon in der Bestallung vom 18./28.März 1641 wird auf sein Alter und „dadurch allgemach entgehende Kreften" 67 aufmerksam gemacht. Einen Monat später, am 18./28. April, verstarb er, ohne noch in seinem neuen Amt tätig geworden zu sein. Seine Verwandten zögerten jahrelang, die Erbschaft überhaupt anzutreten, weil infolge des Fehlens einer Ubersicht niemand die Folgerungen absehen konnte. Sicher hatte auch Arnim wie Essenbrücher riesige Forderungen hinterlassen, aber eine vollständige Eintreibung war ganz ausgeschlossen. In einem Protokoll vom 28. Juni/8. Juli 1644 begegnet uns Essenbrüchers Name in dem hier ausgewerteten ungedruckten Material zum letzten Male, als es nur noch darum ging, eine silberne, inwendig vergoldete Flasche für die Erben Arnims gegen die Ansprüche der Hinterbliebenen des Kaufmanns zu sichern. Krieg und Kriegsgeschäft haben den General bekannt und den Händler vorübergehend reich gemacht; Glück gebracht haben sie beiden nicht.

67

Das Geschlecht von Arnim, I, S. 417.

KARL-ALEXANDER

HELLFAIER

DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT von ihren Anfängen 1814 bis zum Revolutionsjahr 1848 an der Universität Halle-Wittenberg Zu den letzten Arbeiten, die der Jenaer Ordinarius für neuere Geschichte, Karl Griewank, 1 veröffentlichte, gehört die Studie „Die politische Bedeutung der Burschenschaft in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens". 2 Sie ist aus Vorträgen hervorgegangen und fußt auf gedruckten Quellen, Darstellungen und Untersuchungen und war als Beitrag „zur Geschichte der politischen Ideen und Bewegungen in Deutschland im Zeitalter der anhebenden bürgerlichen Revolution" gedacht. Gegen Treitschke, der der Burschenschaft „alle politische Bedeutung" abgesprochen hatte, „weil sie sich nicht eindeutig zum preußischen Staat und seinem alleinigen Berufe zur Führung Deutschlands" bekannte, 3 und gegen die Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Kreise der Burschenschaften selbst kommende „burschenschaftliche Geschichtsschreibung", daß sich die Burschenschaft „der politischen Willensbildung im einzelnen ferngehalten habe und nichts als nur vaterländisch und deutsch habe sein wollen, in der scheinbar parteilosen Haltung, die dann im Zeitalter des Imperialismus immer in Gefahr stand, zu einer kritiklosen Stütze des machtstaatlichen Nationalismus zu werden", 4 kommt Griewank zu dem Ergebnis, daß das Wartburgfest von 1817 einen entscheidenden Punkt in der bisherigen Entwicklung der Burschenschaft bilde, wo zwar noch das Gedankengut der Urburschenschaft: „das schwärmerische Teutonentum und der Gedanke christlich-deutscher Erneuerung" vernehmbar, wo aber auch die „Ablehnung eines fürstlichen Despotismus" deutlich betont wird. 5 Weiter heißt es bei Griewank: „In der Verbrennungsszene 1

Gestorben 1953.

2

Karl Griewank, Die politische Bedeutung

der Burschenschaft

in den ersten Jahrzehnten

Bestehens, in: Wiss. Ztschr. d. Friedrich-Schiller-Universität Jena (1952/53), S. 2 7 — 3 5 . 3 Griewank, a.a.O., S. 27, Sp. 1. 4

Griewank, a. a. O., S. 27, Sp. 2.

5

Griewank, a. a. O., S. 31, Sp. 1.

ihres

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KARL-ALEXANDER

HELLFAIER

auf dem Wartenberg nach der allgemeinen Feier wurden noch klarer bestimmte Fronten gezogen: gegen den absolutistischen Polizeistaat in der Fremde wie daheim (Kamptz' Gendarmerie-Kodex und Code Napoleon), aber auch gegen eine einfache romantische Restauration (Hallers Restauration der Staats Wissenschaften). Wenn somit die Burschenschaft im ganzen von vornherein Träger einer politischen Funktion war und in ihrem Programm politischen Zeitforderungen entsprach, so war freilich die Mehrheit weit davon entfernt, ein politisches Gegenwartsprogramm entfalten oder gar politisch revolutionär auftreten zu wollen." 8 Das Ergebnis Griewanks regte den Verfasser zu vorliegender Studie an; mit ihr soll in concreto die politische Funktion der Burschenschaft in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens festgestellt und dabei mit Griewanks Analyse konfrontiert werden. Angeregt wurde schließlich der Verfasser auch von dem Hinweis Georg Heers, daß für die „Einzelforschung" noch viel zu tun bleibe und sogar seine eigene Darstellung ergänzt und berichtigt werden müsse.7 Heer dachte dabei aber in erster Linie an Quellen burschenschaftlicher Provenienz, mit denen seine Arbeit korrigiert werden sollte; denn behördliches Archivgut hatte ja Heer weitgehend für sein Werk benutzt und dabei die Grenzen in der Aussagefähigkeit und im Erkenntniswert dieser Quellen betont. Obwohl sich auch der Verfasser derselben Quellengattung wie Heer bedient, kann in gewissen Partien die von Heer gewünschte Korrektur mit vorliegender Skizze doch geschehen, die mit der Gründung der halleschen Teutonia am 1. November 1814 beginnt - es handelt sich um die erste burschenschaftliche Verbindung überhaupt - und mit der Teilnahme hallescher Burschenschafter an den Revolutionsereignissen des Jahres 1848 in Halle endet. Die einfache Feststellung, daß der Erkenntniswert einer geschichtlichen Untersuchung oder Darstellung weitgehend abhängig ist von der Aussagefähigkeit, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der herangezogenen Quellen, gilt also auch hier. An archivalischen Quellen benutzte der Verfasser Prozeßakten aus dem Universitätsarchiv der Universität Halle, die zwar keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte vermitteln, aber doch in verschiedenen Partien das bereits 6 7

Ebd. Vgl. Georg Heer, Geschichte

Karlsbader

der deutschen

Beschlüssen bis zum Frankfurter

Burschenschaft.

Wachensturm.

Die Demagogenzeit.

1820—1833

Von

den

( = Quellen und Dar-

stellungen zur Gesdiichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 10), Bd. 2, Heidelberg 1927, S. 336.

DIE POLITISCHE F U N K T I O N DER BURSCHENSCHAFT

105

Bekannte stützen und manche aufschlußreiche Einzelheit aus der Geschichte der halleschen Burschenschaft mitteilen; das gilt besonders für die organisatorische Struktur, die durchweg politischen Motiven Rechnung trägt, und für die im geheimen stattgefundenen Burschentage und sonstigen Zusammenkünfte, auf denen politische Fragen erörtert wurden. Aber eben diese politischen Kriterien lassen sich für Halle mit historiographischen Quellen nur ungenügend fassen, und archivalische Quellen burschenschaftlicher Provenienz können für Halle kaum noch erwartet werden. Um den Grad der Geheimhaltung zu erhöhen, wurden Korrespondenzen zwischen den Burschenschaften der einzelnen Universitäten nach Möglichkeit weitgehend vermieden. „Kuriere" luden mündlich zu Tagungen und Kongressen ein, auf denen aber nicht immer Protokoll geführt oder der Inhalt der Zusammenkunft aktenkundig gemacht wurde. Die Einladungen zu den Burschentagen, an denen Vertreter der halleschen Burschenschaft teilnahmen, erfolgten durch Boten von Universität zu Universität an die Vorstände der Burschenschaften. Die Tagungsberichte der im geheimen stattgefundenen Burschentage von Streitberg (1821) in der Fränkischen Schweiz und Bensheim (1822) an der Bergstraße, zu denen hallesche Burschenschafter erschienen waren, sind aber nicht erhalten. Das aber, was man gelegentlich doch mal in Halle dem Papier anvertraut hatte, wurde verbrannt, wenn Gefahr drohte, entdeckt zu werden; der Nachweis hierfür wird an den entsprechenden Stellen geführt. Daß man burschenschaftliches Schriftgut in der in Frage stehenden Epoche noch gar nicht systematisch sammelte, sondern es ganz einfach im Besitz einzelner Burschenschafter beließ, zeigt der Verbleib der Präsensliste des Wartburgfestes von 1817. Dieses Schriftstück verwahrte der aus Gotha gebürtige ehemalige Wartburgfestteilnehmer Karl Hermann Scheidler, Student der Rechte in Jena, bis zu seinem Todestag am 22. Oktober 1866 „als theures Erinnerungsblatt". Nach dem Ableben Scheidlers „kaufte" aus dessen Nachlaß das Jenaer Burschenschafts-Comite die „werth volle Reliquie" an und Oberappellationsgerichtsrat Dr. Schüler, Jena, gestattete Robert und Richard Keil ihre Benutzung. Seitdem ist sie der Forschung im Faksimile zugänglich. 8 Welche Bedeutung bei dieser Quellenlage dem behördlichen Schriftgut für die Geschichte der Burschenschaften im allgemeinen und besonderen zukommt, haben Paul Wenzke und Georg Heer in ihren Werken in überzeugender Weise 8

Während der Drucklegung erscheint von Günter Steiger: Die Teilnehmerliste

bxrgfestes

von 1817. Erste kritische Ausgabe

der sog. Präsensliste,

des

Wart-

in Bd. 4 der Darstellungen u.

Quellen z. Gesch. der dt. Einheitsbewegung . . ., Heidelberg, S. 6 3 — 1 3 3 mit einer Einführung vorzüglich gelöst.

106

KARL-ALEXANDER

HELLFAIER

dargelegt. 9 Daß der geschichtliche Erkenntniswert historiographischer Quellen gerade von Gerichtsakten, deren sich u. a. auch der Verfasser bedient, nicht immer erreicht werden kann, braucht nicht besonders betont zu werden; liegt doch der Unterschied zwischen historiographischen und nichthistoriographischen Quellen in der Art ihrer Entstehung begründet. Gerade dem Erkenntniswert von Gerichtsakten sind bestimmte Grenzen gesetzt. Ihre Aussagefähigkeit beschränkt sich im wesentlichen eben auf die Aussagen, die die Angeklagten und Zeugen vor dem Gerichtshof zu Protokoll gaben. Die von der Geschichtswissenschaft zur historischen Quelle erhobenen Gerichtsakten halten Prozeßverlauf und Prozeßinhalt wortgetreu fest, sie sind echt, aber ihr geschichtlicher Inhalt muß nicht wahr sein, wie diplomatisch echte Urkunden geschichtlich Unwahres enthalten können. Die Aussagen der Beteiligten, Angeklagte und Zeugen, können absichtliche oder unabsichtliche Unrichtigkeiten und die Protokolle wiederum nicht selten mißverständliche Auffassungen enthalten. 10 Historische Quellen sind eben immer nur Aussagen und nie identisch mit der geschichtlichen Wahrheit. Den Grad ihres Wahrheits- oder Unwahrheitsgehaltes festzustellen, ist Aufgabe der Quellenkritik. In den Partien vorliegender Studie, die nur von einer Quelle gestützt werden konnten, sprach in jedem Fall die innere Wahrscheinlichkeit für die Glaubwürdigkeit des einsamen Quellenzeugnisses. Die von Albert Petzold aus dem Jahre 1898/99 datierende Arbeit über die hallesche Burschenschaft in den Jahren 1826 bis 1834 zeigt, daß für die Verbotszeit der Burschenschaften, die auf die Karlsbader Beschlüsse folgte, gerichtliche Untersuchungsakten die einzige Quelle bilden. 11 Seitdem sind reichlich sechs Jahrzehnte vergangen, ohne daß historiographische oder auch nichthistoriographische Quellen burschenschaftlicher Provenienz für die Geschichte 9

Vgl. Quellen u. Darstellungen . . ., Bd. 6, S. 372 ff. und a. a. O., Bd. 10, S. 337 ff., wo auch

die die burschenschaftliche Verbindung in Halle betreffenden Reposituren mit Angabe des Fundortes verzeichnet sind; vgl. ferner Quellen u. Darstellungen . . ., Bd. 11, S. 241 ff. 10 11

Vgl. a. a. O., Bd. 10, S. 336. Albert Petzold, Die Hallische Burschenschaft

in den Jahren

1826 bis 1834, in: Burschen-

schaftliche Blätter 13 (1898/99), H . 1—6. Ähnlicher Herkunft sind auch: Erkenntnis Mitglieder suchungen

des sogen. Jünglingsbundes und der hierüber

verhandelten

auf Grund Akten,

der zu Cöpenick gesprochen

von dem Königl.

gericht zu Breslau, Halle: Eduard Anton 1826, ferner Hitzigs Annalen ländischen

Kriminal-Rechtspflege,

durch die neben der Bundesversammlung

errichteten

der politischen

Commissionen,

zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde

1827 und 1833 bis 1842 geführt

die

Unter-

Ober-Landes-

der deutschen

und aus-

Neue Folge, hrsg. von Hermann Theodor Schletter, Alten-

burg: Heibig 1846, Bd. 37 und L. Fr. Ilse, Geschichte Commission

wider

stattgefundenen

der

zu Frankfurt

Untersuchungen,

welche

Central-Untersuchungsin den Jahren

sind, Frankfurt/M.: Meidinger Sohn & Comp. 1860.

1819 bis

DIE POLITISCHE F U N K T I O N DER

BURSCHENSCHAFT

107

der Burschenschaft in Halle hätten neu erschlossen werden können. Aus dem Fehlen an Quellen und aus dem Schweigen der vorhandenen wird aber nicht bewiesen, daß nichts geschehen sei, wie auch das Gegenteil nicht bewiesen werden kann. Das sogenannte argumentum ex silentio ist eben gar kein Argument. Aus dieser Quellenlage heraus und aus dem Erkenntniswert des bereits vorhandenen Schrifttums ist es zu erklären, daß manche Frage, die man vielleicht gern noch beantwortet haben möchte, unbeantwortet bleiben mußte; denn die Frage nach der politischen Funktion der Burschenschaft in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens an der Universität in Halle ist nicht nur eine historische, sondern eben auch eine methodische. Eines kann aber schon hier gesagt werden: Die Behörden verfolgten in den Burschenschaften den politischen Gegner, was Prozesse und Verurteilungen auch für die Burschenschaft in Halle beweisen. Für ihre Frühzeit ist die vorzügliche Arbeit von Eduard Dietz 1 2 über „Die Teutonia und die Allgemeine Burschenschaft zu Halle" maßgebend; umfassend ist die Erschließung archivalischer und nicht-archivalischer Quellen und erstaunlich, in welcher Dichte Dietz auch Quellen burschenschaftlicher Provenienz im staatlichen Archivgut erschloß. Was zu diesem Zeitabschnitt (1814-1819) der burschenschaftlichen Entwicklung in Halle zu sagen war, hat Dietz gesagt, mehr ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu erwarten. Mit dem Abdruck der von Johann Georg Christian Wenzel, dem Gründer der „Teutonia", verfaßten „Geschichte der Teutonia", 1 3 der ebenfalls von Wenzel entworfenen „Vorrede" und „Einleitung zu der Verfassung der Teutonia in Halle" 1 4 und ihren „Verfassungsgesetzen" 15 sind zwar nicht alle, doch wichtige Quellen für die politische Funktion der ersten burschenschaftlichen Verbindung überhaupt zugänglich gemacht wordeil. Die aktive Teilnahme hallescher Burschenschafter an den Ereignissen in Halle im Revolutionsjahr 1848 hat die Arbeit von Schmiedecke, die Heer noch nicht kennen konnte, deutlich gemacht. 16 . Manch wertvollen Hinweis verdankt der Verfasser dem Kenner der halleschen Burschenschaftsgeschichte, Herrn Dr. med. Max Flemming, der vor einigen Jahren hochbetagt in Halle (Saale) verstorben ist. Selbst alter Burschenschafter, arbeitete er mehr als zwei Jahrzehnte an einer Burschenschaftskartei 12

Eduard Dietz, Die Teutonia

und die Allgemeine

Burschenschaft

zu Halle (— Quellen u.

Darstellungen, Bd. 2), Heidelberg 1911. 13

Dietz, a. a. O., S. 2 1 8 — 2 2 2 ; über ihre Genesis vgl. S. 217.

14

Dietz, a. a. O., S. 2 7 9 — 2 8 8 .

15

Dietz, a. a. O., S. 2 8 8 — 3 0 5 .

16

Vgl. Adolf Schmiedecke, Die Revolution

1848149 in Halle (Saale), Halle 1932.

108

KARL-ALEXANDER

HELLFAIER

und an Verzeichnissen ehemaliger hallescher Burschenschafter für die Jahre von 1814-1860. 1 7 Aus diesen und anderen Vorarbeiten entstand seine „Geschichte der Hallischen Burschenschaft von 1 8 1 4 — 1 8 6 0 " , die 1935 erschien; 18 sie ist die einzige selbständige Monographie zur halleschen Burschenschaftsgeschichte. Obwohl Schäfers Aufsatz aus dem Jahre 1952 „Freiheitliche Bestrebungen hallischer Professoren und Studenten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" 1 9 bis zu einem gewissen Grade das Thema des Verfassers tangiert und mit der Epoche sogar kollidiert, vermag man die politische Funktion der halleschen Burschenschaft aus dem eben zitierten Aufsatz nicht zu erkennen. Nach Dietz gehört die Teutonia zu Halle „sowohl nach den Umständen und dem Geiste ihrer Gründung wie nach ihren studentischen Zwecken eng zusammen mit der ältesten Jenaischen Burschenschaft". 20 Das ist unbestritten richtig und wird schließlich auch bewiesen von der Tatsache, daß die Initiative für das Wartburgfest von beiden gemeinsam ergriffen wurde. Widrige Umstände aber brachten es mit sich, daß die Einberufung hierzu von Jena allein erfolgte und Jena als der Organisator und Träger des Wartburgfestes in die burschenschaftliche Geschichte - wohl mit Recht - eingegangen ist. Vorort der mitteldeutschen Burschenschaften in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens ist Jena. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß vom Gründungsdatum her die Teutonia in Halle ein wenig älter ist und unter ihrem Einfluß und nach ihrem Vorbild im Mai 1816 in Breslau und im Dezember desselben Jahres in Marburg eine „Teutonia" entsteht. Man kann dies der Teutonia als ein politisches Kriterium werten, das erstmals nach außen sichtbar wird, man braucht es aber nicht. Wenn die Jenaer Burschenschaft in ihrer Anfangszeit - als Einberuferin des Wartburgfestes - und auch in den folgenden Jahren politisch aktiver erscheint, die in Halle steht ihr aber in nichts nach; doch in Jena ist die politische Aktivi17

Die von Flemming besorgten „Listen alter Burschenschaftler in Halle 1 8 1 4 — 1 8 6 0 " und die

Burschenschaftskartei (A—Z-Kartei), insgesamt 3 Pakete, befinden sich in der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle (Saale) unter der Signatur Hist. 376. 18

M a x Flemming, Geschichte

der Hallischen

Burschenschaft

von 1814—1860,

Berlin 1935;

sie wird praktisch fortgesetzt durch seine in Maschinenschrift vorliegende Arbeit Alemannia

a. d.

Pflug, der Flemming angehört hatte. Das Manuskript befindet sich ebenfalls in der Universitätsu. Landesbibliothek Halle (Saale) unter der Signatur Hist. 376. 1 9 Wilhelm Schäfer, Freiheitliche Bestrehungen hallischer Professoren und Studenten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale) 1952, Bd. 2, S. 2 5 7 — 2 7 3 . Der ebd., S. 2 1 3 — 2 2 0 abgedruckte Aufsatz des Verfassers ist wohl mit unzulänglichen Mitteln geführt, die Diktion jedoch nicht immer identisch mit dem vom Verfasser eingereichten Manuskript. 20

Dietz, Die Teutonia . . ., S. 216.

DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT

109

tat wahrnehmbarer; Jena lag nicht in Preußen, Preußen hatte aber keinen Karl-August. Gen Westen ziehende polnische Freiheitskämpfer werden in Jena von Burschenschaftern enthusiastisch gefeiert. Am Hambacher Fest nimmt die Jenaer Burschenschaft mit einem stattlichen Aufgebot teil; das aus Halle fehlt, obwohl man es nicht viel weiter bis Hambach hatte. Von Jena ergeht schließlich die Einladung zum gesamtdeutschen Zusammenschluß der Studenten und zum ersten gesamtdeutschen Hochschullehrertag; somit wird Jena zum Träger auch des zweiten Wartburgfestes 1848. Wenn auch geheime Gruppen in der halleschen Burschenschaft unter dem Einfluß Follens, der seit 1818 in Jena dozierte, entstanden, so besaß doch Halle noch lange keinen Folien. Daß sich diese Gruppen, in denen sich radikale Elemente der Burschenschaften zusammengefunden hatten, weder in Jena noch in Halle durchsetzen konnten, spricht keineswegs für eine politische Inaktivität und gegen die Intensität der von Folien verfochtenen Ideen; das zeigt die Tat Sands, die wohl deshalb eine Einzelerscheinung blieb, weil mit dem Fortgang Follens aus Jena der einzige ernsthafte Verfechter dieser Praxis gleichzeitig auch Deutschland verließ. Zu den burschenschaftlichen Kreisen, die Sands Tat mit „Sympathie und Anteilnahme" (Griewank) begrüßten, läßt sich die Zugehörigkeit hallescher Burschenschafter nicht nachweisen. Sie wirkte auch in der halleschen Burschenschaft nicht als „Fanal zu einer allgemeinen politischen Aktion" (Griewank). Eine geistige Führung, wie sie die Jenaer Burschenschaft in dem Historiker Luden, dem Mediziner Kieser und dem Naturphilosophen Oken in ihrer Frühzeit hatte, fehlte der halleschen vollends. Die „Nemesis" Ludens und die „Isis" Okens, die im Schutz der zuerst in Sachsen-Weimar gewährten Verfassung unter der liberalen Regierung Karl-Augusts erscheinen konnten, waren die „ersten Tribünen politischer Kritik" (Griewank), die die durch den Wiener Kongreß entstandene politische Situation rücksichtslos verurteilten. Entscheidend bleibt die Tatsache, daß dies geschehen durfte. Diesen moralischen Rückhalt hatten die halleschen Burschenschafter nicht. Von einem Bekenntnis der Professoren zu den burschenschaftlichen Zielen hört man nichts. Um den im Jahre 1819 von Breslau nach Halle versetzten Bergrat und Professor der Mineralogie, Karl v. Raumer, sammelte sich zwar ein „bestimmter Kreis von Studenten", der sich täglich gegen Abend in seiner Giebichensteiner Wohnung traf, wie wir von Heinrich Clemen aus Lemgo, einem von Jena 1821 nach Halle übergewechselten Burschenschafter, wissen, 21 doch 2 1 Vgl. Heinrich Clemen, Ein Stück Geschichte meinem Leben, Lemgo 1867, S. 9.

der ersten

deutschen

Burschenschaft.

Aus

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KARL-ALEXANDER HELLFAIER

eine geistige Stütze von nachhaltiger Wirkung scheint auch er ihnen nicht gewesen zu sein. Den Gründer und ersten Teutonensprecher, stud. theol. Johann Georg Christian W e n z e l , geb. 31. Januar 1794 zu Dömitz a. d. Elbe in Mecklenburg, gestorben am 6. Februar 1864 in Rostock als em. Pfarrer und Präpositus von Toitenwinkel, der an den Feldzügen von 1813 bis 1815 zuletzt als Offizier in einem Landwehrbataillon teilgenommen hatte, schildert das Urteil des Kammergerichts vom 29. Juli 1817 als „einen jungen Mann von sehr glücklichen Geistesanlagen, von einer seltenen Charakterstärke und von den besten moralischen Grundsätzen, der überall das Zeugnis eines rechtlichen, untadelhaften Jünglings erhält". 2 2 Stud. med. Pätsch, „von Charakter einer der tüchtigsten und achtungswertesten Jünglinge der ganzen deutschen Burschenschaft", wie ihn der bereits zitierte Heinrich Clemen aus Lemgo bezeichnet, war langjähriger hallescher Burschenschafter. Pätsch stand an der Spitze der „legalen Fraktion" der halleschen Burschenschaft, die mit dem Giebichensteiner Kreis um den bereits genannten Professor v. Raumer identisch ist. 23 „Ernsthafte Studentenführer" (Griewank) gab es also auch in Halle. Ob sie aber über die pädagogischen Fähigkeiten eines Riemann und anderer in Jena verfügten, darüber läßt sich nichts Genaues sagen, da sie in den Quellen keinen Niederschlag gefunden haben. Im Jahre 1821 bezieht der in Bergen auf Rügen geborene Arnold Rüge (1803-1880) die hallesche Universität. Er wird 1824 wegen Teilnahme an einer hochverräterischen geheimen Verbindung - er war einer der Führer des „Jünglingsbundes" - zu 15 Jahren Haft verurteilt, nach 6 Jahren aber wieder entlassen. Von 1831-1839 wirkt er in Halle als Privatdozent für Philosophie, doch vermag er sich hier als Dozent keine Geltung und auch kein Ansehen zu verschaffen: „Sein formloser, abstrakter, ungenießbarer Vortrag stößt allenthalben ab", 2 4 und die „Neugierigen", die sich in den Hörsaal gedrängt hatten, verlaufen sich schnell.25 Aber von 1838-1841 ist Rüge der „anerkannte Führer" der philosophisch-politischen Publizistik in Deutschland. 26 Gemeinsam mit Echtermeyer gründet er in Halle 1838 die „Hallischen Jahrbücher für Literatur und Kunst", die das führende Organ der Junghegelianer werden. Sie erscheinen wegen der preußischen Zensur 1842 als „Deutsche Jahrbücher" in Sachsen, und als sie auch dort der Zensur zum Opfer fallen, gibt sie Rüge 1844 Zitiert nadi Eduard Dietz, Die Teutonia . . ., S. 217. Vgl. Clemen, Ein Stück Geschichte der ersten deutschen Burschenschaft, S. 44 f. 2 4 Hans Rosenberg, Arnold Rüge und die „Hallischen Jahrbücher", in: Archiv für Kulturgeschichte 20 (1930), S. 284. 2 5 Rosenberg, a. a. O., S. 287. 2 6 Rosenberg, a. a. O., S. 285. 22

23

DIE POLITISCHE FUNKTION DER

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BURSCHENSCHAFT

gemeinsam mit Karl Marx in Paris als „Deutsch-Französische Jahrbücher" heraus. Die „mächtige Wirkung" dieses Publikationsorgans soll sich aber nur auf die „geistig bewegliche, neuerungslustige, aufwärtsstrebende Jugend der gebildeten und besitzenden Schichten" der dreißiger und vierziger Jahre beschränkt haben. 27 Daß sie in Halle in studentischen Kreisen „außerordentlich" gewesen sein soll, wie Schäfer behauptet, 28 bleibt Hypothese; mit dem Hinweis, daß sich die Studierenden um jede „neuerschienene Nummer rissen", 29 wie Rudolf Haym, der 1839 in Halle die Universität bezog, berichtet, wird nicht bewiesen, daß ihr Einfluß in studentischen Kreisen an der Universität in Halle groß gewesen ist. Von einer politischen Aktivierung der halleschen Studenten durch Ruges Jahrbücher oder gar durch dessen Tätigkeit als Stadtverordneter ist nichts zu merken: Eine Erörterung sozialer Fragen in burschenschaftlichen Kreisen, die doch Rüge so sehr beschäftigten, läßt sich nicht nachweisen. Audi ein Nachwirken der „Politischen Vorlesungen", in denen der fast 10 Jahre ältere Professor für Philosophie, Hermann Friedrich Wilhelm H i n r i c h s, mutig für „religiöse und politische Freiheit" 2 9 eintrat, läßt sich unter den Studierenden nicht feststellen. An den Ereignissen des Revolutionsjahres 1848 nehmen in Halle lediglich 4 Burschenschafter teil. Das Gros der Studentenschaft verhält sich revolutionsfeindlich. All diese Kriterien und die Tatsache, daß die burschenschaftliche Bewegung mit der Gründung der Teutonia am 1. November 1814 in Halle ihren Ausgang nimmt und 1848 mit dem eben angedeuteten Tenor endet, läßt die Frage nach der politischen Funktion der Burschenschaft in Halle in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens durchaus berechtigt erscheinen. Schließlich gehört Halle neben Jena, Leipzig und Göttingen zu den Universitäten, an denen sich innerhalb der burschenschaftlichen Allgemeinheiten nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) in einer engeren Burschenschaft, den sogenannten „engeren Vereinen", politisch besonders aktive Kräfte zusammenschlössen. Sie sind es, die auf geheimen Burschentagen der Sehnsucht nach Einheit und Freiheit besonderen Ausdruck verleihen. Endlich ist auch Halle einer der beiden Hauptsitze des Jünglingsbundes, in dem sich diese Sehnsucht zu radikal-politischen Forderungen verdichtet, was wiederum besonders für die halleschen Vertreter gilt.

27

Rosenberg, a. a. O., S. 305. Rosenberg beruft sich auf Julius Löwenstein, Hegels

Ihr Doppelgesicht

und Jahrhundert,

Staatsidee.

Berlin 1927, S. 69 ff., S. 81. Für die studentischen Verhält-

nisse in Halle wird mit Löwenstein gar nichts bewiesen. 28

Vgl. Schäfer, Freiheitliche

29

Vgl. Rudolf H a y m , Aus meinem

Rudolf

Haym und die Anfänge

Bestrehungen Leben,

, .

S. 266.

Berlin 1902, S. 104; vgl. auch Hans Rosenberg,

des klassischen Liberalismus,

München, Berlin 1933, S. 13.

112

KARL-ALEXANDER HELLFAIER

Die politische Funktion der Burschenschaft wird besonders in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens an den politischen Kriterien der Epoche gemessen, mit der sie sich auseinandersetzen mußte. Sie verlieh in den machtvollen Demonstrationen des Wartburg- und des Hambacher Festes der Sehnsucht der deutschen Nation nach Einheit und Freiheit Ausdruck und mußte unter den Verfolgungen des Metternichschen Systems, der „Heiligen Alliance", für ihre politischen Ideale leiden. Am 1. November 1814, an dem sich in Halle a. d. Saale die Teutonia zu „Freiheit, Ehre und Vaterland" bekannte, wurde der Wiener Kongreß eröffnet, der nach den Plänen Metternichs Europa unter die siegreiche Reaktion verteilte. Ein halbes Jahrzehnt später senkte sie sich wie ein bleiernes Dach über Deutschland herab und erstickte alles politische Leben; die Zensur machte eine Kritik unmöglich; jede Äußerung, die die Frage der deutschen Einheit berührte, wurde als Hochverrat verfolgt und die Burschenschafter und Turner, die Träger des Einheits- und Freiheitsgedankens, massenhaft in die Gefängnisse geworfen. In der Proklamierung der Karlsbader Beschlüsse (1819), eines Ausnahmegesetzes gegen Burschenschaften und Universitäten, erreichen die Verfolgungen wohl ihren Höhepunkt, nicht aber ihr Ende. 3 0 Ein erschütterndes Bild dieser Zeit hat Fritz Reuter mit bewundernswerter Leidenschaftslosigkeit in seiner „Festungstid" gezeichnet. Das sind die Konturen, in denen die politische Funktion auch der halleschen Teutonia und die der Burschenschaft in Halle während der weiteren Jahrzehnte ihres Bestehens gesehen werden muß. Der Gründungstag der ersten burschenschaftlichen Verbindung in Deutschland datiert vom 1. November 1814; sie entstand an der Universität Halle a. d. Saale und nannte sich „Teutonia". Schon der Name bezeichnet den Gegensatz der neuen Gründung zu den bis dahin bestehenden Landsmannschaften der Märker, Pommern, Preußen, Sachsen und Westfalen. In der „Einleitung zu der Verfassung der Teutonia in Halle" heißt es: „Die allgemeine Burschenschaft soll eine d e u t s c h e seyn; sie soll streben, den v a t e r l ä n d i s c h e n Geist zu erhalten, ihn hervorzurufen, wo er schläft, wo er erschlafft, ihn anzuregen; deutsch wie unser Sinn, sey unsere Sprache, unsere Sitte. In der Burschenschaft entfalte sich der deutsche Gemeinsinn in seiner schönsten Blüthe. Wir haben ein weites, großes V a t e r l a n d und weite große Herzen, in welchen Raum ist für ein ganzes Volk, nicht für eine Landschaft allein. In der Burschenschaft werde die Anhänglichkeit an das Vaterland und 3 0 Vgl. hierzu auch das Handbuch für den Deutschen Burschenschafter. Ehre, Freiheit, Vaterland. Hrsg. von Hugo Böttger, Berlin 1912, S. 45 ff.

DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT

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an den angestammten Fürsten genährt und gestärkt, in ihr erblühe dem Staate nicht nur eine Pflanzschule gelehrter und gebildeter Männer, sondern zugleich eine Pflanzschule von Patrioten. Der innere Sinn spreche sich aus durch das äußere Zeichen. Schwarz und Weiß, die Farbe unseres Volkes, sei auch die unsere; deutsch, einfach und sittig sei die Tracht, die fortan als höchster Schmuck des Burschen gelten soll. Zu unserm Wahlspruch nehmen wir die heiligen bedeutungsvollen Worte: F r e i h e i t , E h r e , V a t e r l a n d." 3 1 Das sind die für die Teutonia wichtigen politischen Kriterien. Deutschland, das „größere Vaterland" (Wentzcke), gab der neuen Verbindung den Namen; von einer „Landschaft", Preußen, aber übernahm sie das „äußere Zeichen", die Farben Schwarz und Weiß. Beide Kriterien sind historisch und politisch begründet. Der von den Studierenden „ersehnte R u f " zum Kampf gegen N a poleon war von den „angestammten Fürsten" erfolgt und nicht von einem deutschen Kaiser; den gab es gar nicht mehr. Deshalb wird in der „Geschichte der Teutonia" „Preußens edlem Herrscher" gehuldigt. 32 In diesem historisch und politisch begründeten Sachverhalt „den Versuch eines Ausgleichs alter und neuer Gedanken" zu sehen, „die in weiterer Entwicklung in Widerspruch geraten konnten", wie Wentzcke meint, 33 überzeugt darum nicht. Der historische Tatbestand ist in diesem besonderen Fall ein reeller und kein ideeller. Im Wahlspruch der Teutonia hat das Wort „Vaterland" einen eminent politischen Inhalt. Vaterland ist identisch mit Deutschland. Das wird unmißverständlich in der Vorrede zur Verfassung zum Ausdruck gebracht. Politisch interpretiert wird auch das Wort „Freiheit": „Nur fr eye Männer soll unser Verein umfassen; wer Sklavensinn hegt, sey ewig fern von unseren Kreisen. Jeder erkenne die Freyheit des andern, jeder zeige durch Wort und That seiner eigenen Freyheit sich würdig und werth. Nicht im Gegenanstreben der Gesetze des Staates, nicht in Störung der öffentlichen Ordnung und Ruhe besteht das Wesen unserer Freyheit; ihr Mißbrauch werde gemieden, denn er ist des freyen Mannes unwürdig und kann der guten Sache nur schaden. Aber Niemand scheue sich, ein muthiges Wort zu reden, wenn man an unsere alte Rechte tasten will." 3 4 3 1 Abgedruckt bei Dietz, Die Teutonia ..., S. 286. Bei der Wiedergabe wurde die alte Schreibweise beibehalten. 3 2 Abgedruckt bei Dietz, a. a. O., S. 219; von „angestammten Fürsten" ist auch in der „Vorrede zu der Verfassung der Teutonia in Halle", bei Dietz, a. a. O., S. 280 die Rede. 3 3 Quellen u. Darstellungen . . Bd. 6, S. 117. 3 4 Abgedruckt bei Dietz, Die Teutonia . . ., S. 285; vgl. auch die „Vorrede zu der Verfassung der Teutonia in Halle", bei Dietz, a. a. O., bes. S. 280 ff.

8

Jahrbuch 12

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K A R L - A L E X A N D E R HELLFAIER

Zu den wenigen burschenschaftlichen Verbindungen, die politische Postulate gegen die deutschen Fürsten erhoben, gehört die hallesche Teutonia jedenfalls nicht. Im Gegenteil, aus dem obigen Zitat wird deutlich, daß sie in der Einigkeit von Volk und Fürsten und in der Befolgung der staatlichen Gesetze das Wesen ihrer politischen Freiheit erblickte. Der Ehrbegriff hat wohl einen sozialen, nicht aber einen politischen Inhalt, wie die „Zweikampfordnung" zeigt; 35 auch dem entsprechenden Passus in der Einleitung zur Verfassung kann man keinen alleinigen politischen Inhalt unterstellen; es heißt dort: „Der freye Mann kann nicht glücklich leben ohne die E h r e . Wer im Verein mit Brüdern lebt, von ihnen geachtet und geliebt zu werden wünscht, der muß trachten, daß sein Werth von ihnen anerkannt werde. In dieser Anerkennung besteht die äußere Ehre; sie gründet sich auf den inneren Werth des Menschen, sofern derselbe aus seinen Handlungen erkannt werden kann. Die innere Ehre ist das Zeugniß des Selbstbewußtseins über unßern eigenen Werth. Ein jeder mag streben, an dieser inneren Ehre zu gewinnen; er thut wohl daran, denn er strebt dem höchsten Gute des Menschen nach. Aber er darf nicht fordern, daß Andre an seinen innern Werth glauben sollen, wenn seine äußere Handlung für das Gegenteil spricht. - Im geselligen Verhältniß tritt nur die äußere Ehre hervor, denn Niemand kann schauen in das Innere des Andern." 36 Neben dem politischen ist doch das soziale Moment deutlich erkennbar, was schon diese kleine Passage zeigt. Gründer und gleichzeitiger Sprecher dieser ersten burschenschaftlichen Verbindung war der bereits zitierte ehemalige Landwehroffizier stud. theol. Christian Wenzel aus Mecklenburg, der seit 1812 in Halle studierte. Ihm verdanken wir bekanntlich die erste „Geschichte der Teutonia", die „Vorrede" und „Einleitung" zur Verfassung. Auch die meisten anderen an der Gründung beteiligten Studierenden hatten bereits vor Beginn des Krieges gegen Napoloen ihr Studium in Halle begonnen; sie waren alle Kriegsteilnehmer. Für die Gründungszeit sind genaue Mitgliederzahlen nicht bekannt. Doch wissen wir, daß mit über 100 Mann die Verbindung im Frühjahr 1815 ausnahmslos ins Feld zieht, als der Krieg gegen Napoleon von neuem ausbricht. Im Sommer 1814 zählte die Universität 331 Studierende. Am 3. März 1817 löste sich die Teutonia formell auf; sie hatte zu diesem Zeitpunkt 114 Mitglieder; welchen Fakultäten sie angehörten, läßt sich nicht mehr nachweisen; ein Mitgliederverzeichnis, das gewiß Aufschluß geben könnte, existiert wohl nicht mehr. In einem demokratischen Wahlverfahren wurden die Vorsteher gewählt und über die Aufnahme neuer Mitglieder entschieden. Aufgenommen werden 35 36

Bei Dietz, a. a. O., S. 301—305. Abgedruckt bei Dietz, a. a. O., S. 285.

DIE POLITISCHE FUNKTION DER

BURSCHENSCHAFT

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konnte jeder „deutsche Bursche ohne Rücksicht auf seinen Geburtsort". 3 7 Aus welchen Gauen die einzelnen Mitglieder kamen, weiß man nicht; auch über die präzise soziale Herkunft der Teutonen läßt sich nichts Genaues sagen; doch sollen sich unter ihnen die „reichsten, glattesten, artigsten, mutigsten Menschen" befunden haben, „welche Gesellschaften besuchen, gut tanzen etc., teils weil sie sich das Ansehen des Mutes geben, welches immer gefällt, und weil sie ihre bösen Grundsätze möglichst verbergen". 38 Das Mitgliederverzeichnis, das vielleicht nähere Auskunft auch über die soziale und landschaftliche Herkunft geben könnte, konnte bisher nicht aufgefunden werden (Flemming); der Teutonensprecher Wenzel hatte es im Frühjahr 1817 der Behörde eingereicht. Um den Vorwurf zu entkräften, die Teutonia sei eine geheime politische Verbindung, hatte Wenzel mit dem Mitglieder Verzeichnisse auch das Verfassungsgesetz und die Versammlungsprotokolle zu den gerichtlichen Akten gegeben; 39 auch letztere konnten bisher nicht aufgefunden werden (Flemming), so daß über die inneren Angelegenheiten der Teutonia nichts gesagt werden kann. Lediglich über die „Pflichten der einzelnen Mitglieder" sind wir durch Dietz unterrichtet: „§ 1. Jeder verpflichtet sich auf Verschwiegenheit über Verfassung und geheime Versammlungsverhandlungen durch sein Ehrenwort. Wer dagegen sündigt, kommt in Verschiß, eine Strafe, die aber durch den allgemeinen Willen der Versammlung gemildert werden kann. § 2. Wird vor dem akademischen Gerichte eine Aussage auf den Eid verlangt, so kann das Ehrenwort nicht länger zur Verschwiegenheit verpflichten. Doch geht die Verpflichtung bis auf den Zeitpunkt, wo der vorgelesene Eid wirklich abgelegt werden soll. § 3. Jeder vermeidet, so viel als möglich, mit Fremden in zu e n g e r Vertraulichkeit zu stehen oder denselben Verpflichtungen schuldig zu seyn." 4 0 Doch sollten bei einer späteren gerichtlichen und disziplinarischen Untersuchung gegen die Teutonia gerade die Bestimmungen über den „gemeinschaftlichen Charakter der Verbindung und über die Geheimhaltung der Verfassung und der Verhandlungen", wie sie der eben zitierte § 1 forderte, nachteilig ins Gewicht fallen. Der Tatbestand einer politischen und geheimen Verbindung schien erfüllt zu sein. 40a 37

Vgl. § 1 „Von der Aufnahme" bei Dietz, a. a. 0 . , S . 290.

38

Aus einem Bericht an den Minister des Innern vom 8. 7. 1817; zitiert nach Dietz, a. a. O.,

S. 251. 39

Vgl. Dietz, a. a. O., S. 226. Dietz vermerkt auf S. 243, daß es sich um die Versammlungs-

protokolle vom Sommersemester 1816 und Wintersemester 1816/17 gehandelt habe. 40

Dietz, a. a. O., S. 293.

4o a Vgl. den interessanten Hinweis auf die Karlsruher Verfassung der Burschenschaft S. 261. 8*

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KARL-ALEXANDER HELLFAIER

Die Auflösung im Frühjahr 1817 war nur eine formelle. Tatsächlich bestand die Verbindung in alter Stärke weiter, als das Sommersemester 1817 begann, und von den nach Halle Ostern 1817 hinzugekommenen Studenten schlössen sich ihr viele als Mitglieder und Anhänger an. Ihre Vertreter trafen am 25. Mai 1817 mit den Vorstehern der Jenaischen Burschenschaft bei dem gemeinsamen Pfingstkommers in Naumburg zusammen, wo von beiden die Vorbereitungen zum Wartburgfest beschlossen wurden. Man einigte sich in dem Beschluß, „um eine engere Verbindung zwischen den deutschen Hochschulen zu erstreben, an alle Universitäten zu schreiben und sie zu einer Versammlung auf die Wartburg zum diesjährigen Reformationsjubiläum auf den 31. Oktober einzuladen". 41 Die Einladungen sollten von Halle und Jena ausgehen und wurden entsprechend verteilt. Zur Ausführung dieses Beschlusses kam es jedoch nicht. Eine Konferenz vom 5. August 1817 beschloß, die zu Pfingsten im Mai 1817 in Naumburg vereinbarten gemeinsamen Einladungen zum Wartburgfest mit Rücksicht auf die in Halle gegen die Teutonia schwebenden Untersuchungen und die wiederholt in diesem Zusammenhang erfolgten Brieferbrechungen von Jena allein besorgen zu lassen; daraufhin erließ Jena am 11. August 1817 das von Robert Wesselhöft unterzeichnete Einladungsschreiben zum Wartburgfest. Als Verbindung beteiligte sich die Teutonia am Wartburgfest nicht, was bedauerlich erscheinen mag, da sie doch die älteste unter den ganzen Verbindungen war. Nur als Einzelpersonen nahmen einige Teutonen am Wartburgfest teil; sie schlössen sich der Jenaischen Burschenschaft an. In die Präsensliste trugen sich acht Teilnehmer ein, sechs von ihnen ließen sich in den Matrikeln ermitteln: stud. med. (F. Th. S.?) Schultze aus Halle, stud. theol. Friedrich Amtsberg aus Kummerow in Pommern, stud. jur. Adolf Friedrich Francke aus Güstrow, stud. theol. Carl Noell aus Merzhausen (Nassau), stud. jur. Carl Bennecke aus Emden (Ostfriesland) und stud. jur. Johann Albert Schallehn aus Rehnitz bei Soldin (Neumark). Sie stammen alle aus dem Bürgertum. Amtsberg, Francke und Noell kommen aus Pastorenkreisen, Schultzes Vater war Obersekretär, Benneckes Bankier und Schallehns Amtmann; so sind die Berufsbezeichnungen in den Matrikeln verzeichnet. Bis auf Schultze, der sich als Berliner in die Präsensliste eintrug, zeichneten sich alle als Studiosi aus Halle ein. Nirgendwo wird berichtet, daß sie während des Festes irgendwie in Erscheinung getreten wären. Daß die Teutonia am Wartburgfest als Korporation nicht vertreten war, hat keineswegs politische Motive. Auch die Gründe, die ihre Selbstauflösung im März 1817 auslösten, waren keine politischen, im Gegenteil: In ihren Gebräuchen und Gepflogenheiten blieb die hallesche Teutonia in der landsmannschaft41

Zitiert nach Dietz, a. a. O., S. 247.

DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT

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liehen Überlieferung stecken; sie scheint von dem alten Rauf- und Renommierwesen nicht besonders abgewichen zu sein, was folgender Vorgang beweist: Ein Theologiestudent, der die Satisfaktion verweigerte, wird am 28. Februar 1817 nach einer Vorlesung auf dem Wege vom „Großen Berlin" nach der Märkerstraße von Teutonen mit Hetzpeitschen mißhandelt. Karl Immermann, der spätere Theaterleiter und Dichter des „Mündihausen" - damals Student in Halle - nahm diesen Vorfall zum Anlaß, die Teutonia als eine geheime Verbindung mit politischen Zielen bei der Regierung zu denunzieren. Sie wurde daraufhin verboten, ihr Sprecher Christian Wenzel, dem das Kammergericht „sehr glückliche Geistesanlagen", „seltene Charakterstärke" und „beste moralische Grundsätze" bescheinigte, als Haupt einer geheimen Verbindung religiert. Er ging mit anderen Teutonen nach Rostock und von dort nach Jena. In die Präsensliste des Wartburgfestes trug er sich als Jenaer ein. Burschenschaftliche Ziele und landsmannschaftliche Traditionen lagen in der halleschen Teutonia eben noch dicht beieinander. Vorrangig figurierte der Ehrbegriff, dann erst kamen Freiheit und Vaterland; denn die Gegenpartei hatte ja auch den „Freiheits- und Vaterlandsgedanken" zum Panier erhoben, wie Griewank richtig bemerkt; und auch die Sprecher der beiden Parteien, Wenzel und Immermann, waren Feldzugsteilnehmer und Offiziere. Am 30. Mai verließ wohl das Gros der Teutonen Halle, es waren nach Dietz die „tüchtigsten und schneidigsten Studenten" der Universität. Die 26 zurückgebliebenen alten Mitglieder der Teutonia scheinen aber den Stamm für die am 12. Januar 1818 gegründete allgemeine Burschenschaft gebildet zu haben, der 112 Studierende beitraten; nach Jahresfrist zählte sie 230 Mitglieder; fast ein Drittel aller Studierenden soll ihr angehört haben. Ihr Sprecher war der ehemalige Teutone Schallehn, der auch am Wartburgfest teilgenommen hatte. Die Verfassung der alten Teutonia bildete die Grundlage der neuen Gründung; doch wurden alle diejenigen Punkte, die bei der Untersuchung gegen die Teutonia als Merkmale einer geheimen Verbindung ausgelegt worden waren, weggelassen. Der Wahlspruch der Teutonia wurde in der Jenaer Reihenfolge „Ehre, Freiheit, Vaterland" übernommen. Ihre Farben waren Schwarz-RotGold. Das Schwarz-Weiß der Teutonia aber blieb in den Federbüschen der Chargierten erhalten. Sie reichte der Universitätsbehörde ihre Verfassung ein, womit der legale Charakter der neuen Verbindung gesichert erschien. Das ist die burschenschaftliche Vereinigung, die am großen Burschentag in Jena im Oktober teilnahm und mit den Abgesandten von 13 weiteren deutschen Universitäten die Verfassungsurkunde der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft vom 19. Oktober 1818 unterzeichnete. Über die soziale und landschaftliche Herkunft der Mitgliedschaft kann wiederum nichts gesagt werden, weil auch hierfür die ein-

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schlägigen Quellen fehlen. Auch die Frage, wie sich die Mitglieder auf die einzelnen Fakultäten verteilen, kann nicht beantwortet werden. Als sich Anfang Februar 1819 Angehörige der Burschenschaft in eine Ausschreitung gegen einen „mißliebigen Halleschen Philister" - es war ein Fleischermeister - verwickeln ließen, wurden der Sprecher Schallehn und neun Vorstandsmitglieder verhaftet. Mit den beschlagnahmten Papieren fielen dem Universitätsrichter auch die Duellbestimmungen in die Hände, die man der Universitätsbehörde nicht mitgeteilt hatte. Der gesetzwidrige Charakter der Burschenschaft galt somit als erwiesen. Die Entlassung der Verhafteten erfolgte unter der Bedingung, daß sich die Burschenschaft „alsbald bei Strafe der Relegation für jedes einzelne Mitglied auflösen mußte" (Dietz). Ein offener Widerstand erschien aussichtslos. Im Gegenteil, da weitere Verhaftungen befürchtet werden mußten, löste sie sich in einer Allgemeinen Versammlung, an der 230 Burschen teilnahmen, am 14. Februar 1819 einstimmig auf. Ein Fortbestehen im Geheimen wurde als burschenschaftlichem Geist zuwider abgelehnt. Diesen Gedanken griffen aber die landsmannschaftlich Gesinnten auf, die sich in der „Pommerania", der „Marchia" und der „Guestphalia" zusammenschlössen. Letzterer traten verschiedene Burschenschafter bei, darunter auch der bereits genannte August Pätsch. Von dem heimlichen Bestehen eines „formlosen burschenschaftlichen Kreises" und zwei Einzelverbindungen, der „Tuskonia" und „Palatina", im Sommer 1819 wird berichtet. Sie sollen Sammelbecken der versprengten burschenschaftlichen Elemente gewesen sein; mehr kann über die Funktion dieser Vereinigungen nicht gesagt werden; auch über den zahlenmäßigen Anteil der Burschen an diesen Neugründungen sind wir nicht unterrichtet. Mit der Auflösung der Burschenschaft am 14. Februar 1819 und dem Aufkommen der eben kurz skizzierten Vereinigungen schließt der erste Abschnitt der halleschen Burschenschaftsgeschichte. Der zweite wird nicht von burschenschaftlicher Seite aus eingeleitet, sondern von den Kräften, die sich vor einem halben Jahrzehnt in Wien neu formiert hatten; seit dem Wartburgfest lagen sie ständig auf der Lauer. Die Ermordung Kotzebues durch Sand am 23. März 1819 in Mannheim und der Mordversuch an dem Nassauischen Regierungspräsidenten Karl von Ibell am 1. Juli 1819 durch einen der Burschenschaft nahestehenden Apotheker, Löning, waren der Beweis für eine weitverzweigte Verschwörung der „deutschen Jakobiner". Ein Ausnahmegesetz, die Karlsbader Beschlüsse, wird im September 1819 über die deutschen Universitäten verhängt. Die Burschenschaften wurden verboten, die Allgemeine Deutsche Burschenschaft hörte auf zu bestehen; an allen Universitäten begannen Untersuchungskommissionen mit ihrer Arbeit.

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In Mainz nahm eine zentrale Untersuchungskommission zur Unterdrückung und Ermittlung demagogischer Umtriebe ihre Arbeit auf, in der bekanntlich Österreich, Preußen, Bayern, Hannover, Baden, Nassau und Hessen-Darmstadt vertreten waren. „Blindwütige Schergen" trieben die politischen Geister der Burschenschaften sogar in die argwöhnisch bewachten Hörsäle zurück. An jeder Universität amtierte ein mit außerordentlichen Befugnissen ausgestatteter Regierungsbeamter. „Die Bundesregierungen wurden verpflichtet, auf Antrag des Regierungsbevollmächtigten sofort und ohne Beachtung formaler Hindernisse Professoren und Dozenten aus ihrem Amte zu entfernen und nirgends wieder anzustellen", wenn diese ihren Einfluß auf die Studentenschaft mißbrauchen sollten. Der Regierungsbevollmächtigte hatte sogar das Recht, die am Ort befindlichen Gerichte in Anspruch zu nehmen und bekam eine weitreichende polizeiliche Aufsicht. Zur Verfolgung burschenschaftlicher Verbindungen, sie mochten förmlich oder formlos sein, wurden die Regierungsbevollmächtigten mit außerordentlichen Vollmachten versehen: Sie wurden ermächtigt, von juristisch schwer zu erlangenden Beweisen abzusehen und lediglich nach ihrer Überzeugung ohne weitere gerichtliche Untersuchung und ohne Mitwirkung des Universitätsrichters und des akademischen Senats Studenten zu entfernen, die sie für verdächtig hielten, unabhängig von der über sie außerdem noch zu verhängenden gerichtlichen Bestrafung. Die alleinige Entscheidung, ja der bloße Verdacht dieses Beamten genügte zur Verweisung von der Universität. 42 Am 18. November 1819 trat der Geheime Regierungsrat und Vizeberghauptmann von Witzleben das Amt des außerordentlichen Regierungsbevollmächtigten an der Universität Halle an. Am 27. August 1819 wurde die Auflösung der halleschen Burschenschaft angeordnet, „falls eine solche bestehe". Am 11. Dezember 1819 rief der Kaiser von Österreich die wenigen in Halle studierenden Ungarn ab, „um seine Staaten vor jeder Ansteckung zu bewahren". 43 Trotz dieser Strafandrohungen und Verbote bestanden noch im Frühjahr 1820 eine formlose burschenschaftliche Allgemeinheit, die bei Kuhnert auf dem Großen Berlin kneipte, und die bereits genannte „Palatina", die Heer als „geschlossene burschenschaftliche Verbindung" bezeichnet, weiter. 44 Am Abend des 18. Juni 1820, dem Gedenktage der Schlacht bei Waterloo, trafen sich zu einer Feierstunde auf der Bergschänke in Kröllwitz, gegenüber der Burg Giebichenstein, etwa 150 Gesinnungsfreunde, die stud. theol. (später med.) August Pätsch, ge42

Textlich auch das nicht wörtlich Zitierte in enger Anlehnung an Wilhelm Schräder, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Berlin 1894, Bd. 2, S. 101 u. 106. 43 Schräder, a. a. O., S. 105. 44 Vgl. Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 2, S. 41.

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bürtig aus der Magdeburger Gegend, leitete. Die Festrede hielt stud. theol. et phil. Christian Reichardt Hildebrand aus Wiesbaden, einer der politisch aktivsten Studenten dieser Zeit an der halleschen Universität. Er forderte Einheit, Beseitigung des Egoismus und des Luxus und Pflege der Wissenschaften. Die Feier schwoll zu einer mächtigen Kundgebung an, als gegen Mitternacht etwa 300 bis 400 Studenten auf dem Ochsenberge bei einem Freudenfeuer auf Marschall Blücher, auf die Gefallenen der Befreiungskriege und auf die noch lebenden Feldzugsteilnehmer ein Hoch ausbrachten und patriotische Lieder sangen. Diese Ereignisse lenkten die Aufmerksamkeit der Berliner Behörden nach Halle, wo der Druck der Behörden immer spürbarer wurde. Die weiteren Zusammenkünfte tarnten sich daher als „Kränzchen" und „Lesegesellschaft"; an ihrer Spitze standen Burschenschafter, die das politische Interesse unter den Studierenden förderten und auf diese Weise ihrer Opposition Ausdruck verliehen. Da dieser Gesellschaft jeder Student beitreten konnte, bezeichnete man sie bald als „Allgemeinheit". Neben einer solchen bestand in Halle im Frühjahr 1820 noch eine „geschlossene burschenschaftliche Verbindung" (Heer), die „Palatina", von der wir nur wissen, daß sie am 18. Juni 1820 mit etwa 20 Mitgliedern in Passendorf an einer von den Landsmannschaften veranstalteten allgemeinen Feier der Studentenschaft teilnahm. Uber die Organisation und Funktion der „Allgemeinheit", die die Form einer Lesegesellschaft annahm, sind wir besser unterrichtet. Für sie hatte der Sprecher der legalen burschenschaftlichen Richtung, August Pätsch, um die Genehmigung mit den eigens von ihm entworfenen Satzungen beim Kurator nachgesucht; sie wurde nicht erteilt, aber auch ein Verbot nicht ausgesprochen. An ihrer Spitze stand zuerst ein fünf-, später ein siebenköpfiger Vorstand; sie war in mehrere Rotten mit 17 bis 19 Mann eingeteilt, denen Rottenführer vorstanden, die wiederum den Ausschuß bildeten. In den Rotten wurden vorwiegend philosophische, historische und politische Schriften gelesen; für die rund 200 Mitglieder stand eine kleine Handbibliothek zur Verfügung, doch außer einer Mitgliederliste, die nicht mehr aufzufinden ist, existiert nichts Schriftliches (Flemming). Das Kunertsche Speiselokal auf dem Großen Berlin, die Gaststätte „Zur Egge" in den Pulverweiden, die 1918 abgerissen wurde, und die Gastwirtschaft „Quelle" in der Kleinen Ulrichstraße (heute Hausnummer 8) waren in der eben genannten Reihenfolge die Tagungsstätten der Lesegesellschaft. Nach ihrem letzten Tagungslokal, der „Quelle", nannte sie sich „Quellengesellschaft"; sie tagte hier bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1823 und ist mit der burschenschaftlichen Allgemeinheit identisch. Den eigentlichen Auftrieb hatte die burschenschaftliche Bewegung schon im Jahre 1820 erhalten. Ende August trafen sich „zahlreiche Mitglieder" (Heer)

DIE POLITISCHE F U N K T I O N DER B U R S C H E N S C H A F T

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der Burschenschaften aus Halle, Jena und Leipzig in Naumburg, wo der für September nach Dresden angekündigte Burschentag vorbereitet worden sein soll. Wer von Halle an dieser Zusammenkunft teilgenommen hat, ist nicht bekannt. Der Burschentag selbst, zu dem der Vorstand der Leipziger Burschenschaft die Initiative ergriffen hatte, fand vom 29. September bis 8. Oktober in Dresden unter dem Vorsitz des Jenaer Robert Wesselhöft statt. Die Universitäten Berlin, Breslau, Erlangen, Heidelberg, Jena, Leipzig, Tübingen und Würzburg waren mit zusammen 15 Abgesandten erschienen. Halle war nicht vertreten und scheint auch gar nicht eingeladen worden zu sein.45 Doch soll nach Dietz gerade der Dresdener Burschen tag die „förmliche Rekonstitution der Hallischen Burschenschaft" eingeleitet haben.46 Heer, der recht ausführlich über die Dresdener Tagung zu berichten weiß, erwähnt einen diesbezüglichen Punkt nicht. Auch scheint zunächst folgender Sachverhalt gegen Dietz zu sprechen: Auf einer Zusammenkunft Jenaer, Göttinger und hallescher Burschenschafter zu Weihnachten 1820 in Sondershausen, also nach dem Dresdener Burschentag, schilderte der hallesche Vertreter, Hildebrand, die Situation in seiner Universitätsstadt; wegen der Gefährlichkeit riet er von der Gründung einer geschlossenen Burschenschaft in Halle ab. Ein Tagungsprotokoll ist nicht vorhanden, und es ist auch fraglich, ob ein solches überhaupt existiert hat (Flemming). Klarheit könnte nur das Protokoll des Dresdener Burschentages bringen; daß ein solches vorgelegen hat, ist anzunehmen, da der Burschentag zwei „Schriftführer" bestellt hatte. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber doch für die Diktion von Dietz; das scheint die weitere Entwicklung der halleschen Burschenschaft in folgenden Monaten zu beweisen: Am 12. Januar 1821 feiern 150 Burschenschafter in Halle mit Vertretern aus Jena und Leipzig den Stiftungstag der halleschen Allgemeinen Burschenschaft. Auf Anregung des von Jena nach Halle übergesiedelten stud. phil. Heinrich Clemen aus Lemgo schließen sich am 28. Juli 1821 dreizehn Mitglieder innerhalb der Quellengesellschaft unter Führung desselben Hildebrand, der noch zu Weihnachten 1820 in Sondershausen von der Gründung einer geschlossenen Burschenschaft in Halle abgeraten hatte, zu einer en4 5 Heer, a. a. O., S. 1 6 ; die Einladung w a r von Leipzig ausgegangen, die das Leipziger V o r standsmitglied K a r l August v . Hase (geadelt 1883), der spätere ev. „Vermittlungstheologe" — er verbrachte als Burschenschafter elf Monate auf der Festung Hohenasperg — an die einzelnen Universitäten überbrachte. Zu diesem Zweck wanderte er am 1 2 . 4 . 1820 von Leipzig aus zu Fuß über Erlangen nach Tübingen, und von da neckarabwärts nach Heidelberg, über Mainz nach Bonn, Köln, Frankfurt und Würzburg, w o er bei den Vorständen der Burschenschaften vorsprach; am 18. Juni traf er in Jena ein. Von Jena scheint er direkt nach Leipzig gegangen zu sein, denn von einem Besuch in Halle wird nichts berichtet. Von Leipzig besuchte er die Burschenschaft in Berlin, die die Einladung zum Burschentag nach Breslau und an die Ostseeuniversitäten weitergab. Vgl. Heer, a. a. O., S. 15 f. 4fi

Vgl. Dietz, Die Teutonia . . ., S. 278.

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geren Burschenschaft zusammen; sie ist mit dem sogenannten „engeren Verein" identisch, wie er sich auch an anderen Universitäten, besonders in Göttingen, Jena und Leipzig gebildet hatte. Der hallesche zählte 30—40 Mitglieder mit einem 7-köpfigen Vorstand an der Spitze. Wie die Quellengesellschaft war auch er in Rotten eingeteilt, denen jeweils ein Mitglied eines 8-köpfigen Ausschusses vorstand. Er bildete, wie Heer richtig sagt, eine „Burschenschaft in der Burschenschaft", seine Existenz wurde aber vor den Mitgliedern der Quellengesellschaft geheimgehalten und tagte im „Rosenthal" vor dem Ulrichstor. D a ß sich der engere Verein als die eigentliche hallesche Burschenschaft betrachtete, beweist wohl auch ein Petschaft mit den Buchstaben H . B., was „hallesche Burschenschaft" bedeutete. Der engere Verein und nicht die burschenschaftliche Allgemeinheit, die Quellengesellschaft, unterhielt mit den engeren Vereinen die Verbindung aufrecht, was besonders für Jena, Göttingen und Leipzig gilt. In der von Hildebrand entworfenen Verfassung heißt es: „Die Hallesche Burschenschaft ist die aus freier Vereinigung hervorgegangene Verbindung hiesiger Burschen, welche sich verpflichtet, als Glied der allgemeinen Burschenschaft die Grundsätze derselben nach Maßgabe der Verhältnisse auf hiesiger Hochschule ins Leben zu führen, nämlich: a) Einheit, Freiheit, Gleichheit aller Burschen untereinander, b) christlich deutsche Ausbildung jeder geistigen und sittlichen Kraft zum Dienste des einen Vaterlandes." 4 7 Die Aufnahmeformel lautete: „Vor dieser ehrenwerten Versammlung wollt Ihr das Gelübde ablegen, das Euch zu unseren Brüdern macht. Ich frage Euch im Namen der Halleschen Burschenschaft feierlich und öffentlich: Habt Ihr erkannt den Zweck, für den wir leben? Haltet Ihr denselben für die heiligste Aufgabe des menschlichen Lebens und die Mittel für notwendig, durch die wir denselben zu erreichen streben? H a t Euch der Geist zu uns geführt und nicht schnöde Verbindungssucht? Seid Ihr Deutsche und wollt Ihr als rechte Glieder eines Volkes für es Euch bilden in der Burschenschaft, mit ihm stehen und fallen? Wollt Ihr die Burschenschaft verteidigen gegen jeden Angreifer, durch jedes Mittel, das der Sittlichkeit nicht widerspricht und notwendig ist, mit Leib und Leben? Darauf gebt Euer Ehrenwort in die Hand des Sprechers!" 48 In Organisation und Funktion unterschied sich der engere Verein kaum der burschenschaftlichen Allgemeinheit; doch wird die Intensität, mit der die Mitglieder des engeren Vereins politischen Fragen widmeten, größer wesen sein. Die politische Einheit Deutschlands unter einem Oberhaupt, 47 48

Zitiert nach Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 2, S. 43. Ebd.

von sich gedie

DIE POLITISCHE FUNKTION DER BURSCHENSCHAFT

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Gewährung einer konstitutionellen Verfassung und der Kampf gegen alles, was die Einheit des deutschen Volkes stört, zählten wohl zu den herausragendsten Postulaten, die der engere Verein erhob. D a ß sich die burschenschaftlichen Politiker mit diesen gefährlichen Forderungen in einem kleineren Kreis sicherer glaubten, liegt auf der Hand. Christian Reichardt Hildebrand, der mit dem Kreis der Brüder Folien, „den Gießener Schwarzen", Beziehungen unterhielt, organisierte Zusammenkünfte auf der Rabeninsel, in Passendorf und in der Dölauer Heide, dem heutigen Stadtwald. In einer solchen Zusammenkunft, die sich nicht genau datieren läßt, soll Hildebrand, wie Arnold Rüge berichtet, folgendes gesagt haben: „Es ist wohl klar, daß Verbreitung des Verlangens nach Einheit und Freiheit des deutschen Volkes, wie sie von Geschlecht zu Geschlecht auf den Hochschulen vor sich gehen wird, wichtig und äußerst notwendig ist; wenn wir das Feuer der Vesta unter uns erlöschen lassen, so ist alles verloren; denn ich bin überall unter dem Volk umhergelaufen, und ich sage Euch, ich hab' es völlig erloschen gefunden. Ich sage daher, es ist unendlich wichtig, daß wir den Regierungen zum Trotz diesen Geist der Freiheitskriege unter uns erhalten; aber es ist damit nicht getan. O h n e H a u n u n d S t e c h e n g e h t es a m E n d e d o c h n i c h t a b. Davon habe ich midi in den Unterredungen mit den Gießenern vollständig überzeugt. Die Burschenschaft hat eine p o l i t i s c h e Aufgabe; wir müssen nicht nur die Bedingungen, wir müssen auch die - Revolution erzeugen." 49 Wenn sich auch der Teilnehmerkreis dieser Zusammenkunft nicht mehr ermitteln läßt, so ist doch aber mit Sicherheit anzunehmen, daß die dort vorgetragenen Ansichten im engeren Verein entwickelt worden sind. Nach Heer dienten die Burschentage von Leipzig im März 1821 und Streitberg Ende September desselben Jahres „im wesentlichen" dem Zweck, sich gegen die Verfolgungen der Behörden zu schützen; gewiß, diesem Zweck dienten sie auch, aber nicht nur diesem allein. In Leipzig „sollen" „Mitglieder" der Burschenschaften von Berlin, Breslau, Göttingen, Halle und Leipzig beraten haben, „wie man den Verkehr zwischen den Burschenschaften aufrechterhalten könne" (Heer). Wer von Halle an der Beratung teilgenommen hat, läßt sich nicht mehr feststellen. An dem von der Würzburger Burschenschaft nach Streitberg in der Fränkischen Schweiz ausgeschriebenen Burschentag - er fand vom 29. September bis 4. Oktober, nach einer anderen Nachricht nur am 29. und 30. September statt - war Halle neben Bonn, Erlangen, Freiburg, Heidelberg, Jena, Leipzig, Marburg, Tübingen und Würzburg mit stud. jur. Karl v. Bonge und Hildebrand vertreten. Die Einladung war durch Boten 49

Arnold Rüge, Aus früherer Zeit, Berlin 1867, Bd. 2, S. 24.

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von Universität zu Universität an die Vorstände der Burschenschaften erfolgt; daß es sich dabei nur um die Vorstände der engeren Vereine gehandelt haben kann, darf mit Sicherheit angenommen werden. Die halleschen Burschenschafter nahmen ohne Wissen der Quellengesellschaft und ihres Vorstandes am Burschentag in Streitberg teil. Obwohl das Tagungsprotokoll nicht erhalten und auch die Abschriften „verschwunden" (Heer) sind, lassen sich, meint Heer, die Ergebnisse der Beratungen mit ziemlicher Sicherheit feststellen. Leider handelt es sich dabei eben nur um die Ergebnisse, die wir zur Kenntnis nehmen, ohne zu erfahren, wie sie zustande gekommen sind. Aufschlußreich wären die Verhandlungen über die „grundlegenden Eingangsabschnitte der Verfassung vom 18. Oktober 1818", deren § 3 folgende Fassung erhielt: „Diese Ausbildung, wie sie die Burschenschaft anstrebt, ist demnach eine christlichdeutsche. Es sollen daher keine Juden und Ausländer als solche aufgenommen werden, weil jene kein Vaterland haben und durch diese die vaterländische Ausbildung gestört wird." 5 0 Mit welchem Erfolg, oder vielleicht auch Mißerfolg, sich die verschiedenen Vertreter um die Konzipierung dieses Paragraphen bemühten, der schon in Dresden, wenn auch nicht in dieser Schärfe, gefaßt worden war, läßt sich nicht einmal andeutungsweise vermuten; ob die beiden halleschen Abgesandten, die am Dresdener Burschentag nicht teilgenommen hatten, für oder gegen die Annahme dieses Textes stimmten, ist völlig unbekannt. Daß man in dieser Frage in Streitberg aber recht einig gewesen sein muß, beweist die Tatsache, daß man Juden sogar die Fähigkeit absprechen konnte, auch nur als außerordentliches Mitglied aufgenommen zu werden. Die weiteren Ergebnisse des Burschentages zeigen, daß die Funktionen der engeren Vereine im Mittelpunkt der Beratungen gestanden haben müssen. Sie sollten zur Sicherung gegen Verfolgungen der Behörden dienen und im Falle einer Auflösung der Burschenschaftsvereine den Kern für eine Neubildung abgeben; sie sollten den „wahren burschenschaftlichen Geist" erhalten, die wissenschaftliche und politische Ausbildung fördern und über alle Angelegenheiten beraten, die sich für eine Besprechung in der Allgemeinheit nicht eigneten. Man erörterte Sicherungsmaßnahmen für die engeren Vereine und überlegte, wie der Verkehr von Universität zu Universität aufrechterhalten werden könne. Für den Briefwechsel wurden Deckadressen bekanntgegeben, nur mit Halle machte man eine Ausnahme; warum gerade Halle keine Deckadresse erhielt, läßt sich nicht mehr feststellen und erklären. Der § 1 der 50

der deutschen Burschenschaft, Bd. 2, S. 24. D a ß in diesem (Über die Gefährdung des Wohlstandes und Chadurch die Juden, Heidelberg 1 8 1 6 ) hingewiesen w e r d e n muß, versteht

Zitiert nach Heer,

Geschichte

Zusammenhang auf J o h a n n Friedrich Fries

rakters der Deutschen sich v o n selbst.

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Verfassung vom 18. Oktober 1818 erhielt folgenden Wortlaut: „Die deutsche Burschenschaft ist die zu einem öffentlichen freien Gemeinwesen verbundene deutsche Jugend auf den Hochschulen."51 Diese Fassung besagte eindeutig, daß die Burschenschaft kein konspirativer Geheimbund sein wolle. Weder von dem stattgefundenen Burschentag noch von dessen Ergebnissen erhielt die hallesche Quellengesellschaft Kenntnis. Wenn wir auch die genauen Beiträge der einzelnen Tagungsteilnehmer nicht fixieren können, so verdient doch festgehalten zu werden, daß erstmals zwei hallesche Burschenschafter an einem Burschentag teilnahmen, über den in dieser Ausführlichkeit berichtet werden kann. Der engere Verein besaß aber in Halle nicht das Wohlwollen der legalen Partei, die von Professor Karl v. Raumer beraten wurde und der August Pätsch vorstand. Beide müssen also von der Existenz des engeren Vereins gewußt haben; sie hatten nach Heer seiner Konstituierung sogar „widersprochen". Ob sich der engere Verein, der inzwischen auf 50 Mitglieder angewachsen war, wegen dieser Diskrepanzen Ende Oktober oder Anfang November (Heer), wenige Wochen nach dem so Erfolg versprechenden Streitberger Burschentag, auflöste oder wegen der gegen die Quellengesellschaft und alle in Halle bestehenden studentischen Verbindungen einsetzenden Untersuchung, oder weil Hildebrand, „die Seele des Ganzen", inzwischen nach Jena übergewechselt war, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Flemming, der die Auflösung des engeren Vereins in eine Versammlung Anfang Dezember 1821 nach Passendorf verlegt, meint, seine Sicherheit sei bei 50 Mitgliedern nicht mehr gewährleistet gewesen. Daß alle die eben aufgeführten Gründe für die Auflösung mehr oder weniger entscheidend gewesen sein können, dürfte der Wahrheit wohl am nächsten kommen. Die auf die Auflösung folgende Entwicklung verläuft zunächst ganz im Sinne des Streitberger Burschentages. Dreizehn Mitglieder des aufgelösten engeren Vereins bilden - nach Heer noch vor den Weihnachtsferien, nach Flemming erst Ende Dezember - den Kern einer neuen engeren Burschenschaft. Auch von der Existenz dieses engeren Vereins erfährt die Quellengesellschaft nichts. Die „Anregung" zu diesem Neubeginn scheint von Hildebrand, der sich vorübergehend in Halle aufhielt, und Clemen, der von Jena gekommen war, ausgegangen zu sein, wie Heer annimmt; zu den Mitbegründern gehörten stud. theol. et phil. Arnold Rüge, v. Willer, v. Bonge und Lange. In der Gründungsversammlung in der Kleinen Ulrichstraße auf der „Quelle" wurde festgelegt, daß jedes Mitglied auch in seinem späteren Leben für Deutschlands Einheit und Freiheit eintreten und für alle deutschen Staaten konstitutionelle Ver51

Zitiert nadi Heer, a. a. O., S. 24.

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fassungen fordern solle (Flemming). Die Zahl der Mitglieder wird von Heer mit 16 bis 18 angegeben, die in drei Rotten geteilt, wöchentlich „politische Kränzchen" abhielten. Die Aufnahme eines neuen Mitgliedes fand erst nach einer sehr vorsichtigen Prüfung statt; und erst nachdem der in Aussicht genommene Kandidat ehrenwörtlich Verschwiegenheit versprochen hatte, erhielt er Kenntnis von der Existenz der engeren Burschenschaft. Die Mitglieder gaben durch Handschlag das Ehrenwort, für die völlige Geheimhaltung des engeren Vereins zu sorgen und in seinem Sinne zu wirken. Die alle drei Wochen stattfindende Vereinsversammlung, in der Angelegenheiten des Vereins selbst und die der Quellengesellschaft erörtert wurden, wählte jedesmal einen neuen Sprecher. Die wichtigste Funktion des engeren Vereins bestand in der Führung der Quellengesellschaft; zu diesem Zweck bildete man innerhalb der Quellengesellschaft sogenannte „homiletisdie Kränzchen", denen jeweils ein Mitglied des engeren Vereins angehörte. Auch in den Vorstand und Ausschuß der Quellengesellschaft lancierte man Mitglieder des engeren Vereins, so daß letzterer die burschenschaftliche Allgemeinheit leiten und beeinflussen konnte. In den homiletischen Kränzchen standen durchweg politische Fragen zur Debatte, der folgendes Schrifttum zugrunde lag: 52 1. Heinrich Luden, Handbuch der Staatsweisheitslehre oder der Politik. Ein wissenschaftl. Versuch. 1811. 2. Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum. Neue Aufl. Leipzig: Rein 1816. 3. Ernst Moritz Arndt, Blick aus der Zeit auf die Zeit. Frankfurt: Eichenberg 1814. VI, 282 S. 4. Josef v. Görres, Deutschland und die Revolution. Coblenz: Hölscher 1819. 2. Aufl. 212 S. 5. Fichte, Reden an die deutsche Nation. Berlin: Realschulbuchhandel 1808. 490 S. 6. Friedrich Saalfeld, Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit. Seit dem Anfang der französischen Revolution. Leipzig, Altenburg: Brodehaus 1815. 52

Die Hinweise bei Heer, a. a. O., S. 45, die bibliographischen Ermittlungen vom Verfasser. * Schweizer Arzt u. Philosoph. 1780—1866. Verfaßte im Sinne Sdiellings romantisch naturphilosophische Schriften. ** Leipziger, Jenaer und Erlanger Burschenschafter und Mitglied des Jünglingsbundes, vgl. Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 2, S. 133 f. *** 1771—1848. Geboren in Magdeburg. Schauspieler, dann Pastor in seiner Heimatstadt. Später Schriftsteller und Politiker. Siedelt 1796 in die Schweiz über, wo er Wortführer des heraufkommenden Liberalismus wird, t 1770—1842. Philosoph. 1805 Nachfolger Kants in Königsberg, Vertreter der Kantschen Philosophie. Lehrte eine Synthesis von Wissen und Sein, t t Nach Inhalt und Abonnentenkreis wohl das „liberalste Blatt", wie Heer richtig betont. Aus den bei Hans Traub {Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken, Leipzig 1933, S. 130, Nr. 2390) gemachten Angaben kann es sich nur um die in Stuttgart erschienene Zeitung gehandelt haben.

DIE P O L I T I S C H E F U N K T I O N DER B U R S C H E N S C H A F T 7. I g n a z P a u l Vitalis Troxler* A a r a u : Beck 1821. 142 S.

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Fürst und Volk nach Buchanan's und Miltons Lehre. 2. A u f l .

8. Ferdinand Herbst,**' Ideale und Irrtümer des akademischen Lebens in unserer Zeit oder der offene Bund f ü r das Höchste im Menschenleben. Zunächst f ü r die deutsche studierende Jugend. S t u t t g a r t : Metzler 1823. X V I I I , 263 S. 9. Heinrich Zschokke,*** A a r a u : Sauerländ 1820.

Vom Geist des deutschen Volkes im A n f a n g des 19. Jahrhunderts.

10. J a k o b Friedrich Fries, Julius und Euagoras oder: Die Schönheit der Seele. Ein philosophischer R o m a n . Bd. 1, 2. Heidelberg: Winter 1822. 11. W i l h e l m Traugott KrugGeschichtliche Zeit. Leipzig: Brockhaus 1823. 12. A d a m Smith,

Darstellung des Liberalismus alter und neuer

Nationalökonomie.

Neben diesen Schriften verfügte die Quellengesellschaft über folgende Zeitschriften und Zeitungen: 1. Ludens „Nemesis". Zeitschrift für Politik und Geschichte (Weimar). 2. Die „Abendzeitung" (Dresden). 3. Das „Morgenblatt für gebildete Stände" (Stuttgart). 4. Das „Oppositionsblatt oder Weimarische Zeitung" (Weimar). 5. „Staats- und Gelehrten-Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten" (Hamburg). 6. Die „Jenaische Literaturzeitung" ( J e n a ) . 7. Das „ J o u r n a l für Deutschland historisch-politischen Inhalts". Hrsg. v. Friedrich Budiholz. Berlin: H a u d e u. Spener 1815. 8. Die Hildburghäuser „Dorfzeitung" (Hildburghausen in Thüringen). 9. Der „Deutsdie Beobachter" ( H a m b u r g ) . 10. Die „Neckarzeitung. Organ für den deutschen Handels- und Fabrikantenstand". 1819 (Stuttgart. Seite 1822 „Neckar Zeitung")."

Diskutiert wurden die französische und spanische Verfassung, ein Thema, das ohne Zweifel im Zusammenhang mit der in der Gründungsversammlung auf der Quelle genannten Zielsetzung des engeren Vereins steht. Sein politisches Profil erhielt er von einem geheimen Bund, der als „Jünglingsbund", „Bund der Jungen" oder auch nur „geheimer Bund" in die Gerichtsakten und somit auch in die burschenschaftliche Geschichtsschreibung eingegangen ist. Ob er als historisches Faktum oder nur in der Fiktion existiert hat, interessiert hier nicht weiter. 53 Tatsache aber ist, daß er in Halle und Jena seinen Hauptsitz hatte und ihm die Mitbegründer des „zweiten engeren Vereins" Hildebrand, Clemen, Rüge, v. Willer, v. Bonge und Lange angehörten. „Eine größere Anzahl Mitglieder" (Heer) des engeren Vereins traten dem „Jünglingsbund" bei, so daß letzterer wiederum als ein „geheimer engerer Bund" in den geheimen engeren Vereinen erscheint. Es ist nicht immer festzustellen, um 53

Ober den Jünglingsbund bei Heer, a. a. O., S. 109—131.

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welchen Geheimbund es sich handelt, was besonders für Halle gilt; auch Heer hat es nicht deutlich machen können. Die engere Burschenschaft wurde, eben weil sie mit dem Jünglingsbund so eng verflochten oder gar identisch war, in die gerichtlichen Untersuchungen mit einbezogen, als die Behörden gegen den Bund der Jungen vorgingen. Es ist anzunehmen, daß in Halle die Mitglieder des Jünglingsbundes fast ausnahmslos auch der engeren Burschenschaft angehörten. In dieser Eigenschaft vertrat Arnold Rüge, damals einer der eifrigsten Verfechter des republikanischen Gedankens, Halle am 27. Mai 1822 in Würzburg, wo die Frage der deutschen Einheit und Freiheit erörtert wurde. Halle war neben Jena einer der beiden Hauptsitze des Jünglingsbundes; eine „erfolgreiche Einwirkung" auf die „Masse der Burschenschaft" besonders in Halle glaubt Heer nachgewiesen zu haben. Es erscheint daher angebracht, die neun „Hauptgesetze" des Geheimbundes, wie sie von Heer überliefert werden, an dieser Stelle zu nennen: 54 1. Zweck des Bundes ist der Umsturz der bestehenden Verfassungen, um einen Zustand herbeizuführen, worin das Volk durch selbstgewählte Vertreter sich eine Verfassung geben kann. 2. Der Bund soll in zwei Teile zerfallen, wovon der eine Männer, die schon im bürgerlichen Leben sind, umfassen soll, der andere dagegen Jünglinge, welche sich noch für dasselbe bilden. Diese sollen der eigenmächtigen Tätigkeit für die Sache entsagen. 3. Dagegen den Befehlen der Obern des Bundes Gehorsam geloben, solange diese Befehle mit ihrer Uberzeugung übereinstimmen. 4. Jedem Mitgliede dürfen nur wenige andere Mitglieder bekannt sein. 5. Jeder soll sich Waffen verschaffen und sich darin üben. 6. Schriftliches darf über diese Verbindung nicht vorhanden sein. 7. Es muß eine Kasse errichtet werden, zu welcher jedes Mitglied Beiträge zu liefern hat. 8. Jedes Mitglied muß einen Eid schwören, von den Geheimnissen der Verbindung nichts zu verraten. 9. Den Verräter trifft der Tod. Dieses radikale Gedankengut scheint in der Tat zumindest in den engeren Verein Eingang gefunden zu haben, denn seine Mitglieder waren verpflichtet: revolutionäre Ideen zu verbreiten und an den Regierungen und Fürsten berechtigte Kritik zu üben. Stud. theol. Gabert aus Paderborn, stud. theol. Huhold aus Heiligenthal im Mansfeldschen - zwischen Könnern und Klostermansfeld - , 54

Zitiert nach Heer, a. a. O., S. 110—111.

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stud. theol. Pirscher aus Oderberg und stud. phil. Wislicenus aus der Eilenburger Gegend sprachen sich für eine Einheit Deutschlands aus, die mit Hilfe einer Revolution erreicht werden müsse. Der erste Schritt zur Erreichung der Einheit Deutschlands solle aber die Schaffung einer allgemeinen einheitlichen Studentenschaft sein, die Vernichtung aller partikularen auf Landschaften gegründeten Sonderbünde. Die Vorstellung, daß die Einheit und Freiheit Deutschlands in einer Republik unter einem Oberhaupt, das den Kaisertitel führen solle, zu verwirklichen sei, erschien dem Jünglingsbund als eine Lösung; nach einem Geständnis v. Bonges, der dem engeren Verein und dem Jünglingsbunde angehört hatte, war dies der Zweck des Bundes; er verfolgte also keineswegs unrealistische Ziele. Auf dem Burschentag im Herbst 1822 hat sich die in Halle vertretene politische Richtung nicht durchgesetzt. Ob die halleschen Abgesandten, die beiden Theologiestudenten Karl Kerlen und Johann Rothert, auch Mitglieder des Jünglingsbundes oder nur Angehörige des engeren Vereins waren, ließ sich zwar nicht ermitteln, doch vermuten. Von einer Teilnahme am Burschentag erfuhr die Quellengesellschaft auch diesmal nichts. Die auf dem Burschentag unter den Abgeordneten vorhandenen Mitglieder des Jünglingsbundes machten aber keinen Versuch, die Burschenschaft in eine aktive politische Verbindung umzuwandeln; im Gegenteil, der Burschentag sprach sich gegen die „überspannten Politiker und politischen Raisoneurs" aus (Heer), engere Vereine wurden aber für erforderlich erachtet. Der Burschentag fand im Odenwald statt. Als Treffpunkt hatte man ursprünglich Speyer, dann aber Bensheim an der Bergstraße bestimmt. Ein weißes Band und bestimmte Fragen und Antworten galten als Erkennungszeichen. Am 24. September trafen die beiden halleschen Vertreter in Bensheim mit den Abgeordneten der Burschenschaften von Erlangen, Heidelberg, Jena, Leipzig, Rostock und Breslau zusammen. Nach Heer begannen die Verhandlungen am 28. September in Amorbach und wurden vom 30. September bis 4. Oktober in Gernheim fortgesetzt. Nach den vom Verfasser herangezogenen Akten aus dem Universitätsarchiv Halle fand die Tagung bereits in Bensheim statt, vom 30. September bis 4. Oktober aber in Zwingenberg, um einer Entdeckung zu entgehen. 55 Auch vom Odenwälder Burschentag, den der Jenaer Demme leitete, ist der Sitzungsbericht nicht erhalten; daß aber ein Protokoll auf der Tagung geführt wurde, steht fest: Alle Tagungsteilnehmer hatten sogar eine Abschrift des Burschentagsprotokolls erhalten. 5 5 Universitätsarchiv G. A. II, 44 (unfoliert).

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Jahrbuch 12

der

Martin-Luther-Universität

Halle-Wittenberg.

Gerichtsakten.

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Die von Heer überlieferten Beschlüsse des Odenwälder Burschentages lassen sich durch die Akten des halleschen Universitätsarchivs ergänzen und bestätigen: 56 1. Der hallesche engere Verein sollte auf dem allgemeinen Burschentag künftig als ein integrierender Teil der Allgemeinen Burschenschaft anerkannt werden. 2. Den Burschentag sollten auch nicht-konstituierte burschenschaftliche Parteien beschicken dürfen. 3. Die Korrespondenz zwischen den verschiedenen Burschenschaften sollte unter geheimen Adressen geschehen; für Halle an den Bäcker Feibig, Grossers H a u s w i r t . . . 4. Im Jahre 1823 sollte eine Versammlung der Studierenden von allen Universitäten Deutschlands - also nicht bloß der Mitglieder geheimer Verbindungen und Vereine - im Teutoburger Walde nach Art des Wartburgfestes stattfinden. Durch einen regen gegenseitigen Besuch sollten die Beziehungen untereinander gepflegt, Schriftliches möglichst vermieden werden. Der Wunsch des Burschentages, sich mit den Behörden auf „möglichst guten Fuß zu stellen", ist ebenso aufschlußreich wie die Empfehlung, „daß es unbedingte Pflicht sei, das Bestehen der Burschenschaft vor Gericht zu leugnen" (Heer). Wenn die Behörden die Teilnahme der beiden halleschen Vertreter am Odenwälder Burschentag nicht verhindern konnten, so waren sie doch schon vor dem Burschentag auf die geheime Tätigkeit der Burschenschaft in Halle aufmerksam geworden, was eine Verfügung des preußischen Innenministers vom Mai 1822 an den außerordentlichen Regierungsbevollmächigten in Halle beweist und worin es heißt: „Aus der gegenwärtigen Untersuchung ergibt sich ohnstreitig und die Notwendigkeit, derselben auf allen Universitäten, nicht bloß des deutschen Staates, sondern auch Deutschlands mit Ernst und Kraft entgegenzutreten... Ich ersuche Sie daher, auch Ihrerseits auf der Ihrer Umsicht anvertrauten Universität gegen diesen fortdauernden Unfug die allernachdrücklichsten Maßregeln zu nehmen und auch dort die gegen diese Verbindung bestehenden Gesetze zur Anwendung bringen zu lassen und daher den akademischen Senat und Universitätsrichter zur strengsten Untersuchung und Bestrafung der Fortsetzung der burschenschaftlichen Verbindung zu veranlassen. Da die Erfahrung auf fast allen Universitäten gelehrt hat, daß die Lesegesellschaften, Resourcen und andere dergleichen Gesellschaften und Ver56

Ebd.

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bindungen nur Vorwand sind, unter welche die burschenschaftlichen Verbindungen fortgesetzt und gehalten werden, so erfordern sie ganz vorzüglich die Aufmerksamkeit sowohl der akademischen als auch der Polizeibehörden." 57 Am 7. Juni 1823 wurde die Quellengesellschaft behördlich aufgelöst. Wieder faßte der engere Verein diejenigen der Quellengesellschaft, die vereinigt bleiben wollten, in kleinen Zirkeln unter der Bezeichnung „Club" zusammen, von denen es 12 oder 13 gab; einem Club gehörten etwa 8-10 Mitglieder an. In dieser Form konnte die Burschenschaft ihre Tätigkeit fortsetzen, der engere Verein blieb ungestört und behielt die dirigierende Funktion wie bisher. Im Sommer 1823 beschlossen die engeren Vereine von Halle, Jena, Leipzig und Göttingen, sich vierteljährlich an einem bestimmten Orte zu treffen, um den Zusammenhang zwischen den Vereinen fester und ihre Bestrebungen einheitlich zu gestalten. Ein solcher Konvent kam am 9. und 10. September 1823 in Harzgerode zustande. Die Vertreter von Leipzig konnten nicht kommen; die Halleschen entsandten Huhold und stud. jur. Adolf Lambeck. Halle und Jena äußerten sich zufrieden über die allgemeine Lage in ihren Städten. Nach einem eingehenden Erfahrungsaustausch beschloß man, die engeren Vereine trotz aller Gefährlichkeit weiter bestehen zu lassen. Burschentage sollten nur von engeren Vereinen beschickt werden. In den Herbstferien suchte stud. theol. Adolf Gabert von Halle verschiedene Universitäten auf, um für die Bildung engerer Vereine zu werben. Er kam nach Würzburg, Heidelberg, Gießen und Marburg und scheint auch in Erlangen und Tübingen gewesen zu sein. Er hatte jedoch keinen Erfolg, so daß die engeren Vereine auf die vier Universitäten Halle, Jena, Göttingen und Leipzig beschränkt blieben. Am 27. und 28. Dezember 1823 fand, wie in Harzgerode verabredet, der Kartelltag der engeren Vereine von Halle, Leipzig und Jena in Halle statt. Der engere Verein in Göttingen hatte sich inzwischen aufgelöst und blieb daher unvertreten. Sprecher der Tagung war Gabert aus Halle. Von Leipzig und Jena waren je drei Vertreter erschienen, während von Halle die meisten Mitglieder des engeren Vereins an den Besprechungen teilnahmen. Ihre Namen sind nicht bekannt. Die erste Sitzung fand am 27. Dezember 1823 auf der Bergschenke in Kröllwitz statt. Auf der Tagesordnung standen der Zweck und die Verhältnisse der engeren Vereine, von denen der in Halle die zahlreichsten Mitglieder hatte. Als Zweck der engeren Vereine stellte man heraus: Verbannung aller Sektiererei und allen Provinzialismus, Verbreitung klarer Begriffe über Volk, Vaterland, Staat und deren gegenseitiges Verhältnis. Aufrechterhaltung und 67



Ebd.

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Sicherung der Existenz und des permanenten Fortbestehens der Burschenschaften auf allen deutschen Hochschulen. Leitung der Burschenschaften durch die engeren Vereine. Der Vorschlag der halleschen Vertreter, unter denen sich Mitglieder des Jünglingsbundes befanden, nötigenfalls auf gewaltsamem Wege die Einheit und Freiheit Deutschlands herbeizuführen, wurde nach längerer Debatte von den Leipzigern und Jenaern abgelehnt. Doch mußte der Neuaufzunehmende von der Notwendigkeit der Einheit und Freiheit Deutschlands überzeugt sein und in dieser Uberzeugung auch handeln. Auch der Vorschlag, innerhalb der geheimen engeren Vereine noch engere zu bilden, fand keine Zustimmung. In der zweiten Sitzung am 28. Dezember vormittags in Passendorf verabredete man für den 1. Oktober 1824 eine Zusammenkunft, die in Leipzig stattfinden sollte. Hier wollte man die inzwischen im Berufsleben gemachten Erfahrungen austauschen. Von den Mitgliedern der engeren Vereine wurde gefordert, sich auch nach ihrer Universitätszeit, wenn sie den Vereinen nicht mehr angehörten, für die Einheit und Freiheit Deutschlands zu betätigen und „burschenschaftliche Ansichten" zu verbreiten. Die dritte Sitzung fand am 28. Dezember nachmittags wieder auf der Bergschenke in Kröllwitz statt. Nachstehende Beschlüsse wurden gefaßt: 5 8 1. Die engeren Vereine sollten dahin wirken, daß auf allen deutschen Universitäten, wo Burschenschaften bestehen, auch geheime Vereine gegründet werden. 2. Nur Burschenschafter sollten Mitglieder eines geheimen Vereins werden können. 3. Die Vereine sollten abwechselnd zusammenkommen und auch von den Burschenschaften gesonderte Burschentage abhalten. 4. Die Mitglieder eines geheimen Vereins sollten „eo ipso" auch Mitglieder jedes anderen Vereins sein. Ob der Vorschlag, mit dem schweizerischen Studentenverband, dem Zofinger Verein, Verbindung aufzunehmen, auch verwirklicht wurde, ließ sich nicht ermitteln. Der Vorschlag, die burschenschaftlichen Verbindungen zu Geheimbünden zu machen, fand keine Zustimmung; daß er von den halleschen Vertretern eingebracht wurde, ist wahrscheinlich. Eine schriftliche Aufzeichnung der Beratungen und Beschlüsse erfolgte nicht. In der hier gebotenen Form sind sie in den Untersuchungsakten verzeichnet; vor Gericht hatte ein Tagungsmitglied diese Aussagen gemacht. Kaum hatte die Konferenz ihren Abschluß gefunden, als noch im Dezember 1823 die Auflösung der Clubs in Halle beschlossen werden mußte. Durch Ver58

Ebd. Vgl. audi Heer, a. a. O., S. 106—107.

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rat des Theologiestudenten Johann Andreas Dietz war es zu einer Entdeckung der Clubgesellschaft gekommen; in die nun einsetzenden Untersuchungen wurden fast alle Mitglieder des engeren Vereins hineingezogen. Ende des Jahres erfolgte Grossers und v. Bonges Verhaftung. Nach anfänglichem Leugnen legte v. Bonge ein Geständnis ab; er gab zu, dem „Jünglingsbund" angehört zu haben. Als Ziel des Jünglingsbundes bezeichnete er, wie bereits an einer anderen Stelle vermerkt, die Einheit und Freiheit Deutschlands in einer Republik, deren Oberhaupt den Titel Kaiser führen sollte. Ruge wurde in Heidelberg verhaftet; in seinem Verhör nannte er 59 Namen, die er als Mitglieder des geheimen Bundes bezeichnete. Auch Hildebrand legte ein umfassendes Geständnis ab. Die Untersuchungen fanden erst im Mai 1824 ihren Abschluß. In den „Untersuchungssachen wider die hier bestehenden burschenschaftlichen Studentenverbindungen" heißt es:59 1. daß sämtliche Mitglieder des engeren geheimen Vereins, so wie die Vorsteher und die Ausschußmitglieder der Clubgesellschaft mit der Relegation zu bestrafen sind - insgesamt 30 Studenten, 2. daß der Studiosus philologiae Johann Christian Zehlicke aus MecklenburgSchwerin, welcher früher hier Vorsteher der Quellengesellschaft, auch Mitglied des engeren Vereins war, jedoch späterhin weder an diesem noch an der Clubgesellschaft teilnahm, mit dem consilio abeundi zu bestrafen . . . , 3. daß alle diejenigen, welche geständlich oder überwiesene Mitglieder der Clubgesellschaft waren, mit dem consilio abeundi zu bestrafen sind - insgesamt 92 Studenten, 4. daß 12 Studenten, welche der Teilnahme verdächtig, jedoch nicht überwiesen sind, mit der Unterschrift consilii zu bestrafen sind, 5. daß die Entscheidung gegen 38 Studenten, die der Teilnahme verdächtig, jedoch wegen ihrer Abwesenheit noch nicht haben vernommen werden können, auszusetzen und vorzubehalten ist. Die meisten von ihnen saßen viele Jahre in Untersuchungshaft und erhielten Strafen bis zu 15 Jahren Festung und durften später kein öffentliches Amt bekleiden. In verschiedenen Fällen setzte man nachträglich das Strafmaß herab. Unter den Verurteilten befanden sich 116 Theologiestudenten, 41 Studenten der Rechte, 6 Studenten der philosophischen und 6 der medizinischen Fakultät. Die große Zahl der Studierenden der Theologie erklärt sich wohl aus der Tatsache, daß die theologische Fakultät die meisten Studierenden hatte. 59

Universitätsarchiv der MLU Halle-Wittenberg G. A. II, 44.

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Wenn sich auch der Geist der Burschenschaft weder relegieren noch konsilieren ließ, so war doch die große Zeit der Burschenschaft in Halle vorüber. Schon im Januar 1824 organisierten sich etwa 40 Studenten; sie feierten am 12. Januar den Stiftungstag der halleschen Burschenschaft. Als die Universitätsbehörde gegen den Festausschuß vorging, blieben die anderen in einer losen Verbindung zusammen, die sich „Biergrafenschaft Passendorf" nannte. Zu ihren Gründern gehörten 14 Mitglieder der aufgelösten Quellengesellschaft; sie trugen scherzhafte Titel und Orden. Flemming vermutet in ihnen den engeren Verein, also die eigentlichen Leiter der neuen Vereinigung. Die Versammlungen fanden in Passendorf ganz öffentlich statt. Auch in dieser „Allgemeinheit" machte man zweimal den Versuch, den burschenschaftlichen Elementen eine festere Organisation zu geben. Wegen der Gefahr verraten zu werden, löste sie sich aber immer wieder auf. Eine Untersuchung gegen diese Bestrebungen führte auch tatsächlich zu einer Verurteilung von 10 Studenten wegen Teilnahme an der „Burschenschaft". Im Urteil heißt es: „Die burschenschaftliche Partei wurde getragen von 10 Studierenden, welche als Burschenschafter bestraft und festgestellt wurden." Audi unter den Studenten galten die Angehörigen der „Biergrafenschaft Passendorf" allgemein als Burschenschafter. Seit 1826 mehrten sich die Versuche, burschenschaftliche Kränzchen innerhalb der Biergrafenschaft zu bilden. Unter dem Siegel größter Verschwiegenheit traf man sich etwa alle 14 Tage auf der Stube eines Mitgliedes. Im Herbst 1826 sollen 10 derartige Kränzchen mit je 5-12 Mitgliedern bestanden haben. Im Sommer 1827 schlössen sich diese Kränzchen zu einem größeren Verein mit einem Ausschuß an der Spitze zusammen. Hier wollte man sich lediglich politisch schulen und erst im späteren Beruf für eine Reform der politischen Verhältnisse eintreten. Uber die künftige Staatsreform war man sich nicht einig. Audi dieser Verein unterhielt Beziehungen zu anderen Universitäten, was der Burschentag von 1830 in Nürnberg beweist. Halle war hier durch zwei Bevollmächtigte - Kruse und Luerssen - vertreten. Mehr geben die Quellen nicht her. Mit ziemlicher Sicherheit kann aber gesagt werden, daß sich das hallesdie Burschenschaftswesen schon Mitte der zwanziger Jahre zu entpolitisieren beginnt, eine Erscheinung, die Griewank für die Gesamtbewegung mit dem Jahre 1833 datiert. Die Julirevolution in Frankreich, die anderen europäischen Revolutionsbewegungen, die Revolten und Putsche in Deutschland, die nicht aufhörten, als die Schüsse der Pariser Revolution längst verhallt waren, machten keinen nachhaltigen Eindruck auf die Burschenschaft in Halle. Auch die polnischen Revolutionskämpfer, die seit dem Herbst 1831 Deutschland durchzogen und

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allgemein von den Burschenschaften als „Vorkämpfer der Ideen der politischen Freiheit und nationalen Einheit" (Griewank) gefeiert wurden, lösten in der halleschen Burschenschaft keine neuen Impulse aus. Auch das nach der Julirevolution nach Deutschland einströmende sozialistische und jakobinisch-demokratische Gedankengut schlug bei der halleschen Burschenschaft keine Wurzeln; es ist fraglich, ob sie damit überhaupt jemals in Berührung gekommen ist. Auch an der in den dreißiger und vierziger Jahren einsetzenden verstärkten Opposition des deutschen Bürgertums gegen die reaktionären Regierungen, die im Hambacher Fest - von radikalen Vertretern des deutschen Bürgertums einberufen - sichtbaren Ausdruck findet, sind hallesche Burschenschafter nicht beteiligt, wie sich auch die Teilnahme hallescher Burschenschafter am Hambacher Fest, auf dem das Schwarz-Rot-Gold dominierte, nicht nachweisen läßt. Eine Revolutionierung der Burschenschaft, wie sie in den Beschlüssen des Stuttgarter Burschentages im Dezember 1832 zum Ausdruck kommt, erfolgte in Halle nicht. In Stuttgart wurden in neun Paragraphen Beschlüsse für eine praktisch-politische Tätigkeit der Burschenschaft gefaßt. Der wichtigste war der zweite; er lautete: 60 „Nachdem die Majorität des Stuttgarter Burschentags ihre Ansicht über den Stand der politischen Dinge in Deutschland dahin abgegeben hatte, daß die Idee der Revolution in der Majorität des Volkes Anklang gefunden habe und somit ein glückliches Resultat einer solchen Bewegung vorauszusehen ist, so bestimmt der Stuttgarter Burschentag, daß die vom Frankfurter Burschentag gegebene Bestimmung der p r a k t i s c h - p o l i t i s c h e n T e n d e n z beibehalten und daß der Weg der R e v o l u t i o n als der einzige für jetzt verfolgt werde. Als Mittel erscheint: 1. Anschließen und Vereinigung zu gemeinschaftlichem Handeln mit dem Vaterlandsverein und womöglich Herbeiführung gänzlicher Vereinigung. Die geschäftsführende Burschenschaft soll beauftragt werden, das baldmöglichst ins Werk zu setzen, die ganze Sache unparteiisch und höchst vorsichtig zu prüfen und Verbindungen demgemäß einzugehen; es versteht sich von selbst, daß ihr unbedingte Vollmacht gegeben wird, Verfügungen an die einzelnen Burschenschaften zu erlassen. 2. Es ist Pflicht jeder Burschenschaft, womöglich durch Schrift und Wort ihre politischen Ansichten allgemeiner zu machen, p o l i t i s c h e Klubs u n t e r B ü r g e r n zu e r r i c h t e n , P r e ß v e r e i n e zu g r i i n 8 0 Zitiert nach dem Handbuch Berlin 1912, S. 163.

für den Deutschen Burschenschafter,

hrsg. von Hugo Böttger,

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d e n , W a f f e n a n z u s c h a f f e n und sich im G e b r a u c h e s e l b e n zu üben.

der-

3. Den Burschenschaften soll erlaubt sein, über ihr formelles Bestehen als Studentenverbindung zu verfügen, wie sie es für nötig und zweckmäßig finden, jedoch findet der Burschentag die Beibehaltung dieser Form für wünschenswert, wo es die äußeren Verhältnisse erlauben. Durch diese Bestimmung wird jedoch das frühere Gesetz aufgehoben, welches die Allgemeinheit verwirft." „Die Erregung einer Revolution, um durch diese die Freiheit und Einheit Deutschlands zu erreichen", wurde also auf dem Stuttgarter Burschentag 1832 ausdrücklich als Ziel der Burschenschaft bezeichnet. Die hallesche Burschenschaft hatte am Stuttgarter Burschentag nicht teilgenommen und war auch 1831 auf dem Frankfurter Burschentag nicht vertreten gewesen, auf den der oben zitierte Beschluß verweist. Ende Januar 1833 teilte der Kieler Tagungsteilnehmer, Waldemar Müller, einigen Mitgliedern des halleschen engeren Vereins die Beschlüsse des Stuttgarter Burschentages mit. Für eine „tätige Politik" oder gar für eine Revolution aber war die hallesche Burschenschaft nicht zu haben, und wenn auch der engere Verein für sich allein die Einführung der revolutionären Zweckbestimmung des Stuttgarter Burschentages in dem Sinne beschloß, jeder müsse künftig überzeugt sein, daß nur mit Hilfe einer Revolution das Ziel der Burschenschaft, die Einheit und Freiheit Deutschlands, zu erreichen sei, so war das doch keineswegs eine Identifizierung mit den in Stuttgart gefaßten Beschlüssen. Der hallesche Verein wollte damit lediglich den Eintritt in den Gesamtverband ermöglichen, von dem er sich für das Verbindungsleben einige Vorteile versprach (Heer). Aber dieser formale Akt des halleschen engeren Vereins genügte, um eine Abschrift der Verfassung der Allgemeinen Burschenschaft zu erhalten, in die bereits der auf dem Stuttgarter Burschentag beschlossene revolutionäre Zweck des Verbandes eingetragen war. Auch am Frankfurter Wachensturm (3. April 1833), der als Aufruf zu einem allgemeinen Aufstand gedacht war, sind hallesche Burschenschafter nicht beteiligt. Wenn das Unternehmen auch völlig mißlang, weil es schlecht organisiert und politisch unzulänglich vorbereitet war, Bürger und Bauern still blieben und die Truppen der Frankfurter Garnison zu den Putschisten nicht übertraten, so bleibt es doch ein politisches Aktivum Heidelberger, Würzburger, Erlanger, Münchner, Gießener und Freiburger Burschenschafter. In Halle wußte man nur ganz allgemein, „daß es in Süddeutschland gäre und eine revolutionäre Bewegung in Aussicht stehe" (König).

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Unter den Teilnehmern befanden sich aber ehemalige hallesche Burschenschafter: der Advokat Franz Gärth, der als Sekretär des Vaterlandsvereins die Verbindung mit den Leitern der Oppositionsgruppen in den verschiedenen Orten Deutschlands, mit den Straßburger Flüchtlingen und dem polnischen R e volutionsausschuß in Paris unterhielt, ein Herold, der 1823 der Quellengesellschaft angehört hatte, und KollhofF, 1 8 2 8 - 1 8 3 0 hallescher Burschenschafter, und ein Dr. Jucho, der im Preßverein in Frankfurt eine führende Stellung hatte. Bald nach dem Frankfurter Wachensturm nahm die geschäftsführende Heidelberger Burschenschaft mit der halleschen Verbindung auf; sie erhielt zur Führung des geheimen Briefwechsels mit der Heidelberger eine Deckadresse und eine Chiffre. Die Heidelberger forderten den halleschen Verein auf, dem Preß verein beizutreten, politische Clubs einzurichten und die Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft von Halle zu beginnen; diese Forderungen entsprachen durchaus den Stuttgarter Beschlüssen. Das Ansinnen, die Burschenschaft in einen politischen Club umzuwandeln, stieß auf geschlossenen Widerspruch, und von einer Zusammenarbeit mit den Bürgern wollte man in Halle nichts wissen. Das veranlaßte wohl den engeren Verein, die Burschenschaft am 30. Mai 1833 aufzulösen. Die in Halle einsetzenden Untersuchungen und Verhaftungen allein erklären das Verhalten der Mitgliedschaft und die schließliche Auflösung der Verbindung nicht: Die Burschenschaft ist entpolitisiert, das allein scheint der entscheidende Tatbestand für die eben skizzierte Haltung der halleschen Burschenschaft zu sein. Ihr Eigentum wurde unter die Mitglieder verlost, und am Tage nach der Auflösung verbrannte stud. jur. Nethe, der spätere Oberbürgermeister von Burg (b. Magdeburg), sämtliche Papiere der Verbindung. D a ß die Burschenschaft im Jahre 1833 an der Universität in Halle im wesentlichen als entpolitisiert angesehen werden muß, wird schließlich durch folgendes Faktum gestützt: Im November 1833 gründete stud. med. Hermann Julius Wagner, später Arzt in Zürich, eine neue Burschenschaft. Die Gründungsversammlung fand ganz im geheimen auf der Stube des stud. theol. Runge statt. Die neue Verbindung nannte sich „Kränzchenverein"; als Zweck des Vereins wurde bezeichnet: Beseitigung des rechtlosen Zustandes in Deutschland, Vereinigung aller deutschen Stämme, Einführung von konstitutionellen Verfassungen und Pressefreiheit. Wagner selbst war Republikaner, die republikanische Staatsform erschien ihm als die beste und den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend die notwendigste. E r wollte jedes Mitglied im Falle einer Revolution zur aktiven Teilnahme verpflichten und forderte nachdrücklich eine Zusammenarbeit mit den Bürgern der Stadt. Für den

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§ 1 des Kränzchenstatuts schlug Wagner folgenden Wortlaut vor: „W i r e n t s c h e i d e n u n s u n b e d i n g t f ü r e i n e R e v o l u t i o n " (Flemming). Wagner drang aber mit seinen Ansichten und Vorschlägen nicht durch. Der engere Verein, der auch hier nicht fehlte, wuchs auf etwa 17 Mitglieder an und sollte sich, um einer Entdeckung zu entgehen, nur jedes Vierteljahr auf der Stube eines Mitgliedes versammeln, und nur in ganz besonderen Fällen sollte man öfter zusammenkommen; im Mittelpunkt der Debatten sollen Verfassungsfragen gestanden haben. Am 7. April 1834 wurde Wagner verhaftet, und da auch eine Verhaftung der übrigen Mitglieder drohte, löste sich der Verein noch im April auf; die Papiere konnten rechtzeitig verbrannt werden. Im Jahre 1836 wurden mehrere ehemalige Mitglieder des Kränzchenvereins zu mehrjährigen Festungsstrafen verurteilt, die aber nicht in voller Höhe abgebüßt zu werden brauchten. Gründungsversuche mit politischen Akzenten machen sich erst wieder im Winter 1842 bemerkbar. Politische Tätigkeit konnte den Beteiligten aber nicht nachgewiesen werden, so daß etwa 27 Studenten nur disziplinarisch von der Universitätsbehörde bestraft werden konnten. Die nun noch folgenden wenigen Organisierungsversuche tragen kaum noch politische Kriterien; sie sind jedenfalls als solche nur schwer zu erkennen. Diese Feststellung resultiert nicht nur aus einer ungünstigen Quellenlage, sondern scheint wohl auch dem historischen Sachverhalt durchaus zu entsprechen; denn die allgemeine Situation im studentischen Leben der dreißiger und vierziger Jahre bis zur Revolution von 1848 bestimmt auch das Bild der halleschen Universität: Die Burschenschaften spalten sich, und Sonderbünde kommen auf. In Halle entsteht 1841 der „Wingolf". Aus einer Reaktion gegen diese Entwicklung im studentischen Vereinswesen entstand bekanntlich der „Progreß". Die Progreßstudenten wollten freie Staatsbürger und nicht Angehörige eines Standes sein. Sie forderten daher die Beseitigung der akademischen Gerichtsbarkeit, die sie von den übrigen Bürgern schied, und lehnten das Duell ab, das sie als Vorrecht einer Sonderklasse ansahen. Alle Schranken zwischen Studenten und Bürgern sollten beseitigt werden. Im Progreß hatte sich ohne Zweifel viel Gedankengut des Stuttgarter Burschentages von 1832 erhalten. Auch in Halle entstand eine Progreßbewegung. Ihre politischen Kräfte scheinen sich am 6. März 1848 im Kränzchen der „Fürstenthaler" zusammengeschlossen zu haben, das keine Verfassung hatte. Daß aber einige seiner Mitglieder auf dem Boden des Stuttgarter Programms standen, wird bewiesen durch ihre aktive Teilnahme an der Revolution und durch ihre Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft. Mit Nachdruck sei betont, daß diese Feststellung

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nur für eine Handvoll Beherzter zutrifft. Unbekannt ist die Mitgliederzahl des Fürstenthaler Kränzchens, das nach seiner Tagungsstätte, einer Gastwirtschaft „Zum Fürstenthal", gegenüber der Moritzburg in einem großen Garten gelegen, seinen Namen hatte. Seine Farben waren Schwarz-Rot-Gold. In ihrem inneren und äußeren Verbindungsleben sollen die Fürstenthaler durchweg ohne Tadel und vorbildlich in ihren wissenschaftlichen Leistungen gewesen sein. Aber dieses Progreßstudententum bestimmte im Revolutionsjahr keineswegs das politische Profil der Universität, ja nicht einmal das der Studentenschaft. Konservativ-monarchisch sind bereits die meisten studentischen Verbände, und die Mehrheit der Studenten verhält sich der Revolution gegenüber durchaus ablehnend. Dem Vorbild der Wiener Studenten eiferten die halleschen nicht nach. Ein Teil der Studentenschaft bejahte zwar die durch die Revolution erreichten politischen Maßnahmen, an einer aktiven Teilnahme an der Revolution war sie aber nicht interessiert. Dieses „loyale Verhalten" lobte das preußische Königspaar sehr, als es am 19. August durch Halle kam. Die Gründe für dieses loyale und sogar revolutionsfeindliche Verhalten der halleschen Studentenschaft gegenüber der Revolution sind komplexer, als daß sie in einer solchen Studie in allen Einzelheiten untersucht und belegt werden könnten, doch kann man sie mit Sicherheit vermuten. Die damals überwiegend der pietistisch-orthodoxen theologischen Fakultät angehörenden Studenten fürchteten im Falle einer aktiven Teilnahme an der Revolution ihre Stipendien und Freitische zu verlieren. Dieser Umstand erklärt wohl bis zu einem gewissen Grade ihre passive Haltung. Die drei Studenten der Theologie Ehrlich, Pösche und Rütenik bilden allerdings eine unübersehbare Ausnahme auch für den Fall, daß sie keine Stipendienempfänger gewesen sein sollten; denn dem Einfluß der konservativen und kirchlichorthodoxen Professoren Heinrich Leo und Tholuck, die ihre Vorlesungen Tholuck auch seine Predigten - in den Dienst der Politik stellten, waren die drei genannten Theologiestudenten gleichermaßen ausgesetzt. Aber auch der größere Teil der halleschen Professorenschaft war konservativ und revolutionsfeindlich eingestellt. Diese „loyale", konservativ-monarchische, revolutionsfeindliche Haltung war typisch für die politische Physiognomie der halleschen Professoren- und Studentenschaft im Revolutionsjahr 1848. Die Kenntnis von einer aktiven Teilnahme hallescher Studenten an den revolutionären Ereignissen in der Stadt verdanken wir der bereits zitierten Schrift von Adolf Schmiedecke,61 der 6 1 Vgl. Adolf Schmiedecke, Die Revolution 1848149 in Halle (Saale), Halle 1932, an verschiedenen Stellen.

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allerdings keine besonderen Forschungen nach der Haltung der Studentenschaft angestellt hat, da diese nur mittelbar das Thema seiner Arbeit tangierten; eine spezielle Untersuchung fehlt also immer noch. Heers Behauptung, daß hallesche Studenten, unter ihnen besonders Fürstenthaler, im März nach Berlin gefahren sein sollen, um an den Revolutionskämpfen in der Hauptstadt teilzunehmen, dort aber „natürlich" zu spät angekommen seien,62 bleibt unbewiesen. Richtig ist vielmehr, daß sich unter den 500 Bürgern der Stadt, die am 23. März zur Begräbnisfeier der „Märzgefallenen" nach Berlin fuhren, Studenten befanden, in Berlin aber zu spät eintrafen, da die Beisetzungsfeierlichkeiten bereits am Tage davor stattgefunden hatten. Weder die Zahl noch die Namen oder Fakultätszugehörigkeit der studentischen Berlinfahrer lassen sich mehr ermitteln. Ob die bereits genannten Theologiestudenten Rütenik, Pösche und Ehrlich zu ihnen gehörten, ist nicht bekannt. Stud. theol. R ü t e n i k , Sohn eines Pfarrers aus der Provinz Brandenburg, wird als eifriger Demokrat und Republikaner bezeichnet. In der Bürgerversammlung am 19. August forderte er die Rückberufung Professor Niemeyers aus der preußischen Nationalversammlung, wo Niemeyer ausdrücklich erklärt hatte, daß er an seinem Mandat festhalte, das ihn zur Vereinbarung einer Verfassung mit der Krone verpflichte. Am 27. August erklärte Rütenik vor mehr als 3000 Versammlungsteilnehmern von der Rednertribüne herab, daß „man einem Könige, der sich energisch gesträubt habe, dem Volke eine Konstitution zu geben und sich dazu vom Volke habe zwingen lassen, nicht trauen dürfe . . . " , und „wer solche Äußerungen tue, könnte kein braver Mann sein". Rütenik kam wegen Majestätsbeleidigung in Untersuchungshaft, es gelang ihm aber zu entkommen. Noch im Jahre 1848 ging er nach Amerika, wurde 1849 Lehrer in Cambridge (USA), 1853 reformierter Prediger in Toledo (USA), 1868 Pfarrer in Cleveland, wo er am 22. Februar 1914 starb. Stud. theol. Theodor Friedrich Wilhelm P ö s c h e aus Zöschen bei Merseburg stammt aus einer Lehrerfamilie. Er war Junghegelianer und sehr redegewandt; in einem Kolleg widersprach er sogar dem Historiker Heinrich Leo, der, einst Burschenschafter „radikal-revolutionärster" Richtung in Jena und Freund Karl Follens und Karl Sands, von Rüge später als „Goliath der Reaktionäre" 63 bezeichnet, nunmehr einen „konservativen fürsten- und adels82 Vgl. Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 3, S. 179. D i e kleinen biographischen Skizzen v o n Rütenik, Pösche, Ehrlich und K a u l f u ß aus der Burschenschaftskartei Flemmings. 63 Vgl. Albrecht Timm, Das Fach Geschichte in Forschung und Lehre im 19. Jahrhundert an der Universität Halle-Wittenberg, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, H a l l e (Saale) 1952, Bd. 2, S. 291—293.

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treuen deutschen Nationalgedanken" vertrat (Griewank). Pösche gehörte der burschenschaftlichen Verbindung Salingia an, von der sich am 29. Juni 1848 eine demokratische Minderheit getrennt hatte; daß Pösche zu dieser gehörte, ist wahrscheinlich. E r selbst war schon seit dem Sommer 1847 politisch sehr aktiv und Vorstandsmitglied im „Volksverein", in dem sich im April 1848 das demokratische und republikanische Bürgertum von Halle zusammengeschlossen hatte. Pösche selbst bekannte sich „prinzipiell zur republikanischen Staatsform". Auf dem Demokratenkongreß im Oktober 1848 in Berlin war Pösche sogar der Vertreter des halleschen Volksvereins. Dem Kongreß, der die Robespierrsche Erklärung der Menschenrechte annahm, lag bekanntlich ein marxistisches Programm vor; der Berichterstatter der Kommission für die Arbeiterfrage, die dieses Programm entworfen hatte, war Friedrich v. Beuset aus Köln, ein enger Mitarbeiter von K a r l M a r x , ehemals preußischer Offizier. Pösche flüchtete nach den Vereinigten Staaten, wo er sich zunächst als Privatlehrer und dann als Redakteur eines großen deutschen Blattes betätigte. Später wurde er Sekretär des Schatzamtes und verhandelte 1878 im Auftrage des Präsidenten Grant mit Bismarck wegen des Tabakzolles. Stud. theol. Heinrich Wilhelm E h r l i c h , Sohn eines Bauern aus dem Landkreis Erfurt, verlas am 18. Mai in einer Bürgerversammlung eine Mißbilligungsadresse an die Regierung, die sich gegen die Rückberufung des Prinzen von Preußen richtete. Die Adresse wurde in einer Gaststätte zur Unterzeichnung ausgelegt und auch von 37 Personen unterschrieben. Eine Schar „königstreuer Fleischer" bemerkte hierzu schriftlich, daß sie mit dem Inhalt der Adresse nicht einverstanden sei. Einige Arbeiter vernichteten schließlich das Schriftstück. In einer Bürgerversammlung am 16. August beantragte Ehrlich, die Bestrebungen des Ministeriums, die städtischen Rechte zu beschränken, zurückzuweisen. Der Antrag Ehrlichs bezweckte einen engeren Zusammenschluß der Bürgervereine in der Provinz Sachsen, um der Reaktion wirkungsvoller entgegentreten zu können. In der Bürgerversammlung am 23. August agitierte Ehrlich - er war Redakteur der halleschen „Demokratischen Zeitung" - gegen die Haltung des Abgeordneten Niemeyer in der preußischen Nationalversammlung. Die Volksversammlung am 27. August, von Demokraten einberufen, sprach daraufhin Niemeyer ein Mißtrauensvotum aus. Noch im Jahre 1848 flüchtete Ehrlich nach Frankreich, wo er 1849 in Straßburg die Stelle eines Sprachlehrers annahm. 1857 wohnte er in Sunderland (England) und wurde 1870 Direktor einer höheren Privatschule in Jade Penace bei Newcastle (Tyne, England), wo er am 25. Juli 1897 starb. Stud. med. Adolf K a u l f u ß - seine Verbindungszugehörigkeit konnte nicht festgestellt werden, doch scheint er Fürstenthaler gewesen zu sein Sohn

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eines Justizbeamten aus Posen, nannte in einer Volksversammlung am 30. September das Ministerium Camphausen ein „Lügenministerium", weil es die Revolution verleugnet habe, und auch das Ministerium Auerswald-Hansemann sei ein solches, weil es dem Volke die versprochene Freiheit vorenthalte; auf einem Demokratenkongreß in Halle im September brachte er ein „Hoch auf die materielle, blutige Revolution aus". Als das hallesche Bataillon zur Verstärkung der Regierungstruppen nach Berlin abmarschieren sollte, versammelte sich am 13. November eine große Menschenmenge auf dem Marktplatz, um den Abmarsch der Truppen zu verhindern. Hier traten Pösche, Ehrlich und Kaulfuß auf und erklärten, die Soldaten dürfen ihre Waffen nicht in den Dienst der Reaktion stellen und sie nicht gegen die Freiheit des Volkes richten. Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht; Oberst Blumenthal machte den Abmarschbefehl rückgängig, denn die Erregung unter der Einwohnerschaft war zu groß. Am 19. November erreichte die revolutionäre Bewegung in Halle ihren Höhepunkt. Als Protest gegen die Auflösung der preußischen Nationalversammlung riefen Kaulfuß und Ehrlich am 19. November auf dem Marktplatz die Einwohnerschaft zur Steuerverweigerung auf. Am gleichen Tage sollte auch die Landwehr eingekleidet und nach Magdeburg verlegt werden. Wieder forderten Pösche, Ehrlich und Kaulfuß die zahlreich versammelte Menge auf, die Einkleidung und den Abmarsch der Landwehr zu verhindern. Pösche versuchte die Landwehrmänner sogar zur Gehorsamsverweigerung zu bewegen. Von den Bürgerkompanien bereits umstellt, forderten die drei Studenten die Versammelten zur Absetzung der Behörden auf, zur Beschlagnahme der staatlichen Kassen und zum Ungehorsam gegen die Landwehroffiziere. Der Verhaftung entzogen sich die drei Studenten durch die Flucht. Gegen Pösche, Ehrlich und Kaulfuß wurden Haftbefehle erlassen und eine steckbriefliche Fahndung angeordnet. Eine bewaffnete studentische Ordnungstruppe suchte vergeblich nach ihnen; alle drei entkamen; seitdem wurden die Fürstenthaler streng überwacht. Kaulfuß wurde 1849 Lehrer in Straßburg, kam 1850 nach Paris und wurde 1853 Professor für Musik in Montpellier. Hier starb er am 1. Mai 1869. Ehrlich und Rütenik gehörten bis zu ihrer Flucht den „Fürstenthalern" an, die politisch ganz links standen und die noch am 9. November 1849 des Todes Robert Blums gedachten, der als maßgebender Vertreter der „Linken" im Frankfurter Parlament gegolten hatte und es in der Tat auch gewesen war. Von den anderen Fürstenthalern konnte nur wenig ermittelt werden. So kämpften zwei Fürstenthaler, die beiden Theologiestudenten Georg Längin und Julius Engler, beide aus Baden gebürtig, unter Hecker in Baden. Am

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Krieg gegen Dänemark nahmen ebenfalls zwei Fürstenthaler teil. Der eine, stud. jur. Adolf Günther, bei Eisleben geboren, wanderte 1857 nach Amerika aus, wo er als Major am Sessionskrieg teilnahm. Als Schriftsteller starb er am 18. Juni 1896 in Fond du Lac (Wisconsin). Der andere war stud. theol. (später med.) Julius Alexander von Haymann, gebürtig aus Bremen. Auch der Fürstenthaler Neubauer soll ein „Revolutionär" gewesen sein, und Volkmann soll sich sogar bemüht haben, ein „eifriger roter Republikaner" zu werden. Nur wenigen Studenten in Halle kann man also das Zeugnis aktiver Teilnahme an der 48er Revolution ausstellen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stehen die halleschen Studenten im Jahre 1848 fest im konservativen Lager und werden zu Stützen von Thron und Altar, die sie aber auch in den vergangenen 3V« Jahrzehnten nicht haben stürzen wollen; doch jetzt sind sie obrigkeitstreu. Wie das deutsche Bürgertum, so gaben sich auch die halleschen Studenten in ihrer überwiegenden Mehrheit mit dem dürftigen Erfolge halber Freiheiten, lahmer Zugeständnisse und fauler Kompromisse zufrieden. Ruft man sich retrospektiv die politische Funktion der halleschen Burschenschaft ins Gedächtnis zurück, so muß man konstatieren, daß der gegen Treitschke geführte Einwand Griewanks berechtigt war. In der halleschen Burschenschaft spürt man nichts von einem überspannten Idealismus, nichts von einer Wichtigtuerei der burschenschaftlichen Führer und auch nichts von einem träumerischen Nationalgefühl, das Treitsclike der Burschenschaft insgesamt vorhält. Daß man ferner die nationalpolitische Bedeutung der halleschen Burschenschaft nicht von ihrem Verhältnis zu Preußen abhängig machen kann, versteht sich deshalb von selbst, weil sich die Gesinnung nichtpreußischer Burschenschafter nicht mit einer preußischen Elle messen läßt, was aber bei Treitschke geschieht. Die auf solche Weise entstandenen historischen Urteile und politischen Verurteilungen halten einer ernsthaften Prüfung nicht stand, womit gewiß nichts Neues gesagt wird. Wenn sich Treitschke im Falle der halleschen Teutonia, die in ihrer Verfassung „Preußens edlem Herrscher" huldigte, von Karl Immermann einen „Terrorismus" 64 suggerieren läßt, dann kann man weder dem Historiker noch dem politischen Schriftsteller Treitschke folgen. Griewanks Analyse der bursdienschaftlichen Historiographie wird in den Halle betreffenden Partien bestätigt. Das gilt besonders für die so wertvolle und mit wissenschaftlicher Akribie verfaßte Arbeit des Karlsruher Rechtsanwalts Dr. Eduard Dietz, auf die eingangs dieser Studie mit Nachdruck ver64 Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Bd. 2, S. 423.

Jahrhundert,

Leipzig 1928,

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wiesen wurde. In den zahlreichen Quellen, die Dietz in seiner Arbeit zitiert und in einem beachtlichen Umfang auch zum Abdruck bringt, drängen sich politische Aspekte geradezu auf; sie werden aber von Dietz kaum gewürdigt, so daß der Eindruck einer unpolitischen Teutonia entsteht, die sie in Wirklichkeit nicht war. Das politische Moment soll dabei keineswegs überbewertet werden; doch muß es dort, wo es die Quellen überliefern, auch eine entsprechende Interpretation erfahren. In den Werken von Paul Wentzcke und Georg Heer, die die eigentliche politische Epoche der Burschenschaft behandeln, fehlt der politische Aspekt wohl deshalb nicht, weil er ganz einfach zwingend ist. Aber er geht unter in der Fülle der Tatsachen und wirkt daher farblos, was sich wohl aus der Grundtendenz der burschenschaftlichen Geschichtsschreibung erklärt, wie sie von Griewank charakterisiert wird. Bis zu einem gewissen Grade gilt dies auch für die so sehr verdienstvolle Arbeit Flemmings, der - ein Nichthistoriker - ganz unter dem Einfluß eben dieser Historiographie steht. Der entscheidenden Bedeutung des Wartburgfestes für die Geschichte der Burschenschaft, wie sie Griewank herausstellt, wird niemand ernsthaft widersprechen können. Von nicht geringerer Bedeutung für die historisch-politische Entwicklung der Burschenschaft scheint dem Verfasser aber auch die Epoche zu sein, die von den Karlsbader Beschlüssen (1819) ausgelöst wird und die immerhin drei Jahrzehnte währt. Sie, die Karlsbader Beschlüsse, sind es, die die Burschenschaft aus der Öffentlichkeit verbannen, die für die burschenschaftliche Wirksamkeit doch von entscheidender Wichtigkeit war. An dieser Tatsache ändern auch die auf geheimen burschenschaftlichen Kongressen gefaßten Beschlüsse nichts, daß die Burschenschaft eine öffentliche und keine geheime sei. D a ß ihre Öffentlichkeit gerade auf geheimen Kongressen beschlossen werden mußte, macht die besondere politische Situation deutlich, mit der sich die Burschenschaft auseinandersetzen mußte und die sie nicht ignorieren durfte. Nach 1819 findet nicht ein einziges „Fest" statt, das sich auch nur annähernd mit dem Wartburgfest vergleichen ließe. Die Frage, welchen Verlauf die burschenschaftliche Entwicklung genommen hätte, wenn die Karlsbader Beschlüsse nicht gefaßt worden wären, läßt sich nicht beantworten, weil sie unhistorisch ist; daß sie aber unter anderen Bedingungen einen anderen Weg genommen hätte, darf man ohne Bedenken annehmen. Zu einer Scheidung in burschenschaftliche Allgemeinheiten und engere Burschenschaften wäre es wohl nicht gekommen. Die Durchführung der Karlsbader Beschlüsse aktivierte ohne Zweifel das politische Interesse der Burschenschaft, die nunmehr als Einzelbund weiter existierte gleich den vorher von ihr bekämpften Landsmannschaften, radikalisierte, was besonders für Halle

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gilt, bestimmte burschenschaftliche Kreise, blieb aber auch in Halle ohne aktiven Widerspruch. Aus den bei Dietz abgedruckten und zitierten Quellen wird deutlich, daß bereits die Teutonia-Verbindung in Halle von vornherein Träger einer politischen Funktion war und in ihrem Programm auch politischen Zeitforderungen entsprach, um mit Griewanks Worten zu sprechen. In der Einigkeit von Volk und Fürsten sah sie das Wesen ihrer politischen Aufgabe, in der Befolgung der staatlichen Gesetze das Wesen ihrer politischen Freiheit, und in einem großen deutschen Vaterland wollte sie alle deutschen Stämme vereinigt wissen. Ihr Ehrbegriff beinhaltete ausschließlich die eigene moralische Einschätzung. „Die innere Ehre ist das Zeugnis des Selbstbewußtseins über unseren eigenen Wert." Das war, wie Griewank sagt, „noch immer die Ehre einer abgeschlossenen Schicht, die nur einen bestimmten Kreis von Offizieren, Adligen, Beamten und Akademikern für satisfaktionsfähig und -bedürftig erklärte". Diese Interpretation des Ehrbegriffs dürfte auch einige Rückschlüsse auf die soziale Struktur der Teutonia gestatten. Die Devise von der Einheit, Freiheit und Gleichheit aller Burschen sollte nach Griewank eine „allzu starre soziale Abschließung nach unten" ausschließen; auch dem wird man zustimmen können. Mehr läßt sich zu diesem Fragenkomplex kaum sagen. Die erste burschenschaftliche Verbindung schöpft aus dem Erlebnis der Befreiungskriege, weicht aber vom alten Rauf- und Renommierwesen kaum ab, wie gezeigt werden konnte. Sie ist in politischer und studentischer Hinsicht eine Übergangsverbindung; das gilt auch für ihre vermeintlichen Gegner, die sich um Karl Immermann scharten. Die illegale Periode der halleschen Burschenschaft beginnt am 28. Juli 1821, dem Gründungstag des ersten engeren Vereins. Satzung und Aufnahmeformel fordern ein politisches Bekenntnis und die Bereitschaft, für das „eine Vaterland" das eigene Leben zu opfern. Dieser erste engere Verein befindet sich noch im wesentlichen in voller geistiger Ubereinstimmung mit den Grundsätzen der bestehenden staatlichen Ordnung, was man vom zweiten engeren Verein, der vom Dezember 1821 datiert, nicht mehr sagen kann; denn seine Mitglieder gehörten ausnahmslos dem Jünglingsbund an, der den Sturz der Verfassung und die Errichtung einer Republik forderte. Daß sich für den gewaltsamen Umsturz gerade Theologiestudenten nachweisen lassen, ist doch recht erstaunlich. Nach Heer gehörten die „Jünglingsbündler" zu den „tüchtigsten und geistig hochstehendsten Mitgliedern der Burschenschaft", bei denen wir die „klarste Auffassung von den Aufgaben und dem Wesen der Burschenschaft" voraus10

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setzen dürfen. Dieses Werturteil darf, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie auf den in Halle, dem einen der beiden Hauptsitze des Geheimbundes, wirkenden Jünglingsbund bezogen werden. Gewiß, eine einheitliche politische Ansicht hat es in der engeren halleschen Burschenschaft nicht gegeben; heterogen war das Schrifttum, aus dem die hallesche Burschenschaft ihr politisches Wissen bezog, heterogen auch ihre politischen Ansichten. Aber die Hoffnung auf eine einheitliche Republik war ebensowenig eine „Träumerei" (Heer) wie die Vorstellung, daß Preußen trotz seiner freiheitsfeindlichen Politik zum Vorkämpfer der deutschen Einheit werden könnte. Nach Heer soll der Einfluß des engeren Vereins auf die Masse der Studierenden beachtlich gewesen sein. D a sich Heer aber in dieser Frage ausschließlich auf Prozeßakten stützt, die den engeren Verein zwangsläufig aus der Perspektive des politischen Gegners sehen und dessen Gefährlichkeit entsprechend auszumalen suchen, wird man dem von Heer zitierten Quellennachweis nicht vollen Glauben zu schenken brauchen. Daß es auch in Halle, einem der beiden Hauptsitze des Jünglingsbundes, nicht gelungen war, eine Mehrheit der burschenschaftlichen Allgemeinheit oder gar eine studentische Mehrheit zu sich herüberzuziehen, erklärt sich doch aus der Tatsache, daß der engere Verein, weil er eben so radikale Forderungen verfocht, nur im geheimen wirken konnte; er isolierte sich selbst, weil er funktionsfähig bleiben sollte. Das bedeutete doch aber von vornherein einen Verzicht, eine Mehrheit zu gewinnen. Die Verfolgung eines solchen Zieles hätte einer öffentlichen Agitation bedurft, die unter Umständen möglich war, die aber gleichzeitig das Ende der Burschenschaft bedeutet hätte. Schließlich genügte der Verrat eines einzigen Eingeweihten, um nicht nur die geheime Burschenschaft in Halle zu vernichten, sondern die burschenschaftliche Bewegung an vielen anderen Universitäten lahmzulegen. Wohl sollten die engeren Vereine die burschenschaftlichen Allgemeinheiten dirigieren und auf sie Einfluß nehmen, das wird auf geheimen Zusammenkünften wiederholt gesagt, aber von der Gewinnung einer Mehrheit ist nirgendwo die Rede, auch in Halle nicht, dem einen der beiden Hauptsitze des Jünglingsbundes. Mit der Entdeckung des Jünglingsbundes und der Aburteilung seiner Mitglieder ist die große Zeit der Burschenschaft in Halle vorbei; nie wieder erholte sich die burschenschaftliche Bewegung von diesem Schlag, der bei manchem Jünglingsbündler eine Gesinnungsumwandlung bewirkte und ihn in gemäßigte politische Anschauungen einschwenken ließ. Zu ihnen gehörte auch Heinrich Clemen aus Lemgo, einstiger Mitbegründer der zweiten engeren Burschenschaft, der nunmehr von Preußen das politische Heil für Deutschland erwartete. Der Geburtstag des preußischen Königs wird regelmäßig gefeiert, und von Preußens Vormacht erhofft die Mehrzahl, die „monarchisch und sogar

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gut preußisch" gesinnt ist, Deutschlands Einigung. In einigen Kränzchen erörtert man auch politische Fragen und ersehnt über eine geistige Einheit des deutschen Volkes seine politische. An umstürzlerischen Bestrebungen, von denen man nur eine weitere politische Zerrissenheit erwartete, sollte niemand teilnehmen. Von einem „entschiedenen politischen Liberalismus", den die burschenschaftlichen Gruppen der „Germanen" gegen Ende der zwanziger Jahre in anderen Universitätsstädten vertreten, hört man in Halle nichts. Es darf darum nicht verwundern, wenn die hallesche Burschenschaft im Jahre 1830 und auch in den folgenden Jahren nicht im Dienst der politischen Gesamtbewegung zu finden ist. Das politische Aktionsprogramm des Stuttgarter Burschentages wurde von der halleschen Burschenschaft faktisch nicht angenommen. Der Entpolitisierungsprozeß der halleschen Burschenschaft, der Mitte der zwanziger Jahre einsetzt, ist mit dem Jahre 1833 abgeschlossen, wobei unter Entpolitisierung ein Einschwenken auf konservativ-restaurative Ideen der Romantik verstanden wird. Daß Gustav Körner (Jenaer, Münchener und Heidelberger Burschenschafter), die Mittelsperson des Vaterlandsvereins, auf seiner großen Werbe- und Erkundigungsfahrt Ende Februar 1833 nicht durch Halle kam, dürfte damit im Zusammenhang stehen. 1848 mißlingt der Versuch, die Studentenschaft für das revolutionäre Geschehen in Halle zu gewinnen; dabei muß die Frage offenbleiben, ob überhaupt die Möglichkeit eines solchen Versuches bestanden hat. Wenn auch vorzugsweise Burschenschaften zu Trägern des Progresses werden, so deckt er sich doch keineswegs mit der Burschenschaft, da sich ihr ein Teil nicht anschloß. Ob sich in Halle eine besondere Progreßburschenschaft gebildet hat, ist ungewiß. Doch sind es im Revolutionsjahr ausschließlich Progressisten, die in Halle als studentische Vorkämpfer für staatliche Einheit und bürgerliche Freiheit eintreten. Von den wenigen Studenten, die sich für dieses Ziel einsetzten, scheint in Halle lediglich stud. med. Adolf Kaulfuß mit seinem „Hoch auf die materielle, blutige Revolution" weitere Absichten verfolgt zu haben. Er emigrierte nach Frankreich, kam nach Paris, aber nicht, um dem Bund der Kommunisten beizutreten, in dessen Zentralbehörde der einstige Gießener Burschenschafter Karl Schapper tätig war, sondern um Musikprofessor in Montpellier zu werden. Keiner der studentischen Verfechter eines liberal-demokratischen politischen Radikalismus im Halle des Revolutionsjahres 1848 wurde Sozialist. Auch von der Generation, die noch durch die Schule des Jünglingsbundes in Halle gegangen war, emigrierte keiner in den Sozialismus, auch Arnold Rüge nicht, von dem man es vielleicht am ehesten hätte annehmen können. Er und auch die anderen Mitglieder des Jünglingsbundes übten nach ihrer Entlassung aus den Gefängnissen keinen Einfluß auf die hallesche Burschenschaft aus. Wenn man von Rüge absieht, der als Anhänger Bismarcks 10*

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endet — seine Freundschaft mit Marx dauerte nicht lange; in seinen „Briefen aus Paris" wandte er sich gegen den revolutionären Kommunismus - , hat wohl keiner so ernsthaft mit seiner burschenschaftlichen Vergangenheit gebrochen, wie der am 14. September 1799 in Lemgo als Sohn eines Pastors geborene Heinrich Clemen, der nach Abschluß seiner Studien in Halle am Gymnasium in Bielefeld, der Heimatstadt seiner Mutter, 65 als Lehrer tätig war. Als Clemen im Jahre 1821 aus der Schule Follens von Jena nach Halle überwechselte, sammelten sich, wie er selber schreibt, radikalere jüngere Studenten um ihn, die in die besonders in Jena gepflegten „historisch-politischen Ideen" eingeführt zu werden wünschten.66 Er war Mitbegründer des zweiten engeren Vereins in Halle und gehörte ihm bis zu seiner Entdeckung an. Im Jahre 1824 erkannte das Königlich-Preußische Oberlandesgericht von Schlesien zu Breslau für Recht: daß „,Inculpal' Heinrich Christian Albert Clemen wegen Teilnahme an einer verbotenen, das Verbrechen des Hochverrats vorbereitenden geheimen Verbindung, als Hilfslehrer an dem Gymnasio zu Bielefeld zu kassieren, zu allen ferneren öffentlichen Ämtern für unfähig, so wie des Rechts zur Tragung der Preußischen Nationalkarde verlustig zu erklären und mit einem fünfzehnjährigen Festungsarrest zu bestrafen". 67 So eindeutig wie dieses politische Urteil, das hier über Clemen gefällt wurde, so unmißverständlich ist auch Clemens Urteil über die Revolution von 1848 und über seine eigene politische Vergangenheit: Es war für ihn „entsetzlich, die schwarz-roth-goldene Fahne von 1817 im Jahre 1848 in jener wüsten, recht- und sittehöhnenden demokratischen Rotte sehen zu müssen"; 68 unerbittlich geht er mit seiner eigenen politischen Vergangenheit ins Gericht: „Wie mächtig war auch ich von den Banden jener falschen Theorien und Doktrinen gefesselt! Freilich waren diese Bande schon bis 1848 so weit gelöst, daß ich mich entschieden zu den Conservativen zählen durfte, und daß mich das Treiben der damaligen liberal-demokratischen Partei zumal unter der schwarz-roth-goldenen Fahne und im Hinblick auf Hunderte ihrer nichtswürdigen Träger und Posaunenbläser mit Scham und Abscheu erfüllte. Aber die vollständige Erlösung aus dem Blendwerke jener Irrtümer haben doch erst 65 Heinrich Clemen war der Sohn des Pastors Andreas Clemen aus Schmalkalden und der Dorothee Sophie Lüder, Tochter des Kriegsrates Friedrich Wilhelm Lüder zu Bielefeld. Diesen Hinweis verdankt der Verfasser Herrn Dr. H o p p e vom Stadtarchiv Lemgo. 66 Vgl. Clemen, Ein Stück Geschichte der ersten deutschen Burschenschaft, S. 45. 6T Erkenntnis wider die Mitglieder des sogen. Jünglingsbundes auf Grund der zu Cöpenick stattgefundenen Untersuchungen und der hierüber verhandelten Akten, gesprochen von dem Königl. Ober-Landesgericht zu Breslau. Halle: Eduard Anton 1826, S. 3. 68 Clemen, a. a. O., S. 9.

D I E POLITISCHE F U N K T I O N D E R B U R S C H E N S C H A F T

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Stahl und Gerlach gebracht, welche die große Lüge des Constitutionalismus überwunden und dieser modernen Schlange den Kopf zertreten haben." 69 Diese Generation, zu der auch Clemen und all die andern halleschen Burschenschafter gehören, würdigt Hans Rosenberg in seiner Arbeit über „Arnold Rüge und die Hallischen Jahrbücher" mit folgenden Worten: „Gerade diese junge Generation, für die die Revolution von 1848 mit allen ihren Konsequenzen das entscheidende, gestaltbildende und richtungweisende Erlebnis werden sollte, ist es dann auch gewesen, die der liberalen Bewegung in Deutschland schließlich das Genick gebrochen hat." 70 Dieses Urteil kann man auch für die hallesche Burschenschaft übernehmen, wenn sie auch nicht so herausragende Persönlichkeiten wie Stahl und Gerlach zu ihren Mitgliedern zählen konnte. Die Universität Halle war bis zum Ende der dreißiger Jahre im wesentlichen eine „Theologenuniversität". 71 Studenten der Theologie scheinen von Anfang an führend und auch zahlenmäßig am stärksten in der burschenschaftlichen Bewegung vertreten gewesen zu sein. Eine genaue Aufschlüsselung nach Fakultäten und über die zahlenmäßige Stärke der burschenschaftlichen Allgemeinheiten und auch der engeren Vereine hätten nur Mitgliederverzeichnisse geben können; vielleicht haben sie auch die berufliche Stellung des Vaters enthalten, die über die soziale Struktur der Burschenschaft aufschlußreich gewesen wäre. Wenn man auch allgemein sagen kann, daß sie sich auch in Halle aus den gebildeten und besitzenden Schichten rekrutierte, so ist das doch zu wenig, um sich ein sozialgeschichtliches Bild von der halleschen Burschenschaft zu machen, das sich unter Umständen zeitweise verändert haben kann. Beim gegenwärtigen Forschungsstand und bei der besonderen Quellenlage, auf die eingangs hingewiesen wurde, lassen sich diese und gewiß noch viele andere Fragen nicht beantworten. Der Verfasser hielt es daher für richtig, all diese Fragenkomplexe besonders herauszustellen. Das geschah mit Absicht öfter, als allgemein üblich.

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Clemen, a. a. O., S. 38. Hans Rosenberg, Arnold Rüge und die „Hallischen Jahrbücher", S. 305. 71 Rosenberg, Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Dt. Vierteljahresschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 7 (1929), vgl. S. 562. 70

H A N S J. R E I C H H A R D T

NEU BEGINNEN EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES W I D E R S T A N D E S DER ARBEITERBEWEGUNG GEGEN DEN N A T I O N A L S O Z I A L I S M U S I. NEU BEGINNEN als Versuch einer Erneuerung der deutschen Arbeiterbewegung 1929-1933 II. Der Widerstand von N E U BEGINNEN bis zur Spaltung der Organisation 1933 bis 1935 III. Weiterführung der illegalen Arbeit von NEU BEGINNEN 1 9 3 5 - 1 9 3 8

Unter den mannigfachen Ursachen des Niedergangs der Weimarer Demokratie nimmt das Versagen weiter Teile der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber der andringenden Flut des Nationalsozialismus ohne Zweifel einen hervorragenden Platz ein. In völliger Verkennung der Situation und der heraufziehenden Gefahr haben die Kommunisten nicht die Nationalsozialisten, sondern die von ihnen als „Sozialfaschisten" diffamierten Sozialdemokraten als ihren Hauptgegner betrachtet. Obgleich sie unentwegt die suggestive Parole einer Einheitsfront der Arbeiterklasse ausgaben, hinderten parteiegoistische und taktische Motive sie daran, diese Einheitsfront aufrichtig anzustreben und glaubwürdige Schritte zu ihrer Verwirklichung einzuleiten. Von beiden großen Arbeiterparteien, SPD und KPD, hatten sich im Laufe der Jahre wegen oft geringfügiger Differenzen in politischen oder ideologischen Fragen eine Reihe kleinerer Gruppen abgespalten, die die innere Zerrissenheit der deutschen Arbeiterbewegung nur noch verstärkten. Indessen blieben sie letztlich doch bedeutungslos, weil es ihnen nicht gelang, die große Masse oder auch nur wesentliche Teile der Mitgliedschaft aus SPD und KPD auf ihre Seite zu ziehen. Unter diesen kleineren Gruppen nimmt die unter dem Namen „Neu Beginnen" bekanntgewordene eine absolute Sonderstellung ein. Während alle anderen zwar auch die Einheitsfront forderten, diesem Ziel aber mit ihrer zuweilen eifersüchtig gehüteten organisatorischen Selbständigkeit praktisch entgegenwirkten, entwickelte allein „Neu Beginnen" eine Konzeption, die zu einer Erneuerung der deutschen Arbeiterbewegung hätte führen können. Nicht eine

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Splittergruppe mehr unter den schon bestehenden, war diese Organisation ihrem Streben nach darauf gerichtet, durch eine konspirative Tätigkeit innerhalb beider großen Arbeiterparteien die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu überwinden, um eine Machtergreifung des Nationalsozialismus zu verhindern. Im Unterschied zu vielen anderen Widerstandsgruppen, die sich als Antwort auf die Vernichtung der Arbeiterbewegung 1933 spontan gebildet hatten und zuweilen nicht frei von Illusionen über den politischen Kampf in der Illegalität waren, besaß „Neu Beginnen" über die Untergrundphase eine bemerkenswert realistische Vorstellung. Nachdem sie sich jahrelang mit dem Wesen des Faschismus auseinandergesetzt und sich zugleich um die Entwicklung wirksamer konspirativer Methoden bemüht hatte, stellte sich die Gruppe schnell auf eine lange Dauer der Herrschaft des Nationalsozialismus ein. Den Namen „Neu Beginnen" hat die Gruppe allerdings erst im August 1933 nach Erscheinen einer Schrift mit dem gleichen Titel erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie nur als „Leninistische Organisation" oder einfach als „Organisation" bezeichnet worden. Uber Ursprung und frühe Entwicklung von „Neu Beginnen" ist der Forschung heute kaum noch Material zugänglich. Der erste Teil dieses Aufsatzes stützt sich daher im wesentlichen auf Informationen und Aufzeichnungen, die dem Verfasser von Henry Hellmann mit Kenntnis von Miles1, dem Gründer von „Neu Beginnen", zur Verfügung gestellt wurden. Eine 1957 verfaßte Dissertation von Kurt Kliem 2 beruht zu einem großen Teil auf Material und Aussagen von Mitgliedern der oppositionellen Gruppe, die 1935 die Spaltung von „Neu Beginnen" herbeiführte und der ursprünglichen Programmatik in erheblichem Maße ablehnend gegenüber stand, trotzdem aber den Namen „Neu Beginnen" beibehielt. Kliems Behauptung, daß diese Gruppe erst vom Zeitpunkt der Spaltung an den Namen „Neu Beginnen" zu Recht trug, während er bisher nur zur Tarnung der Organisation gedient hätte, 3 dürfte sich in ihrer stark überspitzt erscheinenden Formulierung kaum aufrechterhalten lassen. Nach Auffassung von Miles und seinen Freunden wird das von Kliem verwendete Material der tatsächlichen Entwicklung dieser Organisation bis 1935 nicht immer gerecht. Allen früheren Mitgliedern von „Neu Beginnen", die mit Material, Hinweisen und Auskünften geholfen haben, ist der Verfasser zu besonderem Dank verpflichtet. 1

Pseudonym für Walter Löwenheim. Miles, der heute in London lebt, veröffentlichte kürzlich ein neues Buch, in dem er die Weiterentwicklung seiner politischen Ideen darlegte: Miles, Eine Welt im Umbruch. Zur Auseinandersetzung mit der Krise unserer Zeit, Bremen 1961. 2 Kurt Kliem, Der sozialistische Widerstand. Dargestellt an der Gruppe „Neu Beginnen" [künftig zit.: Widerstand], masdi. sehr. Phil. Diss. Marburg 1957. 3 A. a. O., S. 140.

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HANS J. REICHHARDT I. NEU BEGINNEN ALS VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER DEUTSCHEN ARBEITERBEWEGUNG 1929—1933

Vorgeschichte und Gründung Die Anfänge der Gruppe „Neu Beginnen" reichen bis in das J a h r 1929 zurück. Sie entstand vornehmlich durch die Initiative von Miles, der unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg eine leitende Funktion in der kommunistisch orientierten „Freien Sozialistischen Jugend" ausgeübt hatte. Anschließend arbeitete Miles mehrere Jahre in der K P D , geriet aber bald zu ihrer Politik in Opposition — etwa auf der Linie Paul Levis, als dessen politischer Schüler sich Miles betrachtete. I m Gegensatz zu Levi aber hatte Miles erst 1927 endgültig mit der K P D gebrochen. Miles erkannte früh die verhängnisvollen Folgen der kommunistischen Spaltungspolitik für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung. Als Stalin 1928/29 die „Neue ökonomische Politik" ( N E P ) Lenins durch die Einführung der Planwirtschaft in der Sowjetunion ablöste, glaubte Miles auch darin schwere Gefahren für die weitere Entwicklung der gesamten sozialistischen Bewegung erblicken zu müssen. Entscheidend für seine Konzeption war ferner die Uberzeugung, daß der gesamten westlichen Welt in jenen Jahren eine einschneidende strukturelle politische und wirtschaftliche Krise bevorstünde, die geeignet wäre, ihre demokratischen Grundlagen aufs schwerste zu erschüttern. Diese Einschätzung der Lage führte Miles dazu, einigen seiner politischen Freunde — gleich ihm fast ausschließlich junge kritische Kommunisten und oppositionelle Sozialdemokraten — vorzuschlagen, seine Grundgedanken mit einer neuen Organisation zu verwirklichen, um damit eine Erneuerung der Arbeiterbewegung herbeizuführen. Es erwies sich indessen als außerordentlich schwierig, den Kreis der zu dieser gemeinsamen politischen Arbeit verbundenen und dazu auch geeigneten Personen zu erweitern, solange die nationalsozialistische Gefahr noch nicht in dem Maße erkennbar war wie ein J a h r darauf. Mit dem ersten großen nationalsozialistischen Erfolg bei den Reichstagswahlen im September 1930 jedoch begannen viele politisch Interessierte zu ermessen und zu verstehen, daß sich ein tiefgreifender politischer Wandel anbahnte. Die von der Weltwirtschaftskrise verursachte, insbesondere durch das rapide Ansteigen der Arbeitslosenzahl, den Sturz der letzten demokratischen Regierung der Weimarer Republik unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller und schließlich durch die Notverordnungen Brünings gekennzeichnete Situation schien die Grundauffassungen und Voraussagen von Miles zu bestätigen. Hier-

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durch erhielten seine Bemühungen um verstärkte Aktivität zur Rettung der Arbeiterbewegung und der Demokratie nun eine unmittelbar evidente Begründung und einen lebhaften Auftrieb. Grundgedanken

der Organisation

Die Grundgedanken der sich bildenden, zunächst noch namenlosen „Organisation" knüpften bei der Vorstellung an, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung an tiefen inneren Widersprüchen leide, die sich im wesentlichen aus der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Kapitalismus ergäben. Durfte diese Auffassung als korrekt marxistisch gelten, so geriet Miles im weiteren Gang seiner Analyse fast in die geistige Nähe der ideologischen Rechtfertigung des Stalinschen Versuches, den in der Sowjetunion fehlenden ökonomischen „Unterbau" des Sozialismus mit Hilfe der diktatorischen Staatsgewalt beschleunigt zu schaffen. In einer starken Überspitzung, die sich weder bei Marx noch auch bei Lenin, wohl aber in Stalins „Fragen des Leninismus" nachweisen läßt, 4 stellte Miles die natürliche Genesis der bürgerlich-demokratischen Revolution den Entwicklungsbedingungen der proletarischen Revolution schroff gegenüber: Während die bürgerliche Gesellschaft mit den ihr adäquaten Denkformen bereits vor der bürgerlichen Revolution voll ausgebildet sei, müsse der proletarische Umsturz aus einer niedergehenden bürgerlichen Gesellschaft heraus erfolgen, in der die große Mehrzahl ideologisch noch vom irreführenden Schein der Verhältnisse beherrscht ist. Für Miles folgte aus diesem Ansatz, daß die proletarische Revolution nur auf der Grundlage einer Selbstbefreiung des wissenschaftlichen Bewußtseins und durch ein daraus abgeleitetes planvolles Handeln möglich sei. An dieser Grundvorstellung hat die für Miles kennzeichnende Bereitschaft zu einer illusionsfreien Analyse der Lage einen starken gedanklichen Rückhalt gefunden. Als Folge eines Scheiterns der Bemühungen, den Ausweg aus der kapitalistischen Niedergangskrise zu bahnen, erwartete Miles eine Kette faschistischer Revolutionen und neuer Kriege, wodurch die moderne Zivilisation einen schweren Rückschlag erleiden würde. Im besonderen Falle des Weimarer Staates gingen die Leiter der „Organisation" davon aus, daß die Republik in der Krise nach 1929 von einer solchen faschistisch-revolutionären Gefahr am unmittelbarsten und stärksten bedroht sei. Einen Ausweg aus dieser Totalkrise der Gesellschaft glaubten sie in einem ökonomisch an den Konkurrenzgedanken der freien Marktwirtschaft anknüpfenden Sozialismus zu finden, der sich jedoch nur Vgl. dazu Kurt Menz [Pseudonym für Walter Löwenheim], Die proletarische Revolution. Die Grundzüge ihrer Theorie und ihrer Besonderheiten in Deutschland, [hektographiert] Berlin 1931, S. 15 f. und Josef Stalin, Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 140 f. 4

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durch eine geeinte sozialistische Bewegung verwirklichen ließe. Durch das starre Festhalten an ihren Ideologien würden die beiden Hauptzweige der gespaltenen Arbeiterbewegung daran gehindert, das aktuelle Zentralproblem richtig zu erfassen oder gar zu bewältigen. Die „Organisation" sah daher ihre erste praktische Aufgabe in der Wiedervereinigung dieser beiden feindlichen Richtungen. Zu diesem Zeitpunkt und auch später war es indessen unmöglich, durch offen auftretende oppositionelle Kritik innerhalb der Arbeiterparteien beträchtliche Teile der Mitgliedschaft und ihrer Leitungen zu dieser Politik der Erneuerung der sozialistischen Bewegung und damit der Rettung der Demokratie zu ermutigen. Offene Kritik hätte nur zum Ausschluß der Fürsprecher einer solchen Verschmelzung aus beiden Parteien oder zu ihrer Isolierung und Einflußlosigkeit in einer Splittergruppe geführt. Die einzige Erfolgsmöglichkeit versprachen sich die leitenden Männer der „Organisation" daher von einer inoffiziellen „Durchdringungspolitik", deren Aufgabe es war, in aller Stille Anhänger in beiden Parteien zu gewinnen. Eine solche Taktik, die im übrigen zwanglos mit dem Elitegedanken der Miles-Anhänger korrespondierte, setzte naturgemäß und vor allem in der K P D , in der schon damals ein auch nur geringes Abweichen von der jeweils herrschenden offiziellen Parteilinie meist zum Ausschluß führte, einen gewissen Grad von Geheimhaltung und Konspiration der Tätigkeit wie der Anschauungen der „Organisation" voraus. Die Leitung legte deshalb den größten Wert darauf, daß sich keines der Mitglieder durch grundsätzliche Kritik und Verurteilung von Fehlern und Irrtümern in den Arbeiterparteien exponierte, wie sie auch darauf drang, keine Haltung emotionalen Protestes oder gefühlsbedingter Feindseligkeit einzunehmen. Im Gegenteil, die Mitglieder der „Organisation" sollten sich völlig dem Gedanken der Gesamt-Arbeiterbewegung verpflichtet fühlen. U m dies auch formell zu bekräftigen, lehnte es der Miles-Kreis bis 1933 ab, sich einen eigenen Namen zu geben. Die „Organisation" wollte nichts weiter als der bewußt und überlegt handelnde Faktor in der Arbeiterbewegung sein, um deren Spaltung zu überwinden. Ein weiterer zwingender Grund zur verschärften Geheimhaltung ihrer Existenz und ihrer Tätigkeit lag für die „Organisation" auch in der Gefahr einer nationalsozialistischen Machtergreifung. Die Leitung war davon überzeugt, daß sie im Falle einer Herrschaft des Nationalsozialismus um so geringeren Gefahren ausgesetzt sein würde, je besser es ihr vorher gelungen war, ihren Sondercharakter innerhalb der Arbeiterparteien zu verbergen. Die „Organisation" war daher von Miles in starker Anlehnung an die Vorstellungen aufgebaut worden, die Lenin während der illegalen Periode der russischen Sozialdemokratie in seiner Schrift „Was tun?" entwickelt hatte. Von Lenin waren vor allem der

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straffe Zentralismus, die unbedingte Weisungsbefugnis der Leitung und die konspirative Abdeckung der Tätigkeit nach außen als Organisationsprinzipien übernommen worden. 5 Entwicklung der „Organisation" bis 1933 Schon früh begann die Organisationsleitung Maßnahmen vorzubereiten, um nach einem Siege des Nationalsozialismus ihre politische Arbeit fortsetzen zu können. Seit 1931 wurden Notquartiere für Zusammenkünfte ausgesucht, wurde sorgfältig die Technik der Verschlüsselung und der geheimen Übermittlung von Schriftstücken und Informationen geübt. 1932 ging die Leitung bereits dazu über, ihre umfangreichen und ständig wachsenden Personalarchive zu chiffrieren. Die Tarnungsmaßnahmen gingen teilweise so weit, daß in den Bibliotheken verschiedener Mitglieder der „Organisation" eine „Säuberung" von jenen Büchern vorbereitet wurde, deren Besitz sich in nationalsozialistischer Sicht mit Gewißheit als belastend darstellen mußte. Die allmähliche Erweiterung der Mitgliederzahl setzte bereits 1930 ein. Mit großer Vorsicht wurden kritisch denkende Sozialisten zunächst in den beiden großen Arbeiterparteien für die „Organisation" gewonnen. Aufnahme fanden sie nur unter der Bedingung, daß sie sich verpflichteten, auch bei schärfster Kritik an ihrer Partei nicht aus ihr auszutreten. Soweit wertvoll erscheinende Persönlichkeiten, die außerhalb der Arbeiterbewegung standen, in die „Organisation" einbezogen wurden, mußten sie sich zum Eintritt in eine der beiden Arbeiterparteien entschließen. Die Gewinnung neuer Mitglieder erfolgte nach ständig verbesserten konspirativen Methoden, die eine Gewähr dafür bieten sollten, daß für die Mitgliedschaft in Aussicht genommene Personen sowenig wie möglich vom Bestehen der „Organisation" und von deren Zielen erfuhren. Hierdurch konnten sie ohne erhebliche Gefahr wieder fallengelassen werden, falls sie sich für die Arbeit als ungeeignet erwiesen hatten. Die als brauchbar betrachteten „Kandidaten" gingen dann durch eine längere seminarähnliche Schulung. Ihr Ziel bestand darin, den theoretisch begabten Teilnehmern ein Wissen zu vermitteln, das ihnen eine eigene Anwendung der marxistischen gesellschaftskritischen Grundeinsichten und ein selbständiges Denken ermöglichen sollte. Die Schulung wurde aber auch für die mehr organisationstechnisch und praktisch veranlagten Mitglieder durchgeführt, um ihnen mit dem Ziel einer stärkeren Bindung die Uberzeugung zu vermitteln, daß die „Organisation" über gute Arbeits- und Denkmethoden verfüge. 5

Vgl. hierzu auch Kliem, Widerstand,

S. 13.

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In den „F-Kursen" 6 - so wurde diese theoretische Ausbildung bezeichnet vertrat die Leitung die Ansicht, daß Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise politisch, wirtschaftlich und sozial in besonderem Maße belastet sei. Solange diese Krise sich ständig weiter verschärfe, nehme auch die Gefahr einer nationalsozialistischen Machtergreifung zu. Würde die Krise jedoch bald ihren Kulminationspunkt überschreiten, so könnten die demokratischen Parteien ihre Basis in einiger Zeit wieder auf Kosten der Nationalsozialisten verbreitern, wodurch die unmittelbare Bedrohung allerdings nur vorübergehend, bis zur nächsten großen Wirtschaftskrise gebannt wäre, die in etwa zehn Jahren erwartet werden müsse. Miles und seine engsten Mitarbeiter glaubten zwar nicht, daß sie den Prozeß in entscheidender Weise beeinflussen könnten, neigten aber der Annahme zu, daß eine günstigere Entwicklung ihnen ausreichend Zeit lassen würde, ihren Einfluß besonders durch die Gewinnung geeigneter Führungskräfte in beiden Arbeiterparteien auszubauen und zu verstärken. Die Leitung versuchte die Kursusteilnehmer zu überzeugen, daß die Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten der Entwicklung noch nicht gefallen sei, wenngleich sich das Pendel immer mehr der „negativen" Lösung zuzuneigen scheine. In der Diskussion über die Perspektiven ließ die Leitung keinen Zweifel daran, daß im Falle eines nationalsozialistischen Triumphes alle Mitglieder schweren persönlichen Gefahren ausgesetzt wären und Opfer im vollen Bewußtsein der Tatsache zu bringen hätten, daß der Sturz eines totalitären Regimes von innen her so gut wie ausgeschlossen sein würde. Im Sommer 1932 wurden dann zwei Faktoren wirksam, die für die „Organisation" zweifellos weitreichende Bedeutung erlangt hätten, wenn die demokratischen Verhältnisse in Deutschland von Bestand gewesen wären. Fast drei Jahre hindurch hatte die „Organisation" eine zunehmende Zahl aktiver und freund6 Die „F-Kurse" waren in ihrem ersten Teil einem historischen Rückblick auf den Kampf des Bürgertums um seine Freiheit gegen den Absolutismus und auf die „bürgerliche Revolution" gewidmet, woraus theoretische und praktische Schlußfolgerungen für die Gegenwart gezogen wurden. Darin lag eingeschlossen die Behandlung philosophischer Fragen und der verschiedenen Ideologien jenes Zeitabschnitts. Im zweiten Teil wurde die Geschichte der Arbeiterbewegung, ihrer Parteien, der I., II. und der Kommunistischen Internationale (Komintern), der sozialistischen Splittergruppen und der inneren Entwicklung der Sowjetunion behandelt. Die „F-Kurse" erstreckten sich auf 16—18 Abende und dauerten drei bis vier Monate. Zum Abschluß wurde versucht, eine realistische Einschätzung der historischen Situation zu geben, und die Teilnehmer wurden zu den Grundsätzen der „Organisation" verpflichtet. Als Unterlage in den „F-Kursen" diente u. a. eine von Kurt Menz (ebenfalls Pseudonym für Walter Löwenheim) im Mai 1931 abgeschlossene Schrift Die proletarische Revolution. Die Grundzüge ihrer Theorie und ihrer Besonderheiten in Deutschland. Diese Schrift existierte nur in wenigen Exemplaren, die Eigentum der „Organisation" blieben. Diejenigen Mitglieder der „Organisation", die sie zur Einsicht erhielten, waren angehalten, keinem anderen Einblick zu gewähren. — Ein Exemplar wurde dem Verfasser freundlicherweise durch Herrn Eberhard Hesse zur Verfügung gestellt.

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schaftlich verbundener Mensdien an sidi gezogen, als eine innere Organisationskrise die Leitung zu der Erkenntnis führte, daß sie nicht fortgesetzt Mitglieder sammeln konnte, um ihnen dann nicht mehr als reine Organisationsarbeit zu bieten. In der hieraus resultierenden Absicht, den Ideen der „Organisation" stärker als bislang in den Arbeiterparteien Resonanz zu verschaffen, begann sie daher den Aufbau von oppositionellen Kerngruppen innerhalb der S P D und K P D in die Wege zu leiten. Der andere Faktor ergab sich aus einer fortlaufenden Analyse der weltwirtschaftlichen Entwicklung und ihrer politischen Folgen, aus der die Leitung zu der Auffassung gelangte, daß die internationale Krise im Sommer und Herbst 1932 ihren tiefsten Stand erreicht habe und sich bereits erste Erholungsanzeichen erkennen ließen, die Prognose eines günstigeren Verlaufs also an Wahrscheinlichkeit gewann. 7 Die Reichstagswahlen vom November 1932, bei denen die Nationalsozialisten mehr als 2 Millionen Stimmen verloren, schienen die Lagebeurteilung in überraschender Weise zu bestätigen. Einen der ersten Erfolge ihres neuen Aktionskurses konnte die „Organisation" verzeichnen, als es ihr gelang, den drohenden Ubergang der Berliner „Sozialistischen Arbeiterjugend", die als Jugendorganisation der S P D damals rund 3300 Mitglieder in Berlin zählte, zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und deren Jugendorganisation zu verhindern. Im Verlaufe dieses Eingreifens traten die maßgebenden Berliner SAJ-Funktionäre während der Monate September 1932 bis Januar 1933 der „Organisation" bei, womit diese eine Anzahl weiterer aktiver Mitglieder gewann. 8 - Wachsendes Kraftbewußtsein und zunehmender Optimismus der „Organisation" kamen in einer Konferenz am 8. Januar 1933 zum Ausdruck, auf der die Leitung ihre neue Ausdehnungspolitik, die die bisherige Stagnation überwinden sollte, erläuterte und eine eingehende Lageanalyse vortrug. 9 Die Leitung betonte dabei die sich abzeichnenden neuen positiven Entwicklungsmomente, unterstrich aber gleichzeitig die Gefahr von Rückschlägen, die nach ihrer Meinung noch für mehrere Monate bestehen würde. Allen Spekulationen auf eine weitere verlustreiche Niederlage der Nationalsozialisten wie auch den Erwartungen auf eine Zunahme des Einflusses der 7

Eine ähnlidi optimistische Beurteilung der damaligen Situation findet sich z. B. auch in

einem Leitartikel der „Frankfurter Zeitung" vom 1. Januar 1 9 3 3 : „Der Wendepunkt ist da. Neue Möglichkeiten scheinen in reicher Fülle vor uns zu liegen . . . Das neue J a h r wird nur eine neue Etappe sein; aber eine Etappe bereits jenseits des Wendepunktes. In der Wirtschaft, in der Wirtschaftspolitiken der Innenpolitik und vor allem auch in der geistigen Gesamtlage der Nation lassen sich zum ersten Male gleichzeitig deutliche Symptome einer beginnenden Konsolidierung und jedenfalls einer gestaltungsfähigen Lage erkennen." 8

Vgl. Der Berliner

Jugendkonflikt,

S. 11; ferner Kliem, Widerstand, 9

S. 43 f.

Vgl. Kliem, a. a. O., S. 24 ff.

masch. schriftl. Bericht im Nachlaß von Paul Hertz,

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„Organisation" in den Arbeiterparteien setzte der 30. Januar 1933 abrupt ein Ende. Wenige Wochen noch gab sich die Leitung der Hoffnung hin, daß die E n t wicklung zur totalitären Diktatur im letzten Augenblick durch einen Bruch zwischen den Nationalsozialisten und den Deutschnationalen aufgehalten werden könnte. Im März 1933, nach dem Reichstagsbrand, war ihr dann endgültig bewußt, daß der Nationalsozialismus sich durchgesetzt hatte und seine totalitäre Herrschaft aufzurichten begann. Entschlossen führte die Leitung nun jene M a ß nahmen durch, die für den Fall der Illegalität seit langem vorgesehen und vorbereitet waren. 1 0 II DER WIDERSTAND V O N N E U B E G I N N E N BIS ZUR SPALTUNG DER ORGANISATION 1933-1935

Umstellung auf die Illegalität Durch die Tatsache, daß es den Nationalsozialisten in unerwartet kurzer Zeit gelungen war, sich uneingeschränkt der gesamten Staatsgewalt zu bemächtigen, sah die „Organisation" sich vor ein sowohl menschlich als auch politisch tragisches Dilemma gestellt. Einerseits war die deutsche Arbeiterbewegung durch ihre Zerrissenheit und ihre dadurch noch vergrößerte Ohnmacht auch bei selbstlos mutigem Einsatz ihrer Besten nicht in der Lage, die Festigung der nationalsozialistischen Macht ernsthaft zu beeinträchtigen oder gar zu verhindern, da offener Widerstand schnell die völlige Vernichtung herbeiführen mußte. Die Leitung der „Organisation" war sich bereits damals darüber klar, daß die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems nur durch einen siegreichen Krieg der demokratischen Länder möglich sein würde. 1 1 Andererseits war sie aber davon überzeugt, daß ihre Vorstellungen vom Wesen des Nationalsozialismus und seinen totalitären Tendenzen der Realität weitaus näherkämen als die Auffassungen bei den meisten anderen Kräften der Arbeiterbewegung. Ferner glaubte sie, eine große moralische Verpflichtung zur Bewahrung ihrer eigenen Existenz zu tragen, um ihre Einsichten über den Nationalsozialismus gerade auch in der Illegalität verbreiten zu können, solange es irgend ging. Schließlich sah es die „Organisation" als ihre Aufgabe an, die noch bestehenden Reste der deutschen Arbeiterbewegung und die ausländischen Bruderparteien vor jeglichen Illusionen über Charakter und Stärke des Nationalsozialismus zu warnen, die leicht zu verhängnisvollen Fehlern und Enttäuschungen führen mußten und ja auch tatsächlich vielfach geführt haben. Ihre eigene Illusionslosigkeit A. a. O., S. 40 u. 43. Nach der von Henry Hellmann im Einverständnis mit Miles für den Verf. angefertigten Niederschrift wurde diese Meinung aber nicht mit aller Offenheit vertreten, da sie leicht als „defaitistisch" angesehen werden konnte. 10

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gegenüber dem Regime und seinem Terror jedenfalls räumte der „Organisation" größere Aussichten ein, zumindest über die Phase der anfänglichen Stabilisierung des Nationalsozialismus hinweg zu gelangen. Die Umstellung auf den illegalen Kampf war denn auch erfolgreicher, als sich ursprünglich erwarten ließ. Die Leitung der „Organisation", die verschiedene illegale Büros unterhielt - in der Berliner Bendlerstraße, im Columbushaus am Potsdamer Platz und an anderen zentral gelegenen Stellen der Reichshauptstadt - , wie auch die Mitglieder konnten praktisch ungestört und ohne Verluste weiterarbeiten. Im Rahmen der Umstellung gelang es der Leitung, ihre schon seit längerer Zeit bestehenden Verbindungen von Berlin aus mit Orten und Bezirken im Reich zur Erweiterung ihres Einflusses und ihres organisatorischen Netzes auszunutzen. Sie errichtete ein besonderes „Provinzbüro", das im Laufe der Zeit mehrere Provinzkonferenzen - in der Dübener Heide, in Düsseldorf, Leipzig, Dresden, Mannheim, München und anderen Orten abhielt, die der Gründung neuer Gruppen in den verschiedenen Teilen Deutschlands dienten. Ohne damit ihre Bindung an das marxistische Klassenkampfdenken preiszugeben, das begrenzte Bündnisse mit anderen Gesellschaftsgruppen keineswegs ausschließt, bahnte die Leitung der „Organisation" zur technischen Untergrundarbeit auch enge Kontakte zu antinationalsozialistisch eingestellten bürgerlichen Kreisen an. Dieser Teil der Arbeit, der von den sogenannten „ G E S A G Gruppen" (Gesellschaftliche Aktionsgruppen) geleistet wurde, sollte dazu beitragen, demokratische Elemente des Bürgertums für den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen. Der Versuch, die „Organisation" auch in bürgerliche Schichten auszudehnen, fast eine Vorwegnahme der Konzeption des 20. Juli 1944, hatte aber nicht den gewünschten Erfolg. Wenngleich es gelang, eine Reihe bürgerlicher Intellektueller zu gewinnen, so blieb die „Organisation" doch bei den wirklich entscheidenden Kreisen ohne nennenswerte Resonanz. Immerhin aber waren die durch die „ G E S A G " geschaffenen Verbindungen für die konspirative Abdeckung nicht ohne Bedeutung, konnten dadurch doch zum Beispiel Wohnungen für Sitzungen und „Treffs" oder für Telefongespräche unauffällig benutzt werden. Die Versuche, ins Bürgertum einzudringen, hätten wohl auch erst dann zu Erfolgen führen können, wenn das nationalsozialistische Regime in umfangreiche Schwierigkeiten oder gar in eine aussichtslose Lage geraten wäre. Bezeichnend scheint jedenfalls, daß die oppositionellen Strömungen in den führenden Schichten des Bürgertums selbst sich erst seit der Herbstkrise des Jahres 1938 zu handlungsfähigen Gruppen zusammenfanden. 12 Sehr früh versuchte die Leitung, sich für ihre Arbeit die Unterstützung inter12

Vgl. Kliem, a. a. O., S. 86 f.

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nationaler sozialistischer Organisationen zu sichern. Ende März 1933 faßte sie eine Resolution, in der ihre grundsätzliche und politische Stellung in der damaligen Zeitlage dargestellt und die Anerkennung durch die Sozialistische ArbeiterInternationale ( S A I ) gefordert wurde, was für eine illegal im Reich arbeitende und bisher weithin unbekannte Gruppe eine durchaus lebenswichtige Frage war. 1 3 I m April 1933 schickte sie Fritz Erler 1 4 unter dem Decknamen „Genosse G r a u " mit dieser Resolution zum Sekretär der S A I , Friedrich Adler, nach Zürich. Adler stellte daraufhin für Miles und die „Organisation" die Verbindung sowohl zum schweizerischen Nationalrat Robert Grimm her, einem Vorstandsmitglied der sozialdemokratischen Partei in der Schweiz, als auch zum emigrierten Parteivorstand der S P D in Prag. Daneben beschloß die Leitung der „Organisation", in Prag ein Auslandssekretariat zu errichten, das nach ihren Weisungen arbeiten und für die Finanzierung der Inlandstätigkeit sowie für die Beeinflussung der ausländischen Öffentlichkeit sorgen sollte. Mit der Leitung dieses Sekretariats betraute sie im Mai 1933 D r . K a r l Frank. Ihm, der erst seit kurzer Zeit zur „Organisation" gehörte, wurde diese Aufgabe übertragen, weil er große organisatorische und journalistische Fähigkeiten besaß und weil man damals meinte, keines der führenden Mitglieder der Leitung dafür entbehren zu können. Außerdem nahm die Leitung an, daß sie spätestens nach einem J a h r ohnehin ihren Sitz in das Ausland würde verlegen müssen. Zwischen der Inlandsleitung und dem Sekretariat im Ausland entstanden aber sehr bald Reibungen, die teilweise aus der verschiedenen Beurteilung der politischen Entwicklung, der Möglichkeiten und Aussichten des Kampfes in Deutschland und voneinander abweichenden Ansichten in der Frage der Publikationsmethoden der „Organisation" herrührten, andererseits aber wohl auch auf persönlichen Differenzen zwischen Miles und D r . Frank beruhten. 1 5 Diese Gegensätze sollten dann später in nicht unwesentlichem Maße zur Spaltung der „Organisation" beitragen. Die Programmschrift

„Neu

Beginnen"

Neben der Umstellung auf die Illegalität und der Einrichtung eines Auslandssekretariats sah es die Leitung als eine notwendige Aufgabe an, in einer Programmschrift grundsätzlich zur neuen Lage Stellung zu nehmen. Sie hatte bereits seit ihren Anfängen umfangreiches politisches und theoretisches Material zur internen Unterrichtung der Mitglieder und als Diskussionsgrundlage erarbeitet. Größere Teile davon konnten nun fast ohne jede Änderung in die Pro13 14 15

A. a. O., S. 45 f. Heute Vorstandsmitglied der SPD und seit 1949 Abgeordneter des Bundestages. Vgl. Kliem, Widerstand, S. 36 u. 40.

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grammschrift übernommen werden; verbindender Text und aktuelle Schlußfolgerungen vervollständigten sie. Nachdem das Manuskript noch im Frühsommer 1933 in Berlin abgeschlossen worden war, wurde Dr. Karl Frank durch Friedrich Adler beim Exilvorstand der SPD in Prag legitimiert und beauftragt, über die Herausgabe des Programms zu verhandeln. Miles und seine Gattin brachten den Text im Juni 1933 in die Schweiz, wo er letzte redaktionelle Änderungen erhielt und an Robert Grimm übergeben wurde, der ihn dem SPD-Vorstand weiterleitete. Die Schrift erschien im September 1933 im sozialdemokratischen Parteiverlag „Graphia" in Karlsbad in zwei verschiedenen Ausgaben. Die normale Ausgabe trug den Titel „Neu Beginnen", 16 der fortan auch der „Organisation" den Namen gab. Die illegale, für Deutschland bestimmte Ausgabe im Kleinformat erhielt den Tarntitel: „Arthur Schopenhauer ,Über Religion'". Der Eindruck, den die „Neu Beginnen"-Broschüre sowohl innerhalb als auch außerhalb der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung hervorrief, war beträchtlich.17 Zahlreiche ausländische Zeitungen und Zeitschriften widmeten ihr eingehende Besprechungen und trugen dadurch mit zur Erhöhung ihrer Wirkung bei. Bald erschienen auch Ubersetzungen in fremde Sprachen.18 Um 1 8 Der genaue Titel der Brosdiüre lautete: „Neu Beginnen!" Faschismus oder Sozialismus. Diskussionsgrundlage zu den Streitfragen unserer Epoche. Von Miles. (Probleme des Sozialismus. Sozialdemokratische Schriftenreihe, Heft 2) Karlsbad o. J . — Vielfach wurde die „Organisation" nach Erscheinen der Broschüre auch „Miles-Gruppe" genannt. 1 7 Die Kommunisten Wilhelm Pieck und Fritz Heckert setzten sich auf dem 13. E K K I Plenum mit der Miles-Broschüre auseinander und lehnten sie scharf ab. Die Komintern ließ unter dem Verfasser-Pseudonym „Gerber" eine umfangreiche Gegenschrift veröffentlichen. Leo Trotzki bezeichnete „Neu Beginnen" als ein bösartiges Muster des „Zentrismus". Die SAP, selbst nicht ganz von AuserwähltheitsVorstellungen frei, wandte sich vor allem gegen die in der Schrift zum Ausdruck kommenden Elitegedanken. Ein positives Echo fand „Neu Beginnen" dagegen bei den meisten sozialdemokratischen Parteien des Auslandes, die hervorhoben, daß sich diese Gruppe nicht kampflos mit dem Ende der SPD abgefunden habe. Auch Karl Kautsky stimmte in der „Zeitschrift für Sozialismus", 1. Jg., Nr. 2, Nov. 1933, vielen Thesen von Miles zu. Vgl. dazu auch Kliem, Widerstand, S. 63 ff., sowie zur ideologischen und soziologischen Problematik Lewis J . Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil von 1933—1945 (Original-Ausgabe: German Exile Politics. The Social Democratic Executive Committee in the Nazi Era, Berkeley and Los Angeles 1956), Hannover u. Frankfurt, S. 67 ff. 1 8 Im Winter 1933/34 wurde die Broschüre ins Englische und Französische übertragen. In England konnte sie mit finanzieller Unterstützung von Gewerkschaften und Labour-Gruppen mit einem Vorwort von N. Brailsford erscheinen. Eine andere englische Ausgabe erschien im Verlag Allen Sc Unerin. Britische Zeitungen, wie der „Manchester Guardian", brachten ausführliche Artikel über die Broschüre. Alexandre Bracke, der damalige Chefredakteur des sozialistischen „Populaire", versah die französische Ausgabe mit einer Einleitung. 1934 erschien auch eine amerikanische Ausgabe; später wurden in anderen Sprachen zumindest längere Auszüge aus der Broschüre veröffentlicht.

11 Jahrbudi 12

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die nach Deutschland geschmuggelten Exemplare bildeten sich sehr bald Diskussionsgruppen. Die geschliffenen Formulierungen, die faszinierende Analyse, der überzeugende Ausblick auf das, was im Kampf gegen den Nationalsozialismus als notwendig bezeichnet wurde, fanden große Zustimmung und waren von so starker gemeinschaftsbildender Kraft, daß diese Gruppen sich dann oft als zu „Neu Beginnen" gehörig fühlten. Viele der in der Broschüre dargelegten Thesen entsprachen offensichtlich auch der Uberzeugung einer ganzen Reihe von Sozialdemokraten im Reich und in der Emigration. Ferner kam es „Neu Beginnen" zugute, daß es, im Vergleich zu anderen Gruppen der Arbeiterbewegung, auf Grund der langen und intensiven Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt - September 1933 - mit einem solchen Programm an die Öffentlichkeit treten konnte. „Neu Beginnen" wurde schnell zu einem Begriff und umfaßte viele Menschen, die mit der eigentlichen „Organisation" keinerlei Verbindung hatten und von deren Existenz und Entwicklung die Leitung ihrerseits keine Kenntnis besaß. In der Einleitung seiner Schrift stellte Miles zunächst fest, daß die NSDAP mit ihrem Sieg nicht nur zur alleinigen Inhaberin der Staatsmacht, sondern auch zur einzigen organisierten Kraft im politischen Leben der deutschen Gesellschaft geworden war. Die sozialistischen Arbeiterparteien wären von dieser „ruckartigen Entwicklung wie von einem Blitz aus heiterem Himmel getroffen worden". Mit schonungsloser Offenheit kritisierte Miles dann, daß die Arbeiterbewegung der „faschistischen Offensive" ohne den Versuch, ja, ohne den Gedanken an einen ernsthaften Widerstand zum Opfer gefallen war. Die großen, einst so mächtigen Organisationen der deutschen Arbeiterschaft, in ihrer politischen Wirksamkeit seit Jahrzehnten nur an Massenagitation unter demokratisch-legalen Verhältnissen gewöhnt, seien nicht in der Lage gewesen, sich auf die neuen Bedingungen des illegalen Kampfes gegen den Nationalsozialismus einzustellen. Miles vertrat aber die Auffassung, daß dies lediglich zu einer vorübergehenden Hemmung der politischen Arbeit hätte zu führen brauchen. Erheblich schwerer wog für ihn die Tatsache, daß sich die sozialistischen Parteien und Gruppen völlig außerstande zeigten, das Wesen des Nationalsozialismus und die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in seinem Umkreis vollzogen, zu begreifen und zu analysieren, daß sie teilweise hofften, das nationalsozialistische Regime sei nur als eine kurze Episode aufzufassen, und früher oder später werde die Entwicklung wieder zur Demokratie zurückführen. Nach Miles war an eine Weiterführung der sozialistischen Arbeit unter der Hitler-Diktatur nur zu denken, wenn deren Wurzeln, ihr Wesen und ihre Absichten von den Illegalen mit wissenschaftlicher Klarheit begriffen wurden und wenn sie als „revolutionäre Marxisten aus der wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft

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klare Konsequenzen für ihre Arbeit zu ziehen gelernt haben". Ohne solche Voraussetzungen würde auf die Dauer jeder Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zur Niederlage verurteilt sein. Miles untersuchte dann die politischen und theoretischen Positionen, die die sozialistischen Parteien in Deutschland nach ihrer Zerschlagung bezogen hatten. Danach hatten die Kommunisten „bisher nicht einmal geruht, von den politischen Veränderungen Kenntnis zu nehmen", weil sich Deutschland in ihren Augen noch immer im „Stadium eines revolutionären Aufschwungs" befand. Trotz der Vernichtung ihrer Parteiorganisation glaubten sie noch weiter „mit geradezu religiöser Inbrunst an spontane Revolutionskräfte, die im Proletariat schlummern und die aus seiner Klassenlage entspringen sollen". Der deutschen Sozialdemokratie dagegen fehlte es, Miles zufolge, im Reich noch an einer einheitlichen Stellungnahme. Die sozialdemokratische Emigration aber erwartete ein Ende des Nationalsozialismus von einem spontanen Aufstand der Volksmassen. Sie glaubte, durch Propagierung des demokratischen Gedankens den Sturz des nationalsozialistischen Regimes beschleunigen zu können. Die Unterschiede in den theoretischen Positionen beider Parteien waren für Miles nicht allzu gravierend. Die Grundlage aller ihrer Einsichten und ihrer Handlungen bildete der Glaube an „eine dem Proletariat innewohnende revolutionäre Spontaneität" - für die Sozialdemokraten mit dem Ziel einer neuen Weimarer Republik, für die Kommunisten mit dem Ziel einer Sowjetrepublik. In Wirklichkeit habe sich aber gezeigt, daß das „Proletariat nicht von sich aus, also von natürlichen gesellschaftlichen Kräften, . . . zum sozialistischen Endkampf getrieben würde". Vielmehr hätte der Niedergangsprozeß der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung gerade in jener Zeit begonnen, „in der der Weltkapitalismus seinen von den Sozialisten schon vor Jahrzehnten vorausgesagten Bankrott in furchtbarer Weise offenbarte". Die Massen folgten in dieser großen Krise auch nicht den Sozialisten, sondern vielmehr den „bürgerlichen Führern". Und in Industrieländern mit großer Arbeiterschaft entstünden faschistische Parteien, die die Macht erobern und bis jetzt halten konnten, womit die Krise „zum Faschismus und nicht zum Sozialismus" getrieben hätte. D a niemand zu sagen wisse, was Sozialismus eigentlich sei und vor allem welche Wege zu ihm führten, stellte sich Miles mit seiner Schrift in erster Linie die Aufgabe, die „deutschen kämpferischen Sozialisten neu zu orientieren". Darüber hinaus sollten die ausländischen Bruderparteien aus den Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung Lehren für die eigene Arbeit ziehen können. Miles bezog sich anschließend auf das Wort des emigrierten SPD-Parteivorstandes in Prag, nach dem dieser die Leitung der Partei nur 11»

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treuhänderisch innehätte, bis eine neue Führung der Partei aus dem Kampf in Deutschland geboren wäre. 19 „Die neue Führung steht vor den Toren. Sie wird ihre Aufgabe erfüllen . . . Jetzt ist es an der Zeit, daß die alten Parteibeauftragten ihr Wort einlösen." 20

Mit anderen Worten, die Gruppe „Neu Beginnen" stellte, da sie nach ihrer Meinung allein über eine systematisch arbeitende sozialdemokratische Organisation im Reich verfügte, den Anspruch, die Führung der Sozialdemokratie selbst zu übernehmen. In seiner Untersuchung der bisher schwersten Krise des Kapitalismus, ihrer Ursachen und charakteristischen Merkmale, vertrat Miles die Ansicht, daß, wenn es nicht gelingen sollte, diese Gesamtkrise der Gesellschaft durch eine sozialistische Neugestaltung zu überwinden, der modernen Gesellschaftsstruktur der Untergang drohen würde. Untergangsprophezeiungen wie zum Beispiel die von Oswald Spengler waren von der gesamten sozialistischen Publizistik niemals politisch ganz ernst genommen und als aktuell aufgefaßt worden. Bis dahin hatte die „deterministische" Seite des Marxismus sowohl bei den demokratischen Sozialisten als auch bei den Kommunisten dazu gedient, den liberalen Glauben an den unaufhörlichen und geradezu zwangsläufigen Fortschritt als eine Art unabänderliches Entwicklungsgesetz zu übernehmen. Lediglich Karl Marx und Friedrich Engels hatten im ersten Kapitel des „Kommunistischen Manifestes" von den beiden Möglichkeiten der „revolutionären Umgestaltung der gesamten Gesellschaft" einerseits und dem „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen" andererseits gesprochen. Seitdem war aber in der theoretischen Literatur des Sozialismus und der des Kommunismus die letztere Möglichkeit nie wieder erwähnt worden, bis sie Miles in seiner Schrift erneut aufgriff. Miles glaubte zu erkennen, daß die Bedingungen für eine faschistische Entwicklung nicht nur auf Deutschland und Italien beschränkt seien, sondern überall sichtbar würden. Nun, 1933, nach dem Siege eines gleichartigen politischen Systems in Deutschland, „muß auch der ärgste Zweifler einsehen, daß wir es hier mit einer großen geschichtlichen Tendenz zu tun haben . . . , daß es eine allgemeine Tendenz zum Faschismus gibt. Trifft das zu, so werden hier politische und wirtschaftliche Schicksalsfragen für die Menschheit aufgeworfen, deren Bedeutung heute noch kaum abzusehen ist." 2 1 1 9 Vgl. den ersten programmatischen Aufruf des SPD-Vorstandes in der Emigration im „Vorwärts", Nr. 1, 18. Juni 1933. 2 0 Miles, „Neu Beginnen!", S. 7. 21 A.a.O., S.13.

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Der Kapitalismus erzeugte nach Ansicht von Miles in seiner „Niedergangsperiode" gesellschaftliche Kräfte, die zu einem Faschismus hinführen könnten. In Deutschland seien breite Volksmassen nicht allein durch die Propaganda der N S D A P nationalsozialistisch geworden, sondern auch durch gesellschaftliche Wandlungen, um deren Erkenntnis sich die Sozialisten hätten bemühen müssen. Die große Gleichgültigkeit der Arbeiterschaft gegenüber der Vernichtung ihrer Organisationen durch die Nationalsozialisten sei „die Folge des fortgesetzten schmählichen Versagens dieser Parteien und Organisationen" gewesen. „Statt alle Aktivität gegen das herrschende unselige System zu vereinen", hätten „sie ihre Kräfte zu gegenseitiger Bekämpfung eingesetzt . . ." 2 2 Gegenüber den Hoffnungen, die anfangs viele Sozialdemokraten, Kommunisten und auch weite Teile des Bürgertums noch gleichermaßen erfüllt hatten, daß sich das nationalsozialistische Regime in Kürze abnutzen würde, erklärte Miles: „Es wäre eine Illusion zu glauben, daß ein . . . faschistisches Regime an seinen inneren Widersprüchen, an dem durch das Scheitern ihrer Hoffnungen entflammten Freiheitswillen der Massen rasch zerbrechen müßte. Das Gegenteil ist richtig . . . Wenn schon die Massen nicht in der Lage waren, unter der bürgerlichen Demokratie, wo sie so viele Freiheiten genossen, sich mehr Freiheiten zu erkämpfen, vielmehr die alten Freiheiten noch verloren haben; unter dem Faschismus haben sie sogar die Waffen verloren, mit denen sie sich auf dem alten Wege der freien Meinungsäußerung könnten."23

und

des

Koalitionsgefüges

die

Freiheiten

zurückerkämpfen

Schon damals betonte Miles, wie außerordentlich schwierig ein Sturz des Nationalsozialismus herbeizuführen wäre. Er wies darauf hin, daß dies „nur unter bestimmten Umständen bewußt planmäßig durchgesetzt werden [könnte] von einer Macht, die ebenso über die Vorteile des Zentralismus und der bewußten Planmäßigkeit verfüge wie der Faschismus selber, sie aber mit wissenschaftlicher Einsicht . . . und Verantwortungsbewußtsein zu handhaben verstünde." Der Faschismus würde nicht von allein zusammenbrechen, sondern er müsse gestürzt werden, und das könne nur geschehen, wenn er durch innere und äußere Krisen geschwächt wäre. Sollte es aber nicht gelingen, den Nationalsozialismus wieder zu beseitigen, so folgerte Miles, dann würden die Völker, die sich noch zur Demokratie bekannten, immer mehr zum Faschismus getrieben und „um so näher rückt der zweite Weltkrieg . . . " Den als dessen Folge von ihm erwarteten Untergang der Zivilisation nach „vernichtenden ökonomischen Krisen" und einem noch „furchtbareren Weltkrieg" verglich Miles mit dem Ende der Kultur der Antike, dem ein „neues finsteres Mittelalter der Menschheitsgeschichte" folgen würde. 22

A. a. O., S. 15.

23

A. a. O., S. 16.

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Einen Ausweg aus dieser Gefahr des „Untergangs der kapitalistischen Kulturweit in die Barbarei" erblickte Miles in der Anwendung der von Marx und Engels entwickelten wissenschaftlichen Erkenntnismethoden. „ [Wir] erklären . . . uns mit aller Entschiedenheit für den Marxismus, als dem einzig möglichen Fundament einer sozialistischen Erneuerung der Menschheit. Wir erklären, daß die sdiwere Niederlage der sozialistischen Arbeiterorganisationen Deutschlands nicht den Marxismus widerlegt, sondern bestätigt. Denn diese Niederlage war nur die Folge des unmarxistischen Charakters dieser Arbeiterorganisationen . . . Eine Erneuerung der sozialistischen Arbeiterbewegung Deutschlands kann nur aus dem Geiste des Marxismus erfolgen." 24

Mit der Forderung, zu den „reinen" Anfängen des Marxismus zurückzukehren, alle seine Verfälschungen oder die auf Mißverständnissen beruhenden Entstellungen und Simplifizierungen abzustreifen, stand „Neu Beginnen" in der Arbeiterbewegung nicht allein.25 Während aber viele die marxistische Regenerierung vornehmlich in der Bildung einer Einheitsfront aller Gruppen, das heißt, in einer organisatorischen Verbindung unter Einschluß auch der Kommunisten, sahen, hielt Miles diesen Weg nicht für gangbar. Die Komintern lehnte Miles grundsätzlich ab, da sie nach seiner Auffassung nur Pionierarbeit für den Faschismus leistete. Er forderte daher ihre Liquidierung und die Überführung der ihr angeschlossenen kommunistischen Parteien in eine große einheitliche Internationale aller Sozialisten. Die Sowjetunion wurde von Miles als sozialistisch angesehen, aber nur insoweit, als er ihr einen subjektiven Willen zum Sozialismus zusprach. Die Staatsform der Sowjetunion bezeichnete er als den „Typus eines zentralistischen Parteistaates, wie wir ihn in Italien und nunmehr auch in Deutschland vorfinden." 26 Nach einer grundlegenden Analyse der Politik der beiden großen Arbeiterparteien und der von ihnen abgetrennten Splittergruppen, ihrer inneren organisatorischen Struktur, ihrer ideologischen Positionen und der Ursachen für die gemeinsame Niederlage, gelangte Miles zu dem Schluß, daß die sozialistische Arbeiterbewegung „unter den Bedingungen des faschistischen Regimes" nur in neuer Organisation weiterexistieren könne. „Neu Beginnen" sollte deshalb zum Sammelbecken der „besten, mutigsten, kritischsten und ergebensten Menschen" aller Richtungen der Arbeiterbewegung werden. Den Anfang dazu sah Miles in der freien und kritischen Diskussion unter jenen, „die die Erneuerung der sozialistischen Bewegung aus kämpferischem Geist und marxistischer Erkenntnis" für erforderlich hielten und diesem Ziel dienen wollten, woraus sich dann auch Umfang und Gliederung der neuen Bewegung ergeben würden. In 24

A. a. Vgl. geschichte 1933-1938, 26 Vgl. 25

O., S. 23 u. 38. dazu auch Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideender sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes Stuttgart 1952, Einleitung und I. Teil. Miles, „Neu Beginnen!", S. 45 ff.

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diesem Erneuerungsprozeß der „werdenden antifaschistischen, revolutionären, sozialistischen Partei" werde sich eine neue Führung bilden, die den Aufgaben und Gefahren der kommenden Periode gewachsen sein würde. Denn für Miles und die Leitung von „Neu Beginnen" war es eine „lächerliche Illusion" zu glauben, daß jene Persönlichkeiten, die bisher die marxistischen Parteien innerhalb der Demokratie geführt und dort versagt hatten, nunmehr auch die Fähigkeiten entwickeln würden, die schwierigen Führungsprobleme in der Illegalität zu lösen. Den ins Ausland emigrierten Funktionären wies Miles deshalb nur Hilfsfunktionen für die illegale Arbeit im Reich zu. Zwar verkannte auch er nicht den Wert, den ihre aufklärende und propagandistische Tätigkeit bedeutete, aber für ihn wurde der Kampf gegen den Nationalsozialismus nicht im Ausland, sondern allein in Deutschland entschieden. Er forderte daher, daß sich die Tätigkeit der Emigranten den Interessen der Illegalen, die allein befugt sein sollten, über die Politik und die Organisation der künftigen Partei entscheidend zu bestimmen, unterzuordnen hätte. Sobald dann die Diskussion über die „Neu Beginnen"-Broschüre genügend Resultate in Deutschland erbracht hätte, sollten die auf ihrer Basis reorganisierten Bezirksorganisationen durch Delegierte einen Parteitag konstituieren, der Programm und Grundsätze der erneuerten Partei festzulegen und eine neue Führung, in der auch Vertreter der Emigration Sitz und Stimme erhalten sollten, mit allen Vollmachten bis zum nächsten Parteitag auszustatten haben würde. 27 Als zweite vordringliche Aufgabe einer solchen erneuerten Partei sah Miles die Sammlung aller Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung an. Der schädliche Konkurrenzkampf müsse ausgeschaltet werden, denn nur so sei eine gänzliche Vernichtung zu vermeiden. Miles hoffte, daß unter „dem Druck des faschistischen Terrors" die Aussichten für eine solche Sammlungsorganisation weitaus günstiger seien als alle bisherigen Versuche, die von den kleinen Gruppen gegen die großen Parteien unternommen worden waren. Miles hielt es aber für unwahrscheinlich, daß die Kommunisten zu einer loyalen Zusammenarbeit bereit sein würden: „ W a s die K P D anbelangt, so sind die Chancen f ü r ihre Einbeziehung in diese S a m m l u n g zur Zeit sehr gering einzuschätzen. Sie ist nicht nur organisatorisch und politisch, sondern auch geistig in so s t a r k e m M a ß e v o n der K o m i n t e r n abhängig, d a ß ihre an sich höchst w ü n schenswerte u n d notwendige Einbeziehung in die deutsche sozialistische K l a s s e n f r o n t des P r o l e t a r i a t s viel mehr eine F o l g e der unvermeidlichen u n d höchst wünschenswerten Auseinandersetzung mit den Bolschewiki als mit den deutschen K o m m u n i s t e n sein wird. Sie ist also in erster Linie G e g e n s t a n d der internationalen P o l i t i k . " 27

A. a. O., S. 56 f f .

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HANS J. R E I C H H A R D T

Die Schwierigkeiten des Kampfes gegen die nationalsozialistische Diktatur beurteilte Miles illusionslos und mit einer für Mitte 1933 seltenen Klarheit: „Wir wissen, daß nur bestimmte günstige geschichtliche Konstellationen den unmittelbaren Kampf um die Niederringung des Regimes gestatten, und zwar auch nur dann, wenn die entscheidenden Volksmassen von einer sozialistischen Partei mit klarer Zielsetzung geführt werden. Darum lehnen wir auf das schärfste alle terroristischen Maßnahmen und solche Kampfmethoden ab, die auf Illusionen über den Faschismus beruhend, unnötige Opfer fordern, ohne dem Kampfe gegen das System irgendwie zu nützen . . . Wir wissen aber auch, daß selbst in der schwersten Krise des faschistischen Systems ein erfolgreicher Kampf um seinen Sturz nur dann möglich ist, wenn zu dieser Zeit eine sozialistische Partei als kampffähige, zielklare, bewußte und erfahrene Organisation besteht und mit den Volksmassen genügend eng und innig durch viele Fäden verbunden ist."28

Neben der Erneuerung der Arbeiterbewegung hielt Miles es für unerläßlich, auch die Mitarbeit aller „antifaschistischen und gegen die faschistische Parteiführung gerichteten Kräfte" für die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems zu gewinnen. Mit dieser Forderung sprach Miles eine Notwendigkeit aus, deren Verwirklichung erst Ende der dreißiger Jahre langsam einzusetzen begann und schließlich mit der Aktion des 20. Juli 1944 endete. Die Wiederherstellung der Demokratie mit Hilfe von Nichtsozialisten sollte aber nur ein unmittelbares politisches Kampfziel, eine erste Etappe sein, denn nur dadurch würde eine „Wiederaufnahme des sozialistischen Emanzipationskampfes" möglich sein. Miles verschwieg nicht, daß das Ziel keineswegs die „bürgerliche Demokratie", sondern die „Demokratie des werktätigen Volkes" sein müsse. Eine sozialistische Partei hätte sich von vornherein darüber klar zu sein, daß es das neuer liehe Entstehen eines „bürgerlich-demokratischen Regimes" wie in der Weimarer Republik zu verhindern gelte. „[Das] politische Ziel nach dem Sturz des Faschismus ist die Alleinherrschaft der sozialistischen Partei, weil sie allein eine Garantie bietet gegen die Wiederkehr des Faschismus, weil sie allein das Fundament bildet, auf dem ein Volk den Sozialismus erbauen kann, um damit alle Klassenherrschaft sowie Parteien und Parteienherrschaft absterben zu lassen." 2 9

Die illegale Arbeit bis 1935 Nachdem Friedrich Adler die „Organisation" beim emigrierten Parteivorstand der S P D in Prag, der die Herausgabe der „Neu Beginnen"-Broschüre mit unterstützte, 30 legitimiert hatte, erreichte das von der Leitung mit entsprechenden Verhandlungen beauftragte Auslandsbüro, daß „Neu Beginnen" in seiner 28

A. a. O., S. 57.

29

A. a. O., S. 59 f.

30

Der SPD-Vorstand bewies mit der Unterstützung für die Broschüre von Miles, in der

er ja auch auf das schärfste kritisiert wurde, ein ungewöhnliches Maß an Toleranz und demokratischer Gesinnung. Vgl. dazu auch Kliem, Widerstand,

S. 60.

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169

Arbeit vom Exil-Vorstand anerkannt und teilweise finanziert wurde. Daneben aber hielt auch Miles eine direkte Verbindung zum SPD-Vorstand, vor allem zu Hans Vogel und Siegfried Crummenerl, die er wiederholt in Prag aufsuchte und zu denen er nach eigener Angabe ein vertrauensvolles Verhältnis fand. Die illegale Arbeit in der „Organisation" vollzog sich — wie bei vielen anderen Gruppen auch - in Dreier- und Fünfergruppen. An der Spitze jeder Gruppe stand ein Beauftragter der Leitung, der als einziger K o n t a k t zu ihr hatte. Die Gruppen hatten einmal die Aufgabe, allgemeine politische Fragen sowie die von der Leitung und ihren Beauftragten ihnen vorgelegten Berichte zu diskutieren. So erörterten sie die in der „Neu Beginnen"-Broschüre vertretenen Thesen und erhielten mit dem Ziel, den einzelnen Mitgliedern das Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu einer weit über Deutschland hinausgehenden Aktivität und Verbundenheit zu vermitteln, Berichte über die von Funktionären der Leitung im Ausland mit Vertretern der internationalen Arbeiterbewegung geführten Besprechungen. Analysen herausragender Ereignisse, wie der Röhm-Krise 1934, der Einführung der Wehrpflicht und des Anlaufens der Rüstungsproduktion gehörten ebenfalls zum internen Schulungs- und Informationsprogramm. Die Gruppen ihrerseits sammelten über Vorgänge in Betrieben, in der N S D A P und ihren Nebenorganisationen zahlreiche Berichte, die an die Leitung weitergegeben wurden. Diese setzte eine Redaktionskommission ein, die aus den vielen Einzelberichten monatlich einen Gesamtüberblick über die innere Situation des nationalsozialistischen Regimes zur Publikation oder zur Unterrichtung bestimmter Persönlichkeiten zusammenstellte. Verschlüsselt wurden diese Berichte von Kurieren unter größtmöglicher Sicherung ins Ausland gebracht. Uberhaupt hatte die „Organisation" schon lange vor 1933 begonnen, ihre Arbeit konspirativ abzusichern. So war es zur stehenden Gewohnheit geworden, kein einziges Mitglied im Umgang mehr mit seinem bürgerlichen Namen zu bezeichnen, selbst wenn sich die Mitglieder von früher her kannten. Wurde der Deckname eines Mitgliedes durch Zufall Außenstehenden bekannt, so wurde der Deckname sofort gewechselt. In der Organisation war es zu einer Angelegenheit des Stolzes auf die eigene Disziplin geworden, die Sicherungsvorschriften einzuhalten und auf jede menschlich verständliche Neugier zu verzichten. Jeder erwarb nur so viele Personen- und Adressenkenntnisse, wie er für seine politische Arbeit notwendig brauchte. In einer besonderen „Kon"-Lehrstunde (Kon = Konspiration) wurden Anleitungen zur einfachen, aber sicheren Verschlüsselung von Telefonnummern gegeben.

170

H A N S J. REICHHARDT

In der Illegalität fanden keine Sitzung, kein Straßentreffen und keine Konferenz statt, ohne daß auf ihnen als erster Tagesordnungspunkt „Fünf Minuten Kon" besprochen wurden, das heißt, die Anwesenden verabredeten, welche Angaben sie im Falle einer Entdeckung und Verhaftung machen würden über den Zweck der Zusammenkunft, Skatspielen etwa, Briefmarkensammeln, Photographieren, Ausflüge vorbereiten und auf welche unverfängliche Weise sich die zum Teil in Berlin weit voneinander wohnenden und in völlig verschiedenen Berufen tätigen Teilnehmer kennengelernt hätten. Außerdem hatte einer der Teilnehmer an solchen Sitzungen oder Zusammenkünften stets den Auftrag, mehrere Minuten früher oder später zu kommen und das Haus oder die Straßenecke, wo das Treffen stattfinden sollte, zu beobaditen, um festzustellen, ob sich dort Polizei in Uniform oder Zivil aufhielt, so daß gegebenenfalls das ganze Treffen auf einen regelmäßig schon vorher vereinbarten Zeitpunkt verschoben werden konnte. Ferner galt bei den „Treffs" die Regel, daß, falls ein Teilnehmer mehr als zehn Minuten zu spät kam, der Mann, der ihn erwartete, wegging, um auffälliges Verhalten an Straßenecken oder in Gaststätten zu vermeiden. Alle Mitglieder, die gefährdet erschienen, wurden von sämtlichen Kontakten zur „Organisation", besonders zu ihrer Gruppe, sofort isoliert. Nur ein Beauftragter der „Organisation" hielt unter besonderen Vorsichtsmaßregeln die Verbindung zu ihnen aufrecht, soweit das notwendig war. Erst wenn die Betreffenden für längere Zeit von jeglichen polizeilichen Maßnahmen unbelästigt geblieben waren, wurden sie wieder einer Gruppe zugeteilt. Diejenigen aber, die so gefährdet waren, daß ihre ungestörte politische Weiterarbeit kaum denkbar erschien, wurden in die Emigration geschickt. Die „Organisation" hatte der Ausarbeitung einer politisdien Arbeitstechnik des konspirativen Selbstschutzes viel geistige und organisatorische Aufmerksamkeit gewidmet. Die ständige Schulung der Mitglieder mit den von der Leitung der „Organisation" ausgearbeiteten konspirativen Methoden schon vor 1933 wirkte sich später sehr günstig aus. Nur mit ihrer Hilfe war es möglich, mehr als zwei Jahre relativ ungestört weiterzuarbeiten. Der Gestapo gelang es deshalb auch niemals - trotz der Einrichtung eines Sonderdezernats „Neu Beginnen" nach Erscheinen der Broschüre von Miles einen Spitzel in die Reihen der „Organisation" einzuschleusen. Dennoch ereigneten sich - angesichts dieser fast perfekten konspirativen Absicherung geradezu unverständliche - Pannen, die 1935 auch zur Verhaftung einer ganzen Reihe von Mitgliedern führen sollten.31 31

Vgl. S. 175 ff.

NEU

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Die

Spaltungss

171

Allmählich geriet aber „Neu Beginnen" in zunehmendem Maße in organisatorische Schwierigkeiten. Eine illegal arbeitende, zentralistisch geleitete Organisation konnte auf die Dauer nur bestehenbleiben, wenn sich reale Möglichkeiten für einen Sturz des bekämpften Regimes abzeichneten. Da aber eine entgegengesetzte Entwicklung sichtbar wurde, konnten Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Konzeption nicht ausbleiben. Es zeigte sich nämlich immer deutlicher, daß die Wirksamkeit der Geheimhaltungsmaßnahmen zur Sicherung der „Organisation" auch negative Folgen hatte. Zwar gelang es, über zwei Jahre hindurch illegal ohne Verluste zu arbeiten, aber die oft mühselige und umständliche, wenngleich auch notwendige und anderen illegalen Gruppen zum Teil weit überlegene konspirative Tedinik hemmte die Dynamik von „Neu Beginnen" doch in starkem Maße. Zudem konnte „Neu Beginnen" weder die Führung der meist unabhängig voneinander tätigen illegalen Gruppen der Arbeiterbewegung erringen noch wurde der Anschluß an handlungsfähige antinationalsozialistische Kräfte im Bürgertum gefunden, da es sie in der wünschenswerten Geschlossenheit zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit einfach noch nicht gab. Der Arbeit fehlte daher das befeuernde Agens sichtbarer Erfolge. 33 Die Inlandsleitung kam allmählich zu der Uberzeugung, daß eine Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit unter den obwaltenden Umständen in Deutschland nicht mehr sinnvoll sein könne. In der Tat schienen die objektiven Bedingungen für die illegale Arbeit immer ungünstiger geworden zu sein. Einerseits konnte die Gestapo seit ihrer Übernahme durch Himmler und Heydrich im April 1934, von der an dann auch alle politischen Polizeien Deutschlands von Berlin aus einheitlich geleitet wurden, 34 ihre Gegenmaßnahmen wesentlich wirksamer gestalten; andererseits trugen die freiwillige Rückkehr des Saargebietes in das Deutschland des Nationalsozialismus im Januar 1935 wie auch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935, bei der keine Intervention des Auslandes erfolgte, dazu bei, in der Leitung von „Neu Beginnen" eine gewisse Resignation hervorzurufen. Beide Ereignisse, die in Deutschland starke Zustimmung fanden, 32

Genau besehen, handelte es sich bei diesem Vorgang mehr um einen Leitungswechsel als

um eine Spaltung. Da sich im Sprachgebraudi der meisten früheren Mitglieder von „Neu Beginnen" dieser Begriff aber fest eingebürgert hat, wird er audi hier verwendet. Objektiv ist „Spaltung" insofern nicht völlig korrekt, als die Organisation, wie in diesem Abschnitt geschildert wird, nicht in zwei selbständig weiterexistierende Teile zerfiel, sondern die Gruppe um Miles fortan organisatorisch nicht mehr in Erscheinung trat und er selbst kurze Zeit später die Organisation überhaupt für aufgelöst erklärte. 33

Vgl. auch Kliem, Widerstand,

34

Siehe Friedrich Zipfel, Gestapo und SD in Berlin, in: J G M O D 9 / 1 0 (1961), S. 269.

S. 126 ff. u. 141 f.

172

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zeigten, daß die illegalen Gruppen gegenüber dem nationalsozialistischen Monopol an allen Publikationsmitteln nur sehr geringe Möglichkeiten zur Beeinflussung der Bevölkerung mit ihren Vorstellungen hatten. Bei „Neu Beginnen" kam aber in dieser Zeit noch ein weiteres hinzu, das den Willen zur Weiterarbeit stark lähmte. Gegen Jahresende 1934 sperrte der Parteivorstand der SPD alle finanziellen Zuschüsse für das Auslandsbüro von „Neu Beginnen", „ . . . weil der in Prag weilende Vertreter entscheidend an den Bestrebungen mitgewirkt hat, innerhalb der SPD eine Sonderorganisation der sogenannten oppositionellen Gruppen zu schaffen". Dr. Karl Frank hatte nämlich versucht, mit der von Karl Böchel und Siegfried Aufhäuser geschaffenen Gruppe der „Revolutionären Sozialisten" zusammenzuarbeiten. Böchel und Aufhäuser waren deswegen aus dem Parteivorstand ausgeschieden. Der Vorstand hielt derartige Versuche führender Mitglieder, innerhalb der Partei geschlossene Gruppen aufzubauen, die den Parteivorstand ablehnten, für unerträglich. „Neu Beginnen" war durch den Ausfall der Gelder naturgemäß empfindlich getroffen, und die Inlandsleitung bemühte sich, durch einen Besuch von drei Vertretern in Prag den Sperrungsbeschluß des Parteivorstandes der SPD rückgängig zu machen. In den Verhandlungen mit den Vorstandsmitgliedern Wels, Vogel, Hertz und Ollenhauer konnte aber keine Rücknahme dieses Beschlusses erreicht werden. Beim Parteivorstand wog die Furcht vor einem Zusammengehen der gegen ihn oppositionell eingestellten Gruppen offenbar stärker als die Argumentation der Inlandsleitung, daß dadurch die Arbeit im Reich ernsthaft gefährdet sei. Die Inlandsleitung wandte sich daraufhin zwar an die SAI und berief sich auf deren Anerkennung von „Neu Beginnen" durch eine Dreierkommission im Sommer 1934, wobei sie diese aufforderte, durch ein Schiedsgericht den Streit mit der SPD zu schlichten. Doch die erhoffte Intervention der SAI bei der SPD blieb aus. 35 Dagegen wiederholte der Parteivorstand der SPD seine ablehnende Stellungnahme in einem Rundschreiben vom 30. Januar 1935, in dem er die Sperrung der Gelder für „Neu Beginnen" und den Abbruch jeglicher Kontakte zu der Gruppe um Böchel-Aufhäuser noch einmal bestätigte. 36 Angesichts dieser vielfachen Schwierigkeiten vertrat die Inlandsleitung nunmehr die Ansicht, daß das Aufrechterhalten einer revolutionären marxistischen Organisation unter dem nationalsozialistischen Regime, da entscheidende revoVgl. Kliem, Widerstand, S. 126 u. 133. Vgl. Rundsdireiben des Parteivorstandes der SPD vom 31. Januar 1935, dem eine ausführliche Materialzusammenstellung über den K o n f l i k t zwischen dem P V einerseits und den Vorstandsmitgliedern K a r l Bödiel und Siegfried Aufhäuser andererseits sowie mit Dr. K a r l Frank von der Auslandsleitung „Neu Beginnen" beigefügt ist. Vorhanden im Parteiardiiv der SPD in Bonn. 35

36

NEU BEGINNEN

173

lutionäre Antriebskräfte fehlten, unmöglich sei. Die wenigen noch aktiven Marxisten müßten sich in anderen Ländern mit revolutionären Chancen ein neues Betätigungsfeld suchen und die Organisation im Reich auflösen. Seit Oktober 1934 bildete sich aber gegen diese liquidatorischen Tendenzen eine starke Opposition in Berlin, die vom Leiter des Auslandsbüros, Dr. Frank, der Berlin mehrfach besuchte, unterstützt wurde. Im Januar 1935 fuhr Miles deshalb nach Prag, um Dr. Frank vor den Gefahren eines möglichen Auseinanderbrechens der Organisation zu warnen, 37 doch konnte eine Einigung nicht mehr erreicht werden. Die Opposition gegen die Inlandsleitung war sich zwar wie Miles völlig über die großen Schwierigkeiten einer Fortsetzung der illegalen Arbeit und der Beseitigung des Nationalsozialismus im klaren, doch im Gegensatz zu ihm war sie der Auffassung, die Miles noch selbst in der Programmschrift „Neu Beginnen" vertreten hatte, daß der Kampf gegen das Regime vor allem von innen heraus geführt werden müsse.38 Sie hielt an der Notwendigkeit fest, vorbereitete Kader von Funktionären über die Zeit des Nationalsozialismus hinwegzuretten, und sei es in noch so bescheidenem Umfange. Denn die Opposition glaubte, daß allein die Illegalen, die die Verhältnisse im Inneren genau kannten, nach einem Zusammenbruch der Diktatur über genügend Autorität im Volk für den Neubeginn eines politischen Lebens verfügen würden. Kristallisationspunkte der Opposition in Berlin waren Richard Löwenthal und Werner Peuke. Löwenthal gehörte der sogenannten „Studentenfraktion" an, die schon vor 1933 ein Teil der „Organisation" war. In kleinen Kursen sammelte er Anhänger für seine Anschauungen unter den gegenüber der Leitung kritisch eingestellten Mitgliedern. Werner Peuke war nach 1933 Leiter des illegalen KPD-Unterbezirks Mitte in Berlin, bis er Anfang 1934 nach bitteren Erfahrungen mit den selbstmörderischen Methoden der KPD bei ihrer illegalen Arbeit Anschluß an „Neu Beginnen" fand. Er verfügte über wichtige Verbindungen zu Betrieben, die er entgegen einer Anweisung der Leitung, sie abzu37 Nach den schriftlichen Angaben von H. Hellmann, die dem Verf. von Miles in einem Gespräch bestätigt wurden, sei Miles Anfang 1935 vom SPD-Vorstand in Prag über Verhandlungen Dr. Franks mit dem Mitglied des ZK der KPD, Walter Ulbricht, unterrichtet worden. Er habe daraufhin Dr. Frank weitere Verhandlungen mit den Kommunisten untersagt, allerdings ohne Erfolg. Dagegen bestreiten Mitglieder der Opposition, wie Fritz Erler, Richard Löwenthal, Franz Carsten und Eberhard Hesse, entschieden, daß die Frage einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten bei der Auseinandersetzung der beiden Konzeptionen innerhalb von „Neu Beginnen" überhaupt eine Rolle gespielt habe. Denn auch für sie habe noch immer der Beschluß gegolten, der zu Beginn der Illegalität gefaßt worden war, jede Berührung mit der K P D abzulehnen und alle Mitglieder der „Organisation" aus Sicherheitsgründen herauszuziehen, nachdem an manchen Orten im Februar und März 1933 viele Kommunisten, oft sogar in geschlossenen Gruppen, zur N S D A P übergetreten waren. 38

Vgl. S. 167.

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brechen, aufrechterhielt und die ihm eine gute Grundlage für die Entwicklung einer eigenen oppositionellen Linie boten. Die theoretische Basis für die Opposition bildeten drei Schriften, in denen ihre Argumente zusammengefaßt waren. Dabei handelte es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Konzeption und eine Geschichte von „Neu Beginnen" sowie eine Untersuchung über den Faschismus.39 Im Frühjahr 1935 schlössen sich die beiden Protagonisten der Opposition, Löwenthal und Peuke, zusammen und gewannen auch andere Mitglieder für ihre Anschauungen. Als offenbar wurde, daß sich die Opposition nicht mehr von ihrem Plan einer Weiterführung der illegalen Arbeit abbringen ließ, kam es nach einer Diskussion unter den Funktionären, die von der Leitung als der eigentliche Kern von „Neu Beginnen" betrachtet wurden, zu einer Abstimmung, bei der sich niemand für ein Fortbestehen der Organisation einsetzte. Doch ehe es möglich war, die Ergebnisse dieser Diskussion und Abstimmung den unteren Gliederungen bekanntzugeben, wurde die Leitung von vier gleichzeitig stattfindenden Stadtteilsitzungen unter dem Vorwurf des Liquidatorentums für abgesetzt erklärt und eine neue provisorische Leitung gewählt. Nach ihren Angaben betrug die Anzahl der zur alten Leitung haltenden Mitglieder etwa ein Viertel. 40 Noch am gleichen Tag reiste Fritz Erler zu Friedrich Adler nach Brüssel, um ihm und der SAI von der letzten Entwicklung und dem Leitungswechsel innerhalb der Organisation zu berichten.41 Miles verließ im September 1935 endgültig Deutschland. Zusammen mit Robert Jablonski informierte er den Parteivorstand der SPD in Prag von den Ereignissen in Berlin und erklärte die Gruppe „Neu Beginnen" für aufgelöst. Allen Mitgliedern empfahl er, sich von nun an als Einzelmitglieder der Sozialdemokratischen Partei zu betrachten. Der Bruch war somit endgültig vollzogen und dies nicht nur in organisatorischer, sondern vor allem auch in menschlicher Hinsicht. In der ersten Ausgabe der Nachrichten des Auslandsbüros von „Neu Beginnen" im September 1935 legte die Opposition noch einmal die Beweggründe für ihre Haltung dar: „Das erste Erscheinen der Nachrichten trifft zusammen mit dem Ende Juni 1935 erfolgten Leitungswedisel unserer Organisation. Dieser Leitungswechsel entspricht einer Neuformierung von „Neu Beginnen". Es handelt sich um die positive Lösung einer Wachstumskrise der Organisation. Sie war entstanden in dem Bemühen der Organisation, eine Anpassung an die heute gesteigerten Aktivitätsbedürfnisse im Kern der deutschen Arbeiterklasse zu finden. Nach 2% Jahren der Herrschaft des Hitlerregimes, . . . nach dem kampflosen Zusammenbruch der alten historischen Organisationen der deutschen Arbeiterklasse . . . , wird dieses Aktivitätsbedürfnis heute deutlich sichtbar. Unsere Anpassung war erschwert durch bestimmte Fesseln dogmatischer Natur, die nur aus der Entstehung und Geschichte unserer Organisation verständ39 40 41

Vgl. Kliem, Widerstand, S. 136 ff. A. a. O., S. 150 f. Auskunft von Fritz Erler.

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175

lieh werden, die aber unserer eigenen Weiterentwicklung gefährlich wurden, die uns insbesondere in der Bewältigung der gegenwärtig gestellten Aufgaben lähmten und behinderten. I n den lebh a f t e n Auseinandersetzungen w a r e n daher Differenzen entstanden. D i e entscheidende Differenz b e t r a f Perspektiven und C h a n c e n der revolutionären Arbeit in Deutschland. I n einem engen K r e i s um die alte Organisationsleitung, die sich um den G r ü n d e r der O r g a n i sation gruppierte, verdichtete sich mehr und mehr eine geringere Einschätzung der C h a n c e n , als sie der M e h r h e i t der M i t a r b e i t e r , der entscheidenden F u n k t i o n ä r e und der großen Mehrheit der Mitglieder der O r g a n i s a t i o n entspradi. J a , es entstand dort schließlich eine T e n d e n z zur Leugnung der proletarisch-revolutionären C h a n c e n auf absehbare Zeit in Deutschland überhaupt. H ä t t e sie sich in der O r g a n i s a t i o n entwickeln k ö n n e n , so h ä t t e dies zur Liquidation ihrer Zielsetzung, zu ihrer baldigen Vernichtung führen müssen. Diese T e n d e n z w a r der R e f l e x des Zusammenbruchs v o n 1 9 3 3 , der Vernichtung der Reste der alten Bewegung . . . , sie w a r der R e f l e x des T e r r o r s , des polizeilichen Druckes, der gesellschaftlichen Isolierung, der erzwungenen Abkapselung der O r g a n i s a t i o n in ihren eigenen Zirkeln und K a d e r Verbindungen, die sie der neuen Situation in Deutschland am besten angepaßt, n a d i dem J a n u a r 1933 zuerst ausgebildet hatte. Diese T e n d e n z w a r zum Schluß nur ein S o n d e r f a l l des allgemeinen Liquidatorentums, wie es nach allen großen historischen Niederlagen der Bewegung aufgetreten i s t . . . Sie w a r , das hat ihre rasche U b e r w i n d u n g in „ N e u B e g i n n e n " bewiesen, in der O r g a n i s a t i o n jedoch nur der Ausdruck des Schwankens und der Ermüdung einzelner, w e n n auch wichtiger Mitglieder der Organisation. D i e M e h r h e i t der entscheidenden F u n k t i o n ä r e und M i t a r b e i t e r im I n - und Ausland erreichte in einer rasch gesammelten oppositionellen Zusammenfassung den R ü c k t r i t t der alten Führung, die der T r ä g e r liquidatorischer Auffassung w a r . M i t diesen Genossen wurde wegen ihrer Verdienste um die O r g a n i s a t i o n eine V e r e i n b a r u n g getroffen, . . . [der] es entspricht, . . . d a ß nur der allgemeine C h a r a k t e r der Differenzen v o r der proletarischen Öffentlichkeit bekanntgegeben werden soll, da die Ü b e r n a h m e der L e i t u n g ohne den Verlust auch nur eines Mitarbeiters gelungen ist, so ist diese Mitteilung über die N e u f o r m i e r u n g auch nur nötig, um den Leitungswechsel selbst und den neuen Kurs zu begründen. D i e O r g a n i s a t i o n k a n n ohne lähmenden F r a k t i o n s k a m p f an die neue Arbeit g e h e n . " 4 2

III WEITERFÜHRUNG DER ILLEGALEN ARBEIT VON NEU BEGINNEN 1935-1938

Erste Verhaftungen

und Prozesse

Wenige Monate nach der Spaltung, im Herbst 1935 und noch einmal ein halbes Jahr später, im März und April 1936, konnte die Gestapo zum erstenmal umfangreiche Verhaftungen vornehmen. Von ihnen wurden sowohl Anhänger der bisherigen Leitung als auch der Opposition betroffen, wodurch die Arbeit von „Neu Beginnen" vorübergehend empfindlich gestört wurde. 43 Die Gründe 42

Nachrichten des Auslandsbüros „ N e u B e g i n n e n " , N r . 1, 1. J g . , September 1935.

43

Nach der A u s k u n f t von H e l l m a n n und Miles w a r e n diese V e r h a f t u n g e n v o r allem dar-

auf zurückzuführen, d a ß es der alten Leitung nach der S p a l t u n g nicht mehr möglich w a r , die G e f ä h r d e t e n rechtzeitig zu w a r n e n .

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für die Verhaftung zahlreicher Mitglieder einer konspirativ so gut abgesicherten Gruppe sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Eine Version besagt, daß die Gestapo durch einen mit Hilfe von Mißhandlungen gefügig gemachten Verbindungsmann von „Neu Beginnen" dieser Gruppe auf die Spur kam. Als die Gestapo im September 1935 nach längerer Zeit der Beobachtung Zugriff, sei aber schon ein Teil der auf der Verhaftungsliste stehenden Funktionäre emigriert gewesen, da sie gewarnt worden seien. 44 Nach der zweiten, unter den Mitgliedern von „Neu Beginnen" allerdings umstrittenen Version habe die Gestapo auf mysteriöse Weise im Müggelsee einen Koffer gefunden, der auch das gesamte Personalarchiv der Leitung enthalten hätte. 45 Tatsache ist, daß der Fund dieses Koffers im Müggelsee in den Prozessen gegen „Neu Beginnen" eine gewisse Rolle gespielt hat. In zwei der noch vorhandenen Anklageschriften wird erwähnt, daß in dem Koffer umfangreiches Material von „Neu Beginnen" gefunden wurde. Ob hierzu auch das Personalarchiv von „Neu Beginnen" gehörte, geht nicht aus diesen Unterlagen hervor. 46 Mit großer Wahrscheinlichkeit gehörten zum Inhalt des Koffers von Mitgliedern in dem Glauben abgefaßte Berichte, daß diese entweder sofort vernichtet oder chiffriert würden, die dann aber doch in ihrer ursprünglichen Form aufbewahrt worden waren. In dieser Form enthielten sie nur die Decknamen der Mitglieder von „Neu Beginnen", dagegen oft die richtigen Namen von Kontaktpersonen, über die berichtet worden war. Tatsächlich sind eine ganze Reihe von Außenstehenden auf Grund dieser Berichte verhört und teilweise die gesuchten Organisationsmitglieder von der Gestapo auf diesem Umweg identifiziert worden. Zwar war es den Vernehmungsbehörden und dem Berliner Kammergericht gelungen, auf Grund des gefundenen Materials sich einen recht genauen Oberblick über den Aufbau und die Ziele von „Neu Beginnen" zu verschaffen, doch zeigen die Prozesse von 1936 und vor allem auch die darin ausgesprochenen - im Verhältnis zu später - geringeren Strafen, 4 7 daß die einzelnen Angeklagten in 44

Vgl. Kliem, Widerstand,

45

Vgl. die verschiedenen Aussagen von Mitgliedern von „Neu Beginnen" über diese Frage

S. 126 ff. u. 141 ff.

bei Kliem, a. a. O., S. 169, Anm. 220 f. 46

Vgl. auch Anklageschrift 7a. O. Js. 127. 36 vom 27. August 1936, S. 4, sowie die Anklage-

schrift 9 J 1 3 8 / 3 9 g vom 30. 5. 1939, S. 10. 47

Die Höchststrafe im Prozeß 7a. O. Js. 207. 35 betrug für die Hauptangeklagte Dr. Edith

Schumann 5 Jahre Zuchthaus, während die anderen Mitangeklagten mit wesentlich geringeren Zuchthaus-

oder Gefängnisstrafen

davonkamen.

Im Prozeß 7a. O. Js. 1 2 7 . 3 6

betrug

die

Höchststrafe 3 % Jahre Zuchthaus für Rudi Heuseier. Vgl. auch den Bericht über den Prozeß in: Nachrichten des Auslandsbüros „Neu Beginnen", N r . 4-5, April-Mai 1936, S. 1. Ein besonderes Beispiel für die Standhaftigkeit einzelner Mitglieder gab die Studentin Lisel P a x mann, die an der Grenze zur Tschechoslowakei von der Gestapo verhaftet wurde und am 13. September 1935 im Dresdener Gefängnis Selbstmord verübte, um nicht durch Folterungen zu belastenden Aussagen gezwungen zu werden.

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der Lage gewesen waren, ihre eigene illegale Tätigkeit sowie weitere Verbindungen zu nicht verhafteten Mitgliedern weitgehend zu verschleiern oder als harmlos hinzustellen. Nach den Verhaftungen im September 1935 hielt sich „Neu Beginnen" in der eigenen Aktivität verständlicherweise zunächst stark zurück. Die Auslandsleitung bejahte die vorhandenen Strömungen zur Bildung einer Einheitsfront aller Gruppen der deutschen Arbeiterbewegung, ohne sich aber selbst daran mit praktischen Schritten in der Emigration zu beteiligen. Sie kritisierte zwar die ablehnende Stellungnahme des Parteivorstandes der SPD und forderte von ihm ein größeres Entgegenkommen gegenüber den nach dem VII. Weltkongreß der Komintern in Moskau gemachten kommunistischen Einheitsfront-Vorschlägen. 48 Dies geschah aber in recht zurückhaltender Form, da sich durch die Mitarbeit einiger Mitglieder von „Neu Beginnen" an der „Zeitschrift für Sozialismus" und der „Sozialistischen Aktion" - zweier in der Emigration erscheinender Publikationen der SPD — wieder eine Annäherung an den Parteivorstand vollzog. 49 Diese vorsichtige Haltung stieß aber, vor allem nach den im November 1935 gescheiterten Verhandlungen zwischen SPD und KPD über die Bildung einer Einheitsfront, 50 bei der Berliner Organisationsleitung auf scharfe Kritik. In einem Brief forderte sie auf Grund der inneren Verhältnisse in Deutschland ohne jeden Vorbehalt die „internationale und nationale Einheitsfront!" und die „organisatorische Einheit der Arbeiterbewegung um jeden Preis!" Nach ihrer Ansicht würde die Beseitigung der Spaltung der Arbeiterbewegung den bisher wichtigsten Schritt im Kampf gegen den internationalen Faschismus dargestellt haben. Mit bitteren Worten wurden das „zersetzende Gezänk" um Programme, Plattformen, Einheitsfront oder Aktionseinheit und dergleichen zwischen den einzelnen Gruppen in der Emigration angeprangert, die es angeblich dadurch versäumten, sich wirklich um die Einheit der Arbeiterklasse zu bemühen. Während in der Emigration die Apparate und Gruppen sich abgekapselt hätten und 48 Auf dem V I I . Weltkongreß der Komintern im August 1935 in Moskau und der sich daran anschließenden sogenannten „Brüsseler Konferenz" der K P D wurde, wenigstens nach außen hin, der Versuch aufgegeben, eine Einheitsfront der Arbeiterbewegung unter Trennung der Sozialdemokraten v o n ihrer Parteiführung herzustellen. Seitdem hieß die Parole der K P D : Einheitsfront mit der S P D , auch ihrer Führung, und allen ihren Gruppen. 49 Vgl. Kliem, Widerstand, S. 181 f f . Die erneute H i n w e n d u n g zum Parteivorstand der S P D ist wohl auf den Einfluß v o n Paul Hertz zurückzuführen, der sich als Vorstandsmitglied auch in den folgenden Jahren stets für die Belange v o n „ N e u Beginnen" einsetzte und deshalb mehr als einmal zu den übrigen Vorstandsmitgliedern in scharfen Gegensatz geriet. 50 Vgl. die Niederschrift über die zwischen H a n s Vogel und Friedrich Stampfer v o n der S P D sowie Walter Ulbricht und Franz Dahlem am 23. N o v e m b e r 1935 in Prag geführten Verhandlungen (vorhanden im Parteiarchiv der S P D in Bonn); dazu auch „Neuer Vorwärts", Nr. 130, 8. Dezember 1935.

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J a h r b u d i 12

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sich gegenseitig ihre Sünden vorwürfen, stünden die illegalen Widerstandskämpfer dieser Situation verständnislos gegenüber. Unter dem nationalsozialistischen Regime sei es einem Kommunisten oder Sozialdemokraten „einfach unmöglich, selbst wenn er wollte, die Farbe seines früheren Mitgliedsbuches zu bekennen", hätten die Differenzen zwischen beiden Richtungen aufgehört, denn es gäbe die „gleiche Not für alle Arbeiter, es gibt dasselbe Konzentrationslager für Sozialdemokraten und Kommunisten, eine Gestapo . . ." 5 1 Wenn auch bei den meisten Illegalen diese Tendenzen latent immer vorhanden waren, so doch sicher nicht mit der Ausschließlichkeit, wie sie in diesem Brief zum Ausdruck kam. „Neu Beginnen" dachte auch gar nicht an eine sofortige Zusammenfassung aller illegalen Gruppen, weil damit die Gefahr der Entdeckung viel zu groß geworden wäre. Es war vielmehr daran interessiert, daß zunächst einmal die verschiedenen Gruppen in der Emigration ihre Arbeit aufeinander abstimmten. Im Reich sollten dagegen nur allmählich und nur in dem Maße Kontakte zu anderen Gruppen aufgenommen werden, wie es die Verhältnisse unter Beachtung aller konspirativen Regeln ohne Gefährdung der Mitglieder zuließen. 52 Auf einer Mitte Februar 1936 abgehaltenen Konferenz zwischen der Auslandsleitung und Vertretern aus Berlin wurden diese Probleme noch einmal behandelt. Werner Peuke, der das Grundsatzreferat hielt, wiederholte seinen Vorschlag, die beiden Arbeiterparteien in der Emigration zusammenarbeiten zu lassen, die Verbindungen im Inland aber auf ein Minimum zu beschränken. Die psychologische Wirkung einer neuen einheitlichen Arbeiterpartei für die illegale Arbeit im Reich schätzte er außerordentlich hoch ein. Sie hätte nach seiner Meinung zu einer Verstärkung des Widerstandes der Arbeiterschaft gegen den Nationalsozialismus geführt. Einwänden, daß die Kraft von „Neu Beginnen" nicht ausreichen würde, um solche weitgespannten Pläne zu verwirklichen, begegnete Peuke mit dem Hinweis, daß „Neu Beginnen" ja schon früher die Auflösung der K P D und der Komintern gefordert hätte. 53 Die Aussprache über die Gedanken Peukes ergab aber keine eindeutige Stellungnahme von „Neu Beginnen" zur Frage der Bildung einer Einheitsfront. 54 51

Dieser Brief, dessen Verfasser Werner Peuke war, wurde in den Nachrichten des Aus-

landsbüros „Neu Beginnen", N r . 3, Dezember 1935, S. 1 f., veröffentlicht. Nach Auskunft von Richard Löwenthal, der zu dieser Zeit schon dem Auslandsbüro angehörte, ist der Brief nur gegen seinen erbitterten Widerstand publiziert worden. Dr. Frank, der sich gerade auf einer Reise in den U S A befand, hätte ihn, wegen seiner Forderung nach der Einheitsfront um jeden Preis, ebenfalls abgelehnt. 52

Vgl. Kliem, Widerstand,

53

Über die entsprechende Auffassung von Miles, vgl. S. 166.

S. 183 f.

54

Vgl. Kliem, Widerstand,

S. 209 ff.

NEU B E G I N N E N

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Zusammenarbeit mit der Volksfront-Gruppe und Zerschlagung von „Neu

in Berlin

Beginnen"

Während des Winters 1935/36 konnte „Neu Beginnen" die erlittenen Rückschläge wieder einigermaßen wettmachen. Auf der Konferenz im Februar 1936 hatte Peuke sogar die Hoffnung geäußert, daß sozialdemokratische Gruppen in Berlin für „Neu Beginnen" gewonnen werden könnten, wodurch auch die Erwartung genährt wurde, wieder einen Zugang zum Parteivorstand der SPD in Prag zu finden. Offensichtlich erfüllten sich diese Erwartungen aber nicht. 55 Wenn es auch nicht gelang, 1936 eine wesentliche Erweiterung von „Neu Beginnen" in Berlin, das nach wie vor den Mittelpunkt der Arbeit in Deutschland bildete, zu erreichen, so blieb doch die Gruppe weiterhin durch eine eingehende Berichterstattung über die Verhältnisse im Reich und durch zahlreiche Kurierreisen zur Auslandsleitung sehr aktiv. 56 Größere Bedeutung gewann „Neu Beginnen" dann wieder 1937, als es gelang, Anschluß an die sogenannte Volksfront-Gruppe oder 10-PunkteGruppe - so benannt nach dem von ihr im Dezember 1936 ausgearbeiteten 10-Punkte-Programm, auf das noch näher eingegangen wird - zu gewinnen. Diese aus mehreren früheren sozialdemokratischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten sowie Gewerkschaftsfunktionären gebildete Gruppe hatte sich in der Zeit vor den Vertrauensrätewahlen im Sommer 1935 zusammengefunden, Ein Protokoll über diese Konferenz befindet sich im Besitz von Fritz Erler. Vgl. auch Kliem, a. a. O., S. 187 f. Bei einem Besuch in Prag im März und April 1936 traf Peuke auch mit Vertretern des Zentralkomitees der K P D , u. a. mit Paul Merker, Walter Ulbricht und Herbert Wehner, die er noch von Berlin her kannte, zusammen. Peuke schlug Wehner vor, in einem Ubereinkommen die Abstimmung der beiderseitigen Haltung festzulegen, d. h. an verschiedenen Stellen für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten. Wehner lehnte aber ein solches Übereinkommen ab, da ihm viele Gedanken Peukes noch nicht genügend geklärt schienen; außerdem hinterließen Peukes Unterhaltungen mit Merker und vor allem mit Ulbricht, über deren Inhalt beide Wehner nur in allgemeinen Redewendungen unterrichteten, im Hinblick auf Peukes grundsätzliche Einstellung zur Politik der K P D und besonders zur Person Ulbrichts bei Wehner einen etwas zwiespältigen Eindruck. Vgl. Herbert Wehner, Bericht, S. 116 ff., hektographiert. Unmittelbar nach seinem Aufenthalt in Prag wurde Peuke am 13. April 1936 verhaftet, aber dies nicht auf Grund seiner Zugehörigkeit zu „Neu Beginnen", sondern weil er als alter KPD-Funktionär mit falschen Papieren angetroffen worden war. Da ihm aber eine illegale Aktivität nicht unmittelbar nachgewiesen werden konnte, wurde ihm niemals der Prozeß gemacht, sondern er wurde für drei Jahre in das K Z Sachsenhausen eingeliefert. 55

6 6 Als sehr wichtig für die Übermittlung dieser Berichte erwies sich die Existenz eines Mittelsmannes in der französischen Botschaft in Berlin, durch den sie, auf Mikrofilme übertragen, mit der diplomatischen Post ins Ausland geschafft werden konnten. Auskunft von Fritz Erler; siehe auch Kliem, Widerstand, S. 214.

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ffr. tp : » • i

um die Beeinflussung der Belegschaften in den Betrieben gegen die Wahl von ausgesprochen nationalsozialistisch eingestellten Kandidaten zu erörtern. 57 Diese Gruppe verfaßte dann später „Außenpolitische Nachrichtenblätter" und „Kurznachrichten", die aus Meldungen der in Deutschland zugänglichen ausländischen Presse zusammengestellt wurden und zur besseren Unterrichtung der Mitglieder dienten. 58 Als im Mai 1936 die französische Volksfront einen Wahlsieg errungen hatte, auch in Spanien eine Volksfrontregierung gebildet worden war, hielt es die Gruppe für an der Zeit, nunmehr auch in Deutschland in der Illegalität dieses Ziel zu verwirklichen. Zu diesem Zweck wurden in der Gruppe - deren führende Persönlichkeiten der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Otto Brass 59 und der frühere SPD-Abgeordnete des thüringischen Landtages, Dr. Hermann Brill, 6 0 waren - alle entsprechenden Gedanken und auch in der Emigration zu dieser Frage bereits gemachten Vorschläge mehrmals ausführlich diskutiert, und es wurde beschlossen, das Ergebnis dieser Aussprachen schriftlich niederzulegen. Dr. Brill erhielt den Auftrag, einen Entwurf anzufertigen, den die Gruppe am 21. Dezember 1936 bei einer letzten Besprechung in einem Wohngebäude der Konsumgenossenschaft in Berlin als ZehnPunkte-Programm endgültig formulierte. In der Begründung dieses Programms wies die Gruppe unter anderem darauf hin, daß eine deutsche Volksfront etwas völlig anderes darstellen würde als die französische oder spanische, da in Deutschland keine der parteilichen, weltanschaulichen, geistigen, moralischen, wirtschaftlichen und sozialen Elemente vorhanden seien, die in jenen beiden Ländern zur Volksfront geführt hätten. Weil von den früheren Organisationen der Arbeiterbewegung nur noch geringe 57

Vgl. Hermann L. Brill, Gegen den Strom, Offenbadi 1946, S. 15 f., sowie Kliem,

Wider-

stand, S. 216 ff. 58

Vgl. Urteilssdirift 10 J 4 5 3 / 3 8 , S. 16 u. 3 2 ; Anklageschrift 7. O. Js. 215. 39 A, S. 5.

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Brass war SPD-Abgeordneter in der Weimarer Nationalversammlung 1919 und bis 1924

Abgeordneter im Reichstag. Ende 1920 wurde er Mitglied der K P D . 1921 war er zu einem viermonatigen Aufenthalt in der Sowjetunion. Anfang 1922 wurde er zusammen mit Ernst Reuter und anderen KP-Funktionären, die gegen die dauernde Einmischung der Komintern in die deutsche Partei opponierten, aus der K P D ausgeschlossen. Vgl. Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter.

Eine politische Biographie,

München 1957, S. 198 ff. Nach seiner Befreiung

im April 1945 starb er bereits ein Jahr später im Alter von 71 Jahren. 60

Dr. Brill war vor 1933 Landtagsabgeordneter in Thüringen und 1932 Mitglied des

Reichstages. 1933 wurde er bis September in einem Konzentrationslager festgehalten. 1943 wurde er aus dem Zuchthaus Brandenburg als nicht besserungsfähiger Gefangener in das K Z Buchenwald gebracht, wo er maßgeblich an dem im Lager gebildeten Volksfront-Komitee mitwirkte. Vgl. Brill, Gegen

den Strom,

S. 88. Nach 1945 war er bis zum Einmarsch der Roten

Armee Ministerpräsident und Innenminister von Thüringen, danach Chef der hessischen Staatskanzlei, Honorarprofessor an der Universität Frankfurt/Main und von 1949 bis 1953 Bundestagsabgeordneter.

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Reste bestünden, die aber nicht mehr an die Wiederherstellung der alten Parteien und Verhältnisse dächten, sei in der „denkenden Oberschicht des Proletariats eine tiefe Sehnsucht nach Einheit vorhanden". Die geeignetste Form, diesem Streben nach Einheit Ausdruck zu geben, sei die Volksfront, wobei diese nur eine vorläufige Form der proletarischen Einheit sein könne, der eine bewußt sozialistische zu folgen habe. Die Volksfront könne nur ein völlig neuer Anfang sein, bei dem sich die alten Parteien oder gar Parteisplitter nicht künstlich konservieren dürften. Alle Beteiligten hätten sich zu verpflichten, mit dem Tage der Bildung der Volksfront bis zum Sturz Hitlers ihre spezielle Parteiarbeit in Deutschland einzustellen. Nachdem im einzelnen die Gruppen und Kräfte genannt wurden, die man als potentielle Gegner des nationalsozialistischen Regimes betrachtete, wurden als gemeinsame Ziele der Opposition bezeichnet: der Wunsch nach einer Rechtsordnung, die Freiheit schafft und garantiert, die Rettung aus der Kriegsgefahr sowie aus wirtschaftlichem und sozialem Ruin. Deshalb käme es bei dem Programm weder auf die Entwicklung einer logischen Gedankenreihe noch auf Vollständigkeit der Forderungen an, sondern nur darauf, den vorhandenen stärksten Strömungen und wichtigsten Notwendigkeiten eine verbindende Form zu verleihen. Denn die Volksfront könne nicht durch Beschlüsse einiger Restorganisationen im Ausland geschaffen werden, sondern sie müsse mit einem solchen Programm in Deutschland wachsen und leben. Die zehn Punkte, die jeweils erläutert wurden, waren: 1. Sturz und Vernichtung der Diktatur. 2. Recht und Gerechtigkeit für alle: Befreiung der politischen Gefangenen, Abschaffung der Blutjustiz, Sühne für die begangenen Verbrechen, Wiedergutmachung des verübten Unrechts. 3.

Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung: staatlicher Schutz jeder Religionsausübung, Organisations-, Versammlungs- und Pressefreiheit.

4. Volle Selbstregierung und Selbstverwaltung des deutschen Volkes in einem erneuerten Reich der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratie. 5. Einstellung des Wettrüstens und der Kriegswirtschaft. Sicherheit durch Abrüstung. Verkürzung der Dienstzeit. 6. Volle Aussöhnung und restlose Verständigung mit Frankreich. Mitarbeit an der europäischen Staatengemeinschaft im Rahmen eines reorganisierten Völkerbundes. Frieden und Freundschaft mit allen Völkern. 7. Beseitigung der N o t und der Arbeitslosigkeit durch Wiedereintritt Deutschlands in die Weltwirtschaft. 8. Rettung der Spareinlagen und der Versicherungen vor der Inflation. Freier Arbeitsvertrag. 40-Stunden-Woche. 9. Aufhebung der Zwangswirtschaft am landwirtschaftlichen Boden (Erbhofgesetz) und an den landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Marktordnung). Einziehung des Großgrundbesitzes zur Bauernsiedlung. Förderung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens.

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10. Verstaatlichung der Schwerindustrie, der Chemie, der Energieerzeugung und der Banken. Führung einer Wirtschaftspolitik, die allein der Besserung des deutschen Lebens dient. 6 1

Im Januar 1937 wandte sich die Volksfrontgruppe an den Parteivorstand der SPD in Prag, um von ihm die Zustimmung zum Zehn-Punkte-Programm zu erhalten. 62 In Prag traf Brass mit den Vorstandsmitgliedern Hans Vogel und Friedrich Stampfer zusammen und erläuterte ihnen das Programm der Berliner Gruppe. Nach den Angaben von Brass in seinem Prozeß vor dem Volksgerichtshof erklärten aber Vogel und Stampfer, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland noch nicht so katastrophal seien, daß sie sich im Bewußtsein der breiten Massen gegen das Regime schon auswirkten. Die Aussicht auf Schaffung einer Einheitsfront oder Volksfront hätten sie sehr skeptisch beurteilt, da es bis dahin nicht einmal gelungen sei, eine Einigung mit den sozialdemokratischen Splittergruppen in der Emigration und ihren Anhängern in Deutschland zu erreichen. Ein Zusammengehen mit den Kommunisten lehnten Vogel und Stampfer wegen der tiefen weltanschaulichen Gegensätze als völlig unmöglich ab, wie schon verschiedene Versuche in dieser Richtung gezeigt hätten. In einer einen Tag später erfolgten Zusammenkunft mit dem Mitglied des Z K der KPD, Anton Ackermann, sprach sich dann auch Brass gegen jegliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten aus. Spätere Versuche der Kommunisten, mit der Volksfrontgruppe Verbindungen aufzunehmen und sie für ihre Ziele einzuspannen, scheiterten ebenfalls.63 Ein wichtiges Ergebnis der Reise Brass' nach Prag war aber die Bekanntschaft mit dem Leiter des Auslandsbüros von „Neu Beginnen", Dr. Karl Frank, die 6 1 Die Begründung des Programms wurde im April 1937 in den „Nachrichten des Auslandsbüros Neu Beginnen" abgedruckt, nachdem sie in der „Deutschen Volkszeitung", dem offiziellen Organ der K P D , am 28. Februar 1937 veröffentlicht worden war, allerdings ohne die Stellen, die sich kritisch mit der Volksfront-Politik der K P D auseinandersetzten. Vgl. auch Urteilsschrift 10 J 453/38, S. 9 f. 6 2 Nach der Urteilsschrift 10 J 453/38, S. 8, war Brass durch einen Kurier wiederholt gedrängt worden, zu Besprechungen mit dem Vorstand der SPD nach Prag zu kommen. 6 3 Im April 1937 wurde Brass durch einen Kurier ein Brief von Wilhelm Pieck überbracht, der die Stellungnahme der K P D zum Programm der Volksfront-Gruppe enthielt. In einem erneuten Brief im Mai 1937 schlug Pieck die Bildung eines Komitees der Volksfront in Berlin vor, dem 3 Sozialdemokraten, 2 Kommunisten und 1 Demokrat angehören sollten. Brass lehnte alle diese Vorschläge mit dem Bemerken ab, daß es sich hierbei nur wieder um die „üblichen kommunistischen Methoden handelt". Weitere Briefe der K P D ließ Brass unbeantwortet. Auf seine Weigerung, mit der K P D zusammenzuarbeiten, führte Brass es zurück, daß sein in Moskau lebender Sohn Otto im August 1937 verhaftet und in ein sibirisches Arbeitslager deportiert wurde. Vgl. Urteilsschrift 10 J 453/38, S. 13 f., S. 16. Herbert Wehner, der zu jener Zeit als Emigrant ebenfalls in Moskau war, bestätigt diese Annahme von Brass über das Schicksal seines Sohnes; siehe Wehner, Bericht, S. 162. Uber die weiteren Bemühungen der K P D um die Volksfront-Gruppe siehe auch Anklageschrift 9 J 138/39g, S. 39 f., sowie Kliem, Widerstand, S. 219 f.

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durch Paul Hertz vermittelt wurde. Dr. Frank unterrichtete Brass über „Neu Beginnen" und bot ihm an, ihn mit den Leitern dieser Widerstandsgruppe in Berlin, Kurt Schmidt, vor 1933 Leiter der S A J im Bezirk Neukölln, und Fritz Erler, Leiter der S A J im Bezirk Prenzlauer Berg, bekannt zu machen, woran sich Brass sehr interessiert zeigte. Diese Verbindung kam in den ersten Monaten des Jahres 1937 zustande und führte dann zu einer sehr engen Zusammenarbeit, wobei die Volksfrontgruppe durch die Auslandsleitung von „Neu Beginnen" auch finanzielle Hilfe erfuhr. 64 Mit gegenseitiger Unterstützung verfaßten „Neu Beginnen" und die ZehnPunkte-Gruppe, die beide organisatorisch selbständig blieben, in der Folgezeit eine Reihe von Schriften, wie die „Deutsche Ideologie", „Uber dialektischen Materialismus", „Anschluß und was dann?" und „Fünf Jahre Faschismus", in denen versucht wurde, die Grundlagen des Nationalsozialismus und seines Herrschaftssystems darzustellen und Wege für seine Uber windung aufzuzeigen. 65 Im Herbst 1937 kam die Volksfrontgruppe zu der Uberzeugung, daß die zehn Punkte zu knapp seien und in umfassenderer Weise erläutert werden müßten. 66 In monatelangen Beratungen über verschiedene Entwürfe einigten sich die Volksfrontgruppe und „Neu Beginnen" im April 1938, das Ergebnis ihrer Diskussionen unter dem Titel „Deutsche Freiheit! Herausgegeben von der Deutschen Volksfront 1938" zu vervielfältigen, um so die Möglichkeit einer Durchdringung weiterer Kreise mit den Zielen der Volksfrontbewegung zu schaffen. 67 Die Begründung für diese erweiterte Fassung des Zehn-Punkte-Programms ging davon aus, daß sich mit dem Ende des Jahres 1937 im deutschen Volk aus den verschiedensten Gründen die Meinung durchgesetzt habe, daß es so nicht weitergehen könne. So allgemein aber die Überzeugung sei, daß Hitler und der Nationalsozialismus verschwinden müßten, so unbestimmt seien die Vorstellungen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden könnte. „Wir wollen sagen, was die Volksfront dem deutschen Volke dazu vorzuschlagen hat. Die Volksfront ist keine imaginäre Größe. Die Volksfront besteht in Deutschland. Sie lebt in den Herzen und Gehirnen aller derjenigen, die Freiheit statt der Unterdrückung, die Selbstbestimmung statt der .Führung', Recht und Gerechtigkeit statt Terrorismus, Frieden statt Kriegsdrohungen, Arbeit für den Wohlstand aller statt Kriegs- und Zwangswirtschaft, Butter statt Kanonen wollen. Die Volksfront ist überall, wo zwei oder drei sich frei machen von der unaus64

Vgl. Urteilsschrift 10 J 4 5 3 / 3 8 , S. 18 u. 4 2 ; Anklageschrift 9 J 4 5 3 / 3 9 g , S. 43 f.

65

Vgl. Brill, Gegen

den Strom,

S. 18 ff. („Deutsche Ideologie"); Urteilsschrift 10 J 5 4 3 / 3 8 ,

S. 31 u. 4 4 ; Anklageschrift 9 J 1 3 8 / 3 9 g , S. 29 ff. 66

Vgl. S. 181.

67

Zunächst wurden mit Unterstützung des damaligen Rechtsanwalts und früheren Syndikus

der Freien Gewerkschaften, Dr. Ernst Fraenkel, nur 100 Exemplare hergestellt. Vgl. Urteilsschrift 10 J 4 5 3 / 3 8 , S. 44.

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gesetzten Propaganda der Goebbels-Blätter und des Radios, wo einige entschlossen sind, sich dem Zwange der Demonstrationen zu entziehen. Die Volksfront ist die Einheitsfront derjenigen, die unter der Diktatur anständig und vernünftig geblieben sind. Aber es genügt nicht, daß sich im deutschen Volke ein Wall des moralischen Widerstandes gegen das Regime der Diktatur bildet. Es ist notwendig, diesem moralischen Widerstand eine politische Gestaltung zu geben . . . Deshalb hat sich aus Menschen, die den Linksparteien in Deutschland angehört haben und angehören, eine politische Organisation der deutschen Volksfront gebildet, die den Kampf gegen das Diktatursystem führt und gewillt ist, die Regierung der deutschen Republik nach dem Fall Hitlers mit einem festen Programm zur Rettung des deutschen Volkes aus dem Chaos von Politik und Wirtschaft, in das uns Hitler geführt hat, zu übernehmen. Danach ist die Frage, wer nach Hitler regieren soll, beantwortet: Das deutsche Volk soll sich durdi die politische Organisation der deutschen Volksfront selbst regieren!"

Für die Wirkung, die von dem Programm der zehn Punkte ausgegangen wäre, hätte es eine weite Verbreitung in Deutschland finden können, ist vielleicht bezeichnend die Auswahl der Zitate durch den Volksgerichtshof in der Urteilsschrift gegen Otto Brass und Dr. Hermann Brill. Als besonders verwerflich empfanden die nationalsozialistischen Richter offensichtlich die Programmpunkte 1 (Nieder mit der Diktatur!), 2 (Recht und Gerechtigkeit für alle!) und 5 (Friede), die in der Tat auch mit aller Klarheit darlegten, daß die Männer der Volksfront-Gruppe und von „Neu Beginnen" sich aus ihrem Gewissen heraus verpflichtet fühlten, dem Nationalsozialismus unter allen Umständen Widerstand zu leisten, um das deutsche Volk vor dem Verderben zu bewahren, bevor es zu spät sein würde: „1. Nieder

mit der

Diktatur!

Wir wollen den Sturz der Diktatur. Darum müssen wir zuerst den deutschen Menschen von der Propaganda und der Gewalt befreien. Wir wenden uns daher an jeden einzelnen. Unsere Mittel sind einfach. Hier sind sie: Lest keine NS-Zeitungen und Zeitschriften. H ö r t keinen deutschen Nachrichtendienst. Seht euch keinen NS-Film an. Lest keine „volkhaften Diditer". Aber lest Lessing, Schiller und Goethe. H ö r t ausländische Nachrichten . . . Studiert unsere revolutionären Blätter und Schriften. Vor allem: gebraucht euren Kopf zum Denken! Das ist unser erster Weg zum Sturz der Diktatur: Das eigene Denken eines jeden, das Nachdenken des ganzen Volkes . . . Ohne dieses Denken werden wir nie die Diktatur überwinden. Hitler muß von innen fallen. Es wäre unser größtes Unglück, wenn er nur durch eine Wirkung von außen, eventuell einen Krieg, verschwinden würde; denn wir wollen die faschistische Diktatur nicht nur stürzen, sondern sie für immer vernichten . . . 2. Recht und Gerechtigkeit

für

alle!

. . . Die neue Zeit kann nicht im Blutnebel der Guillotine beginnen; denn die Todesstrafe ist in einem geordneten Rechtsleben nicht notwendig. Sie schreckt den Mörder so wenig, wie sie uns Kämpfer für ein freies Deutschland je geschreckt hat. Deshalb muß sie in der Volksrepublik verschwinden . . . Alle politischen Gefangenen, auch diejenigen, die unter dem Vorwand gemeiner Verbrechen verurteilt worden sind, sollen sofort ihre Freiheit wiedergewinnen . . . Nicht einer soll für das, was er seit 1933 bewußt oder nicht bewußt gegen die Strafgesetze getan hat, ungestraft bleiben. Schnell, streng und gerecht wird die Volksfront das deutsche

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Volk von den Verbrechen der Diktatur reinigen. Nach ihren eigenen Gesetzen sollen die Hitler und Genossen für ihre Untaten gestraft werden . . . 5.

Friede

. . . Noch ist es nicht zu spät. Deshalb wollen wir Hitler stürzen, bevor er zum Kriege schreitet und uns alle in ein namenloses Elend stürzt. Unsterblich wird der Ruhm der Volksfront und des deutschen Volkes sein, wenn es gelingt, die Welt von der fürchterlichen Gefahr zu befreien, die in der Bedrohung durch Hitler liegt . . . Die Welt war bereit zur Abrüstung, als Hitlers Aufrüstung alle Vorarbeiten zunichte machte. Deshalb muß die deutsche Volksrepublik den Völkern durch Taten beweisen, daß das . . . deutsche Volk den gerissenen Friedensfaden wieder anknüpfen will. Weil wir keine pazifistischen Ideologen sind, wollen wir dazu nichts Unmögliches, vor allem keine deutsche Entwaffnung. Aber was wir sofort können, ist, die Rüstung auf dem Stand zu halten, den sie jetzt erreicht hat. Das Wettrüsten hat Hitler schon verloren. Machen wir Schluß damit! . . . Ein neuer Weg zu deutschem Ansehen und deutscher Macht ist der außenpolitische Weg der Volksfront. Ohne Krieg, ausschließlich durch friedliche Mittel, werden wir mehr leisten, als Hitler jemals zu leisten vermag: Ewiger Friede zwischen Frankreich und Deutschland, Freundschaft mit den Weltmächten, Kameradschaft mit den jungen aufstrebenden Millionenvölkern. Das deutsche Volk hat unter Hitler den Nationalsozialismus, der nur Haß und Zerwürfnisse mit sich bringt, bis zur Neige ausgekostet. Es hat die Unfreiheit bis zur menschlichen Entwürdigung ertragen. Deshalb ist es wie kein anderes Volk befähigt, darüber urteilen zu können, was Freiheit, was Würde und was europäisches Denken wert sind. Deshalb wird die deutsche Volksrepublik das treueste Glied eines neuen Europas und einer neuen Welt sein . . . . . . Zwischen Krieg und Friede schwankt die Waage. Noch ist es nicht zu spät. Noch können wir am Rande des Abgrundes umkehren. Das Programm der Volksfront ist das Programm des Friedens. Der Krieg wird seine Urheber zerschmettern . . . . . . Deshalb ist unser R u f in Krieg und Friede: Nieder mit der Diktatur! Es lebe die Freiheit! Für ein freies, friedliches und glückliches Deutschland!" 88

In der Zeit bis zur Zerschlagung beider Gruppen konnte die Verbindung zur Auslandsleitung von „Neu Beginnen" durch mehrere Besuche in Prag und Paris und durch Kuriere, die von dort nach Berlin kamen, noch weiter intensiviert werden. Nachdem im Sommer 1937 der Parteivorstand der SPD eine Unterstützung der Berliner Volksfrontgruppe endgültig abgelehnt hatte, 69 wurde nunmehr versucht, die Anerkennung durch die SAI zu erreichen. Beide Gruppen beschlossen, Dr. Hermann Brill im Dezember 1937 zu diesem Zweck nach Brüssel zu schidien. Er hatte dort die Gelegenheit, in mehreren Besprechungen mit dem Vorsitzenden und dem Sekretär der SAI, Louis de Brouckiere und Friedrich Adler, ferner mit Dr. Paul Hertz, Dr. Karl Frank und dem früheren Vorsitzenden der Berliner SAJ, Erich Schmidt, das Programm der Zehn Punkte zu erläutern sowie über die Arbeit der Volksfrontgruppe und von „Neu Beginnen" in Berlin zu berichten. Dr. Brill forderte die De-facto-Anerkennung beider Gruppen durch die SAI, ohne aber eine Vertretung innerhalb der Internationale selbst zu 68 69

Vgl. Brill, Gegen den Strom, S. 62 ff., sowie Urteilssdirift 10 J 453/38, S. 23 ff. Vgl. Anklageschrift 9 J 138/39g, S. 42, sowie Kliem, Widerstand, S. 219.

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verlangen, wie es 1934 von der Auslandsvertretung von „Neu Beginnen" schon einmal vergeblich versucht worden war. 7 0 Den Vorschlag Friedrich Adlers, an einer Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokraten teilzunehmen, lehnte Dr. Brill ab; denn eine Neuwahl des Vorstandes war nach seiner Überzeugung wenig interessant, solange dieser durch die Verhältnisse gezwungen war, in der Emigration zu arbeiten. Weiter vermittelte Dr. Brill der SAI einen Überblick von der Stärke der von ihm vertretenen Organisation in Deutschland. 71 Aber noch ehe die Volksfrontgruppe und „Neu Beginnen" in der Lage waren, ihre Arbeit über den bisherigen Rahmen hinaus zu erweitern, um den in ihrem Programm gesteckten Zielen näherzukommen, wurden die führenden Funktionäre im Herbst 1938 verhaftet. Fast alle Prozesse gegen „Neu Beginnen" und die Volksfrontgruppe fanden vor dem Volksgerichtshof im Sommer und Herbst 1939 statt und brachten für die Angeklagten durchweg hohe Zuchthausstrafen. 72 Das Gericht warf den Angeklagten vor, durch „infame unterirdische Wühlarbeit" die durch den Nationalsozialismus gefestigte innere Ordnung des deutschen Volkes gefährdet zu haben. Nicht einmal die außenpolitischen Erfolge der nationalsozialistischen Regierung hätten sie zur Einsicht gebracht. Besonders erschwerend wurde der Inhalt der als Schmähschrift bezeichneten „Deutschen Freiheit" beurteilt, denn sie enthielt nach Auffassung des Gerichts „eine Flut gehässigster und feindseligster Angriffe gegen die nationalsozialistische Regierung". Unmißverständlich erklärten die Richter im Urteil, daß sie den Hauptangeklagten die Todesstrafe zudiktiert haben würden, wenn ihre Gruppe bis zum Zugriff der Gestapo schon eine größere Bedeutung erlangt hätte. 73 Mit den Verhaftungen im Herbst 1938 war „Neu Beginnen" in Berlin praktisch endgültig zerschlagen. Wenn dann auch später in der Zwischenzeit aus der Haft entlassene frühere Mitglieder untereinander Kontakt aufnahmen, hat es 7 0 Vgl. Brill, Gegen den Strom, S. 61; Urteilsschrift 10 J 453/38, S. 18 ff.; Anklageschrift 7. O. Js. 215. 39 A, S. 4, sowie Kliem, Widerstand, S. 209 f. 71

Siehe Kliem, a. a. O., S. 221 f.

Neben den bereits mehrfach erwähnten Prozessen 10 J 453/38 (Urteilsschrift) gegen Otto Brass und Dr. Hermann Brill, 9 J 138/39g (Anklageschrift) gegen Kurt Schmidt, Fritz Erler, Oskar Umrath und Erich Kürschner — der Prozeß selbst lief unter 10 J 6/39 — und 7. O. Js. 215. 39 A wurden nodi, soweit das aus den heute noch zur Verfügung stehenden Unterlagen ersiditlidi ist, folgende Prozesse gegen Mitglieder von „Neu Beginnen" und der VolksfrontGruppe geführt: 10 J 4 / 3 9 gegen Dr. Heinrich Acker; 10 J 5/39 gegen Oskar Debus, Johannes Kleinspehn, Willi Urban und Franz Petrich; 10 J 7/39 gegen Fritz Michaelis, Hans Seidel, Karl Siegele und Hans Ebeling; 10 J 33/39 gegen Ernst Teubert, August Fröhlich, Richard Köhler und Arno Riedel; 7. O. Js. 215. 39 A gegen Erika Plettl, Franziska Polatschek und Berthold Rudner; 7. O. Js. 209. 39 gegen Hans Alfken. 72

73

Vgl. Urteilsschrift 10 J 453/38, S. 45 f.

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doch in Berlin keine fest organisierte illegale Arbeit unter dem Namen „Neu Beginnen" mehr gegeben.74 So fruchtbar und suggestiv der Gedanke einer Erneuerung der deutschen Arbeiterbewegung durch die Überwindung ihrer Spaltung gewesen ist, so unausweichlich hat er die Gruppe „Neu Beginnen" bei dem Versuch seiner Verwirklichung seit Anbeginn vor ein kaum zu lösendes Dilemma gestellt. Die Gewinnung neuer Anhänger in den beiden großen Arbeiterparteien war in der damaligen Situation nur unter Beachtung aller konspirativen Mittel und Methoden möglich. Eine solche Taktik schloß aber ein schnelles Erreichen des gesteckten Zieles von vornherein aus und hätte nur über einen wesentlich längeren Zeitraum als den, der „Neu Beginnen" von 1929 bis Anfang 1933 noch zur Verfügung stand, erfolgreich sein können. Die Eroberung der Parteiapparate von innen heraus barg außerordentliche Schwierigkeiten, denn sie hätte für die Spitzenfunktionäre entweder die Selbstaufgabe der eigenen Positionen oder ihre Ersetzung durch Mitglieder von „Neu Beginnen" bei innerparteilichen Wahlen bedeutet. Wäre dies in der SPD bei ihrer demokratischen Struktur allenfalls noch denkbar gewesen, so war es bei der KPD, die sich ja schon damals in völliger Abhängigkeit von der Moskauer Komintern-Zentrale befand und kaum noch Reste innerparteilicher Demokratie bewahrte, nahezu aussichtslos. Nach dem Zusammenbruch der Arbeiterbewegung war die Bereitschaft zu einem Um- oder Neudenken in ihren Reihen zwar allgemein viel stärker als zuvor, doch verboten es sowohl die strengen Auswahlprinzipien von „Neu Beginnen" als dann auch in verstärktem Maße Gründe der eigenen Sicherheit, nun schrankenlos neue Mitglieder heranzuziehen. Zweifellos hat die Schrift „Neu Beginnen", gewiß nicht zuletzt wegen des von Miles gefundenen programmatischen Namens, dort, wo sie im Reich bekannt wurde, aufrüttelnd gewirkt. Denn in ihr schien angesprochen zu sein, was viele jüngere und aktive Kräfte der Arbeiterbewegung in ihrem Unbehagen und ihrer Unzufriedenheit mit den bisherigen Parteileitungen ebenfalls empfunden hatten. Nur so ist es wohl zu erklären, daß Widerstandsgruppen sich „Neu Beginnen" zugehörig fühlten, ohne jemals zur eigentlichen Organisation von „Neu Beginnen" Verbindung besessen zu haben. Vor- und Nachteile der konspirativen Absicherung nach außen zeigten sich unter den Bedingungen der Illegalität mit aller Schärfe. Einerseits blieb „Neu Beginnen" im Unterschied zu anderen Widerstandsgruppen der Arbeiterbewegung durch die zuvor geübte Anwendung konspirativer Technik verhältnismäßig 74

Uber die weitere Tätigkeit des Auslandsbüros „Neu Beginnen" bis in die Kriegsjahre

hinein siehe Kliem, Widerstand,

S. 248 ff.

188

HANS J. REICHHARDT

lange vor der Vernichtung bewahrt, zahlte dafür andererseits aber mit dem praktischen Verzicht auf eine wesentliche oder entscheidende Erweiterung der Organisation. Selbst diese Erweiterung aber hätte auf dem Wege zum Sturz des nationalsozialistischen Regimes von innen heraus nicht mehr als ein erster Schritt sein können. Wie nämlich seither auch andere Erfahrungen gezeigt haben, ist ein totalitäres Regime von innen nur zu beseitigen, wenn die Armee zu einer vorhandenen Opposition übergeht oder wenn im Volk selbst sich eine überwältigende Mehrheit gegen das Regime auflehnt und es ihr in einer krisenhaften Situation gelänge, zumindest starke Teile der Armee auf ihre Seite zu ziehen. Die Leitung von „Neu Beginnen" war schon früh zu dieser Erkenntnis gekommen, die mit zu ihrer Auffassung beitrug, daß ein weiterer Kampf im Innern gegen ein System, dem alle modernen technischen Hilfsmittel eines Polizeistaates zur Verfügung standen und das sich zudem noch auf eine breite Mehrheit des Volkes stützen konnte, keine Aussicht auf Erfolg hatte. Aber der Wille zum Kampf in der Gemeinschaft Gleichgesinnter hatte sie bewogen, sich zunächst über ihre Einsicht hinwegzusetzen. Sie wollte damit der allgemeinen Resignation nach der Niederlage der Arbeiterbewegung entgegenwirken und ihre Erkenntnisse für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus nutzbar machen. Mit der Uberzeugung der Leitung von „Neu Beginnen", daß die Fortsetzung der illegalen Tätigkeit in Deutschland ohne Aussicht auf Erfolg sei, konnten oder wollten sich jene Mitglieder der Gruppe nicht abfinden, die davon durchdrungen waren, daß der Kampf gegen den Nationalsozialismus trotz zunehmend größerer Schwierigkeiten weitergeführt werden müsse. Angetrieben nicht von einem Bedürfnis nach bloßer Aktivität, sondern von ihrem Gewissen, arbeiteten sie weiter gegen das Regime, weil sie glaubten, eine Organisation schaffen und erhalten zu müssen, die im Falle einer Krise sofort politisch in Aktion treten könnte.

HERBERT WOLF

H O H B U O K I > HOBEKE >

HÖHBECK

Die Reichsannalen (ed. Kurze, S. 131-134) nennen zu den Jahren 810/811 ein Elbkastell: castellum vocabulo Hohbuoki (Varianten: huobuoki, hohbuochi, höh et buochi, huobuki, huobuchi) Albiae flumine adpositum, das nach seiner Zerstörung durch die Wilzen wieder aufgebaut wurde. Über das weitere Schicksal dieser befestigten Anlage, insbesondere über das Ende ihrer Funktion, liegen keine schriftlichen Nachrichten vor. Die Anlage hat man bei Vietze (Kr. Lüchow) gesucht, wo sich in einem Elbknie gegenüber von Lenzen ein markanter Höhenzug mit dem heutigen Namen H ö h b e c k erhebt. Etwa einen Kilometer westlich der höchsten Erhebung, auf einem steil vom Elbufer her ansteigenden Hügel oberhalb der heutigen Talmühle hat Carl Schuchhardt in den Jahren 1897 und 1920 durch Grabungen eine rechteckige Schanze festgestellt, die ursprünglich durch Erdwall, Graben und Palisaden geschützt war (C. Schuchhardt, Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen in Niedersachsen, H. VI, Hannover 1898, 82 Blatt X L VI; C. Schuchhardt, Die frühgeschichtlichen Befestigungen in Niedersachsen, Bad Salzuflen 1924, S. 55 f.). Erneute Grabungen in den Jahren 1954 und 1956 förderten wiederum nur relativ spärliche Funde zutage (Ernst Sprockhoff, Neues vom Höhbeck, in: Germania 33 [1955], S. SOff.; 1 ders., Die Grabung auf dem Höhbeck 1956, in: Germania 36 [1958], S. 229 ff.), die vor allem kaum eindeutig der karlingischen Zeit zuzuschreiben sind. Schuchhardt hatte unterhalb der Anlage und weiter abwärts zwei durch den Fluß gehende künstliche Steinbarren ermittelt - Zeugnisse für einen alten Elbübergang. Man wird nicht fehlgehen, dessen Anfänge mit der Nachricht der Reichsannalen zu 808 in Verbindung zu bringen, derzufolge Karls Sohn auf seinem Zug gegen die Linonen und Smeldinger eine Brücke schlagen ließ (MGH, SS I, 1, S. 125). Zu deren Schutz diente zweifellos das castellum vocabulo Hohbuoki. Hierzu wird jedoch nicht die Überlieferung zu 789 gehören, nach der Karl von Köln her durch Sachsen ad Albiam fluvium venit, ibique duos pontes 1

A. a. O., Anm. 12, die Mitteilung, daß eine C 14-Untersuchung an Hölzern aus der Graben-

sohle eine Datierung auf das Jahr 885 mit einem Toleranzwert von 80 Jahren ergeben hat.

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HERBERT WOLF

construxit, quorum uno ex utroque capite castellum ex ligno et terra aedificavit (a. a. O., S. 84). Diese Nachricht bezieht sich auf Karls Wilzenfeldzug, der die Eroberung ihres Hauptsitzes (civitas Dragawiti) zum Ziel hatte. Vieles spricht dafür, daß dieser Elbübergang bei Magdeburg bzw. Wolmirstedt anzusetzen ist und Karl von hier aus unter Heranziehung sorbischer Hilfstruppen die Wilzen aus der Südflanke gefaßt hat; dabei unterstützen ihn die bis an die Havel vorgedrungenen Friesen (vgl. Geschichtlicher Atlas von Hessen, Karte 7b von Willi Görich, Marburg 1961. Gegen die Schuchhardtsche Auffassung, das Kastell sei schon 789 errichtet worden, waren schon früher Bedenken geäußert worden, so im Altmärkischen Quellenbuch zur Heimatgeschichte der Altmark und ihrer Nachbar gebiete, hrsg. von Alfred Keseberg unter Mitwirkung von Herbert Ludat, Band 2, Salzwedel 1932, S. 21). Angesichts der spärlichen und unsicheren Funde aus der Karlingerzeit, die bei den Grabungen auf der Höhbeck-Schanze zutage gekommen sind, konnte aus archäologischer Sicht die Identität mit dem castellum vocabulo H o h b u o k i nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Um so größere Bedeutung kommt somit einer Untersuchung über die ebenfalls in Zweifel gezogene Zusammengehörigkeit der N a m e n Hohbuoki — Höhbeck zu. Hierfür gibt die im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach bezeugte Form hobeke wertvolle Anhaltspunkte. Im Lehnbuch Herzog Ottos von Braunschweig vom 22. 9.1318 (Sudendorf, Urkundenbuch .. . Braunschweig-Lüneburg . . T. I, S. 170) finden wir den frühesten Beleg: . . . villam hobeke cum omni jure . . . Die nähere Kennzeichnung des Namens durch die Apposition v i l l a m h. bedarf einer Erläuterung, denn es läßt sich keine S i e d l u n g dieses Namens nachweisen. Was hinter diesen Angaben steht, erfahren wir aus den späteren Belegen. 1360 überlassen die Herren von der Schulenburg ihren Anteil an Gartow und seiner Umgebung den Johannitern. In dem Vertrag vom 1. 5.1360, der bei Riedel, Codex diplomaticus Brandenburgensis I, 25, S. 230 (und mit kleinen Abweichungen a. a. O. I, 6, S. 37), nach dem Original zitiert ist, heißt es u. a.: vnd vppe dem h ob e k e In dem dorpe Redekestorp vief visschere, de lange hinrik weren, vnd dwe visschire, de olde frederiks wenn, vnd wat dar mer is. Hier ist schon nicht mehr von einer S i e d l u n g namens hobeke die Rede. Noch nähere Angaben vermitteln uns zwei Urkunden von 1364. Am 9. 9. verpflichten sich die Johanniter wegen ihrer Erwerbungen in Gartow und Umgebung. U. a. wird genannt der Werdere, d y de h ob e k e het, mit den dorperen, de dar vppe licghen (Riedel I, 25, S. 240, sowie Sudendorf, a. a. O., T. III, S. 154). Ebenso heißt es in einer am nächsten Tag ausgefertigten Urkunde (Riedel I, 6, S. 39) und in deren Erneuerung vom 16.10. 1371 {a. a. O.

HOHBUOKI > HOBEKE > HÖHBECK

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I, 6, S. 40, sowie Sudendorf, a. a. O., T. IV, S. 155). Aus diesen Angaben geht somit hervor, daß die heute östlich und nördlich des Hügels vorbeifließende Elbe zusammen mit ihren Nebenläufen den Höhbeck zur Insel gemacht hatte; dieser Charakter ist durch die westlich und südlich davon fließenden Gewässer auch heute noch offensichtlich. Auf der Insel lagen einige Dörfer; das heutige Restorf ist in der Urkunde von 1360 als Redekestorp bezeugt. Auf diese Siedlungen ist die Bezeichnung v ill a hobeke im Lehnbuch von 1318 zurückzuführen. Eine Entsprechung dazu muß darin gesehen werden, daß der (Flur-) Name hobeke auch in anderen Urkunden gleichsam als übergeordnete Raumbezeichnung an Stelle der Namen der einzelnen umliegenden Dörfer gebraucht wird. Dem Namen hobeke ist also größere Bedeutung als den Dörfern selbst beigemessen worden. In dieser Bevorzugung kann die Funktion des karlingischen Kastells Hohbuoki nachklingen. Daß andererseits der Name des Kastells erst sekundär auf den Berg übertragen worden ist, läßt sich noch aus Belegen des 18. und 19. Jahrhunderts ablesen (vgl. auch die am Schluß zitierten Abhandlungen von Wedekind und Müller). Die handschriftliche Baibische Karte von Brandenburg im Maßstab 1:75 000 vom Jahre 1749 bringt auf der 1. Sektion den Namen „der Höhbecker Berg" (Signatur N 5435/10, jetzt in der Staatsbibliothek Marburg). Entsprechend heißt es noch auf dem 1821 fertiggestellten Teilblatt 7 der im Maßstab 1:25 000 angelegten Deckerschen Kabinettskarte (Sign. N 1036, ebenda) „Vietzer oder Höbecker Berg". Auf dieser Karte ist sogar das Kastell genau eingezeichnet und „Alte Schanze" genannt worden. Der ursprünglich nur für das Kastell geltende Name hat im Laufe der Jahrhunderte also wiederholt seinen Geltungsbezug gewandelt. In diesem Zusammenhang müssen mehrere Familiennamen des ausgehenden Mittelalters auf ihre Verbindung mit dem Höhbeck überprüft werden. Von den Belegen, die das Register zum Codex diplomaticus Brandenburgensis erschließt, sind die Namen des kurfürstlichen Sekretärs Heinrich Hohweck (auch Howeck, hobeck geschrieben) und seiner Brüder auszuklammern, denn diese Hofbeamten sind den Angaben bei Riedel (III, 2, S. 171) zufolge aus Franken gekommen. Die Möglichkeit eines Namenzusammenhanges mit dem Höhbeck bietet sich indes bei drei anderen Personen an. In einer Verordnung wegen des Werbener Zolls wird am 11.7. 1429 Johan hobach genannt, der ein vicarier der Cappeln zu arneburg ist (Riedel I, 6, S. 415). Daneben tritt in einem Vergleich mit dem Kloster Hillersleben am 5. 7. 1491 der Wanzlebener Bürger hans hobeck auf (a. a. O. I, 22, S. 477). Schließlich ist ein Jacob von den Hubecken zu nennen, den das Lehnsregister des Kurfürsten Joachim I. unter dem Jahre 1530 aufführt (a. a. O. III, 2, S. 476). Wenn sich bei diesen drei Personen vom Höhbeck abgeleitete Herkunftsnamen nach-

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HERBERT WOLF

weisen ließen, dann läge ein weiterer Beweis für den besonderen Gebrauch dieses örtlichkeitsnamens vor. Bei der Frage nach einem Zusammenhang der Namen Hohbuoki - hobeke darf auch nicht übersehen werden, daß der Volksglaube verschiedene, teilweise mythologische Sagen auf dem Höhbeck lokalisiert; davon zeugen auch einige Flurnamen. - Wie steht es aber mit dem philologischen Befund? Die fränkischen Schreiber der Reichsannalen haben das karlingische Kastell Hohbuoki (Varianten siehe oben) genannt. Die Schreibung des Grundwortes steht der altslawischen Pluralform *buky nahe, einer Lehnbildung zu dem deutschen „Buche". In diesem Zusammenhang ist der am Rande des Höhbeck bei Brünkendorf gelegene B auk berg genannt worden, in dessen Bestimmungswort das drav. bauk = Buche gesehen wird. Freilich fehlt jegliche Erklärung für die lautliche Differenz zwischen Höh b e c k und Bauk berg (Siegmund A. Wolf, Die slawische Westgrenze in Nord- und Mitteldeutschland im Jahre 805, in: Die Welt der Slawen 2 [1957], S. 31). Hingegen möchten wir die altsächsische Namenform *höhbökia voraussetzen, die die fränkischen Schreiber in ihre Lautverhältnisse übertragen haben. Zu dem alts. Grundwort -bökia steht auch die Namenform Haboki in der aus späterer Zeit stammenden Fassung der Annales Quedlinburgenses (MGH, SS III, S. 41 zum Jahre 810), während eine weitere zeitgenössische Quelle in ihrer gleichfalls erst später überlieferten Fassung die zweifellos entstellten und dadurch für die Analyse wertlosen Formen Hohenburg bzw. Hoenburg bringt (Lamperti opera, ed. Holder-Egger, S. 20). Es handelt sich um eine Komposition aus (unflektiertem) Adjektiv und (kollektivem) Gattungswort mit der Bedeutung „Hochbuchenwald" - ein sprechender Name, der sicher das damalige Landschaftsbild korrekt wiedergibt. Hingegen läßt sich ein - aus den späteren Belegen rekonstruiertes - altsächsisches "'höhbeki = „Hochbach" weder lautlich noch sachlich vertreten. Die wiederholt bezeugte Form des 14. und 15. Jahrhunderts, hobeke, läßt sich zunächst anscheinend nicht mit den Belegen des 9. Jahrhunderts in Einklang bringen. Möglich ist, daß die Schreiber im Spätmittelalter den Namen in Analogie mit anderen Namen an Stelle der damaligen Mundartform zu einer Kanzleifassung umgestaltet haben (asä. böke > mnd. böke, entrundet zu beke);2 ist doch darauf hinzuweisen, daß im Lehnbuch von 1318 neben hobeke E. W. Selmer (Sprachstudien im Lüneburger Wendland, Kristiania 1918, S. 76 § 6) hat in Verbindung mit dem Umlaut von asä. o auch darauf hingewiesen, daß noch ungerundete Formen existieren. „Die Rundung scheint demnach in älterer Zeit nicht ausgeprägt gewesen zu sein". In einer weiteren Untersuchung Zur Mundart des Lüneburger Wendlandes, Norden 1923, belegt Selmer in § 20 für das engere Gebiet um den Höhbeck oe als Umlaut für asä. ó1, also für unser Wort die Form boeke. Das Mnd. Wörterbudi von Schiller-Lübben I, S. 374 f. kennt auch eine Form beuke. 2

HOHBUOKI > HOBEKE > HÖHBECK

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u. a. Namen wie Esbeke, bernebeke, knisbeke, dugelbeke, langebeke stehen eindeutige Zusammensetzungen mit dem niederdeutschen Grundwort für „Bach". Lag es also nicht nahe, in Unkenntnis der richtigen Herkunft, Bedeutung und vielleicht auch Aussprache des Namens, ihn als analoge Bildung zu den verbreiteten -beke-Namen aufzufassen und niederzuschreiben? Dieser Namentyp ist über die angeführten Urkundenbelege hinaus in der Gegend sehr verbreitet. Aus der Altmark sind Kortenbeck, Barnebeck, Bombeck, ferner Storbeck, Rönnebeck, Rohrbeck, Goldbeck, Schönebeck, Möllenbeck u. a. zu nennen, aus der Prignitz Hülsebeck, Goldbeck, Schönebeck, Möllenbeck, Sadenbeck, Krummbeck, Nettelbeck. Deren spätmittelalterliche Formen lauten, wie im Falle von Höhbeck, bobeke, im Grundwort gewöhnlich -beke. Aus dem Kontext der Urkunden ergibt sich, daß hobeke ein Maskulinum ist. Somit war zur Zeit dieser Belege auch in Beziehung auf das Genus die Verbindung mit dem Femininum böke bzw. dem kollektiven Neutrum *bökia verlorengegangen. Davon weicht nur der oben bereits angeführte Herkunftspersonenname Jacob von den Hubecken ab, der allerdings noch keine sichere Zuordnung gefunden hat. Dessen Pluralform von einer Benennung nach mehreren Bachläufen abzuleiten, wäre zumindest außergewöhnlich. Naheliegender wäre es statt dessen, von einem niederdeutschen Plural d e b e k e n = die Buchen auszugehen, dessen Stammvokal Entrundung gegenüber der verbreiteten mnd. Form b ö k e aufzuweisen hat, die neben anderen auch heute noch in der Altmark und im Hannovrischen Wendland verbreitet ist (Paul Rost, Die Sprachreste der Draväno-Polaben im Hannoverschen, Leipzig 1907, S. 185 und 373). Für die Analyse der Lautverhältnisse ist aber vor allem ein Blick auf die Betonung des Namens nützlich. Im allgemeinen wird bei der Komposition aus Adjektiv und Substantiv das erstere betont, sofern die beiden Bestandteile zu einer begrifflichen Einheit zusammengerückt werden (Henning Kaufmann, Bildungsweisen und Betonung der deutschen Ortsnamen, Heidelberg 1959, S. 18 f.). Davon haben wir sdion bei der ältesten Namenform auszugehen, die audi wegen des Anfangsakzents keine Deklinationsendung des Adjektives aufweist. Mit dem Verlust des Tones auf dem Grundwort können Laut- und Sinnwandel eintreten, z. B. Widenrode > Widdert sowie Bredenbeke > Bremke (Kaufmann, a. a. O., S. 61). Eine derartige Auswirkung ist auch bei dem Wandel von -buoki zu -beke (an Stelle des mittelniederdeutschen böke) zu beobachten. Diese lautliche Veränderung wurde durch die verbreiteten -beke-Namen unterstützt, und wie in diesem Namen entwickelt sich dann das Grundwort von hob ek e zu Höh b e c k. 13 Jahrbuch 12

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HERBERT WOLF

Nunmehr bleibt nur noch der Lautwandel im Bestimmungswort zu erklären. Noch im 15. Jahrhundert schreiben die Urkunden - entsprechend zu den Belegen des 14. Jahrhunderts - myt der Hellfle am Hobeke (Riedel I, 6, S. 245 bzw. S. 55 und S. 56 vom 20. 5. 1438), während eine gegen 1700 entstandene Karte im Niedersächsischen Staatsarchiv (Sign. 31 i/49 pg) H ö beck hat. Demgegenüber wird in den ersten wissenschaftlichen Abhandlungen über die Identität Hohbuoki - Höhbeck die unumgelautete Form H o b e c k bzw. H o b e c k e r B e r g bevorzugt, und zwar sowohl bei Wedekind im Neuen Vaterländischen Archiv 12 (1828), 1, S. 224, und 2, S. 193 ff., als auch bei J . H. Müller in der Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1870, S. 353. Es wird jedoch kaum in den spätmittelalterlichen Formen hobeke - wie sonst vielfach belegt (Agathe Lasch, Mittelniederdeutsche Grammatik, Halle 1915, § 50; a. a. O., § 140 wird auf die Form bike für beke hingewiesen, die durch Zerdehnung oder Palatalisierung vor -k zustande gekommen sein kann) — die Bezeichnung des Umlauts unterblieben sein. Vielmehr wird erst - wie häufig in niederdeutschen Namen (vgl. Höhberg bei Werl, Höhscheid bei Hilgen und Solingen, Höhmannsberg bei Solingen usw.) - in jüngerer Zeit hochdeutscher Einfluß die Schreibung und Aussprache des Umlauts veranlaßt haben. Dafür spricht auch das Fehlen einer Mundartform des Namens (freundliche Auskunft durch Herrn Rektor Pudelko, Gartow, dem ich auch andere Hinweise verdanke): man kennt auf beiden Elbufern nur die u m g a n g s s p r a c h l i c h e Form de Heebeck; im Dialekt nennt man dagegen den Hügel de Barg. Gegen eine Gleichsetzung der Namen Hohbuoki und H ö h b e c k bestehen somit keine Bedenken philologischer Art. Ein sonstiger in Betracht kommender Name ist am Elblauf nicht aufzufinden. Die Burg von 810/811, über die auch das Chronicon Moissacense (SS 1, S. 309) berichtet, kann daher weiterhin auf dem H ö h b e c k gesucht werden. Mit sprachlichen Mitteln allein ist die Identität freilich nicht zu erweisen.

GERD

HEINRICH

K L O S T E R F L U C H T U N D K L O S T E R Z U C H T I M 15. J A H R H U N D E R T Zur Geschichte Chorins Das Kloster Chorin hat als Stiftung und Begräbnisstätte der askanischen Markgrafen, als Bauwerk von hohem Rang und als eine typische Niederlassung des Zisterzienserordens in der Mark wiederholt die Aufmerksamkeit der neueren Forschung auf sich gezogen.1 Wenn dennoch wesentliche Vorgänge der Choriner Geschichte nur andeutungsweise bekannt geworden sind, so erklärt sich das aus dem im Vergleich etwa zu Zinna oder Lehnin ungünstigeren Uberlieferungsstand. Beispielsweise fehlt es überhaupt an Nachrichten über die innerklösterliche Tätigkeit der Äbte, über ihr Verhältnis zu Zucht und Ordnung. 2 Die im Anhang mitgeteilten drei Choriner Urkunden aus dem Landsberger Stadtarchiv 3 stammen aus der Zeit des relativ bedeutenden Abtes Tobias (1441-1463 bezeugt) 4 und beleuchten einen Vorgang, der in seiner Ordens- und rechtsgeschichtlichen Problematik als symptomatisch verstanden werden kann für die Situation, in der sich die größeren märkischen Zisterzienserklöster, und wohl nicht nur diese,5 um die Mitte des 15. Jahrhunderts befunden haben. 1

Gustav Abb, Geschichte

des Klosters

Chorin,

in: Jahrbuch f. Brandenburgische Kirchen-

geschichte 7/8 (1911), S. 77 ff.; ders., Das Zisterziensermönchskloster

Mariensee-Chorin,

in: Das

Bistum Brandenburg I, 1 , . . . bearb. v. G. Abb u. G. Wentz, Berlin 1929, S. 3 0 2 — 3 2 3 ( = mania sacra, I. Abt., 1. B d . ) ; J . A. Schmoll gen. Eisenwerth, Das Kloster nische Architektur

in der Mark Brandenburg.

1260—1320,

Chorin

Ger-

und die aska-

Berlin 1961 ( = Veröff. d. Berl. Hist.

K o m m . . ., Bd. 2 ) ; (mit ausführlichem Lit.-Verzeichnis). 2

Vgl. G. Abb, Chorin

3

Der Verbleib der Originale nach 1945 ist unbekannt. Eine Veröffentlichung der Urkunden

(1911), S. 132.

war Willy Hoppe, der im Rahmen seiner Arbeit über Kloster Zinna (vgl. Anm. 9) Abschriften angefordert hatte, durdi den Landsberger Magistrat untersagt worden. Eine kurze formale und inhaltliche Beschreibung in W . Hoppe, Zur Geschichte des Klosters

Chorin,

in: Forsch, z. Bran-

denburgisdien u. Preußischen Gesch. [ F B P G ] 25 (1912), S. 2 3 5 — 2 3 7 . 4

Belege über ihn bei G. Abb, Mariensee-Chorin

6

Die Literatur über die 17 brandenburgischen Zisterzienserklöster bei Gottfried Wentz,

Erläuterungsheft 13*

zur Übersichtskarte

(1929), S. 310.

der kirchlichen Einteilung

der Mark Brandenburg

und der

GERD

196

HEINRICH

Das Ereignis, um das es hier geht, stellt sich nach den Quellen folgendermaßen dar. 1451 fliehen zwei Mönche, darunter ein Priester, bei Nacht aus dem Choriner Kloster. Sie verlassen die Diözese Brandenburg und finden in Frankfurt/Oder (Diözese Lebus) nicht nur Unterschlupf, sondern für offensichtlich längere Zeit Wohnung und Beköstigung bei einem Frankfurter Bürger. Von dem einen der Flüchtlinge verlautet fortan nichts mehr. Der andere, Peter Knopcke, versucht vergeblich von Frankfurt aus zur Sicherung seines Lebensunterhaltes Gelder einzuziehen, die ihm als familiäres Erbteil aus seiner Vaterstadt Landsberg/Warthe (Diözese Kammin) zustanden. Dabei bleibt es ungewiß, ob seine Verwandten oder der Rat oder beide zusammen die Zahlung verweigerten. Knopcke hat seine Forderung anscheinend den Frankfurtern, denen er nunmehr verschuldet war, übertragen, denn als der Choriner Abt fast ein Jahr nach der Flucht der Mönche dem Frankfurter Rat Boten ankündigte, die die Fahndung nach den beiden Gebannten aufnehmen sollten, ersucht er zugleich darum, dat gy nicht jw in dy zalren setten (Urk. 1). Dem Bemühen des Abtes war nur ein Teilerfolg beschieden. Während der eine Mönch verschwunden bleibt, ist der Bruder und Priester Peter zehn Jahre später wieder in Chorin bezeugt. Der Abt ist nun pflichtgemäß als Sachwalter seines Mönches bemüht, die immer noch ausstehenden Gelder einzutreiben. Unter dem Vorsitz Kurfürst Friedrichs II., den der Abt vielleicht um eine Entscheidung ersucht hatte und der den Zisterziensern von Lehnin und Chorin recht gewogen war,6 kommt es zu einem für Chorin befriedigenden Vergleich. Die Landsberger Schuldner müssen zahlen, doch wird davon der Frankfurter Aufenthalt (die „Zehrung") der Flüchtlinge beglichen. Der Rest fällt dem Kloster zu,7 das im übrigen auf alle weiteren Forderungen schriftlich Verzicht leisten muß (Urk. 3). angrenzenden

Gebiete im Jahre

1500, Berlin 1929, S. 1 0 — 1 5 ( = Hist. Atlas d. Prov. Branden-

burg, hrsg. v. d. Hist. K o m m . . . , 1. Reihe, N r . 1); ders., Das Bistum Havelberg,

Berlin u. Leipzig

1933, S. 273 ff. ( = Germania sacra, I. Abt., 2. Bd.); speziell ist zu verweisen auf: O t t o Korn, Beiträge zur Geschichte des Zisterzienser-Nonnenklosters

Neuendorf

u. Anhalt 4 (1928), S. 109 ff.; Johannes Simon, Kloster Heiligengrabe, gesch. 24 (1929), S. 52 ff.; G. Abb, Das Zisterziensernonnenkloster

in der Altmark,

in: Sadisen

in: Jb. f. Brand. KirchenAlt-Friedland,

tum Brandenburg . . . (1929), S. 3 5 2 ; Otto Heinemann, Die Reetzer Klosterordnung

in: Das Bisv. 1495

und

1510, in: Schriften d. Vereins f. Gesch. d. Neumark, H . 21 (1908), S. 2 4 3 — 2 5 0 . 6

In der Anfangszeit der Hohenzollernherrschaft hatte Lehnin Friedrich I. in seiner Ausein-

andersetzung mit den Quitzows unterstützt, Friedrich II. verehrte Lehnin und Chorin als Begräbnisstätten seiner askanischen Vorgänger und Vorfahren, und besonders Abt Tobias ist für den Kurfürsten bei dem Verfahren gegen Berlin und Cölln 1447 tätig gewesen. 7

Das dürfte in diesem Fall am wahrscheinlichsten sein. Daß jedoch nicht nur die Nonnen,

sondern auch die zisterziensisdien Mönche im 15. Jh. persönlichen Besitz innerhalb und außerhalb der Klöster besaßen, geht aus der Anm. 5 zit. Lit. hervor; ein eindeutiger Beleg z. B. in A. F. Riedels Codex

diplomaticus

Brandenburgensis

[künftig zit.: C D S ] A X I I I , S. 81 (1431).

KLOSTERFLUCHT U N D KLOSTERZUCHT IM 15. JAHRHUNDERT

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Soweit die Nachrichten der Quellen. Richtet man nun von diesem für sich nicht sonderlich belangvollen Ereignis einer Ordensflucht 8 den Blick auf die Zisterzienserklöster unseres Gebietes überhaupt, so wird deutlich, daß es sich um keine Einzelerscheinung handelt. Aus Zinna 9 ist um 1470 ein Konverse entlaufen, er hielt sich auf anhaltischem Territorium in Zerbst verborgen, wo er vor einem gewaltsamen Zugriff des Klostervogtes ebenso sicher war wie die Choriner Flüchtlinge in Frankfurt. Auch für den entlaufenen Mönch hat Stadtluft Freiheit bedeutet. Andererseits läßt sich an den nicht übermäßig zahlreichen Beispielen für Ordensflucht beobachten, daß wenigstens ein Teil der Geflohenen in die Konvente zurückkehrt. Die Schwierigkeit, als ehemaliger Mönch, mit dem Makel der Exkommunizierung behaftet, ein bürgerliches oder bäuerliches Auskommen zu finden, mag dabei mitunter eine Rolle gespielt haben. Auch war der Zisterzienserorden in der Regel großzügig genug, die verlorenen Söhne stillschweigend wieder aufzunehmen. Das Generalkapitel der Dominikaner hat dagegen beispielsweise 1498 in Ferrara über den Berliner Bruder Johannes Rode wegen Klosterflucht die Strafe lebenslänglichen Kerkers verhängt. 10 In Zinna, Lehnin und Chorin herrschten wenigstens zeitweilig andere Auffassungen. Von Zinna aus wurden 1471/73 Raubzüge unternommen, an denen die Mönche nicht unbeteiligt gewesen sind. 11 Einem Choriner Abt wurde im ausgehenden 15. Jahrhundert die Mitschuld an der Ermordung eines Boten gegeben, den der Abt Lambert des Schwesterklosters Eldena in Wahlangelegenheiten an das Generalkapitel nach Citeaux gesandt hatte, 12 und in Himmelpfort erschlugen die Klosterleute 1426 einen Bauern und mußten Sühne leisten.13 Auffällig hoch ist die Zahl der Äbte, die in den märkischen Konventen vorzeitig zurückgetreten sind, ohne daß wir etwas über die Ursachen erfahren. 14 Der Zinnaer Abt Balthasar wird 1435/38 verdrängt und sucht sich zu rächen.15 Der einiges Aufsehen erregende Lehniner Streit 1456—1467 endete damit, daß der gelehrte Abt Arnold unter Mitnahme von vier guten Pferden, 120 Gulden und von Kleinodien Lehnin für immer verließ, es jedoch wenig später von Altenberg aus, im Widerspruch zur Ordensregel, mit einer öffentlichen Schmähschrift bedachte.16 Der Hinweis auf 8

Uber Ordensflüditlinge vgl. Cisterzienser-Chronik 22, Bregenz 1910, S. 289 f. Vgl. W. Hoppe, Kloster Zinna. Ein Beitr. z. Gesch. d. ostdt. Koloniallandes u. d. Cistercienserordens, München u. Leipzig 1914, S. 98. 10 Fritz Bünger, Zur Mystik und Geschichte der märkischen Dominikaner, Berlin 1926, S. 118. 11 W. Hoppe, Zinna (1914), S. 76. 12 G. Abb, Chorin (1911), S. 146. 13 CDB A XII, S. 80 (1426). 14 Vgl. G. Abb u. G. Wentz, Das Bistum Brandenburg (1929), S. 269, 310, 329. 15 W. Hoppe, Zinna (1914), S. 97 f. 16 Vgl. Georg Sello, Lehnin, Beitr. z. Gesch. v. Kloster u. Amt, Berlin 1881, S. 164; G. Abb, Das Zisterziensermönchskloster Lehnin, in: Das Bistum Brandenburg . . . (1929), S. 263. 9

198

GERD H E I N R I C H

die Auseinandersetzung um das Wilsnacker Wunderblut (1443-März 1453) 1 7 und auf die Ketzerprozesse in Berlin und in der Uckermark (1458) 1 8 rundet das Bild dieser zu Unruhen und Exzessen neigenden Jahrzehnte ab, in denen die Klosterzucht der märkischen Zisterzienser deutliche Verfallszeichen zeigt. Die altzisterziensische Einfachheit in der Nahrung wurde aufgegeben, denn wirtschaftlich florierten die fast überall zur Rentenwirtschaft übergegangenen Zisterzen. So ist es wohl auch kein Zufall, daß in Lehnin und Zinna, nach mehr als zwei Jahrhunderten vornehmlich ökonomisch bestimmter Wirksamkeit, eine letzte Periode geistigen Lebens und Strebens anzuheben beginnt. 19 Die anderen Orden, in erster Linie Franziskaner und Dominikaner, hatten nicht in gleichem Maße Vorfälle der erwähnten Art zu beklagen. Die Klosterzucht blieb als Folge intensiver Reformströmungen gewahrt, und besonders die märkischen Dominikaner waren an dem geistigen Aufschwung des Ordens in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts führend beteiligt. 20 Am unversehrtesten war jedoch die Askese der Frankfurter Karthäuser, deren Gebetskraft in den Verbrüderungs-Verträgen um ein Vielfaches höher als die der insgesamt 17 märkischen Zisterzienserklöster bewertet wurde. 21 Der Streit zwischen Chorin und Landsberg um die Schuldforderung hat sich über einen längeren Zeitraum („etlich jare") hingezogen. Folgt man dem Wortlaut der dritten Urkunde, so hätte der Mönch Knopcke nach seiner Rückkehr vorerst noch versucht, seine Forderung allein einzutreiben, bis sich dann der Abt um die Beitreibung des dem Kloster zustehenden Guthabens bemühen konnte. Obwohl die Quellen nur Einblick in das Endstadium der strittigen Schuldangelegenheit gestatten, lassen es die Umstände kaum als zweifelhaft erscheinen, daß die Verzögerung und die Form der Beilegung des Streites aufs engste mit der Auseinandersetzung zwischen geistlichen und weltlichen Ge1 7 Bruno Hennig, Kurfürst Friedrich II. und das Wunderblut zu Wilsnack, in: F B P G 19 (1906), S. 7 3 — 1 0 4 ; P. L. Meier, Wilsnack als Spiegel deutscher Vorreformation, in: Zs. f. Religions- u. Geistesgesdiidite 3 (1951), S. 5 3 — 6 9 ; Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1963, S. 68—70. 1 8 Vgl. Gottfried Brunner, Ketzer und Inquisition in der Mark Brandenburg . . . , in: Jb. f. Brand. Kirdiengesch. 1 (1904), S. 18 ff. 1 9 Vgl. W. Hoppe, Zinna (1914), S. 101 ff.; G. Abb, Lehnin (1929), S. 266; für Chorin und Himmelpfort und für die meisten Nonnenklöster versagt dagegen die Überlieferung. 2 0 F. Bünger, Dominikaner (1926), S. 97, 99, 116. 2 1 Vgl. Kurt Klinkott, Das Karthäuser Kloster „Barmherzigkeit Gottes" bei FrankfurtlOder, in: Jb. f. Brand. Kirchengesch. 24 (1929), S. 165; nach Georg Wilhelm v. Raumer (Die Unterordnung der Bischöfe von Brandenburg, Havelberg und Lebus unter die Landeshoheit der Kurfürsten von Brandenburg, in: Mark. Forsdi. 1, 1838, S. 55) hat sich von allen brandenburgischen Klöstern allein die Karthause bei Frankfurt geweigert, den Kurfürsten das Ablagerrecht zuzugestehen.

K L O S T E R F L U C H T U N D K L O S T E R Z U C H T IM 15. J A H R H U N D E R T

199

richtsherren verbunden sind, die sich zur gleichen Zeit auf brandenburgischem Boden abgespielt hat. 2 2 Mit dem im mittelmärkischen Landtagsrezeß von 1445 2 3 niedergelegten Abkommen über Gerichtsverfassungsfragen war in Anlehnung an ältere Regelungen in der Altmark (1435) und unter dem Eindruck der Dalminer Fehde 24 des Vorjahres die Priorität der weltlichen, insbesondere der patrimonialen Gerichte für alle ausschließlich weltlichen Gerichtsfälle festgelegt und die Belästigung der ländlichen Bevölkerung durch Interdikte verboten worden. Nur wenn das patrimoniale oder städtische Gericht sein Desinteresse an einer Klage bekundet, kann nach einer Sechswochenfrist das geistliche Gericht einen weltlichen Gerichtsfall weiterverfolgen oder aufgreifen. Es liegt auf der Hand, daß diese von vier Prälaten, fünf Rittern und fünf Bürgermeistern ausgearbeiteten Bestimmungen nicht nur einen erheblichen Fortschritt für die volle Ausbildung der Patrimonialgerichtsbarkeit des Adels bedeuteten (was bisher nicht beachtet wurde), sondern daß sich der Grundgedanke einer regional-ständischen Gerichtsaufspaltung besonders auf alle „gemischten" Streitfälle auswirken mußte und wohl auch sollte. Dabei ist nicht zu übersehen, daß mit der Abgrenzung der Jurisdiktionsbefugnisse zugleich ein finanzielles Problem verbunden war (Gerichtsgefälle usw.), dem der Kompromiß von 1445 Rechnung tragen mußte. 1447 hat Kurfürst Friedrich I I . dann die bekannten vier Bullen 25 von Nikolaus V. erlangt, durch die im Sinne der Übereinkunft von 1445 die Kompetenzgrenzen der geistlichen Gerichtsbarkeit in der Mark geregelt wurden und durch die außerdem den Offizialen der nicht landsässigen Bistümer (Halberstadt, Verden, Kammin) die unmittelbare Jurisdiktion auf brandenburgischem Boden entzogen werden sollte, sofern das, wie in der Altmark, noch nicht geschehen war. 2 6 Das ist, in kurzen Wor22

Vgl. Bruno Hennig, Die Kirchenpolitik

burg und die päpstlichen Privilegien

der älteren

Hohenzollern

in der Mark

Branden-

des Jahres 1447, Leipzig 1906, S. 130 ff. (beste Zusammen-

fassung, mit Hinweisen auf die ältere Literatur); ferner: Magdeburger

Schöffensprüche,

hrsg. v.

Victor Friese und Erich Liesegang, Berlin 1901, S. 857 f.; einige lehrreiche Beispiele bei Adolf Stölzel, Der Brandenburger

Schöffenstuhl

( = Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung,

Bd. 1), Berlin 1901, S. 2 7 4 f., 3 8 5 — 3 8 8 . Th. Stempel (Die geistl. Gerichtsbarkeit politik d. Mgfn.

v. Brand,

u, die

Kirchen-

im Ii. Jh., rechtswiss. Diss. Köln 1933, S. 4 ff.) bringt keine neuen

Ergebnisse. 23

Vgl. CDB C I, S. 273.

24

Vgl. Martin Gilow, Die Dalminer

25

Vgl. B. Hennig, Kirchenpolitik

26

Eine genauere Untersuchung der geistlichen Gerichtsbarkeit in dem Zeitraum von 1445 bis

Fehde von 1444, in: F B P G 21 (1908), S. 3 9 — 6 3 .

(1906), S. 1 6 1 — 1 7 6 , 216 ff.

zur Reformation liegt nur für die Altmark vor: Adolf Diestelkamp, Die geistliche keit in den zur Diözese Halberstadt der Grafschaft

Mansfeld

gehörigen

und des Herzogtums

Gerichtsbar-

Teilen der Kurmark,

der wettinischen

Braunschweig

und in der 1. Hälfte

im Ii.

16. Jh.s, in: Sachsen u. Anhalt 8 (1932), S. 171ff.; ders., Der Balsamgau am Ausgange

Gebiete,

des Ii.

des Jh.,

GERD

200

HEINRICH

ten, die gerichtsverfassungsmäßige Situation, in der Chorin versuchen mußte, zu seinem Recht zu kommen. Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß die Verschleppung der Schuldklage mit der Problematik der Gerichtszuständigkeit zusammenhängt. Da Chorin klagte, war es gehalten, das forum domicilii des Beklagten in der Schuldsache zu beachten und demgemäß den bischöflichen Kommissar des Bistums Kammin für die Neumark anzurufen. Die Kompetenz geistlicher Gerichte bei Klagen von geistlicher Seite gegen Laien blieb auch nach 1445/47 grundsätzlich unbestritten, sofern und solange nicht der Gerichtsherr der beklagten Partei Verhandlung vor seinem Gericht forderte.27 In unserem Falle könnte mithin der Kurfürst eine „Abberufung" an das eigene Gericht vorgenommen haben, da er den Streitfall entschieden hat. Andererseits konnte es mitunter im Interesse einer beklagten Stadt liegen, den Gerichtsherrn zu verständigen und eine „Abforderung" zu provozieren, um in seinem statt in dem auch nach dem Interdiktverbot gefürchteteren geistlichen Gericht das Urteil zu erhalten. Doch dürfte sich Landsberg zu diesem Schritt erst entschlossen haben, nachdem alle Möglichkeiten der Prozeßverschleppung erschöpft waren. Bis 1454/55 hat die Stadt ohnehin zum Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens gehört, und überdies befand sich der Kurfürst zur gleichen Zeit mit dem Kamminer Bischof im Streit um die Jurisdiktion. Unter Hinweis auf die Bulle Etsi de cunctis wurde dem Kamminer Offizial untersagt, Untertanen des Kurfürsten - in diesem Fall die Stadt Prenzlau - mit Zitation und Exkommunikation zu belästigen (1451-1453). Wenn Kammin dann später (vor 1471) die Delegation eines JurisdiktionsKommissars für die Uckermark (Archidiakonat Pasewalk) vorerst zugestanden zu haben scheint,28 so folgt daraus nicht, daß der Bischof sich für den neumärkischen Teil der Diözese der Forderung des Kurfürsten gebeugt hat. Die Beschaffung von Abschriften der Bullen Etsi de cunctis und Eximia praeclarae einschließlich des dazugehörigen Exekutionsbefehls durch die neumärkische in: Zeitsdir. d. Vereins f. Kirdiengesdi. d. Prov. Sachsen u. des Freistaates Anhalt 28 (1932), S. 107—143. 27

Vgl. B. Hennig, Kirchenpolitik

28

Vgl. Diestelkamp, a. a. O., S. 178 f.; dagegen verzeichnet G. Wentz (Übersichtskarte . . . ,

(1906), S. 136, Anm. 1, 138, § 9.

vgl. Anm. 5) keinen bischöflichen Kommissar im brandenburgischen Teil des Archidiakonates Pasewalk. Es unterliegt jedodi wohl kaum einem Zweifel, daß der Propst des Klosters Gramzow um 1500 und später diese Funktion innehatte. Vgl. Viktor Herold, Das Alte sinkt... in der Reformation,

von Emil Schwartz (Beiträge zur Geschichte der Reformation den der nördlichen

Prenzlau

in: Jb. f. Brand. Kirdiengesdi. 35 (1940), S. 141 u. 151 f.; die Ausführungen Uckermark

in Brandenburg.

aus der Diözese des Bistums Kammin,

I. Das

Ausschei-

in: Jb. f. brand. Landes-

gesdi. 2, 1951, S. 3 5 — 3 7 ) treffen insofern den Kern der Frage nicht, als die sadilidie und regionale Aufspaltung der geistlidien Gerichtsbarkeit im Bereich des Ardiidiakonates Pasewalk und speziell die Funktion des Gramzower Propstes nicht beachtet werden.

KLOSTERFLUCHT UND KLOSTERZUCHT IM 15. JAHRHUNDERT

201

Stadt Königsberg 146 1 29 deutet darauf hin, daß Kammin noch zu dieser Zeit die Rechtsgültigkeit der Privilegien von 1447 für die Neumark mit dem Hinweis auf die Ordensherrschaft bestritten und sich geweigert hat, einen Kommissar zu delegieren. Ist dieser Schluß zutreffend, so mußten der Kurfürst im Hinblick auf Kammin, der Choriner Abt als Gläubiger und wohl auch Landsberg im Interesse seines mit geistlichen Gerichten vielfach konkurrierenden Stadtgerichtes auf eine Beilegung der „Zwietracht" bedacht sein. Es ist dabei unwesentlich, ob Chorin die Entscheidung des Landesherrn angerufen oder ob der Kurfürst die Schuldklage „abgefordert" hat. Der Eingriff des Kurfürsten war in jedem Fall mittelbar von jenen zwei Komponenten erzwungen worden, die seine Politik in der Frage der geistlichen Gerichtsbarkeit überhaupt bestimmt haben: Die Beseitigung des jurisdiktionellen Einflusses der auswärtigen Bischöfe und die Begrenzung der legitimen geistlichen Gerichtsbarkeit im Lande, damit die Beklagten dem Gericht ihrer Herrschaft nicht entfremdet werden konnten. Das vorreformatorische Kirchenregiment Friedrichs II. und seiner Nachfolger hat die latente innere Schwäche der Zisterzienserklöster nicht eingeschränkt und die Klosterzucht nicht zu straffen vermocht. Eher war das Gegenteil der Fall. Die Äbte und Pröpste der Zisterzen gaben den Forderungen des sich abschließenden Territorialstaates in starkem Maße auch deswegen nach, weil der Schutz durch Gerichte und Diözesanbischöfe, die nicht vom Landesherrn abhängig waren, ständig an Bedeutung verlor. Als „Räte" dem Landesherrn verpflichtet, standen die Äbte fortan recht eigentlich Territorialklöstern vor, die Abgaben zu entrichten und das fürstliche Ablager zu ertragen hatten. Überdies verstand es der Kurfürst, Klosterkapital auf dem Kreditwege zu fordern und zu nutzen. Wenn sich Markgraf Johann 1491 das Recht verbriefen ließ, die Klöster in seinem Territorium durch die Landesbischöfe visitieren und reformieren zu lassen,30 so wurde das Privileg weder dazu benutzt, den Zisterzen neue, zeitgemäße Aufgaben zu stellen, noch hat es sich auf die Hebung der Klosterzucht ausgewirkt. Wohl aber belegt es, daß nunmehr die Integration der Klöster in den Territorialstaat der Hohenzollern abgeschlossen war. 1. Abt Tobias von Chorin meldet dem Rat 2u Frankfurt [a. O . / , daß der Mönch seines Klosters Petrus Knopcke mit seinem Mitgesellen Johannes aus dem 29 30

Vgl. B. Hennig, Kirchenpolitik (1906), S. 181. Vgl. Hennig, a. a. O., S. 257, Nr. 32.

202

GERD H E I N R I C H

Kloster entwichen ist und bittet, die Flüchtigen nicht zu unterstützen den Vorweisern dieses Briefes bei der Fahndung behilflich zu sein.

und

1452 Juni 26 Chorin Überlieferung: Ausfertigung Papier Stadtarchiv Landsberg a. W., Urkunden E I, Nr. 97 (vor 1945; A). — Dorsualnotiz (ca. IJ. Jh.): Ein Schreiben aus dem Closter Corin an E. Magistrat, wegen 2 ausgethretner Münche. Anno 145,2. — Siegel: Aufgedrücktes spitzovales Papiersiegel ( j cm lang, 4cm breit) des Abtes Tobias mit der Umschrift: S. T O B I E A B B A = T I S I N C O R I N . Siegelbild: Abt (Geistlicher) mit Krummstab unter gotischem Baldachin, vgl. dazu G. Abb, Chorin (1911), S. 132 f . u. Kunstdenkmäler Angermünde (1934), S. ¡3 (Abb. eines Abtsiegels an einer Urk. v. 1)36). — Abschrift: Moderne Abschr. um 1910 v. W. Hoppe (H), Druck: R. Eckert, Gesch. v. Landsberg/Warthe, Stadt u. Kreis, T. 1, Landsberg S. ¡4 (fehlerhafter Druck mit falscher Datierung: Juni 29).

1890,

Regest: A. Markgraf, Register über 91 bisher ungedruckte Urkunden der Stadt Landsberg a. W. a. d. Jahren 1287—I6IJ. In: Mitt. d. Hist. Vereins f . Heimatkunde zu Frankfurt a. O. 3 (1863), S. 14, Nr. j o (zu Juni 29); K. Kletke, Regesta Historiae Neomarcbicae. In: Mark. Forschungen 12 (1868), S. 202 f . Beide Regesten sind unzulänglich.

Wy Thobias abbeth tho Chorin bekennen vor allen cristene lüde ghemeynlick apenbar, dy dussen unsen apen bref zeen, lesen adder hören lesen, nemelick vor jw eerwirdigen burgermeysteren und radherren der eerwirdigen stad Ffrankenvord, wo Petrus Knopcke in unseme closter Chorin gecledeth, horsam und tho prestere ghewygeth is gewest und hee doch nach horsam, alz hee wan rechte vor gade und den luden plege is, nicht sick gheholden heft, Zunder eyn vorgheter zyner zelen salicheyt üth unseme closter Zunder wille und orlof ye [?] heymliken by nachte mit zyneme mede gesellen, Johannes ghenometh, wech ghelopen is, dar zy denne beyde, Petrus Knopcke und Johannes, in deme hogesten banne zynt, und doch er wech lopent ghescheen is jerliken und werth eyn jar nu an zunthe Marien Magdalenen dage1 negest kamende. Sont deme male, dat dy bauenbenomede Petrus Knopcke in zodane banne is, is hoe nicht mechtich, kenen man tho rechte und tho dage tholadende, eer hoe den unhorsam vorzoneth und den ban van zick lecht, dene tho doende und tho laten nach zynes prelaten rade, wille, volborth und orlof etc. Item dy vorbenomede Petrus Knopcke, zo uns vorgekamen is,2 mogeth und ghemogeth heft den eerwirdigen rad der stad Nyen Lanczeberge umme etlick gelt van zynes vaders wegen, bidde wy vorbenomede Thobias abbeth und begeren, dat gy nicht jw 1 2

Juli 22. d. h. wie wir gehört haben.

KLOSTERFLUCHT U N D KLOSTERZUCHT IM 15. J A H R H U N D E R T

203

in dy zalren setten 3 und, eft gy den vorbenomeden beyden vorlopene monike etlich geleyde gesecht hadden adder hebben mochten, weder up seggen adder lathen up seggen und*) beholpen den b e w y s e r e n b ) dysses unses apen breves, dat zye dy beyde Petrus und Johannes anvallen und grypen und in beholnisse bringen mögen, wenthe tho unser adder der unser tho kamenth, dat wy c ) zye mögen weder bringen tho oreme orden und erer eyenen zelen salicheyt, nach rade unsers översten heren, eern van Lennyn, und ander prelaten und heren tho doende. Wille wy alle tyd, eerwirdigen leven heren, an jw und an dy jwren gerne weder vorschülden, up dat zye nu nicht vorder und meer zo vors[l]agen unser und unseme orden tho schänden und tho laster lopen. Gegeven und ghescreven in unseme closter Chorin nach der gebort Christi unsers heren vyrteyhenhundert jar dar na in deme L I I ° jare mit unser abdyen ingesegel under an dyssen bref gedrucketh in sunthe Johannes und Pauls dage der hylgen mertelere. a) Eckert schiebt „wesen" ein. b) E.: bewysenen. c) E.: wylle. 2.

Kurfürst Friedrich von Brandenburg vergleicht den Abt Tobias von Chorin und den Rat von Landsberg a. W. wegen einer Rente, die dem Orden durch den Mönch des Klosters, Peter Knopcke, zusteht, und die der Rat während einiger Jahre nicht gezahlt hat. Der Rat soll für alle Ansprüche des Klosters 9 Schock zahlen, womit alle Kosten und Zehrungen auf beiden Seiten abgegolten sind. Was jedoch in Frankfurt beim Rat verzehrt worden ist, sollen die Landsberger bezahlen. Das Vidimus der RentenverSchreibung soll der Abt zusammen mit einem schriftlichen Verzicht auf weitere Ansprüche den Landsbergern übergeben. 1462 Nov. 30 Angermünde Überlieferung: Ausfertigung Pergament Stadtarchiv Landsberg a. W., Urkunden EI, Nr. 104 (vor 1945; A). — Dorsualnotizen: Wie der ratt mit dem abt zu Coryn enthcheyden ist (ca. ijoo). Anno 1432 (ca. 17. Jh.). Siegel: Gut erhaltenes Wachssiegel Friedrichs II., roter Lack mit Umschrift (ca. ¡0 bzw. 30 cm Durchmesser). Abschrift: Moderne Abschr. um 1910 v. W. Hoppe (H). Regest: A. Markgraf, Register über 91 bisher ungedruckte Urkunden der Stadt Landsberg a. W. a. d. Jahren 1287—1617. In: Mitt. d. Hist. Vereins f . Heimatkunde zu Frankfurt a. O. 3 (1863), S. 14, Nr. j6; danach K. Kletke, Regesta Historiae Neomarchicae. In: Mark. Forschungen 12 (1868), S. 253 (unzulänglich). Wir Fridridi von gots gnaden marggrave zu Brandburg, kürfurste des heiligen Romischen reichs, erczcamerer und burggrave zu Noremberg, bekennen öffentlich mit diesem briefe als von sulcher zwytracht wegen, dy zewest ist zwischen dem wirdigen und andechtigen unsem rate und liben getreuen ern 3

Die Aufforderung

an Frankfurt,

keine Zahlungen an Knopcke zu leisten.

204

GERD HEINRICH

Thobias, abpt zu Coryn, an einem, borgermeister und ratmannen unser stat Newen Lanczberg uff der Warte am andern teyle von etlicher vorsessener rente wegen, die er Peter Knopchen, des abts van Coryn convents bruder, seins ordens solden zustan von sines vaters wegen seligen, dy im dy von Lantzberg solden etlich jare vorsessen haben als sein lipgedinge etc. Also haben wir sy nach ir beider willen und volbort entscheiden in früntschaft, des sy beidersyt wol zu freden stan so, das die unsern von Lantzberg egenant dem abpt und dem closter zu Coryn von des genannten er Peter Knopichens und siner bülichen1 wegen ußrichten und beczalen sollen vor alle ansprach, die man darumb zu den unsern von Lantzberg haben mocht, neun schock groschen merkischer werunge, je acht pfennige vor einen groschen, der frist der beczalunge sy sich selbs voreiniget haben. Alle kost und zerunge uf beiderseyt haben wir auch abgeteidingt, 2 sundern alleyne dy zerunge, dy zu Frandkfurt in des rats kamer gescheen ist, das sullen die von Lantzberg egenant loß machen. So sol im der abt van Coryn das vidimus des heübtbrieffs über dy rente antworten lassen und sust auch genüghafftige brieff geben vor sich, das closter und er Peter Knopichen, das sy vorsichert sein nymmermerer darumb anzulangen weder met recht noch an recht in keyne weyse und dys sol also ein vorrichte sache bleiben, dy wir von beider teyl bete wegen mit dissem brive bestetigen zu ewigen Zeiten unverbrochen zu halden. Zu urkundt mit unserm anhangendem innsigil vorsegilt, geben zu Newenangermunde am tage Andree apostoli nach gots geburt tausend virhundert und im zweyundsechszigsten jaren. 3. Abt Tobias, Prior Nikolaus, Unterprior Petrus und der Konvent von Chorin urkunden, daß die Zwietracht zwischen Landsberg und ihrem Mitbruder Peter Knopcke entschieden sei. Dieser hatte ohne Wissen des Klosters die Stadt mit Schriften und Briefen angegangen. Der Rat hatte sich bei Chorin beklagt und das Kloster rechtfertigte sich, indem es Landsberg den Choriner Brief an die Frankfurter gab, worin diese gebeten worden waren, Knopcke und seinen Mitbruder Johannes Werner aufzuhalten und bis zur Ankunft der Choriner in Gewahrsam zu bringen. Kurfürst Friedrich hat die Sache in der Propstei zu Angermünde dahin entschieden, daß Landsberg an Chorin 9 Schock zahlen soll, abzüglich 1 Schock weniger 5 Gr., die Landsberg an Hans Schulte in Frankfurt auszahlen soll für die Zehrung, die Knopcke und sein Mitbruder dort erhalten haben. 1463 Febr. 27 Chorin 1

Nach Schiller-Lübben, Mndt. Handwörterbuch, Norden u. Leipzig 1888, S. 60: boleken (leibliche) Geschwister. 2 Ebda., S. 4: afdegedingen, afdedingen = durch Abfindung zufriedenstellen.

=

KLOSTERFLUCHT UND KLOSTERZUCHT IM 15. J A H R H U N D E R T

205

Üherlieferung: Ausfertigung Pergament Stadtarchiv Landsberg a. W., Urkunden E I, Nr. IOJ (vor 194s; A). — Dorsualnotizen: Entscheid des abts v o n C h o r i n (ca. IJOO). A n n o 1 4 6 3 (ca. 17. Jh.). — 2 beschädigte Siegel an Pressein: 1. spitzovales Abtsiegel, in der Wachsschale ein Reststück (Kopf), das gleiche S., wie an Urk. 1; 2. rundes Konventssiegel, in der Wachsschale (ca. } cm Durchmesser) ein Reststück (Marienkopf) mit Umschrifl-Rest: [ C O ] R I N ; offenbar das gleiche Siegel, wie es die Abb. in Kunstdenkmäler Angermünde (1934), S. j2 zeigt. — Abschrift: Joh. Chr. Bekmann, Hist. Beschreibung der Chur- u. Mark Brandenburg, Bd. 3 (ungedr. Manuskript, 1707—1717), S.4J7; vor 194} im GStA., Bln.-Dahlem, Rep. 92; (B). — Moderne Abschr. um ipio v. W.Hoppe (H). Regest: A. Markgraf, Register über 91 bisher ungedruckte Urkunden der Stadt Landsberg a. W. a. d. Jahren 1287—1617. In: Mitt. d. Hist. Vereins f. Heimatkunde zu Frankfurt a.O. 3 (1863), S. 14, Nr. 57 (zu 1464); danach K. Kletke, Regesta Historiae Neomarchicae. In: Mark. Forschungen 12 (1868), S. 254.

Vor allen cristenen luden gemeynlich unde eynen yewelken besunderlich, dy dessen unsen openen bryff syen, hören unde leßen, bekenne wy Thobias, abbeth thu Coryn, unde errn Nicolaus, prior, unde Petrus, under prior, unde unse gantze gemeynen coventes [!] heren unde brudere unsers closters Coryn, dat sodane saken unde twydracht, alse dar gehangen hetten thuschen dy ersamen wysen borgermeystere, ratmanne unde gantzen gemeyne borghere der stad Nyenlandesberghe unde unsers closters medebruder, genümet errn Peter Knopken, umme welker saken wille dy upgnanten wysen heren borgermeystere unde ratmanne thu Nyenlandesberge van unsen medebruder errn Peter Knopken worden angelanget med scryften unde med bryven sunder unse bewust unde beheyt, 1 sy thu müghe unde thu rechte thuthynde, alse war em dat bequemest were, alse uns dy vorgnante radt clagede, war umme wy dem ersamen rade upgnant thu Nyenlandesberge gheven unsen bryff an dy ersamen wysen heren borghermeystere unde ratmanne thu Franckenforde, sy den ergemelden Peter Knopken, unsen medebruder, unde synen kumpan Johannes Werner scholden van unsent unde unser vordinste willen upholden unde brynghene yn bewarynghe wanthe thu unser thukumpft, dat sy umme unser vordinste unde bede wille so gherne geholden hetten, des wy früntliken dancken etc. Dy saken twydracht unde müghe vorberüret, thuschen dy upgnanten beyden parthyen hengende, het dy irluchte hochgeboren furste unde here, here Frederich, marggrave thu Brandeburch etc., unse gnedige gunstyge live here, vulkomen unde grüntliken yn gude wol vorscheyden unde hen geleet thu Nyenangermunde yn der prowestyen yn sodaner wyse, dat dy ersamen heren borgermeystere unde ratmanne thu Nyenlandesberge uns unde unseme clostere Scholen reyken unde gheven van unsers medebruders wegen, 1

Wissen und Geheiß.

GERD HEINRICH

206

errn Peter Knopkens unde syner bulekenne2 neghen schock grosschen wonliker munthe, so sy yn dy marke thu Brandebürch ghenge unde gheve ys, ye achte pennynghe vor eynen grosschen, darvan dy ersame radt thu Nyenlandesberghe schal gheven eyn schock ane vyff grosschen Hans Schulten thu Franckenforde vor dy therynghe, dy errn Peter Knopken vakegnant med syneme medekumpan Johannes Werner by em gedhan het, dar mede alle twydradit unde saken, dy errn Peter Knopken, unse medebruder, unde syne bulekenne thu der Stadt Nyenlandesberge van ores vaders wegen hadden, Scholen fruntlich unde grüntlich wol vorscheyden syn, also dat hernamals dy ersamen heren borgermeystere, ratmanne unde gantzen gemeynen borghere thu Nyenlandesberge van der sakewegen unde ock dy ersame radt thu Franckenforde Scholen ungenothoget, unghemüghet unde ungehyndert blyven noch med rechte noch med wreüele van uns, unseme clostere, unseme medebrudere unde alle syner frunde wegen, dy nüw leven edder noch geboren mögen werden, sunder alle saken Scholen slycht wesen unde wol vorscheyden blyven. Dat alle desse saken vorberuret so vulkomelich, mechtich unde vaste Scholen blyven unde thu ewyghen tyden geholden werden sunder ennygerleye infal, hulperede unde wereword, Howe wy upgnante Thobias abbeth thu Coryn unde errn Nycolaus pryor, errn Petrus underpryor unde unse gantzen gemeynen coventes bruder vor alle thusprake unde syn gud vor allen schaden, dy den ersamen wysen heren borgermeysteren unde ratmannen beyder stede, Nyenlandesberge an der Warthe unde Franckenforde an der Ödere, van der upgnanten sake wegen hernamals müchte wederfaren, so wy doch nicht hopen unde meynen. Des thu vorder bekanthenysse unde mer bevestynghe hebbe wy Thobias unser abbathyen ingesegele unde unsers gantzen covents under an desseme openen bryve laten henghen. Thuge, dy dar by an unde over gewest, syn errn Thomas Schulte, cappelan thu der Nynstad, 3 Laurentz unde Bastian, unse hofgesynde, unde anderer erlike lüde meer, dy das bekennen willen, dat sodanne vorschydynghe geschyn ys, dar up desse bryff gemaket unde gegeven ys na godes gebord vyertheynhundert jar dar na yn deme dry unde sestygesten jare, ame hilgen sundage Invocavit.

2 3

Vgl. Urk. 2, Anm. 1. (Neustadt-)Eberswalde.

HERBERT HELBIG UND ADELHEID SIMSCH

POLNISCHE F O R S C H U N G E N ZUR MITTELALTERLICHEN WIRTSCHAFTS- U N D SOZIALGESCHICHTE Mit großer Intensität sind in den letzten Jahren von polnischer Seite unter Vorlage vielfach bisher unbekannten Materials Probleme der mittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgesdiichte erörtert worden, wobei für die Zeit der vordeutschen und deutschen Herrschaft in Pommern, Westpreußen, den ostbrandenburgischen Gebieten, dem Posener Land und Schlesien manche sachlich wichtigen Aufschlüsse gewonnen werden konnten. Während eine ältere Generation polnischer Historiker sich fast ausschließlich auf schriftliche Quellen stützte, ist jetzt durch die Annäherung an die Archäologie eine Erweiterung der Quellenbasis erfolgt, und in der Hauptsache hat diese Zusammenarbeit interessante und diskussionswürdige neue Ergebnisse erbracht. Die Bevölkerungsgeschichte dieser Gebiete läßt bis ins 10. und 11. Jahrhundert noch viele Fragen offen, doch steht fest, daß nach der Ausweitung der slavischen Besiedlung manche Bereiche verhältnismäßig dicht besetzt gewesen sind. Lange Zeit blieb die Landwirtschaft Grundlage der wirtschaftlichen Betätigung, und daß die Agrarproduktion einen vergleichsweise hohen Stand erreichte, erweisen Ausgrabungsfunde in Gnesen, Posen und Oppeln. Auch die Viehzucht war gut entwickelt. Besonders aufschlußreich ist die Feststellung der bis in jene Zeit erfolgten Differenzierung der handwerklichen Betätigung. 1 Ein Handelsverkehr bahnte sich zwischen den einzelnen Zentren nichtagrarischer wirtschaftlicher Betätigung an, der für einzelne Waren, wie für Bernstein, auch schon in andere Länder führte. Eine Voraussetzung dafür war das verhältnismäßig gut ausgebaute, durch natürliche Grundlagen bestimmte 1 M. M a l o w i s t , Problematyka gospodarcza badan wczesnodziejowych (Wirtschaftsgeschichtliche Probleme frühgeschichtlicher Forschungen), in: Stud. Wczesnosr. 1 (1952), 13fF.; H. L o w m i a n s k i , Economic problems of the early feudal Polish State, in: Acta Polon. Hist. 3 (1960), 7ff.; A. G i e y s z t o r , Les structures économiques en pays slaves à l'aube du Moyen-Age jusqu'au XI e siècle, in: Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull'alto medioevo 8, Spoleto 1961, 455ff.

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Straßennetz im Osten. 2 Eine vor einem Jahrzehnt durchgeführte Untersuchung erbrachte den Nachweis, daß selbst die am meisten befahrenen Straßen in ihrer Führung und damit in der Verbindung einzelner Wirtschaftszentren in erheblichem Maße von den wechselnden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig blieben. Im 13. Jahrhundert gab es von Posen her drei verschiedene Uberlandstraßen nach dem Westen, über Meseritz nach Lebus oder von Meseritz nördlich über Zantoch nach Stettin, über Bentschen, Schwiebus nach Crossen in die Niederlausitz und über Züllichau nach Niederschlesien. Eine vierte Straße, die Mitteldeutschland über Guben, Crossen und Züllichau mit Posen, Großpolen und dem Ordensstaat verband, verlor zu Ausgang des 13. Jahrhunderts an Bedeutung, als sich der Verkehr nach Preußen auf einen Weg durch die Mark über Küstrin, das südliche Pommern nach Marienburg und Danzig verlagerte. Von den von Posen südwärts gehenden Verbindungen hatte neben der über Kosten nach Glogau führenden die Breslauer Straße die größte Bedeutung. Im 13. Jahrhundert gabelte sie sich südlich Posen in Schrimm und ging einmal über Kriewen, Punitz und Sarne, zum anderen von Schrimm über Dölzig, Gostyn und Görschen nach Breslau. Sie stellte die kürzeste Verbindung her zwischen Großpolen und Böhmen, Süddeutschland und Italien. Neben der Breslauer Straße war auch die nach Krakau führende alt, von wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung. In die nördlich angrenzenden Länder gingen von Posen über Deutsch-Krone, Dramburg nach Stettin und über Nakel oder Bromberg nach Danzig Straßen. Neben Posen hat vor allem Kaiisch als Verkehrsknotenpunkt die größte Bedeutung gehabt. Uber ihn liefen die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bestehenden festen Handelsbeziehungen zwischen Breslau und Thorn. Urkundliche Erwähnungen über den Verlauf der Straßen gibt es bis in diese Zeit kaum, doch läßt sich dieser aus Fährrechten, Brückenbaulasten, der Erwähnung von Zollstätten und aus anderen Indizien erschließen. Der Verlauf der Straßen im Osten ist auch durch die Anlage von Burgen mitbestimmt worden, deren älteste für das 7. und 8. Jahrhundert in Großpolen und Schlesien nachgewiesen werden konnten. 3 Schon damals gab es verschie2 St. W e y m a n n , Ze studiöw nad zagadnieniem drög w Wielkopolsce od X do XVIII wieku (Die Straßen in Großpolen vom 1 0 . - 1 8 . Jh.), in: Prz. Zach. 9 (1953), II, 194ff.; T. W ^ s o w i c z ö w n a , Research on the mediaeval road system in Poland, in: Archaeol. Polona 2 (1959), 125ff.; dies., Les routes commerciales en Pologne du haut Moyen-Age, in: L'artisanat, 368 ff. 3 L . L e c i e j e w i c z , Z badan nad ksztaltowaniem si? osrodköw grodowych na pograniczu pomorsko-wielkopolskim w wczesnym sredniowieczu (Forschungen zur Entstehung der Burgzentren im pomoranisch-großpolnischen Grenzgebiet im frühen Mittelalter), in: Slavia antiqua 6 (1957/59), 134ff,; K. P i e r a d z k a , Zagadnienie grodöw i wczesnoSredniowiecznej organizacji grodowej u. Slowian Pölnocno-Zachodnich (Das Problem der Burgen

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dene Typen dieser Anlagen. Die in den letzten Jahren gut geförderte Burgenforschung unterscheidet Burgen in Niederungen, auf natürlichen Erhebungen, solche, die für sich allein stehen, und andere, neben denen sich Suburbien entwickelten. Deutsche erzählende Quellen erwähnen besonders für das 10. und 11. Jahrhundert, auch noch für eine spätere Zeit, manche dieser Anlagen. Die Organisation der Burgenbezirke ist für die Stammesgebiete der Nordwestslaven und für die pommerschen Grenzbereiche an Netze und Weichsel untersucht und für diese auch eine detaillierte wirtschafts- und sozialgeschichtliche Interpretation des Fundmaterials gegeben worden. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung solcher Anlagen, auf die von der deutschen Forschung jüngst wieder aufmerksam gemacht wurde, 4 wird dagegen in den polnischen Arbeiten weniger berücksichtigt. Die Burgenforschung, die vor allem durch die rege geförderten und bemerkenswert ergebnisreichen Ausgrabungen beträchtlichen Auftrieb erhalten hat, gab unmittelbar Anlaß zu neuen Untersuchungen über die Frühzeit des Städtewesens im Osten. Die Ergebnisse dieser Arbeiten und die von polnischer Seite geäußerten Ansichten über die Anfänge der Stadtbildung in Osteuropa sind schon vor einiger Zeit von H. Ludat kritisch gewürdigt worden. 5 Das Interesse an diesem Hauptarbeitsgebiet der polnischen Mediävistik ist seitdem unverändert rege geblieben, doch fehlt es weiterhin an neuen Studien über die rechtliche Grundlage des Städtewesens. Mehr Gewicht wird auf die Feststellung der frühen gewerblichen Produktion, 6 der Handelsbeziehungen und auf und der frühmittelalterlichen Burgorganisation bei den Nordwest-Slaven), in: Pam. Slow. 4 (1954), 267 ff.; Z. B u k o w s k i , G. M e n c z y k , T. M a l i n o w s k i u.a., Frühe polnische Burgen, Berichte über archäologische Grabungen, Weimar 1960. 4 Siedlung und Verfassung der Slaven zwischen Elbe, Saale und Oder, in Verbindung mit H. Jankuhn, W. Schlesinger und E. Schwarz hrsg. v. H. Ludat, Gießen 1960. 6 H. L u d a t , Vorstufen und Entwicklung des Städtewesens in Osteuropa, Zur Frage der vorkolonialen Wirtschaftszentren im slavisch-baltischen Raum, Köln-Braunsfeld 1955; M. H e l l m a n n , Zur Geschichte des Städtewesens in Osteuropa, in: Jahrbücher für Gesch. Osteuropas 4 (1956), 18fF.; H. L u d a t , Die Bezeichnung für „Stadt" im Slavischen, in: Syntagma Friburgense, Festschr. f. H. Aubin, 1956, 107ff.; ders., Zur Evolutionstheorie der slavischen Geschichtsforschung am Beispiel der osteuropäischen Stadt, in: Gießener Abhandl. zur Agrar- und Wirtschaftsforsch, des europäischen Ostens, Bd. 3, Aus Natur und Geschichte Mittel- und Osteuropas, 1957, 96ff.; ders., Frühformen des Städtewesens in Osteuropa, in: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens, hrsg. v. Th. Mayer, Konstanz 1958, 527 ff. 6 K. T y m i e n i e c k i , Organizacja rzemiosla wczesnosredniowiecznego a geneza miast polskich (Die Handwerksorganisation im frühen Mittelalter und die Entstehung der polnischen Städte), in: Stud. Wczesnosr. 3 (1955), 9ff.; ders., Remarques sur le commencement de la vie urbaine en Pologne, in: L'artisanat, 329ff.

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die historische Analyse der örtlichen topographischen Situation gelegt.7 Dabei wird nicht bestritten, daß die Privilegierung mit Stadtrecht in grundlegender Weise die Bedingungen für die Entwicklung nichtagrarischer Wirtschaftszentren und dadurch die soziale Situation ihrer Bewohner verändert hat. Doch sei die Rechtsverleihung nur ein Akt von sekundärer Bedeutung gewesen, und keineswegs habe erst sie die bewidmeten Plätze aus der Reihe anderer Siedlungen herausgehoben. Vielmehr wird betont, daß die Anfänge der kleinen städtischen Zentren verbunden gewesen seien mit dem Aufkommen lokaler Märkte als Folge eines langsam sich vollziehenden Prozesses der Scheidung landwirtschaftlicher und nichtagrarischer Betätigung. In diesem Vorgang glaubt man das entscheidende Moment für die Entstehung von Städten zu sehen. Weniger als in der deutschen Forschung wird von der polnischen das Aufkommen von Kaufmannssiedlungen als Grundlage für die Bildung städtischer Zentren gewertet. Das mag damit zusammenhängen, daß Nachrichten über hospites, fremde Kaufleute, nur sehr vereinzelt und recht bruchstückhaft überliefert sind, in Krakau beispielsweise erst seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert. Älter sind jüdische Kolonien in Breslau, Kaiisch und Przemysl. Zahlreicher sind Nachrichten über die Tätigkeit deutscher Händler, doch fehlt es an schlüssigen Hinweisen auf ihre Ansässigkeit in der Zeit vor der Lokation zu deutschem Recht. Im allgemeinen wendet man sich gegen die Ansicht, daß die Entstehung der polnischen Städte dem Transithandel fernhändlerisch tätiger Kräfte zuzuschreiben sei. Eine ausschlaggebende Rolle wird vielmehr dem lokalen Handel zwischen landschaftlich zentral gelegenen Märkten zugemessen. Das hat dazu geführt, die meisten Märkte im slavisch besiedelten Osten vor der Periode deutschrechtlicher Lokation auf Grund ihrer wirtschaftlichen Funktion, der sozialen Gliederung der Bevölkerung und der für diese Plätze gelegentlich angenommenen Selbstverwaltung als Städte zu bezeichnen. Wenn jetzt in Polen allgemein daran festgehalten wird, daß sich das Städtewesen des Landes aus eigener Kraft entwickelt hat, so macht man doch der marxistischen Forschung, die nur mit der These von der Entwicklung der Produktivkräfte argu7 T. L a l i k , Z zagadnien genezy miast w Polsce (Zum Problem der Entstehung der Städte in Polen), in: Prz. Hist. 49 (1958), 460ff.; ders., Recherches sur les origines des villes en Pologne, in: Acta Polon. Hist. 2 (1959), 101 fF.; Les origines des villes polonaises, Recueil de travaux publié par P. Francastel, Paris 1960; H. Z i ô l k o w s k a , The market before the borough charter granting (from the lOth to the middle of the 13th Century), in: L'artisanat, 360ff.; T. L a l i k , Märkte des 12. Jahrhunderts in Polen, ebda. 364ff. mit Karte; G. L a b u d a , Die Anfänge des polnischen Städtewesens im Hochmittelalter, ebda. 317ff.; A. G i e y s z t o r , La ville slave du Haut Moyen-Age centre de production artisanale de rayonnement commercial, ebda. 287ff. ; St. P i e k a r c z y k , Studia z dziejôw miast polskich w XIII—XIV w. (Studien zur Geschichte der polnischen Städte im 13. —14. Jh.), Warschau 1955.

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mentiert, aus Kreisen polnischer Historiker den Vorwurf, lediglich von allgemeinen Annahmen auszugehen und sich nicht auf dem Wege einer konkreten Analyse des Quellenmaterials auf wirklich beweiskräftige Belege zu stützen. Diese beizubringen, ist eben das Anliegen der so rege betriebenen Siedlungsarchäologie. So wird der von der älteren deutschen Forschung herausgearbeiteten Kolonialtheorie die Evolutionstheorie gegenübergestellt. Es ist zuzugeben, daß es nicht mehr möglich ist, sich allein auf das dürftige schriftliche Quellenmaterial zu stützen, das ohnehin meistens erst mit der Verleihung deutschen Stadtrechts einsetzt. Insofern haben die Grabungsergebnisse polnischer Archäologen ein Material von unschätzbarem Wert eingebracht, und die Methode ihres Forschungsverfahrens kann auch den weiteren Untersuchungen über die Anfänge des Städtewesens im westlichen Europa dienlich werden. Dabei wird anerkannt, daß der Anstoß zu siedlungsarchäologischer Arbeit in der Zwischenkriegszeit von deutschen Forschern gegeben wurde, so von Raschke in Oppeln, von Unverzagt in Zantoch und von Wilde in Wollin. Untersuchungen ähnlicher Art führte damals Kostrzewski in Gnesen und Posen. Bis etwa 1960 wurden dann rund 30 Burgen freigelegt, nur ein Bruchteil der bisher inventarisierten 3000 Burganlagen, von denen nur die wichtigsten in ihrer unmittelbaren Nähe einen Ansatz zur Marktbildung geboten haben dürften. Für die topographische Einheit von Burg, Suburbium und Markt lieferten Aufschlüsse in Pommern Stettin, Wollin, Kolberg und Danzig, in Schlesien Breslau und Oppeln, in Großpolen Gnesen, Posen, Giecz und Kraschwitz, dazu je ein Platz in Kleinpolen und Kujawien. Aber nur Oppeln, Wollin und Danzig konnten bisher so weit freigelegt und erforscht werden, daß sich weiterführende Aufschlüsse über die gewerbliche Betätigung und den Handel ihrer Bevölkerung gewinnen ließen. Auf Grund dieser Feststellungen sehen die Anhänger der Evolutionstheorie in der ökonomischen Funktion und der sozialen Stellung der Einwohner solcher Plätze ein aussagekräftigeres Indiz als in den Rechtsprivilegien, auf die sich die Vertreter der Kolonialtheorie stützen. In der Tat ist zuzugeben, daß sich neue Wirtschaftsformen bereits seit dem 10. Jahrhundert abzuzeichnen begannen, die ihren wichtigsten Niederschlag in der Absonderung einer handwerklich tätigen Bevölkerung fanden. Polnische Historiker haben drei Merkmale als Kennzeichen für das Vorhandensein einer stadtähnlichen Siedlung aufgestellt: 1. die auf engem Lebensraum erfolgte Konzentration von beruflich spezialisierten Handwerkern, Händlern und Dienstleuten; 2. die Verbindung solcher Wirtschaftszentren mit älteren Burgen, Herrschaftsvororten und bedeutenderen Kirchenplätzen und 3. die topographische Situation solcher Anlagen, die sich durch engen und planmäßigen Aufbau von Straßen und Plätzen von der für landwirtschaftliche Betätigung besiedelten Nachbarschaft abhoben und außerdem 14*

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oft durch Pallisaden und Wälle geschützt waren. Die bisher durchgeführten Ausgrabungen erlauben gewisse zeitliche Gliederungen in der Entwicklung solcher Plätze. Im 7. und 8. Jahrhundert entstanden Burgen ohne Suburbien und offene dörfliche Siedlungen. Plätze mit Märkten für den Nahverkehr wurden für diese Periode bisher nicht entdeckt. Eine zweite Entwicklungsphase wird für das 9. und die erste H ä l f t e des 10. Jahrhunderts angesetzt. Manche Forscher vertreten die Ansicht, daß suburbiale Niederlassungen wie in Gnesen und Wollin schon im frühen 10. Jahrhundert durch die Ansetzung von Handwerk treibenden Leuten aufkamen. Dagegen haben andere geltend gemacht, daß nicht jede Gruppierung von Handwerkern in unmittelbarer Nähe einer Burg auf das Vorhandensein einer stadtähnlichen Siedlung schließen läßt. Das Aufkommen dieser Plätze wird von der Mehrzahl der Forscher für die Mitte des 10. Jahrhunderts angesetzt. Rein theoretisch glaubt man weiter, daß die Entstehung des sogenannten frühfeudalen Staates und die ersten Ansätze zu städtischen Frühformen gleichzeitige Erscheinungen gewesen seien. Die Ansicht, daß diese durch ihre besonderen Wirtschaftsformen charakterisierten Siedlungen ihren Ursprung in den Suburbien der Burgen gehabt hätten, ist jedoch nicht in jeder Hinsicht stichhaltig. Denn es konnten bisher nur die für den frühen polnischen Staat als Herrschafts- und Wirtschaftszentren hervorragenden Plätze untersucht werden, während viele andere, wo eine topographische Verbindung zwischen Burg und Suburbium nicht so auffällig ist, unberücksichtigt bleiben mußten. In der dritten Entwicklungsphase, von der Mitte des 10. bis ins 13. Jahrhundert, entstanden vielfach aus Dörfern und älteren Märkten Siedlungen mit stadtähnlichem Charakter. In diesen Fällen werden wirtschaftliche Gründe den Anlaß zur Veränderung gegeben haben, so wie in der zweiten Phase von der Burg als Sitz eines Herrn die konzentrierte Ansetzung gewerbetreibender Leute ausgegangen sein dürfte. Dem Hinweis, daß sich die ältesten Märkte an den Sitzen der Landesfürsten, Burgherren, Bischöfe, in der Nähe größerer Kirchen und bei Klöstern gebildet haben, also wohl auf herrschaftliche Initiative zurückgehen müssen, ist von Tymieniecki scharf widersprochen worden. Er glaubt, daß die Entwicklung solcher gewerblicher Siedlungen allein von wirtschaftlichen Notwendigkeiten abhängig war, kann aber über diese, den Anlaß zum Zusammenschluß der Handwerker in Suburbien und über ihre frühen Organisationsformen keine Angaben machen. Die Bedeutung des Fernhandels ist in der jüngeren polnischen Forschung umstritten. Es wird zum Ausdruck gebracht, daß nach den bisher durchgeführten Ausgrabungen ihm eine entscheidende Rolle nicht zugesprochen werden kann. Eine Ausnahme dürfte nur Wollin darstellen. Ein abschließendes Urteil kann jedoch noch nicht abgegeben werden. Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß im nord- und osteuropäischen Raum während des Mittelalters nur

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zwei Perioden echter fernhändlerischer Betätigung nachzuweisen sind, in den Jahren 800 bis 1000, von Wikingern und Arabern getragen, und die hanseatische nach dem 13. Jahrhundert. Die erste Phase dieses Fernhandels fällt aber in eine Zeit, für die im Bereich des slavischen Ostens überhaupt noch nicht von stadtähnlichen Siedlungen gesprochen werden kann, und die zweite Phase des Handels über weite Distanz schloß das Kerngebiet slavischer Staatsbildung größtenteils aus. Für die Ausbildung lokaler Märkte wird, was in der deutschen Forschung bisher überhaupt nicht geschehen ist, dem Vorkommen örtlicher Schenken (Taberne, Kretscham, poln. karczma) eine erhebliche Bedeutung zugeschrieben. 8 Seit dem 11. und 12. Jahrhundert sind sie in schriftlichen Quellen nachzuweisen, befanden sich in unmittelbarer Nähe von Burgen, an Überlandstraßen und Verkehrsknotenpunkten, vielfach im Besitz von Klöstern und haben, wie festgestellt wurde, als Stätten einer bescheidenen Güterkonsumtion und des Geldwechsels in zahlreichen Fällen am Anfang der Marktbildung gestanden. Dabei werden zwei Formen unterschieden, Tabernen, die von einem grundherrlichen Verwalter geleitet wurden, keine Zinsauflagen hatten, aber dafür einen erheblichen Teil der Einkünfte abführen mußten, sowie andere, die von der letzteren Belastung befreit waren, dagegen verpflichtet zur Entrichtung eines Wochen- oder Jahrzinses. Im lokalen Marktverkehr, sofern er sich über naturalwirtschaftlichen Tausch erhob, wie im Fernhandel an den Burgplätzen der Grundherren, spielte der Umsatz fremder Münzen eine beträchtliche Rolle. Für den Bereich der Numismatik im Osten liegen aus jüngster Zeit einige sehr wesentliche Untersuchungen vor. Es zeigt sich deutlich, daß vom 9. bis ins 11. Jahrhundert im westslavischen Siedlungsbereich arabische Münzen das gängigste Zahlungsmittel gewesen sind, das bis 1960 in mehr als 200 Fundstellen aufgedeckt wurde, die meisten Stücke in Stettin und Wollin. 9 Seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert waren europäische Münzen im Umlauf, bayerische, schwäbische, böhmische in starkem Übergewicht gegenüber solchen östlicher Provenienz. Inzwischen sind auch Studien über skandinavische Münzen, zur Münzpolitik im Ordensstaat sowie über die Tätigkeit einzelner Münzstätten (Bromberg) und über die Reichweite ihrer Prägungen veröffentlicht worden. 10 Aus diesen Arbeiten wird 8

I. C i e s i o w a , Tabema wczesnosredniowieczna (Die frühmittelalterliche Schenke), in: Stud. Wczesnosr. 4 (1958), 159ff.; I. R a b e c k a , The early mediaeval tavern in Poland, in: L'artisanat, 372ff. 9 M. G u m o w s k i , Moneta arabska w Polsce IX i X wieku (Die arabische Münze in Polen im 9. und 10. Jh.), in: Zapiski Historyczne 24 (1958/59), 7ff. 10 M. G u m o w s k i , Polskie skarby monet X i XI w. (Polnische Münzschätze des 10. u, 11. Jh.s), Warschau 1953; ders., Moneta u Krzyzakow (Die Münze der Kreuzritter).

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deutlich, daß erst seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die polnische Münze die einheimischen Märkte beherrschte. Von den Anfängen industrieller Betätigung handeln nur wenige Untersuchungen, die Erwähnung verdienen. Ein Sammelwerk zur Geschichte des Berg- und Hüttenwesens bringt Abrisse über die Entwicklung dieses Industriezweiges im frühen und späten Mittelalter sowie unter verbesserten technischen Bedingungen in der Periode des Ubergangs zur Neuzeit. Danach ist die Eisenverhüttung so lange Lohnwerk auf Dörfern geblieben, bis durch die Verwendung der Wasserkraft der Abbau von Eisenerzen stärkeren Umfang annahm. Der Blei- und Silbererzbergbau im Gebiet der schlesisch-krakauischen Erzlager kannte bis Ende des 14. Jahrhunderts nur einen Abbau über dem Wasserspiegel, diesen zu unterbauen wurde erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts möglich. 11 Die nachmals so bedeutende schlesische Glasindustrie hat ältere Vorläufer gehabt, vom 10. bis ins 12. Jahrhundert ist Glasverhüttung in Wollin, Oppeln, Posen und Kraschwitz betrieben worden. 12

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Für die Ostseeländer, insbesondere für Pommern, legen mehrere historische Gesellschaften Forschungen in ihren Zeitschriften vor. 13 Eine Reihe von Untersuchungen widmet sich dem Anteil der Slaven am Wirtschaftsleben in diesen nördlichen Bereichen. 14 Vor allem finden das 7. und 8. Jahrhundert, der Zeitraum vom 9. bis in die Mitte des 11. und von dieser bis zum Ausgang des Thorn 1 9 5 2 ; d e r s . , Polityka mennicza miast pruskich (Die Münzpolitik der preußischen Städte), Thorn 1955; d e r s . , Mennica Bydgoska (Die Bromberger Münze), Thorn 1955; d e r s . , Najstarsze systemy wag (Die ältesten Gewichtssysteme), Warschau 1 9 5 3 ; d e r s . , Monety rzymskie w Polsce (Die römischen Münzen in Polen), Thorn 1 9 5 5 ; s. auch E . W a s c h i n s k i in: Ztschr. f. Ostforsch. 10 (1961), 499ff. 1 1 A. G i e y s z t o r — J . P a z d u r , Studia z dziejöw görnictwa i hutnictwa (Studien zur Geschichte des Bergbaus und Hüttenwesens), Bd. I, Breslau 1957; D. M o l e n d a , Görnictwo rud olowia i srebra na terenie ziöz slqsko-krakowskich do polowy X V I w. (Der Blei- und Silbererzbergbau im Gebiet der schlesisch-krakauischen Erzlager bis Mitte des 16. Jh.s), Breslau 1964. 12 M. A . B e z b o r o d o v , Glasherstellung bei den slavischen Völkern an der Schwelle des Mittelalters, in: Wiss. Ztschr. d. Humboldt-Univ. Berlin, gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe 8 (1958/59), 187 ff. 1 3 K . L e p s z y , T. M a n t e u f f e l , K . P i w a r s k i , Polish historical literature on Baltic and Pomesanian problems (1945—1958), in: Poland at the X l t h International Congress of Historical Sciences in Stockholm, Warschau 1960, 5 ff. 1 4 K. S l a s k i , Udzial Slowian w zyciu gospodarczym Baltyku (Der Anteil der Slaven am Wirtschaftsleben der Ostsee), in: Pam. Slow. 4 (1954), 227ff.

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12. Jahrhunderts Berücksichtigung. Slaski hat diese Periodisierung vorgetragen, doch kann er keine so einschneidend wichtigen Faktoren der Entwicklung oder Wirtschaftsführung wirklich schlüssig nachweisen, die diese Einteilung rechtfertigen würden. So glaubt er feststellen zu können, daß in der ältesten erfaßbaren Periode bereits tiefgreifende Veränderungen stattgefunden haben, hervorgerufen durch den Verfall der ursprünglichen Verfassungszustände. Noch waren kleinere Stammesbereiche vorhanden, es begannen sich jedoch schon größere politische Gruppierungen anzubahnen. Soweit ein Handel im 7. und 8. Jahrhundert festgestellt werden konnte, dürfte er nur die Bedürfnisse der sozial gehobenen Schichten befriedigt haben. In die unteren Bevölkerungskreise können davon nur unbedeutende Teile gelangt sein. Für die Erschließung „neuer Quellen des Reichtums" wird Kriegszügen Bedeutung zugemessen, doch nicht verkannt, daß sie zur Verlegung alter Handelswege zwangen, wie der Bernsteinstraße, deren Führung über die Ostseeländer an Bedeutung verlor. Anlaß zur Ausweitung des Handels gab der Fortschritt im Schiffsbau, durch den es möglich wurde, in zunehmendem Maße die Ostsee zu befahren. Bevorzugter Handelsplatz und eine offenbar bevölkerungsreiche Gewerbesiedlung war der Hafen Rerik im obodritischen Stammesbereich, in der Nähe des jüngeren Wismar gelegen. Wenn in der zweiten Phase der Entwicklung, vor allem im 10. Jahrhundert, die Produktion gewerblicher Erzeugnisse zunahm, so wird das mit der Festigung der Herrschaftsverhältnisse in Verbindung gebracht. Charakteristische Erzeugnisse der Ostseeslaven dieser Zeit waren keramische Arbeiten und eiserne Beschläge für Messer, die in Rostock, Kolberg, Danzig und an anderen Orten hergestellt und auch in die skandinavischen Länder exportiert wurden. Vom Beitrag der Wikinger an der Aufsiedlung der südlichen Ostseeküste ist freilich kaum etwas zu lesen, und vermutlich ist auch ihre Hinterlassenschaft größer gewesen als das, was jetzt dafür ausgegeben wird. In der dritten Entwicklungsperiode trat eine stärkere Spezialisierung handwerklicher Betätigung ein, die auch in neuen Bauformen aus Stein Ausdruck fand. In der Wirtschaft gewannen Heringsfänge zunehmend an Bedeutung. Wenn es gelungen ist, die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Bereichen sachlich besser zu erfassen, so kommt das Verdienst in erster Linie der Siedlungsarchäologie zu. Die seit Jahren regelmäßig veröffentlichten ausführlichen Grabungsberichte gestatten, den Fortgang der Arbeiten und den zunehmenden Anfall von Fundmaterial genau zu verfolgen. 15

L. L e c i e j e w i c z , Badania archeologiczne nad wczesnym sredniowieczem na Pomorzu Zachodnim w ostatnim dziesi§cioleciu (Archäologische Forschungen der letzten zehn Jahre über das frühe Mittelalter in Pommern), in: Stud. Mat. Wielkopol. Pom. 4 (19581, 319ff. 16

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Im Zusammenhang mit solchen Erhebungen sind auch die Kenntnisse über die frühgeschichtlichen Burgwälle und die mittelalterlichen Burgen Pommerns vertieft worden.16 Dabei konnte im Kreis Neustettin aus der Lage der Burgwälle zueinander ein Wehrsystem des 7. und 8. Jahrhunderts, im Pyritzer Land der bauliche Zustand einer im 10. Jahrhundert zerstörten Verteidigungsanlage erschlossen werden. Nach den erhaltenen Mauerresten der Burgen Schivelbein, Plathe, Rügenwalde, Lagow, Wildenbruch und Pansin sind Untersuchungen über die Bauweise des 14. Jahrhunderts sowie über gemeinsame und unterschiedliche Formelemente dieser Anlagen angestellt worden. Die Burgen der Herzöge und des Ritterordens fanden Nachahmung durch Bauten adliger Geschlechter. Zur Grenzsicherung wurden im 12. und 13. Jahrhundert in den Wäldern Pommerns und Pommerellens Verhausiedlungen angelegt, die den schlesischen presaka vergleichbar sind.17 Einige dieser Plätze konnten nach der in jüngeren Ortsnamen vorkommenden Bezeichnung osiec in den Kreisen Lauenburg, Bütow, Tuchel und Schwetz ermittelt werden. Vermutlich entstanden diese Wehrsiedlungen, als sich bei der Erschließung der Grenzwälder die Entfernungen zu den alten Stammes- und Landesburgen vergrößerten. Ob es sich bei der angesetzten Bevölkerung um Wehrbauern mit besonderen Pflichten und Rechten, wie sie aus Böhmen bekannt sind, handelte, ist bisher nicht festzustellen gewesen. Neue Ergebnisse brachten weiterhin Untersuchungen über die älteren Hafenanlagen von Stettin, Wollin, Kolberg und Danzig. 18 Geschützt durch örtliche Befestigungen fand über diese Plätze ein beträchtlicher Austauschhandel statt, bis dieser durch die Dänenkriege in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Z. R a d a c k i , Zamki zachodnio-pomorskie i ich przeslanki genetyczne (Die pommerschen Burgen und ihre genetischen Voraussetzungen), in: Mat. Zach.-Pom. 6 (i960), 363ff.; Wl. S z a f r a r i s k i , Badania na grodzisku w Mysliborzu na Pomorzu Zachodnim (Forschungen auf dem Burgwall Mützeiburg in Pommern), ebda. 5 (1959), 43ff.; A. S t a f i n s k i , Najdawniejsze slowiariskie osiedla obronne w okolicach Szczecinka (Die ältesten slavischen Burgwälle im Kreis Neustettin), ebda. 6 (i960), 209ff.; R. K i e r s n o w s k i , Grodziska pomorskie w najdawniejszych przekazach irodel pisanych (Pommerellische Burgstätten in den ältesten Überlieferungen geschriebener Quellen), in: Archeologia Polski 2 (1958), 241 ff. 16

1 7 M. K i e l c z e w s k a - Z a l e s k a , Osieki na Pomorzu Gdanskim (Osek-Orte in Pommerellen), in: Prz. Zach. 11 (1955), I, 198fF. 1 8 Wl. K o w a l e n k o , Dalsze badania nad staroslowiariskimi portami na Baltyku z I X — X I I I w. (Weitere Forschungen über altslavische Häfen an der Ostsee vom 9. —13. Jh.), in: Prz. Zach. 11 (1955), I, 164ff.

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gestört wurde. 19 Bei neuen Ansätzen im 13. Jahrhundert läßt sich bereits ein gut ausgebildetes Zollsystem erkennen. Höchst anfechtbar ist freilich das von Kowalenko angewandte Verfahren, durch das er an der südlichen Ostseeküste von Holstein bis Danzig über hundert slavisdie See- und Flußhäfen glaubt nachweisen zu können. Dabei geht er so weit, solche Anlagen slavischer Herkunft auch für die Plätze anzunehmen, deren Einwohner Jahrhunderte später als Schiffer und Fischer erwähnt werden. Der Handelsverkehr auf Oder und Warthe ist für die Wirtschaft Polens im Mittelalter nicht erheblich gewesen. 20 Die Neigung zu möglichst einprägsamer Periodisierung der geschichtlichen Vergangenheit hat im Blick auf die Städte Pommerns während des Mittelalters zur Unterscheidung von drei Entwicklungsphasen geführt. 21 Man spricht für die Zeit der ersten Konsolidierung des polnischen Staates von dem Aufschwung der Produktionskräfte in den Dörfern, was in einem zweiten Stadium zur Organisation des lokalen Warenaustausches geführt, der endlich die Voraussetzung zum Anschluß an den hansischen Wirtschaftskreis geschaffen habe. Durch das Zusammenwirken dieser drei Entwicklungsphasen sei im 13. Jahrhundert das Aufkommen eines echten Städtewesens möglich geworden. Dabei wird nicht verkannt, daß verkehrsgünstig gelegene Bereiche wirtschaftlich besser vorankamen, während die Mehrzahl der Märkte im Landesinnern lange Zeit nur die Bedürfnisse lokaler Marktwirtschaft befriedigen konnte. Erst der Ausbau des Warenverkehrs habe den pommerschen Städten die Einbeziehung ihres Hinterlandes und die Einschaltung in die Handelsverbindungen nach Schlesien, Großpolen und in den hansischen Wirtschaftsraum erlaubt. Mit die19 H. Z i ö l k o w s k a , Pomorze a handel baltycki w okresie wczesnohistorycznym (Pommern und der Ostseehandel in frühgeschichtlicher Zeit), in: Prz. Zach. 7 (1951), I, 45ff.; H. L e s i n s k i , Handel na wybrzezu slowianskim X I I I wieku w swietle cel morskich (Der Handel an der slavischen Küste im 13. Jh. nach Angaben der Seezölle), ebda. 7 (1951), I, 53ff.; K . S l a s k i , Pomorskie szlaki handlowe w X I I i X I I I wieku (Pommerns Handelsstraßen im 12. und 13. Jh.), ebda. 4 (1948), 285ff. 20 A. G r o d e k , Handel odrzanski w historycznym rozwoju (Der Oderhandel in seiner historischen Entwicklung), Posen 1948; K . C h o j n a c k a , Podstawy techniczne handlu szczecinskiego na Warcie i Odrze w X V I i X V I I w. (Die technischen Grundlagen des Stettiner Handels auf Warthe und Oder), in: Zap. Hist. 22 (1956), 80ff. 2 1 M. M a l o w i s t , Z problematyki dziejöw gospodarczych strefy baityckiej we wczesnym sredniowieczu (Zur Problematik der Wirtschaftsgeschichte des Ostseeraumes im frühen Mittelalter), in: Roczn. Dziejöw Spol. Gosp. 10 (1948), 81 ff.; H. L e s i n s k i , Niektöre problemy rozwoju miast na Pomorzu Zachodnim w sredniowieczu (Einige Probleme der Stadtentwicklung im mittelalterlichen Westpommern), in: Mat. Zach.-Pom. 2 (1956), 279ff.; L . L e c i e j e w i c z , U zrodel bogactwa i pot^gi Pomorza Zachodniego w sredniowieczu (Die Quellen des Reichtums und der Macht Pommerns im Mittelalter), in: Szkice z Dziejöw Pomorza, Warschau 1958, 6ff.; d e r s . , Anfänge und älteste Entwicklung der westpommerschen Ostseestädte, in: Archaeol. Polon. 3 (1960), 120ff.

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sem Aufschwung vollzogen sich soziale Veränderungen in den Bevölkerungsschichten. Außerdem gelang es den Städten, herrschaftliche Gewalten zu lokkern oder sich ganz von diesen zu befreien. Der Aufkauf fürstlicher Vogteien stellte eine wichtige Voraussetzung für die Ausschaltung adliger Herrschaft innerhalb ihres eigenen Lebensbereiches dar. Die ersten im Lande geprägten Münzen waren Denare der pommerschen Herzöge, die zu Ausgang des 12. Jahrhunderts in Umlauf kamen. 22 Als älteste Münzstätte konnte Kolberg bereits für die Zeit vor 1180 nachgewiesen werden. Demmin, Stettin und Cammin, wo auch der Bischof Anteile an den Münzrechten erhielt, wurden ebenfalls am Ende des 12. Jahrhunderts eingerichtet, und bei diesen Münzstätten ist brandenburgischer Einfluß in der Prägetechnik ersichtlich. Vorbildlich für das pommersche Münzwesen dieser Zeit war die Münze von Salzwedel. Die Umschriften der pommerschen Münzen tragen die Namen deutscher Münzmeister, und es ist die Frage nach ihrer Stellung aufgeworfen worden. Die Gleichheit der Denarenstempel und das Fehlen der Namen der Herrscher läßt wohl vermuten, daß die Münzmeister mit verhältnismäßig weitgehenden Rechten, auch im Hinblick auf die Nutzung der Einkünfte, ausgestattet waren. Im gleichen Zeitraum ist eine Intensivierung des Wirtschaftslebens in Pommern nicht zu verkennen. 23 Eine gründliche Untersuchung hat die an der Küste von Kolberg bis zur Nogatmündung und im Landesinneren südlich bis Tuchel, Schwetz und Graudenz nachweisbaren Fischereistationen am Meer, an Flüssen und Seen erfaßt, über die ihren Bewohnern verliehenen Privilegien und ihr Verhältnis zu geistlichen und weltlichen grundherrschaftlichen Gewalten berichtet. In Ausnutzung ihrer Regalrechte ließen die Landesfürsten diese Betriebe teilweise regieartig bewirtschaften, kamen aber von dieser Form noch im 13. Jahrhundert ab und begnügten sich mit Zinsleistungen. Uber die Fischsorten und die Fangverwertung werden interessante Angaben gemacht. Auch Forst- und Jagdwesen sind in die Untersuchungen einbezogen worden. Die Bienenzucht scheint in Pommern keine so große Rolle gespielt zu haben wie in Masowien. Hauptzentren der Müllerei waren Danzig und Dirschau. SalzR. K i e r s n o w s k i , Mennice i mincerze na Pomorzu Zachodnim w drugiej polowie XII w. (Münzstätten und Münzmeister in Pommern in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s), in: Mat. Zach.-Pom. 6 (1960), 315ff. 23 Wl. L ? g a , O stosunkach gospodarczych na Pomorzu w XII i XIII w. (Die wirtschaftlichen Verhältnisse Pommerns im 12. und 13. Jh.), in: Jantar (4) 1 (1946), H. 3, 34ff.; ders., Obraz gospodarczy Pomorza Gdanskiego w XII i XIII wieku (Das Wirtschaftsbild Pommerellens im 12. und 13. Jh.), Posen 1949; ders., Spoieczenstwo i paristwo gdansko-pomorskie w XII i XIII wieku (Gesellschaft und Staat in Pommerellen im 12. und 13. Jh.), Posen 1956. 22

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siederei größeren Umfanges wurde in Kolberg betrieben; die ersten Vergabungen des herzoglichen Salzregals fanden schon im 12. Jahrhundert statt, und bis zum 15. Jahrhundert war der Salzhandel gänzlich in bürgerlicher Hand. 2 4 In den küstennahen Landstrichen vollzog sich der Verkehr über Meer, Land und Flüsse. Die Verbindung entlang der Weichsel von Danzig nach Thorn ist nachweisbar seit dem 10. Jahrhundert von skandinavischen Händlern benutzt worden, die auf diesem Wege ihre Waren nach Großpolen brachten. Im 12. und 13. Jahrhundert hatte die Organisation des Straßenverkehrs schon einen beträchtlichen Stand erreicht, wofür im einzelnen Belege beigebracht werden. Artikel des Kaufs und Verkaufs waren Naturprodukte, die Erträge der Fischerei, J a g d und Landwirtschaft sowie handwerkliche Erzeugnisse. In den Zollregistern werden vorwiegend Fischsorten, Biber- und Luchsfelle, Honig und Wachs, Weizen, Mehl, Bier und Leinwand genannt, die zum Teil auf ausländische Märkte kamen. Es gab Hafen-, Straßen- und Brückenzölle, die vereinzelt noch in Naturalien, größtenteils umgerechnet in Geldeswert zu zahlen waren. In Pommern waren die Klöster am Wirtschaftsleben beteiligt, vor allem die Zisterzienser, wenn auch ihre Handelstätigkeit vorwiegend nur den Bedürfnissen der eigenen Konvente diente. 25 Erleichterung und Befreiung von Zöllen kamen ihnen zugute, so 1173 der Abtei Kolberg für ihre Schiffe, außerdem erhielt sie die Zusicherung des freien Transports von Weizen zum Tausch gegen Fische. Die nicht unbeträchtliche Konkurrenz gegen die städtische Bevölkerung, die sich mit Handel befaßte, ist jedoch ohne verändernden Einfluß auf das Handelsleben in Pommern gewesen, obwohl die wirtschaftliche Betätigung den Konventen erlaubte, Grundbesitz in den Städten zu erwerben. Dem deutschen Siedelwerk in Pommern sind verhältnismäßig wenig Arbeiten gewidmet worden. Was vorliegt, führt sachlich kaum weiter. 26 HervorJ. W a l a c h o w i c z , Regale solne na Pomorzu Zachodnim do roku 1295 (Das Salzregal in Pommern bis 1295), in: Czasopismo Prawno-Historyczne 11 (1959), I, 53ff. 21

25 H. C h l o p o c k a , Przyczynki do dziejöw zycia gospodarczego miast Pomorza Zachodniego w X I I I i X I V w. (Beiträge zur Geschichte des Wirtschaftslebens der pommerschen Städte im 13. und 14. Jh.), in: Prz. Zach. 7 (1951), I, 65ff. 29 Wi. D z i e w u l s k i , Kolonizacja niemiecka na Pomorzu Zachodnim w wiekach srednich (Die deutsche Kolonisation in Pommern während des Mittelalters), in: Jantar (4) 1 (1946), H. 2, 13ff.; Z. K a c z m a r c z y k , Kolonizacja niemiecka na wschod od Odry (Die deutsche Kolonisation östlich der Oder), Posen 1945; St. T r a w k o w s k i , W sprawie roli kolonizacji niemieckiej w przemianach kultury materialnej na ziemiach polskich w X I I I wieku (Die Rolle der deutschen Kolonisation für die Veränderungen der materiellen Kultur in den polnischen Gebieten im 13. Jh.), in: Kwart. Hist. Kult. Mat. 8 (i960), I, 183ff.

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hebung verdient eine Arbeit über Entstehung und Umbildung der Dörfer im Weichselland um Danzig, im Gebiet um Mewe und in den Klosterherrschaften von Pelplin und Oliva, die auch eine zusammenfassende Untersuchung der hauptsächlich vorkommenden Orts- und Flurformen bietet. 27 Wissenschaftlich neue Aspekte sind einem Uberblick über die frühen hansischen Beziehungen nach dem Osten nicht zu entnehmen. 28 Auf Grund der zahlreich vorliegenden Forschungsberichte über die Ausgrabungen in Stettin 29 und der Rekonstruktion des ursprünglichen Landschaftsbildes 30 läßt sich die frühe Entwicklung dieser Stadt vom 10. bis ins 13. Jahrhundert deutlicher erkennen, als das der älteren Forschung möglich war. Außerdem sei verwiesen auf einige zusammenfassende Darstellungen, 31 auf Untersuchungen über die Bevölkerung und die Ausdehnung Stettins im Jahre 1124, 3 2 über den ältesten Hafen 3 3 und die Schiffahrt auf dem Stettiner 27 M. K i e l c z e w s k a - Z a l e s k a , O powstaniu i przeobrazeniu ksztaltöw wsi Pomorza Gdariskiego (Die Entstehung und Umbildung des Dorfes in Pommerellen), Warschau 1956. 28 H. L e s i r i s k i , Pocz^tki i rozwöj stosunköw polsko-hanzeatyckich w XIII wieku (Anfänge und Entwicklung der polnisch-hanseatischen Beziehungen im 13. Jh.), in: Prz. Zach. 8 (1952), II, 130ff. 29 t . W3.S0 w i c z , Badania nad poczqtkami paristwa polskiego w r. 1950 (Forschungen über die Anfänge des polnischen Staates im Jahre 1950), in: Kwart. Hist. 58 (1950), 97ff.; A. G i e y s z t o r , Badania nad polskim wczesnym sredniowieczu w r. 1951 (Forschungen über das polnische Frühmittelalter im Jahre 1951), in: Prz. Zach. 8 (1952), II, 299ff. (bieten auch Hinweise über den Forschungsgang in anderen, in diesem Forschungsbericht ebenfalls erwähnten Städten); G. L a b u d a , Problematyka badari wczesnodziejowych Szczecina (Die Problematik der frühgeschichtlichen Forschungen über Stettin), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 536ff.; Szczecin i Wolin we wczesnym sredniowieczu (Stettin und Wollin im frühen Mittelalter), mit Beiträgen von R. K i e r s n o w s k i , T. W i e c z o r o w s k i , W. F i l i p o w i a k , Breslau 1954; M. K u b a s i e w i c z , Z badari nad szcz^tkami zwierz^cymi z zamku Szczeciriskiego (Forschungen über Tierknochenreste im Stettiner Schloß), in: Mat. Zach.Pom. 6 (1960), 265 ff. 30 St. Z a j c h o w s k a , Pierwotny krajobraz sredniowiecznego Szczecina (Die ursprüngliche Landschaft des mittelalterlichen Stettin), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 598ff. 31 H. C h l o p o c k a , Pocz^tki Szczecina (Die Anfänge Stettins), in: Roczn. Hist. 17 (1948), 281 ff.; St. B o b i r i s k i , Szkicowa analiza planu starego Szczecina (Skizzenhafte Analyse des Stadtplanes von Altstettin), in: Prz. Zach. 7 (1951), II, 578ff.; B. Z i e n t a r a , Szkice szczeciriskie X—XVIII w. (Stettiner Skizzen vom 10. —13. Jh.), Warschau 1958; K. T y m i e n i e c k i , Organizacja rzemiosla wczesnosredniowiecznego a geneza miast polskich (Die Organisation des frühmittelalterlichen Handwerks und die Entstehung der polnischen Städte), in: Stud. Wczesnosr. 3 (1955), 9ff. 32 Wl. D z i e w u l s k i , Zaludnienie i rozmiary Szczecina w roku 1124 (Bevölkerung und Ausdehnung Stettins im Jahre 1124), in: Kwart. Hist. Kult. Mat. 2 (1954), 45ff. 33 B. W a c h o w i a k , Najdawniejszy port Szczecina X—XIII w. (Der älteste Hafen Stettins vom 10. —13. Jh.), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 579ff.; ders., Port sredniowiecznego Szczecina (Der Hafen des mittelalterlichen Stettin), Danzig 1955; Wl. K o w a l e n k o , Dalsze

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Haff, der Peene, Swine und Dievenow.34 Nach der angeblich ersten Erwähnung in einer Urkunde, die auf 990/92 datiert und von polnischen Forschern für Stettin in Anspruch genommen wird, tritt der Siedelplatz sicher zuerst in der Lebensbeschreibung Ottos von Bamberg und damit erstmals in einer erzählenden Quelle entgegen. Der slavische Charakter der ältesten Ansiedlung und die Anfänge Stettins sind bereits von der deutschen Wissenschaft beschrieben worden, soweit das mit früheren Forschungsmethoden möglich war. In der Bewertung der wirtschaftlichen Funktion des Suburbiums gehen aber die polnischen Auffassungen jetzt weiter. Chlopocka, Dziewulski und Wachowiak machen sich die schon erwähnten, von den polnischen Historikern allgemein vertretenen Ansichten Tymienieckis von der vorkolonialen Existenz von Städten im Gesamtbereich der slavischen Besiedlung zu eigen und charakterisieren das Suburbium Stettins als Zentrum der Produktion und des Warenaustausches, das die Bezeichnung Stadt durchaus verdiene. Dieses Suburbium entstand im Schutze der Burg, an deren östlicher Seite, mit einem Markt (später Heumarkt), zu dem mehrere Handelswege führten. Allmählich ist das Suburbium in die Befestigung der Burg mit einbezogen worden. Für die soziale und berufliche Differenzierung der Bevölkerung gibt es verschiedene Indizien. Von den Gewerbezweigen waren insbesondere die Gerberei, die Weberei, das Schmiedehandwerk und der Schiffsbau zahlenmäßig stark vertreten und stellten die Waren her, die eine wichtige Grundlage für den Handel und den überseeischen Verkehr abgaben. Es wird behauptet, daß es eine auf Handel spezialisierte Kaufmannsschicht in der vordeutschen Zeit nicht gegeben habe, sondern der lokale und Fernhandel von den seniores oder maiores natu betrieben worden sei, worunter in sehr eigenwilliger Deutung landbesitzender Adel verstanden wird. Deutsche Kaufleute und Handwerker sollen sich zunächst in dem slavischen Suburbium niedergelassen haben, Wachowiak vermutet, daß ihre Zuwanderung bald nach der Beendigung der Mission Ottos von Bamberg einsetzte. Noch vor der Mitte des 12. Jahrhunderts, zwischen 1127 und 1137, wuchs jedoch neben der älteren slavischen Siedlung eine deutsche empor, die befestigt wurde und deren Bevölkerung für diese Zeit auf 600 bis 1000 Personen geschätzt wird. Nach neueren und im Ganzen überzeugenden Feststellungen soll die gesamte Einwohnerschaft Stettins im Jahre 1124 rund 3000 Personen betragen haben. Die Angabe Herbords, der zu diesem Jahr 900 patres familias nennt, wird dahin ausgelegt, daß es sich bei diesen Familienvätern um badania nad starosiowiariskimi portami na Baltyku z I X — X I I I w. (Weitere Forschungen über altslavische Häfen an der Ostsee vom 9. —13. Jh.), in: Prz. Zach. 11 (1955), I, 164ff. 3 4 Wl. K o w a l e n k o , Piaña, áwina i Dziwna jako szlaki osadniczo-komunikacyjne siowiaászczyzny baltyckiej VIII—XIII w. (Peene, Swine und Dievenow als Siedlungs- und Verkehrswege der Ostseeslaven des 8. —13. Jh.s), in: Prz. Zach. 10 (1954), I, lff.

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freie Krieger gehandelt haben müsse, die mit Frauen, Kindern und zugehörigem Gesinde eine Bevölkerungsmenge von über 10 000 Personen, vielleicht sogar das Doppelte, erschließen lasse. Weil eine so große Zahl von Menschen Burg, Suburbium und anderen Siedlungsteilen in Stettin nicht zugerechnet werden könne, müsse diese Angabe für den besiedelten Wohngau Stettin in Anschlag gebracht werden. Unabhängig von slavischem Suburbium und deutscher Burgsiedlung wird in den Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts in unmittelbarer Nachbarschaft Stettins auch eine offene, als Wik bezeichnete Siedlung erwähnt, in der gemeinsam Deutsche und Slaven gewohnt haben sollen. Neben dem Markt war der Hafen das wichtigste Zentrum des Handelslebens. Der Hafen der slavischen Zeit wird neuerdings in einer Bucht im Norden des Suburbiums vermutet, im Schutze der unmittelbar benachbarten Burg gelegen. Als er zu klein wurde und auch der zunehmende Tiefgang der Schiffe seine Benutzung immer mehr ausschloß, kam es im 13. Jahrhundert zur Anlage eines neuen Hafens längs des Oderufers und in Verbindung damit zur baulichen Neugestaltung des Suburbiums. - Während des 10. und 11. Jahrhunderts kann die wirtschaftliche Mittlerrolle Stettins nicht bedeutend gewesen sein, denn es lag noch abseits der großen damals benutzten Handelswege. Die Handelszentren auf Usedom und Wollin übertrafen das älteste Stettin an Bedeutung, weil sie wegen ihrer näheren Lage zur Küste den überseeischen Verkehr zwischen Westeuropa und den baltischen Ländern besser vermitteln konnten. Eine Änderung trat erst im frühen 12. Jahrhundert ein, als Stettin in Verbindung mit dem Ausbau der Handelswege als Umschlagplatz des See- und Landhandels ^zunehmend an Bedeutung gewann und sich zum Vorort der pommerschen Städte erheben konnte. Stettiner Kaufleute, die sich auf den Fang und Handel von Heringen spezialisierten, erwarben auf dieser Grundlage eine beträchtliche wirtschaftliche Kraft, weil es ihnen gelang, große Teile Pommerns, Brandenburgs und Großpolens mit Fischen zu versorgen. Eine zweite führende Kaufmannsgruppe waren die Tuchhändler, die ihre Ware in Flandern und England einkauften. Neben Fische und Tuche trat Salz als ein wichtiger Handelsartikel, den Stettiner Händler aus den Salinen bei Lüneburg auf dem Landwege bezogen. Während Wollin sich seine Stellung durch Vermittlung des Transithandels sicherte, wurde die wirtschaftliche Blüte Stettins bedingt durch die Organisation des inneren Marktes und den Warenaustausch zwischen Land und Meer. - Die Lokation Stettins zu Magdeburger Recht vollzog sich in zwei Etappen. 1237 erfolgte die Gleichordnung der Gerichtsbarkeit in den verschiedenen Siedlungsteilen nach deutschem Vorbild und das Herauslösen des Ortes aus dem Bereich des Landrechts. 1243 ist dann Stettin das Magdeburger Recht verliehen worden, doch wird in der polnischen Forschung dieser Vorgang nicht

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als eigentlicher Gründungsakt der Stadt angesprochen.35 Für ihre weitere Entwicklung wurde eine Reihe von Privilegien bedeutsam, die Barnim I. verlieh. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts gab es in der Stadt vier Märkte. Das deutsche Element hatte sich bis dahin immer stärker durchgesetzt, und es wird auch von polnischer Seite nicht bestritten, daß sich der Anteil der slavischen Bevölkerung am Wirtschaftsleben seit Beginn des 13. Jahrhunderts zunehmend verringerte. Die Gründe dafür werden darin gesehen, daß die Deutschen über neue technische Möglichkeiten verfügten, über bessere Werkzeuge und auch über größeres Kapital. Es wird angenommen, daß ein erheblicher Teil der slavischen Einwohner Stettins sich den verändernden wirtschaftlichen Verhältnissen nicht anpassen konnte. Seit dem frühen 9. Jahrhundert spielte das rund 12 km nördlich von Stettin gelegene Messenthin eine wichtige Rolle als befestigter Platz zur Küste hin, an dem die Straße nach Wolgast und Stralsund vorbeiführte. 36 Die nach dem zweiten Weltkrieg durchgeführten Ausgrabungen haben ergeben, daß der Fischreichtum nach Sorten und Menge außergewöhnlich groß gewesen sein muß. Offenbar war die Bevölkerung der Vorburgsiedlung bis ins 12. Jahrhundert fast ausschließlich in der Fischerei tätig. Methodisch aufschlußreich, wenn vielleicht auch in den Ergebnissen nicht völlig haltbar, ist eine Untersuchung über die Frühgeschichte des Stettiner Haffs und der Inseln an der Odermündung. Ihre Besiedlung hing ja wesentlich von der Schiffbarkeit der Peene, Swine und Dievenow ab, wobei diese gegenüber älteren Auffassungen jetzt auch für den letztgenannten Fluß bereits für die Zeit des 8. bis 13. Jahrhunderts vermutet wird. Nicht zufällig wird in Arbeiten, die sich mit Stettin beschäftigen, auch der Entwicklung Wollins gedacht, über das außerdem einige spezielle UnterH. C h l o p o c k a , Lokacja Szczecina na prawie niemieckim (Die Lokation Stettins zu deutschem Recht), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 612ff. 35

3 6 Wl. G a r c z y r i s k i , Wyniki badan na osadzie wczesnosredniowiecznej Szczecin-Mscigcino (Forschungsergebnisse in der frühmittelalterlichen Siedlung Stettin-Messenthin), in: Mat. Zach.-Pom. 1 (1955), 7ff.; Wl. F i l i p o w i a k , Osada wczesnosredniowieczna SzczecinMscifjcino w swietle badan w 1954 r. (Die frühmittelalterliche Siedlung Stettin-Messenthin im Lichte der Forschungen von 1954), in: Wiad. Archeol. 22 (1955), 347ff.; Z. C h e l k o w s k i , Szcz^tki ryb w materiale wykopaliskowym z osady wczesnosredniowiecznej Szczecin-Mscigcino (Fischreste im Ausgrabungsmaterial der frühmittelalterlichen Siedlung Stettin-Messenthin), in: Mat. Zach.-Pom. 5 (1959), 165ff.; E . C n o t l i w y , Z badan nad rzemioslem zajmuj^cym sig obröbk^ rogu i kosci na Pomorzu Zachodnim we wczesnym sredniowieczu (Das Horn und Knochen verarbeitende Handwerk Pommerns im frühen Mittelalter), ebda. 2 (1956), 151 ff.

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suchungen vorliegen. 37 Wollin ist einmal als älteste „Stadt" des slavischen Westens bezeichnet worden, dessen erstaunlicher Aufstieg durch seine vorteilhafte Lage und andere Umstände begünstigt wurde. Auf der Insel, die im Westen von der Swine, im Norden vom Meer, im Süden durch die Oderarme und im Osten von der Dievenow umgeben wird, enstanden in der Zeit vom 7. bis ins 10. Jahrhundert sechs Burganlagen mit Suburbien, von denen die namengebende Hauptburg Wollin auch die größte gewesen ist. Ein Teil der Anlage wurde auf Pfählen über dem Wasser errichtet, und ein nicht unbeträchtliches Gebiet des sumpfigen Untergrundes der Insel mußte für die Siedlung mit Holzplanken abgedichtet werden. Der Hafen, der angeblich für 300 seetüchtige Schiffe Platz gehabt haben soll, befand sich in einer von der Dievenow gebildeten kleinen Bucht und war mit der Siedlung nach der Landseite durch Erdwälle geschützt. 38 Es ist vermutet worden, daß es bereits im 9. Jahrhundert bei Wollin eine natürliche Anlegestelle gab, die durch weiteren Ausbau zusammen mit der Siedlung zu einem Handelszentrum von Bedeutung gewachsen ist. Ausgrabungen erbrachten den Nachweis, daß die Bevölkerung von Fischfang, Handwerk und Handel, aber auch von Ackerbau und Viehzucht gelebt hat. Der Aufschwung des Platzes und der Wohlstand seiner Einwohner waren eine Folge der Vermittlung des Transithandels, den Funde bestätigen, die als Importe aus Birka, Haithabu, Byzanz und Kiew erkannt wurden. Außerdem berührten wohl schon im 9. und 10. Jahrhundert zwei Uberlandstraßen den Platz, die von Westen kommende und über Usedom nach Osten weiterführende mit der von Süden heraufkommenden, die sich teilweise des Wasserweges bediente. Seit der Mitte des 10. Jahrhunderts hat Wollin eine nicht unbedeutende politische Rolle gespielt, verlor diese und den wirtschaftlichen Vorrang aber zu Ausgang des nächsten Jahrhunderts durch das Aufblühen Stettins. Seit dieser Zeit begann der allmähliche Verfall des alten Wollin. 39 Bisher herrschte die Ansicht vor, daß sein Niedergang durch das Zusammentreffen sich ungünstig auswirkender Faktoren der Politik, des Handels und der Fischerei ausgelöst worden sei. Dagegen wird jetzt geltend gemacht, daß diese Faktoren zu verschiedenen Zeiten aufgetreten seien. Der Rückgang der politischen Bedeutung Wollins am Ende des 11. Jahrhunderts soll keinen spürbaren Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse gehabt haben, vielmehr 3 7 Z. R a j e w s k i , Wolyn — opulentissima civitas sclavorum, in: Prz. Zach. 2 (1946), 446ff.; Wl. F i l i p o w i a k , Wolin — najwi§ksze miasto Slowiariszczyzny zachodniej (Wollin — die älteste Stadt des Westslaventums), in: Szkice z dziejów Pomorza (1958), 38ff. 3 8 Wl. F i l i p o w i a k , Port wczesnosredniowiecznego Wolina (Der frühmittelalterliche Hafen Wollin), in: Mat. Zach.-Pom. 2 (1956), 183ff. 3 9 K . G ó r s k i , Upadek slowianskiego Wolina (Der Niedergang des slavischen Wollin), in: Slavia antiqua 5 (1956), 292ff.

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hätten Handwerk und Transithandel noch bis in die Zeit der dänischen Einfälle 1170/85 in ansehnlicher Blüte gestanden. Erst der Verfall des Fischereiwesens habe eine schnelle rückläufige Bewegung zur Folge gehabt. Angeblich sei auch die um 1270 vorgenommene Einführung des deutschen Rechtes nachteilig für die Bevölkerung gewesen, weshalb die Fischer größtenteils abgewandert wären. Die einstmals bedeutende und volkreiche Stadt zählte 1540 nur noch knapp 400 Einwohner. In Bodenschichten des 9. bis 10. Jahrhunderts sind Glasperlen und Glasschmelz gefunden worden. Zwar kann aus der Häufung dieser Gegenstände eine örtliche Produktion noch nicht gefolgert werden, doch hat die Analyse der Schlacken und der erhaltenen Glaswaren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gezeigt, daß in der genannten Zeit Wollin ein Zentrum der Glasherstellung in Pommern gewesen sein muß. 40 Aufmerksam sei auch auf die Mitteilungen über Textilfunde aus dem 9. und 10. Jahrhundert gemacht. Es handelt sich dabei um Rohwolle und um 24 Gewebe. Für so frühe Zeit wird mit einer Einfuhr fremder Rohwolle nach Wollin nicht gerechnet, deshalb sieht man in ihr ein einheimisches Produkt. Es konnten drei verschiedene Gewebetypen erschlossen werden: feine Wolle im Schuß und grobe Wolle in der Kette; Gewebe mit feiner Wolle in der Kette und grober Wolle im Schuß; drittens Gewebe mit gleichstarker Wolle in Kette und Schuß. 41 Recht ertragreich ist außerdem die Analyse der in verschiedenen Siedlungsschichten gefundenen mehr als 1300 Lederstücke, Reste von Schuhwerk und anderen Ledererzeugnissen. Nur die durch bodengünstige Voraussetzungen gegebenen guten Konservierungsbedingungen erhielten diese Lederfragmente bis in unsere Zeit. Aus ihnen ließen sich drei verschiedene Formentypen von Schuhwerk und anderes Gebrauchswerk erschließen, meistens aus einfachem Leder gefertigt, zuweilen auch aus zwei zusammengeklebten Schichten hergestellt. Alle Funde stammen aus dem 10. und 11. Jahrhundert, wobei es sich um Stücke handelt, die wahrscheinlich noch im Heimwerk, nicht in gewerblichen Produktionsstätten gefertigt wurden. 42 Auch Cammin, gleichfalls an der Dievenow, aber auf dem Festland gelegen, wurden einige Spezialuntersuchungen gewidmet. 43 Erstmals 1124 erwähnt, da40 E . J a s i e w i c z o w a , Wolin — najstarszy osrodek produkcji szklarskiej w Polsce (Wollin — das älteste Zentrum der Gasherstellung in Polen), in: Szklo i Ceramika 9, H. 2 (1958), 34ff. 4 1 A. N a h l i k , Tkaniny wykopaliskowe z wczesnosredniowiecznego Wolina (Textilfunde aus dem frühmittelalterlichen Wollin), in: Mat. Zach.-Pom. 5 (1959), 257ff. 4 2 J. W o j t a s i k , Wczesnosredniowieczne wyroby ze skóry znalezione na stanowisku 4 w Wolinie (Frühmittelalterliche Lederarbeiten aus der Grabungsstelle 4 in Wollin), in: Mat. Zach.-Pom. 6 (1960), 159 ff. 4 3 R. K i e r s n o w s k i , Kamieñ i Wolin (Cammin und Wollin), in: Prz. Zach. 7 (1951), II, 178ff.; Wl. F i l i p o w i a k , Pocz^tki Kamienia pomorskiego (Die Anfänge des pommer-

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mals Herzogssitz, war es zu dieser Zeit schon eine ansehnliche Siedlung, doch mehr von strategischer als von wirtschaftlicher Bedeutung. Aus dem Fehlen älterer Nachrichten und so reicher Funde, wie sie an anderen Plätzen zutage getreten sind, wird geschlossen, daß Cammin vor dem 12. Jahrhundert als Handelsort und Handwerkerniederlassung keine besondere Rolle gespielt hat, jedenfalls nicht dem benachbarten, nur 18 km entfernt gelegenen Wollin vergleichbar war. Doch wird für das 11. Jahrhundert dem Platz eine doppelte Funktion im Verteidigungssystem des Wolliner Gebietes zugesprochen, zur Bewachung der Schiffahrt vom Meer her auf die Dievenow und der Landverbindung nach Kolberg hin. Auf der von dort kommenden Straße erfolgte der Transport des Kolberger Salzes nach Wollin und über Usedom weiter nach dem Westen oder südlich ins Oder-Warthe-Gebiet, bis sich dieser Transport im 12. Jahrhundert auf eine südlicher und auf Stettin laufende Verbindung verlagerte. Uber das Alter der Burg sind genaue Angaben nach dem bisherigen Grabungsstand nicht zu geben, doch lassen einige mehr zufällige Funde vermuten, daß sie bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht. Zu Ausgang des nächsten, sicher im 12. Jahrhundert, bestand neben der Burg ein Suburbium. Für seine Bewohner spielten Landwirtschaft und Viehzucht in der wirtschaftlichen Betätigung zunächst die führende Rolle. Der mit einer Seite der Burg zugekehrte Markt lag an der Kreuzung mehrerer Uberlandstraßen, und in seiner Nähe vollzog sich das Handels- und Gewerbeleben. Noch vor der Lokation zu deutschem Recht 1274 waren drei Wike (Kapitelswik, Ratswik und Vogtswik) entstanden, von denen nach der rechtlichen Neuordnung der örtlichen Verhältnisse der Vogtswik ein slavisches Bevölkerungselement bis ins 14. Jahrhundert behielt. Im 12. Jahrhundert soll sich der Hafen vor der Ostseite der Burg befunden haben, später ist er nach Westen vor die Gründungsstadt verlegt worden. Der Handel scheint vorwiegend zur Deckung des lokalen Bedarfs gedient zu haben, der angeblich ohne Einfluß auf die Belebung der gewerblichen Betätigung geblieben ist. Fischfang ist die Hauptbeschäftigung der slavischen Bevölkerung gewesen und geblieben,44 bis die Stadt 1274 Fischereirechte sehen Cammin), in: Szczecin 4/5 (1958), 7ff.; d e r s . , Kamieri wczesnodziejowy (Das frühgeschichtliche Cammin), Stettin 1959; H. L e s i n s k i , Glöwne linie rozwoju Kamienia pomorskiego (Hauptlinien der Entwicklung des pommerschen Cammin), in: Szczecin 4/5 (1958), 35ff.; R. K i e r s n o w s k i , Skarb monet wczesnosredniowiecznych z Kamienia pomorskiego (Der frühmittelalterliche Münzfund aus dem pommerschen Cammin), in: Mat. Zach.-Pom. 5 (1959), 187 ff. 4 4 M. K u b a s i e w i c z , Szczqtki zwierz§ce z wczesnosredniowiecznej osady Gardziec, powiat Kamien Pomorski (Uberreste von Tierknochen aus der frühmittelalterlichen Siedlung Garz bei Cammin), in: Mat. Zach.-Pom. 5 (1959), 145ff.; Z. C h e l k o w s k i , Wczesnosredniowieczne pozostalosci ryb z Kamienia pomorskiego (Frühmittelalterliche Fischreste aus dem pommerschen Cammin), ebda. 6 (1960), 245 ff.

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für die Seen und die Peene erhielt, wozu 1389 noch das Fangrecht mit großen Netzen auf dem Meere hinzukam. Ein Privileg zur Ausübung der Schiffahrt im Gebiet zwischen Swine und Rega ist zu Beginn des 14. Jahrhunderts erteilt worden. Im Vergleich mit Wollin zeigt Cammin keine besonderen Entwicklungstendenzen. Während hier der Burg das Übergewicht zukam, hatte in Wollin das Suburbium die größere Bedeutung, und deshalb ist dieser Platz wirtschaftlich besser vorangekommen. In Cammin sind im Suburbium, das aus der Lebensbeschreibung Ottos von Bamberg bekannt ist, keine archaischen Züge festzustellen, die erlauben würden, seine Anfänge in wesentlich älterer Zeit zu vermuten. Uber Kolberg und seine Burg, die bei der Errichtung des Bistums um die Jahrtausendwende zu den wichtigsten Wehranlagen Pommerns gehörte, liegen nur wenige neue Untersuchungen vor. 45 Im frühen 12. Jahrhundert, beim Einsetzen weiterer Nachrichten, konnte sich die Burgsiedlung mit Stettin und Wollin nicht messen, immerhin wird sie bei Gallus Anonymus als urbs opulens bezeichnet. Der damit verstandene Wohlstand der Bevölkerung rührte offensichtlich von den Salzquellen her, die wohl schon im 10. Jahrhundert erschlossen worden sind. Dem fürstlichen Regalrecht entsprechend wurden sie von den Landesherren als Monopol genutzt und boten ihnen durch Abgaben gute Einkünfte. Der Handel mit Salz lag in den Händen der Einwohner von Kolberg, die es in die Mark, in andere Ostseeländer und nach Polen ausführten. Nicht unbeträchtlich muß der Fischhandel gewesen sein, wobei auch Fänge aus den Küstengewässern auf den Markt kamen. Die Kolberger Fischexporte liefen nach Polen, Schlesien und in die Mark Brandenburg. Das örtliche Handwerk ist hingegen nicht besonders entwickelt gewesen, auch die in größerem Umfange betriebene Anfertigung von Salzpfannen diente nur dem lokalen Bedarf. Gut läßt sich die deutsche Durchsiedlung des Kolberger Landes verfolgen, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzte.46 Um 1248 war ein Teil der Kastellanei Kolberg an das Bistum Cammin abgetreten worden, dessen Bischof Hermann von Gleichen (1251-1289) das Siedelwerk energisch aufnahm. Die Umlegung älterer Dörfer zu deutschem Recht erfolgte in seiner Zeit, die Grün4 5 Wl. K o w a l e n k o , Najdawniejszy Kotobrzeg, VIII — X I I I w. (Das älteste Kolberg vom 8. —13. Jh.), in: Prz. Zach. 7 (1951), II, 539ff.; L. L e c i e j e w i c z , Kilka uwag o najstarszych osrodkach paristwa zachodnio-pomorskiego (Die ältesten Zentren des pommerschen Staates), in: Stud. Mat. Wielkopol. Pom. 5 (1959), 5ff.; W. t o s i r i s k i - E . T a b a c z y n s k a , Z badan nad rzemioslem we wczesnosredniowiecznym Kolobrzegu (Untersuchungen über das Handwerk im frühmittelalterlichen Kolberg), Posen 1959. 4 6 K . S l a s k i , Dzieje ziemi kolobrzeskiej do czasöw jej germanizacji (Die Geschichte des Kolberger Landes bis zur Eindeutschung), in: Roczn. Tow. Nauk. w Toruniu 51 (1948).

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dung der deutschen Städte Kolberg und Köslin ist 1255 und 1266 vollzogen worden. In beiden Fällen entstanden bei der Rechtslokation neue Siedlungen, es wurde also nicht bloß deutsches Recht auf die alten Suburbien übertragen. Der Aufbau der Neustadt Kolberg ging topographisch unabhängig von der gleichzeitig aus dem Suburbium hervorgegangenen Altstadt vor sich, wobei zwischen den beiden Siedelplätzen zunächst eine etwa 2 km breite Baulücke bestehen blieb. Von polnischer Seite wird die Auffassung vertreten, daß dieser Rechts- und Siedlungsvorgang auch eine soziale Umschichtung mit sich brachte. So wie in Kolberg das ältere slavische Bevölkerungselement sich teilweise in vorstädtische Siedelplätze zurückzog, so ist im Bereich des Kolberger Landes ein Abzug der Slaven in die östlicheren Landesteile erfolgt. Wenn Kolberg bereits zu Ausgang des 10. und im frühen 11. Jahrhundert ein durch eine Burg geschützter wichtiger Mittelpunkt der fürstlichen Landesmacht gewesen ist, so werden dafür in neueren Untersuchungen die günstige Lage und die vorteilhaften Bodenverhältnisse in den Niederungen der Persante als Ursache angesehen, die auch die ländlichen Siedlungsvorgänge beschleunigten. In den Lebensbeschreibungen Ottos von Bamberg wird das zwischen Cammin und Kolberg gelegene Clodona genannt, das der Bischof während seiner ersten Missionsreise 1124/25 aufsuchte. Der Platz findet sonst keine Erwähnung, scheint aber nach diesem Quellenhinweis und den Grabungsbefunden als Siedlungstyp und hinsichtlich der Beschäftigung seiner Bewohner eine bisher kaum bekannte Erscheinung im mittelalterlichen Siedlungsbild Pommerns dargestellt zu haben. 47 Als villa pergrandis und locus bezeichnet, hat Clodona offenbar eine andere wirtschaftliche Funktion gehabt als die bis in diese Zeit nachweisbaren pommerschen Siedlungen nichtagrarischer Struktur. Es wird berichtet, daß seine Bewohner vom Handel über Meer gelebt hätten. Die Bezeichnungen des Platzes lassen vermuten, daß er nicht durch eine Burg geschützt gewesen ist. Das hat durch die bisherigen Grabungsergebnisse Bestätigung gefunden. Diese Beobachtungen führen zu dem Schluß, daß Clodona eine offene Siedlung gewesen sein muß, die nicht klein gewesen sein kann. Die Prüfeninger Vita Ottos erwähnt, der Ort sei abgelegen und von Wald umgeben gewesen. Eine landwirtschaftliche Betätigung der Bewohner konnte deshalb nicht in Frage kommen. Bei dem erwähnten, über Meer gehenden Export, von dem die Einwohner lebten, kann es sich deshalb wohl nur um Ausfuhr von Waldprodukten handeln. Holz- und Bienenausbeute sind in der Tat nach Rügen und auf die dänischen Inseln gebracht worden. Es spricht viel dafür, 47 R. K i e r s n o w s k i , „Klodona" — Klodzieri, wczesnosredniowieczna osada pomorska (Clodona, eine frühmittelalterliche pommersche Siedlung), in: Stud. Wczesnosr. 3 (1955), 87 ff.

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diesen Platz mit Klätkow an der Rega zu identifizieren. Zur Stadt im Reditssinn hat er sich nicht entwickelt. Wegen seiner günstigen Land- und Wasserverbindungen zwischen dem Meer und den landeinwärts gelegenen Siedlungen fand das Land Schleffin, zwischen Cammin und Kolberg, urkundlich 1159 und vorher bei der Schilderung der Missionsreisen Ottos von Bamberg Erwähnung. 48 Im 12. Jahrhundert war es noch eine territoriale Einheit, die verwaltungsmäßig der Burg Cammin unterstand. Die Rodung der umgebenden Wälder und Siedlungsvorgänge im 13. und 14. Jahrhundert haben zur Auflösung dieser natürlichen Kleinlandschaft beigetragen. Zu den gut erforschten pommerschen Landbereichen gehört auch das Gebiet von Pyritz. 4 9 Seine fruchtbaren, waldarmen Böden haben zu starker Besiedlung seit dem 9. und besonders im 12. und 13. Jahrhundert geführt. Die größte Siedlungsdichte wurde östlich des Madü-Sees, im Flußgebiet der Plöne und in der unmittelbaren Umgebung von Pyritz erreicht. Das durch seine Burg am Herrschaftsvorort gesicherte und politisch organisierte Land Pyritz erhielt einen weiteren Schutz durch die Anlage von Burgwarden. Bisher wurden 20 dieser Schutz- und Verteidigungsanlagen ermittelt. Ein Teil verfiel bereits im 10. Jahrhundert; in den beiden folgenden Jahrhunderten kam es zur Ausbildung einer Burgbezirksverfassung, die von neuen Mittelpunkten her größere Bereiche erfaßte. Politisches und wirtschaftliches Zentrum des neuorganisierten Landes blieb weiterhin Pyritz, über das die Straße von Danzig, Kolberg, Greifenberg und Stargard ging, die dann nach Magdeburg weiterführte. Im Gange der deutschen Besiedlung Pommerns ist durch die Kulturarbeit der Zisterzienser ein wesentlicher Beitrag geleistet worden. 50 Vor allem geht die Erschließung der Landstriche um das Kloster Kolbatz auf ihre Tätigkeit zurück. 51 Dabei wurde die günstige Entwicklung des Klosters und seines Landbesitzes bedingt durch die Fruchtbarkeit der Böden, den Fischreichtum des 48 K. P o d l a s z e w s k a , Ziemia sliwiriska. Z problematyki ustrojowo - gospodarczej Pomorza Zachodniego (Das Schlefftner Land bei Treptow. Zur Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte Pommerns), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 689ff. 4 9 T. B i a l e c k i , Terytorium pyrzyckie w okresie wczesnego sredniowiecza (Das Gebiet von Pyritz im frühen Mittelalter), in: Mat. Zach.-Pom. 6 (1960), 271 ff. 6 0 T. M a n t e u f f e l , Rola cystersöw w Polsce w wieku X I I (Die Rolle der Zisterzienser in Polen im 12. Jh.), in: Prz. Hist. 41 (1950), 180ff. 5 1 H. C h l o p o c k a , Powstanie i rozwöj wielkiej wlasnosci ziemskiej opactwa cystersöw w Kotbaczu w XIII—XIV w. (Entstehung und Entwicklung des Zisterzienser-Grundbesitzes in Kolbatz), Posen 1953; L. Z a j d e l , Kolbacz na tle osadnictwa okolicy w okresie wczesnosredniowiecznym (Siedlung im Kolbatzer Land im frühen Mittelalter), in: Mat. Zach.-Pom. 4 (1958), 285 ff.

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Plönesees und die Lage an einer Straße, die von der Ostsee nach Großpolen führte. Die Anfänge der Siedlung Kolbatz reichen ins 9. und 10. Jahrhundert zurück, räumlich schloß sie sich an einen älteren Burgwall an. Im 11. und 12. Jahrhundert entstand ein Kranz von kleinen Bauernweilern um den Burgberg. Zu Ausgang dieser Zeit, um 1174, ließen sich in diesem Siedelbereich die Zisterzienser nieder. Zum Klosterbesitz gehörten zunächst sechs Dörfer, die sich entlang der oberen Plöne hinzogen. Zu dieser von Boguslaw I. 1173 bestätigten Verleihung kamen noch im gleichen und im nächsten Jahrhundert weitere Schenkungen hinzu. Die wirtschaftliche Tätigkeit der Zisterzienser erstreckte sich auf Ackerbau und Viehzucht, sie betrieben auch Tauschgeschäfte, so Weizen gegen Fische. Im 14. Jahrhundert sind Schafe und Schweine in großen Herden aufgezogen worden. Einige der im Klosterbereich gelegenen Dörfer, beispielsweise Neumark und Altdamm, erhielten später Marktrecht. Während für Neumark ältere Nachrichten fehlen, läßt sich für Altdamm die Entwicklung gut verfolgen. 1240 wird der Ort erstmals in einer Urkunde Barnims I. genannt, 1243 wurde er schon als civitas bezeichnet, obgleich die Lokation zu deutschem Recht erst 1249 erfolgte. Auch wie in diesem Fall wird von polnischer Seite die Ansicht vertreten, daß diese Dorfmärkte schon vor der Lokation Städte gewesen seien. Bis in das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts hat das Kloster eine sehr aktive Landpolitik betrieben, wobei teilweise kleine Grundbesitzer verdrängt wurden, um eine möglichst geschlossene Großgrundherrschaft zu schaffen. Die polnischen Beiträge zur Geschichte Pommerellens und des Weichsellandes richten sich schwerpunktartig auf die Feststellung der Völkergrenze zwischen Prussen und Masowiern, die Stammesverhältnisse von Slaven und Prussen in der Vorordenszeit, auf die Bevölkerungspolitik des Deutschen Ordens und das Schicksal der Prussen unter seiner Herrschaft. 52 Von Arbeiten über größere Landesteile verdient eine Untersuchung über die Besiedlung des Ermlandes Hervorhebung, weil in ihr nicht nur kritisch über Landesausbau, die Agrarverhältnisse, insbesondere die Felderwirtschaft, sondern auch über die soziale und rechtliche Lage der prussisdien Bevölkerung berichtet wird. Auf die Ausführungen über die prussischen Edlen, ihr Aufgehen im Deutschtum und über die ständische Entwicklung der equites Prutheni sei nachdrücklich verwiesen.53 5 2 J . A n t o n i e w i c z , Prusowie we wczesnym sredniowieczu i zarys ich kultury materialnej (Die Prussen des frühen Mittelalters und ihre materielle Kultur), in: Szkice z dziejow Pomorza (1958), 121 ff.; H. t o w m i a r i s k i , Polityka ludnosciowa Zakonu niemieckiego w Prusach i na Pomorzu (Die Bevölkerungspolitik des Deutschen Ordens in Preußen und Pommern), Danzig 1947; M. P o l l a k ö w n a , Zanik ludnosci pruskiej (Der Rückgang der prussischen Bevölkerung), in: Szkice z dziejöw Pomorza (1958), 160ff. 5 3 M. P o l l a k ö w n a , Osadnictwo Warmii w okresie krzyzackim (Die Besiedlung des Ermlandes in der Zeit des Ritterordens), Posen 1953.

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Eine Reihe von Arbeiten ist in den letzten Jahren über Danzig vorgelegt worden. 54 Offenbar bezieht sich die Erwähnung zu 997 in der Adalbertsvita nur auf die Burg, jedenfalls glaubt Jazdzewski nicht, daß das Suburbium damals schon bestand. In manchen Arbeiten wird zwar ein farbenreiches Bild des Danziger Wirtschaftslebens im 11. und 12. Jahrhundert gezeichnet, aber statt auf überzeugenden Beweisen beruhen die Schilderungen, ohne daß es gesagt würde, nur auf Analogien zu pommerschen Orten, vor allem Wollin und Stettin. Erst seit der zweiten Erwähnung Danzigs, 1148, ging von hier ein lebhafter Handel aus, auch läßt sich in dem Suburbium ein rege tätiges Handwerk nachweisen. Goldschmiedearbeiten und Schnitzereien, für die Holz, Knochen und Bernstein als Rohstoffe verwendet werden, standen auf beachtlicher Höhe. Wiederum bezweifelt man für diese Frühzeit die Existenz einer professionellen Kaufmannschaft, sondern vermutet, daß sich zugezogener Adel händlerisch betätigt hat. Erst im 13. Jahrhundert tritt Danzig nach den Quellen als Umschlagplatz im See- und Landhandel deutlich entgegen. Immer häufiger wurde es fortan von fremden Kaufleuten aufgesucht, und die Beziehungen liefen auf dem Landweg über Kolberg und zur See über Gotland und Lübeck ins westliche Europa. Als Handelsartikel werden vornehmlich Salz, Heringe und Tuche erwähnt. Die Niederlassung deutscher Kaufleute erfolgte zu Ausgang des 12. Jahrhunderts neben der älteren Siedlung in dem vicus theutonicus. Eine Lokationsurkunde hat sich nicht erhalten. Während die deutsche Forschung die Rechtslokation auf die Zeit kurz nach 1235 ansetzt, wird sie von polnischer Seite erst um 1260 angenommen. Dabei glaubt man nur an eine Verleihung eigener Gerichtsbarkeit und an das Zugeständnis der Selbstverwaltung. Es ist zuzugeben, daß das Wirtschaftsleben bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts stark entwickelt war und dieses und die Größe Danzigs dem Ort städtisches Gepräge gaben. Auch die polnischen Historiker halten sich an die schon von der deutschen Forschung getroffene Feststellung, daß die Verleihung deutschen Rechts dem älteren Suburbium nicht in seiner ganzen Ausdehnung zuteil geworden sein kann, weil zwei seiner Siedelkomplexe noch im 14. Jahr54

H. M a t u s z e w s k a , Pocz^tki Gdariska (Die Anfänge Danzigs), in: Roczn. Hist. 17 (1948), 70ff.; S. Bobiriski, Gdansk wczesnodziejowy na podstawie analizy planu (Das frühgeschichtliche Danzig, Analyse des Stadtplanes), Danzig 1951 ; Wl. L ç g a , Spoleczeristwo i paristwo gdarisko-pomorskie w XII i XIII wieku (Staat und Gesellschaft in Pommerellen im 12. und 13. Jh.), Posen 1956; Gdansk wczesnosredniowieczny (Das frühmittelalterliche Danzig), hrsg. von J. Kamiriska, Bd. I—III, Danzig 1960; K. J a z d z e w s k i , Gdansk X—XIII w. na tle Pomorza wczesnosredniowiecznego (Danzig im 10. —13. Jh. und das frühmittelalterliche Pommern), in: Szkice z dziejôw Pomorza (1958), 73ff.; ders., La genèse de la ville de Gdansk, son développement et son artisanat au haut Moyen-Age, in: L'artisanat, 410ff.; A. Z b i e r s k i , The early mediaeval Gdansk in the light of recent researches, ebda. 418ff.

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hundert, damals als Altstadt und Hakelwerk bezeichnet, unter polnischem Recht lebten. Die sehr rege Grabungstätigkeit im Bereich der Altstadt und an der Stätte der alten Burg, für die im 14. Jahrhundert ein fürstliches Schloß errichtet wurde, haben ebenfalls zu reichen und aussagekräftigen Ergebnissen geführt. Es gelang, zahlreiche Hausfundamente freizulegen, Wohnstätten von Fischern und Bernsteinsammlern. Daneben ist der großen Zahl gefundener Gegenstände für das 12. und 13. Jahrhundert eine reiche Gliederung gewerblicher Betätigung zu entnehmen gewesen. Das seit 1945 ergrabene Fundgut umfaßt Keramik, Erzeugnisse aus Knochen, Horn und Metall, Glasperlen und Bernsteinschnitzereien, Gebraudiswerk aus Eisen, Holz, Leder, Tuche und Mühlsteine.55 Zimmerleute, Schiffsbauer, Schmiede, Eisenarbeiter, Weber, Töpfer, Schuster und Kammacher haben größtenteils in eigenen Quartieren gelebt. Nach alledem wird man der Feststellung zustimmen können, daß Danzig in dieser Zeit das Hauptwirtschaftszentrum für Ostpommern und das Weichselland gewesen ist. Es wurde auch durch die vorteilhafte Lage begünstigt, der noch der Schutz durch die landesherrliche Burg zugute kam. Landeshauptburg, Hafen, Suburbium mit Gewerbetätigkeit und Marktverkehr ergänzten sich in der günstigsten Weise. Zahlenmäßig ansehnlich muß die Fischerbevölkerung gewesen sein, die unterhalb der Danziger Burg ansässig war. 56 Die dieser Bevölkerungsgruppe 1312 von den Ordensherren bestätigten Privilegien für Fischerei und das Sammeln von Bernstein knüpften ausdrücklich an Rechte an, die früher von den pommerschen Herzögen verliehen worden waren. Gleichzeitig erfolgte durch die Ordensleitung eine Umsetzung dieses Bevölkerungsteiles aus dem burgnahen Suburbium in das Hakelwerk, die alte slavische Fischersiedlung. In ihr sollen sich im 12. und 13. Jahrhundert bei einer Länge von 150 m und einer Breite von 100 m schätzungsweise 100-200 Wohnstätten befunden haben. Der räumliche Ausbau Danzigs seit dem späten 13. Jahr55 A. G i e y s z t o r , Polskie badania wczesnodziejowe w roku 1950 (Polnische frühgeschichtliche Forschungen im Jahre 1950), in: Prz. Zach. 7 (1951), II, 1 9 2 f f . ; K . J a z d z e w s k i — W. C h m i e l e w s k i , Gdarisk wczesnosredniowieczny w swietle badari wykopaliskowych z lat 1948/49 (Das frühmittelalterliche Danzig nach den Ausgrabungen der Jahre 1948/49), in: Stud. Wczesnosr. 1 (1952), 35ff.; K. J a z d z e w s k i , Ogölne wyniki badan archeologicznych w Gdansku w latach 1948 — 1952 (Ergebnisse der archäologischen Forschungen in Danzig in den Jahren 1948 — 1952), ebda. 3 (1955), 137ff.; ders., Gdarisk sredniowieczny w swietle badan z lat 1953/54 (Das mittelalterliche Danzig nach den Ausgrabungen 1953/54), in: Sprawozdania Archaeol. 1 (1955), 137ff.; R. B a r n y c z - G u p i e n i e c , Naczyniadrewniane z Gdariska w X —XIII wieku (Holzgefäße des 10. —13. Jh.s aus Danzig), Breslau 1959. 58 K. J a z d z e w s k i , Kultura rybaköw gdariskich w XII i XIII w. w swietle badari wykopaliskowych 1948 — 1951 (Die Kultur der Danziger Fischer im 12. und 13. Jh. nach den Ausgrabungen 1948—1951), in: Rocznik Gdariski 13 (1954), 7ff.; E. B y r s k a , Budownictwo w gdariskiej dzielnicy rybackiej w XII i XIII w. (Das Bauwesen im Danziger Fischerviertel im 12. und 13. Jh.), in: Stud. Wczesnosr. 3 (1955), 217ff.

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hundert fand vor allem im Handwerker-Marktviertel statt und wird als Ergebnis der Zunahme des lokalen Marktes angesehen. Er kam dem Bereich der Danziger Kastellanei zugute, die im 13. Jahrhundert rund 30 Dörfer umfaßte. Dazu gehörten das Benediktinerkloster St. Adalbert und die Zisterzienserniederlassung Oliva. Für den Aufschwung Danzigs spielte es auch eine Rolle, daß es im Weichseldelta keine weiteren frühmittelalterlichen Siedlungen mit ähnlicher Funktion gab. Bereits Mitte des 10. Jahrhunderts war der Handelsplatz Truso an der Weichselmündung verfallen. Sein Hinterland, von Prussen besiedelt, wurde nunmehr von Danzig mit erfaßt, dessen Wirtschaftsraum sich außerdem in den Bereich nördlich der Tucheier Heide und in die Landstriche westlich vom Unterlauf der Weichsel erstreckte. Auch die Lage im Schnittbereich verschiedener Volksgebiete, des slavisch-kaschubischen und des prussischen östlich der Weichsel, habe die strategische Bedeutung der Burg erhöht und dadurch zum wirtschaftlichen Aufschwung Danzigs beigetragen. So prägte sich vom Anfang seiner Entwicklung an in Danzig der Typ einer Burg-Stadt aus. Das Suburbium ist nach den Ergebnissen der bisherigen Grabungen wahrscheinlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts befestigt worden. In Ermittlung der Größe und der Zahl der Häuser ist für das 12. und 13. Jahrhundert eine Bevölkerungszahl von 2000 Personen geschätzt worden, die sich zu Ausgang dieser Periode auf ungefähr 4500 Bewohner erhöht habe. Die vom Deutschen Orden herbeigerufene deutsche Bevölkerung wurde im Bereich der Rechtsstadt angesetzt. Es sei auch noch verwiesen auf Bobinskis Analyse der topographischen Situation des frühen Danzig, die freilich auch von seinen eigenen Landsleuten angezweifelt wird und gewiß nicht in jeder Hinsicht beweissicher und überzeugend ist. Danach hätte Danzig bereits zur Zeit der Lokation zu deutschem Recht baumäßig seine später bekannte Gestalt erreicht gehabt. Interessant ist eine umfangreiche Untersuchung über die Handelspartner des 15. Jahrhunderts, über Umfang und Warenarten der Ein- und Ausfuhren, Frachtkosten und Warenpreise 57 sowie eine sozial- und ständegeschichtliche Analyse des Danziger „Patriziats" im gleichen Zeitraum. 58 M. B i s k u p , Z problematyki handlu polsko-gdariskiego drugiej poiowy X V wieku (Zur Problematik des Handels zwischen Polen und Danzig in der 2. Hälfte des 15. Jh.s), in: Prz. Hist. 45 (1954), 390ff.; H. S a m s o n o w i c z , Handel zagraniczny Gdanska w drugiej polowie X V wieku (Danzigs Außenhandel in der 2. Hälfte des 15. Jh.s), in: Prz. Hist. 47 (1956), 166ff., 283ff., 448f., 454f. 67

5 8 H. S a m s o n o w i c z , Gospodarcze podstawy patrycjatu Gdariskiego w X V w. (Wirtschaftliche Grundlagen des Danziger Patriziats im 15. Jh.), in: Kwart. Hist. 66 (1959), 760ff.; d e r s . , Badania nad kapitalem mieszczariskim Gdanska w II polowie X V wieku (Forschungen über das Kapital der Danziger Bürger in der 2. Hälfte des 15. Jh.s), Warschau 1960.

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Für die zahlreichen Dörfer des Danziger Landes sind Untersuchungen über den Formenwandel seit der Zeit ihrer Entstehung angestellt worden. 59 Danach ergibt sich auch hier die Tatsache, daß vordeutsche Gründungen durch die unregelmäßige Zuordnung der Bauernstellen und die Kleinheit der Dörfer kenntlich sind. Unter den zu deutschem Recht angelegten Dörfern ist die Zahl von 67 Gründungen aus wilder Wurzel bei insgesamt einem halben Tausend Dörfern im Bereich des Danziger Landes nicht hoch. Bemerkenswert erscheint die Feststellung, daß sich das deutsche Recht im Weichselland später ausgebreitet hat als in Schlesien. Widerstand gegen sein Vordringen erwuchs aus der Verbreitung des polnischen Landrechtes, wobei zu berücksichtigen ist, daß Dorfrecht und Ritterrecht beträchtliche Strukturunterschiede aufwiesen. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts gab es drei Kategorien Dörfer unter adliger Herrschaft zu polnischem Recht: solche, deren Besitzer nach polnischem Recht lebten und ohne Hintersassen wirtschafteten; andere, deren Besitzer für sich und ihre Hintersassen dieses Recht gebrauchten; schließlich Dörfer, deren Bauern nach deutschem Recht lebten, während der Dorfherr am polnischen Recht festhielt. Die Entwicklung der Orte Liebschau, Dirschau und Gerdin im 13. Jahrhundert wurde durch die günstige Verkehrslage und die starke Besiedlung dieser Landstriche bedingt. 60 Wirtschaftliche Bedürfnisse waren der Anlaß, wenn diese nahe beieinanderliegenden Plätze Stadtrecht erhielten. Liebschau war bereits 1198 Zollstätte an dem Handelsweg von Danzig nach Gnesen, erhielt 1288 Marktrecht und wurde später eine Stadt zu polnischem Recht. Gerdin ist 1287 zu deutschem Recht gegründet worden. Dirschau, 1252 als Fürstensitz nachweisbar, erhielt 1260 das Stadtrecht von Lübeck. Aber nur dieser Ort blieb in der Folgezeit Stadt in vollem Rechtssinne, während die beiden anderen Plätze ihre Privilegien verloren und später nur noch als Dörfer begegnen. Elbing konnte sich an Bedeutung als Stadt und im Wirtschaftsleben mit Danzig nicht messen. Neuere Untersuchungen bestätigen, 61 daß seine Gründung 5 9 M. K i e l c z e w s k a - Z a l e s k a , O powstaniu i przeobrazeniu ksztaltow wsi Pomorza Gdanskiego (Entstehung und Umbildung der Dorfformen in Pommerellen), Warschau 1956; M. B i s k u p , Osady na prawie polskim na Pomorzu Gdariskim w pierwszej polowie X V wieku (Siedlungen zu polnischem Recht in Pommerellen in der 1. Hälfte des 15. Jh.s), Warschau 1956. 6 0 E . R o z e n k r a n z , Rozwöj osrodköw miejskich Lubiszewo — Tczew — Gorz^dzie w XIII w. (Die Entwicklung der städtischen Mittelpunkte Liebschau — Dirschau — Gerdin im 13. Jh.), in: Rocznik Gdanski 17/18 (1958/59), 181 ff. 6 1 M. B i s k u p , Elbing w czasach krzyzackich. Z problematyki historiograficznej miasta (Elbing während der Ordensherrschaft. Zur historiographischen Problematik der Stadt), in: Prz. Zach. 7 (1951), I, 102ff.

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in der Zeit der Ausbreitung des Deutschen Ordens in Preußen im vierten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts vorgenommen wurde. Den Anstoß gab die Errichtung der Ordensburg durch den Landmeister Hermann Balk 1237, nicht weit von der Einmündung des Elbingflusses in das Frische Haff. Nördlich der Ordensburg siedelten sich Kaufleute und Handwerker an, die hauptsächlich aus Lübeck kamen. 1246 erhielt die Niederlassung lübisches Recht. Schon damals dürfte das in unmittelbarer Nähe gelegen gewesene prussische Truso keine Spuren mehr hinterlassen haben. Elbing entstand als Burgsiedlung und zugleich als Ausgangsort für weitere Unternehmungen des Ordens im Prussenland. Die günstige Lage in der Nähe der Flußmündung, an der Kreuzung von Wasserund Landwegen, die ins Ermland und Samland führten, erleichterten den Aufschwung zu einem der wichtigsten Seehäfen in Preußen. Bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts konnte Elbing den führenden Platz im Handel der preußischen Städte behaupten. Seine weitreichenden Handelsbeziehungen verbanden es mit Skandinavien, Flandern und England. Die Zunahme der Bevölkerung machte die Anlage einer Neustadt notwendig, die aus der Handwerkersiedlung entstand und 1347 eine Handfeste erhielt, gefördert durch die Ordensleitung, die sich damit bei den Gewerken der Stadt einen Rückhalt schuf gegen die mächtig gewordenen Ratsgeschlechter der Altstadt. Elbings Anfängen entsprechend blieben die slavischen Einwohner in der Minderheit. Die Masse der Bevölkerung war durch Zuwanderung aus dem Reich, vor allem aus Lübeck, Hamburg, Bremen und Westfalen zusammengewachsen. Anders als die prussischen Einwohner waren die Polen keinen Beschränkungen im Besitzrecht unterworfen. So konnten sie sich neben deutschen Handwerkern und einer, wie neuerdings behauptet wird, zahlenmäßig kleinen Gruppe prussischer Unfreier in der Neustadt niederlassen. Neben den beiden Siedelkernen Altund Neustadt entstand als dritter südlich der Ordensburg das Hakelwerk, über das seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert Nachrichten vorliegen. Offenbar reichen die Anfänge jedoch in ältere Zeit zurück. In seinem Bereich siedelten im 13. Jahrhundert Fischer, die der Gerichtsbarkeit der Ordenskomturei unterstanden. Sie sollen polnischer Herkunft gewesen sein, was doch recht fraglich erscheint. Zu älteren Arbeiten über die Geschichte von Braunsberg ist eine Abhandlung über die räumliche Entwicklung dieser Stadt hinzugekommen 62 . Schon in prussischer Zeit durch eine Verteidigungsanlage geschützt, erhielt der Ort nach der Besetzung des Landes durch den Orden 1240 eine Burg, die aber bereits zwei Jahre später im Verlaufe des Prussenaufstandes zerstört wurde. Für den 62

M. B i s k u p , Rozwöj przestrzenny miasta Braniewa (Die räumliche Entwicklung der Stadt Braunsberg), in: Korn. Maz.-Warm. 1 (1959), 3ff.

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Ausbau des Ortes und die Besiedlung seines Landbereiches bedeutete diese Zeit einen Rüdkschlag. Die Wende brachte der Frieden von Christburg 1249. Braunsberg, das zum Herrschaftsgebiet des Bischofs von Ermland gehörte, erhielt 1254 Lübecker Recht, aber auch diese Siedlung ging während des zweiten Prussenaufstandes 1260 unter. 1273 erfolgte eine Neugründung im Bereich der heutigen Stadt, der 1284 Stadtrecht verliehen wurde. Kam die Hauptmasse der Bevölkerung des 13. Jahrhunderts über Lübeck aus Mecklenburg und Holstein, so war doch auch der Anteil der prussischen und angeblich der polnischen Bevölkerung nicht gering. Auch hier spielte für die Weiterentwicklung die günstige Lage, an einer Furt über die Passarge unweit ihrer Einmündung ins Meer, eine entscheidende Rolle. Braunsberg war der einzige Seehafen im Ermland und gehörte im 14. Jahrhundert zur Hanse. Seine Kaufleute führten landwirtschaftliche Produkte, vor allem Weizen, Hopfen, Flachs und Leinwand, aus, teilweise bis nach Flandern und England. Auch das örtliche Handwerk war gut entwickelt. 1364 gab es bereits neun Zünfte. Noch vor der Mitte des 14. Jahrhunderts, um 1340, war eine Neustadt zu lübischem Recht gegründet worden, die den Charakter einer landwirtschaftlich-handwerklichen Siedlung sich lange bewahrt hat. Der Beitritt zum preußischem Bund wirkte sich im 15. Jahrhundert in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nachteilig aus, vor allem haben aber die Enge des Hafens und der schmale Flußlauf der Passarge die Behauptung im Fernhandel gegenüber Danzig und Elbing verhindert. Eine davon völlig verschiedene Entwicklung nahm die wirtschaftlich nur auf ihre landwirtschaftlich genutzte Umgebung orientierte Stadt Bischofstein. 63 Sie ging aus dem Dorf Schönfließ (später Strowangen) hervor, das 1346 von einem bischöflichen Vogt gegründet worden war und zum Eigengut der Ermländer Bischöfe gehörte. Die Stadterhebung erfolgte 1385, und damit verband sich eine Umbenennung in Bischofstein. Es ist bekannt, daß der Landesausbau im Ermland in starkem Maße mit Kräften der prussischen Vorbevölkerung durchgeführt wurde. Auch in Bischofstein behielt sie das Ubergewicht. Für den lokalen Marktverkehr gegründet, ist die Stadt kaum jemals in den Fernhandel eingeschaltet gewesen. Außer einer bescheidenen gewerblichen Betätigung ihrer Einwohner bestand ihre Haupttätigkeit weiterhin in der Produktion und Verwertung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Auch Rössel geht auf eine Ordensburg zurück, die 1241 erbaut wurde und 1254 an den ermländischen Bischof überging. 64 Als Straßenschutz der Verbin6 3 Z. N o w a k , Rozwöj przestrzenny miasta Bisztynka (Die räumliche Entwicklung der Stadt Bischofstein), in: Kom. Maz.-Warm. 3 (1961), 376ff. •4 I. J a n o s z - B i s k u p o w a , Przestrzenny rozwöj miasta Reszla (Die räumliche Entwicklung der Stadt Rössel), in: Kom. Maz.-Warm. 2 (1960), 161 ff.

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dung von Braunsberg nach Masuren und zur Sicherung der um den Platz gegründeten Dörfer hat Rössel seit dem 13. Jahrhundert Bedeutung gehabt. Handel und Handwerk wurden immer nur lokalen Bedürfnissen gerecht. Erst in einer bereits fortgeschrittenen Phase der Erschließung des Ermlandes durch den Orden ist der Burgsiedlung 1337 das Recht von Kulm verliehen worden. Im letzten Viertel des gleichen Jahrhunderts machte sich die Anlage einer Neustadt notwendig, und im 15. Jahrhundert wuchs Rössel nach Braunsberg zur zweitgrößten Stadt des Ermlandes. Noch bis in diese Zeit dehnte sich um Orteisburg dichter Urwald aus, der sich im Osten bis zu den großen masurischen Seen hinzog. 65 In diesem Waldund Wildnisgebiet lag eine Reihe kleinerer prussischer Siedlungen. Die Anfänge Ortelsburgs waren bedingt durch Erfordernisse der Verteidigung des Ordenslandes und des Schutzes der Straßen, die aus dem Kerngebiet des preußischen Ordensstaates nach Süden führten. Um 1360 wurde auf dem schon in prussischer Zeit befestigt gewesenen Burgberg ein festes Ordenshaus angelegt, das unter der Verwaltung des Komturs von Elbing stand. Etwa ein Jahrzehnt später kam es in der Vogtei Orteisburg zur Rodung und Besetzung der Wildlandstrecken durch masowische Siedler, die vornehmlich von Bienenzucht und Jagd lebten. Eine Siedlung Beutnerdorf stand bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts unter der Herrrschaft des burggesessenen Ordensvogtes. Ansätze zu einer Marktsiedlung vor der Burg finden sich erst sehr spät. Es ist früher auf die Bedeutung der Schenken hingewiesen worden. Bei Rössel sind zu Ausgang des 15. Jahrhunderts zwei solcher privilegierten Raststätten nachzuweisen, um die sich dann andere Niederlassungen gruppierten, woraus eine Anlage dörflichen Typs, aber mit Marktverkehr, erwuchs. Seit 1485 besaß dieser Burgvorort eine Kirche. Die eigentliche Stadt, östlich von der Burg gelegen, knüpfte an diese Dorf-Marktsiedlung an, erhielt aber erst im 16. Jahrhundert Stadtrecht. Die Anfänge von Johannisburg sind ebenfalls mit einer Ordensburg verbunden, 66 die vermutlich an Stelle einer älteren Anlage 1344/45 errichtet worden ist. Wenig später entstanden in unmittelbarer Burgnähe zwei gesonderte Siedelplätze, ein Suburbium und eine Fischer Siedlung an der Galinde (Pissa). Eine Lischke, bewohnt von prussischen Schenkwirten und Gärtnern, kam im 15. Jahrhundert hinzu. Eine Verbindung dieser einzelnen Niederlassungen ist 66 M. B i s k u p , Rozwöj przestrzenny miasta Szczytna (Die räumliche Entwicklung der Stadt Orteisburg), in: Kom. Maz.-Warm. 1/4 (1959), 385ff. 66 J. M a c i e j e w s k a , Przyczynki do historii Pisza (Beiträge zur Geschichte von Johannisburg), in: Kom. Maz.-Warm. 1/4 (1959), 553ff.; dies., Z dziejöw zamku krzyzackiego w Piszu (Aus der Geschichte des Ordensschlosses Johannisburg), ebda. 2 (i960), 235 ff.

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nicht erfolgt. Noch 1566 war Johannisburg ein Flecken, der keine städtischen Rechte besaß, obwohl schon seit 1451 Marktverkehr nachzuweisen ist. Erst 1566 ist ihm Stadtrecht verliehen worden. Zu den vom Orden erst verhältnismäßig spät gewonnenen und durchsiedelten Gebieten gehört Lyck und sein Umland. 6 7 An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert wurde auf der Insel im Lycker See durch den Komtur Ulrich von Jungingen eine Ordensburg angelegt, die als Stützpunkt für die Feldzüge gegen Litauen Bedeutung gewann. Auch hier kamen die Bewohner des Burgvorortes und die Siedler, die das Wildnisgebiet westlich und nördlich von Lyck erschlossen, aus Masowien. 1425 ist von dem Hochmeister Paul von Rußdorf am Seeufer südlich der Burg ein Dorf zu Kulmer Recht angelegt worden. Nach dem Lokationsprivileg verschafften sich die masowischen Dorfbewohner ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, durch Fischfang, Jägerei und Bienenzucht. Naturalprodukte mußten der Burg geliefert werden, und dort konnten die Bauern Bier, Salz und Leinwand einkaufen. Nach dem Übergang an das Bistum Pomesanien 1525 entwickelte sich das Dorf über einen Marktort zu einem Platz reicheren wirtschaftlichen Lebens, doch hat dieser in der Form den Straßendorfcharakter lange bewahrt. Sachlich wenig Neues bringt eine Arbeit über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Land im Ordensstaat des frühen 15. Jahrhunderts. 68 Dagegen ist die knappe Untersuchung über die Verwaltung des Bernsteinregals in der Zeit der Ordensherrschaft und des Herzogtums Preußen recht aufschlußreich.69

II Im Grenzbereich zwischen Pommern und Schlesien, Brandenburg und Großpolen, an der Hauptachse zwischen den Ostsee- und den Sudetenländern, der Oder, wie an dem von Osten her nach Brandenburg führenden Thorn-Eberswalder und dem Warschau-Berliner Urstromtal gelegen, mußte für das Land Lebus die politische und wirtschaftliche Ausdehnung der benachbarten Staaten 67 I. J a n o s z - B i s k u p o w a , Rozwöj przestrzenny miasta Elku (Die räumliche Entwicklung der Stadt Lyck), in: Kom. Maz.-Warm. 1/4 (1959), 249ff. 6 8 B. G e r e m e k , Z studiöw nad stosunkami gospodarczymi mi§dzy miastami a wsi% w Prusach krzyzackich w pierwszej poiowie X V wieku (Über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Dorf im Ordensland Preußen im frühen 15. Jh.), in: Prz. Hist. 47 (1956), 48ff., 248 ff. 6 9 St. B o z a r i s k i , Z dziejöw Wschodnio-Pruskich regalöw bursztynowych (Zur Geschichte des ostpreußischen Bernsteinregals), in: Kom. Maz.-Warm. 1 (1959), 180ff.

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immer auf Kosten des eigenen territorialen Bestandes gehen.70 Auf der Oder begegneten sich die aus den pommerschen Häfen kommenden Güter mit den aus Schlesien ausgeführten, und der Strom trennte und verband zugleich die Straßen, über die der Verkehr zwischen West- und Osteuropa lief. Durch diese Lage gewann mehr als nur für das Land Lebus selbst die Burg seines Vorortes eine hervorragende strategische Bedeutung, die auch in den Quellen ihren Niederschlag gefunden hat. Daran änderte sich nichts, nachdem die Askanier sich als Markgrafen von Brandenburg in der Mitte des 13. Jahrhunderts in den Besitz von Lebus gesetzt hatten. So wie Breslau die südliche Straßenführung beherrschte, die den Westen Europas mit den Ländern am Schwarzen Meer verband, so spielten Lebus und Frankfurt/Oder dieselbe Rolle gegenüber den Ländern an der Ostsee. Weil sich die Markgrafen von Brandenburg neben den Erzbischöfen von Magdeburg nicht in Lebus selbst halten konnten, gründeten sie 1253 als neuen städtischen Mittelpunkt Frankfurt/Oder. Der Platz erhielt Magdeburger Recht und wurde zur Mutterstadt der neuen Stadtverfassung im Lande Lebus. Die monopolartige Führung der Wirtschaftspolitik durch die Herrscher der Länder an der Oder hatte zur Folge, daß im 14. Jahrhundert der internationale Handel nur auf Straßen abgewickelt werden konnte, die in Breslau, Frankfurt und Stettin zusammenliefen. So sperrten die Markgrafen von Brandenburg, die sich seit 1304 im Besitz der Lausitzen befanden, den Zugang nach Crossen, das zum Herrschaftsbereich der schlesischen Herzöge gehörte, und zwangen die aus Richtung Nürnberg und Leipzig kommenden Kaufleute, die Oder bei Frankfurt zu überqueren. Dazu waren auch die aus Polen zurückkehrenden Händler und Fuhrleute verpflichtet. Das landesherrlich geförderte Frankfurt wuchs seit dem 13. Jahrhundert außerdem durch Verleihung des Stapelrechtes. Im 14. und 15. Jahrhundert lief in Frankfurt der Osthandel zusammen, und es gab nur zwei Möglichkeiten, diesem Ubergang auszuweichen, entweder über das entlegene Stettin oder über Breslau. Das Frankfurter Stapelrecht hinderte die Kaufleute von Stettin und Breslau daran, einen freien oder wenigstens einen zollgünstigen Handelsverkehr zwischen Pommern und Schlesien durchzuführen. Gestützt auf sein Monopolrecht, konnte Frankfurt einen großen Teil des brandenburgischen, neumärkischen, pommerschen, schlesischen und polnischen Handels überwachen und vor allem zollrechtlich ausnutzen. Eine Änderung brachte erst 1390 ein Abkommen über direkte Handelsbeziehungen zwischen den Städten Pommerns, mit Stettin an der Spitze, und Polen, das zum Nachteil Frankfurts den Verkehr auf Warthe und untere Oder sowie zu Lande über Driesen umleitete. Im 15. und 16. Jahr70 G. L a b u d a , Ziemia Lubuska w dziejach Polski (Das Land Lebus in der polnischen Geschichte), in: Ziemie Staropolski III (1950), 71 ff.

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hundert konzentrierte sich das Wirtschaftsleben im Lande Lebus noch immer auf Frankfurt, doch waren inzwischen Crossen und Landsberg zu stärkerer Bedeutung gekommen. Hatten schon die Handelspolitik der polnischen Könige und die Hussitenkriege die wirtschaftliche Stellung Frankfurts im internationalen Handelsverkehr geschädigt, so bedeutete die ha.bsburgisch-böhmischbrandenburgische Koalition gegen Polen einen weiteren Rückgang, weil dieses nunmehr den Westhandel über Frankfurt und Breslau völlig sperrte. Die ländliche Besiedlung im Land Lebus fand in der Zeit zwischen 1300 und 1500 besonders im Osten, südlich von Schwiebus, eine erhebliche Verdichtung. 71 Unverkennbar ist eine zur Größe des Landes unverhältnismäßig starke Häufung kleinerer Marktorte, die vielfach zu Stadtrecht kamen, ohne im Zuge der weiteren Entwicklung ihren dörflichen Charakter zu verlieren. Offenbar hat der lebhafte Handelsverkehr, der das Land Lebus durchzog, zur Bildung solcher Kleinmärkte beigetragen. Von Untersuchungen über einzelne Städte sei vorerst ein Beitrag über die Anfänge von Müncheberg hervorgehoben. 72 Schon in älterer Zeit besiedelt, erhielt der Landesausbau in diesem Teil des Lebuser Landes in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Auftrieb, als Müncheberg Mittelpunkt der von schlesischen Zisterziensern betriebenen Kulturarbeit wurde. Dem Marktvorort ist noch in dieser Zeit Stadtrecht erteilt worden, und er wuchs auch räumlich beträchtlich, so daß ein neuer Marktbereich angelegt werden mußte. Diese Entwicklung war abgeschlossen, als Müncheberg 1253 an das Erzbistum Magdeburg kam. Bauliche Veränderungen und rechtliche Verhältnisse sind vergleichsweise gut zu überblicken, aber die Nachweise über das innerstädtische Leben sind gering. Eine Gewerbetätigkeit hat es nur in bescheidenem Umfange gegeben, die Vermittlung des Handelsverkehrs stand auch in Müncheberg an erster Stelle. Schwiebus, 73 im Schnittbereich umstrittener Grenzgebiete der Länder Lebus, Polen und Niederschlesien gelegen, gehörte im 7. und 8. Jahrhundert als befestigter Platz zu einem Verteidigungssystem, das deutlich eine Scheidung in zwei Burgensysteme erkennen läßt, von denen das nördliche durch Schwiebus, das südliche durch Züllichau beherrscht wurden. Die Besiedlung des Schwiebuser Landes war schon in früher Zeit verhältnismäßig dicht. Die im 13. Jahr71 St. Z a j c h o w s k a , Rozwöj osadnictwa na Ziemi Lubuskiej (Die Entwicklung der Siedlung im Land Lebus), in: Prz. Zach. 7 (1951), III, 450ff. 72 K. P o d l a s z e w s k a , Geneza miasta Lubi^za (Die Entstehung der Stadt Müncheberg), in: Prz. Zach. 8 (1952), I, 675ff. 73 Geneza miasta Swiebodzina (Die Entstehung der Stadt Schwiebus), hrsg. v. Z. Kaczmarczyk, in: Prz. Zach. 7 (1951), III, 233ff.

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hundert nachweisbaren Dörfer unterstanden größtenteils der Grundherrschaft der Klöster Paradies und Trebnitz. Nachrichten über die Burg liegen erst seit dem frühen 14. Jahrhundert vor, damals fiel sie an die sdilesischen Piasten und wird 1329 als Besitz Herzog Heinrichs V. von Glogau erwähnt. Das Suburbium und der Marktverkehr spielten keine größere Rolle, eine Rechtslokation ist nicht erhalten. Doch wird seit dem zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts Schwiebus als Stadt bezeichnet. Während des frühen Mittelalters lag Züllichau inmitten eines großen Waldgebietes, das sich über das südöstliche Lebuser Land, das nördliche Niederschlesien und das westliche Großpolen erstreckte.74 Die Entstehung des Platzes ist durch den Grenzverlauf dieser Länder bestimmt worden, während die in einer Entfernung von etwa 7 km vorbeifließende Oder darauf keinen Einfluß gehabt hat. Er gehörte lange zum Herrschaftsgebiet der schlesischen Piasten und ging 1482 zusammen mit Crossen an Brandenburg über. Es ist schwer zu entscheiden, ob für das Aufkommen des Platzes eine ältere Burgsiedlung bestimmend war oder die Errichtung eines Marktes. Für ersteres spricht die Tatsache der Einbeziehung von Züllichau in ein größeres Burgensystem, aber die Straßenverbindung war nicht weniger wichtig. Gelegen an dem großen Überlandweg von Guben über Crossen nach Posen, wurde durch diesen die Verbindung zum Westostverkehr hergestellt. Zu Ausgang des 13. Jahrhunderts fand ein Ausbau der älteren, unterhalb der Burg gelegenen Marktsiedlung statt, dem offenbar eine Rechtsverleihung folgte, denn 1319 wird erstmals von der Stadt Züllichau gesprochen. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand läßt sich jedoch nicht sagen, ob die Marktsiedlung aus einem noch älteren Suburbium sich entwickelt hat. Ebenfalls zur historischen Landschaft Lebus gehörig und als befestigter Platz wird seit dem 12. Jahrhundert Zielenzig genannt,75 das als Mittelpunkt des Oststernberger Landes mit Lebus 1178 unter die Herrschaft der schlesischen Piasten kam. Um 1250 erfolgte der Übergang an die Markgrafen von Brandenburg, doch befand sich Zielenzig später unter wechselnder Herrschaft, bis es 1350 an die Johanniter fiel. Bis 1810 ist es im Ordensbesitz geblieben. Wegen ihrer Grenzlage gegen Pommern und Polen scheint die Burg gut befestigt worden zu sein, und es entstand ein Suburbium, das sich vor ihrer Nordwestflanke hinzog. Wenn 1244 von der civitas Zielenzig die Rede ist, dürfte sich das in erster Linie auf die Burg beziehen, und es ist kaum, wie 7 4 W. P o s a d z y , E . R o z e n k r a n z , J. W o j c i e c h o w s k a , Z. K a c z m a r c z y k , Sulechöw (Züllichau), in: Prz. Zach. 7 (1951), I, 272ff. 75 W. W o j t k o w i a k , Geneza miasta Sulijcina (Die Entstehung der Stadt Zielenzig), in: Prz. Zach. 7 (1951), II, 524ff.

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vermutet worden ist, für diese Zeit bereits eine Siedlung mit städtischem Gepräge anzunehmen. Ein Marktverkehr wird nicht bestritten. Aber die Lage des Burgplatzes, der nur von wenigen Dörfern umgeben war, inmitten großer Wälder spricht mehr dafür, daß Zielenzig erst verhältnismäßig spät eine gewisse Bedeutung für den lokalen Wirtschaftsverkehr erhielt. Das schließt nicht aus, daß in dem Suburbium der Burgherrschaft verpflichtete Dienstleute und Gewerbetreibende ansässig waren. Offensichtlich werden aber die städtischen Anfänge von Wojtkowiak viel zu früh angesetzt und erheblich überschätzt. Im Raum der großen subglazialen Talformen des Thorn-Eberswalder-Urstromtales, mithin im natürlichen Grenzgürtel zwischen Pommern und Großpolen gelegen, gewann Schwerin an der Einmündung der Obra in die Warthe Bedeutung. 76 Der hier vorbeiführende Übergang über den Strom lag an der Uberlandstraße von Stettin nach Posen. Die Kreuzung von Wasser- und Landweg ließ früh neben einer Fischersiedlung einen lokalen Markt für die im Umkreis gegründeten Dörfer entstehen, doch blieb die Selbständigkeit beider Siedelkerne lange erhalten. Erst zu Ausgang des 13. Jahrhunderts erfolgte ein stärkerer Ausbau, und von der Anwendung des deutschen Rechtes ist seit Beginn des 15. Jahrhunderts die Rede. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts läßt sich der Burgplatz Bromberg urkundlich wiederholt nachweisen.77 Auch für ihn ist die Lage an der Kreuzung wichtiger Handelsstraßen, der aus dem Küstenbereich der Ostsee nach Polen führenden Bernsteinstraße und einer von der Weichsel herkommenden und nach Deutschland weitergehenden Straße, wichtig geworden. Außerdem spielte die Burg im Verteidigungssystem der älteren polnischen Herzöge eine Rolle. Neben ihr entstanden eine Fischersiedlung und ein Suburbium mit früh nachweisbarem lokalen Marktverkehr. Die in der älteren Forschung nach einer Urkunde Kasimirs des Großen zu 1346 angesetzte Gründung der Stadt wird jetzt bestritten und behauptet, Rechtsverleihung und das Zugeständnis der Selbstverwaltung seien Bromberg schon früher zuteil geworden und bei der für 1346 bezeugten Lokation handele es sich nicht um diese Stadt, sondern um Wawolnicy in der Wojewodschaft Lublin. Diese Ansicht stützt sich in der Hauptsache auf neuere Siegelfunde. Dagegen ist jedoch von polnischen Historikern Widerspruch angemeldet worden, die an der Rechtslokation und Stadtgründung Brombergs in jenem Jahr festhalten. Auf eine Arbeit über die Bromberger Münze und ihre Gepräge, die freilich einer viel jüngeren Zeit angehören, ist schon hingewiesen worden. " S. Z a j c h o w s k a , Rozwoj przestrzenny miasta Skwierzyny (Die räumliche Entwicklung von Schwerin), in: Stud. Mat. Wielkopol. Pom. 4 (1958), 153ff. 77 M. B o r z e s t o w s k i , Lokacja miasta Bydgoszczy (Die Lokation von Bromberg), in: Zap. Hist. 23 (1957), 1/3, 140 ff.

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Die politischen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen dem Orden und Polen spiegelt die Entwicklung von Nessau wider, das sich als Ordensenklave nach Süden über die Weichsel vorschob.78 An der Thorn gegenüberliegenden Komtureiburg entstand ein Marktflecken, der unter veränderten Verhältnissen im 15. Jahrhundert als Handelskonkurrent des Thorner Stapels durch den polnischen Getreideexport aufblühte. Die besonders lebhafte Ausgrabungstätigkeit in Posen hat in den letzten Jahren zu wesentlich neuen Ergebnissen geführt. 79 Eine Burg des 10. Jahrhunderts auf der Dominsel, wo 966 bis zur Jahrtausendwende auch ein Bischof residierte, unterstand der Herrschaft Mieszkos I. Doch wird eine ältere unbefestigte Siedlung schon für das 8. Jahrhundert angenommen. Es hat sich nachweisen lassen, daß seit der Mitte des 10. Jahrhunderts der Burgbereich auf der Insel in stärkerem Maße Bewohner anzog, das Suburbium ausgebaut und ummauert wurde. Als Wohnstätte von Dienstleuten und Handwerkern kann der Marktverkehr nicht gering gewesen sein, und Funde aus dem 10. Jahrhundert haben auch den Nachweis für Warenimporte erbracht. Noch 1005 vonThietmar als urbs und civitas bezeichnet, brachten die nächsten Jahrzehnte für Posen Rückschläge, und erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gelang der Siedlung auf der Dominsel, nachdem mehrere Feuersbrünste sie wiederholt vernichtet hatten, ein neuer Aufschwung. Von der Gewerbetätigkeit dieser Zeit zeugen schmiedeeiserne und Goldschmiedearbeiten, Töpferwerk und Erzeugnisse eines horn- und knochenverarbeitenden Handwerks. Die Dominsel blieb auch im 12. und 13. Jahrhundert und nach der Rechtslokation von 1253 natürlicher Mittelpunkt der Stadt, doch hatten sich bis dahin Ausbauten an anderer Stelle hinzugefügt. Von der älteren Forschung war angenommen worden, daß die früheste stadtähnliche Siedlung in Posen Sr6dka gewesen sei, weil 78 I. J a n o s z - B i s k u p o w a , O polozeniu i przeniesieniu Nieszawy. Z dziejöw handlu wislanego w X V wieku (Über Lage und Verlegung von Nessau. Zur Geschichte des Weichselhandels im 15. Jh.), in: Zap. Tow. Nauk. w Toruniu 20 (1954), 167ff.; M. B i s kup, Handel wislany w latach 1454 — 1466 (Der Weichselhandel während des dreizehnjährigen Krieges), in: Roczniki Dziejöw Spolecznych i Gospodarczych, 14 (1953), 155ff. 79 W. H e n s e l , Poznan w starozytnosci i we wczesnym sredniowieczu (Posen im Altertum und frühen Mittelalter), in Prz. Zach. 9 (1953), II, 14ff.; ders., Poznati w zaraniu dziejöw (Posen am Beginn der Geschichte), Breslau 1958; A. D y m a s z e w s k i — L. L e c i e j e w i c z , Osadnictwo wczesnosredniowieczne w poludniowej cz§£ci Ostrowa Tumskiego w Poznaniu (Die frühmittelalterliche Siedlung im Süden der Dominsel Posen), in: Prz. Zach. 11 (1955), I, 357 ff.; Dziesi§c wieköw Poznania (Zehn Jahrhunderte Posen), hrsg. v. K. Malinowski, Posen 1956; Poznan we wczesnym sredniowieczu (Posen im frühen Mittelalter), hrsg. v. W. Hensel, Bd. I—III, Warschau und Breslau 1 9 5 9 - 1 9 6 1 ; W. H e n s e l , Les origines de la ville de Poznan, in: L'artisanat, 459ff.; Z. K a c z m a r c z y k , Die Entwicklung der Stadt Poznan bis zum Ende des 13. Jh.s, ebda. 465 ff.

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sie 1288 antiqua civitas genannt wurde und ihr Marktverkehr für das 12. Jahrhundert überliefert ist. Heute ist man der Ansicht, daß bereits die suburbiale Siedlung des 10. und 11. Jahrhunderts auf der Dominsel stadtähnlichen Charakter gehabt habe. Nach der zeitlichen Abfolge gliedert man die Entwicklung Posens jetzt in folgender Weise. Im Anschluß an die fürstliche Burg und ihr Suburbium mit Kathedrale und Marienkirche sei noch im 11. Jahrhundert als jüngerer Burgvorort das Viertel um die Nikolaikirche auf der Dominsel entstanden. Unabhängig davon habe sich auf dem östlichen Wartheufer an der Einmündung der Zybina im 12. Jahrhundert Srödka als Marktort entwickelt, an den anschließend nur wenige Jahrzehnte später die Siedlungsbereiche um die Michaeliskirche und das Johanniterkloster hinzugekommen seien. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert lassen sich weiterhin auf dem westlichen Wartheufer drei Siedlungszentren nachweisen, das vermutlich älteste um die Kirche des hl. Adalbert, der locus sancti Gothardi,als Bischofs„ Stadt" gedeutet, und das Viertel um die Martinskirche, über das die Eigentumsrechte dem Posener Domkapitel zustanden. Diese verschiedenen Siedlungskomplexe sind dann rechtlich mit dem älteren Siedlungszentrum auf der Dominsel zusammengewachsen. In den Jahren 1238 bis 1243 entstand in Posen eine Kolonie deutscher Kaufleute und Handwerker, denen eigene Gerichtsbarkeit und gemeindliche Selbstverwaltung zugestanden wurden.80 Jetzt vermutet man ihre Niederlassung im Bereich der Gothardskirche. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts erhielt Posen deutsches Recht, wobei die fürstliche Privilegierung dem städtischen Gemeinwesen eine Reihe von Konzessionen erteilte. Die Lokation von 1253 bedeutet auch eine bauliche Neugründung der Stadt am Ufer der Warthe, wobei die Anlage eines großen Marktes, auf den nunmehr alle Uberlandstraßen zuführten, bemerkenswert ist. Der Nachweis verschiedener Zollstellen für die einzelnen Märkte kann als Beweis für den inzwischen rege angewachsenen Handelsverkehr gewertet werden, der ins Ordensland, ins Reich und über Schlesien nach Böhmen bestand. Die Lokation 1253 brachte auch die Einführung der Vogteiverfassung, die bis 1386 bestand und über die eine gründliche Untersuchung erschienen ist.81 Der erste Vogt Thomas war ein Gubener Bürger. Das erinnert an die schon seit älterer Zeit über den Handelsplatz an der Neiße geknüpften Beziehungen, durch die ein wesentlicher Teil des großpolnischen Bedarfs an Salz und Fischen vermittelt wurde. Nidit zu8 0 Z. K a c z m a r c z y k , Przywilej lokacyjny dia Poznania z f. 1252 (Das Lokationsprivileg für Posen von 1252), in: Prz. Zach. 9 (1953), II, 142ff.; Z. Z i e l i i i s k i , Rozwój terytorialny miasta oraz zabudowy starego rynku w Poznaniu (Räumliche und bauliche Entwicklung von Stadt und Markt Posen), ebda. 254ff. 8 1 M. S z y m a r i s k a , Wójtowstwo poznariskie, 1253 — 1386 (Die Vogtei Posen, 1253 bis 1386), in: Prz. Zach. 9 (1953), II, 167ff.

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letzt deshalb hatte ein fürstliches Privileg noch 1243 den Kaufleuten von Guben für ihren Handel in Polen die Benutzung der Straße über Posen vorgeschrieben. Eine Untersuchung über die Posener Märkte kann allerdings nur wenig neues Material für die mittelalterliche Zeit beibringen. 82 Eine mehr statistische Erhebung über die Besiedlung des Posener Landes hat festgestellt, daß von den bis 1253 nachweisbaren Siedelplätzen 103 Dörfer und 32 Dienstsiedlungen waren, deren Herrschaftsverhältnisse im einzelnen zu klären versucht wurde. 83 Die Rechtslokation der Stadt 1253 wirkte sich auf die Bauerndörfer insofern aus, als diese seit dieser Zeit auf Zinsrecht umgestellt wurden. Mit fast 400 Neugründungen bis 1400 ist eine erhebliche Verdichtung des dörflichen Siedlungsnetzes erfolgt. Audi in Gnesen ist ein Suburbium von der Siedlungsarchäologie erschlossen worden. 84 Eine südlich der Burg gelegene offene Siedlung wurde bereits vor dem zweiten Weltkrieg entdeckt. Diese und das Suburbium stellen die ältesten Siedlungselemente des frühmittelalterlichen Gnesen dar. Im 10. Jahrhundert ist die Offensiedlung in das Suburbium einbezogen worden, und es konnte die Anlage einer hölzernen Wallbefestigung festgestellt werden. Als recht ertragreich erwiesen sich die Grabungen im Bereich der Burg Giecz am Biskupic-See. 85 Giecz war eine der wichtigsten Burgen in Großpolen, die wahrscheinlich in der Zeit entstand, als sich der erste Stammesstaat bildete. Die jüngsten Forschungen erbrachten den Beweis, daß im 10. Jahrhundert neben der Burg eine befestigte Vorburg sowie einige offene Siedlungen bestanden. Eins dieser Siedlungszentren, vor der Ostseite der Burg, wurde nach dem Bau der Nikolaikirche zur Stätte eines ersten Marktverkehrs. Die Hauptblüte des Burgplatzes erfolgte im 12. und 13. Jahrhundert. Damals erfüllte er eine doppelte Funktion durch Schutz des Zugangs zu den beiden Hauptzentren des frühen Piastenstaates, Gnesen und Posen, und Überwachung des Handelsverkehrs auf der Uberlandstraße nach Pommern und Schlesien. Funde erweisen eine verhältnismäßig starke Differenzierung der gewerblichen Betätigung der Einwohner. Mit dem Verlust der militärischen Bedeutung der Burg und durch die Gründung von Städten im weiteren Umkreis setzte der Verfall der Burg-Marktsiedlung seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und J. Z i ö i k o w s k i , Mi^dzynarodowe targi poznariskie w przeszlosci i obecnie (Posener Märkte in Vergangenheit und Gegenwart), in: Prz. Zach. 11 (1955), II, 161 ff. 83 St. Z a j c h o w s k a , Rozwöj sieci osadniczej okolic Poznania, X I —XX w. (Die Entwicklung des Siedlungsnetzes um Posen vom 11.—20. Jh.), in: Prz. Zach. 9 (1953), II, 101 ff. 84 K. ¿ u r o w s k i — G. M i k o i a j c z y k , Badania na Gorze Lecha w Gnieznie (Forschungen auf dem Lech-Berg in Gnesen), in: Sprawozdania Archeologiczne 1 (1955), 75ff. 85 A. W § d z k i , Rozwöj i upadek grodu Gieckiego (Entwicklung und Verfall der Burg Giecz), in: Stud. Mat. Wielkopol. Pom. 4 (1958), 5ff. 82

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besonders im 14. Jahrhundert ein. Eine ähnliche Entwicklung nahm der nördlich Gnesen an der Warthe und der Straße nach Pommern gelegene Burgvorort Radem. 86 Die Anfänge des Suburbiums werden in das 9. Jahrhundert gesetzt, und es wird angenommen, daß lokaler Marktverkehr und der Warenumschlag an der Zollstätte den Einwohnern mancherlei Betätigungsmöglichkeiten geboten haben. Dafür finden sich keine schlüssigen Beweise, eher ist an eine Siedlung von burgpflichtigen Dienstleuten zu denken. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war Radem Vorort einer Kastellanei und Verwaltungszentrum. Trotz einer Rechtslokation ist der Platz zu städtischer Bedeutung nicht gekommen, was wohl ebenfalls mit dem Verfall der Burg zusammenhängen mag. Endlidi sei aus dem großpolnischen Bereich noch auf Kruschwitz verwiesen,87 weil die Grabungen in dieser alten Stadt Polens wiederum zu recht aussagekräftigen Ergebnissen geführt haben. Auf dem fruchtbaren Schwarzerdeboden des kujawischen Landes, am Ostufer des Goplosees gelegen, und damit in der Nähe eines Wasserweges, der nach Süden Verbindung zur Warthe, nach Norden hin zur Weichsel brachte, haben diese Faktoren wesentlich zur Entwicklung des Platzes beigetragen. Seit vorgeschichtlicher Zeit aufgesucht, läßt sich eine feste Landnahme seit dem 6. Jahrhundert nachweisen. Spuren einer Niederlassung aus dieser Zeit fanden sich am Westufer des Sees in der Form von Vorratsgruben. Auf einer Halbinsel ist dann vor dem 10. Jahrhundert weiterer Ausbau erfolgt, der schließlich auf das Festland übergriff. Die Bevölkerung lebte von Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang. Ende des 10. Jahrhunderts entstand eine von einem Holzbohlen-Erdwall umgebene kleine Wehrburg, deren Hauptteil mit der nördlich vorgelagerten Vorburg ergraben wurde. Die Vorburg muß mit einem großen Aufwand an Arbeitskräften errichtet worden sein, wie man aus dem wuchtig angelegten, langen Wall schließen darf. Da dieser Bau sich über mehrere Jahre hinzog, ist mit einer ständigen Besiedlung der benachbarten Landstriche zu rechnen. Im Burgbereich ist in primitiven Schmelzöfen Eisenerz verhüttet worden. Fundanalysen ergaben für diese Zeit den Anbau von Hirse, Roggen, Weizen, Hafer, Gerste und Bohnen. Die Viehhaltung beschränkte sich auf Schweine, Ziegen, Schafe und Rindvieh. Ebenfalls im 10. Jahrhundert ist das Handwerk im Suburbium gut entwickelt gewesen und war spezialisiert auf Böttcherei, Holzverarbeitung verschiedenster Art, Töpferei, Gerberei und Lederarbeit, Schmiedekunst und anderes. 86 A. W § d z k i , Radzim, zapomniany grod kasztelariski nad Wart^ (Radem, eine vergessene Kastellaneiburg an der Warthe), in: Prz. Zach. 11 (1955), I, 564ff. 87 W. H e n s e l — A. B r o n i e w s k a , Starodawna Kruszwica (Das alte Kruschwitz), Breslau 1961; A. C o f t a - B r o n i e w s k a , Die Entwicklung der Stadt Kruschwitz im frühen Mittelalter, in: L'artisanat, 442ff.

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Von der Mitte dieses bis zum ausgehenden 11. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel im Siedlungsprozeß des Kruschwitzer Raumes, der mit einer der am meisten genannten Thesen der gegenwärtigen polnischen Forschung in Zusammenhang gebracht wird, der Trennung der gewerblichen von der landwirtschaftlichen Betätigung. Das habe zur Umstellung des Burgvorortes Kruschwitz auf Marktverkehr geführt. Uber das 11. Jahrhundert hielt die Blüte der Gewerbekunst in Kruschwitz an, von der manche chronikalische Überlieferung berichtet. Handwerker und Kaufleute sind bis zum 13. Jahrhundert zu Wohlstand gekommen und stellten die Hauptgruppe der Bevölkerung. Mit fünf Kirchen war auch für die geistliche Versorgung der auf 3500 Einwohner geschätzten Bevölkerung von Kruschwitz gesorgt. Seit dem frühen 14. Jahrhundert setzte jedoch ein Verfall ein, dessen Ursachen bisher noch nicht genügend geklärt werden konnten.

III Besser als in anderen Landesteilen ist das ländliche Siedelwesen in Schlesien untersucht worden, 88 für die Zeit vor dem Einsetzen deutscher Zuwanderung gestützt auf archäologische Funde und durch Rückschlüsse aus späteren schriftlichen Quellen. Eine erhebliche Rolle spielt dabei die Ausdeutung des für das 12. und frühe 13. Jahrhundert überlieferten Namensgutes, sowohl der Ortsnamen wie der Personennamen der Landbevölkerung. Neben den Namen slavischer Magnaten werden in päpstlichen Bullen für das Bistum Breslau und in anderen Quellen kirchlicher Provenienz kirchenuntertänige Bauern genannt. Die Uberlieferung Trebnitzer Urkunden von 1204 und 1208, auch das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschriebene Gründungsbuch des Klosters Heinrichsau erlauben, ein Bild vom ländlichen Leben dieser Zeit zu zeichnen. Die slavische Landbevölkerung dieser Zeit war abhängig. Es ist deshalb nicht recht verständlich, wenn Maleczynski mit Bezug auf Schlesien im frühen 13. Jahrhundert meint, es dürfe nicht mehr von einer Menge freier Bauern im Sinne einer von niemand abhängigen Dorfbevölkerung gesprochen werden. Wiederholt, auch von ihm selbst, ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß 88 K . M a l e c z y n s k i , Z dziejöw wsi sl^skiej w okresie przed kolonizacj% na prawie niemieckim (Aus der Geschichte des schlesischen Dorfes vor der Kolonisation zu deutschem Recht), in: Szkice z dziejöw Sl^ska (1953), I, 126ff.; L . T y s z k i e w i c z , Ze studiöw nad osadnictwem wczesnofeudalnym na Sl^sku (Studien über die frühfeudale Siedlung in Schlesien), in: Sobotka 12 (1957), 1/4, lff.; J. O r l o w s k i , Osadnictwo i budownictwo mieszkalne na Sl^sku do X I I I wieku na tle calosci obszaru Polski i terenow przyleglych (Siedlung und Wohnbau in Schlesien bis zum 13. Jh. in Vergleich mit dem gesamtpolnischen Raum), in: G 6 m y Sl^sk 1955, 151 ff.

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die Herrenschicht der einzelnen Stammesbereiche die abhängig gemachte Bevölkerung zu Abgaben und Diensten zwang. Die Bildung des Piastenreiches brachte in dieser Hinsicht für die Unterworfenen nur insofern eine Änderung, als nunmehr Magnatenland in die Verfügungsgewalt der fürstlichen Landesherren überging und von diesen wiederum an Ritter und Geistliche verliehen wurde. Die älteste polnische Chronik des Gallus, zu Anfang des 12. Jahrhunderts geschrieben, verbindet diese Landaufteilung an weltliche und geistliche Grundherren mit der Herrschaft von Boleslav Chrobry. Wie umfangreich der an sie gekommene Grundbesitz gewesen ist, zeigt etwa die Tatsache, daß das Breslauer Bistum im 12. Jahrhundert bereits über 23 Marktsiedlungen, das Domkapitel über 28 Burgen, Dörfer und Marktflecken gebieten konnten. Dem stand der Besitz der Breslauer Klöster St. Vinzenz und auf dem Sande nicht nach, während sich das Kloster Leubus in dieser Zeit erst im Anfang seiner Grundbesitzbildung befand. Der wirtschaftlichen Seite dieser Schenkungen an geistliche Anstalten sind eingehende Untersuchungen gewidmet worden. Dabei wird auf die Verbindung der schlesischen Klöster mit ihren Mutterkonventen im Reiche verwiesen und behauptet, diese hätten einen Teil der von den schlesischen Klosterbauern entrichteten Grundzinsen erhalten. Glaubwürdiger ist die in Anlehnung an den ersten polnischen Chronisten Gallus getroffene Feststellung, Schlesien sei neben Kleinpolen der bevölkerungsstärkste und wirtschaftlich ertragreichste Teil Polens gewesen. Dabei wird zugegeben, daß von den bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbaren rund 900 dörflichen Siedlungen, etwa 750 in Niederschlesien und 150 in Oberschlesien, viele mit ihren Anfängen nicht in das 11. oder gar in das 10. Jahrhundert zurückreichen, sondern als Ergebnis der deutschen Ostsiedlung anzusehen sind. Während sich die ältere Forschung weithin darin einig war, daß die schlesischen Landsiedlungen vor der Umsetzung zu deutschem Recht nur schwach bevölkert waren und noch im 13. Jahrhundert in den alten Siedelplätzen vielfach bloß wenige Familien wohnten, kommt man jetzt zu der Behauptung, daß die Einwohnerzahl der schlesischen Dörfer dieser Zeit bedeutend höher gewesen sei. Dabei wird beispielsweise auf Trebnitz verwiesen, den Mittelpunkt des späteren Klostergutbereiches, in dem 1204 mindestens 17 Bauernfamilien gewohnt haben, was etwa 85 Personen entsprochen habe. Beispiele dieser Art werden wiederholt gegeben. Die Herkunft der in den schlesischen Quellen genannten Unfreien ist schwer zu bestimmen. Ob es sich um Uberreste der Sklaverei handelt, die in den Anfängen des polnischen Staates noch bestanden habe, oder um Menschen, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren und als Abhängige angesiedelt wurden, ist auch der gegenwärtigen polnischen Forschung schlüssig zu klären nicht gelungen. Unter den unfreien Leuten der fürstlichen Landesherren (rustici ducis)

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habe sicher nur ein geringer Teil keine eigene Wirtschaft besessen und ausschließlich auf den Herrengütern gearbeitet. Von der überwiegenden Masse der Unfreien wird angenommen, daß sie in eigenen Wirtschaften lebten, jedoch Abgaben zu leisten hatten. In der Ermittlung ältester Siedlungszentren ist man kaum über die Ergebnisse der deutschen Forchung hinausgekommen, deren methodischer Beitrag zur allgemeinen Siedlungsgeschichte übrigens nur selten zur Kenntnis genommen wird. Es ist schließlich keine Offenbarung, wenn Tyszkiewicz zu dem Ergebnis kommt, daß in einer ersten Besiedlungswelle in Niederschlesien die für den Ackerbau günstigen Böden in den weithin waldarmen Bereichen an und nördlich der Oder, in einer zweiten Phase seit der Mitte des 12. Jahrhunderts die südlich davon gelegenen Landstriche, die großenteils vorher gerodet werden mußten, besetzt worden sind. Wie in den polnischen Arbeiten zur frühen pommerschen und preußischen Geschichte, kommt auch für Schlesien vorbehaltlos die These zur Geltung, daß Plätze mit Marktverkehr schon vor dem Einsetzen der deutschen Zuwanderung und der Lokation zu deutschem Recht als Städte anzusehen seien. Als wesentliches Argument wird für Schlesien angeführt, daß von 95 Plätzen mit Marktverkehr, der für die Zeit vor der Erteilung des Magdeburger Rechtes vorausgesetzt, nur in den wenigsten Fällen bewiesen wird, 81 in der folgenden Zeit tatsächlich als Städte im Rechtssinne erscheinen. Zur Burgenkunde Schlesiens liegt, abgesehen von Untersuchungen über einzelne Verteidigungsanlagen und einer Abhandlung über vorgeschichtliche Burgwälle, vor allem eine unter wirtschaftlichen Aspekten durchgeführte Aufnahme und Beschreibung der frühmittelalterlichen Burgen im Oppelner Land vor. 8 9 Von den durch Geländebegehung und mit den Mitteln der Siedlungsarchäologie festgestellten 204 Burganlagen dieses Landes ist der größte Teil, nämlich 175, auch durch schriftliche Quellenzeugnisse belegt. Eine auffällige Häufung von Burgen findet sich bei Falkenberg, westlich angrenzend bei Grottkau, im Süden um Neustadt und Leobschütz. Wie ein von Osten offener Ring breiten sich die Burgen des Oppelner Landes um diese Mittelpunkte im Bereich der ertragsgünstigen Böden aus. Eine für die Errichtung maßgebliche Abhängigkeit von den Haupthandelsstraßen glaubt man indessen nicht nachweisen zu können. In einseitiger Vereinfachung wird angenommen, daß die Burgen von dem 89 R. J a m k a , Osadnictwo grodowe na Sl^sku (Burgsiedlung in Schlesien), in: Slavia antiqua 8 (1961), 125ff.; W. K o z l o w s k a , Wczesnosredniowieczne grody wojewodztwa opolskiego na tle warunköw fizjograficzno-gospodarczych (Frühmittelalterliche Burgen der Wojewodschaft Oppeln auf der Grundlage der physiographisch-wirtschaftlichen Bedingungen), in: Kwart. Opol. 2 (1956), H. 1, 6ff.

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grundsässigen Adel allein zum Schutz seines Besitzes und „zur Ausbeutung der Bevölkerung seiner Dörfer" angelegt worden seien. Uber den Grundbesitz schlesischer Klöster liegen Arbeiten vor allem für Leubus, Trebnitz und die geistlichen Anstalten in Breslau vor. 9 0 Interessant sind die Vergleiche der von den einzelnen Klöstern angewandten Methoden der Besitzvermehrung und Ertragsteigerung. Allein auf Schenkungen aus weltlicher Hand angewiesen, sei ihnen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ein Güterverkehr durch Kauf oder Tausch fast unbekannt geblieben. Als erste geistliche Niederlassung habe Heinrichsau systematisch seinen Besitz durch Landkauf vermehrt, Trebnitz und Leubus ihn durch inneren Ausbau bereichert. Im Unterschied zu anderen schlesischen Klöstern habe Heinrichsau in der Entwicklung seines Großgrundbesitzes sehr zeitig eine selbständige Wirtschaftspolitik getrieben. Politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten kleiner adliger Grundbesitzer in der näheren und weiteren Nachbarschaft des Klosters habe es diesem leicht gemacht, einen Teil der Ritterschaft auszukaufen oder zum Überlassen ihrer Ländereien an das Kloster zu zwingen. Der Geschichte des Bergbaus sind eingehendere Untersuchungen nicht zugute gekommen, wenn man von einigen zusammenfassenden Darstellungen, die sich auf ältere Forschungsergebnisse stützen, absieht. 91 Ein nur in den Prager Annalen zu 1220 ohne Ortsangabe erwähnter Aufstand von Bergknappen wird nach Liegnitz verlegt und aus dieser Hypothese eine Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den schlesischen Bergbaugebieten versucht. Sie kann ebensowenig überzeugen wie die Behauptung, gereizt durch die Entwicklung der Geldwirtschaft habe der landgesessene Adel eine Vermehrung der Goldproduktion auf Kosten der Arbeitskraft der Knappen erzwungen. Hypothesen können die Forschung unter Umständen anregen. Verfälschungen nehmen ihnen jede Glaubwürdigkeit. Um eine solche handelt es sich, wenn das Freiberger Bergrecht als tschechisches Recht ausgegeben wird. 9 0 W. K o r t a , Rozwöj wielkiej wlasnosci klasztornej na Sl^sku do poiowy X I I I wieku (Die Entwicklung des klösterlichen Großgrundbesitzes in Schlesien bis zur Mitte des 13. Jh.), in: Sobötka 13 (1958), 179 ff,; Z. W i e l g o s z , Poczqtki wielkiej wlasnosci klasztornej cystersow w Lubi^zu (Die Anfänge des klösterlichen Großgrundbesitzes der Zisterzienser in Leubus), in: Roczn. Hist. 2 2 (1955/56), 61 ff,; K . D z i e w o r i s k i , Geografia Trzebnicy i ujazdu trzebnickiego w okresie wczesnosredniowiecznym (Die natürlichen Grundlagen des Trebnitzer Landes im frühen Mittelalter), in: Stud. Wczesnosr. 1 (1952), 25ff.; K . T y m i e n i e c k i , O interpretacji dokumentöw trzebnickich (Die Interpretation der Trebnitzer Urkunden), in: Roczn. Hist. 15 (1959), 143ff. 9 1 R. J a m k a , Prehistoryczne i wczesnodziejowe osrodki produkcji görniczej i rzemieSlniczej na Sl^sku (Prähistorische und frühgeschichtliche Zentren des Bergbaus und Handwerks in Schlesien), in: Prz. Hist. 41 (1950), 21ff.; K . M a l e c z y n s k i , Uwagi o powstaniu görniköw w r. 1220 (Bemerkungen über den Aufstand der Bergarbeiter im Jahre 1220), in: Kwart. Hist. 61 (1954), H. 3, 143ff.

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Nur für die Kenntnis der Straßenführung in Schlesien bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts, leider nicht über die Motive der landesherrlichen Zollpolitik, gibt eine Untersuchung über die Lage der Zollämter Auskunft. 92 Die unbestrittene Stellung der beiden Vororte Breslau und Neiße läßt sich eindrucksvoll beweisen, auch die Feststellung ist wichtig, daß an den Hauptstraßen die Zollämter in einer mittleren Entfernung von etwas über 25 km lagen, was der Tagesleistung eines Frachtwagens entsprach. Von den ermittelten 77 Zollstätten war ein beträchtlicher Teil in drei etwa konzentrischen Kreisen um Breslau errichtet worden, während sich um Neiße in einer mittleren Entfernung von 50 km nur ein Ring solcher Zollstätten nachweisen läßt. Eine Fülle von kleineren Untersuchungen, zusammenfassenden Darstellungen und mehrbändigen Abhandlungen ist über die Geschichte Breslaus erschienen.93 Die deutsche Zeit war durch Quellenforschungen und die Aufnahme von Grabungen noch vor dem zweiten Weltkrieg so weit aufgehellt worden, daß die Gründung der Burg und, unter Zurückweisung älterer Auffassungen, ihre Anlage auf der Dominsel als gesichert galten. Hatte R . Holtzmann als Burggründer den 921 verstorbenen Herzog Wratislaw I. von Böhmen sehen wollen, so werden die Bauanfänge jetzt in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts verlegt und einem polnischen Piasten zugeschrieben. Gesichert ist der inzwischen erbrachte Nachweis, daß noch im gleichen Jahrhundert unterhalb der ältesten Burg ein Suburbium angelegt wurde. Schutz boten ihm die Oder und ein aus Holzbohlen und Steinen aufgeführter Wall. Das von Kocka, S. 478, veröffentlichte Bild der im Modell rekonstruierten Anlage und die von Maleczynski in der 1958 erschienenen Geschichte Breslaus aufgestellte Behauptung, in dem Suburbium hätten sich etwa zweihundert Wohnstätten und mindestens tausend Einwohner befunden, erwecken freilich starke Bedenken. 9 2 J . N o w a k o w a , Rozmieszczenie komor celnych i przebieg drög handlowych na Slqsku do korica X I V wieku (Zollämter und Handelsstraßen in Schlesien bis Ende des 14. Jh.s), Breslau 1 9 5 1 ; J . K a i m i e r c z y k, Transport na Sl^sku Opolskim od X — X I I I w. (Der Transport im Oppelner Schlesien vom 10. —13. Jh.), in: Glosy nad Odrq 16 (1954). 93 K . M a l e c z y n s k i , Dzieje Wroclawia (Geschichte Breslaus), Breslau 1948; Dzieje Wroclawia do roku 1807 (Geschichte Breslaus bis 1807), Breslau 1958; E . O s t r o w s k a , Z najstarszych dziejöw Wroclawia (Zur ältesten Geschichte Breslaus), in: Rocz. Wrocl. 2 (1958), 80ff.; M. M o r e l o w s k i , Rozwoj urbanistyki Wroclawia przed kolonizacj^ z lat 1241—1242 (Die Stadtentwicklung Breslaus vor der Kolonisation 1241—1242), Breslau 1954; d e r s . , Dzielnica Wroclaw — Stare Miasto (Die Altstadt von Breslau), in: Rocz. Wrocl. 2 (1958), 136ff.; St. T r a w k o w s k i , Olbin Wroclawski w X I I w. (Die Breslauer Siedlung Olbin im 12. Jh.), in: Roczn. Dziejow Spol. Gosp. 20 (1959), 69ff.; R. H e c k , Struktura spoieczna sredniowiecznego Wroclawia na przelomie X I V / X V wieku (Die Sozialstruktur Breslaus an der Wende vom 14. zum 15. Jh.), in: Sobötka 7 (1952), 57ff.; W . K o ö k a , The suburbium of Wroclaw in Ostrow Tumski in early middle ages, in: L'artisanat, 477 ff.

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In dem Bestreben, Breslau eine dreihundertjährige städtische Entwicklung vor der Ansiedlung von Deutschen und der Rechtslokation zuzuschreiben, ist auch die Bedeutung des polnischen Marktes auf dem Elbing überschätzt worden. Die Einkünfte von dem in der Vinzenzwoche stattfindenden Wochenmarkt dürften dem benachbarten, ebenfalls auf dem rechten Oderufer gelegenen Vinzenzkloster schon bei seiner Gründung um 1140 zugewiesen worden sein. Die Entstehung einer Handwerkersiedlung auf dem Elbing wird jetzt aus einem herzoglichen H o f hergeleitet, der aber erst für 1149 zu belegen ist, um den mehrere Schenken gelegen hätten, was zum Aufkommen eines lokalen Marktverkehrs geführt habe. Trotz der von Maleczynski für das Suburbium auf der Dominsel behaupteten hohen Einwohnerzahl meint Trawkowski, es sei dort nur wenig Platz für handwerkliche und Handelstätigkeit gewesen. Auch die Ansiedlungen auf der Sandinsel, um die Adalbertkirche auf dem südlichen Ufer der Ohle und die östlich davon gleichfalls im 12. Jahrhundert entstandene Niederlassung von Wallonen hätten diese Voraussetzungen nicht geboten. Deshalb sei, an ältere Siedlungskerne anknüpfend, die Handwerker- und Markt-,, Stadt" Elbing ausgebaut worden. Die Einführung deutschen Rechts, zuerst im Neumarktviertel an der Adalbertkirche 1211 und 1226 feststellbar, sei in größerem Ausmaße nach dem Mongoleneinfall 1242 vorgenommen worden und habe sich bis 1266 hingezogen. In allen Arbeiten wird betont, daß Breslau schon mehrere Jahrhunderte vor der Einwanderung deutscher Siedler ein Gemeinwesen von städtischer Art gewesen sei, das vor allem durch den Fernhandel seinen Aufschwung genommen habe. Tatsächlich sind eine Menge Handelsplätze nachzuweisen, mit denen das ältere Breslau in Verbindung stand. Sicher haben auch die vielen ortsansässigen Gewerbezweige zur Entwicklung der Stadt beigetragen. Vor anderen hat das metallverarbeitende Gewerbe einen hohen Stand gehabt. Noch für lange Zeit dürfte innerhalb des Breslauer Siedlungsbereiches die Viehzucht eine erhebliche Rolle gespielt haben, obwohl die zahlreich vorhandenen Fleischbänke gewiß hauptsächlich Auftrieb vom Lande verarbeiteten. Der Handel mit Wein brachte gute Einkünfte, und das frühe Aufkommen des Gaststättengewerbes bezeugen nicht nur die einfachen Schenken, auch der vielgerühmte Schweidnitzer Keller im nachmaligen Breslauer Rathaus darf dafür noch einmal genannt werden. 94 Mehrfach versuchte Schätzungen der Einwohnerzahlen sind für die frühe Zeit, vor allem für das Suburbium zu hypothetisch, um eine ernsthafte Diskussion zu rechtfertigen. Für das 14. und 15. Jahrhundert kann man einer Gliederung der Breslauer Einwohner nach ihrer sozialen Lage in handeltreibendes Patri94 M. K o m a s z y r i s k i , Piwnica Swidnicka (Der Schweidnitzer Keller), in: Rocz. Wrocl. 2 (1958), 232 ff.

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ziat, Handwerkerschaft, Gesellen und Lohnarbeiterschicht zustimmen. Während die Oberschicht aus Handel, Kapitalleihen, Einkünften aus Renten und Grundbesitz verschiedene Möglichkeiten der Eigentumsvermehrung besaß, war das nicht unvermögende, aber zunftmäßig streng geschlossene Handwerk in seiner wirtschaftlichen Regsamkeit gehemmt. Die Grundlage des Wohlstandes der Breslauer Oberschicht ist durch den Handel mit Tuchen gelegt worden. Als Monopol in den Händen der Tuchkaufleute, hatten diese den Webern das Recht zum Einzelverkauf von Tuch zu entziehen vermocht. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war das bereits eine Selbstverständlichkeit. Wenn die Korporation der Tuchhändler in den Quellen verhältnismäßig selten hervortritt, so mag das seine Ursache darin haben, daß sich der Rat der Stadt aus Kaufleuten zusammensetzte und besonders die Interessen dieser führenden Schicht wahrnahm. Im Großhandel sind die Breslauer Kaufleute Vermittler der Geschäfte zwischen West- und Osteuropa gewesen, und ihre Verbindungen reichten von Flandern, von wo sie das Tuch in der Hauptsache bezogen, bis Venedig, Kiew und zu den ehemals griechischen Kolonien am Schwarzen Meer. Dieser Handel erreichte an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert die größten Ausmaße, bis er durch die Hussitenkriege gehemmt wurde und außerdem die Bestrebungen der polnischen Fürsten, den Osthandel nach Posen und Krakau zu ziehen, allmählich zur Abschneidung Breslaus von den direkten Kontakten mit den östlichen Handelspartnern in der zweiten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts führten. In Liegnitz bestand neben der Burg eine alte Siedlung, für die 1214 Marktverkehr bezeugt ist.95 1242 erfolgte eine Neugründung zu deutschem Recht. Neben der an erster Stelle stehenden heimischen Tuchmacherei, dem Brauereigewerbe und dem Mühlenhandwerk sind mannigfache handwerkliche Betätigung der Einwohner, in bescheidenem Ausmaße die Land- und Gartenwirtschaft innerhalb des städtischen Bereichs und besonders der Uberlandhandel mit Salz lange Zeit die wichtigste Erwerbsgrundlage geblieben. In Striegau läßt sich ein Suburbium nicht nachweisen, trotzdem wird die Burg als „stadtbildender Faktor" bezeichnet und behauptet, es habe sich unterhalb des Breiten Berges schon Ende des 11. Jahrhunderts eine feste Niederlassung entwickelt. In der zweiten Hälfte des nächsten Jahrhunderts sei dann eine Marktsiedlung auf dem Boden der späteren Stadt entstanden, die 1242 deutsches Recht erhielt. Für Nimptsch liegt nur ein Ausgrabungsbericht vor. 96 96 Wl. D z i e w u l s k i , Jak rosla Legnica? (Wie wuchs Liegnitz?), in: Kwart. Opol. 2, H. 1 (1956), 24fT. 98 Wl. D z i e w u l s k i , Geneza miasta Strzegomia (Die Entstehung der Stadt Striegau), in: Kwart. Hist. Kult. Mat. 4 (1956), 240ff.; Wl. H o l u b o w i c z , Wyniki badan przeprowad-

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Es ist schon in einem anderen Zusammenhang auf die Bedeutung der Burgen und Burgplätze im Oppelner Land hingewiesen worden. Die Hauptburg in Oppeln bestand sicher seit dem 10. Jahrhundert auf einer Oderinsel, und die zugehörige Siedlung war mit einem Holz-Erdewall von nicht geringer Ausdehnung umgeben. 97 In ihr drängten sich die einfachen Wohnstätten an bohlenbedeckten Gassen und um kleine Plätze, doch ist eine für Marktverkehr geeignete Platzanlage oder Straße bisher nicht gefunden worden. Dieses großenteils schon in den dreißiger Jahren erschlossene Suburbium hatte „stadtähnlichen Charakter", wie bereits H . Seger in seinem Beitrag zu der 1938 erschienenen Geschichte Schlesiens feststellte. Die Bevölkerung gliederte sich bis ins 13. Jahrhundert in Schuster, Böttcher, Zimmerleute, Drechsler, Stellmacher, Töpfer und Schmiede, um nur die wenigen Gewerke namhaft zu machen, von denen Reste ihrer beruflichen Betätigung überliefert wurden. Eine etwas jüngere Siedlung, aus der sich die spätmittelalterliche Stadt entwickelte, entstand seit dem 11. Jahrhundert auf dem rechten Oderufer, gegenüber dem auf der Flußinsel gelegenen befestigten Suburbium. Jüngste Ausgrabungen in der Nähe des Marktes der Ufersiedlung haben den Beweis erbracht, daß in Anlehnung an einen herzoglichen H o f zunächst ein Wohnviertel um die Adalbertkirche entstand, eine anderes seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts um Markt und Kreuzkirche hinzukam. Eine Fischersiedlung in diesem Bereich ist nach der Lokation nach Nordosten vor den Mauerring der Neustadt verlegt worden. Marktverkehr wird für das Inselsuburbium angenommen, doch zugegeben, daß es dort an der Möglichkeit fehlte, eine geeignete Marktstätte zu schaffen. Im 12. Jahrhundert befand sich ein Markt auf dem rechten Oderufer zwischen dem Fluß und den beiden Kirchen. In diesem Wohnbereich zonych w 1950 r. w Niemczy Sl^skiej (Ergebnisse der im Jahre 1950 in Nimptsch durchgeführten Forschungen), in: Wiad. Archeol. 22 (1955), H. 2, 146ff. 97 S. Anm. 89. — Z. A. R a j e w s k i , O Opolu wczesnodziejowym (Oppeln in frühgeschichtlicher Zeit), in: Prz. Zach. 2 (1946), 174ff.; Wl. H o l u b o w i c z , Wczesnosredniowieczne Opole w swietle badan w roku 1952 (Das frühmittelalterliche Oppeln im Lichte der Forschungen im Jahre 1952), in: Szkice do dziejöw Sl^ska 1953, 35ff.; ders., Kiedy i jak powstalo Opole? (Wann und wie entstand Oppeln?), in: Kwart. Opol. 1 (1955), 8ff.; ders., Opole w wiekach X — X I I I (Oppeln vom 10. —13. Jh.), Kattowitz 1956; ders., Z badan na Ostrowku w Opolu (Aus den Forschungen auf der Oderinsel in Oppeln), in: Spraw. Archeol. 3 (1957), 204ff.; J. K a z m i e r c z y k , Z badan wykopaliskowych na terenie prawobrzeznego Opola (Grabungsergebnisse auf dem rechten Flußufer von Oppeln), in: Kwart. Opol. 2 (1956), H. 2, 119ff.; Wl. D z i e w u l s k i , Miasto lokacyjne w Opolu w X I I I - X V wieku (Die Lokationsstadt in Oppeln im 1 3 . - 1 5 . Jh.), in: Studia Sl^ski 1 (1958), 15ff.; Wl. H o l u b o w i c z , Jedwabie z Opola X - X I I w. (Seide aus Oppeln im 1 0 . - 1 2 . Jh.), in: Kwart. Opol. 3 (1957), H. 2, 81ff.; M. H a i s i g , Wytwory slusarskie odkryte w Opolu na Sl^sku (Erzeugnisse des Schlosserhandwerks aus Oppeln), in: Mat. Wczesnosr. 4 (1956), 171 ff.

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liefen verschiedene Straßen zusammen, die Oppeln an den Überlandverkehr anschlössen. Die wichtigsten Verbindungen gingen über Breslau und die Lausitzen nach Mitteldeutschland, über Kaiisch nach Großpolen, über die Glatzer Pforte nach Böhmen, über Leobschütz oder Ratibor nach Mähren und Süddeutschland sowie über Krakau nach Byzanz und Kiew. 1211 und 1217 ist außerdem von einer nicht näher zu lokalisierenden Niederlassung von Gästen die Rede. Während man bisher der Auffassung war, daß es sich dabei um deutsche Kaufleute gehandelt habe, die vor der Lokation Oppelns zu deutschem Recht ansässig wurden, wird jetzt behauptet, diese Leute hätten nach polnischem Recht gelebt. Ob man an Händler aus den osteuropäischen Ländern denkt, wird nicht gesagt. Die deutsche Rechtserteilung an Oppeln erfolgte 1254. Seit Ausgang dieses Jahrhunderts begann die Bildung einer patrizischen Oberschicht, die vorwiegend deutsche Namen führte. Die gewerblich tätige Bevölkerung war mit Tuchmacherei beschäftigt, auch besaß Oppeln ein zahlenmäßig stark vertretenes Töpferhandwerk, das seine Produktionsstätten wegen der Brandgefahr außerhalb der Mauern errichtet hatte. Neben dem Überlandhandel haben der Oderverkehr, der über Frankfurt die Verbindung zwischen Oberschlesien und Pommern herstellte, die Versorgung der umwohnenden Landbevökerung, wobei nachweislich Oppelner und Breslauer Kaufleute miteinander in Konkurrenz traten, und die Residenz der Piasten das Wirtschaftsleben der Stadt gefördert. An dem alten Sudetenweg, der entlang der schlesisch-böhmischen Grenze verlief, entwickelte sich am linken Ufer der Glatzer Neiße als Vorort für einen größeren umliegenden Landbereich Neiße, 9 8 etwa 10 km von der Kastellaneiburg Ottmachau entfernt. Die unmittelbare Umgebung von Neiße war wenig siedlungsgünstig, die Straßenführung mußte die sumpfigen Flußniederungen umgehen. Für die Mitte des 12. Jahrhunderts ist das Bestehen einer slavischen Siedlung im östlichen Teil des nachmaligen Stadtbereiches durch Grabungsfunde erwiesen. Sie mied den von Neiße und Bielearm gebildeten Werder und lehnte sich an das rechte Ufer des Bielearms an. Der Übergang der Kastellanei Ottmachau an das Bistum Breslau wirkte sich auf Neiße aus. Aus den vor einem Jahrzehnt ergrabenen Spuren der slavischen Siedlung geht hervor, daß die Bevölkerung von Fischerei und Landwirtschaft lebte, auch bereits einer handwerklichen Betätigung nachging. Dziewulski ist deshalb schnell bereit, diese Siedlung am Bieleufer als Stadt zu bezeichnen. Hier liegen aber völlig andere Verhältnisse vor als in Oppeln und Breslau. In Neiße gab es keine Burg, und es entwickelte sich kein Suburbium. Noch 1231, nach Einführung des deutschen Rechts und während vermutlich auf dem anderen Biele98 Wt. D z i e w u l s k i , Dzieje rozwoju miasta Nysy (Geschichte der Entwicklung der Stadt Neiße), in: Kwart. Opol. 2 (1956), H. 4, 17ff.

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HERBERT HELBIG UND ADELHEID SIMSCH

ufer der Aufbau der Stadt noch im Gange war, wird Neiße als novus et antiquus locus bezeichnet. Es ist höchst unwahrscheinlich, und auch die Funde berechtigen nicht dazu, in der slavischen Siedlung eine stadtähnliche Anlage zu vermuten. Im topographischen Bild hat diese schließlich räumlich und rechtlich in die deutsche Neustadt als „Vorstadt" einbezogene Siedlung ihren dörflichen Charakter lange bewahrt. Die Stadtbildung Neißes erfolgte in der Zeit des Bischofs Lorenz (1207-1232), von dem bekannt ist, daß er für die Kulturarbeit im Breslauer Bistumsland deutsche Siedler berief. Wenn Neiße flämisches Recht erhielt, heißt das nicht, wie Dziewulski schreibt, daß Siedler „niederländischer Herkunft" den Hauptanteil an der Lokation gehabt haben. Für den wirtschaftlichen Aufschwung Neißes war es bedeutsam, daß der Stadt 1245 ein Jahrmarkt und einige Zeit später das Niederlagsrecht verliehen wurden. Freilich ist das Stapelrecht bereits 1274 nach Breslau verlegt worden. Die Sozialstruktur der Bevölkerung ähnelte der anderer schlesischer Städte. Eine Oberschicht wurde von handeltreibenden Kaufleuten und stadtgesessenen Landbesitzern gebildet, die mittlere bestand aus Handwerkern und Krämern, die über eigenen Hausbesitz verfügten. Gesellen und Lohnarbeiter wurden zusammen mit der Stadtarmut zur dritten Schicht gerechnet, 1424 dazu auch ein erheblicher Teil der selbständigen Handwerker, sofern sie kein eigenes Vermögen versteuerten. Im 14. und 15. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum handwerklicher Produktion. Eine Liste von Steuerzahlern aus dem Jahre 1425 verzeichnet 390 Gewerbetreibende, die 35 verschiedenen Berufen nachgingen. Besonders stark waren das Textilgewerbe und das Metallhandwerk vertreten. Auch die Landwirtschaft spielte weiterhin eine Rolle. Bei Patschkau, ebenfalls im Neißer Bistumsland gelegen, das 1254 Magdeburger Stadtrecht erhielt, handelt es sich um eine deutsche Stadtgründung aus wilder Wurzel." Von einer slavischen Dorfsiedlung, die fast 3 km entfernt lag, wurde nur der Ortsname übernommen. Was Rozanowski an legendärer Vorgeschichte bringt, kann deshalb nicht mit der Stadt Patschkau in Beziehung gebracht werden. Die ihren Bewohnern 1254 überlassenen sechs fränkischen Hufen Wiese und Weideland wurden von den Bürgern landwirtschaftlich genutzt; im 15. Jahrhundert waren sie stärker zunftwirtschaftlich tätig. Mehr als die bürgerliche Beschäftigung der Einwohner hat die landesherrliche Förderung zur Entwicklung Patschkaus beigetragen, das an der Westgrenze des Bistumslandes, vor dem Übergang nach Böhmen gelegen, für die Fürstbischöfe erhebliche strategische Bedeutung besaß. 99 K. R o z a n o w s k i , Z dziejöw miasta Paczkowa (Zur Geschichte der Stadt Patschkau), in: Kwart. Opol. 3 (1957), H. 1, 5ff.; D. J. R. G a l e c k i , Charakterystyka spolecznogospodarcza miasta Paczkowa (Sozial-wirtschaftliche Charakteristik der Stadt Patschkau), ebda. 3 (1957), H. 1, VIS.

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Im Bereich slavischer Dorfsiedlungen im Hügelland oberhalb des Flusses Prudnik, die für den Beginn des 13. Jahrhunderts nachgewiesen werden können, entwickelte sich ein Marktort mit bescheidenem Lokalverkehr, der nach dem Fluß benannt wurde. 100 Wann der Marktort deutsches Recht erhielt, ist nicht überliefert. Doch wird mit guten Gründen dafür die Zeit des Bischofs Bruno von Olmütz aus dem Hause Schauenburg angenommen, der in diesem Teil seiner Diözese im sechsten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts Stadtrechtsverleihungen vornahm. 1302 erhielt der Ort Magdeburger Recht und begegnet seitdem unter dem Namen Neustadt. Der Ausbau Neustadts, das erst 1337 von Mähren an Schlesien kam, erfolgte durch Siedler aus Niederschlesien. Die geringe Aufnahmefähigkeit des lokalen Marktes hat zu einer nur schwachen Entwicklung der Gewerbetätigkeit geführt. Gerberei, Bierbrauerei und der Betrieb von Getreidemühlen boten die wichtigsten Erwerbsmöglichkeiten. An dem Uberlandweg von Leobschütz nach Ratibor ist eine slavische Dorfsiedlung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von dem mährisdien Grundherrn Bawor von Strakonic zu deutschem Recht umgelegt worden. Als Stadt unter dem Namen Bauerwitz 101 blieb sie im Besitz verschiedener adliger Grundherren, bis sie 1340 an die Dominikaner von Ratibor kam. Im Wirtschaftsleben des Platzes hat die Landwirtschaft die erste Stelle eingenommen, Handel und Handwerk traten demgegenüber zurück, auch nach der Ansiedlung von Deutschen in Bauerwitz, das erstmals 1296 als Stadt deutschen Rechts genannt wird. Mittlere Einkommen bestimmten die Sozialstruktur ihrer Bürgerschaft, der die vermögende Oberschicht stets gefehlt hat. Die Abkürzungen beziehen Kom. Maz. — Warm. Kwart. Hist. Kwart. Opol. Mat. Zach. — Pom. Prz. Hist. Prz. Zach. Roczn. Hist. Rocz. Wrocl. Stud. Mat. Wielkopol. Pom.

sich = = = = = = = = =

Stud. Wczesnoér. L'artisanat

= =

auf folgende Zeitschriften: Komunikaty Mazursko — Warminskie (Allenstein). Kwartalnik Historyczny (Warschau). Kwartalnik Opolski (Oppeln). Materiaiy Zachodnio — Pomorskie (Stettin). Przegl^d Historyczny (Warschau). Przegl^d Zachodni (Posen). Roczniki Historyczne (Posen). Rocznik Wroclawski (Breslau). Studia i Materiaiy do Dziejôw Wielkopolski i Pomorza (Posen). Studia Wczesnosredniowieczne (Warschau). L'artisanat et la vie urbaine en Pologne médiévale, Kwart. Hist. Kultury Materialnej, Bd. 10, 1/2, 1962, Ergänzungsheft = Ergon III, hrsg. v. A. Gieysztor u. a.

1M W l . D z i e w u l s k i , Pierwsze wieki Prudnika (Die ersten Jahrhunderte von Neustadt O/S), in: Kwart. Opol. 5 (1959), H. 3, 3ff. 101 Wl. D z i e w u l s k i , Przeszlosc Baborowa (Die Vergangenheit von Bauerwitz), in: Kwart. Opol. 4 (1958), H. 3, 67ff.

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Jahrbuch 12

HERBERT WOLF

F O R S C H U N G E N AUS DEM B E R E I C H DER M I T T E L D E U T S C H E N TOPONOMASTIK In Sachsen hat man verhältnismäßig früh die der Toponomastik zukommende Bedeutung erkannt. Eine systematische Sammlung der örtlichkeitsnamen wurde von dem seit 1899 im Dienst des Sächsischen Hauptstaatsarchivs stehenden Hans Beschorner in Angriff genommen. Auf der Jahresversammlung der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Erfurt 1903 wurde das von ihm vorgelegte Programm für die Sammlung von Flurnamen als wertvoller geschichtlicher Zeugnisse gebilligt. Beschorners Anregungen sind dann während seiner langjährigen intensiven Tätigkeit auf diesem Arbeitsfeld weit über Sachsens Grenzen hinausgegangen. Ansatz und Durchführung der sächsischen Namensammlung stehen in Verbindung mit der Sächsischen Kommission für Geschichte und dem 1906 gegründeten Leipziger Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde. Dessen langjähriger Direktor Rudolf Kötzschke hat Beschorners Unternehmen gefördert und Namen in seinen Arbeiten wiederholt als siedlungsgeschichtliche Quellen herangezogen. Gleichwohl lag die Sammlung über viele Jahre hin fast ausschließlich in der Obhut Beschorners, der von jedem Ort eine Mappe anlegte, in die im wesentlichen die noch bekannten Flurnamen eingetragen wurden, die er mit Hilfe örtlicher Sammler ermittelt hatte. Jeder Ortsmappe war ein Flurkrokis im Maßstab 1 : 1 2 000 (entstanden gelegentlich der sächsischen Landesaufnahme 1835-1843) beigefügt, auf dem die Namen nach Möglichkeit lokalisiert werden sollten. Neben diesen aus der mündlichen Tradition geschöpften Namen wurden auch Belege aus urkundlicher bzw. archivalischer Uberlieferung zusammengetragen, wobei es sich als vorteilhaft erwies, daß das Unternehmen seine Zentrale im Dresdener Archiv hatte. Eine systematische Sammlung der historischen Flurnamenbelege überstieg freilich die Kraft eines einzelnen, und so konzentrierte sich Beschorner in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens vornehmlich auf die Herstellung eines Wüstungsverzeichnisses von Sachsen, das mit anderen Vorarbeiten die Materialgrundlage für das „Historische Ortsverzeichnis von Sachsen" wurde, das Karlheinz Blaschke 1957 herausgegeben hat.

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Gegen Ende seines fruchtbaren Schaffens setzen die Bemühungen ein, die von dem unermüdlichen Manne zeitlebens allein getragene Last der Namensammlung auf jüngere Schultern zu verteilen. Seit Ende 1951 hat der Leipziger Germanist Ludwig Erich Schmitt eine Anzahl seiner Schüler mit den Grundlagen der wissenschaftlichen Toponomastik ausgerüstet und mit der Fortführung der Beschornerschen Arbeiten beauftragt. Für die Fragen, die sich aus dem Zusammenleben von Deutschen und Slawen im mitteldeutschen Osten aus den Namen ergaben, stellte sich der Slawist Reinhold Olesch mit einigen Schülern zur Verfügung. In diesem Kreise entstand der Plan, von Sachsen ausgehend den gesamten Namenschatz des ostmitteldeutschen Raumes aufzuarbeiten. Das Gebiet der ehemaligen Provinz Sachsen hatte der Hallenser Germanist Karl Bischoff mit seinen Schülern in Angriff genommen. Etwas später begann man an der Universität Jena ein entsprechendes Unternehmen für Thüringen in die Wege zu leiten. Im Leipziger Arbeitskreis betraute man schon aus Gründen der Arbeitsökonomik einzelne Nachwuchskräfte jeweils mit einem Gebiet, das im allgemeinen den Umfang eines Verwaltungskreises hatte. Die von mikrotoponomastischen Analysen ausgehenden Monographien wurden zunächst als Staatsexamensarbeiten angefertigt, einige dann davon zu Dissertationen ausgebaut, die neben spezielleren Fragen der Namenkunde vor allem auch Probleme der Siedlungs- und Sprachgeschichte an Hand des regionalen Materials behandeln sollten. Dieses Unternehmen war eben angelaufen, als die Professoren Schmitt und Olesch ihren Leipziger Lehrstuhl und damit auch die jungen Namenkundler verlassen mußten und in die Bundesrepublik übersiedelten. Immerhin waren die von den beiden Professoren gegebenen Anregungen so stark, daß ihre Schüler das Forschungsvorhaben in geradezu exemplarischer Form der Kooperation mit gewissen Modifikationen und Einschränkungen weiterführen konnten. Einige der von ihnen angeregten Kreisarbeiten sind auch inzwischen gedruckt worden. Sie erscheinen in der Reihe „Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte" 1956 ff. (anfangs im VEB Max Niemeyer, Halle, seit Nr. 11 im Akademie-Verlag, Berlin). Über diese und andere Veröffentlichungen der Leipziger namenkundlichen Arbeitsgruppe werden von Zeit zu Zeit Berichte vorgelegt, vgl. die Hinweise in meiner summarischen Bibliographie in der von W. Schlesinger herausgegebenen Aufsatzsammlung Rudolf Kötzschkes „Deutsche und Slaven im mitteldeutschen Osten", Darmstadt 1961, S. X I I und 11 ff. Die noch von Schmitt angeregte Untersuchung „Die Orts-, Flur- und Flußnamen der Kreise Borna und Geithain" von Joachim Göschel wird 1964 in den „Mitteldeutschen Forschungen" herauskommen, die u. a. schon 1958 die Dissertation „Die altenburgischen 17*

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Personennamen" des Schmitt-Schülers Horst Grünert gebracht hatten, worin ebenfalls den deutsch-slawischen Namenproblemen nachgegangen wird. Als richtungweisende Monographie der Leipziger Reihe ist zunächst zu nennen: Hans Walther „Die Orts- und Flurnamen des Kreises Rochlitz" (1957). Auch diese Untersuchung fußt auf einer noch von Ludwig Erich Schmitt angeregten Dissertation. Unter den weiteren bisherigen Veröffentlichungen dieses Arbeitskreises ist die Dissertation von Wolfgang Fleischer hervorzuheben „Namen und Mundart im Raum von Dresden" (1961 erschien der erste Teil). Während bei Walther der historische Aspekt vorherrscht und Fleischer seiner Ausbildung entsprechend den deutschen Sprachphänomenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, geht Oleschs Schüler Emst Eichler in seiner Dissertation „Die Orts- und Flußnamen der Kreise Delitzsch und Eilenburg" (Druck 1958) vor allem den linguistischen Fragen slawischer Provenienz nach; Eichler hat inzwischen auch seine Habilitationsschrift vorgelegt „Studien zur Frühgeschichte slawischer Mundarten zwischen Saale und Neiße" (Masch, schriftl. Leipzig 1961; ihre Veröffentlichung wird in der gleichen Reihe demnächst erfolgen), die insonderheit namenkundliche Verhältnisse und Zeugnisse berücksichtigt. Den bisher umfassendsten Band der Reihe schrieb Horst Naumann „Die Orts- und Flurnamen der Kreise Grimma und Würzen" ( = Nr. 13, 1962, 489 Seiten). Bei einer Beurteilung dieser toponomastischen Untersuchungen darf nicht übersehen werden, daß die jungen Leipziger Doktoranden weitgehend auf sich selbst angewiesen waren, denn nach dem Weggang der Begründer des Arbeitskreises fehlten ihnen sachkundige und verständnisvolle Lehrer auf dem Gebiet der Germanistik, Slawistik und geschichtlichen Landeskunde. Das muß einmal mit Nachdruck gesagt werden, weil in einigen Rezensionen über diese Arbeiten der wahre Sachverhalt verkannt worden ist. Wenden wir uns nunmehr der Naumannschen Untersuchung zu, die wie die meisten dieser Forschungsreihe aus drei Teilen besteht: Einer historisch-geographischen Einleitung, dem Namenverzeichnis, der Auswertung des Materials. Zunächst werden die natürlichen Grundlagen des Untersuchungsgebietes auf Grund der einschlägigen Fachliteratur vorgeführt, die geologischen und hydrologischen Verhältnisse eingehend behandelt. Beim Uberblick über die geschichtliche Entwicklung der beiden Kreise mußte sich der Verfasser seine Erkenntnisse zum großen Teil selbst aus den Quellen erarbeiten, weil es dafür außer Eberts Dissertation über das Wurzener Land kaum zuverlässige historische Darstellungen gibt. Naumanns Ausführungen zeigen, daß sein Untersuchungsgebiet während des Mittelalters kein in sich geschlossener Raum war. Vielmehr berührten sich hier die Einflußbereiche verschiedener Diözesen, hier stießen die Ansprüche von Reich und Markgrafen aufeinander. Bevor die

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äußere Zuordnung in ein festes Gefüge gekommen war, begann der innere Landesausbau durch edelfreie und reichsministeriale Geschlechter, Klöster und vor allem Bauern aus den altdeutschen Landschaften; zur weiteren Erforschung ihrer ursprünglichen Heimat bieten die Namen manchen Hinweis. Im Namenschatz spiegelt sich auch die durchaus friedliche Auseinandersetzung der seit der Zeit um 1100 zugewanderten deutschen Siedler mit der ansässigen slawischen Bevölkerung. Naumann hat diesen geschichtlichen Vorgang mit großer Gewissenhaftigkeit untersucht und stellt nachdrücklich fest: „Die slawische Bevölkerung unseres Gebietes wurde keineswegs vertrieben. Vom Fortbestehen slawischer Siedlungen und vom friedlichen Zusammenleben slawischer und deutscher Siedler zeugen neben der großen Zahl von slawischen Ortsnamen und der recht beachtlichen Anzahl slawischer Flurnamen auch die Mischnamen . . . " (S. 405). Bei allen Vorbehalten gegenüber der Auswertung von Zahlenverhältnissen ist es aufschlußreich, daß von 297 Ortsnamen der beiden Kreise 177 slawisch und 105 deutsch sind; dabei gibt der V f . zu bedenken, daß nicht in allen Orten mit slawischen Ortsnamen auch wirklich Slawen gesessen haben müssen - in einigen Fällen ist die Übertragung vom slawischen Namen des Nachbarortes sogar nachgewiesen. Der slawische Anteil bei den Flurnamen ist gering: Von den 15 000 Belegen sind 429 eindeutig slawischer Herkunft. Bei dieser Zahl ist zu berücksichtigen, daß Flurnamen im Vergleich mit den Ortsnamen im allgemeinen eine viel kürzere Lebensdauer haben; so sind die meisten der noch heute geläufigen deutschen Flurnamen jünger als die slawischen. Ein kommensurables Verhältnis zwischen deutschen und slawischen Flurnamen würde sich aus der Gegenüberstellung gleichaltriger Namen ergeben. Hier aber sind der Forschung schon durch den unausgeglichenen Überlieferungsstand Grenzen gesetzt. In einigen Punkten der historischen Einleitung können wir uns Naumanns Darstellung nicht anschließen. So sehen wir im Anschluß an Thietmars Angaben den Verlauf der Bistumsgrenze ö s t lieh der Mulde, denn die östlich des Flusses gelegenen, zu den Muldeburgen gehörenden Orte waren der Merseburger Diözese eingegliedert. Der Historiker wird die Ausführungen über die Verkehrsverhältnisse sehr begrüßen, zumal die Flurnamen in diesen Fragen Einblicke gewähren, die nicht einmal mehr aus Kartenmaterial zu gewinnen sind. Mit großem Fleiß und beachtlicher Umsicht ist das Namenverzeichnis hergestellt worden, das das Material ortsweise bietet. Außerordentlich wertvoll sind die zu jedem O r t gemachten Angaben: 1. Art der Siedlung und geographische Lage zu den Städten; 2. Gestaltung der Siedlung und Gliederung der zugehörigen Flur;

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3. 4. 5. 6.

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Ortsnamenzitate aus schriftlichen Quellen; heutige mundartliche Namenform(en); sprachliche Erläuterung des Ortsnamens; vergleichbare Ortsnamen.

Hierbei zeigen sich vor allem Naumanns sprachgeschichtliche Kenntnisse. Der Historiker wird gelegentlich Hinweise auf den zweifelhaften Wert einer Urkunde vermissen, was insbesondere im Fall von Namenerstbelegen nidit unwesentlich ist. Zum Beispiel ist die Urkunde CDS I 1, 342 (Erstbelege von Mehlis, Böhlitz, Mutzschen) verunechtet. Audi wären Angaben bei Urkunden nötig gewesen, die nur in sehr später Uberlieferung auf uns gekommen sind (etwa der Erstbeleg von Mischwitz in CDS I 2, 38, vom Jahre 1114, nur im Kopial des 18. Jahrhunderts überliefert; das gleiche gilt für den Erstbeleg von Truskow). Die Urkunde mit dem Beleg Bichin zum Jahr 1137 ist nur in einem Kopial des 15. Jh.s erhalten. Ferner sind einige kleine Versehen zu berichtigen: Der Beleg Trewetzen i. J . 1191 steht im CDS I 2, 392 (nicht 353). Der in CDS I 2,310 mit dem Zeugennamen überlieferte Ort Dewin ist höchstwahrscheinlich nicht mit Döben, Kr. Grimma, identisch. Das in CDS I 3, 42 genannte Corun ist nicht Köhra, Kr. Grimma, sondern Kohren bei Altenburg. Die beiden Erstbelege zu Klein-Pösna gehören nicht zu diesem Ort, Naumann hatte sie vorsichtshalber auch schon in Klammer gesetzt. Immerhin legte die Nennung des gleichen Zeugen im benachbarten Threna (laut Naumann: Kr. Grimma; es handelt sich aber gewiß um Thräna bei Altenburg) eine Identifizierung nahe. Naumann hat den „Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae" für sein Gebiet systematisch durchgearbeitet, und er beschränkt sich auch dann auf das Zitat aus dieser Urkundensammlung, wenn Urkunden inzwischen in neueren Ausgaben mit verbesserter Kritik vorgelegt worden sind. Unter dem Gebot räumlicher Beschränkung muß gewiß gesehen werden, daß die Belege selten im Kontext zitiert werden und zuweilen die Angabe fehlt, wenn es sich um eine Zeugennennung handelt. Bei diesem Quellenbereich vermißt man die Berücksichtigung der in CDS I 1, 151 angeführten Namen O r e c h o v n a , O z n 1 i z a und H a c h e n l o c h , die allein schon wegen ihres Alters (aus dem Jahre 1081!) bedeutungsvoll sind (vgl. dazu Leo B ö n h o f f , im Mutzschener Anzeiger Nr. 126 von 1907). Hinter den Angaben zum Ortsnamen bringt der Vf. die in der Gemarkung liegenden Flurnamen. Am Anfang stehen die lebenden Namen, dann folgen die nicht mehr üblichen mit wertvollen Urkunden- und Archivalienbelegen (wobei hier auf die jeweilige Quellenangabe leider verzichtet worden ist). Den Abschluß bilden besonders wichtige oder abweichende Mundartformen der Flurnamen. Die Forstortsnamen werden revierweise aufgezählt.

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Die wichtigsten und erläuterungsbediirftigsten der zunächst kommentarlos bei den Orten aufgeführten Flurnamen werden S. 239 ff. noch einmal in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt. Dazu gibt der Vf. die Mundartform, bedeutsame Schreibvarianten, sprachliche und sachliche Erklärungen. Letztere beziehen sich auf Lage und Bedeutung des Namens. Hin und wieder werden die Jahreszahlen alter Belege (aber nicht die Quelle selbst!) und Zeichnungen beigefügt, die über Lage und Gestalt des Flurstücks Auskunft geben. Nützlich sind Vergleichsbelege aus anderen (vorwiegend ostmitteldeutschen) Gebieten. Wer die schwierigen Voraussetzungen für die hier vorgenommenen Einzelanalysen kennt, wird dem Vf. hohe Anerkennung zollen: Hinter jedem dieser oft nicht leicht deutbaren Namen steckt eine mühevolle Kleinarbeit, die vom Sammeln bis zum Erklären reicht. Für eine ganze Anzahl wichtiger (insbesondere slawischer) Flurnamen bringt Naumann neue und überzeugendere Deutungen, die über den toponomastischen Bereich hinaus wertvolle Einsichten vermitteln. Es ist nur zu verständlich, daß angesichts des Umfanges dieser Arbeit und der Unsicherheit in der Überlieferung hier mitunter gewisse Lücken geblieben sind. Das voranstehende Ortsregister enthält manchen undurchsichtigen Flurnamen, über den man gern im Erläuterungsteil etwas Näheres erfahren hätte — und sei es nur das Alter des Beleges gewesen. So vermissen wir eine Bemerkung zu dem Wurzener Flurnamen Nelke (Ned~ like), in dem schon Schöttgen 1717 (freilich ohne überzeugende Argumentation) ein Nachleben des Landschaftsnamens Neletici sehen wollte. In den beiden Schlußkapiteln wird die umfassende Namensammlung sprachlich und siedlungsgeschichtlich ausgewertet. Es ist darauf hinzuweisen, daß der Vf. hier nur einige Probleme und Resultate aus der Fülle des Materials herausgreifen konnte. Wichtige Ergebnisse hatte er bereits in mehreren Aufsätzen vorgelegt - nicht zuletzt gewiß aus dem Grund, daß der Druck erst vier Jahre nach dem Einreichen seiner Arbeit abgeschlossen war. Leider verzichtet der Vf. sogar im Literaturverzeichnis auf die Nennung seiner Aufsätze. Das Schwergewicht der Auswertung liegt auf linguistischen Fragen. Für die slawische und deutsche Sprachgeschichte Ostmitteldeutschlands ergeben sich wertvolle Aufschlüsse. Wortschatz und Lautverhältnisse deuten auf niederdeutschen Einfluß in einem Gebiet, das heute ganz im mitteldeutschen Dialektraum liegt. Die Massierung bestimmter niederdeutscher Flurnamen in einzelnen Bereichen darf nicht zu übereilten Schlüssen auf niederdeutsche Siedler verleiten, da die niederdeutschen Flurnamen auch aus dem nördlichen Thüringen und Hessen ins Untersuchungsgebiet gebracht worden sein können. Die Karten 7 und 15 sollen wortgeographische Aussagen vermitteln. Doch zeigt sich an diesen im Buch nicht näher kommentierten Karten mit dem

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eigenwilligen Titel „Linien der Mitte und niederdeutsches Namengut" (vgl. dazu auch die Karten 8 und 16!) die Problematik kleinräumiger Betrachtungsweise. Ergeben sich doch in den beiden behandelten Kreisen nur sehr wenige deutliche Flurnamenabgrenzungen (jedenfalls finden wir im Text nur Trift/Treibe/Leite/ den Hinweis auf Mark/Lacht/Grenze, Oberschar/Folgen, Viehweg auf S. 394). Man gewinnt aus der technischen Gestaltung der Karten 7 und 15 den Eindruck, als habe das gesamte Untersuchungsgebiet (mit gewissen Ausnahmen vor allem südöstlich von Grimma) unter niederdeutschem Einfluß gestanden. Auf diese Fragen hätte in dem zu knapp geratenen Abschnitt über Namengeographie auf S. 393 f. Antwort gegeben werden müssen. Immerhin ist darauf hinzuweisen, daß der Vf. diese Fragen schon in einem Aufsatz „Zu einigen Problemen der Flurnamenforschung in Nordwestsachsen" (Beiträge zur Namenforschung 12, 1961, S. 113 ff.) ausführlicher behandelt hat. Trotz aller Vorbehalte angesichts der relativen Aussagen mundartlicher und namengeographisdier Verhältnisse ließ sich immerhin ermitteln, daß die Siedler des Untersuchungsgebietes vorwiegend aus dem Westen gekommen sind; einzelne Kriterien weisen auf das östliche Thüringen. Das Kapitel über die Siedlungsgeschichte beginnt mit einer Tabelle (S. 395 ff.), die Ort für Ort Aufschluß über die Erstnennung, Ortsform, Flurform und die Verhältnisse des Siedlungsbodens gibt; man vermißt eine Erklärung, was mit den Angaben sl. und dt. in der Rubrik FlN ausgesagt werden soll - die Angabe sl. besagt wohl, daß in der betreffenden Gemarkung neben den deutschen auch slawische Flurnamen vorkommen? Trotz der vielen Wüstungen in den beiden Kreisen, denen gewissenhaft nachgespürt wurde, konstatiert der Vf.: das Siedlungsbild hat sich seit dem späten Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein nur wenig verändert. Das Quellenverzeichnis vermittelt einen Eindruck von der Mühe, die allein schon für die Materialsammlung aufgewendet werden mußte. Dagegen bleibt dem Leser verborgen, welche zeit- und kraftverschleißenden Kundfahrten erforderlich waren, um das noch lebendige Namengut durch die Feldarbeit aufzuspüren. Ein Namenregister von 64 Seiten läßt noch einmal deutlich werden, welche Stoffmassen hier bewältigt worden sind. Die Ausstattung des Bandes ist, am Preise gemessen, solide. Der schwierige Satz ist wie bei den anderen Bänden dieser Reihe sauber gestaltet. Etwas mehr Mühe hätte insbesondere der Verlag der Gestaltung des Kartenteils zukommen lassen können; die Beschränkung der Kartenzahl (von vorgesehenen 28 auf 16) ist zwar aus ökonomischer Sicht verständlich, der Sache ist sie aber sehr abträglich. Aufs Ganze gesehen muß man sagen: Naumanns Arbeit ist mustergültig, was ihre ganze Anlage und was die aus dem reichen Material gewonnenen

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Erkenntnisse angeht. Man wird seiner Untersuchung nicht so bald eine entsprechende Monographie auf dem Gebiet der toponomastisdien Regionalforschung an die Seite stellen können. Nach Naumanns Band, aber noch mit der Nr. 12 der Reihe beziffert, erschien 1963 der zweite Teil von Fleischers oben angezeigter Dissertation. Von ihm ist also erstmals der Versuch unternommen worden, die eigentliche Untersuchung und das Namenmaterial äußerlich getrennt vorzulegen. Der dem Vf. dadurch konzedierte größere Darstellungsraum wird aber nicht so ökonomisch genutzt, wie das bei Naumanns Arbeit der Fall ist. Zur Anlage von Fleischers separat herausgekommenem Namenbuch stellt sich die Frage: Warum wendet er ein — wie wir noch zeigen werden — weithin fragwürdiges Sachprinzip an Stelle des in mikrotoponomastischen Untersuchungen bewährten Verzeichnisses nach Orten an, das mit einem Generalregister versehen den Verweis auf Einzeldarlegungen im Untersuchungsband ermöglicht hätte? So stehen seine Belege isoliert bei den Sachgruppen und erschweren den Blick auf die Verhältnisse in ihrer jeweiligen Gemarkung, oder es müssen immer platzraubende Wiederholungen und Verweise hingenommen werden. Aber selbst dabei reicht der Verweisapparat noch nicht aus, weil die meisten Namen nur unter dem Grundwort aufgeführt werden. Gerade die Kenntnis der Ortslage und der Nachbarnamen eines Flurnamenbeleges ist für die sprachgeschichtliche und siedlungskundliche Forschung wesentlich. Was sollen die langen Aufzählungen der mit den Wörtern Bach, Berg, Busch usw. gebildeten Flurnamen aussagen? Daß es ein Dutzend Seiten ausfüllende Belege mit Weg (S. 222-234) und Wiese (S. 238-249) gibt, kann die wissenschaftliche Erkenntnis kaum weiter führen — und nicht einmal die Regionalforschung hat einen Gewinn von diesen Aufzählungen, weil die räumlichen Zusammenhänge aufgelöst sind. Unter diesen vielen Belegen fehlt es nicht an Zeugnissen, die zwischen nomen proprium und nomen appellativum stehen. Für den Flurnamenforscher erhebt sich immer wieder die Ermessensfrage, ob ein Beleg wie „[Feld] an der Ica" ( = Abkürzung für den Namen eines Industriewerkes; Fleischer II, S. 130) noch als reine Orientierungsangabe okkasionellen Charakters oder schon als Flurname jüngeren Datums zu beurteilen ist. Solche Grenzfälle begegnen uns auch unter Fleischers historischen Zeugnissen: „ein stuke vor der mul gelegen" (S. 158) hat meines Erachtens nodi nicht den Charakter eines Flurnamens. Auch Fleischers Namenbuch profitiert vom team-work der Leipziger Arbeitsgruppe. Es spricht allerdings wenig für wissenschaftliche Redlichkeit, wenn der Vf. bei offensichtlichen Anleihen aus früheren Bänden dieser Reihe jeden Hinweis auf die benutzte Vorlage wegläßt. Dazu einige Beispiele: Eb(i)sche auf S. 67 fußt auf den Ausführungen von Walther, Kreis Rochlitz, S. 173; Kaitz-

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sehe S. 132 (nach Walther, S. 180); Li(e)schke S. 152 (nach Walther, S. 186); Selig S. 186 (nach Walther, S. 194); Semde S. 187 (nach Walther, S. 195); Treisch S. 214 f. (nach Walther, S. 197) usw. Die von Fleischer vorgenommene Namengruppierung ist nicht ohne willkürliche Gesichtspunkte. So führt er eine ganze Anzahl von Flurnamen unter der Rubrik „Sitte und Brauchtum, Sagen usw." auf - man möchte annehmen: aus Verlegenheit, sie unter keiner anderen Rubrik unterbringen zu können. So steht hier ziemlich grundlos Juchhe, das noch einmal bei den „Bodenerhebungen" gebucht wird; die Belege Drescherberg, -feld, -weg sollte man nicht hier aufführen, sondern einer Gruppe mit wirtschaftsgeschichtlichem Aspekt zuordnen - sind doch diese Flurstücke nach den als Saisonarbeiter wandernden Dreschern genannt. Die in der gleichen Rubrik aufgeführten Leichen- und Totenwege gehören zu den kirchengeschichtlichen Flurnamen, bezeichnen sie doch stets Wege, auf denen die Verstorbenen zum zuständigen Kirchhof gebracht worden sind. Auch andere Zuweisungen Fleischers sind undurchsichtig. Was soll z. B. der Bergbauname Morgenröte bei den „Abstrakta"? Fleischers Arbeit berücksichtigt die Erkenntnisse der Siedlungsforschung im Dresdner Gebiet und bringt manchen Aufschluß über bisher ungelöste Fragen, so über die Herkunft des Namens Tharandt. Hingegen konnte er andere Probleme, die bislang von den Historikern nicht aufzuhellen waren, auch nicht von der Namen- und Sprachforschung her klären. So ist auch ihm nicht die vollständige Identifizierung der in Cod.Dipl.Sax.Reg.il, 1, Nr. 32 aus dem Jahre 1071 genannten (Orts-) Namen gelungen; die Verbindung des damaligen Cinici mit dem heutigen Flurnamen Zschon(e) stellt Fleischer mit Recht in Zweifel. Es zeigt sich aber an seiner ganzen Untersuchung wieder deutlich, wie notwendig die gleichzeitige Bearbeitung von Orts- und Flurnamen ist. Durch diese Berücksichtigung des ganzen toponomastischen Materials lassen sich umfassendere Erkenntnisse für die Sprach- und Siedlungsgeschichte gewinnen. Demgegenüber fällt die als Nr. 15 der Reihe schon etwas früher erschienene Arbeit von Albert Richter „Die Ortsnamen des Saalkreises" (1962,143 Seiten) bedeutend ab. Richter ist Schüler von Rudolf Fischer, der jetzt den Leipziger Arbeitskreis leitet und zusammen mit Theodor Frings diese Reihe herausgibt. Richters Untersuchung krankt daran, daß der Vf. für ein Gebiet mit überwiegend deutschen Namen nur mit einer slawistischen Ausbildung ausgerüstet war. Selbst auf dem Gebiet seiner engeren Fachdisziplin ist er stark unterstützt worden: Hier hat ihm vor allem Ernst Eichler fachkundig zur Seite gestanden. Die Klärung von Fragen aus der deutschen Sprachgeschichte

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verdankt der Vf. im wesentlichen einigen Leipziger Germanisten. Die Wüstungen seines Untersuchungsgebietes hat der Historiker Hans Walther für diesen Band bearbeitet; hierbei vermißt man genaue Lokalisierungsangaben, wie sie in den anderen Bänden der Reihe vorbildlich durchgeführt worden sind. Mithin ist Richters Arbeit nicht aus einem Guß, was man doch von einer gar nicht so umfangreichen Dissertation hätte erwarten dürfen. Audi fehlt ihr weitgehend der Systemcharakter, der bereits in der Untersuchung der Namen des Kreises Leipzig (Nr. 8 dieser Reihe) musterhaft aufgestellt worden ist. Einige wichtige Quellen sind in der Arbeit nicht berücksichtigt worden. Unter den für das Gebiet bedeutenden Kartenwerken vermißt man die in den Jahren 1816 bis 1824 angefertigte sogenannte Deckersche Kabinettskarte im Maßstab 1:25 000, die neben den Provinzen Brandenburg und Schlesien auch die Provinz Sachsen und das ehem. Herzogtum Anhalt erfaßt hat. Die in den Beständen der ehem. Preußischen Staatsbibliothek aufbewahrte handschriftliche Karte (Sign. N 1036) bringt neben den Orts- und Wüstungsnamen auch die Gewässer- und Flurnamen. Dieses Kartenwerk ist auch nicht für die Untersuchungen von Freydank und Eichler herangezogen worden. In Richters Arbeit ist die Lautlehre völlig unübersichtlich behandelt worden, so daß man die Entwicklung der Namen in deutschem Mund kaum verfolgen kann. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Vf. an Stelle einer systematischen Darlegung der in den Namen auftretenden Lautverhältnisse nur einige Erscheinungen herausgegriffen hat, die weniger problematisch sind. Das zeigt sich schon bei der unterschiedlichen Behandlung der ersten drei Ortsnamen. Die verhältnismäßig unkomplizierten Lauterscheinungen in den Namen Ammendorf und Bobitz werden analysiert, während man bei Baweritz eine Erklärung des fehlenden -d— vermißt, das auch in der Beschreibung des altsorbischen d auf S. 112 keine Berücksichtigung findet. An philologischen Versehen mangelt es bei ihm nicht. So fehlt bei dem Ortsnamen Neutz (S. 108 unter altsorb. u) der Hinweis auf die Entrundung in der Dialektform; vorher war der Name nur in anderem Zusammenhang zitiert worden. Ferner sind dem Vf. Ungenauigkeiten bei der Bezeichnung lautlicher Phänomene unterlaufen: Auf S. 10 handelt es sich nicht um den Verlust der Flexionsendung, sondern um eine Assimilation mit Kontraktion. Auf S. 115 konstatiert Richter, daß im Namen der Wüstung Dudendorf die Diphthongierung unterblieben sei; dabei übersieht er, daß dieser Name letztmalig 1398/99 überliefert ist. Hingegen bleibt bei Wieskau ( < Vysok-) unberücksichtigt, daß hier ein undiphthongierter Name in dem Gebiet erhalten geblieben ist, das sonst die Diphthongierung durchgeführt hat. Andererseits

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HERBERT WOLF

muß man Bedenken erheben, wenn Richter die heutigen Ortsnamen Lettin, Oppin, Wettin als Beispiele für undiphthongierte Formen anführt. Der Vf. übersieht dabei die Frage, wann und wo der sogenannte „freie" Akzent im Slawischen sich auf die Schlußsilbe gelegt hat. Auf S. 109 der Arbeit bleibt uns Richter die Argumente für eine Längung des -in schuldig. Ernst Eichler hat mit Umsicht und Sachkenntnis die Probleme der Akzentverlagerung deutscher Namen slawischer Herkunft angefaßt. Im Zusammenhang mit den altsorbischen Bewohnernamen auf -jane und unter Hinweis auf Ortsnamen wie Glesien, Werbelin, Zschepplin hat er eine erste grobe Raumverteilung festgestellt: „Im Norden herrscht fast ausnahmslos Pänultimakzent, im Süden Initialakzent." Die räumliche Differenzierung ergibt sich daraus, „daß wir bei der Untersuchung der Eindeutschung dieser Endung und ihrer Weiterentwicklung im deutschen (mitteldeutschen und niederdeutschen!) Munde keinesfalls mit überall ein und derselben phonetischen Grundlage rechnen können" (Slavia R. X X X I , 1962, S. 362 f.). Der als Nr. 14 erschienene Band von Dietrich Frey dank „Ortsnamen der Kreise Bitterfeld und Gräfenhainichen" (1962, 157 Seiten) ist weit zuverlässiger als die Richtersche Arbeit gestaltet. Man merkt dieser Untersuchung, die außerhalb des Leipziger Arbeitskreises entstand und 1957 als Dissertation in Halle eingereicht worden war, die gründliche Betreuung durch den Germanisten Karl Bischoff (jetzt in Mainz) und den Slawisten Eugen Häusler an. Demzufolge legt Freydank das Schwergewicht auf philologische Fragen. Durch die Beschränkung auf die Ortsnamen sind den sprachlichen Ermittlungen aber von vornherein Grenzen gesetzt, z. B. werden „Probleme der sorbischen Sprachgeschichte, die sich nicht unmittelbar aus den behandelten Ortsnamen ergeben, . . . nicht erörtert" (S. 9). Infolge der schmalen Materialgrundlagebleiben ferner wichtige Erscheinungen der deutschen Sprachgeschichte außer Betracht. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob es sinnvoll ist, so kleinräumig angelegte Monographien über toponomastisches Material auf der Basis von Orts- o d e r Flurnamen allein zu behandeln. Von der arbeitsökonomischen Seite her sieht da so aus: Frey dank stützt sich auf 212 Orts- und Wüstungsnamen, Richter auf 271 Orts- und Wüstungsnamen, Naumann auf 306 Ortsund Wüstungsnamen sowie auf etwa 15 000 Flurnamen. Dabei sind alle genannten Arbeiten als Dissertationen angefertigt worden! Wenn man außerdem davon ausgeht, daß die Sammlung der (historischen) Belege von Orts- und Wüstungsnamen im Vergleich mit den Flurnamen kaum mühevoller ist, sollten schon in Blick auf die größere Auswertungsmöglichkeit bei umfassenderer Materialgrundlage toponomastische Dissertationen entweder ein viel größeres

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Gebiet mit Ortsnamen allein, oder kleinere Gebiete mit dem ganzen örtlichkeitsnamenschatz aufarbeiten. Vom Leipziger Arbeitskreis ist das zuletzt genannte Forschungsprinzip mehrfach mit gutem Erfolg verwirklicht worden. Die oben zitierten Dissertationen von Walther, Fleischer und Naumann haben gezeigt, welche nützlichen Ergebnisse und brauchbaren Anregungen aus den versdiiedenen Vergleichen von Orts- und Flurnamen resultieren können. Wir möchten die Mitarbeiter dieses Arbeitskreises ermuntern, nach den genannten Modellen ihre Tätigkeit fortzusetzen.

HERMANN WEBER

LEHREN AUS DER GESCHICHTE BETRACHTUNGEN ZU E I N E R FRANZÖSISCHEN DER JÜNGSTEN DEUTSCHEN

DARSTELLUNG

VERGANGENHEIT1

„Frankreich hat Probleme, Deutschland ist ein Problem." Dieser Satz, mit dem Gilbert Badia seine zweibändige Untersuchung einleitet, kennzeichnet seine Fragestellung. Deutschland als „Land der dauernden Umwälzungen", das deutsche Volk als ein Volk „auf der immerwährenden Suche nach seiner Stabilität", dieser Unruheherd im Herzen Europas, der seine Nachbarn und die ganze Welt in seine Katastrophen hineinzuziehen drohte (I, S. 7) — das ist nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Problem. Man wird darum mit besonderem Respekt und Interesse einen Versuch zur Kenntnis nehmen, der in einem von diesem deutschen Problem in besonderer Weise betroffenen Land unternommen wurde, um auf die Frage nach diesem unheimlichen Deutschland eine historische A n t w o r t zu geben. Denn das und nichts anderes will der Agrégé d'histoire Badia. Nicht die Frage des „ W a r u m " steht nach seiner eigenen Aussage bei diesem Versuch im Vordergrund, sondern lediglich die Frage nach dem „ W i e " des Ablaufes (I, S. 8). „Unsere erste Sorge ist es, die Tatsachen zu berichten, die Ereignisse so objektiv und so vollständig wie möglich darzustellen" (I, S. 9). Das Vorwort liefert neben Fragestellung und methodischen Prinzipien auch bereits einen Überblick über die entscheidenden Linien, die der V f . in der deutschen Geschichte der neuesten Zeit aufgefunden hat. 1918, 1933, 1945 und 1949 sind für ihn jeweils die Geburtsjahre eines neuen deutschen Staates, der, bis auf eine Ausnahme, nie die Bürde seiner Vergangenheit überwinden konnte. Was sich als durchgängiger Zug zeigt, ist die Tatsache, „daß allzu lange die humanistische und progressistische Strömung erstickt worden ist, die die ganze deutsche G e schichte durchzieht, von den Bauernkriegen bis zur Aufklärung, von Thomas Müntzer bis zu Lessing, von der Märzrevolution bis zur Deutschen Demokratischen Republik, von Heine und M a r x bis zu Thomas Mann und Bertolt Brecht" (I, S. 8). Wenn diese Entwicklung vor allem auf Kosten der deutschen Arbeiterklasse ging, so fällt die Verantwortung hierfür in erster Linie der deutschen Sozialdemokratie zu (I, S. 8). Badia sagt, daß sein Buch für manchen Leser vielleicht eine Entdeckung sein werde (I, S. 9). In der T a t , das Vorwort ist vielversprechend. Wenden wir uns den nächsten 700 S. zu. Wie verlief nach Badia die jüngste deutsche Geschichte? Die deutsche Einheit, die bereits in der Reformation zum ersten Male gescheitert war, kam 1871 ohne Willen der liberalen Bourgeoisie und der Arbeiterklasse allein durch Bismarck, Moltke und deren Freunde zustande (I, S. 13). D e r wirtschaftliche Aufschwung des Zweiten 1

Gilbert B a d i a : Histoire de l'Allemagne contemporaine ( 1 9 1 7 — 1 9 6 2 ) . 2 Bände. Paris

(Editions Sociales) 1962. 342 u. 399 S.

L E H R E N AUS DER

GESCHICHTE

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Reiches führte in die imperialistischen Ambitionen der „Weltpolitik", die „gute deutsche Gesellschaft" — Bürgertum und Adel — war erfüllt von dem pangermanistischen Credo (I, S. 32), und so glitt Deutschland in den 1. Weltkrieg (Badia betont ausdrücklich, daß Berlin den Krieg nicht um jeden Preis wollte. I, S. 43). Die Reden Wilhelms II., die Vorträge des Alldeutschen Verbandes, die Wagneropern und die Vorlesungen Treitschkes, schließlich auch die Bilanzen der Industrie bestimmten die Kriegsstimmung, die über Bürger und Junker hinaus auch weite Teile des Volkes erfaßte (I, S. 51). Daß letzteres möglich wurde, war bereits ein Ergebnis des Versagens der revisionistischen Sozialdemokratie, die statt der Revolution die parlamentarische Demokratie gewählt und sich den kapitalistischen Interessen soweit angepaßt hatte, daß auch sie die imperialistische Expansion unterstützte mit einer besonderen Spitze gegen die russische Gefahr (I, S. 31—39). Von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften her erfuhr die während des Krieges stets weiter nach links gleitende Masse denn auch keinerlei Förderung in dem Versuch, die deutsche Regierung durch die Machtmittel der Masse zum Frieden zu zwingen. Die russische Oktoberrevolution ließ zwar „in den deutschen Massen eine unendliche Hoffnung aufkeimen" (I, S. 84), und inzwischen hatte sich auf der Linken der Sozialdemokratie in den Spartakisten auch ein Kern gebildet, „wo die einzigen konsequenten Verteidiger der Oktoberrevolution" zu finden waren (I, S. 90). Nun aber wurden die deutschen Revolten im Herbst 1918 bereits mit antibolschewistischer Propaganda abgestoppt (I, S. 103). Die Novemberrevolution schließlich, „Frucht einer Aktion von mehr und mehr wachsenden Massen" (I, S. 104) und geführt von den „hellsichtigsten und konsequentesten Revolutionären" (I, S. 105), ging „im Blut von tausenden deutscher Proletarier unter" (I, S. 107). Die deutsche Sozialdemokratie Hatte sich auf die Seite der reaktionären Kräfte gestellt und gerade angesichts der Entwicklung in Rußland wurde „der Kampf gegen den Bolschewismus, das heißt gegen die Revolution, die dominierende Idee der deutschen Bourgeoisie, der Militärs, aber auch der Sozialdemokratie" (I, S. 11). So aber bereitete das Scheitern der Novemberrevolution das Aufkommen Hitlers 15 Jahre später vor (I, S. 107). Mit der Bildung der Kommunistischen Partei Deutschlands Ende 1918 „bestand dann endlich in Deutschland eine Partei, die daranging, die Einheit der Arbeiterklasse auf revolutionärer Basis zu verwirklichen" (I, S. 128). Aber dieses Ziel wurde auch während der Weimarer Republik nicht erreicht. Das lag zunächst einmal an der Weimarer Verfassung, die „in keiner Weise den Arbeitermassen ihren Platz einräumte und jener ureigenen Form der Arbeitervertretung, nämlich den Arbeiterräten, keinerlei Rechnung trug" (I, S. 154). Aber es lag vor allem an der Tatsache, daß diese ganze Weimarer Republik einschließlich der Sozialdemokratie durchtränkt war von Antikommunismus, so daß die Versuche der KPD, durch eine Erhebung der Massen eine Änderung herbeizuführen, selbst in den ganz großen wirtschaftlichen Krisenjahren zu keinem Erfolg führten. Zwar radikalisierten sich die Massen mehr und mehr, aber gegenüber der K P D entstand der Nationalsozialismus, der in dem nationalistisch und militaristisch bestimmten Klima des Nachkriegsdeutschland (I, S. 264) mit demagogischen Parolen des Antimarxismus, Antisemitismus und Antikapitalismus, mit brutalen Terrormethoden sowie mit der Unterstützung eines Teiles des Staatsapparates und den Geldern eines Teiles der Großindustrie (I, S. 273) die mehr und mehr abbröckelnde Weimarer Republik in die Diktatur des Dritten Reiches überführte. Bis zuletzt weigerte sich die SPD, zum Massenkampf gegen die faschistische Gefahr aufzurufen; sie zog das nationalsozialistische Experiment dem Zusammengehen mit der K P D vor (I, S. 306). „Hitler hatte verstanden, daß nach 1917 die Zeit der Kabinettspolitik vorbei und die Zeit der Massenpolitik gekommen war" (II, S. 69), und er hatte die Massen an sich zu ziehen gewußt. Im Grunde jedoch war der Hitlerismus nur „eines der Mittel der Bourgeoisie, das aber seine Besonderheiten, seine Methoden, seine eigene Taktik besaß" (II, S. 72). Mit seiner Demagogie

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„machte er aus diesen Massen das unbewußte Instrument der Ziele der deutschen Großbourgeoisie, indem er ihnen die Verwirklichung des Sozialismus, seines Sozialismus versprach" (II, S. 69). Dem Polizeistaat gegenüber gab es keinen wirklichen Widerstand, weder von Seiten der in bürgerlichen, militaristischen und antikommunistisdien Ideologien verstrickten Rechten noch von der heroischen, aber die Masse nicht mehr erreichenden Linken (II, S. 58—63, 191—206). Er muß in seiner eigenen imperialistischen Katastrophe untergehen, um so den Weg für eine neue friedliche und demokratische Entwicklung Deutschlands zu öffnen. Die K P D hatte bereits 1939 in Bern das Programm des zukünftigen Deutschland festgelegt (II, S. 111—114), freilich konnte es nach 1945 nur in einem Teil Deutschlands verwirklicht werden: Was 1939 vorgesehen wurde, ist in der „DDR" erreicht worden: Der Faschismus ist ausgerottet, mit den kapitalistischen Trusts ist ihm die Basis genommen, Armee, Polizei und Verwaltung sind die sicheren Garanten der demokratischen Freiheiten geworden, zusammengeschlossen in einer Volksfront, entscheidet die geeinte Arbeiterklasse gemeinsam mit der Bauernschaft, den mittleren Klassen und den Intellektuellen über das Schicksal der Nation. So hieß es 1939 und so wurde es in der „DDR" ab 1945. Damit ist wenigstens in einem Viertel des alten Reiches ein Deutschland entstanden, „das heute seine Nachbarn nicht mehr beunruhigt" (II, S. 364). Weniger günstig ist die Entwicklung, die der andere Teil Deutschlands genommen hat. Was sich hier unter dem Einfluß eines antisowjetischen westlichen Kapitalismus herausbildete, „die im Vatikan gezeugte und in Washington geborene Bundesrepublik" (II, S. 297) war im Grunde eine Fortsetzung der Weimarer Republik, nuanciert durch das Fortleben nationalsozialistischen Geistes. 1945 wäre noch alles möglich gewesen. Wieder war es die SPD, die der K P D nicht die H a n d reichte, so daß nicht die Masse der Arbeiter, sondern das Bürgertum mit der Unterstützung von Industrie und Kirche und der Förderung der westlichen Besatzungsmächte einen Staat aufbauen konnte, der die alten Geleise befuhr und mit antikommunistischen und nationalsozialistischen Elementen eine offizielle Staatsideologie entwickelte (II, S. 322 f.). Hiergegen konnte sich keine „konsequente und organisierte Massenopposition" mehr entwickeln, weil die öffentliche Meinung allmählich erstickte (II, S. 324), vor allem auch seit dem Verbot der K P D (II, S. 308—312). Allerdings fand die K P D auf Grund der politischen und wirtschaftlichen Erfolge der BRD kein günstiges Terrain für ihre Propaganda vor (II, S. 312). Denn diese wirtschaftlichen Erfolge gibt es (II, S. 326—336), es gibt auch keine Arbeitslosigkeit mehr und es besteht ein sogenannter sozialer Friede (II, S. 334) — aber: eine Reform der Strukturen hat nicht stattgefunden (II, S. 332), es geht den Leuten lediglich gut. Anders im Osten. Dort sind die Strukturen grundlegend geändert worden, und darum ist der dortige wirtschaftliche Aufstieg, der ja wegen der Umformung der Strukturen unter ungleich schwierigeren Voraussetzungen stattfinden mußte, „das wirkliche Wirtschaftswunder", wie Badia sogar durch eine Kapitelüberschrift (II, S. 350) hervorhebt. Dort nämlich war der wirtschaftliche Aufstieg „nicht ohne die aktive Beteiligung der Mehrheit der Arbeiter möglich" (II, S. 360). Und dann gibt es in der BRD die Wiederbewaffnung und die territorialen Forderungen. Alleine kann zwar der deutsche Imperialismus keine Gefahr mehr bilden, aber er ist mit dem Imperialismus der USA verbündet, und „weil die Bundesrepublik das einzige Land ist, das die Welt nicht so akzeptiert, wie sie ist" (II, S. 367), kann sie eines Tages die Explosion auslösen. So weit so gut. Badia hatte versprochen, die Geschichte Deutschlands seit 1917 so objektiv und so vollständig wie möglich zu schreiben, damit man verstehen kann, wie alles gekommen ist, und damit also eine Antwort findet auf die Frage, die das Problem „Deutschland" der Welt stellt. Seine Untersuchung wimmelt von einem ganz bestimmten Vokabular, sie verrät eine klare ideologische Neigung, aber sie ist deswegen nicht ohne wissenschaftliches Bemühen, wenn man den reichhaltigen Anmerkungsapparat, die eingehenden wirtschaftlichen und soziologischen

LEHREN

AUS D E R

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GESCHICHTE

Analysen, die strenge Linienführung bei der Darstellung eines so komplexen Gegenstandes und schließlich die Bibliographie in Rechnung zieht (die gemäß der Vorbemerkung I, S. 331 deswegen den Schwerpunkt auf ostdeutsche Veröffentlichungen legt, weil diese in der westdeutschen Literatur vernachlässigt werden). Aber statt uns nun in eine Polemik um Einzelfragen, Unrichtigkeiten, Auslassungen usw. einzulassen, wollen wir uns lieber nur mit dem grundsätzlichen Resultat dieser historischen Untersuchung beschäftigen und damit mit der Lehre, die dementsprechend aus der deutschen Geschichte der jüngsten Vergangenheit zu ziehen ist. Resultat und Lehre der Badiaschen deutschen Geschichte ist, daß sich die unruhige Suche des deutschen Volkes nach seiner Stabilität seit 1917 stets zwischen den Extremen des Kommunismus (als Inbegriff des Fortschritts und des Humanismus) und eines reaktionären kapitalistischen Bürgertums mit zumindest potentiell faschistischer Prägung hin- und hergerissen sah und sieht. Das ist die deutsche Alternative. Die Weimarer Republik führte von der extremen Möglichkeit einer kommunistischen in die extreme Wirklichkeit einer faschistischen Revolution, in der „ D D R " wurde das faschistische System durch ein kommunistisches abgelöst, in der B R D und hinter der B R D dagegen lauert immer noch und schon wieder der Faschismus. Unsere Frage diesem Ergebnis und dieser Lehre gegenüber lautet: Ist das ein historisches also eine aus der Betrachtung der Geschichte

Resultat, und ist es

gewonnene Lehre, daß alles, was in den deutschen

Umwälzungen nicht kommunistische Lösung wird, faschistische Lösung werden, faschistischer Lösung ähneln oder faschistische Lösung vorbereiten muß? W i r wollen bei dieser Frage peinlich genau im Rahmen von Badias Untersuchung bleiben und uns ausschließlich auf die Fakten stützen, die er beibringt. Betrachten wir zunächst seine Darstellung des Dritten Reiches. Die besten Seiten seines Buches befinden sich in diesen Kapiteln. Mit großartigem Einfühlungsvermögen — und auf Grund eigener Anschauung, denn Badia hatte mehrere Monate im Nazideutschland verbracht — wird die Einbeziehung des deutschen Volkes in die Nazidiktatur beschrieben und dabei die Methoden aufgeführt, die angewandt wurden: biedermännisches Legalitätsgetue, demagogische Vergiftungspropaganda, uniformierte Durchorganisierung der Massen, Fanatisierung durch Erfolgsmanifestationen, die dämonische Psychologie des Antisemitismus, schließlich blutigster Terror usw. Glänzend ist die erstickende Atmosphäre hinter der strahlenden Fassade dieses Polizeistaates gezeigt (vor allem I I , S. 6 4 - 7 2 , 8 8 - 9 2 ) und sehr gut differenziert die Verantwortung des deutschen Volkes beurteilt ( I I , S. 72). So war das Dritte Reich. Was aber nun völlig an seiner Wirklichkeit vorbeigeht ist der Versuch, den Hitlerismus als ein Mittel des Bürgertums zu interpretieren und ihn den kapitalistischen Systemen zuzuordnen ( I I , S. 69, 72). Es ist weder ein Argument, wenn man bei wahlsoziologischen Untersuchungen einen bestimmten bürgerlichen Anteil feststellen kann, noch wenn Großindustrielle im Dritten Reich verdienten, noch wenn Militärs im nationalsozialistischen Imperialismus ihre Stunde nahen sahen. Entscheidend ist, wer wen bewegte. Gewiß waren bürgerliche Parteien Steigbügelhalter des Nationalsozialismus, gewiß sahen Teile des Bürgertums und der Industrie in Hitler den Retter vor dem Kommunismus, gewiß behielt das Dritte Reich zunächst eine kapitalistische Wirtschaftsstruktur bei, um sich deren Leistungsfähigkeit zu bedienen. Aber ebenso wie sich die staatliche Planwirtschaft mehr und mehr der privaten Initiative bemächtigte, so daß die Kriegsindustrie schließlich — wie Badia selbst I I , S. 171, feststellt — schon ein Staatsmonopol wurde, ebenso ging der Nationalsozialismus seit der „Machtergreifung" an eine Umformung der sozialen und politischen Strukturen des deutschen Volkes heran. Der „Spießbürger" stand ebenso wie der „Plutokrat" im Visier. Die frühere Klassengesellschaft wurde nun durch das „ V o l k " ersetzt, das keine soziale, sondern eine mystische Größe wurde, die früheren Strukturen wurden abgelöst durch die Strukturen der Partei und ihrer Organisationen, denen kaum ein „Volksgenosse" noch entgehen konnte. Hitler ein Mann der Bourgeoisie? Hitler war der Mann der Masse. Sein Erfolg beruhte einzig und allein 18

Jahrbudi 12

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H E R M A N N WEBER

auf seiner Meisterschaft, die Masse zu einem Block zusammengeschmiedet zu haben, der sie zu einem ausgezeichnet funktionierenden Objekt machte. Und während dieser Masse einhypnotisiert wurde, daß der „Staat der Arbeiter der Stirn und Faust" sie selbst sei, daß das „Reich" die Frucht des „Volkes" darstelle und daß sich das „Volk" in seinem „unbekannten Soldaten Adolf Hitler" seinen eigenen „Führer" geboren habe, ging in Wirklichkeit jegliche Initiative von der Spitze aus: im Plan, in der Propaganda, in der Organisation, im Terror. Und so entstand dieses doppelte Gesidit des Polizeistaates, wie Badia es so gut kennzeichnet: jene Fassade von siegestrunkenen Aufmärschen und blutroten Fahnen, von strahlenden Augen und ausgestreckten Händen, von Heil-schreienden Massen in stolzen Uniformen, von Säulenhallen, Reichsautobahnen, KdF-Schiffen, Siedlungshäusern und 99% igen Abstimmungsergebnissen — und dahinter die Atmosphäre des „Etouffement", des „deutschen Blickes", des verlogenen und verängstigten „Mitlaufens", des Rückzugs in die innere oder äußere Emigration, des stummen oder mitunter auch sich verschwörenden Hasses, eine Atmosphäre schließlich, in die bisweilen ein Todeshauch aus Zonen des Grauens strich, die gleidi der Hölle als wirklich-unwirklicher Abgrund „jenseits" des Lebens zu existieren schienen. Wer das Dritte Reich unbefangen betrachtet in seiner Struktur, seinen Methoden, seinen Zielsetzungen, der wird es niemals der Welt der Bürger und der Kapitalisten zuordnen, sondern der wird in ihm eine spezifische Form der Massenaktion, der Massenstrukturierung und der Massenbeherrschung erblicken. Ein solches Urteil ist keine ideologische, sondern eine gesdiichtsphänomenologische Aussage. Jawohl, „Hitler hatte verstanden, daß die Zeit der Massenpolitik gekommen war" (II, S. 69). Betrachten wir sodann, um die Richtigkeit der Alternativ-These Badias zu überprüfen, den kommunistischen Staat der „ D D R " . In Badias Augen ist die „DDR" die Erfüllung der progressistisdien und humanistischen Entwicklung der deutschen Geschichte, insofern sie der Staat des Volkes, der Volksmassen wurde. Wie stellt sich bei Badia dieses Verhältnis zwischen Masse und Staat in der „ D D R " im einzelnen dar? Zunächt konstatiert er, daß zu Beginn dieser Staatsgründung von einer spontanen Zustimmung der Massen zu diesem Staat keine Rede sein konnte. Die Einrichtung eines Regimes sozialistischen Typs war nicht möglich, weil die Voraussetzungen wohl objektiv bestanden hätten, „subjektiv aber war die Arbeiterklasse nicht bereit, den Sozialismus einzuführen". Man mußte sie erst erziehen (II, S. 275). So war die Lage 1945, und drei Jahre später war man immer noch nicht sehr viel weiter gekommen. Audi da konnte W. Pieck den Massen noch nicht eingestehen, daß die Aufgabe der SED die Schaffung einer Volksdemokratie sei, was, wie Badia ausdrücklich erklärt, eine bloß taktische Position war (II, S. 275). Man brauchte, wie II, S. 349 beschrieben wird, insgesamt drei Erziehungsetappen, um das Ziel, den sozialistischen Staat, zu erreichen. Noch 1953, nach dem 17. Juni, zeigte sich die Notwendigkeit, „größere Schichten für die Politik des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus zu gewinnen" (II, S. 302, Anm. 3). Zwar konnte die dritte Etappe 1958 anheben, und auch die Wahlerfolge hatten sich inzwischen längst gebessert (1949 gab es eine für Badias Begriffe „ziemlich starke" Opposition von 34 % gegen die Einheitslisten, — II, S. 292 — während 1950, 1954 und 1958 99 % Jastimmen abgegeben wurden — II, S. 346), aber 1961, also nach 16 Jahren, erwies es sidi doch noch als nötig, durch eine „radikale Maßnahme" „den Möglichkeiten Westdeutschlands ein Ende zu machen, von West-Berlin aus den Aufbau des Sozialismus zu stören" (II, S. 317). So zart war also das Pflänzdien der Arbeitermasse immer noch, daß es den westlichen Wind nicht vertrug. Dabei waren bis dahin schon 3 Millionen Menschen aus dem sozialistischen Staate abgezogen, d. h. die unzuverlässigsten Elemente, die sich nicht von politischen, sondern von rein materialistischen Beweggründen bestimmen ließen (II, S. 348, Anm. 3). Und der Hitlerismus war durch die gründliche Entnazifizierung aus den Köpfen vertrieben, vor allem bei Bauern und Arbeitern (II, S. 250 f.). Dennoch bestand zugestandenermaßen die Gefahr, daß ohne die Errichtung einer

L E H R E N AUS DER G E S C H I C H T E

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„Staatsgrenze" in Berlin (in Anm. 2, S. 317, Bd. II, die zunächst die Grenzgänger behandelt, erfährt man im letzten Satz, daß diese Staatsgrenze die Form der „berühmten Mauer" besitzt) diese Auswanderungsbewegung nicht aufgehalten werden konnte. — Und dennoch gab es die 99%-Abstimmungsergebnisse. Was man also zum wenigsten sagen kann ist doch dies, daß diese 99%ige Zustimmung keinen absoluten Aussagewert besitzt für das Verhältnis zwischen Masse und Staat in der „DDR". Betrachten wir weiterhin mit Badia, wie dieses Verhältnis zustande kam, wie es erhalten und gefördert wurde und wird. Nach Badia gibt es hier zunächst einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Ost und West. Im Westen „erleichtern Veränderungen im Kollektivbewußtsein die Veränderungen der politischen Strukturen" (II, S. 278). Und die Herausbildung demokratischer politischer Strukturen erfolgt im Westen von unten her, von den partikularen Gewalten aus (II, S. 251). Im Osten ging man genau umgekehrt vor. Hier wurden zuerst die sozialen und politischen Strukturen umgeformt. Drei große Strukturumformungen gab es bisher. 1. Die Agrarreform. „Es ist evident", so erläutert Badia, „daß diese Reform mehr politischen als wirtschaftlichen Sorgen entsprach, es ging darum, die soziale Struktur des Landes umzuändern, die Bauern an das neue Regime zu binden" (II, S. 241). Die Infrastruktur sieht so aus, daß zur technischen Unterstützung der Neubauern die „Vereinigungen der gegenseitigen Bauernhilfe" gegründet wurden, die am 1.10. 1947 in 96 % der Gemeinden bestehen. „In diesen Organisationen hatten sich die Mitglieder der SED eine vorherrschende Stellung gesichert" (II, S. 241), und das gleiche gilt nachher für die M. A. S. und die verstaatlichten Domänen: „Sie bilden Stützpunkte der Arbeiterparteien auf dem Lande, um die konservativen, sprich reaktionären Tendenzen zu bekämpfen, die sich bei den wohlhabendsten Bauern bemerkbar machen" (II, S. 241, Anm. 3). Die politische Auswirkung dieser Reform faßt Badia so zusammen: „Sie veränderte die soziale und politische Struktur des deutschen flachen Landes radikal, das aufhört, eine reaktionäre Basis zu sein. Bei den Gemeindewahlen von 1946 erhalten die Kandidaten der SED, der Haupttriebkraft der Reform, 58 % der Stimmen in der Gesamtzone und 66 % in Mecklenburg, einer überwiegend landwirtschaftlichen Provinz mit dem höchsten Anteil von Neubauern" (II, S. 242 f.). 2. Die Verstaatlichung der Industrie. Ihr ging eine Enteignung voraus, „eine politische, nicht rechtliche Maßnahme" (II, S. 270), bei der nicht die Wichtigkeit des Betriebes, sondern die politische Haltung des Besitzers das entscheidende Kriterium bildete (II, S. 271), und die durch große Propagandaaktionen vorbereitet wurde (II, S. 270 f.). Badia informiert in großen Zügen auch über die Infrastruktur dieser Umformung. Wir erfahren, daß bereits vor der Verstaatlichung Betriebsräte gebildet worden waren, von denen viele „bald der öffentlichen Gewalt die Sorge um die Abgrenzung ihrer Tätigkeit und die Festsetzung der Betriebsstatuten überließen" (II, S. 269). Eine wichtige Rolle spielte dann der neugegründete FDGB sowohl bei der Verstaatlichung selbst als auch nachher innerhalb des „volkseigenen" Betriebes. Entsprechend der neuen Struktur hatte die Gewerkschaft hier ja nicht mehr die klassische alte Funktion. So arbeitet der FDGB also bei der Aufstellung des Plans, bei der Festsetzung der Normen und Löhne sowie bei der Leitung des Betriebes mit (II, S. 360, Anm. 5). Er wird so das Organ, das die Impulse des Staates zur Aktivierung der Produktion an die Arbeiterschaft heranträgt. Dabei ergab es sich, daß die Gewerkschaftsfunktionäre (30 000 hauptamtliche gibt es laut Badia) eine Reihe von Sonderrechten und Sonderstellungen in den Betrieben erlangten, und die Gewerkschaften sich so insgesamt von den Massen lösten, statt ihre Interessen zu vertreten. Badia zitiert und kommentiert entsprechende Äußerungen Grotewohls und der „Tribüne" (II, S. 302, Anm. 1). — Wie steht der Arbeiter selbst in „seinem" Betrieb? Er befindet sich bis zum Sommer 1947 in völliger Abhängigkeit als Naturallohnempfänger (II, S. 273), wird dann durch Normen und Aktivistenprämien zu höherer Leistung angespornt, wobei Partei und Gewerkschaft die treiben18*

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den Kräfte sind, bis sidi dann die von der S E D vorgeschlagene und vom Staat gesetzlich vorgeschriebene Normenerhöhung um 10 % vom Mai 1953, „die für eine ziemlich große Anzahl von Arbeitern sich als Lohnerniedrigung darstellt" ( I I , S. 302), zur Revolte führt. Das aber heißt — und muß von Partei und Staat zugestanden werden — , daß sieben Jahre nach der U m formung der politischen und sozialen Struktur der Industrie die Masse der Arbeiter sich von diesen Strukturen ausgebeutet fühlt und aus eigener Initiative, also ohne Zuhilfenahme dieser Strukturen, ihre Interessen wahrzunehmen sucht. Der „neue Kurs", der von Partei und Staat daraufhin angestrebt wird, zeigt sich u. a. darin, daß „die Verantwortlichen von Partei und Gewerkschaft aufgefordert werden, ihre Verbindung zu den Massen enger zu gestalten" ( I I , S. 303, Anm. 3). Der Revolte der Basis gegen die Hierarchie folgt eine Verstärkung der Hierarchie gegenüber der Basis. Die Bindung des Arbeiters an das Regime auf Grund der Reformen der sozialen und politischen Strukturen in der Industrie wird eben durch den Funktionär des Regimes gewährleistet. 3. Die Kollektivierung der Landwirtschaft. Sie ist, wenn man Badias Darstellung folgt, in mehrfacher Weise interessant. Hier haben wir ja jenen Teil der Masse, der zum ersten Male in den Genuß der Strukturreformen gelangt war. Diese Reformen waren nicht aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt, so kann man die Agrarreform natürlich auch nicht dafür verantwortlich madien, daß die Landwirtschaft zurückblieb. Aus wirtschaftlichen Gründen mußte darum 1960 eine neue radikale Maßnahme getroffen werden. „Die öffentliche Gewalt beschloß, die Bewegung [ = Kollektivierung] zu beschleunigen. Ein großer Propagandafeldzug wurde unternommen, um die Einzelbauern zu überzeugen, den landwirtschaftlichen Genossenschaften beizutreten: Am 15. April gab die Regierung bekannt, daß in der D D R keine Einzelbauern mehr existieren" ( I I , S. 358). Im Grunde hatte aber auch diese Umformung der Struktur der Landwirtschaft politischen Charakter, wenn man die Begleitumstände beachtet. Die Agrarreform hatte ihre politischen Ziele nicht erreicht. Die ursprünglich „armen Bauern und Landarbeiter", deren „Hunger nach Erde" durch die Agrarreform gestillt worden war (II, S. 240), zeigten, wenn sie wohlhabende Einzelbauern wurden, konservative und reaktionäre Tendenzen ( I I , S. 241, Anm. 3), sehr viele Bauern waren vor dem 17. 6 . 1 9 5 3 sogar festgesetzt worden (II, S. 302, Anm. 2), die Ankündigung der Kollektivierung hatte sodann eine Fluchtwelle aus den Kreisen der Bauernschaft zur Folge (II, S. 348), und die radikale Kollektivierung vom April 1960 mußte nicht zuletzt in dieser Form erfolgen, weil die seit 1952 beginnenden Versuche auf mehr oder weniger freiwilliger Basis in acht Jahren nicht den gewünschten Umfang erreicht hatten ( I I , S. 318, Anm. 4). Und selbst für die Durchführung der Kollektivierung im April 1960 muß Badia eine sehr aufschlußreiche Feststellung treffen: „Wenn der Beitritt [ = der Einzelbauern zu den Kollektivs] nicht immer spontan war, so war er indessen doch freiwillig" (II, S. 359, Anm. 1)! Das Ergebnis ist das „sozialistische D o r f " , und es ist selbstverständlich, daß diese Struktur neben den von Badia vornehmlich betonten wirtschaftlichen Vorteilen ( I I , S. 359, Anm. 1—4) auch ihre besondere Bedeutung für die Bindung des Bauern an das Regime hat. Zu diesen drei grundsätzlichen Reformen traten weitere Strukturierungen politischer und sozialer Art. Die Entnazifizierung geschah radikal im Sinne der völligen Ausrottung des Faschismus ( I I , S. 253 f.). Auf manchem Gebiet wurden dabei allerdings auch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Während in anderen Volksdemokratien der Besitzende qua Besitzender enteignet wurde, konnte das in der SBZ unter dem Vorwand der nazistischen Vergangenheit geschehen (II, S. 270 ff.). Besonders einschneidend wirkte sich die Entnazifizierung im Schulwesen aus. 72 % der Lehrerschaft waren NS-Parteimitglieder, sie wurden ersetzt durch „Demokraten", die politisch einwandfrei waren und fachlich in neun Wochen ausgebildet wurden ( I I , S. 358). Und nicht nur der Faschismus wurde aus den Schulen entfernt, sondern auch die Kirchen (II, S. 358). Die Schulreform stand also nicht ausschließlich unter dem Zeichen der Entnazifizie-

L E H R E N AUS DER G E S C H I C H T E

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rung, sondern gewährleistete den ausschließlich staatlichen Einfluß im Erziehungswesen. Badia versäumt nicht, auch die „Jugendweihe" zu erwähnen als einer „laizistischen Zeremonie, die die protestantische Konfirmation ersetzt" (II, S. 348). Im übrigen ist dieser radikalen Entnazifizierung doch kein entsprechend radikaler Erfolg beschieden. Badias Erklärungen für den Putsch vom 17. Juni weisen auf den relativ hohen Anteil von Entnazifizierten in der Arbeiterschaft hin (etwa 550 000), die „noch kein klares Klassenbewußtsein hatten", so daß der Putsch eine „unterirdische faschistische Widerstandsbewegung" offenbarte (II, S. 304). Des weiteren tragen neue Parteien und Massenorganisationen zur Strukturierung bei. Auch diese „Massenorganisationen" haben primär politische Bedeutung, insofern sie zusammen mit den Parteien Organe der Meinungsbildung sind: Hier werden in öffentlichen Diskussionen die Einheitslisten aufgestellt, die den Wählern nachher vorgelegt werden (II, S. 346). Der Rahmen der politischen Diskussion ist also bereits durch die Strukturen vorgegeben. Aber auch dem einheitlichen Ergebnis entspricht eine Struktur. Zwar gibt es eine Vielfalt von „spezifischen politischen Formen und sozialen Strukturen" und keine Einheitspartei (II, S. 347), aber diese Vielfalt ist zusammengefaßt in der Nationalen Front, und diese Nationale Front präsentiert dem Wähler jene Einheitslisten für eine Abstimmung, in der die vor der Wahl bereits hergestellte Einheitsmeinung mit 99%iger Zustimmung manifestiert wird (II, S. 346). — Schließlich sei noch mit Badia auf die Sorge des Staates für die „Culture Populaire" hingewiesen (II, S. 350), eine Sorge, die insofern erleichtert sein muß, als „die Moyens d'expression, Zeitungen und Film in ihrer Mehrheit ebenfalls verstaatlicht worden sind" (II, S. 272). Wie stellt sich also das Verhältnis zwischen Staat und Masse in der „ D D R " dar entsprechend den Elementen, die Badia selbst gibt? Wir sehen eine Masse, die durch eine ganze Reihe von Strukturen politischer und sozialer Art an das Regime gebunden ist in der Absicht, sie auf diese Weise zum sozialistischen Staat und schließlich zur Volksdemokratie zu erziehen. Bezüglich des so entstehenden Kollektivbewußtseins ist ein doppelseitiges Ergebnis festzustellen: Einerseits wächst die Zustimmung zu diesem Staat in den Wahlen sprunghaft an, sobald Strukturen bestehen, und sie nimmt seit 1950 sogar einen absoluten Charakter an. Auf der anderen Seite sind in Badias Darstellung Phänomene festzustellen, die den Absolutheitscharakter dieser Zustimmungsakte wesentlich einschränken: Die sogenannte Erziehung ist auch 1961 noch nicht am Ziel angelangt, wenigstens 10 % der Arbeiterschaft haben 1953 ihre faschistische Vergangenheit immer noch nicht überwunden, die Bauern fallen in konservative und reaktionäre Tendenzen zurück, sobald es ihnen besser geht, weite Kreise der Bevölkerung sind für westliche Propaganda und Verlockungen aus der kapitalistischen Welt anfällig, einige Millionen haben den sozialistischen Staat verlassen und eine weitere beträchtliche Anzahl möchte es gerne. Und selbst das Gerüst der Funktionäre zeigt folgenreiche Deformationen. Wir haben uns ganz bewußt ausschließlich an Badia gehalten, um das Verhältnis zwischen Staat und Masse in der „DDR" zu studieren. Und wir haben uns in die Lage eines Lesers versetzt, der dies alles zum ersten Male erfährt und darum die einzelnen Elemente in aller Ausführlichkeit vor sich ausbreitet. Was kommt nun bei einem Vergleich des historischen Phänomens Faschismus in der Form des Dritten Reiches mit dem Phänomen Kommunismus in der Form der „ D D R " heraus? Hier wie dort ist eine Masse, die durch eine ganz systematische Strukturierung an ein Regime gebunden wird, das sich mit ihr als identisch erklärt, und zu dem sich diese Masse dennoch in einem eigenartig gespaltenen Verhältnis befindet: Akte der höchsten Zustimmung erweisen sich bei näherem Zusehen als die vordergründige Kulisse vor einer sehr viel differenzierteren Schichtung des Meinens und Verhaltens, die vom Widerstreben bis zum Widerstehen reicht. Der äußeren Freiwilligkeit fehlt nicht nur die Spontaneität, sie ist vor allem durch politische und soziale Strukturen bedingt und daher in ihrem Wert äußerst fragwürdig. Die verwandten Züge sind verblüffend.

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Und das ist eigentlich die größte Entdeckung in Badias Buch. Sie kommt zustande, wenn man nichts anderes tut, als was Badia in seiner Einleitung von seinen Lesern wünscht: daß nämlidi sein Buch zu einem „Führer zu eigenem Forschen und Denken" werde (I, S. 9). Vielleicht wird die Anregung zu weiterem Forschen, die das Buch gibt, durch das Buch selbst nicht ganz befriedigt. Man möchte doch manches noch genauer wissen, was nur angedeutet wurde oder wovon überhaupt nicht die Rede ist. Man möchte über das Bestehen weiterer typischer Phänomene unterrichtet werden: Wie steht es mit Massenkundgebungen, Aufmärschen, Fahnen — kurz, mit allerlei Manifestationen, in denen sich außer den Wahlen noch sonst die Einmütigkeit der Masse zeigt? Dazu wären vielleicht auch noch einige Abbildungen zu finden gewesen, die die gewählte Illustration ergänzen könnten. Interessant wäre auch zu wissen, ob es in der „ D D R " etwa eine Tendenz zur Uniform gibt? O b es in Sprache und Musik einen gewissen Staatsstil gibt, der das kollektive Bewußtsein beeinflußt, und ob sich da etwa auch Verwandtschaften mit dem Stil des Dritten Reiches feststellen lassen? Man möchte wissen, ob etwa in der Propaganda auch ganz bewußt bestimmte Gegnertypen geprägt werden, die Gegenstand eines untergründigen Hasses werden, so wie der Nazismus das in ähnlicher Weise mit seinem Antisemitismus getan hat? Und dann fehlen eigentlich alle Vergleichsmöglichkeiten nach der Seite jener Methoden, die man beim Nazismus Terror nennt. Gibt es da in der „ D D R " keinerlei verwandte Züge? Es wäre in diesem Zusammenhang ganz besonders interessant gewesen, etwas mehr über Aufbau und Tätigkeit der kasernierten Volkspolizei zu hören. H a t sie nicht, wie alle übrigen Strukturen und Organisationen, eine vorwiegend politische Funktion? Möglicherweise könnte auch noch etwas darüber gesagt werden, ob die „DDR"-Staatsgrenze diesen massiven Charakter nur in Berlin besitzt oder auch sonstwo, und wenn ja, warum dies so ist (evtl. auch illustriert). Aber auch ohne diese Ergänzungen, die man bei Badia gerne finden würde, um das geschichtliche Phänomen „ D D R " noch besser einordnen zu können, bringt er doch ausreichendes Material, um die verblüffende Verwandtschaft zwischen Drittem Reich und „ D D R " in ihrem jeweiligen Erscheinungsbild hervortreten zu lassen. Und das ist dann auch ein Ergebnis, das sich mit der historischen Erfahrung der Deutschen von 1917 bis 1962 deckt. Eine Alternative Kommunismus — Faschismus trifft ihre Erfahrung nicht. Beide Systeme gehören für sie in die Kategorie der Systeme der Unfreiheit. Die Alternative dazu, die sie zum Teil auf sehr schmerzlichen und blutigen Wegen suchten und die sie nach 1945 nicht überall in ihrem Lande finden und verwirklichen konnten, heißt demokratische Freiheit. Diese demokratische Freiheit ist für die Deutschen kein aus einem ideologischen Apriori gewonnenes Postulat, sondern sie ist für sie schlechthin das Resultat und die Lehre aus ihrer jüngsten Geschichte. Und eigentlich ist an dem Buche Badias am enttäuschendsten, daß er das Phänomen dieser demokratischen Freiheit als Alternative zu Faschismus und Kommunismus in der deutschen Geschichte seit 1917 nirgends erwähnt. Oder gebietet seine Ideologie an dieser Stelle seiner Historie und deren Objektivität ein unbedingtes Halt? Dabei handelt es sich hierbei doch um geschichtliche Phänomene, die von denen gekannt werden müßten, denen das Problem „Deutschland" Sorge macht, gerade auch in unserem französischen Nachbarland. Ihnen sei darum ein letztes gesagt: Die Bundesrepublik ist gewiß kein Paradies. Aber für das Verständnis ihrer Wirklichkeit genügt es nicht, die ehemaligen Nazis in gehobenen Posten zu zählen. Entscheidend ist, daß die Deutschen der Bundesrepublik, daß die Masse der Deutschen in der Bundesrepublik auf Grund einer historischen Erfahrung der Unfreiheit im vergangenen Dritten Reich und in der benachbarten „ D D R " ihre jetzige historische Erfahrung der demokratischen Freiheit mit allen Mitteln sichern, festhalten und vertiefen wollen. Darin erblicken sie Fortschritt und Humanismus. Und dafür erwarten sie gerade auch in Frankreich Verständnis, Hilfe und Belehrung.

BUCHBESPRECHUNGEN A. ALLGEMEINES

1. Hilfsmittel, Fest- und Sammelschriften Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale u. internat. Texte z. Rechtslage Deutschlands. Bearb. v. Dietrich Rauschning, eingel. v. Herbert Krüger. — Frankfurt/M., Bln.: Metzner 1962. 798 S. = Die Staatsverfassungen d. Welt in Einzelausgaben. Bd. 1. DM76,—. Das vorliegende Sammelwerk enthält eine nahezu vollständige Wiedergabe des deutschen Wortlauts jener zahlreichen Verträge und Abkommen, die bis 1962 zu einer immer stärker werdenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft und der sog. DDR in den von der Sowjetunion geführten Block kommunistisch beherrschter Staaten geführt haben. Mit den sich hieraus ergebenden Bindungen, die als ein wesentlicher Teil der gegenwärtigen Gesamtverfassung Deutschlands zu betrachten sind, werden sich alle diejenigen auseinanderzusetzen haben, die in Zukunft berufen sein werden, für das politische Ziel einer staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands zu arbeiten. Insoweit ist die vorliegende Dokumentation nicht nur für den Historiker und für den Staats- und Völkerrechtler, sondern auch für den Politiker und für jeden Staatsbürger, dem die Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands Herzenssache sind, von besonderem Wert. Aus dem Inhalt der hier abgedruckten Verträge wird der politische Realist allerdings auch mit Erschütterung die Erkenntnis bestätigt finden, daß diese Verträge nicht nur die Bindungen der beiden Teile Deutschlands an zwei entgegengesetzte Staatensysteme der Welt erheblich vertieft, sondern damit auch eine Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands erheblich erschwert haben. Wenn sich die vorliegende Dokumentation über die Gesamtverfassung Deutschlands in ihrem Untertitel als eine Sammlung nationaler und internationaler Texte zur Rechtslage Deutschlands bezeichnet, so entspricht diese Bezeichnung nicht ganz dem Inhalt und der Anlage des Werkes. Während der Veröffentlichung internationaler Texte ein sehr breiter Raum gewidmet ist, hat der Bearb. die Berücksichtigung nationaler Texte auf ein Minimum beschränkt. Als nationaler Text ist lediglich das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 in der Fassung der späteren Novellen zum Grundgesetz abgedruckt. Dagegen sind sonstige für das materielle Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland wesentliche Bundesgesetze, die Verfassungen der einzelnen Länder der Bundesrepublik sowie die Verfassung und sonstige wesentliche Gesetze der sog. DDR in der Dokumentation nicht berücksichtigt worden. Insoweit kann das vorliegende Sammelwerk leider nicht als eine auch nur annähernd vollständige Dokumentation zur Gesamtverfassung Deutschlands bezeichnet werden; und wer sich mit den nationalen Texten, durch die diese Gesamtverfassung geprägt worden ist, eingehender beschäftigen will, wird auf die Benutzung anderer Quellen und Quellenwerke nicht verzichten können. Hierdurch bleibt jedoch die Feststellung unberührt, daß die vorliegende Dokumentation durch die vollständige Wiedergabe der internationalen Texte zur Rechtslage Deutschlands ein überaus wertvolles Hilfsmittel für alle diejenigen bietet, die an den Problemen der internationalen Verflechtung der beiden Teile Deutschlands ein besonderes Interesse haben. Die Wiedergabe der internationalen Texte zur Rechtslage Deutschlands ist sehr übersichtlich gegliedert. Nach den wichtigsten internationalen Texten, die Gesamtdeutschland

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

betreffen, folgen die Texte zur Stellung der Bundesrepublik und der sog. DDR mit einer Unterteilung in folgende 5 Abschnitte: 1. Beziehungen zu den ehemaligen Besatzungsmächten. 2. Stationierung ausländischer Truppen in Deutschland. 3. Politisch-militärische Beistandspakte. 4. Verträge zur wirtschaftlichen Gemeinschaftsbildung. 5. Grenzfragen. Der Wert der Dokumentation wird noch dadurch erhöht, daß jedem Vertragstext kurze übersichtliche Angaben über Ort und Datum des Vertragsabschlusses, Vertragspartner, Datum des Austausches der Ratifikationsurkunden, Datum des Inkrafttretens, Vertragssprachen, Fundstellen und Schrifttum vorangestellt sind und daß die Textsammlung durch ein ausführliches Schrifttumsverzeichnis ergänzt wird. Eine Benutzungsanleitung, ein Abkürzungsverzeichnis, ein systematisches und ein chronologisches Verzeichnis der abgedruckten Texte und ein ausführliches Sachregister erleichtern die Benutzung des umfangreichen Quellenwerkes, das mit einer einleitenden Darstellung ausgestattet ist, in der Prof. Dr. Herbert Krüger seine Auffassungen über die Rechtslage Deutschlands nach einer Methode entwickelt, die als eine eigenartige Kombination begriffstheoretischer und rechtspolitischer Gesichtspunkte bezeichnet werden kann. Berlin

Walter Meder

Die Barsinghausener Gespräche. Hrsg.: Der Niedersächsische Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. — Leer/Ostfriesl.: Verl. Gerhard Rautenberg 1962. 159 S., 39 Abb. = Schriften zur deutschen Frage 6. DM 10,80. Drängende Fragen der Gegenwart waren Gegenstand von Gesprächen, die der niedersächsische Arbeitskreis für Ostfragen in Barsinghausen veranstaltete. Es ging hierbei nicht um „rückwärtsgewandte Rechthaberei", sondern um das Suchen nach neuen Wegen für die Heilung „der aus den Fugen geratenen Welt", wenn Sachkenner zu den Themen „Friedenspläne für Deutschland" (Juni 1959), „Offizielle Beziehungen — ein politischer Weg?" (Oktober 1959) und „Vertreibung, Annexion und Teilung als politische Weltprobleme" (Januar 1960) referierten. Einführend zeigte Fritz Gause den Wandel in der Praxis europäischer Friedensschlüsse. Kurt Rabis Beitrag über die Rechtsgrundlagen eines deutschen Friedensvertrags erläuterte die Bedeutung der vom Kellogg-Pakt ausgehenden, in der Atlantic-Charta erweiterten völkerrechtlichen Normen, die auch für Deutschland anzuwenden wären. Otto Frhr. v. Firks' „Thesen für eine Neuordnung in Mitteleuropa" bringen allerdings Vorschläge, insbesondere eine Definition des „Heimatrechts", die im internationalen Gespräch schwerlich geltend gemacht werden können. Das Gespräch zu den „offiziellen Beziehungen" wurde durch ein Referat von Eberhard Menzel über die Zwei-Staaten-Theorie eingeleitet, in dem vor einer bloß negativen Politik der Nichtanerkennung gewarnt wurde. Leidenschaftlich forderte Wenzel Jaksch die Heimkehr der Sudetendeutschen in ihre Heimat, ein Akt, der nicht das Wiederaufleben eines großdeutschen SS-Staates bringen solle, sondern die „Wiederherstellung des siebenhundertjährigen Zweivölkerstaates von Böhmen und Mähren". Abschließend warnte Eberhard Menzel vor einer allzu starren Anwendung der Hallstein-Doktrin gegenüber Warschau und Prag. Im Weltflüchtlingsjahr stellte Peter Nahm in einem abgewogenen Vortrag das deutsche Vertreibungs- und Flüchtlingsproblem in den Zusammenhang ähnlicher, z. T. noch viel härterer Erscheinungen in aller Welt. Hermann Raschhofer untersuchte das Vertreibungsproblem aus der Sicht des Völkerrechtlers. Abschließend gab Wilhelm Wolfgang Schütz

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einen Überblick über die verschiedenen Auffassungen über die deutsche Position in Ost und West. Berlin Friedrich Zipfel ARNDT, Jürgen: Generalregister zur Deutschen Wappenrolle. Hrsg. v. „HEROLD", Verein f. Heraldik, Genealogie u. verwandte Wissenschaften zu Berlin. Bearb. v. Herolds-Ausschuß d. Dt. Wappenrolle. Neustadt a. d. Aisch: Degener 1962. 327 S. D M 3 0 , - . Heraldik, Siegelkunde, Genealogie und verwandte Wissenschaften fanden seit 1869 in dem Verein „Der Herold" zu Berlin eine Pflegestätte. Sein Archiv und seine umfangreiche Bibliothek, nunmehr im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem untergebracht, benutzen Historiker aus aller Welt. Die seit 40 Jahren in der Deutschen Wappenrolle eingetragenen Familienwappen haben jetzt durch den Herolds-Ausschuß das vorliegende Generalregister erhalten mit einem Geleitwort von Hermann Mitgau. Eine sorgfältige Darstellung über die Entstehung und Entwicklung der Deutschen Wappenrolle, ihre Organisation, den Namen, die Organe, Antragsgrundsatz, Beurkundungen der Eintragungen, Aktenordnung, Veröffentlichung und Gebühren wird von Jürgen Arndt gegeben ; ferner schildert er das wissenschaftliche Ansehen, das sich der „Herold" in der Öffentlichkeit erworben hat, die Abgrenzung der Ziele und Aufgaben der DWR gegenüber den Bestrebungen ähnlicher Unternehmungen und ihre Einrichtung als zentrale Institution der wissenschaftlichen Wappenregistrierung in Deutschland. Muster eines Antragsvordruckes, eines Registerblattes und eines Wappenbriefes sind beigefügt und Erläuterungen zum Registerteil, der auf 239 Seiten ein alphabetisches Namenregister der Eintragungen der DWR-Jahrgänge 1920 bis 1958 enthält, ferner eine nach Landschaften geordnete Übersicht über die Ursprungsheimat der wappenführenden Familien und eine Übersicht über die berufliche Zuordnung der Antragsteller. Die Verdienste der beiden ersten Wappenrollenführer Walter Freier und Joachim von Goertzke um den Aufbau und die Entwicklung der DWR werden in ihren Biographien eingehend gewürdigt. Staaten, Länder, Provinzen, Kreise, Kantone, Städte, Bezirke usw. besitzen und pflegen ihre Wappen und Farben. Familien können und sollten es ebenfalls. Arndts mühevolle Arbeit gibt Auskunft über alle Fragen und Anregung. Zudem ist sie ein beachtliches genealogisches Nachschlagewerk, insbesondere auch für Brandenburg, Mecklenburg, Ostfalen, Ostpreußen, Pommern, (Kur-)Sachsen, Schlesien, Sudetenland, Thüringen, Wartheland und Westpreußen. Berlin Martin Jacob HOLTZMANN, Robert: Aufsätze zur deutschen Geschichte im Mittelelberaum. (Teilsamml.) Mit Erlaubnis v. Charlotte Holtzmann hrsg. v. Albrecht Timm. (Fotomechan. Nachdr.) — Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1962. X, 328 S. Nur f. Mitgl. Die Sammlung, der der Hrsg. ein Verzeichnis der Schriften Robert Holtzmanns und ein Register angefügt hat, enthält 10 Aufsätze aus den Jahren 1925 bis 1938. Das Interesse H.s, der 1923 nach Halle berufen wurde und dort bedeutenden Einfluß auf die Landesgeschichtsforschung in der damaligen Provinz Sachsen gewann, galt stets den großen Problemen der allgemeinen Geschichte, aber er fand in dem Raum an der mittleren Elbe um Magdeburg ein Gebiet, in dem sich Landesgeschichte und Reichsgeschichte im Hochmittelalter so eng wie

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sonst nirgends miteinander verwoben. Bezeichnend für das Engagement H.s dürfte es sein, daß er auch nach seiner Berufung auf einen Berliner Lehrstuhl 1930 zahlreiche Abhandlungen zur Geschichte des Mittelelberaumes publizierte, während ihn die brandenburgische Landesgeschichte nicht im gleichen Maße angezogen hat. In der Chronik Thietmars von Merseburg stand ihm zudem eine Quelle zur Verfügung, der er durch subtilste Interpretationen das Letzte abzugewinnen suchte und die ihn zu einem Teil der vorliegenden Aufsätze angeregt hat („Die Aufhebung und Wiederherstellung des Bistums Merseburg", „Beiträge zur Geschichte des Markgrafen Gunzelin", „Der Slawengau Chutizi und der Ort Schkeuditz", „Das Laurentius-Kloster zu Calbe"). Eigentlich neue Wege in der Landesgeschichtsforschung auf methodischem Gebiet, wie sie z. B. Rudolf Kötzschke in Leipzig gewiesen hat, sind von H. nicht beschritten worden; seine Stärke lag in der sorgfältigsten Analyse der schriftlichen Uberlieferung, die er freilich mit größter Meisterschaft handhabte. Ein gutes Beispiel für seine Arbeitsweise bietet der Aufsatz „Die Quedlinburger Annalen", der nicht weniger als 7 S. Stilvergleich enthält. Die Untersuchungen zur Geschichte des Mittelelberaumes sind H.s inzwischen in 4. Aufl. erschienenen „Geschichte der sächsischen Kaiserzeit" (1. Aufl. München 1941) zugute gekommen, doch es wäre verfehlt, sie nur als Vorstudien zu diesem Werk ansehen zu wollen. Sie besitzen vielmehr einen beachtlichen Eigenwert und werden all denen willkommen sein, die sich in Ost oder West mit der mitteldeutschen Landesgeschichte beschäftigen. Nicht zu Unrecht hat der Hrsg. den erst 1936 veröffentlichten Aufsatz „Otto der Große und Magdeburg" an die Spitze der Sammlung gestellt. Auf der Grundlage genauester Kenntnis aller Quellen verfolgt H. alle Phasen des Aufstiegs Magdeburgs unter Otto I. von der Gründung des Moritzklosters 937 bis hin zur Errichtung des Erzbistums. Ob H.s Annahme, Otto d. Große habe den Plan zur Gründung des Erzstiftes erst um 955 gefaßt, richtig ist, wird sich kaum sicher entscheiden lassen. Die Feierlichkeit, mit der die Weihe des Moritzklosters vollzogen wurde, und seine überreiche Ausstattung scheinen darauf hinzudeuten, daß hier mehr geplant war als die Stiftung eines Missionsklosters. Die Gründung der Bistümer Brandenburg und Havelberg widerspricht dem nur scheinbar, denn Otto I. hatte zunächst nicht an die Einrichtung einer neuen Diözese, sondern an die Verlegung des Bistums Halberstadt nach Magdeburg und an seine Umwandlung in ein Erzbistum gedacht, ein Plan, der letztlich am Widerstand des Erzbischofs von Mainz gescheitert ist. H.s Darstellung der Ereignisse, die zur Errichtung des Erzbistums führten, ist in den wesentlichen Zügen noch heute gültig, einige Korrekturen hat nur unser Wissen über das Verhältnis von Kaiser und Papst bei der Bistumsgründung erfahren. Ein Teil der Zugeständnisse Johanns XII. von 962 ist von Johann XIII. wieder zurückgenommen worden, der den Anteil der Kirche stärker in den Vordergrund zu schieben suchte. W. Schlesinger („Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter", I, S. 30 ff.) hat gezeigt, daß es dem Papst dabei auch um die kirchliche Organisation der noch zu bekehrenden slawischen Völker, letztlich also um den kirchenpolitischen Einfluß in Polen und Böhmen ging. Das gleiche Thema klingt in dem Aufsatz „Die Aufhebung und Wiederherstellung des Bistums Merseburg" wieder an, dem H. allzu bescheiden den Untertitel „Ein Beitrag zur Kritik Thietmars" gegeben hat. Gegen Thietmar, der die Aufhebung des Bistums Merseburg den ehrgeizigen Plänen des damaligen Bischofs Giseler zuschreibt, ist H. der Meinung, daß es in erster Linie sachliche Gründe gewesen sind, die Otto II. zur Aufhebung veranlaßten. Sachliche Gründe für die Auflösung des kleinen, kaum lebensfähigen Bistums hat es sicher gegeben, doch scheint Giseler eine weit größere Rolle gespielt zu haben, als H. sie ihm zubilligt. Zustimmen wird man hingegen den Ausführungen H.s über die Hintergründe der Auseinandersetzungen um eine Wiederherstellung des Bistums Merseburg; sie sind von

HILFSMITTEL, FEST- UND SAMMELSCHRIFTEN

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W. Schlesinger neuerdings eingehender untersucht und präzisiert worden („Urkundenstudien zur deutschen Ostpolitik unter Otto III.", in: „Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters", 1961, S. 377ff.). Giseler, der zum Erzbischof von Magdeburg aufgestiegen war, scheint als Vertreter einer Ostpolitik im Sinne Ottos d. Großen die Unterstellung des Bistums Posen unter seine Metropolitangewalt erreicht zu haben. Er stand damit den kirchenpolitischen Plänen Boleslaw Chrobrys entgegen, die in der Errichtung eines Erzbistums in Gnesen gipfeln sollten. Boleslaw konnte dabei die Unterstützung der Kurie gewinnen, die mit einer Untersuchung der Vorgänge um die Auflösung des Bistums Merseburg Giseler offensichdich unter Druck setzen und zur Aufgabe seines Widerstandes zwingen wollte. Als sich auch der Kaiser für die polnischen Pläne gewinnen ließ, wurden auf der Synode 998/999 in Rom schwere Vorwürfe gegen Giseler erhoben, der sich nur durch geschickte taktische Manöver in Magdeburg halten konnte. Erst Heinrich II. stellte das Bistum nach dem Tode Giselers wieder her, obgleich die Rücksichten auf die Kurie und Polen längst entfallen waren. H. vermutet wohl mit Recht, daß der König die Wiederaufrichtung des Bistums als einen Beweis seiner wahrhaft christlichen Gesinnung gewertet wissen wollte, die wegen seines Bündnisses mit den heidnischen Liutizen gegen die christlichen Polen der Bestätigung durch eine besonders fromme Tat bedurfte. Die Themen der beiden besprochenen Aufsätze werden in der Abhandlung „Kaiserpolitik und deutsche Grenzpolitik im hohen Mittelalter" aufgenommen und zusammenfassend weitergeführt. Hinter den Ausführungen über die Unterschiede in der Ostpolitik der deutschen Herrscher von Otto d. Großen bis Friedrich I. steht immer die Frage nach den Beziehungen zwischen Kaiserpolitik und Ostpolitik, wobei H. im Gegensatz zu der damals weithin herrschenden Ansicht von der grundsätzlichen Verfehltheit der Italienpolitik zeigen kann, daß diese durchaus nicht immer nachteilige Folgen für die Politik im Osten gehabt hat. Gewisse Zweifel wird man an der allzu negativen Beurteilung der Politik Ottos III. anmelden dürfen, der unter ganz anderen Voraussetzungen als Otto d. Große nach der Einbeziehung des Ostens in das Imperium strebte und dessen Intentionen wir heute vielleicht besser nachvollziehen können, als dies vor 25 Jahren möglich war. Von den übrigen Aufsätzen, die spezielleren Themen gewidmet sind, seien nur noch die genannt, die sich mit den Problemen der mitteldeutschen Gaueinteilung beschäftigen und die auch durch eine Reihe von neueren Publikationen (vgl. den Nachtrag, S. 316 ff.) nicht überholt sind. In den beiden thematisch zusammengehörigen Abhandlungen „Hochseeburg und Hochseegau" und „Die Hochseeburg und die Hessen" sucht H. den Nachweis zu führen, daß der Name des Hassegaues nicht von dem Stamm der Hessen, sondern von der schon in den Annales regni Francorum erwähnten Hochseeburg abgeleitet sei, die den Mittelpunkt dieses Gaues gebildet habe. Daran wird man trotz des Widerspruches von W. Mitzka festhalten dürfen, zumal diesem auch von der Seite der Philologen her M. Bathe mit guten Argumenten entgegengetreten ist („Namenkundliches und Sprachgeschichtliches zum Hassegau", in: Leipziger Studien, Theodor Frings z. 70. Geb., 1957, S. 20—62). Der Landschaftsgliederung der Gebiete östlich der Saale ist der Aufsatz „Der Slawengau Chutizi und der Ort Schkeuditz" gewidmet. Anlaß zu den Kontroversen über die Ausdehnung des Gaues Chutizi gab eine Stelle bei Thietmar, der einen Gau Gutixj ortentalis nennt, der von Chemnitz und Elbe begrenzt worden sei und damit den gut bezeugten Daleminzergau eingeschlossen haben müßte. Die offenbar unrichtige Angabe des Chronisten, die H. durch den Hinweis auf eine Verwechslung der Zschopau mit der Elbe zu retten sucht, dürfte im Zusammenhang mit den Bemühungen Thietmars um die Rückgabe des Merseburger Bistumsbesitzes gestanden haben (W. Schlesinger, „Kirchengeschichte Sachsens" I, S. 301). Akzeptieren wird man die Untersuchungen H.s über die verschiedenen sprachlichen Wurzeln

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des Gaunamens Chutizi und des Ortsnamens Schkeuditz, problematisch dürfte die von ihm vorgeschlagene Herleitung von einem germanischen Personennamen mit slawischen Suffix-ici bleiben, obgleich dies auch heute noch als wahrscheinlichste Lösung gilt (vgl. E. Eichler, E. Lea und H. Walther, „Die Ortsnamen des Kreises Leipzig", 1960, S. 103f.). Sprachwissenschaftliche und verfassungsgeschichtliche Bedenken sprechen gegen die Thesen von E. Müller („Die Ausdehnung des Gaues Chutici und seine spätere Entwicklung", in: Leipziger Studien, Theodor Frings z. 70. Geb., S. 181—191), der durch eine Untersuchung der spätmittelalterlichen Verhältnisse über die Ergebnisse von H. hinauszukommen suchte. Sein Versuch, die Richtstätte „Kautz" bei Leipzig als „Gauhauptort" und „Gaugerichtsstätte" des alten Gaues Chutizi zu erweisen, ist nicht geglückt. MarburglLahn

Hans K. Schulde

HERZFELD, Hans: Ausgewählte Aufsätze. Dargebracht als Festgabe z. 70. Geburtstag von seinen Freunden u. Schülern. — Bln.: de Gruyter 1962. XII, 460 S. DM 48, —. Als ein Stück der „geistigen Biographie" des Berliner Neuhistorikers, das zugleich seine enge Verbindung mit dem „inneren Leben" der deutschen Geschichtsschreibung in den Jahren der Weimarer Republik und nach 1945 bezeugt, kennzeichnet der Hrsg. G. A. Ritter diese Auswahl aus Hans Herzfelds Aufsätzen. In fünf Gruppen sind 14 von seinen alten und neuen zum Teil vorher ungedruckten Arbeiten vereinigt worden, wobei das Schwergewicht eindeutig auf den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Studien ruht. An die Untersuchungen zur deutschen „Historiographie" schließen sich biographische Essays an; den „Fragen der Großen Politik" folgen die Betrachtungen zum „Heeresproblem", während zeitgeschichtliche Darstellungen zur Stadtgeschichte Berlins (und eine von W. Schocbow bearbeitete vollständige Bibliographie) den Abschluß bilden. So unterschiedlichen Fragen diese Aufsätze auch nachgehen mögen, es bindet sie doch alle eine bestimmte Grundhaltung des Vf.s zusammen. Sie vereinigt ein verständnisvolles und behutsam abwägendes historisches Urteil mit einer entschieden gewahrten eigenen Position, die die Verflechtung des Historikers in die Probleme seiner Gegenwart nicht etwa nur hinnimmt, sondern bewußt bejaht. „Die Geschichte", so formuliert Herzfeld selber einmal das innere Leitmotiv seiner Arbeiten (S. 228, s. auch S. 67), „muß zum dienenden Instrument des Lebens werden" und „jenen Brückenschlag zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" anstreben, der Irrwege zu vermeiden hilft. Diese eminent politische Funktion der Geschichtsschreibung ist in dem vorliegenden Bd. nie aus den Augen verloren worden; ihr unabdingbarer Charakter als Lehre mit dem Blick auf die Zukunft hat ihm wesentlich die Lebendigkeit der Darstellung und kritischen Analyse mitgegeben. Herzfeld knüpft damit nachdrücklich an die geschichtsphilosophische Tradition der großen national-liberalen Historiker des 19. Jh.s an, die Späthistorismus und Positivismus zu gleichen Schuldanteilen verschüttet haben. Wenn wir auch heute ihre Glaubenssätze und Wertmaßstäbe nicht mehr teilen können, so bleibt davon doch die Gültigkeit ihrer fundamentalen Einsicht unberührt (wie sie vor allem ihrem schärfsten Kopf, J. G. Droysen, stets gegenwärtig blieb), daß sich lebendige, Einfluß nehmende und fordernde Geschichte nur unter dem Richtpunkt einer vorgestellten besseren Zukunft schreiben lasse. Deshalb streitet Herzfeld lebhaft gegen die Bemühungen, den so vielfältig gewissen politischen und geistigen Positionen seiner Zeit verhafteten Ranke zum Vorkämpfer einer angeblich objektiven Geschichtsschreibung zu machen. Und deshalb, aus diesem klaren Bewußtsein, daß die historisch reflektierte Parteinahme dem Historiker unvermeidbare Schranken setzt, aber auch den Wurzelgrund seiner anhaltenden Wirksamkeit bildet, vermag er Ranke weit eher gerecht zu werden als der konservative Objektivitäts-

HILFSMITTEL, FEST- UND SAMMELSCHRIFTEN

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gläubige. — Vor allem zwei weitere Aufsätze lassen diesen Kern von Herzfelds geschichtswissenschaftlicher Arbeit zutage treten: der zuerst 1954 gedruckte Beitrag über „Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Republik" und der bislang ungedruckte „Versuch" über „Politik, Heer und Rüstung in der Zwischenkriegszeit". Stets um historisches Verständnis bemüht, hält er in dem Uberblick über einige bekannte Historiker der 20er Jahre keineswegs mit kritischem Urteil zurück. In der Bindung an den überkommenen Staatsbegriff, auf dem inmitten der Nöte der Republik der letzte Abglanz des hegelianischen Staatsidealismus lag, und in der unheilvollen Verstrickung in die Debatte um die Kriegsschuld und die nationale Restitution sieht Herzfeld die folgenreichen Ursachen für den rückwärtsgewandten Blick des überwiegenden Teils der Zunft. Dieser wurde durch die Traditionen des deutschen Idealismus und des Bildungsbürgertums mit seinen politisch sterilen und verwaschenen Vorstellungen von der Sozialökonomik der modernen deutschen Gesellschaft in seiner Haltung bestärkt. Zu viele Historiker haben den Weg zur Sozialgeschichte gescheut, die ihnen neue und auch politisch fruchtbare Perspektiven hätte öffnen können. Immerhin ist auch nicht zu übersehen, wie im Rückblick das Werk von Außenseitern der Zunft an Bedeutung gewinnt: Rosenstocks „Europäische Revolutionen" brauchen den Vergleich mit Meineckes Spätwerk gewiß nicht zu scheuen, und Arthur Rosenberg und Eckart Kehr gingen jeder auf seine Art einen zukunftsreichen Weg, der die Politische Ökonomie des hochkapitalistischen Nationalstaats erhellen half. Nicht nur um des Kontrastes willen wäre es daher einmal aufschlußreich, diese Männer der nationalkonservativen, staatsfrommen Mehrheit gegenüberzustellen. Außer der Studie über das deutsche Heeresproblem von 1919 bis 1945, von der seit 1952 so starke Anregungen für die Forschung ausgegangen sind, enthält die Festschrift (S. 255—277) auch einen Entwurf über universalgeschichtliche Fragen zum Verhältnis von Staatspolitik und Rüstungswesen in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Herzfeld zieht hier erste Grundlinien einer vergleichenden Analyse der Problematik und wird hoffentlich erneut der deutschen Geschichtswissenschaft einen wichtigen Impuls geben. Es ist dabei von grundlegender Wichtigkeit, daß er sich keineswegs auf das enge Feld hochspezialisierter militärgeschichtlicher Forschungen beschränkt, sondern diese in den weiteren Horizont einer Epoche revolutionärer Veränderungen einordnet. Als offene Aufgabe bleibt bestehen, den Zusammenhang von Gesellschaftsverfassung, politischer Tradition und Rüstungspolitik der historischen Kritik zu unterwerfen. Die „Last der nuklearen Rüstung, die das Problem ins Gigantische" gesteigert hat, verleiht diesem Gegenstand ungeheure Dringlichkeit. Sehr folgerichtig endet daher die Analyse des Vf.s in einem Appell an die Historiker, diese Probleme der Gegenwart rational zu durchleuchten und damit überhaupt eine Lösung möglich zu machen. Der beherrschende Eindruck, den diese Festgabe hervorruft, ist der einer Hochachtung vor der ungebrochenen Fähigkeit des Vf.s zur kritischen historischen Besinnung. Die wichtigsten der hier gesammelten Aufsätze bedeuten nicht den Abschluß eines Lebenswerks, sondern eröffnen neue Perspektiven für die zukünftige geschichtswissenschaftliche Forschung. Washington, D. C. Hans-Ulrich Wehler

Bibliographie zur Vor- und Frühgeschichte Mitteldeutschlands. Hrsg. von Martin Jahn. Bd. 1, T. 2b. — Bln.: Akademie-Verl. 1962. 4° = Abhandlungen d. Sächsischen Akad. d. Wiss. zu Leipzig. Philol.-histor. Klasse. Bd. 50, H. 1 b.

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

1. Bibliographie zur Vor- u. Frühgeschichte von Sachsen-Anhalt u. Thüringen. (Bearb. von) Walther Schulz, T. 2 b. Historische Überlieferung, Ortsnamenüberlieferung, Volksüberlieferung, Darstellungen bis 1953. Register 1962. XII, S. 654 bis 942. D M 3 4 , - .

2. Allgemeine und zeitlich begrenzte Darstellungen KRÜGER, Bruno: Die Kietzsiedlungen im nördlichen Mitteleuropa. Beiträge der Archäologie zu ihrer Altersbestimmung und Wesensdeutung. — Bln.: AkademieVerl. 1962. 208 S., 39 Abb., 4 T., 3 Ktn. 4° = Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin. Schriften d. Sektion f. Vor- u. Frühgeschichte, 11. DM31, — . Die eigenartigen kleinen Siedlungen, die sich unter dem Namen Kietz vorwiegend, aber nicht ausschließlich in der Mark Brandenburg finden, meist in Gewässerlage und daher vornehmlich von Fischern bewohnt, in — teilweise bis tief in die Neuzeit erhaltener — rechtlicher Sonderung von den Städten und Dörfern, an die sie sich räumlich anlehnen, haben die Aufmerksamkeit der märkischen Forschung schon des frühen 19. Jh.s (Riedel, Wohlbrück) auf sich gezogen. Hatte das Urteil über die Zeit ihrer Entstehung und über ihre ursprünglichen Funktionen lange geschwankt, so gab eine von H. Ludat den Kietzen 1936 gewidmete Monographie der Forschung festen Boden unter die Füße. Auf Grund einer breiten Materialaufnahme bestimmte Ludat die Kietze als vorkoloniale slawische Burgsiedlungen und stellte sie, einer schon von B. Guttmann 1897 gegebenen Anregung folgend, zu den in Polen und Böhmen erkannten, im Rahmen der westslawischen Fronhofsverfassung entstandenen Dienstsiedlungen. Den gleichen Charakter vermutete Ludat mit guten Gründen auch für die vornehmlich in Mecklenburg und Vorpommern verbreiteten Wieken. Noch einen Schritt weiter ging derselbe Gelehrte 1955 in seinem kritischen Bericht über neuere polnische und sowjetische Forschungen auf dem Gebiete der archäologischen und topographischen Stadtgeschichtsforschung, in dem er die dort erkannten vorkolonialen Frühformen städtischer Siedlung mit entsprechenden westeuropäischen und altdeutschen Bildungen verglich und ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung der slawischen Länder würdigte, um auf diese Weise einem Ausgleich zwischen den in ihrer einseitigen Formulierung überholten Standpunkten der alten Kolonisations- und Evolutionstheorie stadtgeschichtlicher Forschung in Ostmitteleuropa zu dienen. In eine Reihe mit jenen vorkolonialen städtischen Bildungen Polens und Pommerns glaubte er jetzt auch die Kietze und Wieken der westlich anschließenden Gebiete stellen zu können. An die frühgeschichtliche Archäologie richtete er in diesem Zusammenhange die dringliche Bitte, sich der Frage anzunehmen und so zur weiteren Erhellung der städtischen Anfänge auf nordostdeutschem Boden beizutragen. Diese Bitte ist nicht ungehört verhallt. Teilergebnisse einer größeren Grabung des Instituts für Vor- und Frühgeschichte an der Dt. Akad. d. Wiss. in Köpenick haben einen jungen Mitarbeiter des Institutes veranlaßt, die von Ludat geforderte, recht mühselige Arbeit durchzuführen. Der Lohn ist nicht ausgeblieben, denn das Ergebnis — vorgelegt in dem hier zu besprechenden Buche — wirkt überraschend: die weitaus überwiegende Mehrzahl der Kietzorte alter Entstehung zeigen keine slawischen, sondern ausschließlich frühdeutsche oder jüngere mittelalterliche Bodenfunde. Der Vf. zieht daraus den Schluß, die These vom „slawischen Alter der Kietze" müsse aufgegeben werden, es handele sich um Siedlungen der frühdeutschen Zeit. Diejenigen, die wissenschaftliche Veröffentlichungen aus dem Gebiete der deutsch-slawischen Kontaktzonen unter dem Aspekt ost-west-

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licher Auseinandersetzung zu sehen lieben, stehen hier also vor der Paradoxie, daß ein „östlicher" Forscher die Thesen zu widerlegen sucht, mit denen ein „westlicher" sich den Positionen der polnischen stadtgeschichtlichen Forschung anzunähern strebt. Der Rez. kann die Frage nicht ganz unterdrücken, wie wohl die Reaktion in gewissen Zeitschriftenredaktionen wäre, wenn der Fall umgekehrt läge. Der Vf. hat zunächst die von Ludat 1936 aufgestellte Liste der als Kietze bezeichneten Orte, Ortsteile und Flutstellen noch zu erweitern gesucht; zu den 201 Kietzbelegen Ludats sind dadurch nach seiner Mitteilung noch 98 weitere hinzugekommen (S. 26). In seinem Katalog der Kietzorte (S. 139—194), der sich in seiner Anlage an das Schema des Katalogteiles des vom gleichen Institut htsg. Handbuches der Wall- und Wehranlagen anlehnt, verzeichnet der Vf. allerdings nur 190 Nummern. Die Diskrepanz erklärt sich zu einem Teile dadurch, daß Vf. 75 von ihm nicht selbst aufgesuchte Orte nicht in den Katalog aufgenommen, sondern nur auf der ersten der beigefügten Karten verzeichnet hat (S. 11, Aiim. 1) — es handelt sich ausschließlich um das Gebiet jenseits der Oder-Neiße-Linie, in dem er nur 7 Orte hat untersuchen können (S. 26, Anm. 10). Weiter hat er 48 nicht mehr auffindbare oder irrtümlich als Kietz bezeichnete Siedlungen von der Bearbeitung ausgeschlossen (S. 26); die zweite Gruppe dieses Kontingentes (s. zu ihr S. 27, S. 42) scheint den Rest der im Katalog fehlenden Belege zu enthalten — leider hat der Vf. es unterlassen, über diesen Punkt Auskunft zu geben. Am Verbreitungsbild der Kietzsiedlungen hat die Vermehrung der Belege gegenüber dem von Ludat erarbeiteten Stande nichts geändert, weder im Ganzen, noch in den Teilen — die schon von Ludat hervorgehobenen Schwerpunkte an Havel, Nuthe, Spree und Oder sind die gleichen geblieben. Die ihm so gegebenen Untersuchungsobjekte hat der Vf. nun mit siedlungsarchäologischen und siedlungstopographischen Methoden nach ihrer Entstehungszeit, ihrem topographischen und funktionalen Verhältnis zu benachbarten Befestigungen und deren Alter, ihrem siedlungsgeschichtlichen Verhältnis zum angrenzenden Dorf bzw. zur angrenzenden Stadt befragt (S. 8). Er hat zu diesem Zweck die von ihm bearbeiteten Objekte sämtlich aufgesucht, nach Oberflächenfunden abgesucht und die topographischen Verhältnisse analysiert. Ferner hat er die örtlichen Museen und die archäologischen Ortsakten zu Rate gezogen (S. 9). Dabei hat sich die von Ludat durchgeführte Sonderung einer Gruppe alter, „echter" Kietzorte von einer zweiten Gruppe spät entstandener Ausbausiedlungen, die den Namen „Kietz" per analogiam erhalten haben, voll bestätigt, und zwar sowohl topographisch (S. 18, 22) wie archäologisch (S. 43). Nur in der Zuweisung des einen oder des anderen Ortes zu einer der beiden Gruppen weichen beide Autoren voneinander ab; doch ändert sich dadurch am Bilde der Verbreitung, der Dichte und der Massierung auch der alten Kietze nichts Wesentliches. Von den 176 Kietzorten, die der Vf. bearbeitet hat (S. 32), bestimmt er auf Grund der archäologischen Untersuchung 87 als „unechte", jüngere Anlagen (s. die Aufstellung S. 43f.). Auch den von Ludat festgestellten Charakter der Kietze als Burgsiedlungen haben die topographischen Einzelanalysen des Vf.s für die überwiegende Mehrzahl bestätigt (S. 60—88). Ob es berechtigt ist, trotz diesem Befund im Hinblick auf die Fälle, in denen eine Beziehung des Kietzes nicht zu einer Befestigung, sondern nur zu einem Herrenhof erkennbar ist, den Terminus Burgsiedlung abzulehnen, wie Vf. es tut (S. 96), kann bezweifelt werden, zumal der Vf. glaubt, eine älteste Gruppe von Kietzsiedlungen erkennen zu können, die ausschließlich im Zusammenhang mit Burgen entstanden sind (S. 94f.). Die entscheidende Abweichung von den Ergebnissen Ludats betrifft die Frage der Entstehungszeit. Nur in 14 Kietzorten hat der Vf. spätslawisches Fundmaterial bergen können,

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

in größerer Menge nur in den beiden Kietzen auf der Dominsel zu Brandenburg, in 57 dagegen ausschließlich frühdeutsche oder jüngere mittelalterliche Keramik (S. 37—44). Dieses nur durch Oberflächenlesung gewonnene Ergebnis hat der Vf. durch die Anlage von Suchschnitten in 12 Kietzorten nachgeprüft; nur in einem (Lebus) ergab sich eine spätslawische Fundschicht (S. 44 — 52). Die Auswertung des gesamten vorliegenden Fundmaterials führte den Vf. zu dem Ergebnis, daß nur für 5 Kietzorte spätslawische Besiedelung anzunehmen ist (S. 53—56). Gewiß ist das ein vorläufiges Ergebnis, das sich in der Mehrheit der Fälle nur auf den Oberflächenbefund stützen kann. Ob es aber durch weitere Grabungen wesentlich verändert werden könnte, erscheint fraglich, zumal sich unter den vom Vf. durch Suchschnitte bearbeiteten Orten auch solche befinden, in denen slawische Bevölkerung schriftlich bezeugt ist. Zu diesen Feststellungen auf Grund des Fundmaterials der Kietzorte treten weitere, die die den Kietzen zugeordneten Burgen betreffen (S. 60—88). Der Vf. hat sich hier auf das — teils in den beiden erschienenen Bänden des Handbuches der Wall- und Wehranlagen bereits veröffentlichte, teils noch unveröffentlichte — Material der Burgwallkartei des Instituts für Vor- und Frühgeschichte an der Dt. Akad. d. Wiss. stützen können (S. 10, Anm. 1; S. 110, Anm. 1). Zwar liegt eine erhebliche Zahl von alten Kietzorten in der Nachbarschaft spätslawischer Befestigungen — der Vf. nennt 30 Orte (S. 85) —, doch sind die meisten von ihnen später an gleicher Stelle durch deutsche Anlagen abgelöst worden; der Fall Drense, wo allein eine slawische Anlage nachweisbar, die Lage des Kietzes aber nicht mehr festzustellen ist (S. 76), bleibt leider unklar. In den Fällen aber, in denen die deutsche Burg an anderer Stelle errichtet worden ist, liegt der Kietz bei der deutschen Burg und nicht bei der slawischen (S. 86). Weiter hat der Vf. eine nicht kleine Zahl von Kietzen ermittelt, bei denen sich überhaupt keine slawische, sondern nur eine deutsche Befestigung findet (S. 87). Sind diese Feststellungen richtig — sie zu bezweifeln sieht Rez. keinen Anlaß, doch muß er hier das Urteil den Vertretern der frühgeschichtlichen Archäologie überlassen —, dann muß die Lehre von der vorkolonialen Entstehung aller alten Kietzorte aufgegeben werden. Die Frage des Ursprungs der Kietze ist damit aufs neue offen geworden. Bei ihrer weiteren Untersuchung wird zu beachten sein, daß Ludat seine Lehre keineswegs allein auf die von ihm angenommene räumliche Nähe der Kietzorte zu slawischen Burgen gestützt hat, sondern auch auf die nicht wenigen schriftlichen Zeugnisse über slawische Bevölkerung der Kietze und nicht zuletzt auf die innere Struktur dieser Siedlungen, die ihm deren slawischen Charakter zu erweisen schien. Diese Argumente werden auch vom Vf. der vorliegenden Arbeit nicht bestritten (S. 106f.). Die Kietze sind rechtlich abhängig von fürstlichen oder adligen Burgen und besitzen eine rechtliche Sonderstellung gegenüber der angrenzenden deutschen Siedlung. Ihre Bewohner sind keine Bauern, sondern vorwiegend Fischer, die ihre Fischereigerechtigkeit gemeinsam innehaben. Ihre Hofstelle mit Garten und Weideland wird als Erbe bezeichnet, sie selber einmal mit dem entsprechenden slawischen Terminus als Deditzen. Die Kietzer leisten der Burgherrschaft Gesindedienste der verschiedensten Art, die anscheinend ursprünglich ungemessen sind. Der Kietz ist regelmäßig ohne Kirche. Alle diese Züge zusammengenommen haben Guttmann und Ludat dazu bestimmt, die Kietze zu den Dienstsiedlungen der westslawischen Fronhofsverfassung zu stellen; und solange nicht entgegenstehende Zeugnisse beigebracht werden, wird man beiden Forschern hierin zustimmen müssen. Wenn also der Vf. „das slawische Alter" der Kietze bestreitet, so hat er sich mit diesem unglücklichen Ausdruck die volle Einsicht in die Sachlage versperrt. Denn nicht das „slawische Alter" der Kietze hat er widerlegt, sondern die vorkoloniale Entstehung der meisten von ihnen. Eine slawische Wurzel im Pro-

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zeß der Entstehung dieses Siedlungstypus wird man nach wie vor anzunehmen haben, wenn daneben auch andere, deutsche Elemente eine Rolle spielen. Der Vf. hält wohl mit Recht die Grundrißformen der Kietze für kolonisationszeitlich-deutsch (S. 57—59). Ergänzend läßt sich darauf hinweisen, daß auch das von Ludat für fast alle alten Kietze nachgewiesene Lehnschulzenamt eine deutsche Institution ist. Im Ganzen aber weist ihre Struktur die Kietze doch nach wie vor in den Zusammenhang der alten westslawischen Wirtschafts- und Sozialverfassung. Die kurzen Bemerkungen des Vf.s über mögliche frühdeutsche Vergleichsbeispiele (S. 97 f.) sind nicht geeignet, diese Auffassung zu erschüttern, denn was er hier vorführt, sind einige wenige deutsche Siedlungen, die sich räumlich an Burgen anlehnen. Daß es solche auf altdeutschem Gebiet in großer Zahl gibt — meist wohl um den zur Burg gehörigen Wirtschaftshof gruppiert —, ist sattsam bekannt; was nachzuweisen wäre, sind altdeutsche Siedlungen von der gleichen Struktur wie die Kietze. Um so mehr Interesse hat die Feststellung, daß für die Kietze so hervorragender spätslawischer Zentren wie Brandenburg und Lebus, nach ihrem slawischen Fundmaterial zu urteilen, Entstehung noch in vorkolonialer Zeit nicht ausgeschlossen ist. Danach ließe sich mit der Möglichkeit rechnen, daß die deutschen Landesherren eine vorgefundene slawische Institution für die Zwecke ihrer Haus- und Tafelwirtschaft übernommen, umgestaltet und weiter verbreitet haben. Es wäre zu fragen, was sie zu einer derartigen Maßnahme veranlaßt haben könnte. Die Ausführungen des Vf.s hierzu (S. 94), nach denen die Kietze bereits an der Errichtung der frühdeutschen Burgen beteiligt waren (vgl. aber S. 111: Kietze jünger oder höchstens gleichaltrig mit den zugehörigen deutschen Burgen) und als die Orte anzusehen sind, auf denen das Burgwerk ruhte, entbehren der Quellengrundlage — die vom Vf. angezogenen Stellen des Landbuches von 1375 lassen vom Burgwerk nichts verlauten. Zudem war zum Burgwerk ursprünglich die gesamte zum Burgbezirk gehörige bäuerliche Bevölkerung verpflichtet. Weiter wäre zu fragen, woher die slawische Bevölkerung der in frühdeutscher Zeit neu angelegten Kietze kam. Vf. lehnt auf S. 93 f. mit einleuchtender Argumentation die Annahme ab, die Kietzer seien als die von den Deutschen verdrängten Insassen einer nahe gelegenen slawischen Burg anzusehen, auf S. 111 trägt er jedoch nicht weniger gute Gründe vor, die für diese Herkunft der Kietzer sprechen. Die Frage ist also offen. Ob aber slawischen oder deutschen Ursprungs — zu den vorkolonialen Vorformen städtischer Entwicklung in Nordostdeutschland wird man die Kietze nicht mehr rechnen können. Vf. bemerkt mit Recht, daß dagegen nicht nur der archäologische Befund spricht, sondern auch die wirtschaftliche Tätigkeit der Kietzer (S. 112, S. 114). Ergänzen lassen sich seine Ausführungen durch den Hinweis auf die Situation in Köpenick (zu ihr Vf. S. 64), aber auch in Altruppin (S. 61) und wohl auch in Lebus (S. 75), Potsdam (S. 78), Buckow Kr. Strausberg (S. 18f. mit Abb. 1, S. 68, S. 121; anders aber Katalog Nr. 34, S. 149), Stolpe Kr. Angermünde (Abb. 5d, Katalog Nr. 155, S. 184). Nach den bisherigen Ergebnissen der noch nicht abgeschlossenen Grabungen des Berliner Museums für Vorund Frühgeschichte in Spandau ist auch dieser Platz hier zu nennen. Denn an allen diesen Orten scheint neben einer spätslawischen Burg und einer zugehörigen Vorburgsiedlung (suburbium) ein Kietz nachweisbar, so daß Kietz und suburbium sich dort klar scheiden lassen. Von besonderem Interesse wären hier die Kietze von Lebus und Stolpe, da sie spätslawisches Fundmaterial geliefert haben und somit mindestens in die Anfänge deutscher Herrschaft, wenn nicht in vorkoloniale Zeit zurückreichen. Man würde gerne erfahren, ob an diesen Plätzen die spätslawischen Fundschichten von Kietz und suburbium als gleichzeitig angesehen werden könnnen. — Daß die Kietze im Entstehungsprozeß der an sie angrenzenden deutschen Städte keine Rolle gespielt haben, ergibt sich bereits aus 19 Jahrbudi 12

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ALLGEMEINES

ihrer rechtlichen Sonderung diesen gegenüber und wird vom Vf. durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen erhärtet (S. 116—124). War die Entstehung der meisten alten Kietzorte erst in askanischer Zeit einmal erkannt, dann legte dem Vf. das Verbreitungsbild der von ihm zur ältesten Gruppe gezählten Kietze es nahe, sich wieder der alten These zuzuwenden, die die Askanier als Urheber der Kietze betrachtet, wenn er auch in dieser Frage eine bestimmte Stellungnahme vermieden hat (S. 99—101). Bevor hier etwas gesagt werden kann, müßten wohl in gleicher Weise wie die Kietze auch die Wieken Mecklenburgs und Vorpommerns untersucht werden, die Ludat seinerzeit mit den Kietzen verglichen hatte. Nicht nur der in der mittellateinischen Urkundensprache auf beide Siedlungstypen in gleicher Weise angewandte Terminus vicus hatte ihn dazu veranlaßt, sondern auch der nach den schriftlichen Zeugnissen unbezweifelbare Charakter der Wieken als Burgsiedlungen, ferner die Zeugnisse über deren slawische Bevölkerung und über ihre rechtliche Sonderung von angrenzenden deutschen Städten. Verfassung und Wirtschaftsweise der Wieken sind freilich im Gegensatz zu der der Kietze noch nicht untersucht. Was die Entstehungsfrage betrifft, so sind wir für die Wieken günstiger gestellt als für die Kietze, da die schriftlichen Quellen hier sowohl für die Wieken selbst wie für die ihnen zugeordneten Burgen erheblich früher einsetzen. So wäre etwa eine Untersuchung des schon 1186 bezeugten vicus ante Castrum von Lebbin auf Wollin von besonderem Interesse. Auch die Wieken von Rostock, Stettin und Wollin könnten Aufschluß gewähren. Für Lübeck scheint eine Wiek bezeugt, die nicht mit dem ergrabenen suburbium von Alt-Lübeck identisch ist. Es wäre aber in allen Fällen zu prüfen, ob Wiek und spätslawisches suburbium ebenso zu unterscheiden sind, wie das für die Kietze zu gelten scheint. Bei einem positiven Befund wäre die von Ludat vorgenommene Gleichsetzung der Wieken mit den Kietzen auch fernerhin aufrechtzuerhalten, und das würde bedeuten, daß das Verbreitungsbild der Kietze nur in wort-, nicht auch in sachgeographischer Hinsicht Bedeutung hätte. Nur die Verbreitung des Wortes „Kietz", nicht auch die der ihm zugeordneten Sache würde sich dann im wesentlichen auf den askanischen Herrschaftsbereich beschränken. Abzulehnen ist die vom Vf. im Zusammenhang mit seiner „askanischen" These geäußerte Vermutung niederländischer Herkunft des Wortes „Kietz" (S. 102 — 105), da die Lautgestalt des Wortes eine solche Annahme ausschließt; solange keine andere Möglichkeit nachgewiesen wird, muß es bei der von Ludat vorgeschlagenen slawischen Etymologie bleiben. Damit ist der Raum der vom Vf. behandelten Thematik durchmessen, wenn wir von seinen dankenswerten Bemerkungen über die Ursachen der Auflassung einiger alter Kietzorte (S. 123 — 129) und über das Wesen der Kietzorte neuzeitlicher Entstehung (S. 130 bis 131) absehen. Der Wert der Arbeit im Ganzen liegt vor allem in ihren archäologischen und topographischen Untersuchungen, die unser Bild von der Entstehungsgeschichte der Kietze erheblich verändert haben. Freilich sind die erzielten Ergebnisse vorwiegend negativer Art. Der Vf. hat eine alte Lehre umgestoßen — wo er versucht hat, zu einer neuen durchzudringen, ist er weniger glücklich gewesen. Aber auch für diese negativen Ergebnisse sind wir ihm zu Dank verpflichtet. Berlin

Wolfgang H. Fritze

SEIFERT, Gerhard: Schwert, Degen, Säbel. Die Erscheinungsformen der langen Griffwaffen Europas für den Sammler und Liebhaber als Grundriß dargest. — Hamburg: H. G. Schulz 1962. 79 S., 93 Abb. DM 2 0 , - .

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In knapper Form stellt Seifert in seinem Buch die Formentwicklung der drei Haupttypen der Blankwaffen, Schwert, Degen und Säbel, dar. Er zeigt im ersten Teil die Wandlungen, die das Schwert von den Wikingern bis zu seiner Ablösung durch den Degen im 16. Jh. durchgemacht hat und die in einzelnen Ländern Europas bis ins 19. Jh. hinein gebräuchlichen Sonderformen, wie die schottischen „Backswords" oder die Pallasche. Die Geschichte des Degens reicht bis in das erste Viertel unseres Jh.s. Das gleiche gilt von dem aus dem vorderen Orient stammenden Säbel, der sich von den beiden vorangehenden Typen durch die gebogene Klinge unterscheidet. In den Kapiteln über den Degen und den Säbel sind besonders ausführlich die im p r e u ß i s c h e n Heer verwendeten Waffen behandelt. Die Abbildungen und die klaren und kurzen Beschreibungen geben einen guten Uberblick über den Formenreichtum der Griffe, an denen sich deutlicher als an den Klingen der technische Fortschritt und Gestaltungswille der einzelnen Epochen erkennen läßt. Alle Fachausdrücke sind in leicht faßlicher Sprache erklärt und durch Schemazeichnungen verdeutlicht. Ebenso sind wichtige technische Vorgänge der Herstellung kurz erläutert. Fachwörter und Bildunterschriften sind gleichzeitig in Französisch und Englisch beigefügt. Das Buch ist eine handliche Orientierung für angehende oder kleinere Sammler. Eingehendere Beschäftigung mit der Materie ermöglicht die kurze Bibliographie. Berlin Fedja An^elemsky 2ak, Jan: Studia nad kontaktami handlowymi spoleczetistw zachodnioslowiariskich ze skandynawskimi od VI do VIII w.n.e. [Studien über die westslawisch-skandinavischen Handelsbeziehungen vom 6. bis zum 8. Jh.] — Wroclaw: Ossolineum 1962, 323 S. Polskie Towarzystwo Archeologiczne, Biblioteka Archeologiczna 15. zl. 60, — . Das Kernstück der Studien über die westslawisch-skandinavischen Handelskontakte vom 6. bis zum 8. Jh. von J. 2ak bildet eine sorgfältige, gründliche und übersichtlich dargestellte Analyse der Funde von 31 Fundorten in Pommern und den westlich und südlich unmittelbar angrenzenden Gebieten einerseits und in Südschweden, Gotland, Öland und Bornholm andererseits, die das Bestehen von Handelskontakten zwischen Südskandinavien und dem pommerschen Küstengebiet jedenfalls für einen Teil des untersuchten Zeitraums erweisen. Diese Untersuchungen sind in einen weitgespannten Rahmen namentlich wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlicher Überlegungen vorwiegend theoretischer Natur eingebaut. Die Arbeit von 2ak enthält zahlreiche Abbildungen von Fundobjekten sowie Tabellen und Karten zur Erleichterung der Übersicht über Chronologie und Verbreitung bestimmter Fundtypen. Bei den Funden, deren Analyse die Grundlage der Untersuchung von 2ak bildet, handelt es sich einerseits um Fundorte aus Pommern und den unmittelbar angrenzenden Gebieten mit skandinavischen Elementen: Penzlin (Mecklenburg), Wittow (Rügen), Nehringen und zwei nicht mehr genau definierbare Fundorte (Vorpommern), Golm unweit Strasburg i. d. Uckermark. Friedrichstal (Kr. Angermünde, an einem toten Arm der Oder), Stargard bei Stettin, Körlin a. d. Persante (poln. Karlino) und Peterfitz (poln. Piotrowice) (Kr. Kolberg), Zirchow B (poln. Sierakowko) (Kr. Schlawe), Gohren (poln. Gorzyno) und Glowitz (poln. Glöwczyce, 2 Depotfunde) (Kr. Stolp), ein nicht mehr genau lokalisierbarer Fund (Wojewodschaft Köslin), Radosiew (Kr. Schneidemühl), Wapno (Kr. W^growiec/Wongrowitz, Wojewodschaft Posen). Die Kreisangabe bezieht sich auf die heutige polnische Einteilung. 19*

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

Andererseits handelt es sich um Fundorte in Südskandinavien mit Objekten, die der Herkunft nach z. T. dem pommerschen Küstengebiet, ausnahmsweise auch den südlich davon gelegenen Gebieten zuzuweisen sind: Mollebacken (Bornholm), Göingeholm, Krageholm und Sövestad (Schonen), Lösen und Nättraby (Blekinge), Fröslunda, Gräsg&rd und övetorp (öland), Bjärs, Stora Ihre und Barshaldershed (Gotland), Askeryd (Smaland), Hanabo (Västergotland). Von den obigen Funden wurden diejenigen von Lösen, Nättraby, Askeryd und Hanabo in der vorliegenden Arbeit zum erstenmal analysiert; ebenso wird hier die erste vollständige Analyse der Funde von Gräsgärd vorgenommen. Über die genannten Fundorte hinaus findet 2 a k für die Zeit vom 6. bis 8. Jh. weder in Skandinavien noch im westslawischen Gebiet Anzeichen für skandinavisch-westslawische Handelskontakte. Die Zuordnung der Fundstücke zum skandinavischen bzw. pommerschen Raum oder zu anderen Ursprungsgebieten nimmt der Vf. auf Grund von ausführlich vorgeführten Analogien vor. Bei den Fundstücken aus Pommern und den angrenzenden Gebieten, für die nach 2 a k skandinavischer Ursprung anzunehmen ist, handelt es sich vor allem um Goldschmuck, Schwerter und SchwertgrifTbeschläge aus Bronze, Silber und Gold, daneben um Bronzeschmuck und einige wenige andere Objekte; bei den skandinavischen Fundstücken, die er dem westslawischen Bereich zuordnet, geht es fast ausschließlich um Bernsteinschmuck pommerscher Herkunft und in einem Fall um einen eisernen Reitersporn, wie er nach S. 167 der Arbeit für diese Zeit auch in Funden der polnischen Wojewodschaften Posen, Lublin und Krakau, im Bezirk Lemberg der Ukraine, im Samland und in Mittenwalde bei Berlin belegt ist. Soweit es sich um Depotfunde handelt, spielen neben Objekten, die jeweils von der anderen Seite der Ostsee eingeführt wurden, vor allem Importe aus dem Rheingebiet eine Rolle, neben denen Gegenstände anderer Herkunft, etwa aus dem Donauraum, in den Hintergrund treten. Verständlicherweise treten auch Erzeugnisse der einheimischen Produktion in diesen Depotfunden auf, doch ist es von Interesse, daß von den Fundorten südlich der Ostsee nur der am meisten an der Peripherie dieses Gebietes gelegene Ort, Wapno (Netzegebiet), ein Fundstück zeigt, für das nach Zak ausschließlich westslawische Herkunft und unter keinen Umständen ein Import von anderer Seite in Betracht kommt. Dem Bernsteinschmuck, der nach den Darlegungen der Arbeit neben archäologisch nicht faßbaren Exporten, vor allem von Salz, das fast ausschließliche Äquivalent des Warenaustausches zwischen den beiden Partnern für die westslawische Seite darstellte, widmet der Vf. besondere Aufmerksamkeit, zumal ihm als Bezugsmaterial für das pommersche Gebiet für die in Betracht kommende Zeit nur der Fund von Burgsdorf (poln. Toliszczek, Kr. Lauenburg/Hinterpommern) zur Verfügung steht. Für die für Burgsdorf und die südskandinavischen Funde typische Bearbeitungstechnik, die aus den römischen Werkstätten von Aquileja stammt, findet er jedoch für das pommersche Küstengebiet aus dem 1. bis 5. Jh. und später wieder vom 9. Jh. an reichliche Parallelen. Die konkreten Feststellungen seiner Arbeit ordnet der Vf. in ein vorwiegend auf theoretischen Grundlagen beruhendes und sorgfältig ausgebautes System soziologischer, wirtschaftsgeschichtlicher, geographischer und anderer Gesichtspunkte ein. In diesem System spielen ein mit dem Ende der Völkerwanderungszeit bei den Westslawen einsetzender Übergang von der militärischen Demokratie zu den Anfängen einer Art von frühem Feudalismus, eine damit verbundene Tendenz zur verstärkten Arbeitsteilung, zur Entwicklung des persönlichen Eigentums auch an Grund und Boden und an Produktionsmitteln und zur Trennung der Bevölkerung in wirtschaftlich stärkere und schwächere

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Schichten (Klassenbildung) eine große Rolle, wobei die wirtschaftlich stärkeren Schichten in die Lage versetzt werden, Güterüberschüsse zu erzeugen und damit gleichzeitig Produzenten und Bedarfsträger für den Handel zu werden. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist für den Vf. auch der Umstand, daß sich das pommersche Küstengebiet durch seine für damalige Verhältnisse erhebliche Salz- und Bernsteinproduktion und Südskandinavien durch seine Erzvorkommen und die Verarbeitung von Bronze, Silber und Gold wirtschaftlich zu ergänzen imstande waren. Er stellt bemerkenswerte Überlegungen darüber an, welches nach dem damaligen Stand der Schiffahrt und den hydrologischen und meteorologischen Bedingungen die bevorzugten westslawisch-skandinavischen Handelswege in der Ostsee gewesen sein mögen. Schließlich werden die Überlegungen des Vf.s auch von der Auffassung bestimmt, daß im pommerschen Küstengebiet im 6. Jh. von Restgermanen keine Rede mehr sein kann und daß die Goten im Weichselgebiet nur eine sekundäre Rolle neben einem alteingesessenen slawischen Element gespielt haben. Wenn auch ein theoretisches System, wie es der Vf. benützt, sehr nützlich sein kann, so hat es jedoch im vorliegenden Fall den Nachteil, daß es ihn mehrfach dazu verleitet, die so gewissenhaft und sorgfältig erarbeitete konkrete Basis seiner Arbeit nach den Bedürfnissen seines theoretischen Systems zu deuten, anstatt, wie es zweckmäßiger wäre, seine Schlüsse ausschließlich aus dem konkreten Material abzuleiten. Aus diesem Material ergibt sich eindeutig, daß von erheblichen Handelskontakten zwischen Südskandinavien, Pommern und dem angrenzenden Gebiet nur für das 6. Jh. gesprochen werden kann. Für das 7. Jh. sind die Belege im Vergleich sehr dürftig, und für das 8. Jh. fehlen sie ganz. Das Schwinden der Handelskontakte zwischen Südskandinavien und dem pommerschen Gebiet mit dem Beginn des 7. Jh.s kann man sehr gut damit erklären, daß sich in Pommern bis zu dieser Zeit ein germanisches Element erhalten hatte, das dank seiner Stammesverwandtschaft mit den Bewohnern der gegenüberliegenden skandinavischen Küste bis zu seinem Erlöschen engere Verbindungen unterhielt, und daß der endgültige Sieg des slawischen Elements und vielleicht auch die Begleitumstände dieses Sieges der Anlaß dafür waren, daß Skandinavien die früheren Beziehungen zu der nunmehr stammesmäßig wie sprachlich völlig fremden Gegenküste abbrach. In das sich ergebende Bild fügt sich gut die Feststellung des Vf.s ein, daß die Vermittlung des Warenaustausches von südskandinavischen Händlern vor allem aus Gotland, öland und Bornholm besorgt wurde, während der um diese Zeit einsetzende friesische Handel die pommersche Küste offensichtlich mied. Die Beschränkung des Gebiets des Handelspartners an der Südküste der Ostsee auf das Küstengebiet Pommerns und die unmittelbar angrenzenden Gebiete läßt die Bezeichnung dieses Partners durch den umfassenden Begriff „westslawisch" zumindest als ungenau erscheinen. Die Konzentration der von ¿ a k angeführten Funde auf das Küstengebiet läßt sich ebenfalls als Hinweis auf ein restgermanisches Bevölkerungselement in Pommern im 6. Jh. werten; von den westslawischen Stämmen kämen jedenfalls nur die pomoranische und die wilzische Gruppe in Betracht. Die untersuchten Funde aus dem pommerschen Gebiet zeigen nach den eigenen Angaben des Vf.s nur in einem Fall einen Gegenstand, der mit Sicherheit als westslawisch bezeichnet werden kann. Es ist nicht ohne Belang, daß es sich dabei um den am weitesten nach Südosten vorgeschobenen Fundort, Wapno, Kr. W^growiec, Netze-Gebiet, handelt. Weiter ist zu beachten, daß der von Zak zur Bestimmung der Schmuckstücke (Perlen) aus Bernstein der südskandinavischen Fundstätten herangezogene Fundort Burgsdorf (poln. Toliszczek), Kr. Lauenburg, sich in dem seiner Lage nach ein typisches Rückzugsgebiet darstellenden Bereich der Halbinsel Heia befindet; man vergleiche auch den in der Literatur

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vielfach erörterten germanischen, wenn auch möglicherweise späteren Ursprung von Toponymen, wie Heia und Heisternest (poln. Jastarnia) auf Heia. Das vom Vf. ausgewertete archäologische Material reicht allerdings für sich allein nicht aus, um das Weiterbestehen eines restgermanischen Elements im pommerschen Küstengebiet zu beweisen; es kann lediglich im Zusammenhang mit Ergebnissen anderer Art als stützendes Argument verwertet werden. Andererseits ist es aber gewiß nicht geeignet, die Auffassung des Vf.s zu stützen, daß im 6. Jh. das germanische Element hier bereits völlig geschwunden ist. Doch wird man ihm wegen des schnellen Schwindens entsprechender Funde im 7. und ihres völligen Fehlens im 8. Jh. darin recht geben müssen, daß seine Arbeit keine Argumente für einen bis zum Einsetzen der deutschen Siedlungstätigkeit andauernden germanischen Einfluß oder für ein Wirken der umstrittenen Frühwikinger in diesem Raum bietet, gleichgültig, ob man nun diese Funde als westslawisch oder restgermanisch betrachtet. Zusammenfassend kann man sagen, daß es sich um eine im Hinblick auf die Analyse des konkreten archäologischen Materials und in der Darlegung der daraus gewonnenen unmittelbaren Ergebnisse ausgezeichnete Arbeit handelt und daß auch seine theoretischen Überlegungen viele beachtliche Gesichtspunkte enthalten, so daß man gern über die nicht ganz gelungene Verknüpfung theoretischer Systeme und konkreter Resultate hinwegsehen wird. Berlin Jürgen Prinz LOHSE, Bernhard: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit d. Mönchideal d. Mittelalters. — Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. 379 S. 4° = Forschungen z. Kirchen- u. Dogmengeschichte. Bd. 12. DM34, — . Die Idee des Mönchtums verbindet das Christentum mit den asiatischen Hochreligionen, sie ist innerhalb der Kirchengeschichte von größter Wirksamkeit gewesen, die Geschichte der christianisierten Völker Europas und ihrer Zivilisation ist ohne sie nicht denkbar. Der Bruch mit dieser Idee ist deshalb eine der auffallendsten und folgenreichsten Entscheidungen der Reformation; innerhalb der Ökumene ist er eines der auffallendsten Unterscheidungsmerkmale der protestantischen Kirchenfamilie von der katholischen. Dieser Bruch kann also nichts Zufälliges und Willkürliches sein. So wenig er die Ursache der Reformation ist und so sicher es eine bloße Schmählegende ist, zu behaupten, Luther habe die Reformation nur inszeniert, um dem Klosterleben zu entrinnen, so sehr muß dieser Bruch doch mit dem innersten Grunde der Reformation, mit ihrem zentralen Verständnis des Christlichen zusammenhängen. In welchem Maße dies aber der Fall ist, wird erst dann ganz sichtbar, wenn nicht nur die einschlägigen Äußerungen Luthers (der für diesen Bruch vor allen anderen die Hauptverantwortung trägt) analysiert werden, wie es schon mehrfach geschehen ist, sondern wenn diese in Vergleich gestellt werden zur vorhergehenden Theologie des Mönchtums von seinen Anfängen bis zum 16. Jh. B. Lohse hat diese beiden Arbeitsgänge nun in einer Vollständigkeit besorgt, die nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Der 1. Tl. zeigt die Entwicklung des monastischen Ideals. Besonders beachtlich ist dabei das Kapitel über Augustin, dessen Bedeutung für die Entwicklung des abendländischen Mönchtums selten so klar beschrieben worden ist, ferner die Entdeckung der marianischen Mönchstheologie des Erfurter Augustiners Johann Paltz (gest. 1511), der die imitatio Christi durch eine imitatio Mariae ersetzt. Er war Luthers Novizenlehrer. Um so erstaunlicher ist, daß sich keinerlei Einflüsse von ihm bei Luther finden, auch nicht in dessen Frühjahren, als er das mönchische Ideal noch voll bejaht.

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Übrigens scheint Luther auch von der einzigen tieferreichenden Kritik des Mönchtums, von der Wiclifs, kaum berührt worden zu sein, zumal diese von Hus nur sehr abgeschwächt übernommen wurde. — Im 2. Tl. werden dann sämtliche Aussagen Luthers über das Mönchtum, von den frühen Randbemerkungen zu Augustin bis zu der großen Schrift,, De votis monasticis" (1521 auf der Wartburg geschrieben) genau in ihrer chronologischen Entwicklung und ihrem theologischen Zusammenhang analysiert. Ergebnis: Das Mönchtum ist die letzte große Einrichtung der mittelalterlichen Kirche, von der Luther sich gelöst hat. Seine Kritik richtet sich vor allem auf die Vorstellung von Stufen der christlichen Vollkommenheit, auf die Unterscheidung zwischen Gottes allgemeingültigen Geboten und den „evangelischen Räten" (Bergpredigt) und auf die Mönchsgelübde als „zweiter Taufe". Monastisches Leben mit Gelübden, die der evangelischen Freiheit nicht widersprechen, hält Luther für möglich. Seine Verwerfung des Mönchtums ist also keineswegs absolut. Die heute im protestantischen Bereich neu aufkommenden monastischen Gemeinschaften stehen also nicht im Widerspruch zur Reformation, solange ihre Gestaltungsformen nicht mit diesen Kriterien Luthers in Konflikt geraten; denn mit ihnen lenkt Luther „über die lange Geschichte des monastischen Ideals hinweg den Blick zurück auf die Anfänge der christlichen Kirche und bringt die urchristliche Haltung gegenüber der Askese neu zur Geltung, die von dem Gedanken der christlichen Freiheit bestimmt war" (S. 377). Berlin

Helmut

Gollwit^er

R I T T E R , Gerhard: Luther. Gestalt und Tat. — Gütersloh: G. Mohn 1962. 223 S. DM 2,50.

G. Ritters erstmalig 1925 erschienenes Lutherbuch kann schon „klassische" Geltung beanspruchen. Es war einmal der Beitrag des „weltlichen" Historikers zur sog. L.Renaissance der 20er Jahre. Solange wir noch nicht die L.biographie haben, die alle heutigen Fragestellungen mit aufnimmt, wird R.s jetzt in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe vorliegende Darstellung, an der nur wenig, meist Formales, im Text geändert wurde, dankbar begrüßt. Berlin Karl Kupisch Erwin: Luthers Thesenanschlag, Tatsache oder Legende? — Wiesbaden: Franz Steiner 1962. 43 S. = Inst. f. Europ. Geschichte, Mainz. Vorträge, 31. DM 3,60. ISERLOH,

Nachdem schon der Tag des Thesenanschlags (31. Okt. oder 1. Nov.) Gegenstand mancher kritischer Untersuchung gewesen ist, wirft Iserloh die viel weiter greifende Frage auf, ob der Thesenanschlag überhaupt stattgefunden hat. Für seine Verneinung dieser Frage legt er ein vielfältiges Indizmaterial vor, das freilich nicht überall ganz überzeugend wirkt, mit dem sich aber die Reformationshistorie wird befassen müssen. Im übrigen: im Blick auf das immer am 31. 10. begangene Reformationsfest ist ja nicht entscheidend die Frage des Thesenanschlags, sondern die Tatsache der Thesenaufstellung und ihrer Verbreitung. Wenn also I.s Behauptung sich auch in der Forschung durchsetzt, würde höchstens ein früher mit viel Pathetik umgebenes Moment wegfallen. Berlin

Karl Kupisch

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(MOSER, Hans Joachim, u. Otto DAUBE:) Die Wittenbergisch Nachtigall. (Martin Luther u. die Musik.) — Dortmund: Crüwell 1962. 40 S. mit Abb. = Quellenhefte 2. Musikkunde u. Musikgeschichte im Schulunterricht, 4. DM 2, — . Luther ist ohne die Musik nicht denkbar. Daß der Sänger und Musiker L. auch im Unterricht mehr bekannt werde, dazu will das vorliegende, gut illustrierte Quellenheft eine Hilfe sein. Möge es nur eine eifrige Benutzung finden. Berlin Karl Kupisch HERDER, Johann Gottfried: Schulreden. (Teilsamml.) Hrsg. v. Albert Reble. — Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 1962. 151 S. DM 6 , - . Sosehr sich Herders Denken gegen das der Aufklärung absetzte, die Erziehung spielte darin von Anfang an eine wichtige Rolle. H. sah in ihr das wirksamste Mittel zur Bildung der Menschheit, wie sie ihm vorschwebte. Die hier nach dem Text der Suphanschen Ausgabe vorgelegten Schulreden spiegeln die praktische Seite dieses Interesses, und es könnte eine lohnende Aufgabe sein, Herders hochfliegende Entwürfe mit ihren praktischen Konsequenzen zu vergleichen. Für sich genommen sind die Schulreden eine trockene Lektüre. Sie haben wenig mehr als dokumentarischen Wert für die Kenntnis der damaligen Schulverhältnisse, vor allem im klassischen Weimar. Von H.s sonst so kühnem Geist ist kaum etwas zu spüren. Berlin Karl Pestalozzi RING, Friedrich: Zur Geschichte der Militärmedizin in Deutschland. — Bln.: Dt. Militärverl. 1962. 371 S. DM 21,50. Die Geschichte des Heeressanitätswesens war um die letzte Jahrhundertwende ein Spezialgebiet der Geschichte der Medizin, das vor allem von Militärärzten mit besonderer Liebe bearbeitet wurde. Auch in den folgenden Jahrzehnten sind noch verschiedene Arbeiten zur Geschichte der Militärmedizin erschienen. Die militaristische Tendenz dieser Literatur war festgelegt. Aus dem marxistischen Lager — das vorliegende Buch ist parteilich im Sinne des östlichen Marxismus — erwartet man eine Darstellung dieser wichtigen Sondersparte der Medizingeschichte unter neuen Gesichtspunkten. Der Leser wird in dieser Erwartung jedoch enttäuscht. Bis zum 1. Weltkrieg wird die alte militaristische Tradition der Historiographie der Militärmedizin aufgezeigt. Zwar werden die geschilderten Tatsachen marxistisch-parteilich interpretiert, aber man findet keine neuen Gesichtspunkte angeführt. Die Geschichte des deutschen Heeressanitätswesens wird unter dem Primat Preußens gesehen. Die Vorstellungen, die die Militärärzte der Monarchie vor 50 und mehr Jahren entwickelten, werden einfach übernommen. So findet man z. B. die nicht zutreffende Behauptung, daß das Collegium medico-chirurgicum in Berlin zur Förderung der Militärmedizin gegründet wurde. Dagegen vermißt man eine soziologische Untersuchung über den Stand der Militärärzte. Eine derartige Studie würde die Geschichte der Militärmedizin in ganz andere Bahnen lenken und die militaristischen Tendenzen aus früheren Zeiten überwinden helfen. Wenn man die letzten Abschnitte des Buches in den beiden Weltkriegen sowie über das Heeressanitätswesen in der sog. DDR und der Bundesrepublik gelesen hat, dann wird es klar, daß hier nicht eine neue wissenschaftliche Konzeption der Geschichte der Militärmedizin angestrebt wird, sondern daß die primäre Aufgabe politischer Natur ist. Den sowjetzonalen Militärärzten sollen die großen Perspektiven der Entwicklung der Militärmedizin in den einzelnen Stadien des Klassenkampfes gezeigt

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werden. Unter diesen Gesichtspunkten blieb kaum eine andere Möglichkeit, als die alten militaristischen Vorstellungen auszugraben und unter den Gesichtspunkten der Parteilinie darzustellen. Die Lektüre dieses Buches zeigt dem Leser, daß die Überwindung der überlieferten Anschauungen in der Geschichtsschreibung des deutschen Heeressanitätswesens aus dem Lager des Marxismus sowjetzonaler Observanz nicht erwartet werden kann. Berlin Manfred Stürzbecher Siegfried: Geschichte des preußischen Beamtentums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. In 3 Bdn. Bd. 1—3. — Aalen: Scientia 1962. Zus. DM 1 5 0 , - .

ISAACSOHN,

1. Das Beamtentum in der Mark Brandenburg 1415 — 1604. Neudr. d. Ausg. 1874. X, 291 S. 2. Das Beamtentum im 17. Jahrhundert. Neudr. d. Ausg. 1878. XIV, 384 S. 3. Das Beamtentum unter Friedrich Wilhelm I. und während der Anfänge Friedrichs des Großen. Neudr. d. Ausg. 1884. XII, 412 S. Es handelt sich hier um das bekannte, unvollendet gebliebene Hauptwerk des 1882 im Alter von nur 37 Jahren verstorbenen jüdischen Realgymnasiallehrers S. Isaacsohn, dem trotz seines Bienenfleißes und zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen unter dem Druck der damaligen Verhältnisse eine akademische Laufbahn versperrt geblieben war. Neben Droysen, bei dem er promovierte, wurde I. in seiner Arbeitsrichtung, die zu jener Zeit noch recht unentwickelt war, nachhaltig beeinflußt durch Schmoller, namentlich durch dessen 1870 in den „Preußischen Jahrbüchern" erschienene bahnbrechende Untersuchung über den preußischen Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I. Obwohl nur mäßig begabt, hat I. dank der ihn beflügelnden Kombination von staunenswerter Energie, enthusiastischem Forschungsdrang und ungebrochener Vaterlandsliebe um die Erschließung der inneren Geschichte des Hohenzollernschen Territorialstaates sich erhebliche Verdienste zu erwerben vermocht. Das zur Diskussion stehende Werk beruht auf institutionen- und rechtsgeschichtlichen Problemstellungen, und inhaltlich läuft es hinaus auf einen stoffreichen, vom 15. Jh. bis 1748 reichenden Überblick über die Verwaltungsgeschichte des brandenburgisch-preußischen Staatswesens. Der Titel ist irreführend. Soweit von einer „Geschichte des Beamtentums" per se überhaupt gesprochen werden kann, stehen im Vordergrund die Rechtsstellung, die organisatorischen Aspekte, Verwaltungsnormen und offiziellen Funktionen der Amtsträger, einschließlich der ständischen. Der am besten gelungene 2. Bd., der das 17. Jh. untersucht, behandelt freilich darüber hinaus auch die materielle und soziale Stellung und Geistesverfassung der Beamtenschichten, eine Darstellung, die trotz impressionistischer Skizzenhaftigkeit und mangels analytischer Schärfe auch heute noch lesenswert ist. Im ganzen jedoch ist das Werk im Hinblick auf Fragestellung, Methode und Interpretation veraltet. Selbst der substantielle Materialgehalt ist durch spätere Aktenveröffentlichungen, monographische Studien und eindrucksvolle neue Synthesen und Analysen vielfach überholt, wenn auch keineswegs nunmehr lediglich von Interesse für die Geschichte der Historiographie. Trotz stramm monarchischer Gesinnung und einer ununterdrückbaren Neigung, die historischen Realverhältnisse zu idealisieren und die Segnungen des dynastisch-bürokratischen Absolutismus für das Volkswohl und die soziale Gerechtigkeit zu übertreiben, ist I. durch seinen gesunden Menschenverstand sowie durch seine Nüchternheit und Sachkenntnis vor Verstiegenheiten — von gelegentlichen Entgleisungen abgesehen — bewahrt

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geblieben. So darf und soll man seiner mit Dankbarkeit und in Ehren gedenken. Im Interesse der Wissenschaft ist jedoch festzustellen, daß der Verlag sich verdienter gemacht hätte durch eine Neuherausgabe von Hintzes großartigem Darstellungsbd. in den Acta Borussica, Behördenorganisation (Bd. VI, 1. Hälfte), der, ursprünglich in kleiner Aufl. erschienen, seit Jahrzehnten vergriffen ist. Berkeley, California Hans Rosenberg STERN, Selma: Der preußische Staat und die Juden. T. 1, Abt. 1—2; T. 2, Abt. 1—2. — Tübingen: Mohr (Siebeck) 1962 = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen d. Leo-Baeck-Instituts 7/1—8/2. zus. DM 152, — . 1. T. Die Zeit d. Großen Kurfürsten u. Friedrichs I. 1. Darstellung. XX, 159 S. 2. Akten. 546 S. 2. T. Die Zeit Friedrich Wilhelms I. 1. Darstellung. VIII, 180 S. 2. Akten. 804 S. Drei der vorliegenden vier Bd.e sind photomechanischer Neudruck. Die beiden Abteilungen des 1. Teils wurden im Jahre 1925 von der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums veröffentlicht, die 1933 aufhörte zu existieren. Erst im Jahre 1938 wurde der kurz vor 1933 abgeschlossene Darstellungsbd. II/l unter den Auspizien des Schocken-Verlags in Berlin gedruckt. Auf den Druck des ebenfalls Anfang der 30er Jahre vorliegenden Aktenbd.es II/2 wurde damals verzichtet. Aber auch der Darstellungsbd. erschien nicht. Die Ereignisse des November 1938 haben es verhindert. Der Quellenbd. II/2 ist erst 1962, 30 Jahre nach seiner Fertigstellung, gedruckt worden. Ebenfalls erstmalig gedruckt ist die der 1. Abteilung des 1. Teils vorangestellte Einleitung (1/1, S. VII—XX). „Basel im Frühjahr 1961" datiert ist die Einleitung, der einzige Abschnitt des Werkes, der in den letzten Jahren geschrieben wurde und als selbständiges Essay auch auf englisch erschien (Publications of the Leo Baeck Institute, Yearbook VII, London 1962, pp. 3—10). Die Arbeit war ursprünglich für die Zeit von 1648—1812 geplant, „für die Jahrzehnte, die zwischen der Aufnahme einzelner Juden in den preußischen Staatsverband und der Verleihung der staatsbürgerlichen Rechte an die Gesamtjudenschaft des Königreichs liegen" (1/1, S. XI). In Gestalt der beiden ersten Teile, die insgesamt 1709 S. umfassen, liegt jetzt die Bearbeitung der Epoche von 1648 — 1740 vor. Mitteilungen des Leo-BaeckInstituts lassen hoffen, daß auch der 3. Teil, der bis 1786 reichen soll, in nicht zu ferner Zeit vorgelegt werden wird. Die Feststellung, daß Geschichte für jede Generation neu geschrieben werden muß, hat im vorliegenden Falle ganz besondere Bedeutung. Nach der Vernichtung großer Teile des europäischen, darunter auch des deutschen Judentums während der Hitler-Periode, muß sich heute Geschichte des preußischen Judentums ganz anders darstellen als vor 25, geschweige denn vor 40 Jahren. Hinzu kommt, daß der preußische Staat inzwischen zugrunde gegangen ist und daß die Geschichte Preußens ebenso wie die preußische kleindeutsche Lösung der deutschen Frage heute einer historischen Betrachtung in anderem Lichte erscheinen als vor einer Generation. Eine Besprechung des Buches „Der preußische Staat und die Juden" unter den Gesichtspunkten, unter denen historische Neuerscheinungen sonst besprochen werden, ist daher nur unter Vorbehalt möglich. Denn das Buch ist in der Zeit, die zwischen seiner Abfassung und dem jetzigen Erscheinen verstrichen ist, in gewissem Sinne selbst ein historisches Dokument geworden. Man muß sich dieses Umstandes bewußt bleiben, um dem darstellenden Teil des Werkes gerecht zu werden. Um so bedeutsamer ist es, daß die Aktenbd.e mehr als dreimal so umfangreich sind als die Darstellungsbd.e. Auch wenn die Darstellung z. T. überholt sein oder an Geltung ein-

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gebüßt haben sollte, bleibt das Aktenmaterial eine Fundgrube hohen Ranges. Das wird sich auch erweisen, wenn die Forschung eines Tages über Sterns klar begrenztes Ziel einer Untersuchung der Beziehung zwischen dem preußischen Staat und den Juden hinausgehen und eine Darstellung der Geschichte der Juden in Preußen in Angriff nehmen sollte. In der Einleitung stellt die Autorin, ausgehend von allgemeinen Erwägungen über den deutschen Juden am Ende seiner wechselvollen Geschichte, programmatisch fest: „Die wichtigste Erscheinung dieser Entwicklung ist der Prozeß der Emanzipation der Juden in der Neuzeit, das heißt der Prozeß ihrer allmählichen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung in den Staatskörper ihres Wirtsvolks, und der Prozeß der Assimilation, das heißt der Auseinandersetzung mit und der Angleichung an Geist und Kultur, an Sprache und Sitte ihrer Umgebung" (1/1, S. VII). Sodann führt Stern aus, daß dieser Prozeß gleichbedeutend war „mit der Geschichte des gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Aufstiegs der Juden" (a. a. O., S. Vllf.), unterläßt jedoch auffallenderweise dabei die als Ergänzung notwendige Feststellung, daß der erwähnte Prozeß schließlich auch gleichbedeutend mit einer immer weiter fortschreitenden Auflösung des Judentums war. Kurz danach stoßen wir auf eine der wichtigsten Thesen des Buches: „Die Emanzipationsdekrete waren nicht so sehr das Ergebnis der Reformideen des Rationalismus als der Judenpolitik der absolutistischen Herrscher in der Epoche des Merkantilismus . . ." (a. a. O., S. VIII), eine These, deren Wichtigkeit am Beispiel des preußischen Staates veranschaulicht werden soll. Die Arbeit war „als eine rein politische Untersuchung gedacht". Zwar erwies sich diese „Beschränkung . . . als undurchführbar", zwar war es notwendig, „das Problem auch von der geistesgeschichtlichen und soziologischen Seite her zu untersuchen". Dennoch aber blieben „der Staat und seine Funktionen immer im Mittelpunkt der Betrachtungen" (a. a. O., S. Xf.). Unter den Mitteilungen der Autorin über den Anfang der im Jahre 1920 unter den Auspizien des Forschungsinstituts der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums" in Berlin begonnenen Arbeit verdient ein Satz besondere Beachtung, weil er die weltanschaulichen Grundlagen ihres Denkens bloßlegt. „In dieser erwartungsfrohen Stimmung, in der an eine Wiedergeburt des Judentums aus dem Geiste und mit den Mitteln der modernen Wissenschaft und an eine sinnvolle Symbiose von Deutschen und Juden geglaubt werden konnte, in der jeder, seines eigenen Wesens, seiner eigenen Religion, seiner eigenen Geschichte und Tradition bewußt, das Wesen, die Religion, die Geschichte und die Tradition des anderen achtete und verstand, und es möglich erschien, daß aus der Synthese der wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Erlebnisse und Erfahrungen beider die europäische Kultur Bereicherung, Erneuerung und Vertiefung erfuhr, habe ich die jetzt zur Veröffentlichung kommenden Bände 1/1 und 1/2, II/l und II/2 geschrieben" (a. a. O., S. XII). Der Vf.in gebührt unser Dank dafür, daß sie sich 1961 nach mehr als 40 Jahren zu ihrer einstigen Überzeugung und frohen Erwartung bekennt, die in so entsetzlicher Weise ad absurdum geführt wurden. Für uns wird die Frage zu untersuchen sein, wieweit diese Denkart die Darstellung beeinflußt hat. Im Fortgang ihres autobiographischen Bekenntnisses legt die Vf.in dar, wie sie die Arbeit fortsetzte „ohne Hoffnung auf eine Veröffentlichung, fast in der Gewißheit ihrer Vernichtung". Selma Stern-Täubler ist erst im Frühjahr 1941 zusammen mit ihrem Gatten, dem Alt-Historiker Eugen Täubler, nach den Vereinigten Staaten ausgewandert. Der grauenhafte Druck, unter dem deutsche Juden in jenen Jahren standen, wird fühlbar, wenn sie berichtet, wie die Aktenabschriften, die für eine künftige Veröffentlichung nötig waren, angefertigt und durch einen Vertrauensmann ins Ausland gesandt wurden. Offen-

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sichtlich ist es den Aufregungen der Pogromzeit im November 1938 zuzuschreiben, daß Stern über die angebliche Vernichtung der Bücher des Schocken-Verlages, darunter auch der ersten, gerade gedruckten Exemplare von II/l, einen unzutreffenden Bericht gibt (a. a.O., S.XIVf.). Weder fand im Schocken-Verlag eine Razzia statt, noch sind im Verlag Bücher verbrannt worden; die Bücher wurden vielmehr für beschlagnahmt erklärt. 1 Im selben Zusammenhang fallen auch einige Bemerkungen über verlorene Materialien von Bd. II/2, auf die wir bei Besprechung des Bd.es eingehen werden. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist deutlich erkennbar. Im Anschluß an einen Hinweis auf Arbeiten von Schmoller, Breysig und Hintze steht der Satz: „Leider schweigen all die zahlreichen Abhandlungen über die preußischen Behörden von der Stellung, die sie den Juden gegenüber einnahmen" (1/1, S. 23, Anm. 2). Der Wunsch, die Lücke auszufüllen, hat Stern den Antrieb zur Abfassung gegeben und zugleich die Methode der Arbeit bestimmt. Die Aktenbd.e setzen die Tradition der „Acta Borussica" fort, und die Darstellung knüpft an die zahlreichen Untersuchungen zur brandenburgisch-preußischen Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte an. Die Autorin packt mit Frische zu und versteht es, lebendig zu erzählen. Immer wieder sucht sie jüdische Geschichte nicht isoliert zu betrachten, sondern in sinnvolle und anschauliche Beziehung zu ähnlichen Entwicklungen anderer Gruppen zu rücken. „Wie bei der Aufnahme der Hugenotten die Aufhebung des Edikts von Nantes, wurde ein äußerer Anlaß — die Vertreibung der Juden aus Österreich — die Ursache ihrer Ansiedlung in der Mark Brandenburg" (1/1, S. 10). Der Bericht des brandenburgischen Residenten in Wien, Andreas Neumann, an den Kurfürsten; die Antwort an Neumann, man sei geneigt, 40 bis 50 österreichische Judenfamilien, sofern es reiche und wohlhabende Leute seien, in der Mark Brandenburg aufzunehmen; das Auftreten von drei Abgesandten der österreichischen Juden in Berlin, ihre Verhandlungen mit den brandenburgischen Staatsmännern — all das wird farbig geschildert. Bei der Erörterung der Motive der kurfürstlichen Judenpolitik kommt zum Ausdruck, daß finanzpolitische Erwägungen eine wichtigere Rolle gespielt haben als Einsicht in den Wert der Toleranz — Zusammenhänge, die dem Kurfürsten während seiner Jugend in Holland klargeworden waren — und auch als bevölkerungspolitische Gesichtspunkte. Einleuchtend ist der Hinweis darauf, daß der Kurfürst auch an Mitwirkung von Juden bei der Verwirklichung seiner kolonialen Pläne gedacht hat. In die Darstellung eingeflochten sind Porträtskizzen der maßgebenden, kurfürstlichen leitenden Beamten und auch bedeutender jüdischer Figuren wie die des aus Holland stammenden Jacobson de Jonge, in dessen Person Züge des jüdischen Kaufmanns und des holländischen Mynheern eine bemerkenswerte Verbindung eingegangen sind. Am Schluß des 5. Kapitels „Ständepolitik und Judenfrage" arbeitet die Autorin die Abhängigkeit der Judenpolitik des Fürsten von seiner jeweiligen Stellung zu den Ständen heraus; sie zeigt, daß „Friedrich Wilhelm die Juden im Kampfe gegen diese Stände benutzte, genau wie er sich ihrer im Kampfe gegen die Zünfte bediente; daß er sich auf sie stützte, wie er sich auf alle die nichtprivilegierten Klassen seines Landes, die Beamten und Offiziere, die Pastoren und Industriellen stützte" (a. a. O., S. 75). Mit Recht führt Altmann in seiner Besprechung des 1. Teils (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23, S. 238—246) aus: „Seine (seil, des Kurfürsten) Judenpolitik bedeutete ihm mehr als Ansiedlung einiger Dutzend Handelsleute. Sie war ihm ein Mittel im Kampf gegen die Stände, weil er mit dem Judenregal einen Teil der verlorengegangenen landesfürstlichen Hoheit wiedergewann. In der Vgl. M. Spitzer, Die Novembertage 1938 im Schocken-Verlag, Mitteilungsblatt, Tel Aviv, Nr. 45, 8. November 1963, S. 3. — Dr. Spitzer war einer der Verlagsleiter. 1

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Aufhellung dieser politischen Zusammenhänge liegt zweifellos das Hauptverdienst der Sternschen Arbeit." (Altmann, a. a. O., S. 239). Eine Fülle vortrefflicher Beobachtungen beleben die Darstellung. Stern führt aus, „wie zu dem rein materiellen Interesse, das die Beamten bis jetzt an den Juden genommen hatten, ein rein menschliches und psychologisches kommt, wie die ständige Berührung mit den Gemeinden . . . ihre ganze innere Stellung verändert. . . Die wichtige Rolle, die das preußische Beamtentum in der Geschichte der Emanzipation spielen sollte, beginnt in jener Zeit" (I, 1, S. 99f.; vgl. auch S. 23 und vor allem S. 118f.). Von nachhaltiger Bedeutung wird die Entwicklung zum Obrigkeitsstaat, der ebenso wie er in die Stadtverwaltungen eingreift und ihre Selbständigkeit untergräbt, sich jetzt auch in die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden, in die Wahlen der Vorsteher, der Rabbiner, selbst in Dinge des Kultus einmischt. Besonders geglückt ist die Schilderung der jungen Berliner Gemeinde, in der sich die heterogensten Elemente zusammenfanden: neben armen Hausierern, Händlern und Krämern gewandte Großkaufleute und reiche Juweliere, neben Bettlern und Wucherern Ärzte, Gelehrte und Rabbiner — Menschen, die aus den verschiedensten Ländern, aus Österreich und Böhmen, aus Polen und Litauen, aus dem Rheinland und aus Süddeutschland eingewandert waren, Menschen, denen gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Gemeindetradition, gemeinsame Erlebnisse fehlten und unter denen die Österreicher, die zuerst gekommenen, sich als Aristokratie empfanden. Am Beispiel der Familie Liebmann, deren Wirtschaftsbeziehungen den ganzen Staat von den rheinischen Besitzungen über Brandenburg bis nach Preußen hin umspannen, wird dargelegt, wie das Wirken der Juden in den Dienst einer auf Schaffung eines wirtschaftlichen Großraums abgestellten Politik gestellt wird. Das 10. Kapitel des 1. Bd.es, das zugleich das Schlußkapitel ist, macht deutlich, wie die Judenpolitik beider Hohenzollern, des Kurfürsten Friedrich Wilhelm und seines Sohnes, der Einwanderung freien Spielraum gab und ununterbrochen einen starken jüdischen Zustrom ins Land brachte. In der erwähnten Besprechung gelangt Altmann auf Grund des in 1/2 veröffentlichten Aktenmaterials zu bemerkenswerten Ergebnissen, die Sterns Darstellung wirksam ergänzen und zusammenfassen: „Die publizierten Akten geben außerdem ein selten scharfes Bild von der Eingliederung der Juden in die nach dem nahrungsrechtlichen Prinzip . . . bereits aufgeteilte Wirtschaft. Im allgemeinen ist den Juden die .bürgerliche Nahrung' nicht gestattet. Sie dürfen nur den Raum ausfüllen, den die Zünfte zufällig offengelassen haben, so daß ihnen die Pfand- und Geldleihe allein überall unbestritten bleibt. . . Die auffällige Tatsache, daß über die reichen Hoffaktoren und Heereslieferanten keine Klagen vorliegen, erklärt sich damit, daß ihre Geschäfte mit der zünftigen Wirtschaft keine Reibungsflächen hatten . . . Sobald aber der Jude den Konsumenten direkt beliefert oder direkt vom Produzenten kauft, entstehen Feindseligkeiten." (Altmann, a. a. O., S. 243). Es kann im Rahmen dieser Besprechung nur kurz angedeutet werden, warum die Uberlegungen, die Altmann im Anschluß an die von Stern vorgelegten Akten vor mehr als einem Dritteljahrhundert angestellt hat, uns heute im Rückblick auf die katastrophale Entwicklung der deutsch-jüdischen Beziehung so außerordentlich aufschlußreich erscheinen müssen. Sie legen einen Vergleich der wirtschaftlichen Situation des brandenburgischpreußischen Judentums in seinen Anfängen mit derjenigen des Judentums nach der Emanzipation nahe, einen Vergleich, der verhängnisvolle Entwicklungen der deutsch-jüdischen Problematik in hellste Beleuchtving rückt. Die kleine Zahl wohlhabender jüdischer Familien, die vom absolutistischen Staat herbeigerufen worden waren, brauchte in ihren neuen Wohnorten nicht im eigentlichen Sinne zu „arrivieren". Konkurrenzkampf und daran an-

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schließender Aufstieg waren der Zulassung vorausgegangen, war doch Wohlhabenheit eine Voraussetzung zur Zulassung gewesen. Diese Juden waren im brandenburgischpreußischen Staat Pioniere auf Wirtschaftsgebieten, auf denen die Umgebung ihnen nur zögernd und langsam folgte, und gerieten nur gelegentlich in einen Konkurrenzkampf hinein, der notwendigerweise Reibungen im Gefolge haben mußte. Nach der Emanzipation — und nachdem die Nachkommen jener schmalen, reichen Schicht durch Absorption fast gänzlich verschwunden waren — hat sich die Eingliederung einer zahlenmäßig stärkeren, sozial und wirtschaftlich größtenteils viel tiefer stehenden jüdischen Gruppe, die bisher abseits gestanden hatte, unter anderen Begleitumständen vollzogen. Der Aufstieg, der im 19. und auch noch im 20. Jh. diese jüdische Minderheitsgruppe aus dem Kleinbürgertum in die obere Schicht des mittleren Bürgertums und gelegentlich darüber hinaus führte, vollzog sich in heftigen Konkurrenzkämpfen, die zum Stil des Zeitalters der freien Wirtschaft gehörten, häufig Reibungen zwischen Juden und ihrer Umgebung verursachten und in hohem Maße an der Entstehung des modernen Antisemitismus mitgewirkt haben. Vor einer Würdigung des 2. Darstellungsbd.es „Die Zeit Friedrich Wilhelms I." (II/l) einige Worte über den dazugehörigen Aktenbd. (II/2). Altmann hatte mit Recht seinerzeit für die folgenden Aktenbd.e eine sorgfältigere Bearbeitung der Sachregister gefordert. Um so unverständlicher ist, warum dem 1962 erstmalig gedruckten Aktenbd. II/2 überhaupt kein Register beigegeben ist, im Gegensatz zu den Bd.en 1/1,1/2 und II/l. Noch störender ist, daß eine Inkongruenz zwischen Darstellung und Aktenbd. unerläutert bleibt. Immer wieder finden sich in Anmerkungen des Darstellungsbd.es Verweise, wie zum Beispiel: „Aktenband Nr. 868"; der Benutzer, der dann das Aktenstück nicht findet und feststellt, daß die letzte abgedruckte Akte die Ziffer 701 trägt, vermutet zunächst einen Druckfehler. Nun fällt zwar im 1. Bd. im Rahmen der autobiographisch untermalten „Einleitung" die Bemerkung, daß die ostpreußischen Akten und einige wenige andere Dokumente von Bd. II/2, die aber in der Darstellung schon vollständig verarbeitet waren, „verlorengegangen" sind (1/1, S. XV). Aber das genügt nicht. Es bedeutet eine unnötige Erschwerung in der Benutzung eines in mancher Beziehung hervorragenden Werkes, daß weder im 3. noch im 4. Bd., nämlich weder in II/l noch in II/2, Angaben über Zahl und Umfang des verlorengegangenen Materials gegeben werden. Die abgedruckten Aktenstücke scheinen nur etwa vier Fünftel des ursprünglich zugrunde gelegten Materials auszumachen; und das hätte in wenigen Worten klargestellt werden müssen. Übrigens sind glücklicherweise nur Aktenabschriften, nicht die Akten selbst, verlorengegangen. Es ist wahrscheinlich daß mindestens ein Teil der Originalakten noch existiert und daß es möglich wäre, neue Abschriften zu beschaffen. Wieso ist das nicht versucht worden? Der 2. Darstellungsbd. „Die Zeit Friedrich Wilhelms I." (II/l) geht davon aus, daß die Judenpolitik des Soldatenkönigs keine einheitliche Linie zeigt wie die seiner Vorgänger. Wenn man die Richtigkeit dieser Annahme unterstellt, ist es nur konsequent, daß die Darstellung in Längsschnitte aufgelöst und jedes Kapitel einer besonderen Sparte gewidmet wird. Eingerahmt in zwei Untersuchungen allgemeiner Art „Die geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts und das Judentum" (1. Kap.) und „Die Juden und die Umwelt" (8. Kap.) stehen 6 Kapitel, in denen die bedeutendsten Forschungsergebnisse festgehalten sind. In ihnen wird die Judenpolitik unter den Gesichtspunkten der Behördenorganisation, der Steuer-, Handels- und Industrialisierungspolitik, des Geld- und Münzwesens, endlich auch die Einflußnahme des Staates auf die Organisation der jüdischen Gemeinden behandelt. Gerade weil nach Ansicht der Autorin die Herausarbeitung einer einheitlichen Linie, d. h.

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einer geschichtlichen Entwicklung nicht möglich war, konnte sie sich für berechtigt halten, lediglich Zustandsschilderungen zu geben. Der Vf.in gelang es, eine zunächst verwirrende Fülle von Einzelheiten eindrucksvoll anzuordnen, so daß gleichsam Mosaikbilder entstanden. Wohl kaum je ist der Einbau einer jüdischen Gruppe in einen absolutistischen Staat, die geplante Verflechtung jüdischen Lebens mit dem Leben der Umgebung so eingehend geschildert, mit so vielen Beispielen belegt und zugleich so gründlich dokumentiert worden. In knapper Formulierung werden Folgerungen gezogen: „Die Juden traten aus der Rolle bloßer Finanzobjekte heraus. Sie wurden aus einem Hoheitsrecht der Krone zu Steuerträgern des Staates" (II/l, S. 45f.). Ferner: „Unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. hat die preußische Industrie ihre erste Blüte erlebt, und neben den Hugenotten waren es vornehmlich die Juden, die sie zur Entwicklung brachten" (a. a. O., S. 105). Die Zitierung solcher Stellen ließe sich noch vermehren. Wichtiger jedoch ist es für uns zu untersuchen, wie die verschiedenen Längsschnitte miteinander in Beziehung gesetzt sind, so daß sie ein Ganzes ergeben. In dem Buch kehren bestimmte Gedanken gleichsam als Leitmotive wieder. Eines dieser Motive ist die Feststellung, daß die Juden aus der Enge ihrer bisherigen Existenzform herausgerissen wurden. Der Darlegung über die Entwicklung der Juden zu Steuerträgern des Staates wird die Erwägung hinzugefügt, daß der Staat, indem er die Rechte und Pflichten der jüdischen Steuerzahler genau abstufte und abgrenzte, die Juden als Stand den anderen Ständen des in Klassen und Kasten abgegrenzten Staates annäherte. Für die Juden bedeuteten die Reparationen, die von nun an alle fünf Jahre durch die Abgeordneten der jüdischen Gemeinden vorgenommen wurden, den ersten losen Zusammenschluß über die ganze Monarchie hin. So kam es, daß die bisher streng voneinander geschiedenen Gemeinden — Kleve, Mark und Halberstadt, Berlin und Halle, Frankfurt und Königsberg — zum ersten Male ihren Blick auf ein größeres volkswirtschaftliches Ganzes richteten und sich „herausgerissen" fühlten „aus der Enge des Ghettos und einbezogen in die weiteren Bereiche des staatlichen Wirkens und Handelns" (a. a. O., S. 46). Ähnlich wird auch den Bemerkungen über die Mitwirkung von Juden an der ersten Blüte der preußischen Industrie der Gedankengang hinzugefügt, daß diese industrielle Leistung für ihre Stellung im Staat unmittelbar keine Bedeutung hatte, daß der Staat bei der Gewährung von Privilegien und Konzessionen noch nicht an eine Erweiterung der Rechte der Juden dachte, „aber indem er sie seinen wirtschaftlichen Interessen dienstbar machte, riß er sie zugleich aus der Enge einer sich selbst genügenden Existenz heraus und verband sie m i t . . . Leistungen des ganzen Volkes" (a. a. O., S. 105). Dasselbe Leitmotiv verwendet die Autorin in der Zusammenfassung der Forschungsergebnisse am Schluß des Kapitels „Der absolutistische Staat und die Organisation der jüdischen Gemeinden". Man begreift, so führt sie nach einer genauen Beschreibung der Eingriffe des Polizeistaates in das Familien- und das Eheleben, in die berufliche, geistige und moralische Sphäre aus, daß den Juden jener Tage „die Epoche Friedrich Wilhelms I. als die eiserne Zeit erschien" (a. a. O., S. 148). Auf der anderen Seite aber „bedeutet die beginnende Auflösung der jüdischen Eigenverwaltung nichts anderes als die beginnende politische Eingliederung in den Staat. Hob der Staat die Selbstverwaltung der Gemeinde auf, so vernichtete er gleichzeitig die Schranken, die ihn von dieser Körperschaft trennten. Erzog er den jüdischen Vorsteher und Kassierer durch harte Strafen und strenge Kontrolle zu eiserner Disziplin, so näherte er gleichzeitig den lässigen Menschen des Ghettos dem preußisch-disziplinierten Menschen des 18. Jahrhunderts. Zwang er sie mit Hilfe der Buchführung, sich der deutschen Sprache zu bedienen, so legte er gleichzeitig den Grund zu einer kulturellen Assimilation des Juden an die Um-

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weit" (a. a. O., S. 149). Nicht einmal in diesem Zusammenhang fällt auch nur der knappste Hinweis darauf, daß „die beginnende Auflösung" schließlich zur völligen Auflösung und damit zum Verschwinden der sich assimilierenden Gruppe führen mußte. Ebensowenig taucht die Frage auf: Welche spirituellen Werte sind dem preußischen und darüber hinaus dem deutschen Judentum entgangen, als es sich aus dem jiddischen Sprach- und Kulturbereich herauslöste und dadurch zum Beispiel von der Teilnahme am Chassidismus ausschloß? In denselben Jahren, in denen in Preußen nach Sterns Formulierung die Annäherung des Ghetto-Menschen an den preußisch-disziplinierten Menschen stattfand, begann wenige hundert Kilometer entfernt im Osten jene großartige Entfaltung jüdischmystischer Religiosität, deren Bedeutung erst in diesem Jahrhundert dem Westjudentum und darüber hinaus der ganzen westlichen Zivilisation von Martin Buber nahegebracht wurde. Ein anderes Leitmotiv, das sich in dem Bd. immer wieder findet, ist die Feststellung, daß der König und die hohen Beamten in der Judenpolitik oft gegeneinander stehen, höchst verschiedene, bisweilen geradezu einander entgegengesetzte Maßnahmen wünschen und daß die Beamten in der Regel viel toleranter sind. So wird eine genaue Darstellung aller das Berliner Schutzjudentum betreffenden Regelungen gegeben, die Heirats- und Niederlassungsbeschränkungen für erste, zweite und dritte Kinder im einzelnen ausgeführt, das Hin und Her bei der Feststellung eines numerus clausus ausgesponnen — 1737 wurde schließlich die Zahl der wohnberechtigten jüdischen Familien auf 120 begrenzt —, die Besetzung oder Nichtbesetzung „vakanter Stellen" dargelegt. Die Autorin beklagt auch einmal, daß hier das Aussterben verordnet wird (II/l, S. 146), genau so wie sie schon im 1. Darstellungsbd. beklagt hat, daß die Enkeltochter eines der hervorragendsten jüdischen Kaufleute der Monarchie zur Zeit Friedrichs I. zum Christentum übertrat und daß dann der Großvater bei Androhung militärischer Exekution gezwungen wurde, das christlich gewordene Familienmitglied finanziell ebenso gut zu stellen wie die anderen, jüdisch gebliebenen Kinder und Enkelkinder (1/1, S. 117 f.). Immer wieder vermerkt Frau Stern, daß Betteljuden nicht zugelassen, vertrieben oder mit Gefängnis, Festungshaft und Zwangsarbeit bedroht wurden, und legt dar, wie die Beamten mehr oder minder erfolgreich Härten zu mildern suchten. Niemals aber gelangt sie zu der Feststellung, daß der König und die Beamten, so verschieden auch die von ihnen gewünschten Maßnahmen sein mochten, etwas Wesentliches gemeinsam hatten: daß sie trotz aller Verschiedenheit der Mittel letzten Endes ein und dasselbe Ziel im Auge hatten. Niemals nämlich zieht sie den Schluß, daß derselbe Staat, der wohlhabende Juden zuließ oder einlud, um eine fehlende oder in viel zu geringem Umfang vorhandene Schicht zu kreieren — eine Art Großbürgertum mit dem wirtschaftlichen Unternehmungsdrang, der für den Aufbau des Staatswesens notwendig war —, daß derselbe Staat, nachdem diese Schicht ihre Funktion erfüllt hatte oder sogar während sie noch dabei war sie zu erfüllen, das Verschwinden der Juden als einer besonderen Gruppe wünschte. Nie auch kommt ihr der Gedanke, daß die Emanzipation selbst gleicherweise unter anderem als ein Mittel zur Absorption des Judentums gedacht war und daß die staatliche Politik Erfolg hatte; wurde doch die Emanzipation erst gewährt, als das Verschwinden jener ersten, seit 1670 so zweckmäßig eingebauten jüdischen Gruppe durch Übertritt zum Christentum unzweifelhaft geworden war. Ein drittes Leitmotiv ergibt sich aus der an sich begrüßenswerten Tendenz, jüdische Geschichte nicht isoliert zu betrachten. So wird Feindseligkeit gegen die Juden schon im 1. Bd. mit „Haß gegen den Fremden und gegen den Händler überhaupt" erklärt, mit der Art und Weise, in der auch die Hugenotten und Niederländer angefeindet wurden. Als Beispiel berichtet Stern im Anschluß an eine „Geschichte der französischen Kolonie in

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Magdeburg": Als 1685, am dritten Weihnachtstage, beinahe fünfzig Franzosen „fast nackend und bloß durch die Straßen wanderten, weideten sich die Altbürger an ihrem Elend. Das Volk verhöhnte sie" (1/1, S. 152). Wenn jedoch 1714, also ungefähr eine Generation nach jenem Magdeburger Vorfall, die deutschen und französischen Kaufleute von Berlin in einer Bittschrift sich gemeinsam über ihre jüdischen Konkurrenten beschweren (II/l, S.59), drängt sich der Autorin nicht die Beobachtung auf, daß der Fremdenhaß gegen die Franzosen nachgelassen hat, gegen die Juden andererseits in unverminderter Stärke weiterbesteht. Bezeichnend für Sterns Betrachtungsweise sind auch die Ausführungen, daß die „Schmähungen und Beleidigungen, in denen sich die Stände und Zünfte gegen die Juden ergingen . . . nicht nur die Ausländer und Fremden, sondern auch die Wegbereiter des Absolutismus, die Zerstörer des Ständestaates, die Träger der neuen revolutionären Staatsund Wirtschaftsauffassung" treffen sollten. Ebenso spielte, wenn die Städte der Altmark und die pommerschen Kaufleute sich beschwerten, dabei „die Furcht vor der beginnenden Aufhebung der städtischen Privilegien . . . eine ebenso große Rolle wie die Abneigung gegen die Juden" (II/l, S. 153). Was Stern das eine Mal über die Feindseligkeit der Städte uud Zünfte gegen die Juden als Träger der neuen Staats- und Wirtschaftsauffassung, das andere Mal über die Furcht vor der beginnenden Aufhebung der städtischen Privilegien konstatiert, ist zwar an sich richtig. Aber die Autorin verkennt den Sinn und die Dynamik der von ihr selbst zutreffend beobachteten Phänomene. Der Judenhaß pflegt in Krisenzeiten in der Regel zunächst neben anders motivierten und anders ausgerichteten Feindseligkeiten und Ängsten sichtbar zu werden. Bisweilen wird er dann — meist durch Manipulierung — der gemeinsame Nenner für aggressive Tendenzen der verschiedensten Herkunft. Es kann auch geschehen, daß er jene ursprünglich ihm nicht zugehörigen Tendenzen in sich aufnimmt und ungeheuer anschwillt, so wie ein Fluß, in den sich nach Erdbeben und Bergstürzen neue Bäche und Nebenflüsse ergießen, zum Strom wird, der die Dämme zerbricht und das Land überflutet. Sicherlich mag es nach den Ereignissen der Hitlerzeit leichter als vorher sein, diese Dynamik zu verstehen. Aber noch während Selma Stern ihr Werk schrieb, erschien 1926 in Berlin „Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung" von Fritz Bernstein, ein Buch, in dem Phänomene wie die hier beschriebenen aufs gründlichste analysiert wurden und das dann ein Vierteljahrhundert später das bemerkenswerte Schicksal hatte, zwar in englischer Ubersetzung, aber seinem Inhalt nach völlig unverändert wieder erscheinen zu können (Peretz F. Bernstein: „Jew Hate as a Sociological Problem", New York 1951). Die Bagatellisierung der antisemitischen Gefahr, die sich durch die ganze Darstellung hindurchzieht, erreicht ihren Höhepunkt in den Darlegungen über den Judenhaß Friedrich Wilhelms I., wenn Stern, statt den von blindem Vorurteil diktierten, hemmungslosen Haß gebührend zu kennzeichnen, seine stilistische Ausdrucksform nicht ohne Wohlwollen charakterisiert. „In den Marginalien, die er . . . in seinem polternden, schlechten und doch so bildhaften, kernigen Deutsch an den Rand der Judenakten schrieb, gab er diesem ganz persönlichen Haß gegen die Juden als der (sie!) Pest und dem (sie!) Verderben des Landes immer wieder lauten und offenen Ausdruck" (II/l, S. 9). Die Ausführungen über die Leitmotive in Sterns Darstellung enthalten zugleich die Antwort auf die früher von uns aufgeworfene Frage (vgl. S. 112). Der Glaube an eine sinnvolle Symbiose von Deutschen und Juden und die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Judentums aus dem Geist und mit den Mitteln der modernen Wissenschaft — Uberzeugungen, zu denen sich die Autorin noch nach 40 Jahren bekennt, haben die Darstellung beeinflußt. Das wird stets deutlich, sobald Stern Parallelen zieht, das Berichtete zusammenfaßt und, wenn auch noch so vorsichtig, die Interpretationen und Auswertungen vornimmt, 20 Jahrbudi 12

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die nun einmal zum Wesen der Geschichtsschreibung gehören. Sie sieht lediglich die positiven Seiten der Assimilation, den Eintritt in die moderne westeuropäische Welt, dagegen nicht die Verluste und Schattenseiten, die der Übergang aus einem Kulturkreis in den anderen mit sich bringt. Nicht zufällig auch übersieht sie, daß der König und seine Beamten sich im wesentlichen einig sind, in dem Ziel, durch Verringerung der Zahl der ansässigen Juden, durch Ausschluß der Armen und durch Begünstigung der Ubertritte zum Christentum das Verschwinden des Judentums herbeizuführen. Vermutlich unterschätzt sie den Prozeß der Absorption deshalb, weil ihr die erwähnte unrealistische Vorstellung von der Wiedergeburt des Judentums aus dem Geist der Wissenschaft vorschwebt. Vor allem aber verkennt sie die antisemitische Gefahr, wahrscheinlich weil sie gleich vielen anderen bürgerlichen Menschen, die ebenso wie sie in der Sekuritätsperiode vor dem 1. Weltkrieg herangewachsen waren, blind ist nicht bloß gegenüber den Mächten des Hasses, sondern gegenüber allem Triebhaften, gerade auch gegenüber antisozialen, destruktiven Trieben, gegenüber den Kräften der Tiefe. Im übrigen steht Stern im Banne des preußischen Mythus. Sie hat nicht nur Form und Methode der preußischen Historiographie des 19. und frühen 20. Jh.s übernommen, sondern auch das damals entstandene Geschichtsbild (vgl. dazu Hans Rosenberg: „Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience, 1660 — 1815", Cambridge, Massachusetts, 1958, S. 234). Preußische Geschichte des 17. und 18. Jh.s ist ihr noch immer vorwiegend Geschichte der drei großen Hohenzollern. Selma Stern stand, als sie zwischen 1920 und 1933 ihr Werk schrieb, mit den Ansichten, die ihre historische Interpretation und ihre Werturteile bestimmten, keineswegs allein, sondern gehörte zu einer breiten, repräsentativen Schicht des deutschen Judentums, die ihren Standpunkt teilte. Sie hat ausgesprochen, was viele Tausende dachten. Dadurch aber, daß sie als Historikerin ihr Bild der Vergangenheit nach bestem Wissen und Gewissen aufzeichnete, hat sie zwar etwas anderes, aber auf lange Sicht noch Wichtigeres geleistet, als sie beabsichtigte. Gerade wer der historischen Interpretation Sterns nicht zu folgen vermag, muß den Wert ihres Werkes als historisches Dokument desto höher einschätzen. Es spiegelt getreu Haltungen wider, die charakteristisch für viele deutsche Juden vor 1933 waren: den Patriotismus von oft monarchistischer Prägung, die Verflechtung liberalen und konservativen Denkens im Zeichen des klassischen Neuhumanismus, vor allem aber die Ahnungslosigkeit gegenüber den Gefahren einer in beispiellosen Umwälzungen begriffenen Welt, ein unerschütterliches Sekuritätsgefühl, das sich so tragisch als Selbsttäuschung erweisen sollte. Trotz der Einwände gegen Sterns historische Interpretation bleibt ihre Arbeit eine außerordentliche Leistung, nicht zuletzt auch ein höchst wertvoller Beitrag zur preußischen Geschichte. Das Buch wird für längere Zeit ein grundlegendes Werk für die Erforschung des preußischen Judentums bleiben, schon deshalb, weil sich kaum eine Frage nach den faktischen Gegebenheiten der jüdischen Situation in Preußen während der behandelten Epoche stellen läßt, auf die hier keine Antwort erteilt wird. Freilich könnte der Wert des Buches als Nachschlagewerk noch gesteigert werden, wenn nicht nur das fehlende Register für II/2, sondern ein auch auf den bisherigen Registern aufgebauter und vervollständigter Index für das Gesamt werk geliefert wird. Durch die Neuherausgabe des Buches hat sich das Leo-Baeck-Institut, das in der kurzen Zeit seines Bestehens schon eine Reihe wichtiger Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums aufzuweisen hat, ein großes Verdienst erworben. Noch größer ist das Verdienst der Vf.in. Das Werk, dem andere z. T. auch weiteren Kreisen bekannt gewordene Veröffentlichungen Selma Sterns vorausgegangen sind, ist als ihr Haupt-

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werk anzusehen, als die Krönung ihrer Lebensarbeit. Seine Vf.in steht in der Nachfolge jener namhaften Gelehrten, die seit den Tagen von Leopold Zunz die Wissenschaft vom Judentum aufgebaut haben, die einzige Forscherin von Rang, die das deutsche Judentum auf dem so lange vernachlässigten Gebiet der wissenschaftlichen Erschließung seiner Vergangenheit aufzuweisen hat. New York Adolf Leschnit^er ZSINDELY, Endre: Krankheit und Heilung im älteren Pietismus. — Zürich/Stuttgart: Zwingli-Verl. 1962. 183 S. DM 14,80.

In diesem Buch wird aus der Sicht des Theologen die Stellung des älteren Pietismus zur Krankheit und Heilung dargestellt. Der Autor stützt sich auf umfassende Kenntnis der pietistischen Literatur des 17. und 18. Jh.s. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der ältere Pietismus — vor allem Spener und der hallische Pietismus — positiv zur medizinischen Wissenschaft eingestellt war. Obwohl Hinrichs in seiner Studie „Der Pietismus als soziale Reformbewegung des 18. Jh.s" auf die Bedeutung Franckes auch für die Entwicklung der Hygiene hingewiesen hat, glaubt Zsindely sich der älteren Auffassung anschließen zu müssen, die dieser Bewegung keinen größeren Einfluß auf die Krankenpflege und das Hospitalwesen beimißt. Diese Auffassung läßt sich aus der gedruckten zeitgenössischen Literatur auch nicht widerlegen. Die ungedruckten Quellen der Franckeschen Stiftungen zeigen jedoch ein anderes Bild. Die ungedruckten Instruktionen für den Medicus, die Krankenwärter usw. am Waisenhaus beweisen, daß zu Beginn des 18. Jh.s vom hallischen Pietismus die Grundlagen des modernen Krankenhauswesens vorbereitet wurden. Die Bedeutung des Pietismus für die Entwicklung der Medizin im 18. Jh. ist im vollen Umfang bisher noch nicht erkannt worden. Eine eingehende medizinhistorische Bearbeitung, die sich vor allem auf die ungedruckten Quellen der Franckeschen Stiftungen stützen muß, steht bisher noch aus. Das aus der Sicht des Theologen geschriebene Buch bietet eine Fülle von Material und Anregungen für die medizinhistorische Forschung. Zu bedauern ist nur, daß ein Register fehlt. Berlin

Manfred

Stür^becher

Heinz: Friedrich der Große. Aus seinen Werken u. Briefen. Mit e. Einl. hrsg. - Würzburg: Holzner 1962. XXXIV, 172 S. mit 16 Abb. (Aus dem Göttinger Arbeitskreis.) DM18,—.

BURNELEIT,

Solange wir ohne ein historisch-kritisches Neudurchdenken der preußischen Geschichte auf breiter Front keinen originalen Beitrag zur Biographie der hier zentralen Herrscherpersönlichkeiten erwarten dürfen, wird man auch eine zur Erinnerung an den 250. Geburtstag Friedrichs d. Gr. in einem gut ausgestatteten Bd. erschienene Auswahl aus den Werken des Königs zunächst begrüßen, die sich zur Aufgabe setzt, die positiven Traditionen des alten Preußen dem heutigen Geschichtsbewußtsein zu verlebendigen. Bei der Wiedergabe der Texte haben vor allem die bekannten Ausgaben von G. B. Volz einschließlich der (allerdings nur unvollständig und für das Verständnis nicht immer ausreichend wiedergegebenen) Sacherläuterungen als Vorlage gedient. Der Hrsg. bietet jedoch lediglich knappe Auszüge aus den Schriften in thematischer Anordnung, die er für Staatsbewußtsein, Politik und Herrscherpraxis Friedrichs für besonders typisch hält, gibt nur unzulängliche Hinweise auf den ursprünglichen Zusammenhang und nimmt an dem Text durch willkürliche Umstellungen ganzer oder verkürzter Abschnitte kaum vertretbare Eingriffe 20*

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vor. Wesentlich problematischer sind Haltung und Formulierung der vorangeschickten Einleitung. Von tagespolitischem Ressentiment nicht frei, ist sie mehr auf Wertung und Beurteilung als auf Darstellung und Information gestellt, glaubt auf eine historische Einordnung der Gestalt Friedrichs d. Gr. ganz verzichten zu können (S. XIII) und kommt dabei beispielsweise zu so unglücklichen Wendungen, den Staat Friedrichs autoritär zu nennen (in positivem Sinne) oder dem „betagten Weisen von Sanssouci" die (von diesem sicher nie erreichte) untrennbare Einheit von Staatsmann und Philosoph zu bescheinigen. — Der Göttinger Arbeitskreis hat dem Andenken des großen Königs mit der Veröffentlichung der vorliegenden Schrift keinen Dienst erwiesen. Saarbrücken Jörg Jacoby SPRANGER, Eduard: Der Philosoph von Sanssouci. 2., erw. Aufl. — Heidelberg: Quelle & Meyer 1962. 111 S„ 1 Titelbild. D M 9 , - . In eindringlicher Analyse befragt Eduard Spranger die philosophischen Gedichte Friedrichs d. Gr. nach ihrem Aussagewert für die geistige Welt des Königs. Dabei folgt er entwicklungsgeschichtlich den Lebensperioden Friedrichs und interpretiert die einzelnen Gedichte unter Berücksichtigung der politischen und rein menschlichen Situation ihres Verfassers. Durch diese Betrachtungsweise besonders wird deutlich, wie Friedrichs Philosophie immer nur eine Privatphilosophie der Entspannung und Tröstung ist, die — weitgehend unverbindlich — die von Epikur, der Stoa und dem Christentum gebotenen Bilder verarbeitet, ohne daß ein geschlossenes System oder nur eine dem realen Handeln des Königs kongruente Lebensphilosophie erkennbar wird. Wohl spricht Friedrich von einem Weltplan, mit dem zu kooperieren sei und wirkt aus dem ganz allgemeinen, aber nie in Frage gestellten Glauben an einen Weltsinn überhaupt, aber er fragt nicht nach der näheren Bestimmung dieses Weltplanes und läßt sich allein vom sittlichen Bewußtsein der Pflicht leiten, das er nie anzweifelt, nicht einmal reflektierend zerlegt, „ein Kantianer vor Kant". Die vorliegende Ausgabe bildet die 2. Aufl. einer bereits 1942 in den „Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften" erschienenen Untersuchung, die Sp. aus Anlaß des 250. Geburtstages Friedrichs d. Gr. und zugleich ein Jahr vor seinem Tode als persönliches Bekenntnis zu dem „Lehrer, von dem man gelernt hat, was das Leben fordert", einem breiteren Leserkreis zugänglich macht. Um die Lektüre zu erleichtern, bietet ein Anhang die Übersetzung sämtlicher französischen Zitate, doch ist der eigentliche Forschungsteil mit dem dazugehörigen Anmerkungsapparat unverändert. Der Neuaufl. hinzugefügt ist ein „Zwischenspiel" (S. 71— 80), das — die Grenzen der eigentlichen Untersuchung bewußt überschreitend — Friedrich d. Gr. als eine der überragenden Gestalten der deutschen Geschichte würdigt, die es gegen unhistorisch-dilettantische Maßstäbe und ungerechte Urteile einem unentbehrlichen Nationalbewußtsein zu erhalten gelte. Saarbrücken Jörg Jacoby HAINTZ, Otto: Peter der Große, Friedrich der Große und Voltaire. Zur Entstehungsgeschichte von Voltaires „Histoire de l'empire de Russie sous Pierre le Grand". — Mainz: Akad. d. Wiss. u. d. Lit.; Wiesbaden: Steiner in Komm. 1962. 46 S. = Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Abhandlungen d. geistes- u. sozialwiss. Kl., Nr. 5. DM 4,40. Die vorliegende Akademieabhandlung behandelt in lockerer Form die Entstehungsgeschichte des im Untertitel genannten Geschichtswerks Voltaires und ist so in erster Linie ein reizvoller Beitrag zur Historiographie über Peter d. Gr. Ausgangspunkt der Unter-

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suchung und Anlaß für die Anzeige in diesem Jahrbuch ist der Einfluß, den der damalige Kronprinz Friedrich auf die bisher nicht beachteten frühesten Pläne Voltaires ausübte, der schon 1737 in der Regierungsgeschichte Peters I. — im Gegensatz zu dem von ihm vorher behandelten Gegenspieler Karl XII. — die Leistung einer der „humanité" dienenden Herrscherpersönlichkeit darzustellen beabsichtigte. Friedrich sah in dem Zaren dagegen vor allem den brutalen und grausamen Gewaltherrscher und vermittelte Voltaire auf dessen Ersuchen die (erstmals 1872 von E. Herrmann veröffentlichte) umfangreiche Rußlanddenkschrift des seit 25 Jahren im Lande lebenden preußischen Gesandtschaftssekretärs Vockenrodt, der am Schluß seiner kenntnisreichen Ausführungen das petrinische Rußland als einen revolutionsreifen Staat kennzeichnet. Unter dem Eindruck dieser Informationen verzichtete Voltaire zunächst für mehr als 20 Jahre auf seine Darstellung und gelangte auch in den späteren Auflagen der „Histoire de Charles XII" zu einer kritischen Beurteilung Peters. Später schob er jedoch Vockenrodts Denkschrift völlig beiseite, stützte sich ganz unkritisch nur auf offizielle russische Quellen und unterdrückte in der seit 1759 erscheinenden „Histoire de l'empire de Russie" alle problematischen Züge im Charakterbild und der Herrscherleistung des Zaren. Saarbrücken

Jörg

Jacoby

HINZE, Kurt: Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1685—1806. Mit e. Einf. v. Otto Büsch. 2., verm. u. verb. Aufl. — Bln.: de Gruyter 1963. XX, 296 S. = Veröffentlichungen d. Histor. Komm. zu Berlin b. Friedrich-Meinecke-Inst. d. Freien Univ. Bd. 9. DM 36, — . Die intensivierte wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung hat diese Studie aus dem Jahre 1927 mit ihrer ökonomisch-historischen Fragestellung, den auf gründlichem Quellenstudium beruhenden Ergebnissen und ihrem selbständigen Urteil eine neue Aktualität gewinnen lassen. Hinze analysiert die geographisch, historisch und ökonomisch bedingten Schwierigkeiten bei der Bildung des für die kapitalistische Wirtschaftsform unentbehrlichen inneren Arbeitsmarktes. Ein rein quantitativer Menschenmangel (der allerdings inzwischen nicht unbestritten blieb) und besonders das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte führen zu der detailliert dargestellten Arbeiterbeschaffung. Die Versuche, die benötigten Arbeiter aus den Bereichen der alten ständischen Sozialordnung zu gewinnen, die Heranziehung von Ausländern, die technische Weiterbildung der Einheimischen und der Anreiz zu Leistungssteigerungen lassen jedoch zwangsläufig Spannungen entstehen: zwischen den Staaten (Auswanderungsverbote), den Unternehmern (Ausspannungen) und sogar zwischen den sich einander widersprechenden wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Staates. So ist die „Arbeiterfrage" bei H. nicht primär sozialpolitisch zu verstehen, der Begriff umschreibt vielmehr das Problem, das die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt dem beginnenden Kapitalismus stellte. Das vorbildliche Register und eine 20seitige, auf den neuesten Stand gebrachte Bibliographie erhöhen den Wert dieser Neuveröffentlichung. Berlin

Ilja Mieck

BÜSCH, Otto: Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713—1807. Die Anfänge d. sozialen Militarisierung d. preuß.-dt. Gesellschaft. Mit e. Einf. v. Hans Herzfeld. — Bln.: de Gruyter 1962. XIV, 203 S. = Veröffentlichungen d. Berliner Histor. Komm. b. Friedrich-Meinecke-Inst. d. Freien Univ. Berlin. Bd. 7. DM 2 8 , - .

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In dem Bemühen um eine Neubewertung der preußischen Geschichte hat sich die historische Forschung seit 1945 intensiv mit den Konsequenzen beschäftigt, die die beispiellose Anspannung aller Volks- und Wirtschaftskräfte bei der Erhebung Preußens zur Großmacht durch Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. nach sich zog. Dieses Problem untersucht auch die schon 1952 auf Anregung und unter ständiger Beratung von Hans Rosenberg entstandene Dissertation von Otto Büsch unter dem bis dahin in der Forschung ungenügend beachteten sozialgeschichtlichen Aspekt der Beziehungen zwischen altpreußischem Militärsystem und ländlicher Sozialstruktur. Die jetzt (mit ergänztem Schrifttum) erfolgte Publikation dieser in Fragestellung, Methodik und Ergebnissen so interessanten Arbeit ist daher sehr zu begrüßen, auch wenn ihr einige durch die Zeit ihrer Entstehung und den begrenzten Rahmen einer Dissertation bedingte Mängel anhaften mögen. Nach einer knappen Einleitung über die soziale und wirtschaftliche Bedeutung des preußischen Heeres wird im 1. Teil das Verhältnis von Militärsystem und bäuerlichem Leben behandelt, das entscheidend durch das Kantonsystem bestimmt wurde. Es unterwarf den Bauern, der bis dahin allein unter der Gewalt des Gutsherren gestanden hatte, zugleich der des Regiments, was zur militärischen Disziplinierung seines gesamten Lebens führte. Aus der Stellung des Bauern im Militärsystem ergaben sich — im Interesse der Erhaltung des Soldatenstandes — ebenso die Bauernschutz- und Kolonisationspolitik der preußischen Könige wie ihr Festhalten an der immer mehr erstarrenden ständischen Ordnung, die den Bauern in der Gutsuntertänigkeit beließ. Im 2. Teil untersucht der Vf. die Beziehung zwischen Militärsystem und Junkertum, das von den Herrschern systematisch zum Offiziersdienst im Heer gezwungen und für ihn erzogen, ebenso aber auch durch Gütermonopol und agrarpolitische Schutzmaßnahmen wirtschaftlich gesichert wurde, bis es selbst auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung eine Liberalisierung der Agrarverfassung anstrebte. Damit verband sich das System der Kompagnie Wirtschaft, das bei geschickter Wirtschaftsführung bedeutende Gewinne ermöglichte. Vervollständigt wurde die umfassende militärische Durchdringung des sozialen Lebens, die natürlich auch die Städte mit ihren Garnisonen einbezog, durch die Verwendung adliger Offiziere im Staatsdienst. Sie förderte jene Militarisierung der Bürokratie, die — über den Zusammenbruch des altpreußischen Militärsystems hinaus — durch die Reglementierung der Bevölkerung zur „Ausbildung des preußischen Lebensstils des Befehlens und Gehorchens" beigetragen hat. Tübingen

Friedrich

Zunkel

STRAUCH, Dieter: Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny. 2. Aufl. — Bonn: H. Bouvier & Co. 1963. 197 S. = Schriften z. Rechtslehre u. Politik. Bd. 23. DM 19,50. Der Vf. beschränkt seine Untersuchungen nicht auf eine Darstellung der Lehren Savignys über Rechtswissenschaft, Recht, Gesetz und Staat, sondern ergänzt diese Darstellung durch eine Würdigung der Gesamtpersönlichkeit S.s und durch den Versuch einer systematischen Kritik seiner Lehren. Dementsprechend ist die Untersuchung in 2. Teile gegliedert. Der 1. Teil enthält eine Darstellung der Lehren S.s, während der 2. Teil einer kritischen Analyse dieser Lehren gewidmet ist. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Entwicklung des Lebens und Wirkens von S. ist der 1. Teil der Schrift in folgende 3 Abschnitte gegliedert: I. Die Zeit des jungen Savigny (1798 — 1813). II. Die polemische Zeit der Individualisierung und Profilierung (1814—1835). III. Die Zeit der abgeklärten Reife (1835 — 1861). Durch die Anwendung der chronologischen

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Methode ist es dem Vf. gelungen, die Wandlungen in den Anschauungen S.s plastisch in Erscheinung treten zu lassen. Damit distanziert sich der Vf. von jenen Lehrmeinungen, die dazu neigen, die Ansichten S.s als statisch und unbeweglich zu betrachten. Während die Rechtslehre S.s im bisherigen Schrifttum ausführlich untersucht worden ist, sind zur Staatslehre S.s besondere Schriften bisher nicht erschienen; ihr werden nur gelegentliche Bemerkungen gewidmet. Es ist daher zu begrüßen, daß der Vf. seine Untersuchungen nicht nur auf die Rechtslehre beschränkt, sondern auch auf die Staatslehre S.s erstreckt hat. Ferner hat der Vf. seine Untersuchungen dadurch vertiefen können, daß glückliche Umstände ihn in die Lage versetzten, außer dem veröffentlichten Material an Schriften und Briefen mehrere Kollegnachschriften und eine Reihe ungedruckter Briefe zu berücksichtigen. Obgleich der Vf. die Untersuchung zahlreicher Einzelfragen in seine Darstellung einbezogen hat, ist es ihm dennoch gelungen, die für Persönlichkeit und Lehren S.s wesentlichen Gesamtzusammenhänge übersichtlich darzustellen und deutlich sichtbar zu machen. So kann die mit einem umfassenden Literaturverzeichnis ausgestattete Schrift als eine wertvolle Ergänzung der bisherigen Savigny-Literatur bezeichnet werden. Berlin Walter Meder HUMBOLDT, Wilhelm von, u. Caroline von HUMBOLDT: Ein Leben in Briefen. [Briefe.] Ausgew. u. eingel. v. Herbert Nette. — Düsseldorf, Köln: Diederichs [1962]. 277 S. = Diederichs Taschenausgaben, 7. DM 12,80. Diese vom Cheflektor des Eugen-Diederichs-Verlages besorgte Auswahl des Briefwechsels zwischen Wilhelm und Caroline von H. vereint auf engem Raum in handlicher Form einige der schönsten Selbstzeugnisse der Goethezeit. W. v. H.s Leben, teilweise auch das seiner Frau Caroline, von innen gesehen: Beide erfassen ihr Zeitalter in der Höhe seines Selbstverständnisses, Wilhelm in einigen Perioden zugleich als Staatsmann und Kulturpolitiker (obwohl es diesen Terminus seinerzeit nicht gab), in anderen nur aus der ihm immer gegenwärtigen Perspektive ästhetischer und gelehrter Kontemplativität; Caroline als originelle und anregende Beobachterin persönlicher und epochaler Begebenheiten. Die 7 Zeitabschnitte der Auswahl sind vom Hrsg. mit kurzen biographisch informierenden Einleitungen versehen. Eine vor dem Abschnitt für die Jahre 1813—1815 apostrophierte „Wandlung" H.s „vom Weltbürger zum preußischen Patrioten" läßt in der Art ihrer lapidaren Feststellung unberücksichtigt, daß es das Preußen der liberalen und weltoffenen Reformära Steins und Hardenbergs gewesen ist, als dessen hervorragender Vertreter und Wegbereiter Humboldt zeitweise die Synthese von Weltbürgertum und Patriotismus in sich vollziehen konnte (s. dazu FBPG 47, 1935, S. 309 ff.). Berlin Klaus Ehrler HAHLWEG, Werner: Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg. — Bln., Frankf./M.: Mittler 1962. 91 S. = Wehrwiss. Rundschau. Beih. 18. DM7,20. Mit vorliegender Veröffentlichung will Hahlweg seine kritische Ausgabe der noch unveröffentlichten Clausewitz-Schriften entlasten. Für H. bildet der kleine Krieg „vielleicht die Grundlage, zumindest einen der gewichtigsten konkreten Ausgangspunkte für die Herausbildung der neuen Kriegskunst im Zeitalter der französischen Revolution und Napoleon I., der Volkskriege wie der regulären Massenarmeen neuen Typus". Der Vf. sieht den kleinen Krieg mit den politischen und sozialen Grundlagen der preußischen

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ALLGEMEINES

Heeresreform (1808—1812) eng verwoben und die notwendige Verbindung zwischen höchster militärisch-technisch-taktischer Ausbildung und Volksaufstand. H. kommt zu dem Untersuchungsergebnis: „In unserer Zeit, in der Epoche des universalen, immer wirksamer hervortretenden Bürger- und Partisanenkrieges, erfahren die Anschauungen der preußischen Reformer, die im Bereich des kleinen oder revolutionären Krieges Strukturen sichtbar gemacht haben und damit — trotz der heute auch im revolutionären Krieg wirksamen neuen kriegstechnischen Mittel — von hoher Aktualität sind, eine weltweite Bestätigung." Porz/Rhein Jürgen Huck HÄNDEL, Heribert: Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in der Wehrverfassung des Königreiches Preußen bis 1819, insbesondere ein Beitrag zur Frage des Einflusses der Französischen Revolution auf die Scharnhorst-Boyensche Reformgesetzgebung nach 1807. — Bln., Frankf./M.: Mittler 1962. 91 S. = Wehrwiss. Rundschau. Beih. 19. DM 7,20. Der Vf. geht auf den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht ein, die bis Ende 18. Jh. in Lehndienst und Landfolge rechtlich bestand, durch das Söldnerwesen aber die alte Bedeutung einbüßte. Wechselnden Wehrverfassungen des 16. und 17. Jh.s folgte unter Friedrich Wilhelm I. die bis 1814 gültige Kantonverfassung, deren Grundidee durch Exemtionen immer stärker durchbrochen wurde. Carnot's „levée en masse" (1793), die Grundlage für die französischen Volksheere der Revolutionskriege, regte die preußischen Reformer entscheidend zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht an, ließ sich jedoch erst mit Beginn der Befreiungskriege verwirklichen und durch Boyens Gesetz (3. 9. 1814) verankern. Der große Wert von Händeis Arbeit liegt darin, den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht in der preußischen Wehrverfassung bis 1819 untersucht und klar dargestellt zu haben und zugleich überzeugend nachgewiesen zu haben, daß der von E. v. Meier sowie von Huber, Höhn und Helfritz bezweifelte Einfluß der französischen Revolution auf die Scharnhorst-Boyensche Reformgesetzgebung nach 1807 sogar erheblich gewesen ist. Por^j Rhein Jürgen Huck BECK, Hanno: Alexander von Humboldt. Bd. 1. Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769 — 1804. (Mit 25 Abb. auf 16 Kunstdrucktaf., e. Faltkt. sowie 2 Abb. u. 2 Kt. im Text.) - Wiesbaden: Steiner 1959. XVI, 303 S. DM 4 0 , - . Im Gedenkjahr 1959 erschien eine Reihe von Büchern, die Alexander von Humboldt und sein Werk erneut in den Mittelpunkt rückten. Dabei zeigte sich, daß Vergessenes durchaus noch nicht veraltet war. Unter den Titeln ragt die von H. Beck gebotene Biographie hervor, deren 1. Bd. auch den Landeskundler anzusprechen vermag. Gerade hinsichtlich der Sehweise eröffnen sich, nimmt man die Brüder Humboldt in den Blick, interessante Perspektiven, die an das Wesen des Biographischen überhaupt rühren: man denke nur an S. A. Kaehlers ebenso einzigartigen wie eigenwilligen Versuch, die Persönlichkeit Wilhelm von H.s zu deuten, und richte den Blick dann auf den Teil, den Dove zu der Biographie beigetragen hat, die K. Bruhns Alexander von H. widmete, um die möglichen Standorte zu erkennen. Freilich bleibt die Persönlichkeit Alexanders, vergleicht man ihn mit dem Bruder, klarer überschaubar, und damit liegt nahe, daß auch der moderne Bio-

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graph, der über die von Bruhns gebotene Materialsammlung hinauskommen will, schließlich doch mehr der Bestandsaufnahme als der Analyse verbunden bleibt. Gegenüber Politik und Kultur tritt das Geographische als Teil der Naturwissenschaften, das Wissenschaftsgeschichtliche überhaupt, stärker in den Vordergrund. Im 1. Teil der Biographie fällt diese Schwerpunktverschiebung allerdings nicht ins Gewicht, und insbesondere der an der Geschichte Mitteldeutschlands Interessierte findet sich über das hinaus, was zur Kulturund Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jh.s allgemein gesagt wird, noch in mancherlei Hinsicht angesprochen; denn der Bildungsraum der Brüder Humboldt wird, wie bekannt, durch Berlin, Frankfurt a. d. Oder, Göttingen, Weimar und Jena, dann Freiberg und Dresden bestimmt. Die „Begegnungen" spielen, wie zu erwarten, ihre bedeutsame Rolle: Lichtenberg, Forster, natürlich das klassische Jena. Mit Goethe fand Alexander, nicht zuletzt auch dank seines natürlichen Geschicks im Umgange, bald Kontakt, obwohl beide sich in der naturwissenschaftlichen Auffassung lind Methode durchaus voneinander unterschieden, während Schiller unmißverständlich zu verstehen gab, wie stark ihm „der nackte, schneidende Verstand" Humboldts zuwider sei. Spielte hier noch die bildungsmäßige Grundlegung im Zeichen Kants ihre Rolle, so bildeten die Begegnungen mit Heinitz, Reden und dem Freiherrn vom Stein wesentliche Stufen in die Zeit der großen Reisen hinein. In diese Schule gehört m. E. auch der Aufenthalt Alexanders in Freiberg bei A. G. Werner, und es bleibt reizvoll, diese Periode mit der Schilderung von Henrich Steffens zu vergleichen, der ebenfalls den Weg von Jena nach Freiberg gegangen ist: ein nach außen hin gleichsam symbolisch wirkender Zusammenhang, dessen Hintergründe nicht nur für die Bildungsgeschichte jener epochalen Jahrzehnte immer wieder hervorgehoben zu werden verdienen. Das 3. und 4. Kapitel schildern Vorbereitung und Verlauf der Südamerikareise mit ihren — auch literarisch — bekannten Höhepunkten. Der Biograph einer solchen Persönlichkeit sieht sich vor eine außerordentlich schwierige Aufgabe gestellt. Dies beweisen die langwierigen, mit großer Umsicht geführten Vorarbeiten des Vf.s, die zum Teil in die Anmerkungen eingegangen sind. Er hat mit Recht „die zeitliche Abfolge an vielen Stellen durch eine systematische Anordnung des Stoffes ergänzt". Auf diese Weise kam er zu einer Darstellung, deren Sachfülle den Leser zuweilen bis an die Grenze seiner Möglichkeiten bringt. Es bleibt offen, wieviel mitgeteilt zu werden verdient. Der Leser, der die ungemein intensive Darstellung des Faktischen, was bei der Schilderung der Reisen besonders ins Gewicht fällt, wohl zu würdigen weiß, bedauert, daß der Text an einigen Stellen zu einförmig wirkt, weil er die gerade hier möglichen Spannungsakzente vermißt. Zudem ist dem Vf. die Analyse der Jugend- und Bildungsjahre nicht recht gelungen: er bleibt im Grunde im Rahmen der „Lebensbeschreibung", ohne den geistesgeschichtlichen Ort der Brüder zwischen der Aufklärung und den neu sich abzeichnenden Strömungen sichtbar zu machen. Berlin

Hein% Quirin

HOHOFF, Curt: Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargest. (Den dokumentär, u. bibliogr. Anh. bearb. Paul Raabe.) 4. Aufl. — Hamburg: Rowohlt 1962. 176 S. = rowohlts monographien, 1. DM2,80. Es konnte nicht die Aufgabe dieser Monographie sein, in die schwierigen Probleme der Kleist-Forschung einzuführen, noch weniger, auf so beschränktem Raum ein eigenes Kleist-Bild zu entwerfen. Sie will, wie es den Zielen der Taschenbuchreihe entspricht, eine breite Leserschicht zu K. hinführen und das auf dem unmittelbarsten Weg: durch Briefe, entscheidende Textstellen und viele Bilder. Die Nacherzählung des gelebten, erlittenen

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

Lebens konnte sich ihr Vorbild suchen in dem freilich romanhafteren Buch „Die Fackel Preußens" von Joachim Maaß (1957); für die Darstellung K.s inmitten seiner Zeit und Umwelt gibt es seit einigen Jahren die einzigartige Sammlung zeitgenössischer Berichte und Erinnerungen von Helmut Sembdner: „Kleists Lebensspuren" (Sammlung Dieterich 172). Bei Hohoff liegt ein stärkeres Gewicht auf den dichterischen Werken. Interpretationen kann er auf den jeweils nur wenigen Seiten, die ihm zur Verfügung stehen, nicht geben, wohl aber Zugänge erschließen. Es geschieht vom Lebensgefühl des modernen Menschen aus, ohne daß dadurch der geschichtlichen Wahrheit Gewalt angetan wird. Sicher kann das immer nur ein Aspekt sein, den der Leser in seiner Relativität zu erkennen hat; indem er ihn aber vor den extrem gegensätzlichen Fehldeutungen des Preußentums und der Psychopathologie bewahrt, vermag er ihn in jedem Fall auf angemessenere Wege des Verstehens zu weisen. Gießen

Adalbert

Eischenbroich

SCHULZE, Berthold: Preußen 1815—1945. (Territoriale Entwicklung. [Schulwandkarte] Bearb. unter Mitarb. v. Hans Schulze. 1:750000.) — Darmstadt: Perthes 1962.1 Kt. in 2 Bl. von je 90 X 120 cm, 5 S. Erl. (Staatengeschichte von Deutschland.) Auf Lw. mit Stäben DM 8 8 , - . Mit der Anzeige dieses Kartenwerkes verbindet sich die schmerzliche Feststellung, daß es das letzte Werk des Autors Berthold Schulze ist, der kurz nach dessen Erscheinen aus den Arbeiten am Brandenburgischen Historischen Atlas, dem seine Lebensarbeit galt, herausgerissen wurde. Nachdem die Mark Brandenburg und Preußen historische Phänomene geworden sind, bilden die vorliegenden Karten ein schönes kartographisches Denkmal dieser in der deutschen Geschichte einzigartigen politischen Erscheinungen. Sie werden sich nicht nur als vorzügliche Hilfsmittel für den Geschichtslehrer im Schulunterricht oder den Geschichtsstudenten, sondern auch als nützlich für andere Zwecke erweisen. Da es nicht möglich war, die Entwicklung von den Anfängen bis 1945 auf einem Kartenblatt darzustellen, wurde sie auf zwei Blätter verteilt, wobei sich als zeitliche Zäsur das Jahr 1807, der Zusammenbruch Preußens, von selbst ergab. In der Beilage gibt Berthold Sch., der bei der Zeichnung der Karten von Hans Schulze, zufällig einem Träger des gleichen Familiennamens, unterstützt wurde, in knapper Zusammenfassung eine Übersicht mit ausreichender Erläuterung. Zu den mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis hergestellten Karten ist nur weniges zur Berücksichtigung bei einer Neuaufl. zu bemerken. Bei Karte 1 fiel mir leider auf den ersten Blick ein böser Druckfehler auf: Jahresangabe der Erwerbung des Stiftes Magdeburg 1860 statt 1680. Der Verlust der Oberlausitz trat bereits 1320 (statt 1329) ein. Draheim fiel erst 1668 an (statt 1657). Die Grafschaft Wernigerode kann man eigentlich nicht als Bestand der Mark Br. ansehen. Kg. Ludwig belehnte zwar damit seinen Sohn, aber es bestand doch nur die Lehnshoheit des Herrscherhauses. B. Sch. führt in der Beilage die Gründung der askanischen Burg Brandenburg an der Frischen Nehrung an, auf der Karte ist das daraus entstandene Städtchen leider nicht eingetragen. Erwünscht wäre auch die Kennzeichnung des askanischen Besitzes von Stolp und Rügenwalde, der für die Expansionstendenz der Askanier bezeichnend ist. Karte 2 reicht bis 1945. Wäre es nicht richtiger, das Jahr 1947 als formelles Ende des preußischen Staates zu nennen? B. Sch. will hier zugleich erstmalig als „letzte Entwicklung Preußens" (richtiger: erste Zerstörung Preußens) die Hitlerischen Reformpläne zur Anschauung bringen. Aber dies hatte mit Preußen nicht das geringste mehr zu tun. Es könnte dazu führen, Preußen in unkundigen Augen mit diesen Dingen zu belasten und gehört nicht in eine historische Karte von

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Brandenburg-Preußen. Zu berichtigen wäre hier, daß die mecklenburgischen Exklaven an der Ostseite des Kreises Ruppin um 1936 zu Brandenburg kamen. Berlin Johannes Schult^e GOERTZ, Hartmann: Preußens Gloria. 66 Jahre dt. Politik 1848 — 1914 in zeitgenöss. Satire u. Karikatur. — München: Nymphenburger Verl. (1962). 272 S. DM15,80. Goertz fühlt sich von der preußisch-deutschen Geschichte „betroffen" in doppeltem Sinne, als Preuße, als einstiger Student der Geschichte, als Kriegsteilnehmer. Seinen Stoff bezieht er hauptsächlich aus dem „Kladderadatsch", ohne aber dessen mitunter auch sehr „patriotische" und bismarckfromme Kundgebungen zu registrieren. Die wilhelminische Ära wird leider über die Maßen kurz abgehandelt; das Schwergewicht liegt auf der Behandlung der Bismarckschen Jahrzehnte. Nicht um historische Einsichten ist es dem Vf. in erster Linie zu tun, sondern um politisch-pädagogische Absichten, um ein Bekenntnis. Das löbliche Unterfangen würde an Wirksamkeit gewonnen haben, wenn das erste der beiden Kriterien stärker beachtet worden wäre. Berlin Klaus-Peter Hoepke SCHÜDDEKOPF, Otto Ernst: Bürgerliche Geschichtsschreibung und materialistische Geschichtsauffassung um 1850. E. Beitrag z. Entwicklung d. Wirtschaftsu. Sozialgeschichtsschreibung in Preußen, in: Archiv f. Sozialgeschichte 1 (1961), S. 6 1 - 6 8 . Gegenstand der Abhandlung ist eine kleine Schrift des um die brandenburgische Geschichtsschreibung sehr verdienten Georg Wilhelm v. Raumer: „Die Insel Wollin und das Seebad Misdroy", 1851. v. R. beklagt darin das Fehlen einer „Geschichte der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion", da nach seiner Ansicht „alle politischen Veränderungen nur Folgen der veränderten Erwerbs- und Lebensweise der Menschen" seien. Der Vf. weist hin auf die nahen Beziehungen dieser Anschauung zu den von Marx und Engels entwickelten Thesen und zu von konservativen Sozialtheoretikern vertretenen Gedanken. Er befaßt sich alsdann mit der Persönlichkeit v. R.s, der 1843 Direktor der Staatsarchive wurde, diese Stellung 1852 aufgab und am 11. März 1856, am Tage nach dem unglücklichen Duell des Polizeipräsidenten v. Hinckeldey, durch Selbstmord endete, dessen Motive ganz unbekannt seien. Ich bin in der Lage, dazu eine Erklärung zu bieten. Wie mir der frühere Direktor des Geh. Staatsarchivs, Paul Bailleu, gelegentlich erzählte, und zwar auf Grund guter Information, wohl aus dem Kreise der Familie v. R., soweit ich mich erinnere, hat v. R. damals die Funktion eines Kabinettsrates versehen. Auf die Nachricht von dem Tode des Hinckeldey, den der König durch Verbot des Duells hätte verhindern können und sollen, habe der aufs äußerste erregte König dem v. R., dem er offenbar eine gewisse Schuld daran in die Schuhe schob, den Teekessel an den Kopf geworfen. Dieser hatte sich dadurch so entehrt gefühlt, daß er zur Pistole griff. Die Darstellung kann kaum erfunden sein und dürfte der Wahrheit entsprechen. Daß die Familie den Vorfall als ein Geheimnis bewahrte, sowohl im Interesse v. R.s wie des Königs, dürfte begreiflich sein. Berlin

Johannes

Schultet

MOMMSEN, Theodor, u. Otto JAHN: Briefwechsel. 1842—1868. Hrsg. v. Lothar Wickert. - Frankf./M.: Klostermann 1962. XI, 389 S. D M 4 2 , - .

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ALLGEMEINES

Der bisher unveröffentlichte Briefwechsel zwischen dem großen Historiker und dem Philologen, Archäologen und Mozart-Biographen Otto Jahn ist in erster Linie von persönlich-biographischem Interesse. Im Vordergrunde des hier vorliegenden intimen Gedanken* und Gefühlsaustausches stehen neben den Alltagsproblemen des Privat- und Familienlebens die wissenschaftlichen Interessen, Bedürfnisse, Aspirationen und Arbeitsroutine der beiden Korrespondenten. Nur gelegentlich kommt es hierbei zu in die Tiefe dringenden Betrachtungen oder zu Äußerungen, die sich durch literarische Eleganz auszeichnen. Interessante Schlaglichter fallen auf die Entstehung und Aufnahme der „Römischen Geschichte", auf die Vorbereitungen zur Herausgabe des „Corpus inscriptionum Latinarum" sowie auf die Zeitgeschichte der historisch-philologischen Wissenschaften im allgemeinen. Ein weiteres zentrales Thema sind die deutschen und Schweizer Universitätsverhältnisse. Geht es hierbei vielfach um reinen Universitätsklatsch, um Gelehrtenempfindlichkeiten und -animositäten, um Berufungsfragen und das Feilschen um Positionen und Gehälter, so fehlt es doch nicht an einer Fülle von Einblicken in die Sozialgeschichte und Gruppenpsychologie der deutschen Universitäten im 19. Jh. Besonders aufschlußreiche Erkenntnisse ergeben sich für die Einstellung der Professoren zum akademischen Leben, ihre Gesinnung und hierarchische Wertwelt, ihr Berufsethos und übersteigertes Selbstbewußtsein, ihre Einkommensverhältnisse, Lebensformen, gesellschaftliche Stellung, ihr Solidaritätsdenken und ihre oft kleinlichen, aber sehr menschlichen Plänkeleien untereinander. Unergiebig und daher recht enttäuschend ist dagegen der Ertrag für den politischen Historiker. Politische Probleme werden in diesem Briefwechsel nur peripherisch berührt. Selbst in den großen Krisenjahren 1848—50, 1859 und 1862—66 bleibt es im wesentlichen bei bloßen Kannegießereien. Bemerkenswert ist, mit welch ausgesprochenem Unbehagen und Mißmut Mommsen während der Konfliktszeit parlamentarischer Tätigkeit sich zuwandte. Berkeley, California

Hans Rosenberg

LASSALLE, Ferdinand: Ausgewählte Texte. Hrsg. u. eingel. v. Thilo Ramm. — Stuttgart: K. F. Koehler (1962). XXIII, 284 S. DM 14,80. Die letzte Auswahl von Reden und Schriften des Begründers der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland erschien, veröffentlicht von Ludwig Maenner, 1926 innerhalb der Reihe „Klassiker der Politik". Es ist daher zu begrüßen, daß endlich eine neue Sammlung vorgelegt wird, deren Hrsg. ein zeitgemäßes Bild der Persönlichkeit und des politischen Theoretikers Lassalle vermitteln will. — Ramm unterteilt seine Zusammenstellung in drei Abschnitte, die dem Wissenschaftler und Politiker, dem Agitator und Revolutionär sowie dem Menschen gewidmet sind. Im ersten Teil finden sich Auszüge aus den Schriften: „Fichtes politisches Vermächtnis und die Gegenwart" (1860), „Das System der erworbenen Rechte", „Die Hegeische und die Rosenkranzsche Logik", die „Grundlage der Hegelschen Geschichtsphilosophie im Hegeischen System" (1861) und die beiden berühmt gewordenen Vorträge über Verfassungswesen (1861/62). — Der revolutionäre Agitator kommt in dem ungekürzt abgedruckten „Arbeiterprogramm" von 1862, dem „Offenen Antwortschreiben" von 1863, in verschiedenen Briefen und in Auszügen aus der Ronsdorfer Rede von 1863 sowie in der Abhandlung zur Sickingen-Tragödie zu Wort. Schließlich gibt das vorliegende Schreiben an eine russische Freundin vom Herbst 1860, die „Seelenbeichte", ein ausgezeichnetes Selbstbildnis, das L.s Handeln verstehen läßt. Zweifellos ließe sich in der Sammlung manches ergänzen. Man vermißt vor allem Auszüge aus der „Assisenrede" von 1849, dem sogenannten „Arbeiterlesebuch" von 1863 und

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den Briefen an Bismarck. Aber auch in der vorliegenden Form wird die durch eine kommentierende Einleitung, eine Zeittafel und Quellenhinweise ergänzte Auswahl der vom Hrsg. gestellten Aufgabe gerecht, der heutigen Generation das Werk L.s nahezubringen. Berlin Ernst Schraepler SPAEL, Wilhelm: Ludwig Windthorst. Bismarcks kleiner großer Gegner. Ein Lebensbild. — Osnabrück: Fromm 1962. 222 S. mit Abb. u. Karikaturen. DM 9,80. Die aus Anlaß des 150. Geburtstages Windthorsts erschienene Biographie will in populärer Form „im katholischen Volk das Gedenken" an den großen Parlamentarier und Zentrumsführer „wachrufen". Trotzdem stützt sie sich auf die wesentliche wissenschaftliche Literatur, und der Vf. hat in freilich geringem Umfang unveröffentlichtes Briefmaterial verwenden können. Die Darstellung befaßt sich ganz überwiegend mit dem Kulturkampf und kann von daher die preußisch-deutsche Politik der Bismarck-Zeit schwerlich rühmen. Die Absicht, W.s Leistung ins Bewußtsein unserer Zeit zu bringen, ist zu begrüßen. Auch die volkstümliche Sprache ist gerechtfertigt, wie denn das gut ausgestattete Bändchen insgesamt zu empfehlen ist. Freilich hätte ich es begrüßt, wenn der Vf. der Gesamtleistung Bismarcks etwas mehr gerecht geworden wäre, als dies bei einer ausschließlichen Heranziehung der Kulturkampfpolitik möglich ist. Diese wird von keinem Historiker verteidigt werden. Gleichwohl meine ich, daß es nicht angeht, Bismarck als einen reinen Taktiker der Macht darzustellen, auch wenn man die dunklen Seiten seines Wesens nicht übersehen darf. W.s Bedeutung wird gewiß nicht verringert, wenn man die politische Größe seines Gegners anerkennt. Berlin Georg Kotowski EGIDI, Hans: Paul Persius, der Schöpfer der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Aus 100 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift hrsg. v. M. Baring. S. 18—40. — Bln.: Heymanns 1963. Der Vf., beruflich Nachfolger von Persius: als Landrat von Kyritz und als Verwaltungsgerichtspräsident, gibt eine Schilderung der Laufbahn und Wirksamkeit des ersten preußischen Oberverwaltungsgerichtspräsidenten. Die preußische Kreisordnung von 1872, durch welche der Grund für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen gelegt wurde, war wesentlich das Werk von P., ebenso wie das Verwaltungsgerichtsgesetz von 1875. Im Anschluß an eine Würdigung der Tätigkeit des Oberverwaltungsgerichts gelangt der Vf. zu einer Korrektur des Urteils über Preußen als „Polizei- und Obrigkeitsstaat": „Wer die Geschichte sine ira et studio verfolgt, dem werden auch die liberalen Züge nicht entgehen, die das Bild dieses Staates mit geprägt haben. Er wird der Feststellung nicht widersprechen können, daß dieser Staat ein Rechtsstaat war und daß zu dem Anspruch auf diese Bewertung die vom Geiste der Unabhängigkeit, Freiheit und Toleranz geleitete Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts einen bedeutsamen Beitrag geleistet hat." Man kann für dieses Urteil auch auf die Rechtsprechung des Kammergerichts verweisen. Berlin Johannes Schüttle FÖRSTER, Alfred: Zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1871 bis 1890. — Bln.: Tribüne 1962. 134 S. = Beiträge z. Geschichte d. dt. Gewerkschaftsbewegung, 2. DM 1,80.

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Überwiegend aus der Sekundärliteratur und im Gefolge altmarxistischer Gewerkschaftstradition erarbeiteter Leitfaden für FDGB-Funktionäre; für den Fachhistoriker entbehrlich, zeitgeschichtlich nicht ohne Reiz. Berlin Henryk Skr^jpc^ak FRICKE, Dieter: Bismarcks Prätorianer. Die Berliner polit. Polizei im Kampf gegen die dt. Arbeiterbewegung (1871—1898). — Bln.: Rütten & Loening 1962. 398 S„ 8 Abb. DM 25,60. Diese der philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität als Habilitationsschrift vorgelegte Arbeit beruht auf der soliden Grundlage eines breiten unveröffentlichten Quellenmaterials. Die in Merseburg, Potsdam und Amsterdam verwahrten Archivalien ermöglichten ein tiefes Eindringen in die Aktionen und Gegenzüge der beiden Kontrahenten. Der Vf. grenzt drei Phasen im Kampf gegen die Sozialdemokratie voneinander ab, die aber weder die Methode noch die Intensität polizeilicher Maßnahmen wesentlich berührten. Das besondere Augenmerk richtet Fricke auf den steigenden Erfolg, mit dem es der SPD gelang, die rechtswidrige und vor Brutalität nicht zurückschreckende Tätigkeit der politischen Polizei zu konterkarieren. Ernst Engelbergs Studie über die „Rote Feldpost" wird dadurch nutzbringend ergänzt. Das beigebrachte Zahlenmaterial veranschaulicht in hohem Maße die jeweiligen Auswirkungen des letzten Endes erfolglosen Kampfes gegen die SPD. In beiden Lagern fehlte es während dieser Zeit nicht an Stimmen, die auf die Unzulänglichkeit des Sozialistengesetzes hinwiesen — sofern nicht die politische Polizei sich außergesetzlicher Mittel bediene. — Die Interpretation des Materials leidet allerdings unter der marxistischen Prämisse. Auch wenn man etliche in höchstem Grade anfechtbare Äußerungen Bismarcks über die Arbeiterschaft berücksichtigt, wird man seine Politik nicht schlicht „arbeiterfeindlich" nennen dürfen; Rothfels folgend, sehen wir den Sachverhalt wesentlich vielschichtiger. Undeutlich bleiben in ihrer Bedeutung die vom Vf. benutzten Begriffe wie: „herrschende Klassen", die recht undifferenziert der Arbeiterschaft als Gegner gegenübergestellt werden, und „Scheinliberalismus" als der Kampfmethode in der zweiten Phase der Jahre 1881/86. In diesem Zusammenhang muß auch auf die gänzlich unzureichenden Hinweise zur zwiespältigen Position des Liberalismus zwischen den beiden Fronten aufmerksam gemacht werden. Bismarcks Besorgnis vor einem Regime ä la Gladstone in Deutschland sollte bei der Behandlung dieser Kampfjahre nicht unbeachtet bleiben. Berlin Klaus-Peter Hoepke PACK, Wolfgang: Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878/90. Hrsg. v. d. Komm. f. Geschichte d. Parlamentarismus u. d. polit. Parteien. - Düsseldorf: Droste-Verl. 1961. 280 S. D M 3 6 , - . Es ist ein unbestreitbares Verdienst Wolfgang Packs, die Geschichte des parlamentarischen Ringens um das Sozialistengesetz zur Darstellung gebracht zu haben, kristallisiert sich aus ihr doch zugleich auch die Stellung und Haltung der großen politischen Parteien zur Sozialdemokratie heraus. Diese Seite war bisher in der Literatur zu kurz gekommen, und doch ist sie die notwendige Ergänzung zum Gesamtproblem des Sozialistenkomplexes zwischen 1878 und 1890. P. geht es „um eine möglichst vollständige Geschichte des Sozialistengesetzes und seines Schicksals im Reichstag", um die Darstellung der Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien und zwischen den Parteien einerseits und um die Kämpfe zwischen dem Paria-

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ment und Bismarck andererseits. In diesem Sinne leistet die Arbeit auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der politischen Parteien und der deutschen Reichstagswirklichkeit, dargestellt und ausgeführt an einem bedeutenden Beispiel der Innenpolitik im Zeitalter Bismarcks. In Quellen stützt sich P. in der Hauptsache auf die Stenographischen Berichte des Deutschen Reichstages, dann aber auch auf einige Akten des Preußischen Justizministeriums aus dem Bundesarchiv Koblenz, auf Nachlässe Bebels, Liebknechts und Mottelers aus dem Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte und nicht zuletzt auf Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren, die sorgfältig abwägend ausgewertet wurden. Eine Ergänzung der Quellenbasis wäre möglich gewesen durch den Rückgriff auf Material von Staatsarchiven, die Akten preußischer Regierungs- oder Oberpräsidenten aufbewahren. Bei der Absperrung der Zentralarchive in Merseburg und Potsdam sind auf diese Weise wenigstens in einem gewissen Umfange Einblicke in die Tätigkeit der preußischen Ministerien möglich. Dabei wäre der Vf. auch auf die Berichte der Politischen Polizei beim Polizeipräsidenten in Berlin gestoßen, deren Quellenwert bei weitem nicht ausgeschöpft und genügend beachtet ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Stoff spröde und trocken ist, wenn P. auch immer wieder versucht, ihn durch zusammenfassende Analyse zu lockern. Eines aber ist gewiß, daß P.s Buch eine wichtige Lücke geschlossen hat. Berlin

Werner

Pols

FRICKE, Dieter: Zur Organisation und Tätigkeit der deutschen Arbeiterbewegung (1890—1914). Dokumente u. Materialien. — Leipzig: Verl. Enzyklopädie 1962. 282 S. DM 4 , - . Auf der Grundlage ausgedehnter Materialkenntnis legt der Vf. eine Fülle unterrichtender Texte, Fakten und Zahlen über die sozialistische Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich vor, wobei er Programmatik und organisatorischen Aufbau ebenso berücksichtigt wie u. a. Mitgliederstruktur, Parlamentsvertretungen, Presse und politische Bildung. Der im allgemeinen geschickt verbindende Kommentar verrät neben parteilicher Zielstrebigkeit eine unterschwellige ideologische Bindung des Vf.s, die zur Ursache mancher Unsauberkeiten der Analyse wird. Mit dem Begriff „eigentliche Arbeiter" (S. 102) übernimmt Fricke bedenkenlos ein Requisit der antikommunistischen Argumentationsbühne, dessen Mangel an Relevanz auch die Anwendung auf den Opportunismus nicht zu beheben vermag. F.s marxistisch unhaltbare Bewertung des Mannheimer Textes über die Notwendigkeit von Gewerkschaften zur Hebung der Klassenlage innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (S. 221) ist ein Musterbeispiel interessebedingter Fehlinterpretation. Da sich die Mitgliederbewegung nur dann sachgerecht ableiten läßt, wenn der Problemkreis der „Reife" und damit ein neuralgischer Kern der leninistischen Zwecktheorie berührt wird, ist dem Vf. auch für S. 230 jener mildernde Umstand doktrinärer Befangenheit einzuräumen, den er für die Polemik gegen Noskes „Verrat" in der Reichstagsrede von 1907 (S. 120f.) auf Grund seiner profunden Vertrautheit mit den Quellen nicht beanspruchen darf. Vgl. PT-Protokoll 1907, insbesondere S. 257, Bebel: „Man bleibe doch bei der Wahrheit." Die Erkenntnis, daß selbst Vorliebe für entbehrliche Lenin-Zitate der historischen Forschung weiterzuhelfen vermag, ist ein ungewollter Nebenertrag dieses als Nachschlagewerk in seinen Grenzen wertvollen Taschenbuches: S. 41 bringt F. in korrekter Fassung § 6 des Jenaer Organisationsstatuts, S. 49 die entsprechenden Ausführungen Lenins, bei dem sich

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„Wahlkreise" in „alle Parteiorganisationen" und 20% der Beitragseinnahmen in „25% ihrer Einnahmen" verwandeln. Die Prüfung der russischen Ausgabe (Bd. 9, Moskau 1947, S.265) bestätigt das Ergebnis des Vergleichs mit der deutschen: Auch hier irrte Lenin. Berlin

Henryk Skrzypc%ak

WEHLER, Hans-Ulrich: Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die dt. Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. — Würzburg: Holzner 1962. 281 S. = Marburger Ostforschungen. Bd. 18. D M 2 7 , - . Die Arbeit von Wehler zeichnet sich durch eine sorgfältige Behandlung des Themas und strenge Sachlichkeit in der Erörterung der Detailfragen aus. Der Vf. hat nicht nur das gedruckt vorliegende Material benutzt, sondern auch die Bestände von Archiven sowie Nachlässe durchgesehen und schriftliche und mündliche Aussagen noch lebender Persönlichkeiten ausgewertet. Ausgehend von Äußerungen, die Marx, Engels und Lassalle zur Frage des deutschen Nationalstaates gemacht haben, wobei die Problematik der in ihm lebenden Minderheiten von diesen sozialistischen Theoretikern nur am Rande behandelt wurde, geht W. ausführlich auf die Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber innenpolitischen Problemen des Reichslandes Elsaß-Lothringen, Nordschleswigs und vor allem der polnischen Gebietsteile in Preußen ein. Hatte sich die Sozialdemokratie nach 1870 zunächst gegen die Annexion der früheren französischen Provinzen Elsaß und Lothringen gewandt, so fand sie sich in den 90er Jahren doch mit den bestehenden Grenzen ab und schränkte ihre Kritik auf eine Erörterung innerer Mißstände ein. Im Falle Nordschleswigs befürwortete die Sozialdemokratie zwar die Forderungen der dänischen Minderheit auf Berücksichtigung ihrer Muttersprache, erklärte sich aber niemals bereit, strittige Gebietsteile wieder an Dänemark abzutreten. Der Hauptteil der Untersuchung umfaßt eine Darlegung des Verhältnisses zu dem polnischen Bevölkerungsteil. W. hat dankenswerterweise gerade für diesen Abschnitt seines Buches in reichlichem Maße polnische Literatur sowie Quellenmaterial, u. a. aus den Staatsarchiven Breslau, Bromberg, Kattowitz und Oppeln, heranziehen können. Auch im Falle der Polen ist die gleiche Haltung zu beobachten wie in Nordschleswig. Die Parteiführung wendet sich gegen eine gewaltsame Germanisierung oder gar Enteignungspolitik und verurteilt in schärfster Form alle staatlichen Maßnahmen zur Unterdrückung der polnischen Sprache oder polnischer nationaler Eigenarten. Die Wiederherstellung eines selbständigen polnischen Staatswesens wird aber niemals ins Auge gefaßt oder gar befürwortet. Gerade Rosa Luxemburg, die selbst polnischer Herkunft war, wendet sich in äußerst ablehnender Weise gegen derartige Bestrebungen. In diesem Zusammenhang sind die Auseinandersetzungen zwischen den Sozialdemokraten und der politisch ziemlich bedeutungslosen Polnischen Sozialistischen Partei von Interesse, für die der Vf. aufschlußreiches Material beibringt. Die Ausführungen W.s bedeuten einen wichtigen Beitrag zur Innenpolitik der Sozialdemokratie, aus dem hervorgeht, daß die Partei sich schon vor 1914 in einem größeren Ausmaß dem bestehenden Nationalstaat eingefügt hatte, als es ihre Führung und auch ein großer Teil der Anhänger wahrhaben wollten. Berlin

Ernst

Schraepler

ALLGEMEINE UND 2EITLICH BEGRENZTE DARSTELLUNGEN

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SCHUSTER, Hans: Arbeiterturner im Kampf um die Jugend. Z . Geschichte d. revolut. Arbeitersports 1893 — 1914. — Bln.: Sportverl. 1962. 222 S. mit Abb. (Beiträge z. Geschichte d. demokrat. u. sozialist. Turn-u. Sportbewegung.) DM15,—. An Hand unveröffentlichter und veröffentlichter, aber entlegener Quellen untersucht Schuster die mühevolle Aufbauarbeit des Arbeiter-Turnerbundes besonders unter dem Aspekt, inwieweit die klassenkämpferischen Kräfte der Arbeiterschaft gestärkt wurden. Die Art und — in geringerem Umfange — auch das Ausmaß behördlicher Nachstellungen werden eindringlich beleuchtet; andererseits polemisiert der Vf. heftig gegen den letztlich erfolgreichen „opportunistischen" Kurs jener Sozialdemokraten, die für die Turnbewegung nur l'art pour l'art gelten lassen wollten. Da die vorliegende Arbeit auch in aktualisierender Absicht verfaßt wurde, wird ein Fragenkreis, der sich bei diesem Thema geradezu aufdrängt, von Sch. nicht behandelt: nämlich die Frage nach den kulturpolitischen Leitbildern, mit denen die Arbeiterschaft etwa der „bürgerlichen" Körperkultur entgegenzutreten beabsichtigte.

Berlin

Klaus-Peter

Hoepke

M E I N E C K E , Friedrich: Werke. Hrsg. im Auftr. d. Friedrich-Meinecke-Inst. d. Freien Univ. Berlin v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs u. Walther Hofer. Bd. 5: Weltbürgertum und Nationalstaat. Hrsg. u. eingel. v. Hans Herzfeld. — München: Oldenbourg 1962. 483 S. DM 3 4 , - . Bd. 6: Ausgewählter Briefwechsel. Hrsg. u. eingel. v. L. Dehio u. P. Classen. — Stuttgart: K. F. Koehler 1962. XVI, 664 S. DM 3 5 , - . In einem Augenblick, wo sich das Interesse der Forschung auf Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung des 1. Weltkriegs konzentriert und die Diskussion nach den Zusammenhängen von nationalem Selbstbehauptungsstreben und expansiver Außenpolitik des Nationalsozialismus fragt, gewinnt die Neuaufl. von Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat", welche die Ausgabe seiner Werke vorläufig abschließt, wieder unmittelbare Bedeutung. Zwar ist M.s Anschauung von Staat und Nation schon vielfach (z. B. von Gremmels, Hofer und Sterling) erörtert worden; aber diese historiographische Leistung — seit ihrem ersten Erscheinen als ein Teil der Geschichte des deutschen Geistes und als bedeutsames Dokument der politischen Situation vor 1914 aufgefaßt — hat stets dazu aufgefordert, als „schaffender Spiegel" von neuem betrachtet zu werden. Die Einleitung von Her^feld, die sich der von Hinrichs und Kessel geschaffenen Tradition klassischer Einführungen in die bekannten Werke M.s einordnet, weist nicht nur den wissenschaftlichen Rang des ersten großen Wurfs seiner geistesgeschichtlichen Trilogie und die Verbindungslinien zwischen diesen Werken aus, sondern sie erhellt das feine Geflecht der Gedanken über Weltbürgertum und Nationalstaat, Macht und Kultur, Idee und Wirklichkeit, Preußen und Deutschland, durch das M.s geistige Sonderstellung innerhalb der umstrittenen politischen Glaubenswelt des Wilhelminischen Reichs deutlich bestimmt wird. — Im übrigen ist die Neuaufl. ein Abdruck der 7. Aufl., ergänzt durch ein verbessertes Personenregister und unter Wiedergabe der einzelnen Vorworte sowie der Darlegung über das preußischdeutsche Problem aus dem Jahre 1921. In der Auseinandersetzung um das geistige Erbgut der deutschen Geschichte konnte es nicht ausbleiben, daß das Interesse sich dem Historiker zuwandte, der den Aufstieg und die Perversion des Deutschen Reichs mit allen Fasern seines Herzens miterlebte und den Schicksalsgang mit seinen bescheidenen Mitteln zu beeinflussen suchte. Zahlreiche Untersuchungen deckten die Grundlagen von Meineckes Gedankenwelt auf und setzten sie in 21

Jahrbuch 12

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

Beziehung zu den im Deutschland seiner Zeit vorherrschenden Tendenzen (M. konnte die ersten Arbeiten dieser Richtung noch lesen: S. 284, 308, 315). Andere Arbeiten griffen bestimmte Aussagen heraus und werteten sie, unbesehen ihres Ortes im Zusammenhang des Gesamtwerkes, für allgemeinere Fragestellungen aus. Für diese Zwecke boten die gedruckten Werke ausreichende Anhaltspunkte. Dank ihres von M.s Persönlichkeit geprägten Charakters und der aufschlußreichen Selbstdeutungen (s. dazu jetzt vor allem den Brief an Hofer, S. 256) konnte man von der Voraussetzung ausgehen, in diesen veröffentlichten Schriften politische und weltanschauliche Glaubensbekenntnisse vor sich zu haben, die grundlegende Interpretationen seiner Gedankenwelt gestatteten. Hat nun die Ausgabe seiner Briefe zur Folge, daß unter manche Diskussion ein Schlußstrich gezogen werden kann oder bringt sie neue Gesichtspunkte in die Betrachtung? Man wird von den Briefen eher Bestätigungen und Ergänzungen schlüssiger Vermutungen erwarten können als überraschende Neuigkeiten, aber sie rufen dem Interpreten Umstände ins Bewußtsein, die er angesichts der Auseinandersetzung mit der Fülle des geistig bewältigten Stoffes und der Fragestellungen in M.s Werk zu vergessen geneigt ist (M. — S. 214 — wendet so gegen Antonis eindrucksvolle Studien ein, die Vernachlässigung des persönlich-zeitgeschichtlichen Hintergrundes führe dazu, daß natürliche Pendelschläge als logische Unstimmigkeiten ausgegeben würden und das Spezifische der Leistungen aus dem Blickfeld verschwinde). Das zwingt nun aber, sich Gedanken über die Aussagekraft und den Quellenwert des Briefwechsels zu machen, der von 1890 bis 1953 reicht. Abgesehen von der Tatsache, daß ein großer Teil der Briefe verloren ist und die Hrsg. — mit Recht — auf die Aufnahme der gewiß nicht unbeträchtlichen geschäftlichen Korrespondenz des Gelehrten M. verzichtet haben, muß man sich bewußt sein, daß der mündliche Gedankenaustausch für ihn stets größere Bedeutung hatte; es ist daher kein Zufall, wenn die Briefauswahl zwar G. v. Below, A. Dove, W. Goetz, Srbik, nicht aber Hintze und Troeltsch zu ihren Adressaten zählt (was z. B. die Spaziergangsgespräche mit diesen beiden Berliner Kollegen für die Ausweitung des Gesichtskreises des preußisch-deutschen Historikers bedeuteten, läßt sich nur durch Quellenvergleiche erkennen, findet aber im Briefwechsel keinen Anhaltspunkt; über das Faktum s. Kaehlers Bemerkungen, S. 517). Nur die Dialoge mit Kaehler (248 S.) und Spranger (69 S.), die eigene Abschnitte der Ausgabe bilden, spiegeln die unmittelbare innere Anteilnahme am ganzen Menschen wider (S. 387), die M. als Vorzug des Gesprächs schätzte. Die anderen Briefe gleichen in Inhalt und Aufbau Abbreviationen konzipierter oder bereits veröffentlichter Aufsätze (S. 129), oder sie enthalten Stoßseufzer (S. 13), die einer ebenso sorgfältigen Deutung bedürfen wie die auf bestimmte Verhältnisse berechneten publizistischen Artikel. Sie sind im großen und ganzen nicht „intimer" als seine öffentlichen Stellungnahmen, sondern markieren ebenfalls Wegstrecken und Resultate seiner Versuche, den eigenen Standpunkt zu klären und die berechtigten Argumente der Gegenseite in ihm aufzuheben (S. 1). Man sollte daher die Ausgabe nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt betrachten, was sie an Neuigkeiten enthält (obwohl es hier Einzelheiten gibt, wie z. B. Versuche, eine Intervention seines Gesinnungskreises gegen die Annexionisten — S. 80 — oder eine Mahn- und Warn-Deputation an Hindenburg — S. 137 — zu organisieren), sondern in ihr das Zeugnis eines um den Sinn der deutschen Geschichte ringenden, leidenden und auch wieder Hoffnung schöpfenden Menschen zu sehen. Der Briefwechsel, der in den Kern seiner Auseinandersetzung mit den Grundfragen der von ihm erlebten Zeitgeschichte und geschichtlichen Lebens überhaupt Einblick gewährt, ist somit ein Stimmungsbarometer, das die geistig-seelischen Wandlungen M.s, besonders im Zeitraum von 1933 bis 1945, anzeigt. Da M. im Wandel des deutschen Menschentums eine wesentliche Ursache für den

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Niedergang des nationalen Einheitsstaates erblickte und seine eigenen Anschauungen prüfte, ob und wie weit sie sich dem Trend anpaßten oder noch Widerstand leisten konnten, liegt der Quellenwert seines Briefwechsels auf der Hand (er ist ferner Zeugnis für die Entstehungsgeschichte der „Deutschen Katastrophe", 1946; S. 229). Der Gedankenaustausch mit seinem Schüler-Freund S. A. Kaehler — mit seinen fesselnden Auseinandersetzungen um Bismarck und Weimar, Humboldts Humanitätsideal und existentielles Christentum sowie um die Gültigkeit des deutschen Geschichtsbildes und andererseits den Dokumenten ihrer gemeinsamen inneren Opposition gegen Hitlers Regime — sowie die Bereitschaft zu offener Selbstkritik trotz der Kontinuität der Wertmaßstäbe, die uns in allen Briefen entgegentritt, geben diesem Bd. den Charakter einer erregenden und geistgeladenen Geschichtsquelle. Sie illustriert die seelisch-geistige Notlage, aber auch die inneren Kraftreserven des Menschen M. (S. 95, 122, 128f., 326ff.). Erst auf dem Untergrund solcher Zwiegespräche empfindet man die feineren Nuancen eines historisch-politischen Standorts, der zwar bereit ist, auch den Gedankengang der Gegenseite voll zu überprüfen, aber doch dank der aus den bewegten Lebenskämpfen errungenen Wertpositionen weiß, wo die Grenzen der Tolerierung, des passiven Widerstandes oder der Resignation liegen (S. 167, 138, 142f., 194). Dieses sittliche Gefühl für die echten Aufgaben der deutschen Politik ermöglicht, die gegenwärtige Konstellation und ihre Gefahrenherde scharf zu beobachten, so daß M. 1926 — S. 132 — besorgt feststellen kann, daß die Einstellung der Rechtsgruppen die Staatsordnung gefährde und dem Faschismus vorarbeite. Aus solchen Stellungnahmen ergeben sich dann Kriterien, um M.s Gedanken über Volksgemeinschaft von anderen Versionen zu unterscheiden und sein Programm, nationale und soziale Tendenzen zu vereinen, in die von Naumann geprägte „deutsche Form der Demokratie" einzuordnen. Auch hier gilt, daß die Differenzierung der Charaktere Maßstab für die Beurteilung eines Programms sein soll (S. 191). Es ist dabei noch auf den kuriosen Umstand hinzuweisen, daß M. 1932 und nach 1945 hofft und mahnt, daß aus der jungen Generation eine liberal-soziale und staatsbewußte Bewegung hervorginge, die als „bürgerliche" Mitte den „Nazi-Haschischrausch" vertreibe und die Erneuerung trage (S. 132, 261, 228). Doch gibt der Briefwechsel persönliche Anmerkungen, die seine Schriften wesentlich ergänzen. Das betrifft vor allem die durch Fischers „Griff nach der Weltmacht" wieder in Gang geratene Diskussion über die deutsche Kriegszielpolitik im 1. Weltkrieg. Aus M.s Briefen dürfte klar werden, daß zwischen dem von taktischen Überlegungen abhängigen und z. T. gefährlichen „Annexions"programm, das für ihn jedoch stets im Dienst einer Sicherheitspolitik steht, und der Forderung innenpolitischer Reformen ein Kausalzusammenhang vorliegt, der unter dem Alpdruck der Unausgeglichenheit des Reichsbaus seine spannungsgeladene Problematik enthüllt (S. 51, 47, 53, 54, 62, 78, 64f.). Wenn M. 1940 diese Zusammenhänge erneut darlegt (S. 194), so zeigt das einmal, daß er wiederum unter dem Eindruck steht, die europäischen Mächte wollten die Tatsache der Reichsgründung und ihrer Konsequenzen rückgängig machen; zum anderen verdeutlichen seine Erwägungen die Misere, in die der Gegner des NS-Regimes angesichts der außenpolitischen Erfolge des Nationalsozialismus (S. 178/181, 192) geraten mußte. Denn — losgelöst von den innenpolitischen Prämissen des Programms der Sicherung einer Einflußsphäre — ließen sich diese Erfolge mit der Kriegszielpolitik von 1914/18 vereinbaren. Damit wird aber die Anfälligkeit und Zweifelhaftigkeit einer nationalpolitischen Zielsetzung offenbar, deren Problemgehalt allerdings einer diffizileren Nachprüfung bedürfte. Hier mögen folgende Andeutungen genügen. Jene Kontinuität hat ihre Wurzel im Bild einer europäischen Staatenordnung, die im Gegensatz zum Versailler Gewaltsystem (S. 192) auf einem Ausgleich 21*

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

berechtigter nationaler Interessen beruhen soll und insofern an die deutsche Idee der Freiheit (s. M.s Beitrag in der gleichnamigen Aufsatzsammlung von 1917) anknüpft; aber so verlockend seine Erfolge sind, in einem NS-Deutschland kann M. nicht den Verwirklicher einer an sich „guten" Idee finden. Seine Bereitschaft umzulernen (d. h. sich mit den Erfolgen des NS-Regimes auseinanderzusetzen), hat ihre Grenzen an dem Gebot, Zentrales und Peripheres geschieden zu halten (S. 194, 203, 216, 201, 245 f.). Doch wenn ihm 1948 die Frage in den Sinn kommt (S. 289), ob nicht die Existenz des Deutschen Reichs dazu beigetragen habe, den Ausbruch des Ost-West-Konflikts hintanzuhalten, dann ahnt man die Belastung, unter der er die Sonderstellung Deutschlands gegenüber der angelsächsischen Welt und als Bollwerk gegen den Bolschewismus sehen mußte. Denn die Idee von 1917, eine innere Entspannung, d. h. die Liberalisierung der Reichsverfassung, könne die Entfaltung des deutschen Übergewichts in einer mitteleuropäischen Staatenföderation für die anderen Partner tragbar machen, war angesichts des totalitären Unrechtssystems irrelevant geworden. Doch umgekehrt war die Aufgabe des nationalen Ziels, welche aus der inneren Opposition zum Hitler-Regime folgen mußte, für M. in Anbetracht der Alternative der Bolschewisierung nicht unbedingt zwingend (S. 218, 463). Man darf nicht verschweigen, daß M. trotz entschiedener Ablehnung des totalitären Regimes sich eher für die deutsche Diktatur entschieden hätte als für die kommunistische. Aber in diesen Komplex müssen die Hoffnungen auf einen Umsturz der deutschen Verhältnisse hineingezogen werden, die dem Dilemma seine Schärfe nehmen konnten. Erst die Lektüre dieses Briefwechsels macht klar, welche Aufgaben der Erforschung der deutschen Geschichte, vor allem hinsichtlich der Differenzierung zwischen den inneren Triebkräften des demokratischen Nationalgedankens und des Nationalsozialismus, noch bevorstehen. Es ist auch daran zu erinnern, daß der Autor von „Weltbürgertum und Nationalstaat" in folgerichtiger Entwicklung sich nach den bitteren Erfahrungen wieder stärker zum ersten Faktor seiner Gedankenwelt bekannte, den er ja vorher nicht verleugnet hatte. Aus dieser Konfliktsituation enthüllt sich ein Bild des Menschen M., das veranschaulicht, daß und wie es einer in der deutschen Geistesgeschichte bewußt wurzelnden Persönlichkeit gelingen konnte, seine Anschauungen letztlich doch rein zu halten von den Versuchungen einer Zeit, die Sinnen und Handeln beträchtlich belastete und so trotz allen Bruchs innerhalb des Katastrophengangs der deutschen Geschichte die echten Verbindungsglieder zwischen den Generationen zu wahren. Die Quellen dieser menschlichen Leistung offenbaren die rückhaltlosen Familienbriefe genauso wie der eindrucksvolle Gedankenaustausch mit Kaehler und die geistige Notgemeinschaft mit dem Humboldt-Interpreten Spranger. Das sind 1. die Frage, ob und wie etwas in das Bild der höheren Welt hineinpaßt, die man in seinem Innern spürt, und 2. die Berufung auf Goethe als Trostquelle in seelischer Notlage; sie ist Spiegel des Versuchs der Selbstbehauptung des „daimonion", welches die Schattenseiten des Daseins nicht ignoriert, sondern sie durch den erkämpften Glauben zu überwinden sucht, daß es „trotz allem" einen Sinn in der Geschichte geben müsse (S. 9, 127, 234, 239 f.). Dennoch muß man sich klar sein, daß der 60 schicksalsvolle Jahre deutscher Geschichte umspannende Briefwechsel nicht nur Beiträge zur Vervollständigung des M.-Bildes gibt, sondern weiterreichende Fragen aufwirft. Die Briefe sind ja Spiegel eines Erlebnisgehalts, der — wie Kaehler unterstreicht — selbst mit der M. zu Gebote stehenden Geisteskraft weder in seiner ganzen Tiefe noch in seiner Tragweite verarbeitet werden könne. M.s Briefe können jedoch, insofern sie eine Gegenwart zu bewältigen suchen, die aber seine Gedankenwelt fortan noch als unbewältigte Vergangenheit belastet, einen Leitfaden bilden, der den Forscher in die Probleme einer Krisenzeit einführt, für deren Spannungsgefälle er

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auf Grund eigener Erfahrungen selten ein Auge hat. Gerade indem die Hrsg. Wert darauf legten, das menschliche Phänomen in den Blickpunkt zu rücken, haben sie Voraussetzungen geschaffen, die die Erforschung der Zeitgeschichte befruchten können. Hier liegt eine Quelle vor, die den Historiker zwingt, komplexe Situationen und Vorstellungen in ihren Ursachen und Motiven zu erfassen und sich derart von voreiligen Vorurteilen zu befreien (wir meinen eine kritische Betrachtungsweise, die — im Sinne M.s: S. 267 — weder faul beschönigt noch wilder Bilderstürmerei gleicht). Man wird den Hrsg. darüber hinaus bescheinigen, daß sie eine Auswahl vorgelegt haben, die zwar nur ein Nachtrag zum Gesamtwerk sein kann, aber dennoch den Wert einer „Blütenlese" hat, von der kein Leser ein Einzelstück missen möchte. Sie gestattet, eine Wanderung durch ein Gebiet zu unternehmen, das M. teilweise aufgeschlossen hat, aber zugleich regt der Rückblick auf diese Führungstour an, unter Hinzuziehung anderer Quellen das Gelände der deutschen Geschichte näher zu untersuchen. Daß der Briefwechsel außerdem noch Stationen aus M.s Lebensweg und wissenschaftlichem Alltag (als Lehrer und Organisator) beleuchtet, wichtige Hinweise für seine Forschungen und die politische Frontbildung innerhalb der Geisteswissenschaften und selbst des Freundeskreises (Below, Mareks) gibt, versteht sich daneben von selbst. Vielleicht geht von diesem abschließenden Bd. der Werke der Anstoß aus, die dankbare, aber in der M.-Literatur noch fehlende biographische Darstellung zu konzipieren. Eine ebenso reizvolle Aufgabe wäre die Einordnung des Briefschreibers M. in die Kette seiner geistigen Ahnherren, die Ranke, Burckhardt, Haym, Droysen, Duncker und Treitschke umspannen müßte. Berlin

Gustav Schmidt

KRILL, Hans-Heinz: Die Rankerenaissance — Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag z. historisch-polit. Denken in Deutschland 1880 — 1935. Mit e. Vorw. v. Hans Herzfeld. — Bln.: de Gruyter 1962. XIV, 271 S. = Veröffentlichungen d. Berliner Histor. Komm. b. Friedrich-Meinecke-Inst. d. Freien Univ. Berlin. Bd. 3. DM 3 8 , - . Die moderne, von Ranke formulierte Richtung der Geschichtsschreibung enthielt zwei philosophische Weltanschauungen — eine nationalstaatliche und eine universale. Daß der nationale Staat, vom Gesichtspunkt seiner internationalen Beziehungen gesehen, Hauptgegenstand einer „objektiven" Geschichtsschreibung sei, wurde zu einer fast heiligen Norm der deutschen Historiographie im 19. Jh. Die Rankische Geschichtsphilosophie, trotz ihrem scheinbaren Empirismus, war aber von einer älteren theologischen und nationalistischen Weltanschauung durchdrungen: Es waren die auch von Wilhelm von Humboldt und Hegel hervorgehobenen transzendentalen Ideen, die sich in der Geschichte verwirklichen. Hans-Heinz Krill hat nun die logische Entwicklungstendenz der Rankischen Geschichtsanschauung in den Arbeiten der Neurankeaner Max Lenz und Erich Mareks tiefgehend analysiert, und zwar mit einer rastlosen Kritik dieser Tendenz, die von einer Uberschätzung nationalstaatlicher Werte in der Bismarckzeit zu einer krankhaften Uberschätzung dieser Werte im 1. Weltkrieg und in der Weimarer Zeit bis zum totalen Irrationalismus der Hitlerzeit führte. Die Darlegung der geistigen Entwicklung ist meisterhaft gelungen. Als Maßstab einer gesünderen Historiographie werden die Arbeiten von Ludwig Dehio und Hans Herzfeld herangezogen, was durch die Logik der Analyse zwar nicht gefordert wird, aber doch um so aufschlußreicher ist. Wie auch Ranke, interessierten sich die beiden Historiker für Themen der Außenpolitik des Protestantismus, für Biographie und ausländische Geschichte. Sie waren nicht in der

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

Art parteiisch wie Sybel und Treitschke und nicht ausschließlich dem Themenbereich deutscher Geschichte verhaftet, hatten aber eine ähnliche Ehrfurcht vor dem kleindeutschen Nationalstaat und wurden unter dem übermächtigen Einfluß der Bismarckschen Reichsgründung und des 1. Weltkrieges ebenso wie Treitschke Vertreter einer nach rechts gerichteten politischen Weltanschauung. Der Machtrealismus wurde der einzige Realismus der geschichtlichen Welt und auch noch als Verwirklichung einer transzendentalen Wahrheit gleichsam ein Ding an sich, das nie einer Kritik unterzogen wurde. Krill betont aber, daß das Fehlen der Kritik an dieser machtverehrenden Weltanschauung, die schismatisch wirkte und Deutschlands Geistesrichtung von der des Westens trennte, indessen kein ausnahmslos zutreffendes Charakteristikum der deutschen Historiographie gewesen ist, da Friedrich Meinecke und Otto Hintze (ersterer auch der bedeutendste deutsche Historiker seit Ranke) eine durchaus einsichtsvolle Kritik übten und einsahen, daß die menschlichen Werte vielleicht doch tiefere Wahrheiten der Geschichte darstellen als die realpolitischen Werte der Bismarckzeit. Auch ein in der Tradition des Westens erzogener und geschulter Historiker kann diesem Urteil des Vf.s weitgehend zustimmen. Es müßte aber ergänzend bemerkt werden, daß auch die Weltanschauungen Meineckes und Hintzes von jenen des Westens unterschieden sind, trotz ihrer Betonung des klassischen (statt romantischen) Individualismus — und zwar vielleicht deshalb, weil die Newtonische Physik nie denselben philosophischen Einfluß in Mitteleuropa gehabt hat wie im Atlantischen Westen. Es ist zum Teil diese ganz verschiedene Wissenschaftsphilosophie, welche ursprünglich den deutschen Geist von jenem des weiteren Westens trennte und dann zu verschiedenem Verständnis politischer Probleme führte. Der Historismus selber und die Ideengeschichtsphilosophie sind ja in ihren praktischen Auswirkungen weitgehend im Atlantischen Westen übernommen worden und werden immer noch in fast klassischer Weise befolgt, werden aber an philosophische Traditionen, die von Locke und Francis Bacon herstammen, angeknüpft, während die deutschen Traditionen weit mehr einer Verehrung der philosophischen Metaphysik eines andersgearteten Protestantismus folgen. Letztlich aber, wie auch Krill glänzend gezeigt hat, ist es vielleicht die politische Geschichte selbst, die den unterschiedlichen Inhalt der Geschichtsauffassung begründet. Das Bismarckreich war gewissermaßen nur in Deutschland möglich, und deswegen konnten die Weltanschauungen von Lenz und Mareks nur in Deutschland einmal normativ werden. Krill hebt auch richtig hervor, daß es trotz verschiedener Erfahrungen im geschichtlichen Leben auch gemeinsame Traditionen im ganzen Westen gibt, die vielleicht in bezug auf den Historismus Aussicht auf eine Art philosophische Versöhnung bieten. Aber das Hauptproblem, warum solche gemeinsamen Traditionen fundamental andere Weltanschauungen zulassen, bleibt immer noch eine offene Frage. Alberta, Kanada

Helen Liebel

BREYSIG, Kurt: Aus meinen Tagen und Träumen. (Teilsamml.) Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus d. Nachlaß hrsg. v. Gertrud Breysig u. Michael Landmann. - Bln.: de Gruyter 1962. XIII, 191 S. DM 2 6 , - . Die zahlreichen Werke Kurt Breysigs über Geschichtsphilosophie sind aus der Problematik des Zeitalters der Krise des Historismus erwachsen, in der Ära des Lamprechtstreites und des Neukantianismus, der Ära Nietzsches und Stefan Georges, der Epoche des Darwinismus und im Übergang des Positivismus zur Soziologie. Br.s Werke und Gedanken spiegeln die Problematik dieser Krise, aber auch andere Komponenten des Geisteslebens der Jahrhundertwende, das geschichtsphilosophische Fragen aufgeworfen hat, die noch heute nicht zur Lösung gekommen sind. Die Veröffentlichung der fragmentarischen Memoiren

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und des ebenfalls nur im Fragment vorgelegten Briefwechsels, der Aufzeichnungen und Gespräche Br.s (von seiner Witwe Gertrud Br. und Michael Landmann hrsg.) ist daher überaus willkommen und für die geschichtsphilosophische Welt, die sich heute wieder verstärkt mit diesem Problemkreis befaßt, von größtem Interesse. Bedeutungsvolle Erinnerungen aus Kindheit, Schulzeit, Universitätsjahren usw. wurden von Br. knapp, vielleicht zu knapp, geschildert. Der auf das Methodische beschränkte Einfluß Gustav Schmollers war erheblich, wie zuerst auch die Ideenwelt Treitschkes, später jedoch trat eine Hinneigung zur Sozialdemokratie ein. Nach seinem Eintritt in die akademische Laufbahn wandte sich der junge Dozent von der monographischen Geschichtsschreibung ab und begann kulturgeschichtliche Studien, die unter dem Einfluß Hermann Grimms, Burckhardts und Stefan Georges standen. Br. hatte große Sympathie für Lamprechts Versuche, zeigt sich aber, im Grunde genommen, weit mehr von Nietzsche und George und deren Wertung der großen Persönlichkeit als von Lamprechts kollektivistischen Aspekten beeinflußt. Sein reiferes Schaffen war fast ausnahmslos den Problemen der Begriffsbildung in der Geschichte gewidmet, als er in der Nachkriegszeit eine imposante Reihe geschichtsphilosophischer Werke über Persönlichkeit, Entwicklung, Werden der Menschengeschichte, Stufenbau, geschichtliche Gesetze, Universalhistorie usw. veröffentlichte. Wie auch Heinrich Rickert, versuchte Br. den bis heute nicht überwundenen erkenntnistheoretischen Zwiespalt zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise zu heilen, weswegen seinem besonders geistvollen Briefwechsel mit Hans Driesch erhöhte Wichtigkeit beizumessen ist; auch die wenigen Briefe von und an Max Planck und Niels Bohr stehen im gleichen Zusammenhang. Das Buch wird von einer Erinnerung Rudolf Pannwitz' an Br. eingeleitet und durch eine wertvolle Schilderung seines geistigen Entwicklungsganges (von Gertrud Br. verfaßt) als Nachbericht abgeschlossen. Es ist zu hoffen, daß diese Fragmente aus seinen „Tagen und Träumen" zu weiteren ideengeschichtlichen Studien über Br. anregen werden. Alberta, Kanada Helen Liebet LUDWIG, Emil: Hindenburg. Legende und Wirklichkeit. — Hamburg: Rütten & Loening 1962. 287 S. mit 16 Abb. DM 10,80. Emil Ludwigs Hindenburg-Biographie erschien zuerst 1935 in Amsterdam, weil ihr der Zugang nach dem Ort ihrer Geschichte verwehrt war. Die deutsche Erstausgabe hat deshalb schon als zeitgeschichtliches Dokument ihre Berechtigung. L. zielt auf zweierlei: in der Schilderung des Mannes, der nicht vom Ehrgeiz, sondern von der Legende emporgetragen wurde, liegt zugleich der Versuch zu einer Psychologie der Deutschen. „Dort drüben hinter dem Wald liegt Tannenberg. Da war seine große Schlacht gewesen, da hatte der Ruhm begonnen. Von da an hatten sie ihn zu einem Götterbilde erhoben, die Deutschen, was er doch gar nicht werden wollte." Diese Legende hat noch 1925 bei seiner Wahl zum Reichspräsidenten nach- und mitgewirkt. „Der Dienst geht weiter", das ist die Formel, auf die L. die Persönlichkeit und die Wirksamkeit Hindenburgs zu bringen versuchte, zugleich auch, um aus ihr seine Grenzen herzuleiten. Auf der anderen Seite versuchte L., in die Darstellung der Persönlichkeit Hindenburgs einen Abriß der Geschichte der Weimarer Republik einzubeziehen. Dieser steht freilich allzusehr im Blickfeld der von Hindenburg ausgehenden politischen Tätigkeit und seiner Ratgeber, so daß dabei manches verschwimmt. Zudem erscheint das allzu stark vorgekehrte junkerliche Element bei Hindenburg als Schlüssel zum Verständnis seiner Persönlichkeit wie seiner Entwick-

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ALLGEMEINES

lung zumindest in dieser Einseitigkeit sehr fraglich. Nun ist aber L.s Schriftstellerei nicht erst seit heute problematisch. Er hat zu jeder Zeit eine heftige Kritik erfahren, die sich gegen manche Eigenmächtigkeit in seiner Quellenbenutzung und -interpretation wandte. Nichtsdestoweniger muß man der Hindenburg-Biographie bescheinigen, daß sie einen in sich geschlossenen Wurf darstellt und auch in ihrer Einseitigkeit noch geistreich ist. Berlin Werner Pols Dr. Paul Hertz hat das Wort. Ausgewählte Reichstagsreden. Hrsg. anläßlich seines 1. Todestages am 23. Okt. 1962 von der Bürgermeister-Reuter-Stiftung, Berlin. Privatdruck. 156 S. Dem geistigen Rang und der politischen Bedeutung des am 23. Oktober 1961 als Westberliner Senator für Wirtschaft und Kredit verstorbenen früheren Redakteurs der „Freiheit", Abgeordneten in Charlottenburg und Groß-Berlin, langjährigen Reichstagsmitgliedes und Fraktionssekretärs seiner Partei, wird diese in anerkennenswerter Absicht, aber auch in Unkenntnis wissenschaftlicher Editionsgrundsätze vorgenommene Auswahl nicht annähernd gerecht. Schon das Inhaltsverzeichnis setzt sich über berechtigte Erwartungen hinweg. Aus dem Vorwort von Günter Brunner und einem Vergleich mit den Vorlagen ergibt sich dann, daß neben Paul Hertz zwei weitere Redaktoren den Text in einer Form gekürzt und „überarbeitet" haben, die unter quellenkritischen Gesichtspunkten den Tatbestand der Verunechtung erfüllt. An Stelle einer Biographie wurden außer der von Willy Brandt gehaltenen Grabrede Vorträge von Auf häuser, Hirschfeld und Mattick in den ohne graphisches Formempfinden gestalteten Bd. aufgenommen, dem jedes Register fehlt. Berlin Henryk Skr^ypc^ak SCHWIERSKOTT, Hans-Joachim: Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik. — Göttingen: Musterschmidt 1962. 202 S. = Veröffentlichgn. d. Gesellschaft f. Geistesgeschichte. Bd. 1. DM 19,80. Der Schwerpunkt der bei H.-J. Schoeps (Erlangen) entstandenen Arbeit liegt auf der Darstellung des umfangreichen Schrifttums von Moeller — das erstmals in einer Bibliographie zusammengefaßt wurde — und dessen geistiger Reichweite. Die literarischen Wurzeln des Jungkonservativismus legt der Vf. an Hand der Frühschriften dieses unbestritten bedeutendsten Protagonisten frei. So zeichnet sich bereits mehr oder weniger deutlich beim jungen M. eine Reihe jener Elemente ab, die — bedingt durch Kriegserlebnis und durch die deutsche Niederlage — für die jungkonservative Gedankenwelt in der Weimarer Zeit konstitutiv werden. Verdienstvoll ist es, das Schaffen M.s in seiner jeweiligen menschlichen und politischen Umwelt zu betrachten und so bisher unbekannte Einblicke in die Anfänge des neuen Konservativismus zu vermitteln — Schwierskott lehnt es ab, den Begriff „revolutionärer Konservativismus" zu benutzen —, in die Anfänge des „Ringes", dessen Mittelpunkt wiederum der Juni-Klub mit seinem geistigen Führer Moeller van den Bruck bildete. Dieses doppelte Zentrum, das sich u. a. in dem Berliner Politischen Kolleg eine höchst bemerkenswerte politisch-pädagogische Einrichtung schuf, erzielte eine große geistige und geographische Ausstrahlungskraft. Zweifel erheben sich indessen, ob der „Ring" tatsächlich diejenige Kohärenz besaß, die Sch. ihm zuschreibt (S. 72). Nach den Gründen für die geistig-politische Wirksamkeit M.s wird vom Vf. nicht ausdrücklich gefragt; man darf aber annehmen,

ALLGEMEINE U N D ZEITLICH BEGRENZTE DARSTELLUNGEN

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daß in diesen stark persönlichkeitsbezogenen Zirkeln der menschliche Gehalt M.s einen hohen Anteil an der Existenz des „Ringes" hatte und sich noch nach M.s Tod als wirksam erwies. — Gerade diese Persönlichkeitsbezogenheit, deren Substrat letztlich eine nicht einmal politisch intendierte „Haltung" war, macht es denn auch so schwer, die sachlichen Bezüge zu vergleichen, die von tatsächlichen oder angeblichen Epigonen und Schülern formuliert wurden. Diese sachlichen Bezüge, so will uns scheinen, waren in ihrer positiven Zielsetzung derartig synthetisch, großzügig und unverbindlich, daß der philologische Vergleich zwischen einzelnen Autoren keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die geistige Vaterschaft M.s — der ja demselben Denkstil huldigte — erbringen kann, ja, daß dieser Aspekt sogar zweitrangig ist. Da Sch. eine weitverzweigte geistige Deszendenz im neukonservativen Lager andeutet, muß man auch fragen, ob nicht etwa der antibürgerliche Affekt, der sich hier gegen Ende der Weimarer Republik ausbreitete, M.s Anschauungen wesentlich verfälschte. — Männer wie Ernst Jünger und M. wiesen verschiedentlich auf die Nachwirkungen des Liberalismus in eben jenen Kreisen hin, die ihn bekämpften. Aus einer anderen Sicht stellt auch Sch. solch ein — wenn auch entartetes — liberales Wesensmerkmal fest, und zwar im Utopismus der Neukonservativen (S. 158). Dieser These vermögen wir uns nicht vorbehaltlos anzuschließen. — Ungeachtet der genannten Einwände hat die Arbeit unsere Kenntnis der Geistesgeschichte der 20er Jahre an einem bedeutsamen Punkt erheblich vertieft. Berlin

Klaus-Peter

Hoepke

SCHULZ, Klaus-Peter: Kurt Tucholsky in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 3. Aufl. — Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962. 179 S. = rowohlts monographien, 31. DM2,80. Nach Hans Preschers (in diesem Jb., Bd. 11, S. 384f. besprochenen) Tucholsky-Studie drängt der Vergleich mit Klaus-Peter Schulz' Taschenbuch sich auf. Überschneidungen ergeben sich zwangsläufig. Im Schnittpunkt beider Untersuchungen steht der unabhängige „Linksintellektuelle", der Kritik an Mißständen, vor allem am Justizunrecht übte — weil er das eigene Haus, Deutschland, „sauberhalten" wollte. Dazu nimmt Sch. sehr entschieden Stellung: „...wer in diesem Zusammenhang die anrüchige Vokabel .zersetzende Kritik' gebraucht, sollte sich gesagt sein lassen, daß das ,Zersetzen' von Gehirnnebeln, falschem Pathos, Verblendung, bösem Willen, Korruption und Verbrechen die elementare Voraussetzung eines jeden reinlichen Aufbaus ist." Vom Einklang in diesem Schwerpunkt abgesehen, sind die beiden Wegweiser zu Tucholskys Leben und Werk in Struktur und Akzentsetzung unterschiedlich, so daß sie einander in vielem ergänzen. Sch.' textlich umfangreicheres, mit Photos und Faksimiles versehenes Taschenbuch beschäftigt sich ausführlicher mit dem Literaten — das Wort im hohen Begriff verstanden —, dem Lyriker, Erzähler, Literaturkritiker, Feuilletonisten, Aphoristiker Tucholsky — und dem Menschen hinter dem Werk. Das Biographische kommt zu seinem Recht: Elternhaus, Jugend, Kriegszeit, Freundschaften (nicht Liebschaften); die tiefe und dauerhafte Bindung an den Mentor Siegfried Jacobsohn; die ein wenig ambivalente Beziehung zu Carl von Ossietzky; materielle Bedingtheiten; Vorlieben und Abneigungen; Charakterzüge . . . Ein wohldokumentierter, materialreicher, das Wesentliche begreiflich machender Leitfaden. Hamburg

Alfred

Kantorowicz

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES Lisa: Ich war Tucholskys Lottchen. Text u. Bilder aus d. Kintopp meines Lebens. Mit e. Vorw. v. Helmut M. Braem u. e. Nachw. v. Hermann Kesten - Hamburg: v. Schröder 1962. 325 S., 32 S. Abb. mit Text. DM 19,80. MATTHIAS,

Der Untertitel „Text und Bilder aus dem Kintopp meines Lebens", den die Vf.in, das Urbild der weiblichen Hauptgestalt in Tucholskys „Schloß Gripsholm", ihren Erinnerungen gab, klingt salopp und ichbezogen. Der Ton berlinischer Schnodderigkeit geht durch alle Kapitel eines Buches, das zweifellos vom Nachruhm des Berliner Humoristen und Zeitkritikers zu profitieren sucht und überdies gewisse alte Rechnungen präsentiert, nicht so sehr dem unbeständigen Liebhaber, dem weiblicher Groll über das Grab hinaus folgt, als vielmehr den früheren Rivalinnen. Ihnen wirft Lisa Matthias vor, gewisse negative Bilanzen des Werkes und des Lebens T.s zu frisieren. Die Autorin war in den zwanziger Jahren selbst eine vielbeschäftigte Journalistin und erscheint insofern legitimiert, ihre auf alten Tagebuchnotizen basierenden Aufzeichnungen aus der Intimsphäre T.s zu publizieren, als sie ehrlich bemüht ist, ein dokumentarisches Zeitbild wiederzugeben. Soweit sich Frau M. darauf beschränkt, Material zu sammeln — Originalbriefe, Nachdrucke zeitgenössischer Publikationen sowie Notizen über wirklich authentische Äußerungen T.s und seiner Freunde — ist ihren Memoiren eine gewisse kulturgeschichtliche Relevanz beizumessen. Vor allem scheint die Fixierung dessen, was man oft etwas unbestimmt mit „Lokalkolorit" und „Atmosphäre" bezeichnet, geglückt zu sein. Zumal die sprachlichen und terminologischen Eigentümlichkeiten bestimmter intellektueller Kreise Berlins jener Jahre können als typisch gelten: jener rationalistisch-nüchterne Jargon, wie er bei Journalisten linksliberaler Observanz und innerhalb der skeptischen jüdischen Intelligenz en vogue war. Das damalige Modewort „Neue Sachlichkeit" wird von der Autorin auch auf zwischenmenschliche Beziehungen angewandt, ebenso der psychoanalytische Vulgärbegriff „Sexualkomplex". Damit sucht Lisa M. offenbar ein vom Lebensstil der Zeit geprägtes Understatement gegenüber Gefühlsbindungen auszudrücken. Es kann hier nicht im einzelnen untersucht werden, in welchem Maße die Autorin dazu beiträgt, eine zeitgeschichtlich bedeutsame Erscheinung wie Kurt Tucholsky in ihrem künstlerischen und geistigen Rang zu würdigen. Mitunter mag sie bei ihren Wertungen ihre Kompetenz überschreiten. Dennoch kann ihrer Darstellung die Qualität einer Nebenquelle nicht abgesprochen werden, besonders im letzten Teil des Buches, das mit mehr Distanz auf T.s freiwillige Isolierung im schwedischen Exil eingeht. Die Vf.in liefert in dieser Hinsicht überzeugende Belege für die bis zum Selbsthaß gesteigerte Ambivalenz des Berliner Satirikers zum deutschen Judentum. Der aufschlußreiche Briefwechsel zwischen T. und Arnold Zweig, der hier nachgedruckt wird, kann das bestätigen. Ein reichhaltiger Bildteil unter der ein wenig neckischen Überschrift „Aus Lottchens Familienalbum", bestehend aus der Reproduktion bislang unveröffentlichter Amateurphotos, ergänzt und illustriert den in seiner Bekenntnisfreude recht indiskreten Erinnerungsband vortrefflich. In einem Nachwort weist Herrmann Kesten so amüsiert wie wohlwollend auf den Quellenwert — mit einigen kritischen Vorbehalten — hin. Diese Vorbehalte vorausgesetzt, darf man Lisa M.s Buch getrost als einen aufschlußreichen Beitrag zur Geschichte des Geistesklimas der zwanziger Jahre — wenngleich mehr des Vordergrundes — betrachten. Berlin

Arnold Bauer

E S S L I N , Martin: Brecht. Das Paradox d. polit. Dichters. — Frankf./M., Bonn: Athenäum-Verl. 1962. 420 S. (Bücher zur Dichtkunst.) DM 23,30.

ALLGEMEINE U N D ZEITLICH BEGRENZTE DARSTELLUNGEN

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KESTING, Marianne: Bertolt Brecht in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 5. Aufl. — Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962. 177 S. = rowohlts monographien, 37. DM 2,80. MÜLLER, André: Kreuzzug gegen Brecht. Die Kampagne in d. Bundesrepublik 1961/62. - Bln.: Aufbau-Verl. 1962. 126 S. DM 3 , - . Die deutsche, von Martin Esslin neu geschriebene Ausgabe des 1959 in London unter dem Titel „B-, A Choice of Evils" erschienenen Buches nimmt das Dilemma des politischen Engagements Brechts zum Thema. In glänzender, hie und da vielleicht etwas zu ausführlicher Beredsamkeit wird die Frage nach B. als politischem Dichter im Rahmen der weiteren Fragen nach dem Verhältnis von Dichtung und Ideologie und von literarischer Schöpfung und Selbstkontrolle, schließlich nach dem Grunde der tiefen Wirkung B.scher Dichtung außerhalb des Einflusses seiner politisch-ideologischen Absichten beantwortet. Es ist klar, daß diese Antworten von einer vergleichsweise außen liegenden Schicht der B.schen Persönlichkeit bis in die innersten Kernbezirke führen müssen. Mit einer Eindringlichkeit, die auch ein hartgesottenes Vorurteil gegen B. erweichen könnte, wird die Zerrissenheit eines großartigen Geistes analysiert, der seinen unbezähmbar irrationalen Schaffenstrieb in den rationalen Panzer eines Denkdogmas zu pressen sucht, solche ersehnte dogmatische Sicherheit aber immer wieder von seinen kreativen Impulsen über den Haufen gerannt sieht. Das Verhalten B.s gegen den Kommunismus, aber auch das des Kommunismus in den verschiedensten offiziellen Instanzen gegen ihn, das so im Mittelpunkt steht, wird in einem ausführlichen biographischen und einem kleineren literarhistorischen Kapitel vorbereitet. Die Ausführung des Hauptthemas stützt sich auf eine Fülle von Belegmaterial, über dessen Herkunft eine umfangreiche Bibliographie Aufschluß gibt (u. a. 2 Seiten russische Quellen). Diese temperamentvolle, aber animositätsfreie Schilderung des Konflikts zwischen dem intellektuellen Individualisten anarchischer Grundprägung, bestimmt durch das Trauma aus dem Augsburger Lazaretterlebnis 1918, und dem kooperativ wirkenden Ordnungsdogmatiker gibt ein eindruckstiefes Bild B.s, seiner Schaffensbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten. Die psychologische Zielrichtung, in der der Vf. dem konstitutiven Zwiespalt in der Dichternatur B.s nachspürt, bringt nebenher eine Reihe von Erträgnissen biographischer und kunsttheoretischer Art, unter denen B.s Bauernschlauheit an erster, die Theaterarbeit an fernerer Stelle steht. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um B. Als Einführung für breitere Leserkreise bestimmt und dort offenbar willkommen (Januar 1962: 55. Tsd.!) ist Marianne Katings reich mit Formulierungen und Textstücken B.s durchsetzte Darstellung, die ohne politische Voreingenommenheit, mit lebhafter Wärme für die Person B.s empfindend eine zum Monographischen hin tendierende Biographie gibt, deren Erkenntnisrichtung auf der psychologischen Linie Lebensgier, Starrköpfigkeit, Wirkungsbedürfnis, Einsamkeit liegt. Die literarische Position wird als gegeben angenommen, die praktische Theaterarbeit B.s in Ost-Berlin seit 1948 besonders ausführlich geschildert. Die Variabilität der westdeutschen Einschätzung B.s kondensierte sich an einigen politischen Ereignissen im Osten in den Jahren 1953, 1956 und 1961 zu einem Meinungsstreit, in dem das oppositionelle Moment besonders stark hervortrat. Dieser Opposition unterstellt André Müller mit den Metaphern des Titels und Untertitels System. Er glossiert gegen 200 Textstellen aus westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften der Jahre 1961 und 1962, um diesen Eindruck hervorzurufen. Wortreiche, aber eintönige politische Propagandaschrift. Im Anhang Listen ostdeutscher Aufführungen B.s, nach Stücken geordnet. Berlin

Wolfgang

Baumgart

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES Günther: Der gewerkschaftliche Widerstandskampf der deutschen Arbeiterklasse während der faschistischen Vertrauensräte-Wahlen 1934. — Bln.: Tribüne 1962. 87 S. DM 1,80. GROSS,

S. 8 sowie 23—67 der Broschüre, die mit der Mehrzahl ihrer Beispiele den Forschungsraum des Jb.s berührt, decken sich inhaltlich und in erheblichem Umfange wörtlich mit ZfG 4 (1956), S. 230—245. Von der Gelegenheit, die angebliche Führungsrolle der KPD zu beweisen, hat Gross auch in den Ergänzungsabschnitten keinen Gebrauch gemacht. Statt dessen vermittelt er jetzt einleitend Erkenntnisse der aufregenden Art, daß die Gewerkschaftsbewegung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung — gegen die sich heute erneut „der brutale Angriff des faschistischen" westdeutschen Imperialismus richtet — „einen bedeutenden Platz" einnehme. Die spröde Reaktion der Sopade auf kommunistische Einheitsfrontparolen bewertet G. mit zweckbedingter Problemblindheit, die wesentliche Tatbestände, wie Piecks Bericht an das 13. Plenum des EKKI, geflissentlich übergeht. Insoweit linientreu, wie es sich für einen Aspiranten des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gehört, trübt sich sein ideologisches Bewußtsein, wenn er behauptet, gewerkschaftlicher, also organisierter ökonomischer Kampf sei die „elementarste Form" proletarischen Klassenkampfes (S. 18). Als wertvollster Teil des Heftes hat das Archivalienverzeichnis zu gelten. Berlin

Henryk

Skr^ypc^ak

Helmut: Dietrich Bonhoeffer. Sein Weg und seine Frage an die Kirche. — Stuttgart: Calwer Verl. 1962. 29 S. = Calwer Hefte zur Förderung biblischen Glaubens und christlichen Lebens. H. 47. DM 1,60. AICHELIN,

Seine christliche Überzeugung zwang den jungen Theologen, nachdem er nicht mehr für seine Kirche wirken konnte, zum Kampf gegen den nationalsozialistischen Staat, dem er in letzter Stunde zum Opfer fallen sollte. Die drängenden theologischen Fragen, die der Privatdozent und bekenntnistreue Seminarleiter an seine Kirche stellte, zwingen nicht nur die evangelische Geistlichkeit zu intensiver Auseinandersetzung. Das kleine Schriftchen des Tübinger Studentenpfarrers will nicht mehr sein als Anregung zur Beschäftigung mit diesem außergewöhnlichen Christen. Berlin Friedrich Zipfel Fred Werner: War and Peace and Germany. — New York: W. W. Norton & Co. 1962. 166 S. $ 3.95.

NEAL,

Dieses Buch ist eine Kritik der Außenpolitik der Vereinigten Staaten im „kalten Krieg", insbesondere der Aspekte, die Deutschland und Berlin betreffen. Der Autor schreibt, daß es „kein wissenschaftliches Buch sei, im Sinne einer ins Einzelne gehenden Studie, die hauptsächlich auf Originalquellen aufbaut", aber er hoffe, daß es „ein genaues und aufrichtiges Buch sei" (S. 6). Von Anfang an ist es klar, daß das Buch weder aufbaut auf einer Überprüfung der zugehörigen Dokumentation noch auf den vorhandenen wissenschaftlichen Berichten über die Ereignisse, die diskutiert und interpretiert werden. So läßt der Autor zum Beispiel in einem Kapitel über die „Abkommen während des Krieges" zwei Studien von Herbert Feis: „Churchill — Roosevelt — Stalin: The War They Waged and the Peace They Sought" (1960) und „Between War and Peace: The Potsdam Conference" (1960), vollständig außer acht, genauso wie einen Großteil anderer diesbezüglicher Studien. Diese Gleichgültigkeit gegen-

ALLGEMEINE UND ZEITLICH BEGRENZTE DARSTELLUNGEN

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über sorgfältiger Wissenschaftlichkeit und dokumentarischen Tatsachen macht den Schluß möglich, daß die „härtere" Linie gegenüber der Sowjetunion, von Präsident Truman fast unmittelbar nach Amtsantritt begonnen und die Idee von Secretary of Defense Forrestal verkörpernd, Deutschland solle stark und geeint gemacht werden als militärische Pufferzone gegen Moskau, eine Fortsetzung der im Potsdamer Abkommen in Aussicht genommenen U.S./S.U.-Zusammenarbeit unmöglich machte, „egal, was die Russen taten". Die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten wiederholt die Unterzeichnung eines Vertrags anboten, der deutsche Neutralität und Abrüstung für 40 Jahre garantierte, wird nicht erwähnt. Schwerlich möchte man einem Buch so voll von Ungenauigkeiten wie das von Fred W. Neal auch nur Aufrichtigkeit zugeben. Sicher sind die Ungenauigkeiten in vielen Fällen das Ergebnis offenkundiger Sorglosigkeit. Vielleicht ist es nur eine Verwechslung der Identität zu sagen, daß „Marschall Sokolovsky, der sowjetische Kommandeur, aus der alliierten Kommandantur stürmte", aber zu behaupten, das sei im Protest dagegen geschehen, daß die neue westdeutsche Mark am 23. Juni im westlichen Sektor von Berlin in Umlauf gesetzt wurde, das heißt Sorglosigkeit mit etwas noch Fragwürdigerem zu verbinden (S. 34). Die bezeichnendsten Ungenauigkeiten jedoch geschehen mehr in zweifelhafter Interpretation und subtiler Anspielung als in positiver Behauptung. So sagt N. z. B.: „Zweimal in der Periode zwischen erstem und zweitem Weltkrieg — in Rapallo und im Nazi-Sowjet-Pakt — verfolgten die Deutschen ihre eigenen Interessen auf Kosten westlicher Interessen in einer Allianz mit Moskau" (S. 89). Ein vorsichtiger Gelehrter wäre versucht zu fragen, ob in beiden Fällen tatsächlich eine „Allianz" gegeben war und ob man überhaupt beide Ereignisse in irgendeiner Weise vergleichen könne, aber N. ist nicht so sehr bekümmert um pedantische Spitzfindigkeiten als um versteckte Andeutungen, die seiner Argumentation dienen. N. verwendet Tatsachen nur aus Zweckdienlichkeit für seine Beweisführung. Das wird illustriert in seinen Bezugnahmen auf die Mauer, die am 13. August 1961 in Berlin errichtet wurde. Sein Buch enthält keine Besprechung oder Analyse der Bedeutung dieses Ereignisses, aber auf 6 Stellen verstreut nimmt er darauf Bezug. 3 davon unterstützen die Ansicht, daß die Mauer einen Hauptgrund für die wirtschaftliche Verschlechterung in Ostdeutschland ausmerzte, indem sie Berlin als „escape hatch" schloß (S. 17, 94, 102). An einer Stelle wird damit das britische und französische Widerstreben beleuchtet, die „harte" amerikanische Politik des „Standing firm" zu unterstützen (S. 23). Eine 5. Bezugnahme „anerkennt", daß die Errichtung der Mauer den Vorschlag Senator Mansfields, ganz Berlin — Ost und West — als freie und neutrale Stadt international zu regeln, „ausschaltete". Das, sagt N., „hätte eine sinnvolle Verhandlungsposition sein können" (S. 111). Schließlich wird die These gestützt, daß die westliche Position in Berlin unhaltbar sei: „Die Mauer zeigte klar, daß sich die Lage in Berlin von unserem Standpunkt aus nur verschlechtern kann" (S. 108). Eine 2. These, die sich an vielen Punkten in N.s Beweisführung wiederholt, ist, daß sich die amerikanische Politik in Deutschland und Berlin „stütze auf das, was die deutsche Regierung als ihre Interessen sieht, und nicht auf amerikanische Interessen" (S. 104). Sie „spiegelt ein Zusammenfließen deutscher Arroganz und Wirklichkeitsfremdheit mit deren westlichem Appeasement wider" (S. 101). Das verhindere, nach N.s Ansicht, „sinnvolle Verhandlungen" in Antwort auf die sowjetischen Vorschläge vom November 1958, wiederholt im Juni 1961. In einem abschließenden Kapitel werden die „Ingredienzien einer realistischen Politik" vorgeschlagen. Die Vereinigten Staaten sollten auf die Sowjetvorschläge antworten, „daß wir für unsere De-facto-Anerkennung Ostdeutschlands und der Oder-Neiße-Linie einen Vertrag bekommen sollten, in dem die Sowjetunion und Ostdeutschland die Fortsetzung des West-Berlin-Status und die Zufahrtsrechte von Westdeutschland garantieren" (S. 111). N. gibt zu, daß im Laufe der Verhandlung Schwierigkeiten begegnen würden im Hinblick auf

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

Fragen, wie die Fortsetzung der Stationierung fremder Truppen in Berlin, die „Neutralisierung" Berlins als Propaganda- und Spionagezentrum, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Berlin und Westdeutschland und die besonderen Arrangements für den Zugang. Ein besonders schwieriges Problem würde über das Zugangsrecht einzelner Deutscher entstehen, weil, wie N. sich ausdrückt, es „schwierig ist, einzusehen, wie ein Staat — in diesem Falle Ostdeutschland — völlig der Autorität beraubt werden könne, innerhalb seiner Grenzen jene seiner Bürger zu halten, von denen er will, daß sie dableiben" (S. 114). Obwohl N. keine besonderen Vorhersagen macht, wie Einzelheiten dieser Fragen herausgearbeitet werden würden, urteilt er summarisch, daß „die Vorteile eines solchen Arrangements auf der Hand liegen" (S. 116). Woraus diese Schlußfolgerung hervorgeht, wird im vorhergehenden Absatz gezeigt. Er sei hier zur Gänze zitiert: „Im Laufe der Verhandlungen, die im großen und ganzen auf hier empfohlenen Vorschlägen aufbauten, würden zweifellos neue heikle Probleme auftauchen. Manchmal würde der Westen nachgeben müssen, in anderen Fragen sollte er sowjetische Nachgiebigkeit erwarten. Aber das wichtigste wären nicht Details — wie wichtig sie auch seien —, sondern grundsätzliche Übereinstimmung und gegenseitige Konzessionen" (S. 115). Es ist nicht einfach, die Folgerung aus dieser Behauptung anzunehmen, daß nämlich „Details — auch wichtige —" nicht das Wesen einer realistischen Außenpolitik ausmachen. Andererseits kann man zugeben, daß N.s Buch die Richtigkeit gewisser Behauptungen zeigt, die im Vorwort gemacht wurden: „Kritik an Außenpolitik ist immer leicht", sagt er dort, „konstruktive, praktische Vorschläge sind schwieriger. Außenpolitische Fragen sind unerhört komplex" (S. 6). Chapel Hill, North Carolina Charles B. Rohson

Jan: Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Westslaven zwischen Elbe/Saale und Oder aus der Zeit vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. ( 1 - 3 . ) - Leipzig 1962. XVI, 140; 106 gez. Bl., Anl. 4° (Maschinenschr.) Leipzig, Phil. F., Diss. v. 9. März 1962. (NfdA.) BRANKATSCHK,

CLAUS, Helmut: Johann Bugenhagen. 1485 — 1558. Bestandsverz. d. Drucke u. Hss. Bearb. — Gotha: Landesbibliothek 1962. 35 S. mit Faks. = Veröffentlichungen d. Landesbibliothek Gotha. H. 9. EICHHOLTZ, Dietrich: Junker und Bourgeoisie von 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte. Mit 1 Kt. — Bln.: Akademie-Verl. 1962. VIII, 243 S. = Dt. Akad. d. Wiss. zu Bln. Schriften d. Instituts f. Geschichte. Reihe 1, Bd. 11, DM 29,50. Diss., Humboldt-Univ. Bln., Überarbeitung.

Gotthilf: Bilder aus Luthers Leben. (Hrsg. auf Veranlassung d. Evang.Luth. Freikirche.) Mit 12 Abb. - Bln.: Evang. Verl.-Anst. (1962). 62 S. DM2,50.

HERMANN,

Albrecht: Grundzüge von Bismarcks Staatsauffassung. — Bonn: Bouvier 1962. 160 S. = Schriften z. Rechtslehre u. Politik. Bd. 39. DM. 19,80. Diss., Köln. LÖSENER,

MAI, Joachim: Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/87. Eine Studie zur Herausbildung d. Imperialismus in Deutschland. — Bln.: Rütten & Loening 1962.

SBZ U N D

WIEDERVEREINIGUNG

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231 S. = Veröffentlichungen d. Histor. Instituts d. Emst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald. Bd. 1. DM 12,90. Peter: Säkularisation und Reformation Preußens. — Leipzig 1962. IX, 257 gez. Bl. 4° (Maschinenschr. vervielf.) Leipzig, Phil. F., Diss. v. 2. Febr. 1962. (NfdA.)

MEIER,

Conrad : Geteiltes Deutschland, geteilte Nationalbibliothek. 3 0 0 Jahre Preuß. Staatsbibliothek 1661-1961. - Bonn: Akademie-Verl. 1962. 36 S. 4° = Veröffentlichungen aus Kultur u. Politik. H. 3. DM 2,50. OEHLRICH,

Werner: Bismarck. — (Frankf./M.:) S.Fischer (1962). 660 S. m. Abb., 1 Titelbild. D M 3 4 , - .

RICHTER,

R Ü F N E R , Wolfgang: Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842. — Bonn: Röhrscheid 1962. 197 S. = Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen. Bd. 53. D M 1 6 , - . STELLER, Walther: Gefahr im Verzug. Kritiken u. Rezensionen zu Walther Steller: Name und Begriff der „Wenden" (Sclavi). (Als Ms. vervielf.) — Kiel (Sternstr. 2: Landsmannschaft Schlesien, Landesgruppe Schleswig-Holstein, Kulturrefera') : 1962. 28 S. = Mitteilungen d. Landsmannschaft Schlesien, Landesgruppe SchleswigHolstein. Nr. 16. Preis nicht mitgeteilt. TAYLOR, Alan J . P. : Bismarck, (dt.) Mensch u. Staatsmann. (Aus dem Engl, von Hansjürgen Wille u. Barbara Klau.) - München: Piper 1962. 278 S. DM 8,80. W E R N I C K E , Kurt: Untersuchungen zu den niederen Formen des bäuerlichen Klassenkampfes im Gebiet der Gutsherrschaft 1648—1789. — Bln. 1962. 258 gez. Bl. 4° (Maschinenschr. vervielf.) Bln., Humboldt-Univ., Phil. F., Diss. v. 23. Mai 1962. (NdfA.) W I R T H , Olaf: Das preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Ein Beitr. zu s. Entstehungsgeschichte. — München 1962. XXVII, 103 S. München, Jur. F., Diss. v. 4. Okt. 1962.

3. SBZ und Wiedervereinigung Stefan: Bibliographie zum Grundriß der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung. Eine Ausw. d. seit 1945 im Gebiet d. DDR erschienenen Veröffentlichungen. — Bln.: (W 8, Unter d. Linden 8): Dt. Staatsbibliothek 1962. 50 S. = Schriftenreihe d. Arbeitskreises d. Gesellschaftswiss. Beratungsstelle an den d. Staatssekretariat f. d. Hoch- u. Fachschulwesen unterstellten wissenschaftl. Bibliotheken, H. 6. Nicht i. Buchhandel.

BARON,

Hellmuth G.: Die Entwicklung des dialektischen und historischen Materialismus in der Sowjetzone. Tl. 1 : Schriften zu Marx, Engels, Lenin, Stalin. 119 S.; Tl. 2: Kultur und Allgemeines zur Wissenschaftspolitik. Dialektischer Materialismus — Philosophie. Historischer Materialismus — Geschichte, Soziologie, Ethnologie. 152 S.; Tl. 3: Politische Ökonomie — Wirtschaftswissenschaften. Rechtswissenschaft — Allgemeine Staats Wissenschaften. Pädagogik — Psychologie. NaturBÜTOW,

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES Wissenschaften. Sprach- und Literaturwissenschaft — Kunst — Musik. Religion — Kirche. Partei. Gesamtregister. — Bln. (Osteuropa-Institut an d. Freien Universität Berlin); Wiesbaden: Harrassowitz in Komm. 1960, 1962, 1963 = Bibliograph. Mitteilungen d. Osteuropa-Inst. an d. Freien Universität Berlin, Heft 4. DM 7,— ; 9,60; 1 2 , - .

Wie schon die 1. Aufl. des von der Deutschen Staatsbibliothek „zur Unterstützung des Studiums und zur Anregung für die weitere Beschäftigung mit diesem Stoff" vorgelegten Auswahlverzeichnisses zum SED-eigenen „Grundriß" beschränkt sich die 2., die sich von ihrer Vorgängerin durch 22 ausgetauschte und 12 ergänzende Hinweise nur unwesentlich unterscheidet, nicht allein auf SBZ-Publikationen, sondern — ein zusätzlicher Filter der Auslese, den z. B. Anton Ackermanns zeitweilig erregende These vom „Deutschen Weg zum Sozialismus" nicht zu durchlaufen vermag — auf gegenwärtig opportun erscheinende Titel. Selbst vom parteilichen Standpunkt sollte das Heft als eine den Bearbeitern nur wegen ihres offenkundigen Termindrucks verzeihliche Behelfslösung gelten. Warum nämlich werden Leidigkeit und Mende in 1., nicht in 2. Aufl. zitiert? Warum fehlen, während Weidling und Wolff berücksichtigt sind, innerhalb der 1. Hauptperiode Titelhinweise zu Weerth und zu Weydemeyer? Was bestimmt die Bearbeiter, in der 2. Hauptperiode auf Gemkows kurze Biographie von Paul Singer zu verzichten und in der 3. unter den Darstellungen des Crimmitschauer Streiks einen Zeitungsartikel Lindaus, nicht aber — wenn Volkstümlichkeit schon erwünscht ist — den „Tatsachenbericht" K.-H. Wilds oder den Aufsatz von Juch zu erwähnen? Daß Oelßners Luxemburg-Biographie der Sichtung zum Opfer gefallen ist, könnte mit der Ausschaltung des Autors zusammenhängen, sich aber auch aus der Tendenz des „Grundrisses" erklären, Karl Liebknecht gegenüber der politisch unbequemeren Rosa Luxemburg aufzuwerten. Warum aber wird Beyers stark verkürzende Broschüre „München 1919" empfohlen, wenn inzwischen vom selben Vf. eine immerhin diskussionswerte Darstellung vorliegt? Wissenschaftlich ohne Belang, durchbricht das Heft andererseits die Linie der Popularität durch Abschweifungen ins allzu Spezielle, die ihren Gipfel erreichen, wenn Schleifstein die unerwartete Ehrung widerfährt, ohne sachliches Anrecht mit S. 219 seiner Mehring-Apologie zitiert zu werden. Die zum Themenkreis Dialektischer und Historischer Materialismus für den Erhebungszeitraum 1945 bis 1958 von H. G. Bütow vorgelegte Sammlung deutschsprachiger Titel aus dem kommunistischen Herrschaftsbereich umfaßt Monographien und Zeitschriftenaufsätze neben Beiträgen aus Sammelwerken und — soweit sie dem Hrsg. bekannt waren und ihm wichtig genug erschienen — in sich geschlossene Kapitel aus monographischen Veröffentlichungen. In Teil I wurden neben Schriften, die eine entsprechende biographische Notiz enthalten, nur Beiträge aufgenommen, deren Titel bzw. Untertitel den Namen eines oder mehrerer der „Klassiker" aufweist. Wie eine Prüfung auf dem Gebiet der MarxEngels-Literatur ergibt, ist das ursprüngliche Ziel annähernder Vollständigkeit in diesem Teil weitgehend erreicht worden. Die wesentlichsten Lücken erklären sich daraus, daß der Hrsg. ungedruckte Dissertationen nicht berücksichtigt hat. A n Ergänzungen wären zu vermerken: 1949: Altmann, E.: K. M . : Das Kapital (Z. Neuaufl. d. 2. Bd.es), in: Die Arbeit, H. 2 u. 3. —.1952: Truebner, G.: D. Stellung v. K. M. u. F. E. z. d. polit., wirtschaftl. u. kulturell. Problemen Polens, Phil. Diss. Jena. — 1953: Kiau, R . : F. E. 1893 in Berlin, in: Neues Deutschland (B) v. 6. Aug. — 1956: Bartel, H.: D. richtungweisende Hilfe v. K. M. u. F. E. f. d. Zeitung Der Sozialdemokrat im Kampf um d. revolut. Einheit d. Partei i. d. Periode d. Sozialistengesetzes, Phil. Diss., Inst. f. Gesellschaftswiss. beim ZK d. SED, Berlin. — Ders.: F. E.' Kampf f. d. Schaffung einer

SBZ UND WIEDERVEREINIGUNG

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marx. Arbeiterpartei i. Deutschland, Berlin. — Förder, H.: D. polit. u. taktischen Richtlinien v. M. u. E. f. d. allgemein-demokrat. Kampf d. Kölner Kommunisten i. J . 1846, in ZG, H. 2. — Jahn, W.: D. ersten Anregungen z. Aufnahme Ökonom. Studien u. d. Beginn Ökonom. Studien beim jungen M., Phil. Diss. Berlin. — 1957: Benser, G.: Berliner Arbeiter schreiben an K. M., in: Berliner Heimat, H. 4. — Jahn, W.: K. M.' Weg z. Kommunismus, in: Wiss. Zs. d. Martin-Luther-Univers. Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe, 1957/58, H. 1. - 1958: Haalck, J . : D. Besuch F. E.' i. Berlin 1893, in: Berliner Heimat, H. 1. — Gemkow, H.: Bemerkungen z. Aufsatz v. Jörgen Haalck: D. Besuch F. E.' i. Berlin 1893, in: Berliner Heimat, H. 3. — Kurella, A.: D. kapitalistische Entfremdung u. ihre sozialistische Aufhebung. D. humanistischer Kern d. M.ismus i. d. Frühschriften v. M., in: Aufbau, H. 5 u. 6. (Dieser Beitrag erscheint ohne Untertitel in T. II, Nr. 1621.) Als Sachbibliographie und zugleich Auswahl eignet den Teilen II und III ein Schwierigkeitsgrad der Bearbeitung, den zu bewältigen dem Hrsg. nur in Grenzen gelungen ist. Für die Mängel entscheidend verantwortlich ist der bei Teil I mit seinem überwiegend formalen Erhebungsprinzip vielleicht noch erlaubte Verzicht auf durchgehende Autopsie, der sich hier in groben Fehlentscheidungen der Auslese niedergeschlagen hat. Dies gilt besonders für Teil III, in dem sich die Schärfe der Selektion ungefähr in der Reihenfolge der behandelten Sachgebiete steigert, was u. a. bewirkt, daß der Abschnitt „Partei" für 1957 insgesamt nicht mehr als 5 Titel nachweist, von denen sich zumindest einer (Nr. 1860) am äußersten Rande der Thematik bewegt. Mit Hilfe der Autopsie wären auch ideologisch zentrale Fragenbereiche — objektiver und subjektiver Faktor, Reife, Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie — zu erschließen und vielleicht sogar Hinweise auf Titel von Autoren zu vermeiden gewesen, die zwar in der SBZ publiziert, die Entwicklung des dortigen Histo- und Diamat jedoch nicht einmal entfernt mitbestimmt haben. Daß der Religiöse Sozialist Emil Fuchs Aufnahme findet, mag allenfalls hingehen, obgleich er wie F. W. Krummacher sicherlich auf die kirchenpolitische Praxis, keineswegs aber auf die Theorie des kommunistischen Offiziösentums von Einfluß gewesen ist. Ernst Lemmer jedoch befindet sich hier in der gleichen, nämlich falschen Gesellschaft wie u. a. der Lyriker Weyrauch, der Psychologe Haseloff und eine Phalanx ehrbarer Historiker — von Ernst Kaeber und Rörig über Baethgen als Hrsg. C. Erdmanns bis zu Mitteis, Griewank und gar Walter Hubatsch. Bei einer Neubearbeitung empfiehlt sich sodann die Auswertung der seit 1955 von der Parteihochschule Karl Marx als Manuskriptdruck hrsg. „Theorie und Praxis". — Daß auch Teil II und III trotz ihrer Mängel alle Anerkennung eines willkommenen Fortschritts verdienen, braucht nicht erläutert zu werden. Berlin

Henryk

Skr%ypc%ak

S(owjetische) B(esatzungs) Z(one) von A bis Z. Ein Taschen- u. Nachschlagebuch über d. Sowjet. Besatzungszone Deutschlands. Hrsg. v. Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen. (Red.: Günter Fischbach. Graph. Darst.: Fritz Rübbert.) 7., Überarb. u. erw. Aufl. - Bonn: Dt. Bundesverl. 1962. 541 S., 1 Kt. D M 7,20. Das bekannte Werk zu rascher Information über die SBZ hat gegenüber der 6. Aufl. (1960) erneut an Umfang gewonnen. Es ist auf den Stand von Anfang 1962 gebracht worden. Auch der Literaturteil wurde entsprechend geändert. Das Taschenbuch bleibt damit weiterhin unersetzlich für jeden, der sich mit dem Problem des Kommunismus in Deutschland befaßt. Berlin

22

Jahrbuch 12

Georg

Kotowski

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

PARAF, Pierre: Les Démocraties Populaires. — Paris: (Payot) 1962. 229 S. NF 17,—. Der Vf., der sich selbst als „liberal" bezeichnet, hat die meisten Volksdemokratien bereist und scheint besonders die des Balkan gut zu kennen (1961 veröffentlichte er ein Buch über Bulgarien). Ausgehend von dem Gedanken, daß die Volksdemokratien „zwischen der russischen und chinesischen Welt und der liberalen Welt die Brücke bilden" (S. 171), hält er es für unerläßlich, daß sich der Westen unabhängig von der Frage der Legitimität oder Illegitimität dieser Staaten ein Bild von ihrer historischen Wirklichkeit macht. In 9 Kapiteln werden darum Entstehung, politische und soziale Struktur, Lebensbedingungen, körperliche und geistige Kultur, religiöse Fragen und Probleme der Außenpolitik der Volksdemokratien geschildert. Ein eigenes Kapitel ist der „DDR" gewidmet — sie wird in den übrigen systematischen Kapiteln übergangen, da der Vf. sie zwar grundsätzlich dem System der Volksdemokratien zuordnet, aber sie doch auch insofern wieder von ihnen absetzen zu müssen glaubt, weil „ihre Existenz sich aus außergewöhnlichen äußeren Bedingungen und nicht auf Grund einer inneren Revolution ergeben hat" (S. 12). — Man kann nicht erwarten, daß dieser ganze Komplex auf 160 S. erschöpfend behandelt würde (die restlichen Seiten sind einer Schlußbetrachtung und einem dokumentarischen Anhang gewidmet). Dem Vf. kommt es darauf an, gewisse Grundlinien herauszuarbeiten in der unverkennbaren Absicht, eventueller westlicher Voreingenommenheit ein Bild zu vermitteln, das die Koexistenz erleichtert. Die wichtigsten Tatsachen sind für Paraf 1. ein sozialer und wirtschaftlicher Aufschwung, der in erster Linie dem früheren Proletariat zugute kommt, und 2. die Entstehung eines neuen Menschentyps, der in seinem Elan dem des christlichen Ritters oder des Menschen der Renaissance und der Aufklärung gleichzusetzen ist. — Diesen beiden Grundtatsachen gegenüber ist die Opposition eine Frage der Generation oder der Zugehörigkeit zu den früheren besitzenden Klassen. Auch die negativen Erscheinungen der Volksdemokratien machen sich vor allem auf diesen Sektoren bemerkbar. Das Kriterium der Freiheit spielt, wenigstens im gegenwärtigen Zeitpunkt, nur eine geringe Rolle, weil ihm von den Anhängern der Revolution selbst nur ein untergeordneter Rang beigemessen wird. P. glaubt zwar, daß der liberale Westen doch noch eine Reihe von Vorteilen aufzuweisen habe, die er der kommunistischen Propaganda erfolgreich entgegenstellen könne. Andererseits entdeckt er aber im kapitalistischen und im sozialistischen System etliche Parallelen, die viel eher zur Koexistenz als zum Bruch zwischen den beiden Blöcken auffordern. Insbesondere appelliert der Vf. hier an Frankreich, für dessen Kultur er in den Volksdemokratien immer wieder eine große Bewunderung antraf. — Insgesamt ist das Buch in seiner optimistischen Complaisance weniger eine Auseinandersetzung mit der Welt der Volksdemokratien als ein begütigendes Zureden, sie als solche zu akzeptieren. Nun ist der Friede freilich ein hohes Gut. Aber wenn man um der Koexistenz willen schon nur noch das Fait accompli im Auge behalten will, seine Vergangenheit vergessend und seine Zukunft mehr oder weniger in die Visionen von Chruschtschow und Thorez stellend (S. 167 bis 169), so sollte man nun doch nicht den Eindruck erwecken, als ob es überhaupt nur noch an der Haltung des liberalen Westens läge, dem durch die kommunistischen Revolutionen entstandenen Fait accompli und den sich daraus ergebenden Verhältnissen zwischen westlicher und östlicher Welt einen friedlichen Verlauf zu sichern. Paris

Hermann Weber

CASTELLAN, Georges : La République Démocratique Allemande. — Paris : Presses Universitaires de France 1961. 128 S. = „Que sais-je?" 964.

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Dieses Buch wurde kurz nach dem Bau der Berliner Mauer in Druck gegeben. Sein Vf., Professor an der Universität Poitiers, hat sich schon 1955 durch Herausgabe einer Gemeinschaftsarbeit als Fachmann für die „DDR" ausgewiesen. 1 „Que sais-je ?"-Bändchen sind das tägliche Brot des Geistes für eine Generation französischer Studenten und Akademiker nach der anderen; tatsächlich findet man selten so zuverlässig objektive und kondensierte wissenschaftliche Information über Probleme aus dem ganzen Fächer der Universitas Litterarum, wie gerade in dieser Reihe. Hier wird das sachliche Fundament für die Meinung, für das Weltbild einer maßgeblichen sozialen Schicht Frankreichs gelegt. Deshalb sind Castellans 128 S. über die „DDR" so wichtig. Wir wissen nicht, ob dieses Buch bewußt als Provokation gegen die Dogmen der westlichen Deutschlandpolitik angelegt wurde. Der Titel und die erste Seite des Textes, die „Avertissement" überschrieben ist, lassen es vermuten. Hier sagt C.: „Um intellektuell ehrlich zu bleiben, müssen wir die Analyse auf dem Terrain derer durchführen, die die Wirklichkeit gestalten: jeder Standpunkt außerhalb dieses Terrains wäre rein polemisch. Auf den folgenden Seiten wird man kein Werturteil finden, wohl aber einige Urteile über den Erfolg, Konfrontation mit den Prämissen der Ideologie und den faktischen Gegebenheiten . . .". C. muß aus Platzmangel auf kritische Beleuchtung der statistischen Unterlagen verzichten; „soweit wie möglich, wurden Ziffern herangezogen, über welche sich die Experten der beiden Deutschland einig sind." Objektive, vorurteilslose Wissenschaft: ist das nicht ein Wert, den wir seit 1945 gerade in Berlin und speziell an der Universität dieser Stadt gegen jene Leute verteidigt haben, die „die Wirklichkeit [der ,DDR'] gestalten"? Wir wollen gewiß nicht in die Fußstapfen der SED treten und den „Objektivismus" verdammen, wenn wir feststellen: es ist ungehörig, wie C. (S. 29) kommentarlos davon zu sprechen, daß in der „DDR" „die fundamentale Gleichung SED = Arbeiterklasse = Arbeiter- und Bauernmacht in Begriffen der politischen Macht realisiert" sei — und dafür in den vorangehenden Absätzen Prozentziffern über die soziale Herkunft der VolkskammerAbgeordneten und der Staatsbeamten als Illustration zu zitieren. Natürlich ergibt sich in beiden Fällen eine eindrucksvolle Mehrheit von „Arbeitern" (61 bzw. 63,8%), aber schon der oberflächlichste Kontakt mit der Realität der „DDR" zeigt, wie wenig die Funktionärsschicht, mag sie auch proletarische Großmütter aufweisen, noch mit der Arbeiterschaft der „DDR" von heute zu tun hat. Dieses Beispiel Castellanscher Darstellung ist fast willkürlich herausgegriffen. Wir könnten sein Kapitel über die Wahlen (S. 30ff.) zitieren: es verschweigt natürlich nicht, daß die Stimmabgabe für die Einheitsliste politisch bedeutungslos ist, weil das Ergebnis vorher festliegt. Aber darf man sich des Vokabulars jener, die „die Wirklichkeit gestalten", so weit bedienen, daß der Wahltag — ohne Anführungsstriche — als „Mobilisierung des ganzen Volkes in einer festlichen Atmosphäre" charakterisiert w i r d ? Was heißt: „ . . . man geht nicht in die Wahlkabine; man wirft den Zettel in die Urne, ohne etwas zu streichen . . ." ? Jeder Deutsche weiß, warum „man das tut"; sollte nicht trotzdem in einem solchen Buch stehen, daß „man" es tun muß? Der SSD kommt bei C. allerdings nicht vor. Er rechnet diese Institution vielleicht zum kulturellen Leben, das überhaupt fehlt; der Autor entschuldigt sich in seiner Einleitung mit Platzmangel. Auch das ist, glauben wir, ungehörig: entweder man traut sich zu, die 1

22»

DDR

Allemagne

de l'Est.

Paris: Le Seuil 1955.

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

„DDR" auf 128 S. darzustellen; dann muß man der Schule, dem Kirchenkampf, den Wissenschaften und (warum Positives unterschlagen ?) der Buchproduktion und dem Theater ein wenig Platz gönnen, notfalls auf Kosten des — offiziellen — Lebenslaufs von Wilhelm Pieck oder des über 14 S. behandelten Planungsapparats. Oder man kann die „DDR" eben in der gebotenen Kürze nicht darstellen . . . Übrigens ist C. ehrlich genug, um abzudrucken, daß die SED einmal das Ziel aufstellte, die Bundesrepublik bis 1961 im Pro-Kopf-Verbrauch einzuholen; aber er hält es nicht für notwendig anzumerken, daß nichts daraus wurde und daß man die ominöse Jahreszahl heute in der „DDR" gern unterschlägt. C.s wenige Bemerkungen über die „Republikflucht" (S. 8 u. 124) sind skandalös. Wir müssen noch einmal zitieren, um die Verquickung von Objektivität und Parteilichkeit deutlich zu machen: „1952—1953 kommen große und mittlere Bauern, die vor der Kollektivierung fliehen. Seit 1955 Handwerker und Mitglieder der Intelligentsia. Nicht zu vergessen — bis zur Einführung der Wehrpflicht im Westen — junge Männer, die sich der Einberufung zur Volkspolizei entziehen. Und Abenteurer, und schlicht und einfach Verbrecher. Insgesamt eine Mehrheit von Elementen, die soziale Schichten repräsentiert, welche dem Aufbau des Sozialismus zutiefst feindlich gegenüberstehen oder sich in einem sozialistischen Klima unwohl fühlen . . ." (S. 124). Nun denken wir nicht daran zu behaupten, es habe unter den Flüchtlingen keine Abenteurer, Verbrecher oder Intellektuelle gegeben (dieses Wort ist im Französischen auch kein Schimpfwort wie beinahe schon wieder im Westdeutschen). Aber wer die Arbeiter unterschlägt, wer durchblicken läßt, seit der Einführung der Wehrpflicht im Westen seien fast nur noch alte Leute gekommen, dient der Wahrheit nicht. Also ein böses, ein abzulehnendes Buch ? Nein. Wir möchten im Gegenteil sagen: Pflichtlektüre für alle politisch Verantwortlichen in unserem Lande, für die Studenten und Lehrer der Geschichte und verwandter Fächer. Denn dieses Buch ist Gegengift gegen die Illusion, die mit uns befreundeten Völker nähmen die unrealistischen Thesen der offiziellen westlichen Deutschlandpolitik für bare Münze. Gewiß, die westdeutschen Veröffentlichungen über die „DDR" sind nicht so absurd wie die meisten Publikationen der Vertriebenenverbände über die verlorenen Ostgebiete; aber sie überzeugen das ausländische Publikum, für das sie doch auch geschrieben werden, ebensowenig. In Frankreich will man nicht über eine SBZ, sondern über die DDR informiert werden. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Berlin

Franv^ Ansprenger

MAMPEL, Siegfried: Die Verfassung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Text u. Kommentar. - Frankf./M., Bln.: Metzner 1962. 452 S. DM 27,60. Im Verfassungskommentar von S. Mampel wird jeder einzelne Verfassungsartikel sowohl in seinem ursprünglichen Wortlaut als auch in der durch spätere Verfassungsnovellen geänderten Fassung wiedergegeben und ausführlich erläutert, wobei die Erläuterungen mit zahlreichen Hinweisen auf Gesetze und Verordnungen ausgestattet sind, durch die das Verfassungsrecht ergänzt oder geändert worden ist. Die mit großer Sachkenntnis und Objektivität abgefaßte Darstellung gibt nicht nur Aufschluß über Fragen der kommunistischen Staats- und Rechtstheorie und über die Praxis auf dem Gebiet des Staatsund Verwaltungsrechts, sondern auch über andere Rechtsgebiete, wie das Zivilrecht, das Familienrecht, das Strafrecht, das Justizverfassungsrecht, das Wirtschafts- und Landwirtschaftsrecht, das Arbeits- und Sozialrecht und das Kulturverwaltungsrecht. Ein aus-

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führliches Sachregister erleichtert die Benutzung dieses vielseitigen Werkes, das jedem, der sich ein systematisches Wissen über die Verfassung und das Rechtssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands erarbeiten will, zur Lektüre empfohlen werden kann. Berlin

Walter Meder

SCHENK, Fritz: Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow. — Bln., Köln: Kiepenheuer & Witsch (1962). 412 S. DM 16,80. Schenks zweite größere Arbeit ist vor allem autobiographischer Natur. Sie zeichnet den steilen Aufstieg eines jungen SED-Funktionärs nach, der für Teile seiner Generation in mancher Hinsicht exemplarisch ist. Darüber hinaus vermittelt das Buch aufschlußreiche Einblicke in die Typologie ostzonaler Funktionäre und in das oftmals sektiererisch verkrampfte Parteileben der SED, wie es Sch. von der Kommandohöhe als persönlicher Referent des damaligen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Bruno Leuschner, beobachtete. Aus dieser Sicht werden uns auch anschauliche Beispiele einer vorzugsweise an politischen Normen ausgerichteten planbürokratischen Arbeit mitgeteilt. Vielfarbig ist das Porträt, das dabei von Leuschner als Menschen und Spitzenfunktionär entsteht. Hintergrund der Darstellung ist der politische Wandel im Ostblock, der mit Stalins Tod einsetzte und über die Ereignisse um den 17. Juni, über den 20. Parteitag und den polnischen Oktober bis hin zu den Präludien der großen Säuberung der SED 1957 führte. Die vielfachen Nuancierungen machen das Buch zu einem wichtigen zeitgeschichtlichen Dokument. Berlin

Klaus-Peter

Hoepke

PRITZEL, Konstantin: Die wirtschaftliche Integration der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Ostblock und ihre politischen Aspekte. — Bonn, Bln.: Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen (Dt. Bundesverl, [in Komm.]) 1962. 263 S. (Bonner Berichte aus Mittel- u. Ostdeutschland.) DM 6,—. Der Vf. hat den sehr begrüßenswerten Versuch unternommen, den Prozeß der wirtschaftlichen Verflechtung Mitteldeutschlands mit den Ostblockländern, den 1962 erreichten Status der „sozialistischen internationalen Arbeitsteilung" sowie die politischen Hintergründe und Zusammenhänge dieser Entwicklung darzustellen. In einem umfangreichen zeitlichen Überblick werden die einzelnen Stadien deutlich, in denen die mitteldeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild umgestaltet und immer stärker in die sowjetsozialistische Wirtschaftspolitik des Ostblocks einbezogen wurde. Hierbei erläutert Pritzel besonders die Funktionen des 1949 gegründeten Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), der — vor allem seit 1955 — die langfristigen Volkswirtschaftspläne und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der seit dem Austritt von Albanien nur noch sieben Mitgliedsstaaten zu koordinieren hat. Es bleibt kein Zweifel, daß die Sowjetunion innerhalb des RGW eine Führungsposition innehat, die es ihr erlaubt, die wirtschaftliche und politische Entwicklung der übrigen Länder ihren Zielen gemäß zu dirigieren. So hat sie die Spezialisierung der einzelnen Länder auf die Produktion bestimmter Güter durchgesetzt, ohne solche ausschließlichen Spezialisierungen für sich selbst gelten zu lassen. Mitteldeutschland wurde von dieser Politik in besonders starkem Maße betroffen, wie P. an Hand statistischen Materials ausführlich darlegt. Daß das Prinzip der „sozialistischen internationalen Arbeitsteilung" bisher nicht den gewünschten wirtschaftlichen Erfolg zeitigte, führt er teils auf politische Ereignisse zurück

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

(Aufstände in Ungarn und Polen 1956), teils auf die Nichterfüllung der nationalen Pläne und schließlich auf die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des RGW über die anzuwendenden Formen und Methoden der Arbeitsteilung. Auch die Autarkiebestrebungen der Sowjetunion sowie die nationalstaatlichen Interessen einzelner Länder seien hierbei im Spiel. Die Einbeziehung der SBZ in die Wirtschaftspolitik des Ostblocks ist — wie P. abschließend betont — vor allem auch unter dem politischen Aspekt zu sehen, die Spaltung Deutschlands zu manifestieren und das „DDR"-Regime zu konsolidieren. Um ihre eigenen Machtpositionen zu festigen, habe die Sowjetunion in den letzten Jahren die Tendenz verstärkt, „die SBZ zu einer Komplementärwirtschaft der Sowjetunion und zu einem Lohnverarbeiter sowjetischer Rohstoffe zu entwickeln" (S. 256). Es ist dem Vf. ausgezeichnet gelungen, die außerordentlichen Schwierigkeiten zu beschreiben, die sich aus den Versuchen, die Wirtschaftsprozesse der sowjetischen Länder international zu integrieren, ergeben. Darüber hinaus gibt die Arbeit einen wissenschaftlich gründlich fundierten Einblick in die zunehmende wirtschaftliche und politische Verflechtung der SBZ mit dem Ostblock, der Anlaß geben sollte, diese Vorgänge auch weiterhin intensiv zu beobachten und zu erforschen. Marburg]Lahn Hannelore Hamel TIEDTKE, Horst: Der Außenhandel der D(eutschen) Demokratischen) R e p u blik). — Bln.: Verl. Die Wirtschaft 1962. 115 S. (Die Ökonomik d. Sozialist. Industrie- u. Handelsbetriebe.) DM 3,60. In dem kleinen Büchlein werden in vereinfachter und leichtverständlicher Form die wichtigsten der sich aus dem sowjetzonalen Außenhandel ergebenden Fragen behandelt. Die Tatsache, daß es nur für Berufsschulen, dagegen schon nicht mehr für Fach- oder gar Hochschulen als Lehrbuch zugelassen ist, weist darauf hin, daß höhere Ansprüche nicht gestellt werden dürfen. Nach einer kurzen Einführung über die allgemeine Bedeutung des Außenhandels im Rahmen einer Volkswirtschaft wird die Organisation des sowjetzonalen Außenhandels und des Außenhandelsapparates beschrieben. Sodann wird die Stellung Mitteldeutschlands im Rahmen der Ostblock-Wirtschaft geschildert und der unterschiedliche Charakter des sowjetzonalen Außenhandels mit kommunistischen und nichtkommunistischen Ländern gekennzeichnet. Den Schluß bildet die ausführliche Darstellung der einzelnen Phasen eines Exportgeschäftes mit kommunistischen und nichtkommunistischen Partnern. Die Ausführungen werden in allen Abschnitten durch kurze, leicht einprägsame Beispiele erläutert. Für westliche Leser, die mit Außenhandelsfragen der mitteldeutschen Wirtschaft vertraut sind, kann das Buch als nützliche Gedächtnisstütze und als Sammlung instruktiver Beispiele dienen. Einen Vergleich mit dem 1957 in 2. Auflage erschienenen deutsch-tschechoslowakischen Gemeinschaftswerk von Nykryn, Herman, §t8pan und Heiduschat kann und soll es auch nicht aushalten. Berlin Gert Leptin MOHS, Gerhard: Die Industrie im Bezirk Frankfurt (Oder). Entwicklung u. Standortverteilung in Vergangenheit u. Gegenwart. — Bln.: VEB Dt. Verl. d. Wiss. 1962. 118 S. mit 8 Abb. u. 8 Kt. = Geograph. Gesellschaft d. Dt. Demokrat. Republik. Wiss. Abhandlgn. Bd. 3. DM 3 1 , - .

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Die Standortlehre ist in der marxistischen Wirtschaftstheorie nur sehr schwach entwickelt. Dementsprechend ist auch das Buch von G. Mohs über „Die Industrie im Bezirk Frankfurt (Oder)" mehr unter wirtschaftsgeographischen als unter standorttheoretischen Gesichtspunkten von Interesse. Der Vf. zeichnet im ersten Teil seiner Untersuchung ein ausführliches Bild der Entwicklung der wichtigsten Industriezweige des Bezirks zwischen 1800 und 1945. Nach einer kurzen Darstellung der Grundzüge der Standortentwicklung unter sozialistischen Verhältnissen charakterisiert er die wirtschaftlich relevanten natürlichen Faktoren im Bezirk Frankfurt (Oder), um dann die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen der Industriezweige im einzelnen zu schildern und zu analysieren. Den Abschluß bildet ein zusammenfassender Uberblick über die branchemäßige und territoriale Industriestruktur des betrachteten Gebietes. Die Ausführungen des Vf.s werden durch mehrere Statistiken, instruktive graphische Darstellungen sowie einige Bilder ergänzt. Der Wert der Arbeit liegt weniger in den spärlichen theoretischen Ausführungen von M., als vielmehr in den ausführlichen und sorgfältig ausgewogenen Informationen, die über die Wirtschaft des Bezirkes Frankfurt (Oder) gegeben werden. Es ist deshalb zu hoffen, daß die geographische Gesellschaft, die das Buch als Bd. 3 ihrer Wissenschaftlichen Abhandlungen herausgegeben hat, die Schriftenreihe mit ähnlichen Veröffentlichungen über andere Bezirke Mitteldeutschlands fortsetzen wird. Berlin Gert Leptin Die Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone und die Verwaltung des Vermögens von nicht in der Sowjetzone ansässigen Personen. Hrsg. v. Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen, Bonn u. Berlin. 3., erg. Aufl. — (Bonn: Dt. Bundesverl, [in Komm.] 1962.) 360 S. DM 10,50. Die umfassende Dokumentation des für den praktischen Gebrauch bestimmten Werkes ist in der neuen Aufl. bis 1961 fortgeführt worden. Von den älteren Bestimmungen sind einige der wichtigsten, insbesondere die außer Kraft gesetzten des Kontrollrates, erneut abgedruckt worden, um den Gang der Entwicklung zu verdeutlichen. Dagegen war es nicht möglich, die Gesamtheit der einschlägigen Verordnungen aufzunehmen, weil der Umfang nicht beliebig erweitert werden konnte. Sorgfältig gearbeitete Verweise und Fundstellenverzeichnisse geben jedoch wertvolle Unterrichtungsmöglichkeiten. Erfreulich ist auch die Heranziehung der Rechtsprechung der Bundesrepublik zu den Fragen der Bewertung sowjetzonaler Urteile und Entscheidungen in Wirtschafts- und Enteignungsangelegenheiten. Eine sachkundige Einleitung vermehrt den Wert der Sammlung, die auch der Historiker mit großem Gewinn benutzen wird. Berlin

Georg Kotowski

MAMPEL, Siegfried, u. Karl HAUCK: Sozialpolitik in Mitteldeutschland. — Stuttgart: Kohlhammer 1962. 87 S. = Sozialpolitik in Deutschland, Nr. 48. DM 3,80. Knapp und prägnant referiert die Schrift den Stand der bis zum Jahre 1961 mit der Einführung eines Arbeitsgesetzbuches (AGB) vollzogenen Sonderentwicklungen im geltenden Arbeits- und Sozialversicherungsrecht Mitteldeutschlands. Dem einleitenden Kapitel, das sich mit der Stellung der Sozialpolitik im Ostblock befaßt, schließt sich je ein kurz kommentierender Uberblick auf alle Gebiete arbeits- und sozialversicherungsgesetzlicher Regelungen an. Die Feststellungen zur Praxis von Institutionen, die den Arbeitsalltag bestim-

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

men, veranschaulichen füt den westlichen Leset gut die Relevanz ihm ungeläufiger Begriffe. (Technische begründete Arbeitsnorm, Sozialistische Arbeitsdisziplin, Konfliktkommission usf.) Die Autoren berücksichtigen im Verzicht auf schablonenhafte Polemik das vorhandene starke in- und ausländische Bedürfnis nach nüchterner Information. Die Konfrontierung östlichen und westlichen Selbstverständnisses weist im arbeitsrechtlichen System ideologische und realpolitische Hintergründe auf. In der verdienstlichen Studie sind auch die für Berlin Ost geltenden besonderen gesetzlichen Grundlagen zur Sozialversicherung verzeichnet. Berlin Hans Martin Barth NEEF, Helmut: Die Nationale Front des demokratischen Deutschland. Zeittafel. - Bln.: Kongreß-Verl. 1962. 367 S. DM 7,80. Die Nationale Front des demokratischen Deutschland im Kampf für Einheit, Frieden, Demokratie und Sozialismus. Kleine Dokumentensammlung. Herausgegeben von Karl Bittel. Einleitung von Helmut Neef. — Bln.: Kongreß-Verl. 1960. 136 S. DM 1 , - . In der neuerdings üblichen Aufrichtigkeit über die Ziele der KPD/SED und ihrer Hilfsorganisationen seit 1945 belehren uns auch diese beiden Veröffentlichungen über die Absicht der „Nationalen Front", „die deutsche Nation in eine glückliche, von Not, Elend und Krieg befreite Zukunft, in den Sozialismus und Kommunismus zu führen . . . In brüderlicher Verbundenheit mit den Völkern der UdSSR und allen patriotisch und national gesinnten Menschen kämpft sie für Frieden und Fortschritt in der ganzen Welt. . . Die Nationale Front des demokratischen Deutschland verkörpert die Zukunft und die Perspektive für ganz Deutschland" (Erich Correns). Das gebotene Material ist nicht der Rede wert. Kurioserweise beginnt die Zeittafel mit dem Okt. 1935; einige Äußerungen von Pieck aus seinem Referat auf der „Brüsseler" Parteikonferenz der KPD, von der aus unerforschlichen Gründen immer noch nicht zugegeben werden darf, daß sie bei Moskau stattfand, sind abgedruckt. Zwischen 1939 und 1943 ist eine Lücke gelassen. Das ist bedauerlich, weil der Leser dadurch keine Gelegenheit hat, zu erkennen, daß der „schöpferische Marxismus-Leninismus" Walter Ulbrichts sich 1939/40 bemühte, auch das nationalsozialistische Deutschland für die „Nationale Front" zu gewinnen. Berlin Georg Kotowski Der Staatssicherheitsdienst. Ein Instrument d. polit. Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Hrsg. v. Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen. — Bonn: Dt. Bundesverl, (in Komm.) 1962. 251 S. DM 6,—. Zu den entscheidenden Merkmalen und unabdingbaren Voraussetzungen der totalitären Herrschaft, wie sie sich in den 30er und 40er Jahren unseres Jh.s herausgebildet hat, gehört die Existenz einer politischen Polizei. Während sich die normale polizeiliche Tätigkeit nur gegen tatsächliche Angriffe auf Sicherheit und Ordnung richtet und strikt an bestehende Gesetze gebunden ist, ist im totalitären System dagegen der Sicherheitsauftrag der Polizei durch nichts eingeschränkt; weder ist diese in ihrer Tätigkeit auf die Einhaltung der Gesetze oder rechtsstaatlicher Normen wirklich verpflichtet, noch braucht sie die Unverletzlichkeit der Rechte des Individuums zu respektieren.

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Als 1945 nach dem Zusammenbruch „Gestapo" und „Sicherheitsdienst (SD)" verschwanden, dauerte es in der sowjetischen Besatzungszone nicht allzu lange, bis sie durch entsprechende Institutionen kommunistischer Observanz ersetzt wurden. Wurden die Aufgaben einer geheimen politischen Polizei zunächst von sowjetischen Sicherheitsorganen übernommen, so zogen sich diese aus den Reihen der neu aufzubauenden allgemeinen Polizeiverwaltung zuverlässige Spitzel, Zuträger und andere Hilfskräfte heran, aus denen schon um die Jahreswende 1945/46 die sogenannten „Kommissariate 5", kurz „K 5" genannt, gebildet wurden. Über die Zentralisierung dieser Dienststellen, deren leitende Positionen von in der Sowjetunion speziell für diese Aufgaben ausgebildeten Kommunisten eingenommen wurden, wurde nach der Konstituierung der sogenannten DDR dann am 8. Febr. 1950 durch ein Gesetz das „Ministerium für Staatssicherheitsdienst (MfS)" gebildet. Wenn auch das MfS, im eigenen Jargon einfach „Die Staatssicherheit" und im Volksmund „SSD" oder „Stasi" genannt, in der bisherigen Zeit seines Bestehens verschiedene organisatorische und personelle Veränderungen erlebte, z. B. wurde das Ministerium nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 für zwei Jahre in ein Staatssekretariat umgewandelt — fast ist man geneigt, zu sagen „degradiert" —, so hat dies an seiner Aufgabenstellung aber nichts geändert. In einem Vorabdruck aus einer umfassenden Dokumentation zur politischen Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone legt das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen das Kapitel über den Staatssicherheitsdienst vor. Einer knappen Analyse über Entwicklung, Wesen und Arbeitsweise des SSD folgen 50 Dokumente aus dessen Tätigkeit. Aus naheliegenden Gründen handelt es sich dabei weniger um Originalbefehle des SSD für diese oder jene Aktion oder sonstiges internes Material, sondern der Großteil der Dokumente besteht aus Erlebnisberichten ehemaliger politischer Häftlinge in der sowjetischen Besatzungszone, Flüchtlingsaussagen, Berichten über Verschleppungen, Auszügen aus rechtskräftigen Urteilen von Gerichten der Bundesrepublik und West-Berlins und aus offiziellen SED-Publikationen. Diese aber genügen, um eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, die bekannte und erkannte Details systematisiert und in Zusammenhang bringt, so daß ein instruktiver Eindruck von dem Charakter des sowjetzonalen „Staatssicherheitsdienstes" entsteht. Berlin

Hans J. Reichhardt

SOLBERG, Richard W.: Kirche in der Anfechtung. Der Konflikt zwischen Staat u. Kirche in Mitteldeutschland seit 1945. 2. Aufl. — Bln., Hamburg: Lutherisches Verl.-Haus 1962. 276 S. DM 4,90. Eine nüchterne Chronik der Beziehungen zwischen Kommunismus und Evangelischer Kirche in der SBZ und der „DDR" bis zum Jahre 1960, in dem die 1. Aufl. des Buches erschien. Der Vf. scheut weder das Aufgreifen kleiner alltäglicher Begebenheiten und typischer Einzelschicksale noch die summarische zeitgeschichtliche Aussage, die seinem Bericht den Hintergrund gibt; wir denken etwa an seine Skizze des 17. Juni 1953 (S. 155ff.) oder an die Auseinandersetzung mit den Thesen zum „christlichen Realismus", die die Ost-CDU mitten in ihrer schmerzlichen Umwandlung von einer demokratischen zu einer Satelliten-Partei (Oktober 1951) veröffentlichte und die versuchten, eine Verkündigung theologischer Grundwahrheiten in der „DDR" mit einer Kapitulation vor der SED in der konkreten Politik zu erkaufen (S. 109 ff.). Vf. konzentriert sich auch nicht übermäßig auf den bisherigen Höhepunkt des Kampfes, das Jahr 1952/53, aus dem die Evangelische Kirche als temporärer Sieger hervorging: Er erfaßt die Gesamtentwicklung, die weit weniger

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

Anlaß zu Optimismus gibt. Dabei zitiert er ausgiebig aus christlichen und kommunistischen Quellen (die Fußnoten zu letzteren könnten zahlreicher sein, damit der wissenschaftlich interessierte Leser an das SED-Material besser herangeführt wird). Der Standpunkt ist klar: für die Kirche, gegen die SED und das von ihr der mitteldeutschen Bevölkerung aufgezwungene Regime. Aber das hindert den Vf. nicht, taktische Fehler oder Illusionen der Kirchenleitung beim Namen zu nennen: etwa Dibelius' Beharren auf den theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten, als Grotewohl 1952 die Errichtung einer rein kirchlichen Akademie für die Ausbildung des Pfarrernach Wuchses vorschlug: „Wenn die Regierung den Kirchen heute ein ähnliches Angebot machen würde, würde man eine schnelle und positive Antwort geben. Aber eine solche Gelegenheit wird sich nicht so schnell wieder bieten" (S. 129f.). S. steht den Bestrebungen innerhalb der Evangelischen Kirche aufgeschlossen gegenüber, die bereit sind, auf die traditionelle „Volkskirche" der 95% getauften Christen in der Bevölkerung zu verzichten, da es für die Kirche besser und gerade im „marxistischen Land" angezeigt sei, sich auf die Arbeit mit der kleinen Schar wirklich gläubiger Christen zu konzentrieren. Die unglückliche politische Rolle z. B. Bischof Mitzenheims von Thüringen in den Jahren 1958/59 führt S. auf eine zu hohe Einschätzung der „Volkskirche" zurück, an der dieser Bischof darum auch um den Preis von Kompromissen festhalten wollte. Die wichtigen Diskussionsbeiträge der letzten Jahre, insbesondere Bischof Dibelius' ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmte Gedanken über Römer 13 (d. h. seine Ablehnung der „DDR"-Regierung als rechtmäßige Obrigkeit), der eine entgegengesetzte Tendenz vertretende Brief Karl Barths an einen Pfarrer in der „DDR" und Pfarrer Hamels Dokument „Evangelium und christliches Leben in der DDR" werden auf den letzten Seiten knapp, aber ausreichend deutlich skizziert. S. vermeidet es, sich für einen bestimmten Standpunkt in dieser Debatte zu engagieren, neigt aber doch wohl vor allem Hamel zu. Prägnant heißt es auf S. 262: „Der Teufel hat niemals Staatsgrenzen respektiert. . ." S. weiß und sagt offen, daß der Kommunismus keine rasch vorüberzuckende Geißel Gottes ist, unter der man mit ein bißchen Geduld nur standhaft auf bessere Zeiten zu warten brauche, sondern eine politische Ordnung, die Dauer verspricht. Seit 1958, sagt er auf S. 250, sei klar, daß man von der Wiedervereinigung Deutschlands nur noch träumen könne. Daß er die politische Verantwortung für diesen Zustand nicht einseitig austeilen will, zeigt seine Datierung auf S. 122: Er läßt den Eisernen Vorhang zwischen Bundesrepublik und „DDR" endgültig an jenem 26. Mai 1952 niedergehen, als Kanzler Adenauer den EVG-Vertrag unterzeichnete. Aber die profane Politik ist nicht das Thema dieses ehrlichen und gerade durch seinen nüchternen Chronistenton so beeindruckenden — und deprimierenden Buches. Gerade weil wir es für ein wichtiges Dokument halten, sei am Schluß der Hinweis erlaubt, daß nicht Lenin 1905 (wie S. 107 behauptet und dann noch falsch zitiert) das Wort von der „Religion als Opium des Volkes" prägte, sondern Karl Marx 1844 in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Berlin Fran% Ansprenger Klausener, Erich: Sie hassen Gott nach Plan. Zur Methodik der kommunistischen Propaganda gegen Religion und Kirche in Mitteldeutschland. — Bln.: MorusVerl. 1962. 308 S„ 25 Abb. DM 15,80. Eine Anthologie aus theoretischen und belletristischen Schriften, aus Gedichten und Traktätchen, die in der „DDR" erschienen und sich mit dem Christentum — natürlich

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negativ — beschäftigen. Das Buch ist nicht chronologisch aufgebaut und vermittelt daher keinen klaren Eindruck von den taktischen Wandlungen der SED-Kirchenpolitik. Der Vf. legt fleißig Beweise dafür vor, daß in der atheistischen Propaganda „drüben" entsetzlich dummes Zeug gedruckt wird, und sammelt solche Berge davon an, daß man ihm schließlich den Hauptmangel des Buches verzeiht: er versucht keine vernünftige Auseinandersetzung über die vernünftigen Kerne einer treffenden Kritik zu führen, die doch wohl in diesem Wust verborgen liegen. So wird aus der Lektüre vor allem klar, daß in der antichristlichen Propaganda regelmäßig Klischees von der Kirche als „lebensfeindlicher", mit allen denkbaren reaktionären Kräften verbündeter und „obskurantistischer" Macht wiederkehren. Man greift dabei bis auf die gute alte Aufklärung zurück: in der „DDR" wurde z. B. erstmals eine antikatholische Pornographie Diderots vollständig ins Deutsche übersetzt I Zumeist fußen die „wissenschaftlichen" Attacken auf dem naiven Materialismus und Evolutionismus des 19. Jh.s — auf Ernst Haeckel etwa — oder auf Quellen vom Range des Pfaffenspiegels. Da schweigt natürlich jedes Argument. Es ist sicher verdienstvoll, die „Drecklinie" des mitteldeutschen Kirchenkampfes einmal ins Bewußtsein der Westdeutschen zu rücken, die den „Stürmer" (vielleicht) nie gelesen oder seinen Stil inzwischen vergessen haben. Das ist der Alltag, in dem der Christ in der „DDR" aushalten muß. Monsignore Klausener weiß natürlich, daß es auch ernsthafte Diskussion über die historischen Verstrickungen der Kirchen, über Anachronismen in ihrer Sittenlehre und Disziplin, über ihre Bewährung oder ihr Versagen vor gewissen sozialen Aufgaben gibt — vielleicht sogar fruchtbare Diskussionen mit Marxisten. Davon ist hier nicht die Rede. Berlin Franz -Ansprenger Die katholische Kirche in Berlin und Mitteldeutschland. Mit 29 Fotos u. 3 Ktn. 3., Überarb. u. erw. Aufl. - Bln.: Morus-Verl. 1962. 80 S. DM 3,60. Der 1. Teil dieser Broschüre bringt statistische und sachliche Information über die kirchliche Verwaltung und Seelsorge, nicht nur im Bistum Berlin, sondern auch in den anderen Jurisdiktionsbezirken der Katholischen Kirche in der „DDR", die z. T. formal westdeutschen Diözesen angehören. Daraus geht hervor, daß Ende 1961 in West-Berlin 296500, in Ost-Berlin 133000, in der „DDR" 1507500 Katholiken lebten — also insgesamt rund 10% der Gesamtbevölkerung dieses Raumes. In Ost-Berlin und der „DDR" wirkten zusammen 1369 Priester, in West-Berlin 120. Der 2. Teil beschäftigt sich mit der „Spannung zwischen Kirche und Staat in Mitteldeutschland", wobei nach kurzer historischer Einleitung das Augenmerk vor allem auf den Schulkampf und die Jugendweihe samt ähnlichen Ersatzriten gelenkt wird. Die OstCDU wird in einem eigenen Kapitel in ihrer gegenwärtigen Gestalt als „Befehlsempfänger der SED" (S. 58) radikal abgelehnt, ohne daß wir genauer erfahren, wie sie sich aus der Partei Kaisers und Lemmers zum kommunistischen Satelliten entwickelt hat. Als Antwort auf die Frage, wie katholisches Leben in der „DDR" künftig möglich sein soll, enthält die Broschüre im letzten Abschnitt den Fastenhirtenbrief der mitteldeutschen Bischöfe vom Januar 1960. Er beantwortet die Frage naturgemäß nicht eindeutig, geht aber mit seinen Forderungen — insbesondere striktes Nein zu den „Ersatzriten", lieber Aufgabe des Berufes als erzwungene Abkehr von der Kirche — bis hart an die Grenze eines Aufrufs zum passiven Widerstand gegen das Regime und zum Rückzug in die Katakombe. Berlin Franz Ansprenger

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BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

Lehrbuch für den Geschichtsunterricht der Oberschule. Neueste Zeit. — Bln.: Volk u. Wissen 1962. 360 S. Auf rund 360 S. wird die Zeit zwischen der Februarrevolution in Rußland und dem Ende des 2. Weltkrieges behandelt. Schon die Überschriften der Kapitel lassen erkennen, daß sich das Buch an dem offiziellen kommunistischen Geschichtsbild orientiert. Auf 70 S. wird die Oktoberrevolution, der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR und die Novemberrevolution dargestellt. Bei der auf vier Kapitel verteilten Behandlung der Weimarer Republik (65 S.) findet der Kampf der KPD und die „Wirtschaftskrise der kapitalistischen Welt" eine besonders große Berücksichtigung. Dann folgen die Kapitel über die „faschistische Gewaltherrschaft", die „faschistischen Aggressionen" bis 1939 und den 2. Weltkrieg (120 S.). Die deutsche Geschichte steht im Mittelpunkt und wird nur an bestimmten Punkten zum Ausblick auf die Weltgeschichte. Das Buch enthält einen rund 100 S. zählenden Anhang, der vornehmlich Dokumente als Quellenmaterial offeriert. Wenn auch der Anteil der von der KPD stammenden Dokumente sehr viel größer ist, als es ihrer Bedeutung zu jener Zeit entsprach, gibt es doch auch andere, die eine Information über die entsprechende Zeit vermitteln — darunter umfangreiche Auszüge aus der Weimarer Verfassung. Das Buch veranschaulicht, wie unterschiedlich die Geschichtsbilder geworden sind, die man im Osten und im Westen Deutschlands den Schülern der „höheren Schulen" anbietet. Berlin Max G. Lange f WAGIN, A. A., U. N. W. SPERANSKAJA: Ausgewählte Kapitel zur Methodik des Geschichtsunterrichts der oberen Klassen. (Aus dem Russ. Bearb. v. Friedrich Donath u. Dieter Schiewe.) — Bln.: Volk u. Wissen 1962. 208 S. DM 7,20. Die gekürzte Ausgabe der 1959 in Moskau erschienenen Methodik für den Geschichtsunterricht in den Klassen 9 bis 11 weist den Vf. der wesentlichen Teile des Buches, Wagin, als Geschichtslehrer aus, der die Unterrichtssituation anschaulich darzustellen und begrifflich zu durchdringen versteht und der außerdem als Historiker ein ausgeprägtes Problembewußtsein besitzt. Er will dem „Eigenartigen der Vergangenheit" gegenüber dem marxistischen Verbalismus und soziologischen Schematismus im GU. zur Geltung verhelfen, indem er z. B. für die allgemeinen Begriffe Klasse oder Kapital historisch angemessenere „Näherungsbegriffe" bilden läßt (30), deren Inhalt sich erst im 19. Jh. voll erfülle. Die Dialektik von historischen und allgemeinen Begriffen wird aber nicht durchgängig beachtet (bei der Unterscheidung gerechter und ungerechter Kriege, S. 43—48), und sie wird nicht über die Zeit Lenins hinaus weiterverfolgt, deshalb ist W. zurückhaltend gegenüber der Einbeziehung der unmittelbaren Vergangenheit in den GU. (53—56). Er warnt vor Analogien und der Nutzung „der,Lehren der Geschichte' bei der Lösung der Probleme der Gegenwart" (59). Die methodische Schulung, die der Leser durch die Lektüre von W. gewinnt (er schreibt i. folg. über den Lehrervortrag, das Unterrichtsgespräch, die Nutzung der Unterrichtsmittel und die Typen der Unterrichtsstunde), wird teilweise wieder entwertet durch das, was N. W. Speranskaja über die Arbeit mit dem Lehrbuch, mit dem historischen Dokument und über die „selbständige Arbeit der Schüler" zu sagen hat. Hier kommt die in Lehrplan und Lehrbuch festgelegte offizielle Didaktik und damit jener Schematismus wieder zum Zuge, den Wagin bei seinem durchwegs dialogischen GU. umgehen wollte. Insofern stellt der Vorschlag W.s zur Gestaltung der Unterrichtsstunden, in der Abfolge von Darlegung des historischen Materials, Besprechung und Befragung, Wiederholungsstunde und verallgemeinernder Stunde, der den Ablauf des GU.s deutlich an die Person des Lehrers bindet

SBZ U N D W I E D E R V E R E I N I G U N G

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und den Schüler Abstand vom Lehrbuch und von allen Tabellen und Schemata gewinnen läßt, eine bedenkenswerte Alternative zu den Ausführungen seiner Kollegin dar. Berlin Harald Schöltz SCHWIDTMANN, Heinz: Zur weltanschaulichen Erziehung und Bildung der Oberschüler. - Bln.: VEB Dt. Verl. d. Wiss. 1962. 146 S. = Pädagogische Wiss. u. Sozialist. Schule, 9. DM 2,80. Ein pädagogischer Laie, von der Parteihochschule kommend (84) und ohne Kenntnis pädagogischer Praxis und ihrer Probleme, legt hier die veränderte Fassung seiner Dissertation als ersten Beitrag zur Didaktik und Methodik kommunistischer Bildung und Erziehung an der deutschen polytechnischen Oberschule vor. Der Zusammenfassung der offiziellen „Zielstellungen" für die Schule folgt der Versuch einer Verbindung der Bildungspläne mit den Ergebnissen der „Kinderpsychologie" und darauf die „Ergebnisse und Erfahrungen eines Schulversuches an der erweiterten Herderoberschule Leipzig". Neben Staatsbürgerkunde und Geschichte stellte der Vf. im Schuljahr 1958/59 einen Vöriesungs7.y)dx\s. In einer — nicht obligatorischen — Wochenstunde trug er seine „philosophische Unterweisung" der gesamten Oberstufe vor. Der Direktor hatte das gleiche vor den Klassen 9 und 10 zu tun. Im Anschluß daran sollte in den Klassen „in Seminarform" mit den Lehrern diskutiert werden. Doch mußte trotz obligatorischer Schulung für die Lehrer (83) eine „nicht ausreichende Qualifikation der Lehrer in marxistischer Philosophie" festgestellt werden (102). Eine nach dem Abgang der 12. Klassen veranstaltete Schülerhejragung (87) mit fünf Fragen ohne „Suggestivcharakter", wie z. B. „Was gefiel Ihnen an der philosophischen Unterweisung besonders?" oder „Erklären Sie bitte die philosophische Kategorie FreiheitI" in Form einer Klassenarbeit während einer Unterrichtsstunde hat nach Meinung des Vf.s erwiesen, „daß die Art und Weise des Unterrichtens die Zustimmung der großen Mehrzahl der Schüler fand und einen erfolgversprechenden Weg für philosophische Unterweisung in der Oberschule darstellt" (99). Er schließt mit der Forderung, „für das 10. Schuljahr in erweitertem Maße Stoff komplexe des dialektischen Materialismus aufzunehmen" (133), damit die Ergebnisse des Fachunterrichts in ihn integriert werden könnten. Ein Lichtblick bei dieser deprimierenden Lektüre: Auch die linientreu bemühten Ignoranten können nicht den nüchternen Sinn in der Jugend ersticken. Ein 17jähriger formulierte sein Freiheitsverständnis folgendermaßen (110): „Wir verstehen unter Freiheit, wenn jeder offen seine Meinung sagen darf, sich aber der Gesellschaft anpaßt und ihr nützt. Kurz: Einsicht in die Notwendigkeit." Berlin Harald Schöltz ERB, Ute: Die Kette an deinem Hals. Aufzeichnungen e. zornigen jungen Mädchens aus Mitteldeutschland. — Gütersloh: Bertelsmann Lesering 1962. 236 S. Nur f. Mitgl. Tagebuchartige Kommentare eines jugendlich-kritischen Temperaments zu Alltagsperspektiven der innerdeutschen Situation in den Jahren 1956/57. Eigener Charakter, Mitmenschen und von ihnen verkörperte gesellschaftliche Zustände sind in den Augen der literarisch durchaus begabten Autorin großenteils verdammenswürdig. Einer vorschnellen „Synthese" oder Alternativbildung verfällt ihr nüchtern suchendes Wesen ebensowenig wie einer geistigen Resignation vor letztlich doch stehenbleibenden Fragezeichen des menschlichen und sozialen Lebens.

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BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

Diese Dokumentation eines dem Zukünftigen und Neuen sich aufschließenden Geistes junger Menschen unserer Zeit gibt — unabhängig von allen im einzelnen getroffenen Urteilen und Entscheidungen der Autorin — dieser belletristischen Produktion einen zeitgeschichtlichen Quellenwert. Berlin Klaus Ehrler Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Erfordernis des Weltfriedens. Hrsg. von Inter Nationes e.V. Bonn. — Frankf./M.: Verl. Agenor 1962. 16 S. Nicht i. Buchhandel. GRIESMAYR, Gottfried: Ist Wiedervereinigung überhaupt noch möglich ? Ein Versuch zur Lösung der deutschen Frage. — Stuttgart: J. Fink 1962. 68 S. = Politikum-Reihe. Das aktuelle Taschenbuch 4. DM 4,80. THILENIUS, Richard: Die Teilung Deutschlands. Eine zeitgeschichtliche Analyse. 4. Aufl. — Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1962. 195 S. = rowohlts deutsche enzyklopädie 55. DM 2,40.

Teilung und Wiedervereinigung. Eine weltgeschichtliche Übersicht. Für die Ranke-Gesellschaft — Vereinigung für die Geschichte im öffentlichen Leben — hrsg. von Günther Franz. — Göttingen: Musterschmidt 1963. 299 S. DM24,80. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit ist erklärtes Ziel der Politik der Bundesrepublik. Erklärungen des Bundestages allein können nicht genügen, um das eigene Volk beständig an dieses Ziel zu erinnern und in der Welt um Verständnis für die deutschen Belange zu werben. Diesem Zweck dient der Aufruf von Inter Nationes, der die Spaltung Deutschlands als eine der Ursachen für die heutigen weltweiten Spannungen bezeichnet und die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auch für das deutsche Volk fordert. Wie ist aber eine Wiedervereinigung in der derzeitigen weltpolitischen Situation möglich? Allzu einfach macht es sich Griesmayr, der, von den Kriegszielen der Siegermächte des 2. Weltkrieges ausgehend, oftmals mit recht klischeehaften Betrachtungen über die Entwicklung seit 1945 einer Politik der Mitte, der Blockfreiheit, das Wort redet und mit scharfer Kritik an der Bundesregierung nicht zurückhält. Tbilenius verzichtet in seiner zeitgeschichtlichen Analyse auf die Angabe von Lösungsmöglichkeiten. Ausgehend von der nationalsozialistischen Eroberungs- und Lebensraumpolitik schildert er die Entstehung von Teilungsplänen bei den Kriegsgegnern Deutschlands, ihre Ablösung durch militärische Besatzungsteilungen, die sich zur Spaltung Deutschlands und zur Begründung zweier deutscher Staatswesen verhärteten. Besonders weist Th. auf die Rolle Frankreichs hin, das unter beträchtlichen Vorbehalten gegenüber den Abmachungen der Großen Drei als Besatzungsmacht wirkte und durch separatistische Ziele (Saar, Rheinland, Ruhr) die anfangs verfolgten Bestrebungen der anderen Mächte für den Aufbau einer deutschen Zentralverwaltung durchkreuzte. Bei dieser vorwiegend diplomatischen Betrachtungsweise sind die sowjetischen Maßnahmen auf sozialem, wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet zur Umgestaltung ihrer Zone als Muster für einen gesamtdeutschen Staat, das für die Westmächte nicht akzeptabel war, nur am Rande erwähnt. Die Anthologie der Ranke-Gesellschaft geht auf Vorträge bei einer Tagung zum Thema „Teilung und Wiedervereinigung" im Jahre 1959 zurück. Hier wurde die Teilungs- und Wiedervereinigungsgeschichte anderer Staaten, der Niederlande, Irlands, Polens und Italiens, sowie als Nachtrag die Teilung Koreas und des Vietnam, zum Vergleich geboten

SBZ UND WIEDERVEREINIGUNG

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für die deutsche Geschichte, die Einigung unter Bismarck in einer besonders günstigen weltpolitischen Konstellation und die in der heute sichtbaren Form nicht geplante Teilung nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Besondere Beachtung verdienen die Beiträge über die Deutschlandfrage aus der Sicht der vier Siegermächte. Mit Nachdruck wird darauf hingewiesen, daß das deutsche Schicksal an das des gespaltenen Europa geknüpft ist. Berlin Friedrich Zipfel

Aktuelle Dokumente aus der Dt. Demokr. Republik (Jg.) 1962. 1. — (Bln. W 8, Thälmannplatz 8 - 9 : ) Liga f. Völkerfreundschaft d. DDR 1962. Nicht im Buchhdl. Archiv für Gesamtdt. Fragen, Bonn. Zusammenstellung der von der Dt. Demokrat. Republik seit deren Gründung (1949) abgeschlossenen internationalen Verträge u. Vereinbarungen. Zusgest. v. Lothar Kapsa. Als Ms. vervielf. 3. Aufl. (Stand: 31. Mai 1962) — Bonn (Koblenzer Str. 12/14): Archiv f. Gesamtdt. Fragen 1962. VI, 198 Bl. Nicht im Buchhdl. Berliner Stadtbibliothek. Von der Wartburg bis nach Usedom. Bücher beraten Urlauber u. Erholungssuchende. Eine Auswahlbibliographie. Nachtr. 1959—62. — (Bln. C 2, Breite Str. 36—37:) Berliner Stadtbibliothek 1962. 50 S. Nicht im Buchhdl. Herbert: Die Zeit, in der wir leben. Betrachtungen z. Lage in beiden dt. Staaten. - Bln.: Kongreß-Verl. (1962) 114 S. m. Abb. (Aktuelle Reihe) DM 1,50.

BERTSCH,

Karl Heinz, Gert EGLER u. Harald R I E D E L : Die Leitung der Landwirtschaft durch den Kreistag und seine Organe. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 222 S. DM 5,60.

BRANDT,

Artur (u.) Fred S C H E I L : Fest der Lebensfreude. Die Arbeiterfestspiele in Wort und Bild. Hrsg. im Auftr. d. FDGB. Bundesvorstandes, Abt. Kultur. (Fotos: Gerhard Hoffmann, Eberhard Giebel u.a.) - (Bln.: Verl. Tribüne 1962.) 219 S. Abb. m. Text. DM 10,50.

BRAUER,

Deutsche Akademie der Wiss. zu Bln. Institut für Dokumentation. Liste der Dokumentationsstellen u. Informationsstellen der DDR (und der von den Dokumentationsstellen bearbeiteten IfD-Dokumentationsdienste). 6. Aufl. Erg.-Bl. — Leipzig: VEB Verl. f. Buch- u. Bibliothekswesen 1962. ( = Bücherei d. Dokumentationslisten 2.) Nicht im Buchhdl. Erg.-Bl. Stand: 1. 8.1962. 8 Bl. Das diplomatische Korps in der Deutschen Demokratischen Republik. — (Bln.:) Ministerium f. auswärtige Angelegenheiten, Protokollabt. 1962. 41 gez. Bl. Dokumente zur Außenpolitik der DDR. Hrsg. v. Dt. Institut f. Zeitgeschichte, Berlin. Red. Bearb. Hansjürgen Krüger. Bd. 9: Vom 1. Jan. bis zum 31. Dez. 1961. - Bln.: Rütten & Loening 1962. 591 S. DM 6,80. Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse u. Erklärungen d. Zentralkomitees sowie seines Politbüros u. seines Sekretariats. (Hrsg. vom ZK d. Sozialist. Einheitspartei Deutschlands.) Bd. 8. — Bln.: Dietz 1962. 520 S. DM 4,50.

352

BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

Dokumentation des Terrors. Namen u. Schicksale der seit 1945 in d. Sowjet, besetzten Zone Deutschlands verhafteten u. verschleppten Professoren u. Studenten. (Für d. Inhalt verantwortl.: Karl-Heinz Meyer.) 5. Aufl. — (Bl.-Dahlem, Wachtelstr. 20:) Verband Dt. Studentenschaften 1962. 174 S. Nicht im BuchhdI. Horst: Die Schule der Zukunft. Die Tagesheimschule in d. Dt. Demokrat. Republ. u. ihre Bedeutung f. d. Entwicklung der Ganztageserziehung. (Red.: Wera Zühlsdorf u. Gertrud Schroeter.) - Bln.: VEB Verl. Volk u. Wissen 1962. 112 S. = Diskussionsbeiträge zu Fragen d. Pädagogik. Bd. 70. DM5,30. Erschien vollst, als Diss., unt. d. T.: Drewelow: Die Tagesheimschule in der DDR u. ihre Bedeutung für die Ganztageserziehung. Rostock.

DREWELOW,

15 (fünfzehn) Jahre Demokrat. Frauenbund Deutschlands. 8. März 1962. — (Bln.:) Demokrat.) F(rauenbund) Deutschlands 1962). 64 S. m. Abb. Friedrich-Karl: Institut f. Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Sozialistische Kulturarbeit auf dem Lande. — Bln.: Dietz 1962. 202 S. DM 2,50. Diss., Inst. f. Gesellschaftswiss. beim Zk der SED, Bln. FREYER,

GÖRLITZ, Gerty, u. Helmut G Ö R L I T Z : Sozialistische Umgestaltung in der Landwirtschaft. Ein empfehlendes Literaturverzeichnis. Hrsg. v. d. Dt. Bücherei in Leipzig. 2., überarb. Aufl. — Leipzig: VEB Verl. f. Buch- u. Bibliothekswesen 1962. 56 S. = Sonderbibliographien d. Dt. Bücherei. 24. DM 1,60.

Wolfgang: Ökonomik des Binnenhandels in der DDR. Lehrbuch. Red.: Curt Teichmann (u.) Siegfried Eckardt. 2., stark überarb. u. erw. Aufl. — Bln.: Verl. Die Wirtschaft (1962). 815 S. DM 17,70. HEINRICHS,

Heinz: Geschichtliche Voraussetzungen für die Entstehung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. — Bln.: Akademie-Verl. 1962 31 S. = Deutsche Akad. d. Wiss. z. Bln. Vorträge u. Schriften. H. 76. DM 2,50

HEITZER,

Horst: Kirchen in Mitteldeutschland. Bestand, Vernichtung, Erhaltung. - Frankf./M.: Weidlich 1962. 31 S. Text, 120 Abb. DM21,50.

HEMPERT,

Werner: Die Politik d. SED gegenüber den kleinen u. mittleren privaten Einzelhändlern im Verlauf der volksdemokratischen Revolution auf dem Gebiet der DDR. (1.2.) - Leipzig 1962. 157 gez. Bl., gez. Bl. 1 5 8 - 3 0 8 . 4° (Maschinenschr. vervielf.) Leipzig, Hochsch. f. Binnenhandel. Diss. v. 1. Aug. 1962. (NfdA.) HORN,

Jugendherbergsverzeichnis d. DDR. Hrsg.: Ministerium f. Volksbildg. 1962. — (Bln.:) Verl. Junge Welt (1962). 267 S. m. Abb., 1 Übersichtskt. DM2,50. Werner (Dr.): Die Stellung des sozialistischen Finanzsystems in der Volkswirtschaft d. DDR. — Bln. 1962. 181 gez. Bl. 4° (Maschinenschr. vervielf.) Bln., Hochsch. f. Ökon., Hab.-Schr. v. 21. Juli 1962. (NfdA.) KALWEIT,

Luftstraßen. Dokumentation über d. Verbindungswege v. Westdeutschland nach West-Berlin. - (Bln.: Liga f. Völkerfreundschaft d. DDR 1962) 14 S. Kurt, Dr.: Über die Klassenstruktur in der DDR. Eine sozialökon.statist. Unters. — Bln.: Verl. Die Wirtschaft (1962). 190 S. DM 5,50.

LUNGWITZ,

SBZ U N D

WIEDERVEREINIGUNG

353

M E I N E C K E , Werner: Die Kirche in der volksdemokrat. Ordnung der DDR. Ein Beitr. zur Klärg. einiger Grundfragen d. Verhältnisses v. Staat u. Kirche in d. DDR. - Bln.: Union-Verl. (1962). 176 S. DM3,70.

Horst: Der Absatz des Sozialistischen Industriebetriebes. Stellung, Aufgaben u. Organisation d. Absatzes u. d. Absatzabteilung im Sozialist. Industriebetrieb. - Bln.: Verl. Die Wirtschaft (1962). 199 S. DM7,40. MODEL,

Hugo: Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands. — Düsseldorf: Schwann (1962). 62 S. = Wirkendes Wort. Beiheft 2. DM 5,80. MOSER,

K(unibert), Dr., (u.) Dipl.-Landw. J(osef) L A N G E R : Die Arbeitsorganisation in der LPG. — (Bln.:) Dt. Landwirtschaftsverlag (1962). 176 S. DM3,—.

MÜHREL,

Nationale Verteidigung. Eine Zusammenstellung d. wichtigsten gesetzl. Bestimmungen m. Anm. u. Sachreg. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 228 S. DM 1, —. Ökonomik der Arbeit in der D(eutschen) D(emokrat.) R(epublik). (Von e.) Autorenkollektiv. Leitung u. Red.: Hermann Wagener (u. a.) — Bln.: Verl. Die Wirtschaft (1962). 679 S. D M 1 8 , - . Zur Ökonomik der Übergangsperiode in der Dt. Demokrat. Republik. Die Herausbildung Sozialist. Produktionsverhältnisse. Von Roland Hauk (u. a.) — Bln.: Dietz 1962. 354 S. (Schriftenreihe d. Instituts f. Polit. Ökonomie d. Hochschule f. Ökonomie.) D M 6 , — . Joachim: Friedliche Koexistenz und Deutschlandfrage. Eine völkerrechtl. Studie. (2. Überarb. Aufl.) - Bln.: VEB Dt. Zentralverl. (1962). 86 S. DM 2,60.

PECK,

Siegfried: Grundzüge der Sozialistischen Gesetzgebung in der Dt. Demokrat. Republik. - Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 143 S. DM 8,60. PETZOLD,

RÄTZER, Manfred: Die staatl. Beteiligg. als Form d. Sozialist. Umgestaltg. privatkapitalistischer Industriebetriebe u. d. Entwicklung sozialistischer Produktionsverhältnisse zu den halbstaatlichen Industriebetrieben d. DDR. (1. 2.) — Halle 1962. IV, 271 gez. Bl.; gez. Bl. 2 7 2 - 5 2 7 , mehr. Tafl., 4° (Maschinenschr. vervielf.) Halle, Wirtschaftswiss. F., Diss. v. 3. Juli 1962. (NfdA.)

Peter: Jesuiten, Arbeiter und rote Richter. Schlaglichter auf d. Ringen um Religionsfreiheit in Mitteldeutschland. — (Bonn: Arbeitskreis f. Christl.-soziale Bildung 1962.) 47 S. mit Abb. Nicht im Buchhdl. REICH,

Rudi: Der demokratische Zentralismus unseres Staates. (2., völlig überarb. u. erw. Aufl.) - Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 192 S. DM 2,40. ROST,

Die rote Schablone. Sowjetzonaler Alltag in Tondokumenten. Ms.: Georg Eigel. Sprechet: Horst Siebecke. — (Gütersloh:) Ariola GmbH (1962). Sprechplatte 0 30 cm, 33 UpM. D M 2 1 , - . Die Schule in unserer Republik. (Redaktionskollegium: Dr. Karlheinz Günther u. a.) - Bln.: Volk u. Wissen 1962. 143 S. (Best.-Nr. 21104 - 1.) DM 2,20. 23 Jahrbudi 12

354

BESPRECHUNGSTEIL

ALLGEMEINES

SOMMER, Josef, Dr.: Die Entwicklung d. LPG von 1952—1960. — Bln. 1962. IV, 231 gez. BI. 4° (Maschinenschr.) Bln. Humboldt-U., Landw.-gärtner. F., Hab.Scht. v. 13. Juni 1962. (NfdA.)

Über die staatliche Leitung des Handels und der Versorgung. Von e. Autorenkollektiv unter d. Leitung von Joachim Hemmerling. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. (1962), 315 S. D M 6,20. Zur staatlichen Leitung der Mechanisierung der Landwirtschaft. Die Sozialist. Mechanisierung als gemeinsame Aufgabe d. Landmaschinenbaus u. d. Landwirtschaft. Von e. Autorenkollektiv. Gesamtred.: Heinz Such. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 204 S. DM 9,60. Statistisches Taschenbuch der DDR. Hrsg. von d. Staatl. Zentralverwaltung f. Statistik beim Ministerrat d. Dt. Demokrat. Republik 1962. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 208 S., 1 Kt., 1 Titelbild. DM 3,80. Die Streitkräfte in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands. — (Frankf./M.: Verl. Soldat u. Technik im Umschau-Verl. 1962.) 48 S. m. Abb. 4°. D M 3 , - . Übersichtskarte der D(eutschen) D(emokratischen) R(epublik) Uber die Bereichsbildung in Post- und Zeitungswesen. (Etwa: 1:176000.) — (Bln.:) Institut f. Post- und Fernmeldewesen (1962). 37,5 X 43,5 cm. Walter: Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Die Bauernbefreiung in der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. 2. — Bln.: Dietz 1962. 2. Juli 1958—Dezember 1960. Anh.: Dokumente aus d. Zeit von 1945—1960. Zeitt. 1945-1960. (m. 10 Bildbeil. 2. Aufl.) S. 6 9 5 - 1 6 1 7 . DM7,50. ULBRICHT,

Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands. Zus.gest. vom Untersuchungsausschuß Freiheitl. Juristen, T. 4. — Bonn (Lennestr. 1) u. Bln.: Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen 1962. 291 S. Nicht im Buchhdl. Verzeichnis der Gemeinden und Ortsteile der DDR. Bearb. in d. Staatl. Zentralverwaltung f. Statistik, Stand: 1. Jan. 1962. — Bln.: VEB Dt. Zentralverl. 1962. 133 S. 1 Kt. 4°. D M 4 , - . Gesa: Begegnungen in Mitteldeutschland. — Wuppertal-Barmen: Kiefel (1962). 63 S. (Die Brücke.) DM 3,20.

VOLKMANN,

J ö r g : Willfähriger Untertan oder bewußter Staatsbürger. Zur Entwicklung d. staatsbürgerl. Bewußtseins in beiden dt. Staaten. — Bln.: Dietz 1962. 301 S. DM 6,50.

VORHOLZER,

Heinz: Die Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft der DDR. — Bln.: Dietz 1962. 102 S. (Lektionen d. Parteihochschule „Karl Marx" beim ZK der SED.) DM 1,20. WACHOWITZ,

Katja, Dr.: Zur Sozialist. Umgestaltg. d. privatkapitalist. Sektors d. Industrie in der DDR. - Bln.: Verl. Die Wirtschaft (1962). 135 S. D M 7 , - . WAGNER,

DIE D E U T S C H E N OSTGEBIETE U N D D A S VERTRIEBENENPROBLEM

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WENSEL, Hein: Auf allen Meeren. Die Handelsschiffahrt d. Dt. Demokrat. Republik. (Stark erw. u. veränd. Neufassung.) — Leipzig: VEB Brockhaus (1962). 43 S. mit Abb., 78 Bl. Abb. mit Text. 4°. DM 2,50. (WEYRAUCH, Erdmann:) [Walter] Ulbrichts Mauer. Zahlen, Fakten, Daten. — Bonn (Lennestr. 1) u. Bln.: Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen (1962). 39 S. mit Abb. u. Ktn., 1 Titelbild. Nicht im Buchhdl. Der Wortlaut der sowjetischen Denkschrift zum 27. Dez. 1961 über die Deutschland- und Berlin-Frage und der Antwort vom 21. Febr. 1962. — (Bonn, Welckerstr. 11:) Presse- u. Informationsamt d. Bundesregierung (1962). 11 S. 4°. Nicht im Buchhdl. Zerrissenes Deutschland, geteiltes Europa, friedlose Welt. Gespräche u. Reden. Schwäbisch Hall 1962. — Frankf./M.: Heimreiter-Verl. (1962). 107 S. = Beiträge d. Witikobundes zu Fragen d. Zeit. Bd. 11. DM 5, — . ZÖLCH, Franz Theodor: Im Westen und Osten. Vergleich zweier Welten in Deutschland. Arbeitsheft f. Mittler d. polit. Bildung. Heimatdienst (1962). 135 S. = Bayerische Landeszentrale f. Heimatdienst, Arbeitsheft 7. Nicht im Buchhdl.

4. Die deutschen Ostgebiete (nach 1945) und das Vertriebenenproblem KRAUS, Herbert: Der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31. Dezember 1937. Als Ms. gedruckt. — (Göttingen, Baurat-Gerber-Str. 12: Selbstverl.) 1962. VII, 177 S. Nicht i. Buchhandel. Die vorliegende Untersuchung („Denkschrift") behandelt das gleiche Thema wie die etwas knapper gehaltene völkerrechtliche Studie von Kraus über die Oder-Neiße-Linie (2. Aufl. 1959, vgl. dieses Jb., Bd. 11, S. 425f.), auf deren ausführliche Besprechung z. T. verwiesen werden kann, da sich die Grundgedanken und juristischen Thesen naturgemäß decken. In der neuen Arbeit geht es primär um die Frage, ob die Herrschaft Deutschlands in allen Teilen seines Staatsgebietes nach heute geltendem Völkerrecht fortbesteht, die ihm am 31. Dez. 1937 zugehörten. Im Vordergrund steht somit die völkerrechtliche Seite des mit den deutschen Ostgebieten verbundenen Fragenkomplexes. Die politische, wirtschaftliche, militärische und historische Problematik wird nur berührt, soweit es für die juristische Erörterung unumgänglich ist. In 5 Abschnitten werden behandelt die Frage der Zuständigkeit der großen Mächte zur Festlegung einer neuen deutschen Ostgrenze, Verlauf und Ergebnisse der großen Kriegskonferenzen, die Begründung des polnischen Anspruchs ex jure gentium, der Annexionstatbestand und die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes durch Polen und die Sowjetunion. Als einen Grund für die nunmehr ausführlichere Behand lung des Themas nennt K. u. a. die rege und gut koordinierte Publikationstätigkeit vornehmlich polnischer Institute und Autoren, deren Arbeiten in zunehmendem Maße auch in englischer, französischer und deutscher Sprache erscheinen. An der Spitze steht die Zeitschrift „Polish Western Affairs", deren Aufsätze über die deutschen Ostgebiete in den letzten Jahren deutlich den Ubergang von der mehr historisch-politischen zur mehr völkerrechtlichen Argumentation bezeugen. Als völkerrechtlich korrekt läßt K. allein die Bezeichnung „Deutsche Ostgebiete" gelten. Die anderen gebräuchlichen Bezeichnungen sind vor allem deswegen nicht anwendbar, weil Polen im Stettiner Bereich ebenfalls deutsches Gebiet 23*

356

BESPRECHUNGSTEIL ALLGEMEINES

(60 Gemeinden, darunter 4 Städte: Neuwarp, Swinemünde, Pölitz und Stettin) beansprucht, das diesseits der Oder-Neiße-Linie liegt.— Ein Quellenanhang und 23 zusammenfassende Thesen beschließen eine Untersuchung, die sich wegen der wenigen vergleichbaren Arbeiten auf deutscher Seite für längere Zeit als Ausgangspunkt für weitere Forschungen und als Grundlage offizieller Argumentation behaupten dürfte. Berlin Gerd Heinrich Heimatrecht in polnischer und deutscher Sicht. Hrsg.: Der Niedersächsische Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. — Leer/Ostfriesl.: Verl. Gerhard Rautenberg 1962.127 S. = Schriften zur deutschen Frage 7. DM 7,50. In einem Aufsatz über „Volksgruppenrecht und Heimatrecht" trug der polnische Völkerrechtler Remigiusz Bierzanek seine These zu dieser rechtlich interessanten und politisch außerordentlich drängenden Frage vor. Er verneinte die Gültigkeit irgendeines Heimatrechts als Bestandteil des Völkerrechts, wies auf die Gefahr politisch aktiver, vom Ausland aus gesteuerter Minderheiten, der „Volksgruppen", hin und sah im Bevölkerungsaustausch wie in Massenvertreibungen ein wiederholt praktiziertes und völkerrechtlich anerkanntes Prinzip der Nationalitätenbereinigung und damit der politischen Entspannung. Anerkannte Staatsrechtler des Westens, der Österreicher Rabl und die Deutschen Raschhofer, Rogge und Breyer, weisen auf bedenkliche Aspekte in der Beweisführung Bierzaneks hin und stellen seiner Auffassung Beispiele gegenüber, in denen Volksgruppenrechts-Vorstellungen und naturrechtlich begründete Heimatrechts-Maximen völkerrechtlich verbindende Gestalt annahmen. Thesen und Antithesen zeigen die ungeheure rechtliche Kompliziertheit dieses ganzen Komplexes, der darüber hinaus durch politische Erfahrungen und Ressentiments auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs belastet ist. Daß — bei aller Gegensätzlichkeit der Argumente — diese wissenschaftliche Auseinandersetzung zustande kommen konnte, läßt hoffen, daß der beiderseitige Wille zum sachlichen Gespräch vorhanden ist. Unüberlegte Äußerungen zu diesem Thema in der Öffentlichkeit können der Bereitschaft zum Gespräch nur schädlich sein. Berlin

Friedrich

Zipfel

Wo heute fremde Wegweiser stehen. Die dt. Ostgebiete im Spiegel d. westdt. Presse (1959—1962). In Verbindung mit Alexander von Cube u. Carl Guggomos Zusammengest. u. bearb. von Ulrich Blank. — Leer/Ostfriesl.: Rautenberg 1962. 144 S. mit zahlr. Abb. = Gesamtdt. Bewußtsein. Bd. 8. DM 8,50. Die Absicht, die hinter diesem Buch steht, ist beinahe ein Wagnis der Vernunft. In ihrem Vor- und Nachwort legen die Bearb. Rechenschaft ab über die Motive ihres Unternehmens. Es sind sehr nüchterne, gleichsam „unrevisionistische" Vorstellungen, eine Art von hic et nunc-bezogener Voraussetzungslosigkeit, die nichts weiter will als eine Orientierung, ob sich Nachbarschaft und Heimat an dieser wunden Stelle Europas jenseits von Oder und Neiße überhaupt begreiflich machen lassen. Die Bearb. wollen für ihr Konzept also — ohne vor der erschwerenden und belastenden Fülle historischer und psychologischer Voraussetzungen die Augen zu verschließen — allgemein-menschlichen Grundgegebenheiten in einer verstellenden Wirklichkeit auf die Spur kommen. Sie haben zu diesem Zweck eine Anzahl von Reiseberichten, Betrachtungen, Eindrücken aus der westdeutschen Tages- und Wochenpresse — in Einzelfällen auch aus politischen Zeitschriften — zusammengestellt und in 8 Abschnitte sachlich untergliedert:

DIE DEUTSCHEN OSTGEBIETE UND DAS VERTRIEBENENPROBLEM

357

I . . . als wäre es nie gewesen (Streiflichter aus Ostdeutschland in unseren Tagen); II Alte Heimat — neue Heimat (Polen, Deutsche und Ukrainer in den Oder-Neiße-Provinzen); III Fabriken und Kasernen (Auf baupläne und harte Wirklichkeit); IV Zu Dörfern geworden (Sterbende Kleinstädte und wuchernde Industriegebiete); V Land in Hülle und Fülle (Skeptische Bauern — diktatorische Funktionäre); VI Kultur alten und neuen Stils (Zwischen Zerstörung und Restaurierung); VII Das Ende der Reformation (Protestanten und Katholiken in den deutschen Ostgebieten); VIII Ein Gespräch mit langen Pausen (Deutschpolnische Nachbarschaft gestern und morgen). Daß die Sammlung Texte von sehr unterschiedlicher Qualität im Sachlichen und im Politischen enthält, liegt an dem fragenden Grundgedanken des Buches. Neben einer erstaunlichen Naivität gegenüber allmählich bekannten und erklärten Tatsachen der kommunistischen Lebenswirklichkeit findet sich das triefende Ressentiment ebenso wie der beglückende Mut zu innerer Prüfung und Neubesinnung. Für das Studienobjekt der Bearb. ist also wohl ein „Quellenband" entstanden. Aber es steht zu befürchten, daß die kommentarlose Wirkung der meisten Texte die vielleicht doch zu bescheiden formulierten und zur Geltung gebrachten Absichten der Bearb. durchkreuzt. Es wäre schade um ein vernünftig konzipiertes Buch über ein Problem, über das vernünftig nachzudenken vielen Zeitgenossen hüben und drüben so schwerfällt. Gießen

Klaus Zernack August: Reise nach Polen. Ein Bericht. — München: Biederstein 1962. DM 9,80.

SCHOLTIS,

205

S.

Dem Leser, der sich ein Bild des heutigen durch nationalsozialistische Zerstörungspolitik besonders gezeichneten Polens zu verschaffen sucht, sei die Lektüre, die der Autor selber als Bericht charakterisiert, empfohlen. Scholtis sucht als Kenner und Augenzeuge Vorkriegspolens in seiner Darstellung die gemeinsame preußisch-polnische und österreichischpolnische Geschichte transparent werden zu lassen, um so zugleich die Vergeblichkeit der Auffindung einer gerechten Grenze zu verdeutlichen. Zeitgeschichtliche Dokumentation und Rückbesinnung auf Geschichte dienen dem Engagement für das bessere Verstehen unseres geographischen Nachbarn. Auf S. 137 ist dem Autor ein Zitierungsfehler unterlaufen: Himmler gebrauchte im Original seiner Anweisung zum künftigen „Bildungswesen" im deutschbesetzten Polen des Jahres 1940 nicht den Terminus „Generalgouvernement Polen", da es ja gerade im Wesen der NS-Ostpolitik lag, nicht nur das Volk, sondern auch den Namen Polens auszulöschen. Vgl. den Abdruck des Originals in Vierteljahrshefte f. Zeitgeschichte 1957, H. 2, S. 196ff. Berlin Solveig C. Ehrler Georg: Die Organisation der landwirtschaftlichen Betriebe in Polen und den deutschen Ostgebieten, ihre Umgestaltung nach 1956 und die Auswirkungen auf die Produktion. — Gießen: W. Schmitz in Komm. 1962. 111 S. = Osteuropastudien d. Hochschulen d. Landes Hessen. Reihe 1, Bd. 22. DM 14,80. BARCZYK,

Unsere Kenntnisse über die Landwirtschaft der Mitgliedsländer des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW bzw. COMECON) sind lückenhaft. Es fehlt an wissenschaftlich fundierten, auf sorgfältige Auswertung der schwer zugänglichen Primärquellen gestützten Detailuntersuchungen, ohne die eine umfassende Beurteilung des Gesamtkomplexes nicht

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE

GEBIETE

möglich ist. Derartige Untersuchungen sind schwierig und dementsprechend auch nicht immer voll befriedigend. Die vorliegende Abhandlung über die polnische Landwirtschaft geht von einer Darstellung der politischen, natürlichen und wirtschaftlichen Strukturgegebenheiten aus. Daran schließen sich Ausführungen über die drei Formen landwirtschaftlicher Betriebe, also der bäuerlichen Betriebe, der Produktionsgenossenschaften und der Staatsgüter. Sie sind recht allgemein gehalten und bieten wenig Neues, z. T. sogar Unrichtiges, denn nicht die in Form von Produktionsgenossenschaften vollkollektivierte, sondern die verstaatlichte Landwirtschaft ist das letzte Ziel marxistisch-leninistischer Agrarpolitik. Mit 69 Zahlenübersichten enthält die Arbeit umfangreiches statistisches Material. Leider beschränkt sich der Vf. vielfach auf die Wiedergabe von Tabellen, ohne die entsprechenden Auswertungen durchzuführen. Die Gewichtigkeit und Bedeutung der drei Betriebskategorien in Beziehung auf Input und Output und im Zusammenhang mit der Gesamtwirtschaft vergleichend zu werten, ist bei dem hier zusammengetragenen Material auch dem Leser nicht möglich. Berlin

Ursula Wallowit%

H e i n c k e , Paul, u. Arno M e h n e r t : Das Jugendherbergswerk im dt. Osten. Im Auftr. d. Arbeits- u. Sozialministeriums d. Landes Nordrhein-Westfalen dargest. — (Troisdorf/Rheinland: Ost-West-Begegnung) Kulturh. Nr. 41. D M 2 , — . M ü l l e r , Erwin: D i e Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg. — Bln.: Duncker & Humblot 1962. 185 S. = Schriften d. Vereins f. Sozialpolitik, Gesellschaft f. Wirtschafts- u. Sozialwiss. N.F. Bd. 7, 10. (Untersuchungen zum dt. Vertriebenen- u. Flüchtlingsproblem, Abt. 2.) D M 33,60. Ostkunde im Unterricht. Vorträge auf d. vom Kultusminister d. Landes Nordrhein-Westfalen am 10. November 1961 einberufenen Arbeitstagung. Gesetzauszüge, Erlasse, Unterrichtsgrundsätze, Film- u. Lichtbildverz. — (Troisdorf/Rhld.: Wegweiserverl.) 1962. 124 S. = Schriftenreihe f. d. Ost-West-Begegnung. Kulturh. Nr. 42. D M 2,25.

B. EINZELNE GEBIETE 1. Berlin Heimatchronik Berlin. Von Otto Friedrich Gandert, Berthold Schulze f , Ernst Kaeber f , Konrad Kettig, Albrecht Lampe, Helmut Winz, Eberhard Faden, Eberhard Schmieder u. Karl C. Thalheim. — Köln [Ubierring 47]: Archiv f. Dt. Heimatpflege 1962. 951 S. mit Abb. = Heimatchroniken d. Städte u. Kreise d. Bundesgebietes, Bd. 25. D M 3 6 , - . Nichts ist so schwierig, wie wissenschaftliche Gediegenheit mit „Lesbarkeit" so zu verbinden, daß eine Gesamtdarstellung eines größeren Problemkreises auch wirklich den größeren Leserkreis, an den sie sich richtet, erreicht. Dieses Ziel ist hier in hervorragendem Maße gelungen. Dem Rez. scheint dies nicht zuletzt das Verdienst des inzwischen verstorbenen Hrsg.s, Berthold Schulde, gewesen zu sein.

BERLIN

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Diese „Heimatchronik" will mehr sein als eine „Geschichte Berlins", mehr aber auch als eins der zahlreichen „Berlin-Bücher", wie sie jetzt auf dem Markte sind. Die geschichtliche Entwicklung der Stadt nimmt den Hauptteil des Werkes ein. Mit bewährter Sachkenntnis und Prägnanz behandelt Gandert die älteste Geschichte des Berliner Raums bis zu Albrecht dem Bären. Ihm schließt sich Schulde an mit einer in ihrer Gedrängtheit vorbildlichen Darstellung der Entwicklung der Doppelstadt Berlin-Cölln und ihrer Beziehungen zu den Herrscher« der Mark bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges. Mit Recht wird der Einschnitt, der in die Geschichte der Residenz der absoluten Herrscher des 17. und 18. Jh.s führt, die Ernst Kaeber in allen ihren Verzweigungen behandelt, 1618 bereits angesetzt, denn der 30jährige Krieg und seine Wirren sind unerläßliche Voraussetzung für das, was sich nach 1640, dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten, ereignete. Die Darstellung des 19. und 20. Jh.s, bis zum Ende des 2. Weltkriegs, aus der Feder Kettigs, kenntnisreich und lebendig, entgeht nicht ganz der Gefahr, dieser letzten Periode im Vergleich zu den früheren etwas zu viel Raum einzuräumen (126 S. für gut 200 Jahre gegenüber 346 S. für alle vorhergehenden Epochen zusammen), doch liegt das wohl in der Natur der Dinge: Berlin wird eben „interessant" erst im 19. und 20. Jh. als rasch wachsende Haupt- und Residenzstadt. Dem Abschnitt „Berlin — Hauptstadt im geteilten Deutschland" von Albrecht Lampe gebührt eine besondere Anerkennung. Knapp, klar, sachlich und unpathetisch, aber gerade dadurch sehr eindringlich wird das Schicksal Berlins seit 1945 hier vor dem Leser ausgebreitet. Besonders erfreulich ist es, daß Win% in einem besonderen Kapitel die wichtigsten früher selbständigen Stadtbezirke in ihrer Entwicklung behandelt. Wenn auch nur die Grundlinien der Entwicklung gezogen werden können und vieles zusammengefaßt werden muß, so werden doch wenigstens die ältesten dieser Gemeinden, die Städte Spandau und Köpenick, die sich bis heute ein durchaus eigenes Gesicht haben bewahren können, gesondert behandelt; bedauerlich, daß das gleiche nicht wenigstens auch für Charlottenburg möglich war. E. Schmieder hat eine Wirtschaftsgeschichte Berlins im 19./20. Jh. beigesteuert, die mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs endet. Sie ist schlechthin eine Notwendigkeit, da es an einer umfassenden und doch knapp orientierenden Darstellung dieses Gebiets bisher mangelt, so zahlreich auch die Einzeldarstellungen dazu sind. Weshalb die Zeit von 1815—1870 allerdings „Zwischen den preußisch-französischen Kriegen" benannt wird, ist nicht ganz erfindlich. Dem Rez. will es scheinen, als ob eine Einteilung nach wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten, wobei vor allem der Einfluß des Eisenbahnbaus wichtig ist, richtiger gewesen wäre als diese etwas willkürliche nach zudem unglücklichen politischen Gesichtspunkten. Ganz ausgezeichnet ist schließlich Thalheims ausführliche Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins nach dem 2. Weltkrieg. Diesem hervorragenden Sachkenner verdankt man eine ausgewogene, wirtschaftliche und politische Momente gleichermaßen berücksichtigende, alle Zweige des Wirtschafts- und Verkehrslebens erfassende, zum Glück auch Ostberlin berücksichtigende Einführung in diese so ungeheuer schwierige Problematik. Der Beitrag Fadens über das „Stadtbild in Geschichte und Gegenwart" bleibt im Vergleich zu den übrigen Kapiteln merkwürdig blaß und feuilletonistisch. Den zusammenfassenden Darstellungen einzelner Epochen und Probleme schließt sich ein Teil „Einzeldarstellungen der Wirtschaft" an, dessen Beiträge nicht gezeichnet sind. Der Titel ist etwas irreführend, denn statt der zu erwartenden Geschichte großer Unternehmungen werden nur Banken und Versicherungen in kurzen Abrissen ihrer Entwicklung vorgestellt. Eine Tafel der Ehrenbürger, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein ausgezeichnetes Orts- und Personenregister beschließen den reich illustrierten Band. Bei einer Neuauflage, die man recht bald erhoffen möchte, wäre vielleicht zu erwägen, ob in

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B E S P R E C H U N G S T E I L EINZELNE GEBIETE

einem eigenen Kapitel wenigstens die Verfassungsentwicklung seit der Steinschen Städteordnung gesondert zu behandeln wäre, deren Daten und Ereignisse man jetzt in den einzelnen Abschnitten verstreut suchen muß. Berlin Riebard Dietrich JACOBSON, Jacob: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809—1851. Mit Erg. f. d. Jahre 1791-1809. - Bln.: de Gruyter 1962. VII, 725 S„ S. 697 - 7 2 5 Abb. u. Faks. = Veröffentlichungen d. Berliner Histor. Komm. b. Friedrich-MeineckeInst. d. Freien Universität Berlin, Bd. 4, Quellenwerke Bd. 1. DM 58, — . Jacobson ist es zu verdanken, daß der wichtigste Teil des Inhalts der Judenbürgerbücher (JBB) schon vor vielen Jahren kopiert wurde, als die zu den Beständen des Berliner Stadtarchivs gehörigen 40 stattlichen Bd.e, die jetzt als verloren gelten müssen, ihm zur Verfügung gestellt waren. Von dem in den JBB ursprünglich vorhandenen, oft spärlichen Material war es ein weiter Weg bis zu der Fülle, die heute vor uns ausgebreitet ist. Sie ist der Ertrag einer erstaunlichen Arbeitsleistung — doppelt erstaunlich, wenn man bedenkt, daß der Vf. nach jahrelanger Unterbrechung seiner Arbeit und nach schwersten persönlichen Erlebnissen, wie der Deportation nach Theresienstadt, die Kraft zur Wiederaufnahme seiner Forschungen fand, zur Sammlung, Sichtung und Prüfung zusätzlicher Materialien, die in Trauungsregistern, alten Zeitungen und anderen Zeugnissen aufgespürt werden mußten. Das Buch wendet sich zunächst an alle, die an der Geschichte Berlins wissenschaftlich interessiert sind, ferner an Leser, die sich mit jüdischer Geschichte befassen, nicht zuletzt auch — so hofft der Vf. — an Nachkommen derer, deren Namen in den Judenbürgerbüchern verzeichnet sind. „Ich bin mir schmerzlich bewußt", führt Jacobson aus (S. V), „wie viele Familien ausgelöscht sind, die ihre Vorfahren unter den alten jüdischen Bürgern Berlins hätten finden können, ich kann es auch verstehen, wenn viele, die ein in seiner Grenzenlosigkeit kaum faßbarer Rassenwahn der Vernichtung nahe gebracht, in Ruhelosigkeit und Verbitterung hineingestoßen hat, sich von einer Geschichtsepoche abwenden, die ihnen rückschauend entwertet und sinnlos erscheint." Der 1. Teil des Werkes „Chronologische Verzeichnisse", S. 51—559, ist der Hauptteil; er umfaßt mehr als zwei Drittel des Buches. Die Verzeichnisse reichen vom 10. Mai 1792 bis zum 22. Dezember 1853 und geben alle irgendwie erreichbaren Lebensdaten der Juden an, die innerhalb dieser 61 Jahre Bürger Berlins geworden sind. Insgesamt 3146 Persönlichkeiten sind aufgeführt, deren Lebensdaten verzeichnet und durch zahlreiche Anmerkungen erläutert und beleuchtet werden. Die JBB beginnen mit David Itzig (1723—1799) — „Bankier, Münzunternehmer, Industrieller, Oberlandesältester der sämtlichen Judenältesten der preußischen Staaten" — und schließen mit drei im Jahre 1853 mit der Bürgerurkunde ausgestatteten Männern. Der 2. und der 3. Teil bringen Verzeichnisse, die eine Ubersicht über das im Hauptteil gebotene Material und seine Auswertung möglich machen. Das „Verzeichnis jüdischer Verwandter von jüdischen Bürgern" ist eine willkommene Ergänzung unseres Wissens. Willkommener noch wäre ein vervollständigtes Verzeichnis, das auch christliche Verwandte einschließt. Man hätte dann Anhaltspunkte, um den Umfang der Verflechtung, die zwischen der jüdischen Minderheitsgruppe und der Mehrheit der Bevölkerung bestand, besser einschätzen zu können. Der Anhang enthält u. a. eine Zusammenstellung „Wichtigste Archivalien", ferner Bildtafeln, darunter photographische Wiedergabe von Urkunden. Photographien handschriftlicher Dokumente und ausgefüllter Vordrucke geben dem Leser eine anschauliche Vorstellung von dem Rohstoff, der verarbeitet werden mußte, bis dieser vorbildlich herausgegebene Bd. erscheinen konnte.

BERLIN

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Wer sich zuerst in den Hauptteil vertieft und dann mit Hilfe der sehr zuverlässigen alphabetischen Verzeichnisse die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung zu erfassen sucht, mag zunächst von den familiengeschichtlichen Entwicklungen gefesselt sein. Aber bald entrollt sich ein umfassenderes Bild, das über die Lebensgeschichten der Einzelpersönlichkeiten und die Schicksale der Familien hinaus die großen Züge einer vielseitigen Entwicklung sichtbar werden läßt. Die Entfaltung des Berliner Judentums, sein zahlenmäßiges Anwachsen, aber auch die Lockerung seines Zusammenhalts, Aufstieg und Assimilation, Mischehen, Ubertritte zu einer der christlichen Konfessionen, umgekehrt auch die Übertritte zum Judentum, die ganze Geschichte des Berliner Judentums im letzten Jahrzehnt des 18. und in der 1. Hälfte des 19. Jh.s — all das ersteht aus diesen Seiten und noch viel mehr: die jüdische Binnenwanderung, die beginnende Zusammenballung der Juden in Berlin, die daraus resultierende Schrumpfung vieler, einst großer Gemeinden zu Kleinund Kleinstgemeinden, der Anteil des jüdischen Bürgertums am wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben Berlins — immer aber auch zugleich die Geschichte der Stadt Berlin selbst. Wer sich mehr als einen allgemeinen Eindruck von den großen Zügen der Entwicklung verschaffen will und das Buch systematisch durcharbeitet, wird ein tiefer eindringendes Verständnis und eine umfassendere anschauliche Vorstellung von der ganzen Fülle und Vielseitigkeit der Geschehnisse gewinnen. Die Einleitung bringt in wohlüberlegter Beschränkung auf das Wesentliche einen Überblick über die Geschichte des Berliner Judentums vom 18. Jh. bis in die letzten Jahrzehnte des 19. und kann als selbständige Monographie gelesen werden. Auch mit der Situation der Juden im übrigen Preußen, insbesondere im Großherzogtum Posen und im Netzedistrikt werden wir vertraut gemacht, sobald die aus diesem Hinterland Berlins einsetzende Zuwanderung in die Hauptstadt gewürdigt wird. Die Einleitung ist aber zugleich ein Kommentar zum übrigen Buch und eine durch Beispiele illustrierte Anleitung zur Auswertung der gebotenen Unterlagen. Paragraph 19 der auf den Freiherrn vom Stein zurückgehenden Städteordnung vom 19. 11. 1808 bestimmte, daß „Stand, Gewerbe, Religion und überhaupt persönliche Verhältnisse bei der Erwerbung des Bürgerrechts keinen Unterschied ausmachen". Damit war für alle Juden Preußens der Weg zum Bürgerrecht und zu den bürgerlichen Ehrenämtern geöffnet. Die Annahme von Familiennamen war eine ausdrückliche Bedingung für die „Naturalisation" und gehörte daher zu den frühesten Folgeerscheinungen der Emanzipationsgesetzgebung. Den Juden war es überlassen, ihre Namen frei zu wählen. Nur in Westpreußen suchten die Behörden die Namenswahl zu beeinflussen, aber die westpreußische Regierung legte Wert darauf, daß den Namen kein lächerlicher oder unangenehmer Beigeschmack anhaftete. Die preußische Beamtenschaft unterschied sich darin vorteilhaft von der Beamtenschaft in den österreichisch-polnischen Ländern, wo der jüdischen Bevölkerung herabsetzende Schandnamen aufgenötigt wurden, die noch bis in unsere Zeit hinein auf der einen Seite Spott, auf der anderen Seite ohnmächtige Erbitterung hervorriefen (vgl. S. 14). Zu den frühen Folgeerscheinungen der Emanzipation gehörte auch die Binnenwanderung. Juden aus Orten im preußischen Osten, wo ihnen volles Bürgerrecht nicht zustand, mußten zunächst ein mit sehr erheblichen Kosten verbundenes Naturalisationspatent erwerben, um das preußische Staatsbürgerrecht zu erlangen. Erst dann konnten sie Bürger von Berlin werden (S. 18). Zu den Bürgersöhnen und -angestellten, die 1812 und 1813 in Berlin Staatsbürger geworden waren, kamen bald Juden aus Brandenburg, Pommern, Westpreußen, Ostpreußen und Schlesien hinzu. Damit, daß sie von der gewonnenen Freizügigkeit Gebrauch machten und nach der Hauptstadt zogen, war der Anfang der Binnenwanderung

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE GEBIETE

gegeben. Ausgenommen von dem Einwanderungsstrom blieben zunächst die Juden aus dem Großherzogtum Posen. Erst seit 1833 setzte auch aus Posen und den anderen östlichen Provinzen der Wanderstrom nach Berlin ein, der die Struktur der Berliner Gemeinde bemerkenswert veränderte: Die Zahl der Handwerker nahm zu. Der Zusammenhang zwischen Wanderbewegung und beruflicher Zusammensetzung des Berliner Judentums wird unter Heranziehung zahlreicher Statistiken von Jacobson eindrucksvoll herausgearbeitet. Unter den Städten, aus denen beträchtliche Zuwanderung nach Berlin erfolgte, nimmt Märkisch Friedland eine besondere Stellung ein. Dort hatten im 17. Jh. die Barone von Blankenburg zur evangelisch-deutschen Einwohnerschaft Juden hinzugenommen und zu Beginn des 18. Jh.s Juden, die aus der Neumark vertrieben waren, Asyl gewährt. Die Juden aus Märkisch Friedland waren die wohlhabendsten und wohl auch die rührigsten und gebildetsten unter den Juden des Netzedistrikts. 1817, als die Binnenwanderung nach Königsberg, Stettin und Berlin bereits eingesetzt hatte, bestand noch die Hälfte der Einwohnerschaft aus Juden (S. 25). Aus Märkisch Friedland kam die Familie Liebermann, der der Maler Max Liebermann entstammte. In Märkisch Friedland wurde übrigens auch Heinrich von Friedberg, der 1879 preußischer Justizminister wurde, 1813 als Sohn jüdischer Eltern geboren. Aus Prenzlau kam eine Familie, die sich in Berlin bald mit den Liebermanns verschwägerte: die Rathenaus. Der 1799 in Prenzlau geborene Großvater des Reichsaußenministers erwarb 1825 das Berliner Bürgerrecht. Dem Urgroßvater dieses Berliner Neubürgers — also der 5. Generation vor Walter Rathenau — war die Konzession zur Ansiedlung in Prenzlau im Jahre 1733 erteilt worden — 189 Jahre vor der Ermordung des späten Nachkommen. Jacobson ist aber nicht vornehmlich am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Aufstieg interessiert. Seine Anteilnahme gehört ebensosehr den kleinen Leuten. Unter den sofortigen Auswirkungen des Emanzipationsgesetzes vom 11. 3. 1812, das zwar den Juden noch keineswegs die völlige Gleichberechtigung, aber doch im allgemeinen gleiche Freiheiten und Rechte wie den Christen gab, erwähnt er eine sonst meist mit Schweigen übergangene statistische Tatsache: „Eine unmittelbare Folge der ungekürzten Heiratserlaubnis war die schlagartige Abnahme der unehelichen Geburten, die vorher recht erheblich gewesen war" (S. 13, Anm. 29). Auch die nur sehr allmähliche Auswirkung der Emanzipationsgesetze auf den Militärdienst der Juden würdigt er ausführlich. Die Tatsache, daß das Gesetz für die Juden des Großherzogtums Posen Militärdienst nicht als Verpflichtung einbaute, wirkte beunruhigend. Die Juden hatten das richtige Gefühl dafür, daß die Basis staatsbürgerlicher Gleichberechtigung ins Wanken geriet, wenn man in einem Staat wie Preußen den Dienst im Heere nur freistellte, aber nicht zur Pflicht machte. Erst Ende 1845 wurde der Militärdienst für Juden obligatorisch (S. 27). Bei der Lektüre der „Chronologischen Verzeichnisse" und bei gelegentlichem Rückblick auf die „Einleitung" drängt sich immer stärker der Eindruck auf, daß die Schicksale der einzelnen und der Familien, jedes in seiner Art, die Gesamtentwicklung illustrieren, in die sie alle hineingewoben sind. Unser subjektives Interesse läßt uns dann die eine oder andere Person oder Familie herausgreifen. Ein Leser etwa mag aus einer Anmerkung und auf dem Weg über mühelos zugängliche Lebensdaten einiger in den Verzeichnissen aufgeführter Persönlichkeiten feststellen, daß Reinhold von Mossner, General der Kavallerie und Gouverneur von Straßburg, in direkter Linie von Jacob Moses (1724—1802), dem „Oberlandesältesten sämtlicher Judenschaften in den preußischen Staaten", abstammte (Nr. 1220, 236, 26) und daß Admiral Felix von Bendemann, der Urenkel des Berliner Bankiers Hirsch Nathan Bendix (1740—1798) war (Nr. 45 und 46). Der Leser weiß, daß die Offizierslaufbahn den Juden verschlossen blieb; er erfährt, daß Nachkommen zum Christentum über-

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getretener Familien Offiziere geworden sind, und kann daraus schließen, daß die Neigung zu dieser Laufbahn unter Juden ebenso groß gewesen ist wie unter anderen Gruppen der Berliner Bevölkerung. Jacobson zieht diesen Schluß nicht, und die Tatsachen, die den Schluß ermöglichen, stehen — ohne daß sie besonders hervorgehoben sind — neben der großen Menge anderer Tatsachen in den vielen Hunderten von Anmerkungen, die das Buch enthält. Andere Leser werden anderes herausgreifen. Wer an Pionieren interessiert ist, die später auf ihrem Feld Nachfolger gefunden haben, findet in dem Buch die Lebensdaten des ersten jüdischen Privatdozenten an der medizinischen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität (Nr. 194), des ersten jüdischen Mitgliedes der Berliner Akademie der Wissenschaften (Nr. 14; Anmerkung) und auch des ersten jüdischen Maurermeisters nicht nur in Berlin, sondern vermutlich in ganz Preußen (Nr. 3025). Dies alles sind mehr oder minder willkürlich herausgegriffene Beispiele. Im Zusammenhang mit den Lebensdaten jener 3146 Personen und ihrer Familienangehörigen stehen diese Angaben in den Anmerkungen, gehören sinnvoll hinein in einen „Beitrag zu den Problemen der staatsbürgerlichen Emanzipation und der bürgerlichen Assimilation". Dem Vf. kommt es zunächst nicht darauf an, wie bedeutungsvoll die einzelne Tatsache ist. In erster Linie will er möglichst viele Umstände, die sich auf die Lebensläufe der erwähnten Personengruppe beziehen, einwandfrei feststellen, „gleich entfernt von Apologetik und Unterschätzung". Die Ermittlung der Tatbestände als Grundlage der gegenwärtigen und zukünftigen Forschung ist das vornehmste Arbeitsziel des Gelehrten. Daher seine Unermüdlichkeit, wenn es gilt, Irrtümer zu korrigieren und verdunkelte Zusammenhänge aufzuhellen. In einer Welt, in der tagtäglich neue Irrtümer und Legenden geschaffen werden und alte unausrottbar fortzuleben scheinen, ist ein Buch wie das vorliegende schon allein durch seine Objektivität vorbildlich. Zu einer Leistung eigener Art und hohen Ranges wird es, weil es einem geschichtlichen Spezialgebiet gewidmet ist, in dem „der Parteien Haß" noch weit mehr, als es sonst der Fall zu sein pflegt, dazu beigetragen hat, das „Charakterbild" von Menschen zu verzerren und „in der Geschichte schwanken" zu lassen. Dafür, daß wir den so notwendigen „objektiven Beitrag zur Geschichte einer Sondergruppe innerhalb der Bevölkerung Berlins", nämlich der Juden, jetzt besitzen, haben wir dem Vf. und der Historischen Kommission zu Berlin zu danken. Sie hat neben verschiedenen anderen Institutionen und einer Reihe hilfsbereiter Freunde und Förderer die Arbeit Jacobsons wirksam unterstützt und das Erscheinen des Buches ermöglicht. Fesselnd, anregend und aufschlußreich, ist dieser Quellenbd. ein bemerkenswerter Beitrag zur Geschichte Berlins. Darüber hinaus nimmt er einen hohen Platz innerhalb der Literatur zur Geschichte des deutschen Judentums ein: Er ist die z. Z. beste historische Einführung in die Problematik der deutsch-jüdischen Symbiose. New York Adolf Leschnit^er 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin. 1837 — 10. Oktober 1962. Festschrift hrsg. von dem Vorsteher des Hauses, Pfarrer Dr. phil. Walter Augustat. - Bln. 1962. 124 S., zahlr. Abb. In der gut ausgestatteten Festschrift sind eine Reihe von Beiträgen zusammengefaßt. Neben allgemeinen Betrachtungen von Bischof Dr. Jacobi über „Die Mutterhaus-Diakonie 1837 und 1962" und vom Ärztlichen Direktor Dr. Prüfer „Krankenhaus und technische Medizin", stehen Ausführungen zur Geschichte des Hauses. Es handelt sich meist um redigierte ältere Berichte, wie den Jahresbericht von Gossner für 1837, Ausschnitte aus dem Bericht zur 100-Jahr-Feier 1937, den Bericht für die Jahre 1940—45 sowie Mitteilun-

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B E S P R E C H U N G S T E I L EINZELNE GEBIETE

gen über die leitenden Ärzte des Elisabeth-Krankenhauses, der für die Zeit von 1837 bis 1937 von Prof. Landais stammt und für die folgenden Jahre ergänzt wurde. Der Bericht des Vorstehers des Hauses, Dr. Augustat, über die Entwicklung der Anstalt von 1945 bis 1962 ist ein Originalbeitrag für diese Festschrift. Obwohl die Absicht des Hrsg.s, durch Abdruck der alten Berichte kaum noch zugängliches Material einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zu begrüßen ist, so können diese Ausführungen eine Geschichte des Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses in Berlin nicht ersetzen. Berlin Manfred Stür^becber STÜRZBECHER, Manfred, u. Gustav WAGNER: Die Vorgeschichte der Berufung von Edmund Lesser an die Charité. — Kiel: Lipsius & Tischer 1962. 87 S. mit 6 Abb. = Schriftenreihe der Nordwestdt. Dermatologischen Gesellschaft, H. 7. DM 5 , - . Eine kommentierende Quellenpublikation zu einem Kapitel der preußischen Hochschulpolitik Friedrich Althoffs, zur jüngeren deutschen Medizingeschichte sowie zur Berliner Sozial- und Kulturgeschichte der Bismarck- und Wilhelmzeit. Die 1896 erfolgte Berufung Edmund Lessers, die von medizinischen Fachgelehrten als Beginn der wissenschaftlichen Dermatologie in Berlin angesehen wird, ist ein Musterbeispiel der gezielten Wissenschaftspflege des neueren preußischen Staates, die eine wesentliche Voraussetzung des großen Ansehens der deutschen Wissenschaft im 1. Drittel unseres Jh.s war. Zahlreiche, vorwiegend biographische und bibliographische Anmerkungen geben neben den erklärenden Zwischentexten der Bearb. eine Fülle von Fakten und Hinweisen, deren Einbeziehung in eine umfassende Darstellung der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Berliner Raumes unerläßlich wäre. Berlin Klaus Ehrler Dokumente zur Berlin-Frage 1944—1962. Mit e. Vorwort v. Willy Brandt. Hrsg. v. Forschungsinst. d. Dt. Gesellschaft f. Auswärtige Politik e.V., Bonn, in Zus.arbeit mit d. Senat v. Berlin. (Bearb. v. Wolfgang Heidelmeyer u. Günter Hindrichs.) 2., durchges. u. erw. Aufl. — München: Oldenbourg 1962. XXXII, 622 S., 2 Kt. DM 4 0 , - . Die Dokumente zur Berlin-Frage sind in 2. Aufl. wesentlich erweitert worden. Ein stattlicher Bd. von 622 S., besitzen sie jetzt nicht mehr ganz den früheren Vorzug der praktischen Handlichkeit, der der 1. Aufl. nachgerühmt werden konnte. Dafür sind sie jetzt bis 1962 fortgeführt worden und schließen damit den Verlauf der Krisendebatte seit Nov. 1958 bis zum Eintritt des Mauerbaues von 1961 zum größeren Teile ein. Der notgedrungene Endpunkt, die Abberufung General Clays aus Berlin (13. 4. 1962) muß heute allerdings schon als sehr zufällig erscheinen und ist nur eine Folge rein technisch gegebener Arbeitstermine. Aber dafür ist in dem Notenwechsel über den Chruschtschowschen Freistadtplan die grundlegende Exposition der heute noch fortdauernden Krise in so dankenswerter Vollständigkeit gegeben, daß auch ein für den Forscher höchst wertvolles Arbeitsinstrument entstanden ist. Das gleiche gilt für die Erweiterung des Literaturverzeichnisses, die Ergänzung der statistischen Angaben und die Bearbeitung des Anmerkungsapparates. Das Ergebnis ist, daß die Publikation ihren Wert als Arbeitsinstrument zur jüngsten Geschichte Berlins nicht nur behauptet, sondern selbst vertieft hat. Berlin

Hans

Herzfeld

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Berlin. Ringen um Einheit und Wiederaufbau 1948—1951. Hrsg. im Auftr. d. Senats von Berlin. (Bearb. v. Landesarchiv Berlin, Abt. Zeitgeschichte, Ges.ltg. Albrecht Lampe.) — Bln.: Spitzing 1962. 956 S. = Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte. Bd. 3. DM 33,50. Der 3. Bd. dieser ersten umfassenden Quellensammlung zur Berliner Nachkriegsgeschichte unterscheidet sich formal nicht von den vorhergehenden Bd.en (vgl.dieses Jb.9/10,S.504f.). Der umfängliche Quellenstoff, aus gedruckten und gelegentlich auch aus ungedruckten Unterlagen entnommen, ist wiederum chronologisch geordnet und fortlaufend mit Überlieferungshinweisen versehen worden. Die Quellen beziehen sich auf alle Bereiche des Berliner Lebens für den Zeitraum vom 1. 12. 1948 bis zum 18. 1. 1951. Wie bereits bei den früheren Bd.en sind auch bei Bd. 3 die einzelnen Abschnitte nicht insgesamt, sondern nur innerhalb der Monate durchnumeriert worden. Die Benutzbarkeit der Bd.e wird durch dieses System nicht gefördert. Fortlaufende, halbfett gedruckte Nummern dürften sich m. E. auch auf die Herstellung und Benutzung der Register erleichternd auswirken. Die Bedeutung guter Register für eine Quellensammlung dieser Art, in die naturgemäß auch weniger wesentliche Vorgänge aufgenommen werden müssen, liegt auf der Hand. Das Sachverzeichnis könnte durch Einfügung von Stichwörtern an geeigneten Stellen wohl noch etwas stärker differenziert werden. Die abschreckend langen Zahlenkolonnen bei einigen Oberbegriffen (z. B. Eingliederung Berlins — Alliierte Kommandantur) würden dann fortfallen. — Obschon das Dokumentationsunternehmen nunmehr in die Jahre kommt, wo die Berliner Nachkriegsgeschichte in ein etwas ruhigeres Fahrwasser einmündet, darf doch der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß dieses Gemeinschaftswerk in vielleicht etwas strafferer Form im Interesse gegenwärtiger und künftiger Geschichtsschreibung fortgesetzt wird. Die für diesen Geschichtsabschnitt fortan grundlegende Einführung von Hans Hersjeld (S. 9—42) stellt die Berliner Ereignisse in den größeren Zusammenhang der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West und zeigt in — im Hinblick auf die zweite Berlin-Krise — erregend aktuellen Formulierungen die Grundlinien der von Ernst Reuter maßgeblich geprägten inneren und äußeren Entwicklung West-Berlins in diesem Zeitraum. Berlin Gerd Heinrich POUNDS, Norman J. P.: Divided Germany and Berlin. — New York: D. van Nostrand Comp. 1962. V, 128 S. $ 1.45. Dieses Büchlein beschreibt deutsche Geschichte seit dem Mittelalter, mit einer Betonung der Wechselwirkung von geographischen und politischen Kräften. Es ist für das breitere Publikum geschrieben, aber der Autor, Professor für Geographie an der Universität von Indiana, ist eine führende Kapazität in politischer und Wirtschaftsgeographie Deutschlands. Daher informiert das Buch ausführlich und genau, wenn auch Spezialisten nichts darin fänden, das ihnen nicht schon bekannt wäre. In einigen Fragen politischer und historischer Interpretation möchte man Prof. Pounds' Feststellungen in Zweifel ziehen. Im ganzen gesehen jedoch ist dieser Bericht über die wiederholten Teilungen und Einigungen in der deutschen Geschichte gründlich und objektiv. Chapel Hill, North Carolina

Charles B. Robson

VILLEY, Daniel: La Question de Berlin. — Paris: Les Editions de l'Epargne 1961. 39 S. (In der Reihe „de quoi s'agit-il?").

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Diese Broschüre wurde im April 1960 verfaßt, als die Welt sich auf eine Gipfelkonferenz der Großen Vier vorbereitete, von der man (vielleicht) eine Lösung der Berlinfrage erhoffte. Die historische Darstellung der Ereignisse seit 1945 ist sachlich und verknüpft Berlin, wie es sich gehört, mit den Etappen der Deutschlandpolitik. Marienborn ist zwar nicht „Marienburg", und Frau Louise Schröder gehörte nie der LDP an (beide Irrtümer S. 17). Aber sonst ist nichts gegen dieses Heftchen zu sagen. Berlin Franz -Ansprenger Le Problème de Berlin. Colloque organisé à Paris le 25 et 26 Novembre 1961 par les „Echanges Franco-Allemands" sur le thème „La question de Berlin-Ouest dans le cadre d'un règlement négocié du problème allemand". — Paris : (Presses Universitaires de France) 1962. 86 S. Die Berlinfrage ist, wie der Untertitel es besagt, für die Veranstalter dieses Kolloquiums und die meisten der Teilnehmer im Grunde nur eine West-Berlin-Frage. (Die „Echanges FrancoAllemands" bemühen sich vornehmlich um Kontakte mit der „DDR" und sind nicht zu verwechseln mit dem 1948 von Emmanuel Mounier gegründeten „Comité Français d'Echanges avec l'Allemagne Nouvelle".) Zwei Grundsatzreferate über die historischen (Georges Castellan, S. 17—34) und die juristischen (M. Hauriou, S. 35—48) Aspekte des Problems situieren dieses in Geschichte und Recht der Besetzung des bedingungslos kapitulierenden Deutschland. Hauriou stellt heraus, daß das westliche Besatzungsrecht in Berlin nur einen Ausnahmecharakter besitzt, insofern die Viermächtebesetzung der ursprünglich zur sowjetischen Besatzungszone gehörenden Stadt lediglich im Hinblick auf den Sitz einer gesamtdeutschen Regierung in Berlin erfolgt war (S. 43 ff.). Dieses Ausnahmerecht betrifft im übrigen auch nur die Besatzungstruppen in West-Berlin, nicht die Westberliner Bevölkerung. Sie hat keinen rechtlichen Sonderstatus, sondern hängt ab vom guten Willen der Sowjetunion und der „DDR" (S. 47). In den S. 48—74 abgedruckten Diskussionsbeiträgen kommt überwiegend der gleiche Wunsch zum Ausdruck, der dann auch in der abschließenden Resolution (S. 75f.) formuliert ist: West-Berlin als Enklave in der „DDR", deren Hauptstadt Ost-Berlin ist, sollte auf Grund von Viermächteverhandlungen zu einer neutralen Freien Stadt erklärt werden; ihre Unabhängigkeit von BRD und „DDR" würde dann durch die verantwortlichen Mächte kontrolliert und die Installierung von UNOOrganisationen in Berlin garantiert werden. Paris

Hermann Weber

M A N D E R , John: Berlin, Unterpfand der Freiheit. (Berlin: Hostage for the West. Aus dem Engl. dt. v. Gerhard Schönmann.) — Frankf./M., Bonn: Athenäum-Verl. 1962. 134 S. DM 6,40.

„Für den Wert einer Politik ist entscheidend, was den Menschen angetan wird." Mit dieser Norm verurteilt Mander in seinem zweiten Berlinbuch „Ulbrichts schmutzige Mauer", die er nicht als Ergebnis einer lokalen „Berlinkrise", sondern als Folge der weltpolitischen Ost-West-Spannungen darstellt. Damit zerstört M. rücksichtslos das antideutsche Lieblingsargument jener engstirnigen Anhänger des „Vansittartismus", die da meinen, mit einer Anerkennung der deutschen Teilung — also des Zonenregimes — und des sich natürlich daran anschließenden „Disengagement" lasse sich dieses Weltproblem von den Deutschen dann untereinander lösen. Eine solche bequeme Politik käme ledig-

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lieh dem russischen Expansivstreben entgegen und würde „Europas Sorgenkind" nur zwingen, Adenauers großes Werk, das deutsch-westliche Bündnis mit den integrierenden Faktoren, wie EWG und NATO, aufzulösen, um den berechtigten Wunsch nach Wiedervereinigung über ein neues „Rapallo" zu erreichen. Berlin, an dessen alliiertem Status als unveräußerlicher Rechtsgrundlage zunächst festzuhalten sei, bilde für die sowjetische Politik wie auch für die von ihr noch abhängigen osteuropäischen Staaten den Prüfstein, an dem sich die einmütige Stärke und Entschlossenheit des Westens in der Welt demonstriere. So habe Chruschtschow z. B. durch den hingenommenen Bau der Mauer eine psychologische Erschütterung des westlichen Bündnisses erreicht, die erst durch Kennedys Erklärung, für die Freiheit West-Berlins zu kämpfen, wieder beseitigt worden ist. Obwohl die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze der Auflockerung des Sowjetsystems dienen könnte, lehnt M. sie so lange ab, bis die Russen wesentliche Konzessionen machten, die den Deutschen die Hinnahme dieser Grenze psychologisch erleichtern würden. Als Maßnahmen der westlichen Politik schlägt er den kulturellen und wirtschaftlichen Ausbau Berlins vor, das es gilt, so lange als Unterpfand der Freiheit zu halten, bis die Sowjetunion an der Wiedervereinigung mehr interessiert sei als an der Aufrechterhaltung des Zonenregimes bzw. der Ost-West-Spannung. M. zählt nicht nur zu den namhaften Deutschlandkennern der englischen Publizistik, er gehört, wie die hier in Auswahl kurz wiedergegebenen Thesen zeigen, zu jenen politischen Denkern der jüngeren Generation, für die die Verbindung Englands mit dem Kontinent eine kaum mehr zu diskutierende Tatsache darstellt. Verdienst und Bedeutung dieses in der anregenden, auch von der Übersetzung gewahrten Form des politischen Essays geschriebenen Buches bestehen darin, daß es die Berlin- und Deutschlandkrise aus der isolierten Betrachtung, wie sie vielen Berlinbüchem deutschen Ursprungs eigen ist, heraushebt und in den weltweiten Rahmen der internationalen Politik einordnet, wobei es M. gelingt, sachliche Information und die anregende Diskussion verschiedener Lösungsversuche zu verbinden, ohne wohlbegründeten, eigenen Urteilen auszuweichen. Bonn Hans-Heinz Krill de Capello Ruth: Schauplatz Berlin. Ein dt. Tagebuch. — München: G. Lentz 1962. 270 S. DM 12,80.

ANDREAS-FRIEDRICH,

Wolfgang: Kampf um Berlin. — München, Wien: Langen/Müller 357 S. mit Abb. = Das moderne Sachbuch. Bd. 5. DM 12,80.

PAUL,

1962.

S C H O L Z , Arno: Berlin ist eine freie Stadt. Beiträge z. polit. Geschehen d. Gegenwart. (Mit e. Zeitchronik d. Jahre 1956—1960, zus.gest. v. Margot Schwager.) — Bln.: arani Verl.-Ges. 1962. 756 S. DM 18,90.

Klaus-Peter: Berlin zwischen Freiheit und Diktatur. — Bln.: Staneck 1962. 576 S. DM 24,80. SCHULZ,

Alfons: Hintergründe der Berlinkrise. — (Karlsruhe: Condor-Verl. 1962.) 127 S. (Condor-Taschenbuch. Der aktuelle Punkt.) DM 1,90.

DALMA

Die Fortdauer der Berlinkrise seit dem Nov. 1958 hat das Interesse an der „Zeitgeschichte" der deutschen Hauptstadt seit 1945 von Jahr zu Jahr verstärkt und eine in stetem Fluß bleibende Literatur wachgerufen. Auch wenn sie für den Historiker unvermeidlich Züge eines provisorischen Charakters trägt, kann er doch an ihr nicht vorübergehen, weil sie ein sehr lebendiger Spiegel der Ereignisse und der von ihr ausgelösten Tendenzen ist, aber auch weil sie dadurch selbst für ihn in einem späteren Zeitpunkt erheblichen Quellenwert

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besitzen wird. Der Rez. steht vor der Aufgabe, ihre Einordnung sicherlich mit Kritik, vor allem aber mit der Aufmerksamkeit auf das zu vollziehen, was sie zu geben vermag. Die Aufzeichnungen einer Journalistin (Ruth Andreas-Friedrich), die Berlin erst unmittelbar vor dem Ende der Blockade verlassen, dagegen alle kritischen Tage vom Höhepunkt der nationalsozialistischen Diktatur (Sept. 1938) über Kriegsende und Besatzungszeit bis Ende 1948 miterlebt hat, spiegeln die Ereignisse ganz subjektiv, aber mit großer Frische. Sie erhebt nicht den Anspruch, Geschichte zu schreiben, und läßt die Frage offen, wieweit spätere Redaktionen und Ausfüllungen vorgenommen und an dem oft überaus plastischen Detail und nur leicht verschlüsselten Inhalt beteiligt sind. Die Stimmungen eines Kreises, der sich aus grundsätzlichen und bitteren Gegnern des Nationalsozialismus zusammensetzte, sind geeignet, oft überraschende Nuancen der Reaktion auf seinen Druck innerhalb Deutschlands, auf den Verlauf des Krieges und die fortschreitende Zerstörung Berlins wieder in das Gedächtnis zu rufen. Auch die ganze Not und die moralische Aufbauleistung der Jahre 1945—48 kommt so deutlich zum Ausdruck, daß das Buch vor allem ein Gegengift gegen nachträgliche Stilisierung und Idealisierung zu sein vermag. Es ist eine „Quelle", die bei ihrer zum Glück niemals verhehlten Subjektivität kaum „zitierfähig" ist, aber mit Nutzen eingesehen werden kann, um sich die Reaktion lebendiger Menschen auf ein übermächtiges Geschehen zu vergegenwärtigen. Stellt man sich auf diesen Charakter der oft sehr persönliche Dinge berührenden Aufzeichnungen ein, kann man das Buch ohne Ärgernis und sogar mit Dankbarkeit für die lebendige Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse und Probleme benutzen. Die journalistische Beschäftigung mit der Berlinfrage bevorzugt zum großen Teil die Form der Analyse, wie es etwa bei dem Bd. von Arno Scholz der Fall ist. Wolfgang Paul ist als Mitarbeiter von Berliner Zeitungen (1945—48) und seit der Blockade von westdeutschen Blättern dauernd mit der Berlinfrage beschäftigt gewesen und besitzt daher die Unmittelbarkeit der Anteilnahme, die viele Partien seines Buches, besonders die abschließenden Teile über die Jahre 1958—62 prägt. Er hat sich die bescheidene Form einer — im einzelnen locker aufgebauten — Chronik gewählt und benutzt für die Jahre 1945—48 in großem Umfang die ersten beiden Bd.e der unter der Leitung von Albrecht Lampe bearbeiteten Chroniken in der Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte. In den — für den Leser doch wohl anziehenderen — späteren Partien benutzt der Vf. offensichtlich eigene Sammlungen, durch die die Atmosphäre der Berliner Entwicklung seit der Blockade oft recht lebendig eingefangen ist. Man mag bezweifeln, ob die Bezeichnung der „glücklichen Jahre" für die relativ ruhige Zeit von 1954—1958 zutreffend ist. Von heute gesehen ist es doch auch eine Episode der politischen Stagnation in der Berlinfrage gewesen, die, im einzelnen vielleicht wohltätig, im ganzen doch einen über die Realität hinwegtäuschenden Nebel verbreitet hat. Dankenswert ist es aber, daß die Reaktion der Berliner Bevölkerung auf die Entwicklung der neuen Daseinskrise seit 1958 hier sehr lebendig aufgefangen worden ist. Arno Schol^ hat in Fortsetzung früherer Veröffentlichungen seine kritischen Beiträge zur Zeitgeschichte der Jahre 1956 — 1960 in einem sehr umfangreichen Bd. zusammengestellt, der in der Hauptsache aus den Artikeln besteht, die er als Schriftleiter des „Telegraf" geschrieben hat. Damit ist eine Publikation entstanden, die sich nicht nur mit dem Berlinproblem beschäftigt, sondern in diesem besonderen Spiegel auch die allgemeine deutsche Politik in der Beleuchtung der Sozialdemokratie reflektiert, ein Buch also von ebenso außenwie innenpolitischem Interesse, an dem sich noch dazu Rolle und Bedeutung der Publizistik in den behandelten Jahren oft lehrreich nachprüfen läßt. Der Zeitraum umfaßt ja im ganzen eine Reihe von Jahren mit stärksten Spannungen zwischen der Politik Konrad Adenauers und der absoluten CDU-Mehrheit mit der Politik der Sozialdemokratie unter Erich Ollen-

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hauer, eine Lage, die, ausgehend von Berlin, langsam durch den Aufstieg Willy Brandts und den Übergang zum Godesberger Programm der Partei abgewandelt wird. Für den durchschnittlichen Leser, dem die Ereignisse des Tages schnell verblassen, wird die Lektüre des starken Bd.es nicht immer eine leichte Kost bedeuten. Für den Politiker und Historiker, der sich mit der jüngsten Zeitgeschichte beschäftigt, stellt er eine sehr lehrreiche Quelle dar, weil er ihn immer wieder zwingt, in eigener Rekonstruktion den hier mit sehr entschiedenem Urteil vorgeführten Ereignissen nachzugehen. Unter den Berlinbüchern dieses Jahres ist das gleichmäßigste in der Behandlung der Ereignisse seit 1945 und zugleich das umfangreichste das Buch von Klaus-Peter Schul^ über „Berlin zwischen Freiheit und Diktatur". Der Vf. betont zwar, daß er nicht den Anspruch erhebt, die Geschichte der behandelten Zeit von 1945 bis zum Mauerbau des 13. 8. 1961 schreiben zu wollen. Trotzdem bietet das flüssig und fesselnd geschriebene Buch insofern die umfassendste Behandlung des Themas, als das Hauptproblem der Berliner Entwicklung stets die Parallele der west-ostdeutschen Beziehungen und den entscheidenden Hintergrund der weltpolitischen Bedingungen deutlich werden läßt. Es ist ein weiterer Vorzug, daß der Vf. als Schriftsteller und Rundfunkautor in der Bearbeitung der innerdeutschen Kontroversfragen eine wohltuend unabhängige Stellung einnimmt, die auch eine wesentliche Vorbedingung für die Bewertung jener großen außenpolitischen Kontroverse ist, die seit Kurt Schumacher SPD und CDU solange getrennt hat und ihr Verhältnis auch heute noch belastet. Der besondere Standpunkt des Buches ist dadurch gegeben, daß sein Vf. jener studentischen Jugend angehört hat, die in der Geschichte der Blockade und der Gründung der Freien Universität Berlin eine so große Rolle gespielt hat. Er ist noch heute ein Bewunderer sans phrase von Ernst Reuter. Die sich hieraus ergebenden Maßstäbe der Beurteilung treten so deutlich hervor, daß der kritische Benutzer nicht im unklaren bleiben kann. Aus dieser biographischen Voraussetzung stammt auch die wohltuende Bereitschaft zu einem entschiedenen, im einzelnen aber doch auch immer wieder ausgewogenen Urteil. Das gilt etwa für die Behandlung der Kontroverse über die sowjetische Wiedervereinigungsnote von 1952, für die Bedeutung der mehr scheinbaren als wirklichen Entspannung der als „Epigonenzeit" charakterisierten Jahre zwischen 1953 und 1958, aber auch für die Reaktionen Berlins auf die neuen Krisenphasen seit 1958 — im Verhältnis zum deutschen Westen wie zu den Vereinigten Staaten. Auch wenn das Buch völlig auf Auseinandersetzung mit der Literatur und auf einen Anmerkungsapparat verzichtet, vermag der Kundige die Grundlagen, von denen der Vf. ausgeht, meist ohne große Mühe zu erkennen, so daß diese an sich bedauerliche Lücke weder die Freude an dem lebendigen Buche noch die Bereitschaft, es zu benutzen, ernstlich zu trüben braucht. Die seit 1958 permanent gewordene Krise mit dem steten Wechsel ihrer Phasen stellt geradezu eine Herausforderung an den Scharfsinn der Analyse dar. Das bekannte Problem, daß dabei die Zielsetzung des Ostens nur indirekt aus der öffentlichkeitsfront seines Verhaltens abgelesen werden kann, hat zur Folge, daß diese Analysen stets die historische Entwicklung zum Kalten Krieg und den Verlauf des Kalten Krieges seit 1948 als Grundlage für die Interpretation seines jetzigen Standes einschließen müssen. Das Problem im ganzen ist so ein aufreizender Testfall, eine Art Bewährungsprobe für die Verbindung von Zeitgeschichte und politischer Analyse geworden. Nach dem ausgezeichneten amerikanischen Buche, das Hans Speier („Divided Berlin. The Anatomy of Soviet Blackmail", New York 1961) im Auftrage der Rand Corporation schrieb und der knappen — vielleicht nicht typisch englischen —, aber sehr eindrucksvollen Skizze, die John Mander („Berlin, Hostage of Civilisation", Penguin Book, London 1962) dem Problem widmete, hat nun auch ein angesehener deutscher Journalist, Alfons Dalma, 24

Jahrbuch 12

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die Hintergründe des Krisenproblems ebenbürtig behandelt. Wie ihre Vorgänger trägt auch diese Studie den unvermeidlichen Stempel des Provisorischen, da sie die Ereignisse nur bis Ende 1961 verfolgen, also weder die Kubakrise von 1962 noch den Deutschlandbesuch Kennedys und den eben unterzeichneten Vertrag über den Atomteststop von 1963 einbeziehen konnte, Entwicklungen also, die das hier gezeichnete Bild der „abgestuften" Defensive des Westens doch erheblich stärker profiliert haben würden, als es bis Ende 1961 gewagt werden konnte. Naturgemäß muß sich die historische Exposition über die Jahre 1945 — 1958 auf einen Grundriß beschränken, dessen Knappheit aber die großen Phasen doch deutlich erkennen läßt. Das Schwergewicht liegt auf der Analyse des ständigen Flusses der Dinge seit den Noten Chruschtschows vom Nov. 1958. Begreiflicherweise spielt dabei die Unsicherheit, mit der der Westen weniger den Freistadtplan von 1958/59 als die Verhandlungen der Genfer Außenministerkonferenz von 1959 und die Episode von Camp David, vor allem aber die Überraschung des Mauerbaues vom 13. 8. 1961 aufnahm, eine erhebliche Rolle. Eine Fortsetzung würde sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, wieweit 1962/63 eine Festigung der Front eingetreten ist, sofern man nur die Tatsache in Rechnung zieht, daß eine komplizierte Koalition unter schwierigeren Voraussetzungen als der Osten — den Konflikt zwischen der Sowjetunion und China ausgenommen — arbeiten muß. Trotz dieser unvermeidlichen Zeitgrenze gehört das Büchlein zu den lehrreichen Beiträgen, die heute zum Verständnis der Krise vorliegen. Berlin

Hans

Herzfeld

HELLER, Dean and David: The Berlin Wall. — New York: Walker & Co. 1962. IX, 242 S. $ 4.50. Dieses Buch stellt eher eine Information für ein breiteres Publikum dar als eine gelehrte Abhandlung. Trotzdem stützt es sich sorgfältig auf wichtige Dokumentation und auf unmittelbare Beobachtungen und Interviews der Autoren in Berlin. Eines dieser Interviews war mit General Lucius Clay während seines Berlinbesuches 1962 — dieses Interview ist ungekürzt in einem Appendix wiedergegeben. Ein kurzes Vorwort wurde von Konrad Adenauer geschrieben. Die ersten Kapitel stellen die sich vertiefende Krise in Berlin im Sommer 1961 dar und beschreiben dann im einzelnen die Ereignisse, die mit dem Bau der Mauer zusammenhängen. Es folgt ein Bericht über Zwischenfälle, die den Einfluß der Teilung der Stadt und der Errichtung der Mauer auf das Leben der Berliner illustrieren. Dann geben die Autoren einen geschichtlichen Hintergrund für die ständige Berlinkrise, in Kapiteln über die ersten Tage nach dem Zusammenbruch, die Potsdam-Konferenz, die Viermächte-Besatzung, die Blockade, den Juniaufstand in der Sowjetzone (1953) und die Krise 1958. Obwohl die Behandlung dieser Entwicklung kurz ist, ist sie doch genau und informativ. Keine neuen Tatsachen werden gegeben, aber die Autoren behaupten, die ersten zu sein, die auf das Zusammenfallen des Selbstmordes Hitlers mit dem Beginn des Ulbrichtregimes aufmerksam machen. Am 30. April 1945 wurden Walter Ulbricht und andere Spitzen des sog. „Freien Deutschen Komitees" in einem russischen Militärflugzeug von Moskau nach Berlin geflogen. Cbapel Hill, North Carolina Charles B. Robson SCHNEIDER, Walter, u. Horst SIEBECKE: Die Mauer. Eine Dokumentation. Sprecher: Horst Siebecke u. Heinz Schimmelpfennig. — (Gütersloh:) Ariola 1962. Sprechplatte 30 cm, 33 UpM. DM 21,—.

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S C H N U R R E , Wolfdietrich: Die Mauer des 13. August. — Bln.: Staneck 1962. 106 Abb. mit Text. DM 12,80.

S.

SCHOLZ, Arno: Stacheldraht um Berlin. (Unter Mitarbeit v. Gottfried Vetter. 5., verb. Aufl.) - Bln.: arani Verl.-Ges. 1962. 114 S. mit Text. Abb. DM 16,80.

Die Schallplatte, die Walter Schneider und Horst Siebecke im Sept. 1962 herausbrachten, ist ohne jeden informatorischen Wert. An Stelle einer übersichtlich aufgebauten Dokumentation werden willkürlich aus dem Zusammenhang gerissene, heterogene Zitate (Fragmente aus politischen Verlautbarungen beider Seiten) von einem Kommentar überwuchert, der mehr als 50 Prozent dieser „Dokumentation" ausmacht und in seiner Diktion dem Ernst des Sachverhalts nicht gerecht wird. Nonchalance („Ulbricht wird die Klappe zumachen", Flüchtlinge „sickern tropfenweise", die „Roten Hugos" im Lautsprecherkrieg) und sentimentaler Schwulst („Die Zurückbleibenden haben Tränen in den Augen", „die Sprache des Herzens spricht") ergeben einen Reportagestil, der anstatt zu informieren die Emotionen der Zuhörer mobilisiert. Fragwürdig ist auch die Zusammenstellung der musikalischen Dokumente. Außer Kampfliedern der Jungen Pioniere erklingt das Trompetensolo aus dem amerikanischen Film „Verdammt in alle Ewigkeit" als angebliches Leitmotiv der Westberliner. Der Bildbd., den der Westberliner Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre zusammengestellt und kommentiert hat, deutet bereits im Titel an, daß auch Sch. nur das Faktum, nicht aber den historischen Zusammenhang sieht. Für ihn ist die Mauer zu einem autonomen Agens geworden: „Die neue Realität heißt DIE MAUER. Sie kümmert sich nicht um Reminiszenzen; . . .sie trennt nur, und sie zerstört. Woran mag nur der Mauer gelegen sein mit solchem Bemühen? . . . Die Mauer meint: ja." Selbst die Wohnhäuser werden in Mitleidenschaft gezogen: „Die grauen zernarbten Häuser Berlins haben den Atem angehalten; sie lauschen und schweigen." Auch wo Sch. zunächst reine Fakten mitzuteilen hätte, bewirkt er durch pseudodichterische, manierierte Satzkonstruktionen eine falsche Mythisierung. Ortsund Zeitbestimmungen — sofern sie Berlin und den 13. August betreffen — sind an das Satzende gestellt: „Früher sah es anders aus hier." Die traurige Diskrepanz zwischen dem Wohlleben der Westberliner und ihrem Zwang zur politischen Passivität glaubt Sch. rhetorisch folgendermaßen überwunden zu haben: „. . . in unseren Destillen sein Sol-Ei, seine Boulette verzehren, vor unseren Wurstbuden an seinem Schaschlik, in unseren Hühnerbratereien an seinem Hähnchenknochen zu nagen: schon das sind, wie die Dinge in Berlin heute liegen, Demonstrationen." Die stumme Sprache der Bilder verlangt nach Interpretation, hier jedoch wird sie ins Kitschige transponiert. Indem Sch. die Mauer personifiziert, hebt er nicht die Fakten ins Bewußtsein, sondern spiegelt an ihnen die eigene Ratlosigkeit und damit die Unfähigkeit zur Bewältigung der politischen Gegenwart wider. Den Anforderungen an eine Dokumentation wird noch am ehesten Arno Scholz mit seinem Bildbd. „Stacheldraht um Berlin" gerecht, der bereits die 5. Aufl. erreicht hat und auch in englischer, französischer und spanischer Sprache erschienen ist. Die Bildfolge zeigt das Geschehen unter verschiedenen Aspekten. Nur die Kontrastbilder von West-Berlin mit ihrem propagandistischen Kommentar als „Gegenstück zur tristen Provinz-Atmosphäre in Ost-Berlin" schwächen den Gesamteindruck. Am Schluß der Bilddokumentation versucht Sch., eine historische Entstehungsgeschichte der Ereignisse um den 13. August 1961 zu geben. Er beginnt mit der Beendigung der Blockade im Frühjahr 1949 und schließt mit der Aktion „Licht an die Mauer" vom Dez. 1961, konzipiert als „Chronik des erneuten Versuches der Eroberung Berlins". Berlin Ilsedore Rarisch 24 i

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GEBIETE

Verletzungen der Menschenrechte, Unrechtshandlungen und Zwischenfälle an der Berliner Sektorengrenze seit Errichtung der Mauer (13. Aug. 1961—15. Aug. 1962). Im Auftr. der Bundesregierung hrsg. — Bonn: (Lennestr. 1), Bln.: Bundesministerium f. Gesamtdt. Fragen 1962. 27 S., 4 Bl. Abb. mit Text, 1 Kt., 4°. Nicht i. Buchhandel. Nach Erörterungen zur westlichen Rechtsposition verzeichnet die Darstellung, sachlich und chronologisch gegliedert, die Konsequenzen der auf östlicher Seite seit August 1961 bestehenden Anordnungen und Befehle. Neben statistisch ermittelten wirtschaftlichen Folgen halten gesonderte Abschnitte Zwischenfälle, Fluchtdaten sowie Verletzungen der Menschenrechte und Verbrechen gegen Leib und Leben fest, mit deren juristischer Verfolgung die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen" in Salzgitter betraut ist. Ob die Sprache eines letztlich doch formelhaften politischen Pathos in der Einleitung des Heftes dem Grauen der Wirklichkeit gerecht wird, ist fraglich. (Auf S. 11 heißt es z.B. zur Flucht östlicher Soldaten: „Jedes dieser Schicksale ist ein nationales Dokument. . .") Eine nicht unbedenkliche politische Fahrlässigkeit begegnet zu Beginn auf S. 7 mit der Feststellung: „Berlin liegt etwa 170 km von der Bundesrepublik entfernt. . ." Berlin

Hans Martin

Barth

Wir von der Spree. Berliner Lesewerk. (Hrsg. v. Georg Müller) Bd. 3: Heimat Berlin. Lesebuch f. d. 4. Schuljahr. 2. Aufl. — Bln., Frankf./M.: Diesterweg 1962. 159 S. mit Abb. DM 5,60. Die Textauswahl für das Lesebuch des heimatkundlichen Gesamtunterrichts im 4. Schuljahr ist im wesentlichen unter gemeinschafts- und naturkundlichen, historischen und heimatkundlichen Gesichtspunkten getroffen worden und entspricht damit den im Bildungsplan für Berliner Grundschulen vorgeschlagenen Stoffgebieten für dieses Schuljahr. Da die Texte in erster Linie den Anforderungen im Leseunterricht zur Pflege der Muttersprache genügen müssen, ist häufig auf spezifische Sachtexte zur Geschichte und Heimatkunde Berlins zugunsten sprachlich gut durchgestalteter Erzählungen verzichtet worden, die aber in Verbindung mit den Sachinformationen aus dem Heimatkundebuch kindgemäße und lebendige Einblicke in die Geschichte Berlins gewähren. Berlin

Annemarie C^ada

HOFFMANN, Waldemar, u. Georg MÜLLER: Berlin, einst und jetzt. (Zeichn. v. Gerhard Steffen. 3. Aufl.) - Bln., Frankf./M., Bonn: Diesterweg 1962. IV, 52 S. DM 1,80. Das in 3. Aufl. vorliegende Heftchen ist für den Schulgebrauch bestimmt und versucht in Dialogform mit der Vergangenheit der Stadt vertraut zu machen. In der Ubersichtstafel sollte es am Anfang heißen: „Erstes Berliner Stadtsiegel" (statt Wappen). Ebenso ist die Zeile „Erniedrigendes Wappen für Berlin (1450)" zu beanstanden. Eine solche Ausdeutung des Siegelbildes ist abzulehnen. Berlin Johannes Schult^e MÖRSDORF, Josef: Kirchliches Leben im alten Berlin. Von d. Glaubenseinheit z. Glaubensstreit u. z. Anbahnung religiöser Duldung. — Bln.: Morus 1962. 174 S., 27 Abb. i. Text u. 12 Bildtaf. DM 12,50. Das decus ecclesiae ist Leitmotiv der Schrift. Dadurch wird auch Auswertung der Quellen und Literatur bestimmt. Z. B. darf man die bekannte Bemerkung des anderweitig heran-

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BERLIN

gezogenen Berliner Stadtbuches über das schlechte Verhältnis zwischen Laien und Priestern hier nicht erwarten. Auf die einseitige Literaturbenützung gründet sich wohl auch die unberechtigte Rückführung des Namens Cölln auf ein slawisches „Kolm", weshalb der Vf. anscheinend die sonst nicht übliche Schreibung Kölln gebraucht. Die Darstellung der mittelalterlichen Verhältnisse ist, abgesehen von den eingehenden Personalien, ziemlich dürftig. Fast grotesk erscheint die Anführung des Kreuzberges als Zeugnis für die Religiosität der alten Berliner. Bekanntlich erhielt der „alte Weinberg" diesen Namen erst im 19. Jh. In Berlin und Cölln gab es nicht zwei getrennte Propsteien, die Vereinigung beider Städte 1307 war nur vorübergehend, auch gab es kaum einen ständigen Sitz eines bischöflichen Offizials in Berlin. Die Ermordung des Bernauer Propstes erfolgte 1324. Etwas seltsam berührt die Feststellung: „Auch in der Rechtspflege waren Geistliche tätig. Gegen Ende des Mittelalters gab es in Berlin viele Geistliche." Der größte Teil ist der Zeit Joachims II. gewidmet, durch den der kirchliche Unfrieden in die Mark einzog. Abgesehen davon, daß kaum beachtet wird, daß die Handlungen Joachims II. sehr stark unter dem Druck aus Kreisen der Stände und Bevölkerung standen, kann ich der kritischen Beurteilung der Handlungsweise und des Charakters dieses Kurfürsten nur zustimmen, im besonderen gilt dies auch für Einschätzung und Lokalisierung der viel umstrittenen ersten Abendmahlsfeier, für die ich auch aus ähnlichen Erwägungen an Spandau festhalte. Zu der zuletzt von Dürks vorgebrachten, meines Erachtens ganz verfehlten Lösung, der sich unter anderem auch Hoppe anschloß, wird Stellung nicht genommen, vermutlich entging dies dem Vf. Von unterlaufenen Irrtümern sei noch berichtigt, daß Joachim II. nicht die Erziehung „des Abtes Trittenheim unterstützt durch die unablässigen Bemühungen des Kardinals Albrecht" genossen hat. Bei dem einmaligen Besuch des Abtes in Berlin war der Kurprinz noch nicht ein Jahr alt und Albrecht noch nicht geistlich. Der mit vielen Anmerkungen unterbaute Uberblick endet mit der Charakterisierung der Haltung Friedrichs d. Großen. Bezüglich Joachims II. verweise ich auf meine Darstellung in dem demnächst erscheinenden Bd. 4 „Die Mark Brandenburg". Berlin

Johannes

Schuhte

POMPLUN, Kurt: Berlins alte Dorfkirchen. Mit 38 Abb. u. 20 Taf. — Bln.: Hessling 1962. 80 S. = Schriften z. Berliner Kunst- u. Kulturgeschichte, 3. DM 7,50. Innerhalb der üppig gedeihenden Berlin-Literatur nimmt dieser kleine Bd. eine besondere Stelle ein: erfüllt er doch den längst empfundenen Wunsch nach einem wissenschaftlich fundierten Führer durch die alten Kirchen, die in vielen Fällen die letzten noch erhaltenen steinernen Zeugen für die Geschichte der dörflichen Umgebung Alt-Berlins von ihren Anfängen in der Kolonisationszeit bis zu ihrem Aufgehen in Groß-Berlin bilden. Der letzte Bearbeiter des Themas, W. C. Türck (1950), hatte einen ansprechenden Bildbd. geschaffen, dessen Textteil nur zusammenfassend (wenn auch kenntnisreich) über die Kirchen berichtete und im übrigen mehr im Plauderton für seinen Gegenstand werben als einen wissenschaftlichen Führer abgeben wollte. Der vorliegende Bd. bietet dagegen — wie schon eine frühere Arbeit des Vf.s für den Bereich des Teltow — vor allem einen beschreibenden Katalog der echten Berliner Dorfkirchen, d. h. derjenigen 55 Kirchen, die auf dem Boden des modernen Groß-Berlin in der Zeit der dörflichen Existenz ihrer Gemeinden entstanden sind. Für diesen seinen Bereich steht das Bändchen vorläufig an der Stelle der noch fehlenden Berliner Inventarbd.e. — Nach einem kurzen Überblick über die Siedlungsgeschichte der Kolonisationszeit, in dem er entgegen neueren Auffassungen mit W. Hoppe den Beginn deutscher Herrschaft im Berliner Raum erst um 1230 ansetzt (S. 5 —7), beschreibt der Vf. zunächst die

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verschiedenen Bautypen (in Anlehnung an E. Bachmann), Baumaterial und Technik (S. 7 — 19). Uber Bachmann hinaus hält er die vierteilige, sog. vollständige Anlage (Turm, Langhaus, Chor, Apsis) für älter als die übrigen Typen, in erster Linie die einräumige Saalkirche. Wie schon H. Ehl gilt ihm eine sorgfältige Bearbeitung des Feldsteinmaterials als Merkmal früher Entstehung. — Der Katalog als Hauptteil des Bändchens (S. 21 —77) beruht auf der einschlägigen Literatur, vor allem aber auf eigenen örtlichen Forschungen, z. T. an im Kriege beschädigten, im Mauerwerk freigelegten Bauten, wie sie heute nach der Wiederherstellung nicht mehr möglich wären. Formal hält sich der Katalogteil an das Vorbild der bekannten kunstwissenschaftlichen Führer ähnlicher Anlage, macht aber leider keinerlei Angaben zur Ortsgeschichte, sondern beschränkt sich auf analysierende Beschreibung und stilgeschichtliche Einordnung der Bauwerke. Dabei gelangt er nicht selten zu neuen Datierungen. Mag man auch hie und da anderer Meinung als der Vf. sein, so wird man seine Ansicht doch als die eines ausgezeichneten Kenners stets sorgfältig zu erwägen haben. Wertvoll sind die den meisten Objekten beigegebenen Grundrisse im einheitlichen Maßstab von 1 : 400, die durch Aufrisse, Textabbildungen und gut ausgewählte Tafeln (einige von Seltenheitswert) ergänzt werden. Alles in allem dürfen wir uns beglückwünschen, daß ein bisher stark vernachlässigter Gegenstand hier einen so sachverständigen Liebhaber und Bearbeiter gefunden hat. Berlin

Maria-Elisabeth

Fritze

Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk. Hrsg.: Paul Ortwin Rave. Bd. 11. Paul Ortwin Rave: Berlin, T. 3: Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler. — Bln.: Dt. Kunstverl. 1962. 378 S. mit 400 Abb. DM 63,—. Der Hinweis auf den dritten Berlinbd. in der großen, 1930 begonnenen Unternehmung, das Lebenswerk K. Fr. Schinkels in seinem ganzen Umfang zu veröffentlichen, kann nicht ohne ein Gefühl der Trauer gegeben werden; denn P. O. Rave, sein Autor und zugleich verantwortlicher Redaktor des Unternehmens überhaupt, hat die Vollendung seiner Arbeit nur wenige Monate überlebt. Aber es ist ihm vergönnt gewesen, seinen Anteil an einem seit drei Jahrzehnten betriebenen Werk als abgeschlossen betrachten zu dürfen. Erinnern wir uns kurz der beiden vorhergehenden, die Berliner Tätigkeit Sch.s behandelnden Publikationen. 1941 trat P. O. Rave mit dem ersten dieser Bd.e hervor, der den großen Staatsbauten, vor allem dem Museum und dem Schauspielhaus gewidmet war. 1948 konnte der zweite Bd. vorgelegt werden, der die städtebaulichen Bemühungen Sch.s (Tore, Brücken, Plätze usw.) zusammenfaßt. Der 1962 erschienene, hier eingehender zu betrachtende Bd. handelt nun von den verschiedensten behördlichen, militärischen und privaten Bauten. Denkmäler, Bildhauerentwürfe undFestausstattungen bilden den Abschluß. Es sind nur die Objekte aufgenommen, die innerhalb der Grenzen des damaligen Berlin geplant oder ausgeführt wurden. Wie in den schon erschienenen Bd.en ist auch hier auf die historische Würdigung und stilistische Einordnung der behandelten Bauten weitgehend verzichtet. Die Absicht war, die Objekte allein durch Mitteilung der erhaltenen Zeichnungen und sonstigen Abbildungen wie durch Akten, Briefe und literarisches Material vorzustellen. Persönliche Mitteilungen Sch.s werden in heutiger Rechtschreibung ungekürzt wiedergegeben. Ein derart Behandeltes und Geordnetes kann nun von den verschiedensten Standpunkten her, auch von dem des Historikers, unmittelbar benutzt werden. Es liegt jedoch in der Natur des Verfahrens, daß die Komposition eines solchen Bd.es nicht immer in bezug auf die Bedeutung einzelner

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Gegenstände ausgewogen sein kann, da eben die Menge des Erhaltenen den Umfang der einzelnen Kapitel bestimmt. Unter den Abschnitten sind die beiden ersten, die sich mit den Bauten für Behörden und Dienststellen befassen, von besonderem Gewicht. Es ist die Zeit, in der sich die verschiedenen Typen des öffentlichen Verwaltungsgebäudes, das durch die französische Revolution zur besonderen Aufgabe für die Gesellschaft und die Architekten wurde, konstituieren. Eine kurze, gehaltvolle Einleitung unterrichtet über den Sinn- und Formwandel dieser behördlichen Gebäude in Preußen. In den ersten Kapiteln bilden neben interessanten Bauten, wie der Sternwarte am Enckeplatz und Entwürfen für den geplanten Umbau des Berliner Rathauses, jene Bauten Sch.s den Schwerpunkt, die entsprechend der fortschrittlichen Aufgabe und dem Genie des Architekten als erste Stufen unserer Gegenwartsarchitektur bezeichnet werden dürfen. Der Weg zu Peter Behrens und seinem Kreis, dem Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier angehörten, ließe sich leicht mit diesen der Bestimmung und Form nach weit vorausschauenden Werken, die denn auch meist am Unverstand und spätromantischer Restauration scheiterten, nachzeichnen. Es sind das besonders die Entwürfe für ein ohne klassizistisches Bildungspathos gegebenes Bibliotheksgebäude, das leider nur Entwurf blieb, die vor kurzem sinnloserweise abgerissene Bauakademie (Allgemeine Bauschule), dann der den Museumsbauten geopferte, den Städtebau Sch.s dokumentierende Packhof und schließlich der für jene Zeit in Berlin unerhörte Vorschlag für ein öffentliches Kaufhaus, eine Zusammenfassung verschiedener Kaufläden zu einem einzigen Verkaufszentrum. Die eingesetzten Formmittel mit ihrer gleichmäßig gereihten, gerüstartig mechanisierten Eleganz sind durchaus neuer Art und verlassen die verläßlichen Pfade eines anspruchsvollen, aber ausgeleerten Klassizismus. Neben diesen Schrittmachern zu einer aus staatlichen und gesellschaftlichen Gründen noch nicht erreichbaren und durchaus fernen Zukunft steht im Kapitel der Heeresbauten, an denen Sch. sonst nicht allzu aktiv teilnahm (Exerzierhäuser), ein frühes, in Form und Absicht durchaus noch klassizistisches Frühwerk von hohen Graden, das sein populärstes geworden ist, die Königswache Unter den Linden. Vorgeschichte, Ausbau und späteres Schicksal werden auf Grund der Akten und Zeichnungen auf 30 Seiten gemäß der Bedeutung des Objektes ausführlich behandelt. Von den in diesem Abschnitt vorgestellten Militärbauten sei die durch konsequente Ziegelanwendung und gleichmäßige Reihung mächtiger Achsen großartige Militärarrestanstalt in der Lindenstraße besonders erwähnt, da auch sie — obwohl noch verhältnismäßig früh (1818) — zu den zukunftweisenden Werken des Meisters zählt. Auch dem Kapitel „Wohnhäuser" ist eine interessante Einleitung über die Wachstumsquote des damaligen Berlin vorausgeschickt. An den etwa 100 neuen Wohnhäusern im Jahr hat Sch. nur einen sehr geringen Anteil, wenn man die Bauten für die preußischen Prinzen, die in den entsprechenden Bd.en des Schinkel-Werkes bereits von Johannes Sievers mit außerordentlicher Präzision bearbeitet wurden, nicht berücksichtigt. Unter den verschiedenen hier behandelten Privatbauten, unter denen das Haus Steinmeyer in der Friedrichstraße als Jugendarbeit von Interesse ist, nimmt das städtebaulich wundervoll eingesetzte Palais des Grafen Redern am Beginn der Linden, an der Stelle des späteren Hotel Adlon, einen besonderen Platz ein, obgleich es sich nur um den Umbau eines alten Hauses handelte. Hier konnte der Architekt seine Vorstellungen von repräsentativer Wohnarchitektur entwickeln, die sich bewußt asymmetrischer, den Forderungen einer spätbarocken Adelsarchitektur ganz enthobener Anordnungen bedienten. Das andere bedeutende Stadthaus ist ein bürgerliches Mietshaus, das Haus des Fabrikanten Feilner. Es gibt dem seit dem Ausgang des 18. Jh.s sich entwickelnden Berliner Typus, der das spätere Stadtbild nicht eben glücklich

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bestimmen sollte, künstlerische Gestalt, bei der die Bemühung, das „Berliner Zimmer" zu vermeiden, wegen der Legende, Sch. habe es erfunden, beachtenswert ist. Die schöne klare Backsteinfassade mit dem gleichmäßigen, in der Fabrik Feilners hergestellten keramischen Fensterrahmen- und Brüstungsschmuck zeugt ebenfalls von jenen neuen Methoden mechanisierenden Fortschritts. Von den wenigen für die Randgebiete des damaligen Berlin bestimmten ländlichen Wohnbauten ist das Haus des berühmten Chirurgen Dr. Graefe, das 1824 im Nordwesten des Tiergartens entstand, das bedeutendste. Ein anderes, viel kleineres Landhaus projektierte Sch. 1820 für den Seidenfabrikanten Gabain, das — als freundschaftliche Gabe gemeint — leider nur Entwurf blieb. Denn in ihm sind alle glücklichen Geister der Sch.schen Erfindungskraft in anmutigster Weise wirksam gewesen. Ob es richtig war, diesen Abschnitt über Wohnbauten mit den von Sch. veröffentlichten Entwürfen für städtische Wohnhäuser abzuschließen, ist nicht leicht zu entscheiden. Dem Rez. will scheinen, daß es sich bei diesen Entwürfen trotz der wenigen Hinweise auf Berliner Situationen mehr um Lehrbeispiele handelt, die man dem dafür vorbehaltenen Bd. hätte zuweisen sollen. Sie machen bei aller Vornehmheit der angewandten Mittel einen akademischen, dem unmittelbaren Leben abgewandten Eindruck. Natürlich vermitteln sie eine gewisse, aber immer wieder zu korrigierende Vorstellung, wie sich Sch. städtische Wohnhäuser für die verschiedensten Stände und Zwecke ausgestaltet dachte. In diesem Sinne mögen sie immerhin den Abschluß dieses nicht sehr ertragreichen Abschnittes bilden. Das letzte große, über 100 S. reichende Kapitel ist unter dem Gesamttitel „Denkmäler" auch anderen durch plastische Gestaltung verwandten Gegenständen gewidmet. Die Entstehungsgeschichte des Eisernen Kreuzes eröffnet recht angemessen die Reihe, in der das Kreuzbergdenkmal mit 16 S. und die interessanten, für Sch.s Vorstellung von Heldenehrung und städtebauliche Tendenzen gleichermaßen wichtigen Versuche, ein Denkmal für Friedrich d. Großen zu schaffen, mit 19 S. den Hauptanteil haben. Die Entwürfe für Grabmäler, unter denen das bedeutende Scharnhorstdenkmal besonderer Erwähnung bedarf, sind im sehr umfangreichen Kapitel „Grabmäler" zusammengefaßt. Entwürfe für Bildhauer und Gelegenheitsarbeiten bilden den Abschluß, ein Abschnitt, der die ganze Problematik deutlich macht, in der die Bildhauerkunst jener Jahrzehnte stand. Wie das etwas disparate Material dieses Abschnittes mit großer Ordnungskraft überschaubar und benutzbar gemacht wurde, so wird man das auch für die Anlage des ganzen Buches, ja für die Ordnung der drei Berlinbd.e überhaupt mit großer Bewunderung aussprechen müssen, auch dann, wenn man mit einem Blick über das großartig Geleistete den Wunsch nicht ganz unterdrücken kann, der Charakter reiner Dokumentation möchte reiner bewahrt und nicht immer wieder von dem an sich schönen Enthusiasmus des verewigten Autors geschwächt worden sein. Berlin Hans Junecke CYRAN, Eberhard: Das Schloß an der Spree. Die Geschichte eines Bauwerks und einer Dynastie. — Bln.: Blanvalet 1962. 387 S. mit Abb. DM 25, — . Es wäre ein nützliches Buch, hätte sich der Vf. auf die Geschichte der Bauten (nach dem vorzüglichen Werk von A. Geyer) und deren Umgebung und auf die unmittelbar damit verbundenen geschichtlichen Ereignisse beschränkt. Der geschichtliche Rahmen, in den die Baugeschichte gestellt wurde, macht in seiner Art das Buch unerfreulich. „Die Geschichte einer Dynastie" ist ganz auf Sensation abgestellt und, da sie sich vorwiegend kritiklos auf Klatsch, literarische Erzeugnisse und entsprechende Literatur stützt, reich an Irrtümern und Zerrbildern, von denen das des Kurfürsten Albrecht vielleicht auf das Konto der hierbei

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verunglückten neuen „Berliner Heimatchronik" zu setzen ist. Es können aus der Fülle solcher Erscheinungen nur einige Proben zur Charakterisierung hier Mitteilung finden: Karl der Große dehnte „seine blutigen Wallfahrten" „bis potsdupimi" (Potsdam) aus (S. 9); im Berlin des 15. Jh.s gab es nur „hölzerne oder lehmgefügte, mit Stroh und Schindeln gedeckte Hütten" (S. 10) (damals stand u. a. schon das Hohehaus); fürstliche Residenz war bis ins 15. Jh. n. Chr. die Stadt Brandenburg/Havel (S. 10/11), wo bekanntlich nie ein Markgraf residierte; das angebliche Vermächtnis des Joh. Cicero ist eine literarische Erfindung (S. 22); der Brandenburger Bischof Hieronymus hat sich nicht als „der eigentliche Regent" in der Mark aufgeführt (S. 25); die Reformation hielt nicht 1535 „Einzug in die Marken" (S. 35); nicht erst um 1550 wurde es „Mode, sich zu baden" (S. 47), im Gegenteil, da kam man gerade davon ab; die schlesische Gemahlin des Kurf. Joh. Georg hatte nur einen Sohn, nicht 23 Kinder (S. 54); Kurf. Georg Wilhelm litt nicht schon als junger Mann an Wassersucht, starb aber daran 1640 in Königsberg und nicht schon zwei Jahre früher auf einer Reise dorthin an Gift (S. 83); Gustav Adolf fiel in der Schlacht und wurde nicht „durch eigene Getreue" „ermordet" (so S. 77); „Rixdorf-Neukölln" soll unter dem Großen Kurfürsten vor der Mauer der Residenz entstanden sein (S. 96); Trenck war nie Adjutant des Königs, und die angebliche Liebschaft mit Prinzeß Amalie (S. 252) ist als Fabel längst erwiesen . . . usw. usw. Dies dürfte als Hinweis für den Leser genügen, daß landesgeschichtliche Informationen nicht aus diesem Buch zu ziehen sind. Bemerkt sei noch, daß eine Baugeschichte nicht nur ein Personenregister, sondern auch einen Nachweis der Baulichkeiten, wie ihn Geyer bringt, erfordert. Berlin

Johannes Schult%e

W E L C H E R T , Hans-Heinrich: Die glückselige Straße. Geschichte u. Geschichten „Unter den Linden". - Boppard/Rhein: Boldt 1962. 339 S. mit Abb. DM 1 8 , - .

In diesem schon 1949 erschienenen und jetzt in einer Neuausgabe herausgebrachten Buch sind in 31 nach Form und Inhalt sehr unterschiedlich gestalteten Skizzen Ereignisse aus der Geschichte Berlins und Preußens aus der Zeit von 1673 bis zur Gegenwart angedeutet. Meist sind sie an biographische Darstellungen von Männern und Frauen, deren Beziehungen zu Berlin und der Straße Unter den Linden oft nur lose und entfernt waren, geknüpft: u. a. die Tänzerin Barberina, Chodowiecki, Schiller, Wrangel, Pauline César, die Geliebte des Prinzen Louis Ferdinand, Fichte, Blücher, Schinkel, Fürst Pückler, Alexander v. Humboldt. Dazwischen eingestreut sind Abschnitte über die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die Universität, die Schlacht bei Groß-Beeren und das Opernhaus. Es sind Streiflichter zur Politik und Kultur in Preußen und Deutschland mit vielfachen Ausblicken auf unsere Zeit. Wer in diesem Buch etwas über die Straße Unter den Linden sucht, wird enttäuscht. Er findet nur wenige vage Bemerkungen über ihren Zustand in den einzelnen Zeitabschnitten und fast nichts zur Geschichte ihrer Gebäude. Berlin Hans Branig S T E N G E L , Walter: Guckkasten. Altberliner Curiosa. — Bln.: de Gruyter 1962. VIII, 191 S. mit Abb. = Die kleinen de-Gruyter-Bände. Bd. 1. DM 18, — .

Unter dem Titel „Guckkasten" ist eine Sammlung von kulturhistorischen Skizzen vereinigt, die die Geschichte einzelner Kleidungsstücke, verschiedener Arten von Uhren und von Spielzeug behandeln. Ein anderer Aufsatz beschäftigt sich mit Silhouetten und ein letzter mit dem Guckkasten und der Laterna magica. Dieses aus dem Nachlaß des einstigen

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Direktors des Märkischen Museums zusammengestellte Werk bietet mehr als nur „Altberliner Curiosa", wie der Untertitel besagt. Wenn auch Zeugnisse vom Leben im alten Berlin den meisten Stoff liefern, die Strömungen der Mode waren auch in früheren Zeiten international, und so zieht Stengel dann für seine Studien auch manches Beispiel aus anderen Städten heran. Obgleich ein breites Wissen verratend, sind die Aufsätze dennoch nichts weniger als umständliche gelehrte Abhandlungen. St. belehrt, indem er durch eine Aufreihung von dokumentarisch bezeugten Einzelheiten den Leser amüsiert. Banale Ereignisse des Alltags, beispielsweise den Diebstahls- oder Fundprotokollen entnommen, lassen winzige Ausschnitte der Vergangenheit in überraschender Nahsicht erscheinen. Es ist das gleiche Prinzip, mit dem auch einem kulturhistorischen Museum seine eigentümliche, nicht immer von Komik freie Lebendigkeit verliehen wird; kleine zufällig erhaltene Fragmente werden zusammengetragen und bieten der Phantasie Fixpunkte für die Rekonstruktion eines großen Zeitbildes. Man spürt in dem Buch den Museumsmann und seine ansteckende Begeisterung für den Reiz alter Dinge. Berlin

Helmut

Börsch-Supan

Berlin als Musikstadt. Die Jahre 1910—1960. (Nebst Schallplatte.) — Freiburg i. Br.: Fono Verl.-Ges.; Bern, München: Francke 1962. 32 S. = Zugänge, 2. DM 9,80. Im 1. der drei Aufsätze dieses Heftes vermittelt der Komponist Heinz Tiessen ein aus persönlichem Erleben geformtes Bild der „música nova" und ihrer engen Beziehung zum Berliner Musikleben zwischen der Jh.wende und dem Ende der Weimarer Epoche. Die zentrale Stellung und überragende Bedeutung im Bereich der Musik verdankte die Stadt nicht zuletzt ihren Orchestern und den bedeutenden Interpreten, deren Wirken in Berlin das Thema des folgenden Aufsatzes von Friedrich Herzfeld bildet. Sabine Jahnke umreißt anschließend Neubeginn und Wiederaufstieg des Berliner Musiklebens nach dem Kriege. Ein Schallplattenverzeichnis mit Aufnahmen Berliner Orchester beschließt diese in erster Linie Musikliebhabern zugedachte Textsammlung. Berlin

Peter

C^ada

Stuckenschmidt, Hans Heinz: Boris Blacher. — Bln., Wiesbaden: Bote Sc Bock 1963. 64 S . mit Abb. DM 9,80. Die vorliegende biographische Studie ist ein Präsent des Verlages zu Blachers 60. Geburtstag. H. H. Stuckenschmidt, vielfach bewährt als knapp charakterisierender Musiker-Porträtist, hat es unternommen, die wichtigsten Stationen auch dieses Lebensweges nachzuzeichnen. In seiner Darstellung vermischt sich anekdotischer Bericht mit kurzen, instruktiven Werkbetrachtungen. B.s Tätigkeit als Komponist und Musikpädagoge ist eng mit Berlin verbunden. In China als Sohn deutsch-baltischer Eltern geboren, kam er schon 1922 in die alte Reichshauptstadt, der er bis heute trotz weltweiter Wirksamkeit die Treue gehalten hat. Daß B. seit 1953 als Direktor der Musikhochschule eine der bedeutendsten Funktionen innerhalb des Berliner Musiklebens ausübt, erfährt der Leser freilich nicht, was angesichts der detaillierten Aufzählung anderer, zuweilen nur kurzfristiger Tätigkeiten einigermaßen erstaunlich anmutet. — Ein von H. Kunz sorgfältig zusammengestelltes Werkverzeichnis ist eine willkommene Ergänzung des sauber gedruckten und mit zahlreichen Abbildungen ausgestatteten Bändchens. Berlin

Arno

Forcbert

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Max Wachlet. Sein Leben. Erinnerungen, von ihm selbst aufgezeichnet, und anderes. — Lüneburg: Als Ms. gedr. bei Otto Baum & Sohn 1961. 99 S. 1910 hatte Max Wachler gemeinsam mit seinem Bruder, dem Schriftsteller und Begründer des Harzer Bergtheaters am Hexentanzplatz in Thale, Ernst Wachler, die umfangreiche „Chronik der Familie Wachler" veröffentlicht, die den Schicksalen dieses Geschlechts in Thüringen, Schlesien und Berlin nachgeht. Erst nach dem Zusammenbruch begann er 1945 in Bad Harzburg mit seinen Lebenserinnerungen, die er noch kurz vor seinem Tode (31. März 1960) abschließen konnte. Max W. ist 1878 als Sohn des Kreisgerichtsdirektors Ludwig W. in Wesel am Niederrhein geboren. Den größten Teil seines Lebens hat er jedoch in Berlin verbracht. Die Schulzeit in Posen (1888 — 1892) und Freienwalde (1895 — 1900) und das Sommersemester 1900 in Freiburg bilden nur kurze Unterbrechungen der Berliner Jahre. Berlin war Max W.s berufliche Wirkungsstätte als Jurist — zuletzt Landgerichtsdirektor — und vor allem als Schriftsteller, Vortragender und leidenschaftlicher Vorkämpfer der Reinheit der deutschen Sprache. Den Deutschen Sprachverein hat er nach 1945 in Lüneburg als Gesellschaft für deutsche Sprache neubegründet; und in den Zeitschriften dieses Vereins, vor allem der „Muttersprache" und den „Märkischen Sprachblättern", hat W. zahlreiche sprachgeschichtliche, biographische und historische Aufsätze veröffentlicht. Als Wegbereiter des Dichters Paul Ernst ist er bekannt geworden. Wenn wir an dieser Stelle auf seine Lebenserinnerungen hinweisen, so vor allem wegen ihrer wesentlichen Beiträge zur Geschichte Berlins in den Jahren 1879 — 1945. Wer das Werden und Wachsen dieser Stadt und vor allem seiner westlichen Vororte verfolgen will, wer kluge Worte über das geistige, insbesondere schulische und künstlerische Leben der Reichshauptstadt, über deren bedeutendste Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst, über wiederholte Begegnungen mit Hindenburg und anderen Gestalten seiner Zeit nachlesen will, der greife zu W.s Lebenserinnerungen, die über das Persönliche hinaus von allgemeinem Interesse sind. — Dem von der Tochter hrsg. Lebensbild sind Auszüge aus Glückwünschen zu W.s 70., 75. und 80. Geburtstag, aus Beileidsbriefen anläßlich seines Todes (dem kurz darauf der seiner Witwe Clara geb. v. Kamptz folgte) und eine Bibliographie seiner wichtigsten Aufsätze und Besprechungen in den vorgenannten Zeitschriften (1928-1942) beigegeben. Bonn

Roland

Seeberg-Elverfeldt

Herbert, u. Eva W I S T E N : Eduard von Winterstein. 2., veränd. Aufl. — Bln.: Henschel 1962. 75 S., S. 3 9 - 7 0 Abb. = Theater u. Film. Bd. 1. DM 4,50. IHERING,

Eine kleine Ikonographie, darin 32 z. T. mimisch recht instruktive Rollenbilder aus den Jahren 1903 bis 1955, die aber ungleich über die Lebensalter verteilt sind, so daß zwischen 1924 und 1945 nur ein Bild (1937) steht. Einleitend gibt E. Wisten eine wesentlich biographisch verfahrende Würdigung, die sich auf Wintersteins Erinnerungsbuch stützt. Als Vorwort dienen ein paar konzentrierte und treffende Abschnitte H. Iherings. Berlin Wolfgang Baumgart Fritz: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit. — Rastatt/Baden: Grote 1962. 723 S. DM 3 6 , - . TOBIAS,

Der Urheber der Spiegelsensation von 1959 über den „Reichstagsbrand" hat sein damals gegebenes Wort eingelöst, das Ergebnis seiner umfassenden kriminalistischen

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Nachprüfungen des Ereignisses vom 27. 2.1933 in einer Vollständigkeit vorzulegen, die eine kritische Nachprüfung nicht nur gestattet, sondern zweifellos fordert. Das Problem besitzt eine immerhin so weitgehende Tragweite, daß hier trotz der lokalen Bindung an Berlin als Ort der Handlung, die es nicht gestattet, das Buch in diesem Jahrbuch zu übergehen, kaum der Platz ist, es im einzelnen zu besprechen. Soviel muß aber doch gesagt werden, daß die Summe der durch Tobias erreichten Ergebnisse außerordentlich groß ist. Er hat sicherlich die These entkräftet, daß die Brandlegung unter keinen Umständen von einem einzelnen hätte durchgeführt werden können. Von der langen Kette der Zeugnisse für eine Brandstiftung durch Mitglieder der NSDAP, von Göring angefangen, bleibt danach wenig oder nichts übrig; das Zeugnis von Rauschning hat doch offensichtlich seine Beweiskraft verloren, die Aussage Halders bleibt so isoliert übrig, daß sich — angesichts der in dem Buche bewiesenen Suggestionskraft der Anklagen gegen die Partei — Zweifel auch ihm gegenüber anmelden. Der Ursprung der Braunbücher — die Rolle vor allem Willi Münzenbergs — ist so weitgehend geklärt, daß sie in der Tat nahezu preisgegeben werden müssen. Es ist sicher nicht zutreffend, wenn der Vf. seinem Ergebnis eine Tragweite zuschreibt, die das Bild der Geschichte des Nationalsozialismus grundlegend verschieben würde. Wenn bei ihm die „brennende" Furcht der Parteiführung vor einem kommunistischen Gegenstoß gegen die Machtergreifung außerordentlich hoch bewertet wird, so bleibt doch bestehen, daß die sie — nach T. — überraschende Brandstiftung van der Lübbes nicht mehr als das höchst willkommene Startsignal für alle von ihr gezogenen Folgerungen gewesen ist, mag auch die Form ihres Vorgehens improvisierter und unvollkommener gewesen sein, als dies bisher angenommen wurde. Auch wenn der Reichstagsbrand die improvisierte Tat eines einzelnen war — wie jetzt in hohem Grade wahrscheinlich ist —, ändert dies nicht viel, wenn überhaupt etwas an dem historischen Verantwortungs- und Schuldkonto des Nationalsozialismus, das durch den Fortfall einer zusätzlichen Belastung grundsätzlich weder vergrößert noch verkleinert wird. Es sollte daher ruhig zugestanden werden, daß die von T. gegebene Aufklärung über Leben, Prozeß und Ende des unglücklichen Holländers in der Tat eine Eindruck erweckende Leistung des kritischen Scharfsinnes im Verein mit kriminalistischer Schulung ist. Aber auch dann ist noch festzustellen, daß selbst die großen Entwicklungslinien der Machtergreifung von 1933 dadurch nicht irgendwie entscheidend betroffen werden, wie dies Karl-Dietrich Bracher („Die nationalsozialistische Machtergreifung", 2. Aufl., Köln-Opladen 1962, S. 79—83) überzeugend ausgeführt und mit dem Hinweis auf grundsätzliche Schwächen des Buches von T. in der politischgeschichtlichen Einordnung der Vorgänge ergänzt hat. Was übrigbleibt, scheint mir ein sehr nachdenklicher Fall für die Schwierigkeiten der Detailgeschichte in einer Epoche leidenschaftlich umstrittener Ereignisse zu sein, keinesfalls eine Frage, die für die Proportionen im großen von entscheidendem Gewicht ist. Berlin

Hans

Hehfeld

100 Jahre Berliner Statistik. 1862—8. Febr. 1962. Festschrift z. lOOjähr. Bestehen d. Berliner Statist. Amtes. — (Bln.-Schöneberg, Salzburger Str. 21—25:) Statist. Landesamt Berlin 1962. 213 S. mit Abb. Nicht im Buchhandel. Die Jubiläumsschrift des ältesten deutschen städtestatistischen Amtes verbindet mit der umfassenden Schilderung seiner geschichtlichen Entwicklung eine eingehende Darstellung der vielfach beispielhaften Leistungen des Amtes auf dem Gebiet der kommunalen Statistik. Beginnend mit einem Rückblick auf die Berliner Statistik vor der Gründung des „Stati-

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stischen Bureaus", behandelt die Schrift in chronologischer Folge die wichtigsten statistischen Erhebungen sowie personelle und organisatorische Veränderungen innerhalb des Amtes. Die Darstellung der ständig erweiterten Informationsbereiche der Berliner Statistik unterstreicht ihre grundlegende Bedeutung für Verwaltung und Wissenschaft. Neben einer im Anhang beigefügten Zeittafel und dem Verzeichnis der leitenden Mitarbeiter wäre eine bislang fehlende Zusammenstellung der Veröffentlichungen des Amtes zu begrüßen gewesen. Berlin Peter C^ada Statistisches Jahrbuch Berlin. Hrsg. v. Statist. Landesamt Berlin. 1962. — Bln.: Kulturbuch-Verl. 1962. 340 S. DM 16,70. Berliner Statistik. Sonderhefte. — Bln.: Kulturbuch-Verl. 1962. 4°. Sonderh. 87: Die Entwicklung der Industrie in Berlin (West) 1961 nach den Ergebnissen der monatl. Berichterstattung. 48 S. DM 4,—. Sonderh. 89: Die industrielle Produktion von Berlin (West) 1961. 44 S. DM 4 , - . Das Statistische Jahrbuch — seit 1952 neben der Monatsschrift „Berliner Statistik" periodisches Publikationsorgan des Berliner Statistischen Landesamtes — vermittelt Zahlenangaben aus sämtlichen von der amtlichen Statistik erfaßten Bereichen. Das Jahrbuch für 1962 enthält Ergebnisse für das Vorjahr, die vielfach durch Vergleichszahlen früherer Jahre ergänzt werden, und außerdem einige grundlegende Daten für den Sowjetsektor. Eine Beilage unterrichtet über die Veröffentlichungen des Amtes seit 1945 und gibt dem Benutzer damit die Möglichkeit, Quellenwerke und weiterführende Statistiken aufzufinden. Die Reihe der Sonderhefte der „Berliner Statistik" enthält in der Regel Gesamtergebnisse amtlicher Erhebungen, deren Umfang und weitgehende Aufgliederung eine gesonderte Darstellung erfordern. Die genannten Sonderhefte enthalten Produktions- und Beschäftigungszahlen für die Westberliner Industrie in weitgehender branchenmäßiger Aufschlüsselung. Berlin Peter C^ada Berlin. Weltstadt gestern und heute. Hrsg. v. Theodor Müller-Alfeld. Mit e. Vorw. v. Friedrich Luft. — Bln., Darmstadt, Wien: Dt. Buchgemeinschaft 1962. 28 S. Text, 109 S. Abb., 8 Farbtaf. 4°. Nur f. Mitglieder. Das ist Berlin. Privatdruck f. d. Freunde des Hauses Hoppenstedt. — Darmstadt: Privatdruck d. Verl. Hoppenstedt & Co. 1962. 37 S. Text, 10 S. Abb., 1 Kt.skizze, 24 Zeichn., 4 Statist. Nicht im Buchhandel. Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die einer vom Selbstbehauptungskampf Berlins faszinierten Weltöffentlichkeit die Entwicklung und Bedeutung der Weltstadt Berlin als Beispiel einer eindrucksvollen Stadtgeschichte, als politische Hauptstadt, Kunst- und Kulturzentrum, Wirtschaftsmetropole, Verkehrsknotenpunkt, Wohn- und Industriesiedlung, als Mittelpunkt von Sport, Vergnügungsleben und vieler anderer Bereiche des weltstädtischen Soziallebens verständlich werden zu lassen sich bemühen, ist zunehmend auch ein mehr künstlerisch-ästhetisches und feuilletonistischwerbendes Genre von Berlin-Publikationen entstanden. Vor allem ausführlich kommentierte Bildbände versuchen in nicht weniger verdienstvoller und sicherlich zugänglicherer Weise, als es in den anspruchsvollen Werken der wissenschaftlichen Literatur geschieht, dem Leser und Betrachter die vielen Gesichter dieser besonderen Stadtlandschaft und ihrer

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Bewohner mehr mit humorvollem Esprit als mit ernsten Sachaussagen in Wort und Bild nahezubringen: In seinen Bauten und Denkmälern, in der Anlage der Wohn- und Industriesiedlungen, im Schaubild seiner wirtschaftlichen und kulturellen Leistung und nicht zuletzt im Abbild des täglichen Lebens und Schaffens wirbt hier Berlin für sich selbst. Im erwähnten Stil läßt der Bd. von Müller-Alfeld und Luft in einer liebevoll zusammengestellten und kommentierten Auswahl von Bildern der Schauplätze großer historischer Ereignisse ebenso wie des stillen Alltags der Menschen die Geschichte dieser Stadt und das Wirken ihrer Bürger sichtbar werden. Gleichwohl mögen einige Vorbehalte erlaubt sein. Verwunderlich ist angesichts eben der durch diesen Bd. gebotenen Zeugnisse, die den Stolz der Berliner auf die nachweislichen Leistungen ihrer Stadt in Vergangenheit und Gegenwart berechtigt erscheinen lassen, zum Beispiel die im einführenden Text bei allem Wohlwollen aufgestellte Behauptung, Bewußtsein, Pflege und Suche einer eigenen berlinischen Tradition hätten zugunsten einer permanenten charakteristischen Jetztbezogenheit der Berliner bei Einwohnern und Besuchern dieser Stadt allezeit eine nur geringe Rolle gespielt. Solche Formulierungen vermitteln lediglich stilistischen Reiz. Im übrigen kommen die Bildabfolge über das alte und neue Berlin ebenso wie die einleitende und die kommentierende Darstellung gerade dem populären Selbstverständnis der Berliner vom Werden und der gegenwärtigen Situation, von der Leistung und den Aufgaben ihrer Stadt entgegen — leider auch in dem Sinne und mit dem Ergebnis, daß mit dem zur Schau gebrachten Glanz das historisch getreue Gesamtbild zugunsten einer Betonung seiner vorteilhaften Seiten zurücktritt. Vom Auftreten, von der Herkunft und der Struktur so mancher namentlich sozial-, aber auch verfassungs- und verwaltungsgeschichtlicher Probleme im historischen Aufbau der Millionenstadt — etwa von Arbeitsmarktproblemen und Wohnungselend der Massen im 19. und 20. Jh. mit allen administrativen Schwierigkeiten und politischen Konsequenzen — erfährt man zum Beispiel wenig oder nichts. Zugleich aber vermittelt dieser Bd. mit der Wiedergabe von Selbsteinschätzung und Selbstbildnis Berlins und der Berliner eine Dokumentation nicht nur des mit dem Auge Wahrnehmbaren, sondern auch der geistigen Triebkräfte, die Berlin zuletzt die reiche Anerkennung der freien Welt eingetragen haben. Eine kritische Analyse der Problematik des alten und des heutigen Berlin will dieser vor allem das physiognomische und ethische Profil der deutschen Hauptstadt behandelnde Beitrag zur Berlin-Literatur gewiß nicht bieten und darf deshalb auch nicht mit den strengen Maßstäben historischer Forschung gemessen werden; er will — bei aller aufrichtigen Bemühung um sachliche Richtigkeit — loben, unterrichten und zur Bewunderung anregen. Das Buch und der Rang seines Gegenstandes haben es verdient. Auch der kleine Bd. des Verlages Hoppenstedt mit seiner teils schnoddrig-humorigen, teils sachlich werbenden Charakteristik der Lebensart und der Schaffensmöglichkeiten im Berlin des Jahres 1962 ist ein liebenswerter Beitrag zur Unterrichtung über diese Stadt. Vor allem die Wirtschaftsmetropole Berlin mit ihren bekannten großen Industriezweigen, ihrem Erwerbsleben und ihrer gegenwärtigen Bedeutung als Partner im Wirtschaftsleben der Wohlstandsgesellschaft steht unausgesprochen, aber deutlich im Zielpunkt dieses Bd.es, der dabei gleichwohl eine lebendige Anschauung vom typischen Berliner Witz und darüber hinaus der gesamten geistigen Haltung der Menschen vermittelt, die u. a. auch die Wirtschaft dieser Stadt zu neu gewonnener Höhe gebracht haben und den Optimismus rechtfertigen, den diese kleine, bebilderte Schrift ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz, aber mit dem berechtigten Anspruch auf Zuverlässigkeit ihrer Aussagen zugunsten des heutigen Berlin zu verbreiten sich bemüht. Berlin

Otto Büsch

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CÜRLIS, Peter, u. Rolf O P P R O W E R : Berlin. Urteil und Vorurteil. — Osnabrück: Fromm 1962. 55 Bl. Abb. mit Text. 4°. DM 2 5 , - .

Unter den vielen Berlin-Bildbd.en, die in den letzten Jahren auf den Büchermarkt kamen und die selten über das übliche Reportageklischee hinausgelangten, bildet das vorliegende Buch eine angenehme Ausnahme. Rolf Opprower hatte die originelle Idee, „Urteile von Berlinbesuchern aus den vergangenen vier Jahrhunderten . . . mit Fotos aus dem Berlin von heute" zu konfrontieren. Lob und Tadel von Persönlichkeiten wie Friedrich d. Großen, Goethe, Alexander v. Humboldt, Stendhal, Heine, Hector Berlioz, Hebbel, Bismarck, Fontane, Dostojewski, Mark Twain stehen in ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander und erschließen gerade dadurch die Vielseitigkeit dieser so viel gepriesenen wie geschmähten Stadt. Die ausgezeichneten Bilder von Peter Cürlis, die sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten Berlins eingefangen haben, beweisen oder entkräften als wirkungsvolles Pendant die Gültigkeit der Zitate. Mit Geist und Ironie wird hier liebevoll das in Geschichte und Gegenwart lebendige Berlin demonstriert. Berlin Ilsedore Rarisch PEM (d. i. Mario Passarge): Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Aus Berlins glanzvollsten Tagen und Nächten. — Bln.: Blanvalet 1962. 247 S. mit Abb. DM 9,80. L E H M A N N , Friedrich Wilhelm: Berlin Kaleidoskop 1910—1930. Mit über 220 Bilddokumenten. - Bln. u. Heidelberg: Moos 1962. 104 S. DM 19,80. Auch wenn der frühere Ullstein-Journalist Pem als Vf. des in seiner Art anregenden Buches über das Berlin der Weimarer Jahre keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, sollten bei einer Neuauflage doch Irrtümer der folgenden Art vermieden werden: Der von Pem erwähnte General Reinhardt schreibt sich — wie Kapitän Ehrhardt, dieser allerdings nicht auf S. 153 oben — immer mit dt, der Kultusminister Hämisch, die SPDAbgeordnete hieß Tony Sender. Als „blonder junger Mann" schon Pressechef der Reichsregierung, hat Ulrich Rauscher es weit, obschon nicht zum „Kabinettschef" Eberts (S. 152) gebracht, welchem Aufstieg nicht zuletzt die Tatsache entgegenstand, daß Weimarer Reichspräsidenten zwar über ein Büro, über Kabinette aber allenfalls in architektonischer Hinsicht verfügten. „Kollege" Wolfgang Heine „zog sich" nicht bald aus dem Kabinett zurück (S. 153), wurde vielmehr zurückgetreten. Der Magdeburger Ebert-Prozeß schwebte mitnichten „gegen ultrarechte Organe" (S. 147). Angeklagt war vielmehr Rothardt als verantwortlicher Redakteur der „Mitteldeutschen Presse", die aber nur eins von vielen jener Organe gewesen ist. Stresemann schließlich hat sich den Nobelpreis zwar mit Briand, nicht aber zusätzlich mit Chamberlain teilen müssen (S. 160), der bereits 1925 bedacht worden war. — Wer nicht den Fehler begeht, historische Problemdurchdringung und wissenschaftlich genaue Information an falscher Stelle zu suchen, kann das Buch gleichwohl als unterhaltsamen Führer durch eine pulsierende Weltstadt genießen. Lehmanns Berlin-Kaleidoskop — „Mit über 220 Bilddokumenten" und einem locker gefälligen Text — entpuppt sich als galanter Appell an den Zeitgenossen, sich im Anblick der Kuriositäten von vorgestern über den Unfug der Gegenwart selbstgefällig hinwegzuschmunzeln. Eine reizende Nichtigkeit in Elfenbein und Lila. Berlin Henryk Skrzypc^ak Karl E.: Berlin. Einf. v. Heinz Gutsche. Mit 3 0 Farbaufn. — München, Wien: Andermann 1962. 61 S. (Panorama Bücher.) DM 9,80. JACOBS,

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Ein ansprechendes Bilderbuch aus West und Ost mit kurzen Erläuterungen. Bei einer Neuaufl. sollten die „Fischerkieze Cölln und Berlin" (S. 11), die es nicht gab, gestrichen werden. Bei der Marienkirche wäre der .Totentanz' zu erwähnen. Berlin Johannes Schnitte HAGEMANN, otto: das neue gesicht berlins. ein bildbuch. 4., verb. aufl. — Bln.: arani Verl.-Ges. 1962. 136 S„ S. 1 5 - 1 3 2 Abb. mit Text. DM 16,80.

Mit Recht hebt der Untertitel hervor, daß es sich um ein Bildbuch handelt. Die Fotografien Otto Hagemanns sind fast ohne Ausnahme gut aufgenommen und ausgezeichnet reproduziert. Auch die Auswahl der Objekte läßt nur wenig Wünsche offen, so daß der Beschauer bei der Durchsicht wirklich ein gutes Bild vom „neuen Gesicht Berlins", so wie es sich etwa bis zum Beginn des vergangenen Jahres darstellte, gewinnt. In einem kurzen Vorwort deutet der Senator für Bau- und Wohnungswesen, Dipl.Ing. Rolf Schmäler, die Grundsätze an, nach denen bei dem Neuaufbau verfahren wird, nicht ohne einen Seitenhieb auf die Sünden des früheren, des „steinernen" Berlin zu führen. Der Text, mit dem dann Felix A. Dargel der Leistung und den oft schwierigen Problemen des Berliner Aufbaus gerecht zu werden sucht, kann hier aus Raummangel nicht kritisiert werden. Jedoch ist zu den Bildunterschriften einiges anzumerken nötig: Bild 2 und Bild 7: das Osram-Haus am Ernst-Reuter-Platz ist nach einem Entwurf von B. Hermkes gebaut, der in der Unterschrift als Architekt Genannte leitete die Ausführung; Bild 26: statt Erich Schaudt lies Emil Schaudt; Bild 35 : der Vorentwurf stammt von Pereira & Luckmann in Los Angeles, in den Händen der Genannten lag Ausarbeitung und Durchführung des Entwurfs; Bild 38 zeigt nicht das in der Unterschrift angeführte Studentenwohnheim von P. Poelzig; Bild 52: statt Willi lies Wille; Bild 70: es fehlen Datum und Verfasser, der Titaniapalast ist 1927 von Schöffler mit Schloenbach & Jakobi (Düsseldorf) gebaut; Bild 75: die Unterschrift ist sinnlos. Weder ist das Haus mittelalterlich, noch stammt die abgebildete Front in ihrer heutigen Form aus dem 18. Jh. (Seitenteile nach der Mitte des 19. Jh.s). Der an der Stelle des Architekten genannte F. L. von Quast war 1799 Besitzer des Lichterfelder Gutshauses; außerdem könnte eine Reihe von weniger wichtigen Irrtümern vermerkt werden, die sich auf die angeführten Daten, auf die Bezeichnung von Behörden usw. beziehen (ich verdanke Herrn K. K. Weber die Nachprüfung dieser Einzelheiten). Es wird in diesem Buch radikal klein geschrieben, selbst Städte-, Straßen- und andere Eigennamen müssen sich diesem Grundsatz fügen. Groß geschrieben werden außer Satzanfängen nur die Namen der Vf. und der modernen Architekten (aber eosander und knobelsdorff). Berlin Ernst Heinrich Vom Bauerndorf zur Gartenstadt. Die Geschichte Lichtenrades im Bezirk Bln.Tempelhof. Mit Beiträgen von Herbert Hohn, Richard Kieser u. a., zus.gest. u. hrsg. v. Hermann Wundrich. — Bln.: Westkreuz-Druckerei 1962. 175 S., 24 Abb., 1 Kt., DM 8,80. Die Schrift ist eine eigenartige Kompilation aus z. T. wörtlichen Entlehnungen aus der lokalgeschichtlichen Literatur ohne Angabe von deren Titeln und Vf.n (Klein, Becker, Giese) sowie aus einigen einleitenden und z. T. zusammenhanglos in die Erzählungen des (sich auch im Bilde vorstellenden) Hrsg.s eingestreuten Beiträgen von anderer Seite.

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Quellenmäßig fundiert ist die knappe ortsgeschichtliche Ubersicht von R. Kieser, „Aus der Vergangenheit von Lichtenrade", bis 1900 (S. 23—42). Notizen aus der Lichtenrader Zeitung von 1908-1934 bilden den Schluß. Redaktion (Bezirksamt Tiergarten von Berlin) Jahresbericht 1961. — Bln. (Tiergarten): Bezirksamt Tiergarten 1962. 103 S. mit Abb. Nicht im Buchhandel. Als Verwaltungsbericht gibt die vorliegende Broschüre ein genaues Bild von der Versorgung der Bevölkerung dieses mit 112 000 Bewohnern im Jahre 1961 drittkleinsten Bezirkes des Landes Berlin mit allen gemeinnötigen Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs auf den Gebieten „Verwaltung", „Volksbildung", „Sozialwesen", „Jugend und Sport", „Gesundheitswesen", „Bau- und Wohnungswesen", „Wirtschaft und Gartenbau" sowie „Finanzen". Der Bericht zeigt die eindrucksvolle Vielgestalt der organisatorischen Leistung einer kommunalen Selbstverwaltung auf Bezirksebene im freiheitlichen Berlin des Jahres 1961. Berlin

Otto Bäsch

Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Jahresbericht 1961/62. — Bln.: Landesverband Berlin o. J. 160 S. Die starke Stellung, die die Sozialdemokratie im Berliner Raum behauptet, schlägt sich auch in der Gestaltung dieser Rückschau nieder. Dem Resümee zur Tätigkeit der in das Bonner Parlament entsandten Abgeordneten schließen sich mit dem Gesamtbericht der Fraktion im Abgeordnetenhause von Berlin und dem ausgedehnten Uberblick auf das Wirken sämtlicher bestehender Fachausschüsse und Arbeitsgemeinschaften eine fast vollständige Betrachtung der innerpolitischen Entwicklung des Stadtstaates im Rahmen sozialdemokratischer Konzeptionen an. (Für allgemeine Kommunalpolitik, Wirtschafts-, Sozialund Kulturpolitik sowie für politische Bildung, Rechtspolitik und Jugend und Sport bestehen 21 Ausschüsse und Arbeitsgemeinschaften.) Die Erhebungen zur Arbeit innerhalb der Organisation und zum Organisationsgefüge selbst enthalten schließlich Angaben über Finanzaufkommen, Mitgliederstand der Partei und verschiedene Analysen der im Berliner Wahlkampf 1962/63 gestarteten Werbeaktionen. Nicht nur die vielfältigen Aussagen zur jüngsten Berliner Entwicklung, z. B. Erhebungen zur 1961 aufgelösten Ostberliner Organisation und Einblicke ins Beitragswesen, verleihen der Publikation Quellenwert. Berlin

Hans Martin

Barth

BERGER, Alfred: Berlin von 1945—1961. Ein Quellenleseh. über d. Blner. Nachkriegsgesch. Zsgst. (Sonderausg. f. d. Bundesministerium f. gesamtdt. Fragen. 3., erw. Aufl.) — (München: Gersbach & Sohn 1962) 64 S. Der Aufbau Berlins von 1949 bis 1963. — Bln. (Wilmersdorf, Württembergische Str. 6—10): Senator f. Bau- u. Wohnungswesen 1962) 36 S. Abb. m. Text. Nicht im Buchhdl. — (Umschlagt.:) Berlin baut. Berlin, Crisis and challange. — New York 22, 41° Pak Avenue: German Information Center (1962). 67 S. 1 Kt. Nicht im Buchhdl. 25 Jahrbudi 12

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EINZELNE

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Berlin im Spiegel seiner öffentlichen Finanzplanung für das Jahr 1962. Hrsg. vom Senator f. Finanzen. — Bln. [(Charlottenburg, Hardenbergstr. 20: Informationszentrum Berlin) 1962.] 136 S. Nicht im Buchhdl. Das Berliner Handwerk. Bericht d. Handwerkskammer Bln. 1961. — (Bln.: Handwerkskammer 1962) 132 S. m. Abb. Haushaltsplan von Berlin für das Rechnungsjahr 1962. — (Bln. W 30, Nürnberger Str. 53/55: Der Senator f. Finanzen 1962.) XIV, 136, 2097 S. (Umschlagt.) Nicht im Buchhdl. Die industrielle Produktion von Berlin (West). Hrsg.: Statist. Landesamt Bln., Bln.-Schöneberg, 1961. - (Bln. W 3 0 : Kulturbuch-Verl.) 1962. 44 S. 4° = Blner Statistik. Sonderh. 89. D M 4 , - . Berlin und keine Illusion. 13 Beiträge zur Deutschlandpolitik. Hrsg. von Ansgar Skriver. — Hamburg: Rütten & Loening (1962) 156 S. = das aktuelle Thema. Bd. 16. DM 2,80. Unvergessenes Berlin. Unforgotten Berlin. Berlin inoublie. Mit e. Vorw. von Hans Joachim Schoeps. Bildtexte v. Erich Böhl (Fotonachw.: Fritz Eschen u. a. Ubers.: Dorothey Clara Krafft u. Germaine Köppe-Clerc.) — Bln.: Haude & Spener 1962. 76 S., S. 9 - 6 8 Abb. DM 12,80. Die Verfassung von Berlin. Textausg. mit e. Einf. u. erg. Dokumenten. 2., erw. Aufl. — Bln. (-Schöneberg, Rathaus): Landeszentrale f. polit. Bildungsarbeit 1962. 64 S. mit Abb. Nicht im Buchhdl. Werner: 50 Jahre Deutsche Oper, Berlin. 7. Nov. 1912—7. Nov. 1962. - Bln.: Hessling (1962). 44 S. mit Abb. quer. DM 1 0 , - .

BOLLERT,

Botho: Russische Sozialdemokraten in Berlin 1 8 9 5 — 1 9 1 4 . Mit Berücksichtg. d. Studentenbewegung in Preußen u. Sachsen. Mit 20 Abb. — Bln.: Akademie-Verl. 1962. IX, 216, XVII S. = Quellen u. Studien z. Geschichte Osteuropas. Bd. 11. DM37,50.

BRACHMANN,

Berthold: 7 5 Jahre Berliner Lehrergesangverein. Rückblick, Würdigung u. Ausblick. (1887 — 1962) — (Bln.-Zehlendorf, Machnower Str. 43 a: Berliner Lehrer-Gesangverein e.V., Pressestelle 1962.) 30 Bl., 1 Titelbild. Nicht im Buchhdl. FEIGE,

Stephan: Max Beckmann. — Stuttgart: Fink 1962. 135 S. mit Abb. = Fink-Reihe. Bd. 7/8. DM 12,80.

KAISER,

Walter: Die Deformation der Westberliner Wirtschaft durch die Frontstadtpolitik und die ökonomischen Perspektiven einer entmilitarisierten neutralen Freien Stadt West-Berlin. (1. 2.). — Bln. 1962. 144 gez. Bl., 161 Bl. in getr. Pag. 4° (Maschinenschr. vervielf.) — Bln., Inst. f. Gesellschaftswiss. beim ZK d. SED, Diss. v. 20. März 1962. (NfdA.)

KRZYZANOWSKI,

Stephan: Max Beckmann 1884-1950. — Bln.: Safari-Verl. (1962) 22 S. Abb. mit Text. 4° (Safari Kunstreihe). DM 7,80. LACKNER,

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Werner: Die Rolle der SPD bei der Entwicklung des Westberliner Schulwesens. - Bln.: VEB Verl. Volk u. Wissen 1962. 226 S. DM 5,10. - Diss., Humboldt-Universität Bln., Überarb.

LEMM,

Du und die Mauer. — (Bln.: Ausschuß f. dt. Einheit 1962.) 4 Bl. m. Abb. Walter Georg: Große Deutsche in Berlin. — Bln.: arani Verl.Ges. 1962. 72 S. m. Abb. Nicht im Buchhdl. — Vorabdruck aus: Oschilewski: Große Deutsche in Berlin.

OSCHILEWSKI,

Das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, vorm. Deutsche Hochschule f. Politik, Geschichte, Forschung u. Lehre, polit. Bildungsarbeit. Hrsg. zur Einweihung d. neuen Institutsgebäudes am 7. Mai 1962. — (Bln.-Dahlem, Ihnestr. 21 : Otto-Suhr-Institut an d. Freien Universität 1962) 98 S., 1 Titelbild. Nicht im Buchhdl. Wolfgang: Berlin — Glanz und Elend der Hauptstadt 1 9 0 0 bis 1 9 6 2 . — München: Claudius Verl. 1962. 315 S., m. Abb. = Claudius-Lesehefte. Nr. 14. DM - , 8 0 . PAUL,

André: Botschafter in Berlin 1 9 3 1 — 1 9 3 8 . (Souvenirs d'une ambassade à Berlin, dt.) (Aus d. Franz. übertr. v. Erna Stübel.) — Bln., Darmstadt, Wien: Dt. Buchgemeinschaft (1962). 420 S. Nur f. Mitgl. Lizenz d.Kupferberg-Verl., Bln. u. Mainz. FRANÇOIS PONCET,

Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. Hrsg. v. Ludwig Frege (u.) Werner Eisner. Unter Mitw. v. . . . Kurzausg. Gruppe 4, Bd. 1—3. — Bln., Köln: Heymann 1962. 4. Abgabenrecht. Zusammengest. v. Friedrich-Karl Surein, Bd. 1—3.— 1. XI, 527 S. D M 5 9 , - ; 2. V, 629 S. DM 70,40; 3. V, 495 S. DM55,60. Karl Heinrich: Großes Berliner Theater. Gründgens, Fehling, Müthel, Hilpert, Engel. (Bilder: Rosemarie Clausen u. a.) — Velber b. Hannover: Friedrich 1962. 219 S. D M 2 8 , - . RUPPEL,

S C H N U R R E , Wolfdietrich: Berlin — eine Stadt wird geteilt. (Eine Bilddokumentation.) — Ölten u. Freiburg i. Br. : Walter (1962) 176 S. (Walter Paperbacks Die Diskussion) DM 9,80. SCHOBESS, Joachim: Theodor Fontane. Handschriften, Briefe, Gedichte, Balladen, Märkisches, Aufzeichn. u. Dichtungen aus d. Familien- u. Freundeskreis, Kritiken z. Literatur u. z. Theater, Apothekerzeugnisse, Werke aus d. Handbücherei Fontanes. Abschriften aus d. Familiennächlaß. Familienandenken, Bilder, Gelegenheitsdrucke, Erinnerungsstücke. Vertonte Lieder u. Balladen. Mit Faks. aus d. FontaneArchiv Potsdam (Dortustr. 30—34): Brandenburg, Landes-u. Hochschulbibliothek 1962. 197 S., 10. Bl. Faks. = Brandenburgische Landes- u. Hochschulbibliothek, Theodor-Fontane-Archiv Potsdam. Bestandsverzeichnis T. 1,1. DM 12,50.

Störenfried West-Berlin. Sie sagen es selbst. Äußergn. westl. Politiker u. westl. Pressestimmen zur Rolle West-Berlins als internat. Provokationszentrum. — Bln.: Deutsches Institut f. Zeitgeschichte (1962). 39 S.

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2. Brandenburg Brandenburgische Literatur der Gegenwart. (H.) 1. Aus wähl Verzeichnis aus den Neuerwerbungen 1945 — 1958 unter Berücksichtigung v. Veröff. in Heimatkalendern, Päd. Stoffplänen, Kulturspiegeln, Tageszeitungen der brand. Bezirke sowie wiss. Zeitschriften. 2. verm. u. verbess. Aufl. Potsdam 1962. 125 S. — (H.) 2 1959 bis 1960... Potsdam 1961. 125 S. — (H.) 3. Verz. d. Neuerwerbungen 1961-1962 (einschl. Nachträge 1958 — 1960) ... nebst Bibliographie z. Gesch. der örtl. Arbeiterbewegung 1947 — 1962. Potsdam 1963. 149 S. (1—3) = Brand. Landes- u. Hochschulbibliothek Potsdam. Bearb. v. Joachim Schobeß. Die in die Hauptabschnitte Natur, Geschichte, Wirtschaft (dabei Verfassung, Staatsapparat und Gesundheitswesen) und Kultur unterteilten Auswahlverzeichnisse der Brandenburgischen Landes- und Hochschulbibliothek in Potsdam bieten kein geschlossenes Bild der „Brand. Lit." der Gegenwart. Viel Unwichtiges aus Zeitungen und Kalendern wird formal zuverlässig aufgeführt, während zahlreiche wertvolle Titel beispielsweise zur brandenburgischen Landesgeschichte ungenannt bleiben. Dabei dürften verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt haben. Doch ist im Vergleich zur 1. Aufl. des 1. Heftes eine gewisse Verbesserung zu beobachten (vgl. 3, S. 44f.). Die Systematik der bisher erschienenen 3 Hefte ist insofern nicht glücklich, als die ortsgeschichtlichen Titel zersplittert werden. Das Ortsregister bietet dafür keinen hinreichenden Ersatz. Die aufwendige Doppelaufnahme von wichtigeren Titeln (z. B. S. 45 u. 58) soll diesen Mängeln offenbar entgegenwirken, doch würde durch Verweise auf Nummern viel Platz gespart werden. Dazu müßten die Verzeichnisse freilich durchnumeriert werden, was möglich und auch aus anderen Gründen praktisch wäre. Dringend erwünscht sind außerdem Namenregister für jedes Heft oder mindestens für jeweils etwa fünf Hefte in Form eines selbständigen Registerheftes. Erfreulich ist, daß die Titel in diesen für weitere Kreise bestimmten Heften nur in vertretbarem Maße abgekürzt worden sind. Als Bausteine für eine spätere brandenburgische Gesamtbibliographie und im Sinne zeitgeschichtlicher Dokumentation werden die Potsdamer Hefte ihren Wert behalten. Berlin

Gerd

Heinrich

Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Teil I. Prignitz. Bearb. von Lieselott Enders. — Weimar: Böhlau 1962. XVI, 463 S., 1 Faltkt. = Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Bd. 3. DM 44, — . Diese Veröffentlichung ist das erste Ergebnis der 1957 von Mitarbeitern des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam aufgenommenen Arbeit an einem seit mehr als 60 Jahren geforderten Historischen Ortsverzeichnis. Für Mittel- und Ostdeutschland fehlten solche Verzeichnisse ganz, um so wünschenswerter ist die geplante Fortsetzung des Werkes. Einleitend wird die gewählte Einteilung des Gesamtvorhabens nach den alten märkischen Landschaften begründet, Stichjahr ist 1900 nach der Kreiseinteilung von 1816, es sollen erscheinen Prignitz, Ruppin und Havelland (wird bearbeitet), Zauch-Belzig und Jüterbog-Luckenwalde, Teltow und Beeskow-Storkow, Barnim (wird bearbeitet) und Lebus, Uckermark und Niederlausitz (wird bearbeitet); es fehlen die rechts der Oder gelegenen märkischen Kreise und die Neumark. Die Anordnung des Stoffes ist vorbildlich, jeder Siedlungsname wird in heutiger oder jüngster bekannter Schreibweise mit Angabe der geographischen Lage und der Kreiszugehörigkeit vor 1816, von 1816 bis 1952 und seit 1952 aufgeführt, dann behandelt Punkt 1 Art und Verfassung der Siedlung um 1900 mit Angabe der früheren oder späteren Formen;

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Punkt 2 die Gemarkungsgröße; Punkt 3 die Siedlungsform mit Angabe der ältesten noch vorhandenen Flurkarte (!), zugleich den Nachweis in der Gemarkung aufgegangener Wüstungen enthaltend; Punkt 4 die erste schriftliche Erwähnung mit Quellenangabe; Punkt 5 die Gerichtszugehörigkeit; Punkt 6 die Herrschaftszugehörigkeit; Punkt 7 die Wirtschafts- und Sozialstruktur; Punkt 8 die kirchliche Verfassung; Punkt 9 die Baudenkmale und Punkt 10 die Bevölkerungsziffern. Eine Übersichtskarte und ein Wüstungsregister sind beigefügt. Die Ortsartikel sind bedeutend umfangreicher als im 1957 erschienenen Historischen Ortsverzeichnis von Sachsen, wenn auch nicht so ausführlich wie in einzelnen Teilen des Historischen Ortsnamenbuches von Bayern, so wurde auf Namendeutung und auf eine einleitende Darstellung der Geschichte des behandelten Raumes verzichtet. Die zahlreichen Angaben zu den einzelnen Punkten erwiesen sich als zuverlässig; folgende Korrekturen werden aus dem Vergleich mit dem Material zum Brandenburgischen Ortsnamenbuch zusammen mit einigen Druckfehlern angezeigt: Seite 44, Zeile 25, ist einzufügen: „1325 Gedeke von Bricik (A I 136)" oder „1326 Ghodeke de Brizic (A II 205 Or)". Der Beleg von 1325 ist Seite 46, Zeile 21, irrtümlich zu Bresch gestellt worden; vgl. Breetz auf Rügen (1318 Brisitze, s. R. Trautmann, Die Elbund Ostseeslawischen Ortsnamen II 41). Seite 46, Zeile 1, steht „Bremin nö Rheinsberg", muß heißen „nw". Seite 46, Zeile 21, entfällt der Beleg von 1325, einzufügen wäre „1542 thom Brekse . . . thom Bresche (SB 478 Or)". Seite 68, Zeile 6, steht „1492 Dammosten (A III 506 Or)", dies ist die Schreibweise der fehlerhaften Abschrift nach Spener in A. I. 325, es muß heißen: „1492 damosten (A III 506 Or)". Seite 68, Zeile 22, ist einzufügen: „1332 dat dorpe thome danwolde (A II 275 Or)". Seite 89, Zeile 3, steht „Ludwidgslust", muß heißen „Ludwigslust". Seite 93, Zeile 28, steht „1478", muß heißen „1492". Seite 97, Zeile 5, steht „1375 Frederichstorpp", muß heißen „1375 Frederichstorff (Friderichstorff A)". Seite 101, Zeile 4 von unten, ist einzufügen „1795 Colonie oder Friesenhof (Karte Sotzmann)". Seite 115, Zeile 7 von unten, steht „Heinoldus", muß heißen „Reinoldus". Seite 148, Zeile 6 von unten, ist einzufügen „1317 . . . claustri Sancti Sepulcri apud villam Techow (H. Krabbo, Regesten der Markgrafen von Brandenburg aus askanischem Hause 744, 2595), 1350 tuo deme hylghen graue (A I 485 Or)". Seite 149, Zeile 14 von unten, steht „Wendeberg", muß heißen „Wendenberg". Seite 153, Zeile 16 von unten, steht „1351 Hertesveld (MU XIII 7525 Or)", dieser Beleg gehört dem Urkundentext nach sicherlich nicht zu Herzfelde w Pritzwalk, sondern zu Herzfeld nö Grabow in Mecklenburg. Seite 174, Zeile 2, steht „1292 Huno genannt von Carwe (A I 297)", es ist zweifelhaft, ob dieser mehrfach genannte Zeuge — vgl. 1289 huno de Karwen (A XXII 98 Or) — unserem Orte verbunden war. Weiter steht „1312 Crawe (A II 79)", muß heißen „1312 Crave (A II 79 Or)" und gehört nicht zu diesem Ortsnamen, sondern zu Kribbe wnw Perleberg (Seite 196), vgl. dieselbe Urkunde außer bei Riedel (der Beleg „Crave" dort im Register nicht zu Karwe) im MU V 3525, wo nach dem Original „Criwe" gelesen wurde.

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Als Belege für unseren Namen sind einzufügen „1387 Carbow (A I 254), 1499 Karwe (A III 509)". Seite 182, Zeile 19 von unten, steht „1307 Clyzeke (MU X 3186)", muß heißen „1307 Clizeke (MU V 3186)". Seite 190, Zeile 13 von unten, steht „Kolreip", muß heißen „kolrip". Seite 196, Zeile 2, ist einzufügen „1312 Criwe (MU V 3525)". Seite 196, Zeile 8 von unten, ist einzufügen „1542 to Kranitz (SB 479 Or)". Seite 209, Zeile 3 von unten, steht „Laske", muß heißen „Lasske", vgl. die Korrektur Seite 68, Zeile 6. Seite 230, Zeile 2, steht „Lockstede", muß heißen „Loeckstede", vgl. die Korrektur Seite 68, Zeile 6. Seite 245, Zeile 7, ist einzufügen „1309 to Mechow (H. Krabbo, Regesten 584f. 2141 Or)". Seite 255, Zeile 13 von unten, steht „(Landbuch 23)", muß heißen „(Landbuch 23 und 47)". Seite 264, Zeile 5, steht „1354 Nebelyn (Luck 164)", muß heißen „1354 Nobelyn (MU XIII 7942 Or)"; Luck druckt den Namen aus dieser Urkunde falsch ab, vgl. Urkundenbuch der Stadt Lübeck Bd. III, 197 f. Seite 271, Zeile 18, ist einzufügen „1299 Johannes . . . de noua domo (A 1125 Or)", weiter steht „1316 Nyashus (B I 383)", muß heißen „1316 til det Nyarhus (B I 383 dänische Abschrift)". Seite 302, Zeile 9 von unten, ist einzufügen „1271 Bertoldus de quitsowe (A I 245 Or)". Seite 316, Zeile 1, steht „ ( A l l 40)", muß heißen „ ( A l l 30)". Seite 327, Zeile 3 von unten, ist einzufügen „1401—27 Rustede (Wentz, UrklnvWittstock 83 Nr. 84)", weiter steht „ ( A I V 445)", muß heißen „(A IV 445 Or)". Seite 354, Zeile 15, steht „1294 Joh. Zemlin (Á 1125), 1312 Semelyn (A II 79)", muß heißen „1294 Joh. zemlin (A 1125 Or), 1312 semelyn (A II 79 Or)". Seite 365, Zeile 10 von unten, steht „(B IV 84)", muß heißen „(B IV 84 Or)". Seite 379, Zeile 6, steht „1492 Tanckendorf", muß heißen „1492 Tanckenndorp", vgl. die Korrektur Seite 68, Zeile 6. Seite 384, Zeile 10 von unten, steht „1895 zuerst genannt", muß heißen „1888 (GemeindeLexikon von 1888) zuerst genannt". Seite 389, Zeile 4 von unten, ist einzufügen „1329 henningho de Vntse (A XXV 14)". Seite 392, Zeile 16 von unten, steht „1373 Henning Varnovv", muß heißen „1373 Henninck Varnow". Seite 393, Zeile 4 von unten, steht „1488 Welegast (A III 512)", muß heißen „1490 Weleghast (A III 512)". Seite 406, Zeile 11, steht „1895 zuerst genannt", muß heißen „1861 (R. Boeckh, Ortschaftsstatistik . . .) zuerst genannt". Seite 407, Zeile 16, ist einzufügen „1424 zu weysen (B IV 79 Or)". Seite 409, Zeile 13, steht „(A 1163)", muß heißen „(A 1163 Or)". Seite 410, Zeile 6, steht „(A 1163)", muß heißen „(A 1163 Or)". Seite 412, Zeile 3 von unten, steht „(B IV 79)", muß heißen „(B IV 79 Or)". Seite 414, Zeile 1 von unten, steht „(A III 373)", muß heißen „(A III 373 Or)".

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Seite 426, Zeile 6, ist einzufügen „1306 Alberto de Wupelitz (A XXV 7), 1385 Joh. Wupelizen (A VIII 347)". Seite 427, Zeile 15 von unten, ist einzufügen „1326 slot tu wulueshagen (A II 333 Or)". Seite 429, Zeile 1 von unten, steht „(A I 489 f.)", muß heißen „(A I 489 f. Or)". Seite 436, Zeile 10, steht „1344 Wustoch (A XXV 22), 1350 Wutyc (A 1485), 1375 Wodik (Landbuch 25)", muß heißen „1344 wucech/wustoch (A I 375/A XXV 22), 1350 Wutyc (A I 485 Or), 1375 Wodik, Wodick C, Wotik (Landbuch 25 und 48)". Seite 441, Zeile 17, ist einzufügen „1251 Zechelin (MU II 676)". Berlin Lore Baumert SCHULTZE, Johannes: Die Mark Brandenburg. 3 Bde. — Bln.: Duncker & Humblot 1961 u. 1963. Bd. 1: Entstehung und Entwicklung unter den askanischen Markgrafen (bis 1319). 268 S., 1 Stammtaf. DM 32,60. Bd. 2: Die Mark unter Herrschaft der Wittelsbacher und Luxemburger (1319 bis 1415). 253 S., 1 Kt. DM 31,80. Bd. 3: Die Mark unter Herrschaft der Hohenzollern (1415-1535). 254 S. DM 32,60 Eine eingehende Geschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter fehlte bis jetzt. Dafür sind in 21/2 Jh.en märkischer Geschichtsforschung eine Fülle von Sonderuntersuchungen und Darstellungen erschienen, deren Überblick für einen einzelnen fast unmöglich geworden ist, zumal da es an einer wissenschaftlich brauchbaren Bibliographie noch mangelt. Nur ein Mann wie Joh. Schultze, der ein Leben lang, zunächst als Archivar im Preuß. Geh. Staatsarchiv, dann als Professor an der FU in Berlin, sich hauptsächlich der märkischen Geschichte ordnend, anregend und selbst eingehend forschend gewidmet hat, konnte es unternehmen, in seinem 9. Lebensjahrzehnt aus der verwirrenden Menge von Quellen, Teildarstellungen und Problementwicklungen eine zusammenfassende politische Geschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter, das er mit dem Ende der Regierungszeit Joachims I. als abgeschlossen ansieht, zu schreiben. Kein wesentliches Ereignis bleibt in dieser Geschichte unerwähnt; jedes wird, soweit das möglich ist, sinnvoll in den historischen Ablauf eingeordnet; kein wichtiges Problem bleibt unerörtert, viele Streitfragen werden überzeugend geklärt. So ist ein Handbuch für die brandenburgische politische Geschichte entstanden, in dem für den Lernenden und Forschenden die Quellenbelege mit der dazugehörigen Literatur leicht erfaßbar aufgeführt sind; das ist für die Zeit der Wittelsbacher und Luxemburger Markgrafen, für die es ein Regestenwerk nicht gibt, besonders wertvoll. Bei dem weiten Zeitraum, der hier behandelt ist, sind die einzelnen Abschnitte verständlicherweise nicht alle gleichmäßig beschrieben worden. Die Geschichte unter den Askaniern, vor allem die Anfänge der Mark, über die der Vf. in den letzten Jahren mehrfach gehandelt hat, ist ausführlich und tiefschürfend erfaßt. Zu manchen Fragen wie der Besiedlung, dem Schicksal der wendischen Bevölkerung, der Erwerbung von Barnim und Teltow 1230, der Entstehung Berlins, den Städtegründungen überhaupt sowie über die Stände, sind kleine Sonderabhandlungen in den Gang der Erzählung eingestreut, die in vorsichtiger Weise die Dinge zu klären versuchen und die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit abstecken. Bei den Wittelsbachern und Luxemburgern mit ihrem wirren Hin und Her der Verhältnisse konnte eine solche Darstellung nicht durchgeführt werden. Hier ist es bei einer

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Geschichte der Beziehungen der einzelnen Markgrafen zu Brandenburg geblieben. Man hätte aber über die Verschiebung der inneren politischen Lage während dieser unruhigen Zeiten, über Wirtschaft und Handel sowie über die sozialen Zustände gern mehr im Zusammenhang erfahren. Besonders die Verhältnisse in den Städten, das Hineinwachsen des Patriziats in ritterschaftliche Stellungen durch Erwerb von Lehnsbesitz und die daraus entstehenden Spannungen innerhalb der städtischen Verwaltung hätten in die allgemeine Entwicklung hineingestellt werden sollen, etwa im Sinne von Spangenbergs Buch über Territorialwirtschaft und Stadtwirtschaft. Das 14. Jh. gilt im allgemeinen ja als die Zeit der Städte. Für die Geschichte der Hohenzollern beginnen die Quellen reichlicher zu fließen, die verschiedenen Persönlichkeiten treten plastischer hervor. Für diesen Abschnitt liegen auch die Darstellungen von Koser und Hintze, die 1913 bzw. 1916 erschienen sind, vor. Inzwischen sind aber weitere Einzeluntersuchungen veröffentlicht, die vom Vf. zu berücksichtigen waren. Der Wert dieses 3. Bd.es beruht hauptsächlich in seiner größeren Ausführlichkeit. Die Darstellung umfaßt gegenüber Koser knapp 100 S. mehr, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß Koser stärker auf die Tätigkeit der Markgrafen in Reichsangelegenheiten eingeht. In dem vorliegenden Bd. wird daher z. B. das Wirken Johanns als Regent deutlicher, wie auch die Persönlichkeiten der verschiedenen Räte und Kanzler klarer in Erscheinung treten. Der praktische Wert des ganzen Werks wird durch Orts- und Personenregister für jeden Bd., durch genealogische Übersichtstafeln der regierenden Häuser und durch eine von Gerd Heinrich entworfene Karte von den brandenburgischen Territorien erhöht. Berlin Hans Branig SCHULZE, Berthold: Brandenburgische Besitzstandskarte des 16. Jahrhunderts. Der ritterschaftl., geistl., städt. u. landesherrl. Besitz um 1540. Historischer Atlas von Brandenburg. (Hrsg. v. d. Berliner Histor. Komm. b. Friedrich-Meinecke-Inst. d. FU Berlin.) NF, Lfg. 1. - Bln.: de Gruyter 1962. Kt. 1 : 350000, 4 Bl. 59,1 X 35,8 cm (Farbendr.), Erl.-H. 28 S. DM 2 8 , - . Mit der Herausgabe der Brandenburgischen Besitzstandskarte hat die Historische Kommission zu Berlin mit der Fortsetzung der Arbeiten am Historischen Atlas von Brandenburg begonnen, dessen erste Blätter (Karten zur Kirchengeschichte, zur Siedlungsgeschichte und zur administrativen Gliederung) bereits in den Jahren 1929 bis 1939 erschienen waren. Auch die vorliegende Karte, die auf der Auswertung der uns heute unzugänglichen archivalischen Überlieferung des 16. Jh.s beruht, ist im Manuskript schon 1940 abgeschlossen worden. Die Karte, die von Gerd Heinrich für den Druck vorbereitet wurde, erfüllt mit ihrer dezenten Farbgebung, dem sauberen Schriftbild und der abgewogenen Raumeinteilung alle Forderungen, die man an die moderne Kartentechnik stellen kann. Der außergewöhnliche, für die Historischen Atlanten von Brandenburg und Pommern nun schon traditionelle Maßstab von 1 : 350000 ermöglichte eine genaue Darstellung der Besitzverteilung, Abstufungen innerhalb der Grautöne erhöhen die Lesbarkeit der Karte und heben besonders wichtige adlige Besitzkomplexe hervor. Mit dem Abkürzungssystem, das auf den Anfangsbuchstaben des Namens der Besitzer basiert (Kne = Knesebeck, Qu = Quitzow), ist der Benutzer rasch vertraut. Die Auswertungsmöglichkeiten, die die Karte für die Siedlungs-, Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bietet, können hier kaum angedeutet werden. Der gewählte Zeitpunkt ermöglicht einen Einblick in die innere Struktur

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der Mark Brandenburg vor den großen, mit der Einführung der Reformation verbundenen Besitzverschiebungen. Dadurch wird eine exakte Grundlage für die kartographische Darstellung der vorhergehenden Jahrhunderte geschaffen, denn nicht wenige der großen weltlichen und geistlichen Herrschaften lassen sich in dieser oder jener Form bis in die Zeit der deutschen Ostbewegung zurückverfolgen. Die verschiedene Besitzstruktur in den einzelnen märkischen Landschaften tritt deutlich hervor, Altmark und Prignitz zeigen stärkere Zersplitterung, während in der östlichen Neumark die ausgedehnten Herrschaften der Wedel, Borcke und Güntersberg dominieren. Das Verhältnis von landesherrlichem und adligem Besitz, das sich erst durch die Säkularisationen und die kurfürstliche Güterpolitik entscheidend änderte, macht die starke politische Stellung der brandenburgischen Ritterschaft verständlich. Es ist zu hoffen, daß die Brandenburgische Besitzstandskarte des 16. Jh.s recht bald eine Fortsetzung sowohl zum Mittelalter wie zur Neuzeit hin findet. Marburg]Lahn Hans K. Schulde HOLLNAGEL, Adolf: Die vor- und frühgeschichtlichen Denkmäler und Funde des Kreises Neubrandenburg. — Schwerin: Petermänken 1962. 88 S., 5 Textabb., 52 S. Abb., 7 Ktn. 4° = Die vor- und frühgeschichtlichen Denkmäler u. Funde im Gebiet d. DDR. Bd. 2. DM 1 2 , - . Das schlanke, in seiner äußeren Gewandung wie nach der inhaltlichen Form erfreuliche Produkt des altrenommierten Verlages, der selbst unter frugalen Bedingungen noch Gediegenes zu leisten vermag, mildert ein wenig die Verlorenheit, mit dem das aus derselben fleißigen Feder vier Jahre früher hervorgegangene Inventarwerk des Nachbarkreises Neustrelitz bisher auf einem weiten Brachfeld prähistorischer Quellenkunde Mitteldeutschlands als einsames, verpflichtendes Vorbild gestanden hat. Mit dem Erscheinen dieses 2. Bd.es eines Corpus, der wie die meisten solcher Monsterunternehmen schon vom Ansatz her die Gefahr in sich trägt, niemals vollendet zu werden, hat der heutige Nestor der mecklenburgischen Prähistoriker die wissenschaftliche Vorlage eines ansehnlichen Schatzes von Altertümern abgeschlossen, den er selbst jahrzehntelang betreut hat. Das erneute gute Beispiel, das er damit besonders all jenen gegeben hat, die das ehrgeizige Projekt bisher mehr programmatisch als praktisch betreiben, hätte fast zur Folge gehabt, daß die ganze Republik auf diesem Gebiet von einem ehemaligen Duodezfürstentum angeführt wird, dem man selbst auf dem Sektor der Heimatforschung wohl kaum Neigungen zum Avantgardismus nachsagen kann. Daß uns diese leicht groteske Situation erspart geblieben ist, verdanken wir der sogenannten Verwaltungsreform von 1952. Sie hat die Grenzen der beiden Kreise, die sich in das Kernland des alten Mecklenburg-Strelitz teilten, stark verändert, vor allem aber die Hälfte des alten Landes Stargard dem Kreis Neubrandenburg weggenommen. Zu den zweifelhaften Segnungen dieses behördlichen Neuerertums zählt die Tatsache, daß nun auch das Neubrandenburger Inventar sich mit Rücksicht auf die geplante Serie an die neue Kreiseinteilung halten muß. Die vom Vf. geäußerte Hoffnung, das nunmehr auswärtig gewordene Material dereinst in den Inventaren der Nachbarkreise zu finden, bietet hier nur schwachen Trost. Einem knappen Bericht über die Geschichte der einheimischen Altertümersammlungen sowie von der Entstehung des Werkes, das deren Bestände zugleich nützt und der Forschung erschließt, folgt ein als „Geologische Einleitung" bezeichneter, leider etwas zu summarisch gehaltener Abriß der boden- und siedlungskundlichen Verhältnisse im behandelten Gebiet. Hier hätte man gut daran getan, dem Ortsunkundigen das erforderliche

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Geländeverständnis durch eine Grundkarte zu erleichtern, die etwas mehr darstellt als den bloßen Umriß des Kreises mit verwaltungspolitischer Gliederung und einer stark vereinfachten Hydrographie. Bei der Lektüre des anschließenden Hauptabschnitts macht sich dieser Mangel stets aufs neue unangenehm bemerkbar. Auf 19 Seiten führt der Vf. den Fundstoff von der mittleren Steinzeit bis zur askanischen Landnahme nach den großen Zeitstufen geordnet vor. Manches statistische und quellenkundliche Detail wird wiederholt, das im Fundkatalog übersichtlicher und ausführlicher nachzulesen ist. Daß eine siedlungskundliche Auswertung der Kartenbilder für die einzelnen Perioden unterbleibt, ist unter den gegebenen Umständen begreiflich. Spätestens durch die Abtretung seines südöstlichen Viertels an den heutigen Kreis Gransee ist das Gebiet viel zu klein geworden, landschaftlich zuwenig differenziert und auch zuwenig systematisch durchforscht, als daß sich aus den mit viel zu vielen nicht genau lokalisierbaren Fundstellen beladenen, überdies zu kleinen Verbreitungskarten mehr als eine ganz allgemeine Vorstellung davon gewinnen ließe, welche Teile des Kreises in den verschiedenen Epochen der Vorzeit bevorzugt oder gemieden, bebaut oder bewaldet waren. Ergibt sich ausnahmsweise für einen bestimmten Kulturabschnitt eine Häufung der Fundstellen in bestimmten Teilgebieten, so enthält sich der Autor entweder jeder Deutung dieses Phänomens, oder er muß sich mit sehr vorsichtigen Vermutungen begnügen. Von einem reinen Inventar darf man eben nicht das erwarten, was allenfalls eine nach modernen Methoden durchgeführte archäologische Landesaufnahme zu leisten vermag. Bemerkenswert sind in erster Linie der Formenreichtum, die im Durchschnitt hohe Qualität und die Heterogenität in den kulturellen Bezügen bei einem Fundstoff, der ohne eine einzige planmäßig vorgenommene Ausgrabung zusammengetragen worden ist. Es wird deutlich, wie sehr das Grenzgebiet von Mecklenburg und Brandenburg an den verschiedenen mittel- und nordeuropäischen Kulturströmungen zu allen Zeiten Anteil hatte. Gerade angesichts dieser Fülle des zu Verarbeitenden dürften die mehr allgemein gehaltenen als orts- oder sachbezogenen Ausführungen über solche Themen wie die Entwicklung des Handwerks oder den Gang der Sozialgeschichte, oder gar über den lokalen Mangel an Beweisen für den Zerfall der sogenannten Urgesellschaft gegen Ende der vorrömischen Eisenzeit, selbst dem Laienleser als zumindest entbehrliches Rankenwerk erscheinen. Dasselbe gilt für das referierende Heranziehen von anderswo erarbeiteten Erkenntnissen bei der Behandlung solcher Perioden und Denkmälerkategorien, die im Kreise selbst noch der Entdeckung oder Erforschung bedürfen. Was von all diesem schönen Quellenstoff uns verlorengegangen, noch ehe es recht erfaßt oder gar ediert werden konnte, das lehrt ein Blick auf die vielen Sternchen im anschließenden Fundkatalog, die das jetzige Fehlen der betreffenden Stücke anzeigen. Brand, Plünderung und mangelhafte Betreuung in den ersten und schwersten Jahren gleich nach Kriegsende haben besonders die qualitativ besseren Bestände erschreckend dezimiert. Um so mehr ist dem Vf. für seine umsichtige Auswertung und Kompilation aller erreichbaren Unterlagen, Aufzeichnungen und Abbildungen unveröffentlichten Materials zu danken. Der Katalog bringt den gesamten Fundstoff nach Gemarkungen geordnet, innerhalb dieser nach Zeitstufen unterteilt. Die Anordnung ist klar und übersichtlich, jeder Komplex wird knapp, aber ausreichend beschrieben mit Angabe von Inventarnummern sowie Tafel- und Literaturhinweisen. Da, wo es möglich war, sind auch die Koordinaten der Fundstellen auf den Meßtischblättern angegeben. Dies ersetzt notdürftig die Kartenausschnitte im Maßstab 1 : 25 000, die in früheren Werken dieser Art, etwa den Prignitzer Inventaren von W. Matthes und W. Böhm aus den frühen 30er Jahren, für jede einzelne Gemarkung mit den entsprechenden Eintragungen versehen beigegeben wurden.

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Die in sauberen Strichzeichnungen oder gut reproduzierten Fotos auf den Tafeln erscheinenden Altertümer bringen manches unwiderruflich Verlorene erstmals im Bilde zur allgemeinen Kenntnis, insbesondere die bronzezeitlichen Prunkstücke, die wohl den Höhepunkt künstlerischer Entwicklung in der Vorzeit Mecklenburgs darstellen. Die publikatorischen Unterlassungssünden vergangener Jahrzehnte lassen sich hierdurch freilich nur sehr unvollkommen wettmachen — dazu ist einfach zu viel Material verschollen. Ein ausführliches Schriftenverzeichnis, ein Sachregister aller vorkommenden Gattungen von Altertümern sowie ein topographisches Register dienen schließlich der bequemen Orientierung bzw. der weiteren Auswertung des Fundbestandes. Hier ist vielleicht nicht der richtige Ort und dennoch ein guter Anlaß, die Frage kurz zu erörtern, ob ein Kreisinventar den Versuch machen sollte, mehr als eine schlichte Quellenedition zu sein. Schon die Bezogenheit auf einen fest umgrenzten geographischen Bezirk wird wohl immer dazu verführen, das Zusammengestellte unter siedlungskundlichen Gesichtspunkten auszuwerten. Dennoch sollte nicht vergessen werden, daß das topographische Inventar in eine Reihe zu stellen ist mit solchen Denkmäler-Corpora wie den auf bestimmte Einzugsgebiete oder Fundkomplexe beschränkten Museumsführern und Sammlungskatalogen, die natürlich ebenso zu den wenig dankbaren, aber unentbehrlichen Kärrnerarbeiten für eine Landesaufnahme zählen wie das Kreisinventar. In jenen deutschen Ländern, die heute auf diesem Gebiet führend sind, werden eventuell noch fehlende Vorbereitungen dieser Art freilich in der Regel zugleich mit der Landesaufnahme in Angriff genommen. Wir sollten dem Vf. trotzdem sehr dankbar dafür sein, daß er unter den gegebenen Bedingungen mit unbeirrter Zähigkeit getan hat, was in den Kräften eines einzelnen stand, die Erfordernisse zeitgemäßer Vorgeschichtsforschung auch in seinem Arbeitsbereich zur Geltung zu bringen. Berlin

Gustav Mahr

Adriaan v.: Fohrde und Hohenferchesar. 2 german. Gräberfelder d. frühen röm. Kaiserzeit aus d. Mark Brandenburg. — Bln.: de Gruyter 1962. 90 S. mit Abb., 79 Tafeln, 4° = Berliner Beiträge z. Vor- u. Frühgeschichte, Bd. 3. DM 4 8 , - .

MÜLLER,

Der Vf. läßt seinen Untersuchungen über das Fundgut der frühen römischen Kaiserzeit in Brandenburg und Mecklenburg hier das Material zweier großer havelländischer Gräberfelder folgen, wodurch — anschließend an kleinere Vorarbeiten — erstmals die Möglichkeit gegeben wird, die Variationsbreite der Altertümer dieser Epoche innerhalb größerer Fundkomplexe zu studieren. Die Arbeit will bewußt als reine Quellenedition aufgefaßt werden und hat daher auswertende Betrachtungen auf ein Minimum beschränkt und nur dort vorgenommen, wo sie nach Ansicht des Vf.s unbedingt zum Verständnis der Funde nötig sind. 9 S. fortlaufenden Textes stehen daher auch 78 S. Katalog und 79 Tafeln gegenüber. Auf diesen Seiten hat der Vf. in mühevoller Arbeit das über zahlreiche Museen Berlins und der „DDR" verstreute Material zusammengetragen und in Beschreibung sowie Abbildung vorgelegt, eine Arbeit, die um so höher bewertet werden muß, da zahlreiche Funde den Kriegseinwirkungen zum Opfer gefallen sind und nur mit Hilfe von Materialskizzen in Museumskatalogen und von Fachkollegen rekonstruiert werden konnten. Bei der Bedeutung solcher Quellenpublikationen seien einige kritische Bemerkungen zur Art der Vorlage angemerkt, die jedoch das Verdienst der Arbeit nicht schmälern sollen. Bei der vom Vf. selbst aufgeworfenen Frage, ob es sich bei den zwei unmittelbar neben-

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einanderliegenden Friedhöfen nicht in Wirklichkeit um Teile eines einzigen nur unvollkommen untersuchten Gräberfeldes handelt, dem auch möglicherweise die Latene- und spätkaiserzeitlichen Beisetzungen vom gleichen Gelände zuzuweisen sind, ist es zu bedauern, daß der Kartenausschnitt (Abb. 1) ohne Angabe des Maßstabs geblieben ist. Einer objektiven Dokumentation des Fundgutes zuliebe hätten wir es begrüßt, im Katalogtext zu erfahren, welche Funde vernichtet worden sind. Ebenso wäre es u. a. günstig gewesen, diejenigen Abbildungen zu kennzeichnen, die nicht nach den Originalfunden gezeichnet worden sind, wie dies bei anderen ähnlichen Publikationen erfolgt ist. Auf diese Weise wäre sicher erklärt, warum allzuoft auf ein exaktes Querprofil der Gefäße verzichtet wurde zugunsten einer leicht perspektivischen Darstellung. Die zeichnerische Wiedergabe der Keramik hätte dabei in zahlreichen Fällen stärker vereinfacht werden können, ohne Beeinträchtigung der wissenschaftlichen Aussage und der ansprechenden äußeren Form, wohl aber bei einer Verringerung der Arbeitskosten. Schließlich glauben wir, daß bei der umfassenden bildlichen Vorlage der Text des Katalogs ganz wesentlich hätte entlastet werden können, indem man dort nur das angegeben hätte, was der Zeichnung nicht zu entnehmen ist. Bei einer etwas raumsparenderen drucktechnischen Anordnung wären sicher viele Katalogseiten überflüssig geworden. Die Tabelle der Grabverbände hätte in ihrem Aussagewert endlich viel gewonnen, wenn die Grabbeigaben entsprechend der vom Vf. ausgesprochenen Gliederung nach dem Geschlecht aufgeführt wären, indem den Stücken der Gruppe 1 die der Gruppe 3 folgen würden und die Gegenstände der indifferenten Gruppe 2 an den Schluß gestellt wären. Abschließend betonen wir nochmals, daß diese Bemerkungen nicht den Wert dieser Arbeit mindern sollen, wir es aber bei der fehlenden Einheitlichkeit archäologischer Quellenvorlagen für wichtig halten, auf solche editionstechnischen Gesichtspunkte hinzuweisen. Göttingen Konrad Weidemann Brandenburger Evangelistar. (Allgem. Einf.: Josef Gülden. Kunstgeschichtl. Betrachtung: Edith Rothe. Liturgiegeschichtl. Erklärung: Bernhard Opfermann.) — Düsseldorf: Schwann (1962). 80 S., 60 S. Faks. DM 6 4 , - . Seit Arthur Haseloff in seiner 1897 erschienenen Arbeit „Eine thüringisch-sächsische Malerschule des 13. Jh.s" diese der kunstwissenschaftlichen Forschung erschlossen hat und seine Studien in einer von O. Doering und G. Voss 1906 hrsg. Publikation der „Meisterwerke der Kunst in Sachsen und Thüringen" vertiefte, ist dieses Gebiet der Buchmalerei nicht wieder Gegenstand einer zusammenfassenden Betrachtung gewesen. Eigenart und Herkunft zumindest der wichtigsten Hss. dieser Gruppe zu bestimmen, stellt sich als Aufgabe der zukünftigen Forschung. Einzeluntersuchungen werden dabei wertvolle Hilfe leisten, zumal vieles heute nur schwer erreichbar, manches durch Kriegseinwirkung verloren ist. So ist zu begrüßen, daß jetzt in einer sorgfältig mit reichem Bildteil ausgestatteten Veröffentlichung eine der bedeutendsten Hss. dieses Kreises, das Brandenburger Evangelistar, zugänglich gemacht wurde. Drei Autoren zeichnen für die drei Hauptabschnitte des erläuternden Textes. In einer allgemeinen Einführung unternimmt Josef Gülden eine Würdigung der Handschrift und ihres reichen Miniaturenschmuckes. Die Deutung der Darstellungen und Erklärung der Bildinhalte verbindet sich mit Hinweisen auf spezifisch prämonstratensische Züge und die historische Situation zur Zeit ihrer Entstehung. Im Anschluß an den Bildteil, der alle ganzseitigen Miniaturen sowie einige Initial- bzw. Zierseiten farbig wiedergibt, folgt der 1. Abschnitt der kunstgeschichtlichen Betrachtung

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von Edith Rothe. Er beschränkt sich auf eine Beschreibung der Seitenfolge und der Miniaturen. Dabei fällt auf, daß die Bildbeschreibungen nicht immer mit den in der Einleitung notierten Beobachtungen zusammengehen oder abweichende Auffassung begründen und verschiedene Motive nicht richtig gesehen werden. Anmerkungen zu Komposition, Form, Stil und Farbe wären vielleicht besser in den zusammenfassenden 2. Teil dieses Kapitels aufgenommen worden, wodurch eine straffere Gliederung erzielt wäre. Bernhard Opfermann gibt in seiner liturgiegeschichtlichen Erklärung eine klare und übersichtlich geordnete Gruppierung der Perikopen mit einer vollständigen Aufzählung der Lesungen und des Heiligenkalenders. Daraus ergeben sich wertvolle Aufschlüsse über die Besonderheiten des Evangelistars und seiner Bestimmung für das Chorherrenstift der Prämonstratenser der Brandenburger Domkirche. Auch die Datierung der Hs. in das 1. Drittel des 13. Jh.s läßt sich aus dem Lesungsbestand und aus der Aufnahme neuer Heiligenfeste erschließen. Möglicherweise war der Stifter des Codex der ehemals Magdeburger Domherr und spätere Bischof von Brandenburg (1221—1241) Gernand. Wo die Hs. entstand, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln, doch muß sie wohl von Anbeginn für den Brandenburger Dom bestimmt gewesen sein, wo sie bis in die jüngste Zeit bewahrt wurde. Bis 1945 war auch ihr kostbarer Deckelschmuck, vergoldete Silberarbeit mit einer Darstellung der Kreuzigung, erhalten. Sein Verlust ist um so mehr zu beklagen, als Handschrift und vor allem die Miniaturen von höchster Qualität sind, das Werk eines hervorragenden Künstlers sehr persönlicher Prägung. Eine kurze Charakterisierung seiner Eigenart, der möglichen Vorbilder und Beziehungen versucht der 2. Teil der kunstgeschichtlichen Betrachtung. Hier wäre eine gründliche ikonographische Untersuchung und Stilanalyse angemessen. Sie könnte vielleicht Aufschluß über die Persönlichkeit des „Brandenburger Meisters" geben und den Weg für weitere Untersuchungen zur thüringischsächsischen Malerschule ebnen. Der Anhang erklärt Entwicklung und Gebrauch der wichtigsten liturgischen Bücher und bringt einen Abriß der Geschichte des Brandenburger Prämonstratenserdomstiftes, der durch eine Liste der Brandenburger Bischöfe bis zum Jahre 1544 ergänzt wird. Berlin Frauke Steenbock KÜNKEL, Hans: Auf den kargen Hügeln der Neumark. Z. Geschichte e. Schäferu. Bauerngeschlechts im Warthebruch. — Würzburg: Holzner 1962. 147 S. mit Abb. = Ostdt. Beiträge aus d. Göttinger Arbeitskreis. Bd. 21. DM 12,80. Bei dieser nachgelassenen Schrift des durch philosophisch-pädagogische Werke und Romane bekannt gewordenen Autors handelt es sich um unmittelbare, durch die Vorfahren überlieferte Familienerinnerungen. Sie sind verknüpft mit dem Familienbesitz, den der einer alten Schäferfamilie entsprossene Urahn 1778 begründete durch Erwerb des königlichen Amtsschäfereivorwerks im Bauerndorf Gennin am Rande des Warthebruches. Die anfängliche Erbpacht wandelte sich durch die Reformgesetzgebung in Eigentum. Die Interessen des Schäfers gerieten bei seinem 100jährigen Leben (t 1852) in Konflikt mit der von den bäuerlichen Erben begonnenen neuzeitlichen intensiven Bodennutzung. Die Schilderungen geben Einblick in das Werk der Urbarmachung des Warthebruches und die zeitbedingte Veränderung des landwirtschaftlichen Gutsbetriebes. Von geschichtlichem Interesse ist auch eine Begegnung des Urgroßvaters mit Napoleon bei dessen Durchmarsch nach Rußland 1812. Berlin

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GEBIETE

Scholz, Hans: An Havel, Spree und Oder. 5 Hörbilder. — Hamburg: Hoffmann u. Campe. 1962. 362 S. DM 17,80. Es fällt nicht leicht, die von dem bekannten Berliner Autor nun auch in Buchform veröffentlichten Funkmanuskripte literarisch einzuordnen — es sei denn als „Dokumentation" im weiteren Sinne —, zumal der funkpublizistische Terminus „feature" noch nicht einmal in der Belletristik Fuß gefaßt hat. Der vorliegende Versuch, Hörstoff als Lesestoff anzubieten, kann kaum als befriedigend bezeichnet werden. Wirklich lesbar sind fast nur die relativ kontinuierlichen informierenden Passagen des Erzählers, während die in sich zu oft unterbrochenen Dialogtextteile eher verwirren als an die durchaus interessanten Gegenstände der Darstellung heranführen. Was dem Hörer auf annehmbare Weise an stadtund landesgeschichtlichen Fakten nahegebracht wird, muß der Leser mühsam aus einem substanzmäßig sehr heterogenen Gesprächsspiel herausfiltern. Wer sich also über die Geschichte Potsdams, Frankfurts an der Oder, des Brandenburger Tores und des Kurfürstendamms unterrichten will, wird wohl doch nicht auf diese funkisch hier nicht zu beurteilende Manuskriptpublikation zurückgreifen. Als Jahr der Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes ist auf S. 213 unzutreffend 1893 statt richtig 1884 angegeben. Berlin Klaus Ehrler W i r t h , Irmgard: Potsdam. Zus.gest. u. eingel. Mit 40 Bildtaf. u. e. Plan von 1803. - (Bayreuth:) Schwarz 1962. 40 S. DM 2,20. Das Bändchen aus der Reihe der Schwarz-Bildbücher zeigt in 40 Aufnahmen das Aussehen der Stadt vor dem Kriege. Als Erinnerung an Zerstörtes oder nicht Zugängliches wird man das Büchlein dankbar begrüßen. Werden und Wachsen der Stadt sind auf 2 S. knapp beschrieben ; das Wichtigste ist der Bildteil. Das Umschlagbild mit einer Partie des Neuen Palais trägt versehentlich die Beschriftung „Schloß Sanssouci". Berlin Helmut Börsch-Supan Sachsenhausen. (Hrsg. v. Komitee d. Antifaschist. Widerstandskämpfer in der Dt. Demokrat. Republik. Aufn.: Ernst Schäfer u. a. Texte: Peter Edel u. a.) — Bln.: Kongreß-Verl. 1962. 186 S., S. 5 7 - 1 4 4 Abb. 4°. DM 24,80. In Anwesenheit von Widerstandskämpfern zahlreicher Nationen wurde am 23. April 1961 die auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers errichtete Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen der Öffentlichkeit übergeben. Neben Dokumentaraufnahmen aus der Lagerzeit, photographischen Porträts einiger der Ermordeten und Ansichten der Erinnerungsstätte enthält das viersprachige Werk Bilder von der Feierstunde und Texte der während des Festaktes gehaltenen Ansprachen. Graphisch und typographisch durch Gert Wunderlich hervorragend gestaltet, erweist sich der Bd. als suggestiver Uberzeugungsversuch auf der Argumentationslinie des Satzes: „In der Deutschen Demokratischen Republik wurde das Vermächtnis der Antifaschisten erfüllt." Berlin Henryk Skr%jpc%ak ( E c k a r d t , Götz:) Verzeichnis der Bauten und Plastiken im Park von Sanssouci. (Amtl. Führer. Bearb.) — Potsdam: Staatl. Schlösser u. Gärten, PotsdamSanssouci 1962. 56 S. m. Abb., 8 S. Abb., 1 Übersichtspl. DM 1,50.

MECKLENBURG

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Gedenkstätten und Museen im Bezirke Potsdam. Als Ms. gedr. — Potsdam: Pädagogisches Bezirkskabinett 1962. 64 S. m. Abb. Die Gemälde in der Bildergalerie von Sanssouci. (Amtl. Führer.) — Potsdam: Staad. Schlösser u. Gärten Potsdam-Sanssouci 1962. 31 S., 10 Bl. m. Abb. DM 1,50. Ernst: Das Klima des Landes Brandenburg. Mit 14 Abb. u. 29 Ktn. — Bln.: Akademie-Verl. 1962. 60 S., 29 Ktn. in Rückenschlaufe 4° = Abhandlungen d. Meteorologischen u. Hydrologischen Dienstes d. Dt. Demokrat. Republik. Nr. 64. DM 24,50. HEYER,

Willy: Sanssouci. Seine Schlösser u. Gärten. (Hrsg. v. d. Verwaltung d. Staatl. Schlösser u. Gärten, Potsdam-Sanssouci. (Mit e. Holzschn. v. Adolph Menzel. 4. Aufl.) - Bln.: Henschel 1962. 115 S. m. Abb. DM 8 , - . KURTH,

Peter: Die Stiftskirche von Neuzelle. Geschichte und Führung. (Bilder: Martin Lücke u. a.) — Leipzig: St. Benno-Verl. (1962) 56 S. DM 1,20. PRIEMER,

STOCKMANN, Doris: Der Volksgesang in der Altmark. Von d. Mitte d. 19. bis zur Mitte d. 20. Jahrh. - Bln.: Akademie-Verl. 1962. XVI, 506 S., 1 Kt. = Veröffentlichungen d. Instituts f. Dt. Volkskunde. Bd. 29. Diss. Humboldt-Universität, Bln., überarb.

3. Mecklenburg Manfred: Das staatliche Werden Mecklenburgs. — Köln, Graz: Böhlau 1962. VI, 197 S„ 2 Taf. = Mitteidt. Forschungen, 24. DM 2 4 , - . HAMANN,

Wer sich bisher über die Grundlinien der mecklenburgischen Verfassungsentwicklung orientieren wollte, mußte zahlreiche Aufsätze in den Meckl. Jahrbüchern, die Staatskalender und die veralteten oder unabgeschlossenen Gesamtdarstellungen zu Rate ziehen. Mit dem vorliegenden, von einem ehemaligen Schweriner Archivar verfaßten Abriß der meckl. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte wird diese Lücke dankenswerterweise geschlossen. Handbuchartig beschreibt und erläutert Hamann die Hauptphasen der Verfassungsentwicklung und Behördengeschichte. Der naheliegenden Versuchung, den Behördenapparat bis in lokale oder institutionelle Ausläufer zu verfolgen, ist H. entgangen. Die Arbeit beschränkt sich auf das für den Historiker und den Archivar Wesentliche. Daß des Vf.s eigene Aufsätze über meckl. Archive und Archivalien und die archivarischen Berufserfahrungen der wertvollen Darstellung vielfältig zugute kamen, liegt auf der Hand. Auf einen Anmerkungsapparat wurde verzichtet. Ein nach Kapiteln geordnetes Quellen- und Lit.-Verz. bietet dafür Ersatz. — In 7 Hauptabschnitten behandelt H. die mittelalterlichen Grundlagen (Wendenzeit, territoriale Entwicklung, Aufbau des Lehnsstaates, geistl. Territorien), die Entwicklung des Ständestaates der Neuzeit, die Zentralverwaltung in Schwerin (1480—1918) und Strelitz (1701—1918), die Lokal-, Kommunal- und Justizverwaltung bis 1918 und schließlich die Entwicklung der Verwaltungsorganisation im 20. Jh. (bis 1945 bzw. 1952). Auf eine Darstellung der Entwicklung der minder bedeutsamen Medizinal-, Schul-, Militär-, Verkehrs- und Wirtschaftsbehörden wurde zu Recht verzichtet. Ein Orts- und Personenregister sollte einer eventuellen Neuauflage hinzugefügt werden. Ein Schema der meckl. Territorialentwicklung und eine Ubersicht über das Fürstenhaus beschließen das Werk. — Für den vergleichenden Landeshistoriker bietet die Arbeit mannigfache Anregungen. Mit der interessanteste Teil behandelt naturgemäß die ständischen Verhältnisse. „Die meckl.

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Landstände des Mittelalters wurzeln in den Teilherrschaften, von deren Fürsten sie zusammengerufen wurden" (S. 17). Und: „Seit 1484 setzten sich die Gesamtlandtage allmählich durch" (S. 18). Weitere Etappen auf dem Wege zur kaum eingeschränkten Neben- und zeitweiligen Vorherrschaft der Stände waren die landständische Union von 1523 und die Privilegien-Bestätigungen von 1555, 1572 und 1621. Nach dem 30j. Krieg gelang es den Herzögen trotz gewisser Ansätze nicht, die Macht der Stände zu brechen, weil einzelnen von ihnen „Fleiß und konsequente Energie des Staatsmannes" fehlte. Besonders aufschlußreich ist die ausführlichere Darstellung des Geschäftsbetriebes der Landtage (S. 51—69), deren schließlich mehr und mehr versteinernde Formen dazu beigetragen haben, dem Mecklenburg der Zeit vor 1918 den Ruf eines Dünkel und Beschränktheit konservierenden „Feudalmuseums" einzutragen. Mit diesen Hinweisen muß es hier sein Bewenden haben. Es bleibt zu hoffen, daß ähnlich quellennahe Darstellungen noch für weitere mittel- und ostdeutsche Territorien erarbeitet werden können. Berlin

Gerd Heinrich

BALLSCHMIETER, Hans-Joachim: Andreas Gottlieb von Bernstorff und der mecklenburgische Ständekampf (1680—1720). — Köln, Graz: Böhlau 1962. X, 160 S. = Mitteidt. Forschungen, 26. DM 20,—. Die großen Linien der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands im 17. und 18. Jh. sind bekannt. Drei Gruppen von Staaten bilden sich heraus: absolutistische Mächte, Staaten, in denen der alte dualistische Ständestaat mehr oder weniger weiterlebt und schließlich solche, in denen die Stände sich gegenüber dem Fürstentum endgültig durchzusetzen vermögen. Zu letzteren gehört Mecklenburg. Es ist ein Verdienst des Vf.s, sich diesem Problem gewidmet zu haben, zumal die Erforschung der inneren Entwicklung der kleineren deutschen Staaten in dieser Epoche z. T. in der Tat noch manches zu wünschen übrig läßt. Besonders zu begrüßen ist es, daß Vf. neben den Akten des Staatsarchivs Hannover die im Göttinger Archivlager lagernden Mecklenburgischen Akten sowie die Privatakten des Grafen Bernstorff im gräflichen Archiv in Gartow hat benützen können. Es ist ihm auf diese Weise möglich geworden, nicht nur die inneren Vorgänge in Mecklenburg selbst zu behandeln, die den Versuch Herzog Christian Louis', die Macht der Ritterschaft zugunsten eines absoluten Staates zurückzudrängen, vereitelt haben. Der Vorzug der Darstellung liegt vielmehr darin, daß diese Isolierung vermieden worden ist und die Kämpfe um Durchsetzung des absoluten oder des ständischen Prinzips in die allgemeinen europäischen und reichsgeschichtlichen Zusammenhänge hineingestellt worden sind. Wenn auch manches neue Licht dabei auf die Verbindungen zu Frankreich, die Herzog Christian Louis bewußt pflegte, fällt, so ist m. E. noch wichtiger der Nachweis, daß die Weifen die Kreisverfassung des Reichs und das ihnen zugefallene Amt des kreisausschreibenden Fürsten, später des Kreisobersten im Niedersächsischen Kreis, zu dem Mecklenburg gehörte, zielbewußt zum Ausbau ihrer territorialen Macht benützt haben, ein Gebrauch, der an sich nicht im Sinne der Kreisordnung lag. Die Persönlichkeit des gebürtigen Mecklenburgers, in hannoverschen Diensten stehenden Ministers Bernstorff steht ganz im Mittelpunkt der Darstellung; historisch berechtigt, auch wenn man bedauern kann, daß dadurch andere handelnde Personen, wie etwa die Herzöge Friedrich Wilhelm und Karl Leopold, nicht recht Profil gewinnen. Im ganzen ein sehr erfreulicher Beitrag zu einem noch wenig bekannten Kapitel deutscher Territorialgeschichte, auch wenn man geneigt sein könnte, die „historische Notwendigkeit" dieses Kampfes um „rechtmäßig erworbene Privilegien" viel-

MECKLENBURG

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leicht etwas zu stark herausgearbeitet zu finden; wie überhaupt manche Einzelurteile merkwürdig im Klischee verhaftet bleiben. Im Grunde ist dieser ganze Ständekampf keine innermecklenburgische Auseinandersetzung, sondern auf dem Rücken der Stände und der Herzöge dieses kleinen Landes werden massive Interessen der umgebenden, ja der fernen europäischen Mächte, wie England-Hannover, Preußen und Rußland, um den vorwiegenden Einfluß in diesem Lande und damit in der westlichen Ostsee ausgefochten, Tendenzen, denen sich auch der Kaiser und der Reichshofrat bei ihrer Urteilsbildung in diesen Auseinandersetzungen nicht zu entziehen vermochten. Berlin Richard Dietrich GLOEDE, Günter, u. Wolfhard ESCHENBURG : Das Münster zu Doberan in Mecklenburg. — Königstein i. Ts.: Langewiesche (1962). 47 S. Abb. mit Text. (Langewiesche-Bücherei.) DM 3,30.

Die in der Reihe der kleinen Langewiesche-Bändchen Ende 1961 erschienene Broschüre ist vorab wegen ihrer guten Abbildungen zu begrüßen. Der sehr knappe Text von G. Gloede gibt eine historische und kunstgeschichtliche Einleitung, die einige Hinweise auf die Bedeutung der Zisterzienserabteikirche und auf ihre noch immer erstaunlich reiche Ausstattung enthält. Zwei Grundrisse im Anhang erläutern den Bau. Als 3. Neuerscheinung über Doberan (1. Lorenz, Adolf Friedrich, „Doberan. Ein Denkmal norddeutscher Backsteinbaukunst", Berlin 1958; 2. Gloede, Günter, „Das Doberaner Münster", Berlin 1960 — vgl. auch die Besprechungen des Vf.s dieser Rezension in diesem Jb., Bd. 11, Berlin 1962, S. 462 bis 465), ist der Bd. wegen der 54 Abbildungen eine willkommene Ergänzung. Neben der Architektur, die auch in ausgewählten Details (z. B. mit den blattwerkgeschmückten Dienstkonsolen und mit Gewölbeeinblicken) anschaulich wird, sind es vor allem die herrlichen Stücke skulpturaler Ausstattung (vom 13.—17. Jh., Grabmalfiguren, Gestühlwangen, Altäre, Kruzifixe, Sakramentshaus- und Kelchschrankfiguren), die meist in charakteristischen photographischen Ausschnitten dem Betrachter vermittelt werden. Beim Durchblättern wird bewußt, wie stark dieser Bau und sein immobiler und mobiler Schmuck mit dem ganzen hansischen Ostseeraum bis nach Skandinavien hinauf und mit der niedersächsisch-westfälischen Kunst des späteren Mittelalters, selbst noch mit der dahinterstehenden rheinischen Bildnerei des 14. Jh.s in vielerlei Beziehungen zusammenhängt. Angesichts der Schätze, die in den beiden Bildbd.en G.s aufleuchten, wächst der Wunsch nach einer genaueren monographischen Studie des kostbaren Bauwerks und der Ausstattung, die es glücklicherweise noch birgt. Saarbrücken J. A. Schmoll gen. Eisenwerth

Beiträge zur Erforschung des Naturschutzgebietes. Ostufer der Müritz. — Greifswald (Straße d. Nationalen Einheit 38): Institut f. Landesforschung u. Naturschutz, Zweigstelle Greifswald; [Neustrelitz:] Rat d. Bezirkes Neubrandenburg) 1962. 250 S. m. Abb., 3 Ktn. = Beiträge z. Erforschung mecklenburg. Naturschutzgebiete. 1. Nicht im Buchhdl. KLEIMINGER, Rudolf: Das Heiligengeisthospital von Wismar in sieben Jahrhunderten. Ein Beitrag z. Wirtschaftsgeschichte d. Stadt, ihrer Höfe u. Dörfer. (Mit Titelbild, 27 Abb. im Text u. 1. Falttaf.) - Weimar: Böhlau 1962. XIV, 308 S. = Abhandlungen z. Handels- u. Sozialgeschichte. Bd. 4. DM 22,20. 26

Jahrbudi 12

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KÜHL, Fritz, Dr.: Über die Herkunft u. Bedeutung d. Ortsnamens Parchim. Eine Zusammenstellg. u. Betrachtg. alter u. neuer Ansichten. — Parchim: Erweiterte Oberschule 1962. 68 S. m. Abb. = Schriftenreihe d. Erw. Oberschule Parchim. H. 3. LÜPKE, Gerd: Dome, Kirchen und Klöster in Mecklenburg. Nach alten Vorlagen. — Frankf./M.: Weidlich 1962. 252 S. mit 96 Abb. = Dome, Kirchen, Klöster. Bd. 4. DM 16,80. MARTENS, Wilhelm, Dr.: Die Seenlandschaft bei Feldberg in Mecklenburg. Versuche. Deutung ihrer Formen. — 2 Skizzen u. 2 Fotos. — Templin: Rat d. Kreises, Abt. Kultur (1962). 16 S. mit Abb. = Heimatschriften d. Kreises Templin. H. 4. REUTER, Gerhard: Tendenzen der Bodenentwicklung im Küstenbezirk Mecklenburgs. Mit 10 Abb., davon 8 Abb. auf 1 färb. Kunstdrucktaf., 12 Fig. u. 3 Tab. — Bln.: Akademie-Verl. 1962. 128 S. = Deutsche Akademie d. Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin. Wissenschaftliche Abhandlungen. Nr. 49. DM38,—. SCHROEDER, Edmund: Mein Mecklenburger Land. Bild e. dt. Landschaft. (III. von Karl Hennemann. Übersichtskt. von Willi Süss. 3. Aufl. 21.—25. Tsd.) — Schwerin: Petermänken (1962). 399 S. DM8,40. Insel Usedom. Mit e. Vorw. v. Hermann Heinz Wille. — Dresden: Sachsenverl. 1962. 20 S., 48 Bl. Abb. = Unsere schöne Heimat. DM 4,80. VIERECK, Paul, Dr.: Die Stadt Perleberg. T. 1. — (Perleberg: Rat d. Kreises, Rat d. Stadt (Vertrieb: Kreis-Heimatmuseum). 1962. 1.1962. 190 S. m. Abb., 1 Tab. DM 3,80. WILLE, Hermann Heinz: Die Insel Usedom. (Fotos: Gisela Pätsch.) — Rostock: HinstorfF 1962. 212 S. DM 8,30.

4. Pommern Pommersches Urkundenbuch. Bd. 8. 1331 — 1335. Hrsg. v. Erwin Assmann. — Köln, Graz: Böhlau 1961. 501 S. DM 4 8 , - . - Bd. 9. Register zu Bd. 7 u. 8 (1326 bis 1335). Bearb. v. Brigitte Poschmann. — Köln,Graz: Böhlau 1962.219 S. DM42,— = Veröffentlichungen d. Histor. Komm. f. Pommern. Reihe 2. Die Historische Kommission für Pommern kann im Anschluß an den Nachdruck von Bd. VII (vgl. dieses Jb., Bd. 9/10, S. 5 2 1 - 5 2 3 ) nunmehr bereits Bd. VIII des Pomm. Urkundenbuchs (PUB) vorlegen. Während Bd. VII vor 1945 zwar ausgedruckt, aber in der Auflage in Stettin fast völlig vernichtet wurde, stand über dem folgenden Bd. ein noch ungünstigerer Stern. Mehrere Mitarbeiter mußten während des Krieges aus der Arbeit ausscheiden. Adolf Hofmeister, von den Herren der beteiligten Archive unterstützt, hatte dann den Satz des Bd.es bis zu einem Drittel vorangetrieben, als Ende 1942 durch einen Bombenangriff auf Stettin der Satz und ein Teil des Manuskriptes verlorengingen. Die folgenden Kriegs- und Nachkriegsereignisse schienen diesem Unternehmen den Boden entzogen zu haben. Es ist dem Hrsg. des Bd.es VIII, Erwin A.ssmann, und vor allem Hans Koeppen (Göttingen) zu danken, daß nach einem geretteten Umbruchexemplar und einer Sicherheitsabschrift des Restmanuskriptes Bd. VIII erneut bearbeitet und veröffentlicht werden konnte. Die bisherige Sammlung wurde überdies noch um 40 Stücke aus z. Z. erreichbaren Beständen erweitert. — Insgesamt umfaßt der vorliegende Bd. die Nrn. 4822

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POMMERN

bis 5332. Der formale Aufbau der einzelnen Stücke entspricht mit geringen Abweichungen dem bisherigen Schema. Die meisten Urk. (79) stammen von Bischof und Domkapitel von Kammin. Ihnen folgen Herzogshaus (70) und Päpste (58). Der landsässige Adel stellt die größte Ausstellergruppe (96). 34 Stücke beziehen sich auf brandenburgische Angelegenheiten bzw. sind von Markgrafen ausgestellt. Davon sind 9 nicht bei Riedel (Cod. dipl. Brand.) gedruckt, während für 23 Stücke nunmehr der bessere Druck des PUB zu vergleichen ist. Bei den Markgrafenurk. 5300f. handelt es sich bei der dem Druck zugrunde liegenden Uberlieferung (B) um gleichzeitige Eintragungen in die nach Vogteien gegliederten Kanzleiregister der brand. Wittelsbacher, um originale Uberlieferung also, während C—E spätere Kanzlei- bzw. Privatabschriften sind. Ähnliches gilt für die Überlieferung der Stücke 5073, 5078, 5148, 5207 und 5213. Die unzulänglichen Uberlieferungsangaben bei Riedel sind wenigstens teilweise korrigierbar, u. a. mit Hilfe der guten Arbeit von H. Bier, „Das Urkundenwesen u. die Kanzlei d. Mgfn. v. Brand, a. d. Hause Wittelsbach", Bln. 1907. — Typographisch unterscheidet sich der neue Bd. vorteilhaft von den älteren, da nunmehr konsequent Kursivdruck für alles verwendet wurde, was nicht Quellentext ist. Der Druck läßt keine Wünsche offen und ist bis auf Kleinigkeiten (vgl. S. 297, Z. 18 v. o.; 433, Z. 25 v. o.) fehlerfrei. Für den einwandfreien Registerbd. zu den Bd.en VII und VIII gebührt Brigitte Poschmann besonderer Dank. — Weitere Bd.e, vorerst für den Zeitraum bis 1350, werden z. Z. in Göttingen vorbereitet. Es darf abschließend der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß diese auch für die Quelleneditionen der Nachbarterritorien bedeutsamen Arbeiten einen guten Fortgang nehmen mögen. Berlin

Gerd Heinrich

BOSSE, Heinrich: Die Forst-, Flur- und Gewässernamen der Ueckermünder Heide. - Köln, Graz: Böhlau 1962. VIII, 150 S., 11 Bl., 1 Falttaf. = Veröffentlichungen der Histor. Kommiss. f. Pommern, Reihe 5, Forschungen zur Pommerschen Geschichte 2. DM16, — . Der 1959 verstorbene Vf. hatte in den 30er Jahren eine bis auf die Auswertung einiger Forstpläne des 18. Jh.s aus dem Staatsarchiv Stettin nach der Quellenlage wohl vollständige Flurnamensammlung aus dem Gebiet der Ueckermünder Heide zusammengetragen. In dieser Arbeit behandelt er alle mit Wald und Forst zusammenhängenden Namen, Flurbezeichnungen der Feldmarken sind nicht berücksichtigt worden, wohl aber die Gewässernamen. Die Darstellung ist nach Sachgruppen, wie Bodenbeschaffenheit, Landschaftsgliederung, Pflanzen- und Tierleben, gegliedert. Das veröffentlichte Flurnamenmaterial dieses ausgedehnten Waldgebietes westlich der unteren Oder, südlich vom Stettiner Haff, fördert wortgeographische Untersuchungen. Als erstes Ergebnis bestätigt Bosse Robert Holstens Darstellung des „Mittelpommerschen Keils". Die verhältnismäßig geringe Anzahl slawischer Flurnamen begründet der Vf. mit geringer Bevölkerungsdichte; allerdings sind mittelalterliche Flurnamen in diesem Gebiet außerordentlich selten belegt, der weitaus größte Anteil stammt aus dem 19. Jh. Ein Register zeigt die behandelten Namen an, neun Karten zur Lokalisierung sind in neuer Bearbeitung angefügt. Mit dieser 1941 nicht ausgedruckten Abhandlung hat die Historische Kommission für Pommern einen wertvollen Beitrag zur Geschichte pommerscher Landschaften der siedlungsgeschichtlichen und namenkundlichen Forschung zugänglich gemacht. Berlin Lore Baumert 26*

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WEGENER, Wilhelm: Die Herzöge von Pommern aus dem Greifen-Hause, ca. 1100—1637. Mit e. Einführung. — Göttingen: Reise 1962. (Forts.) S. 29—43 mit 6 Taf. = Genealogische Tafeln z. mitteleuropäischen Geschichte, Lfg. 3. DM 7,50. Eine brauchbare Zusammenfassung der Arbeiten der letzten Jahrzehnte zur Genealogie des pommerschen Herzogshauses (u. a. M. Wehrmann, O. Heinemann, A. Hofmeister) fehlte seit längerer Zeit. Wegener hat sich im Rahmen seiner „Genealogischen Tafeln" (bisher: [1] Premysliden, [2] Herzöge v. Schlesien-Troppau u. a. schles. Piasten) dieser Mühe unterzogen. Auf die Einführung (S. 29—43), in der dankenswerterweise die wichtigste Literatur zum Thema fast lückenlos verzeichnet ist, folgen sechs Stammtafeln, die aus Gründen des Formates (4°) wenig glücklich geordnet werden mußten. Format und Anordnung der Cohn-Isenburgschen Stammtafeln wären für ein so weitgespanntes genealogisches Tafelwerk wohl geeigneter gewesen, sowenig auch sonst die Mehrzahl der Isenburgschen Tafeln als Beispiel geeignet sein mag. Taf. 7 folgt bei W. auf Taf. 4. Die Benutzbarkeit der Tafeln würde durch eine fortlaufende Zählung der Generationen (röm.) und Personen (arab.) erheblich gefördert werden. Eine Reihe von Ergänzungen und Berichtigungen hat W. der Lieferung noch beifügen können (Bl. 44a). Die folgenden Verbesserungsvorschläge (kursiv) ergaben sich bei einem Vergleich der neuen Tafeln mit älteren Arbeiten: Taf. 4: Kasimir IV., oo 2. 1368¡69 mit Margareta v. Masowien, f nach 14. 8. 1409, vgl. Hofmeister, Pomm. Jbb. 32 (1938), S. 73f.; Bogislaw VIII., * 1363-6,?, Gemahlin Sophia v. Holstein, •f nach 135/, vgl. ebda., S. 78 u. 82; der angebliche gleichnamige Sohn ErichsI. ist streichen, vgl. ebda., S. 90; das Datum der Eheschließung der Katharina, Tochter Wartislaws VII., — 25. 9. 1407 — weicht ab von Hofmeister a. a. O., S. 96 (15. 8. 1407), das neue Datum hätte im Text kurz belegt werden können; Adelheid, Tochter Bogislaws VIII., f nach 1445, vgl. ebda., S. 98, Anm. 103. - Taf. 6: Barnim VII., f ^wischen 24. 8. 1449 u. 30. 12. 1450, vgl. Hofmeister, Monatsbll. d. Gesellschaft f. pomm. Gesch. . . . 53 (1939), S. 164; Barnim VIII., Gem. Anna v. Wunstorf, f um 145/, vgl. ebda., S.166, Anm. 29 (Bugenhagen); falsch ist die Einordnung der Agnes (f 1512) als Tochter Wartislaws IX., sie war eine Tochter Barnims VIII., vgl. ebda., S. 162, Anm. 7. Die Angaben zu den einzelnen Personen sind knapp gehalten, Geburts-, Heirats- und Sterbeorte fehlen. Vertretbar ist der Verzicht auf die Begräbnisstätten, doch hätte dann die Arbeit von M. Wehrmann, „Die Begräbnisstätten der Angehörigen des pomm. Herzogshauses", in: „Baltische Studien" NF 39, 1937, S. 100 bis 118, erwähnt werden müssen. Trotz der Berichtigungen, die bei größeren genealogischen Tafelsammlungen wohl selten ausbleiben, ist der von W. bearbeiteten Reihe — auch im Hinblick auf vergleichbare Unternehmungen — ein guter Fortgang zu wünschen. Die vorliegende Lieferung hat W. mit vollem Recht dem Gedächtnis Adolf Hofmeisters gewidmet, dessen unübertroffene Arbeiten über die Angehörigen des Greifenhauses allen ferneren Studien als Ausgangspunkt dienen werden. Berlin

Gerd Heinrich

SCHEIL, Ursula: Zur Genealogie der einheimischen Fürsten von Rügen. — Köln, Graz: Böhlau 1962. XII, 205 S., 2 Stammtaf. = Veröffentlichungen der Histor. Komm. f. Pommern, Reihe V : Forschungen z. pomm. Geschichte, H. 1. DM 20, — . Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die fast unverändert gedruckte Greifswalder Diss. der Vf.in (Genealogie der Fürsten von Rügen [1164—1325], 1945/49), die einen Teil des von Adolf Hofmeister geplanten „Corpus Genealogicum medii aevi" bilden sollte. Neben dieser Untersuchung waren dafür genealogische Studien u. a. über die Grafen v. Werl, v. Oldenburg, das Haus Putbus, die Grafen v. Gützkow, die Babenberger, die

WEST- UND OSTPREUSSEN

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Grafen v. Dassel, die Burggrafen v. Magdeburg und die Billunger abgeschlossen worden. — Die Arbeit gliedert sich in 2 Teile. Nach Generationen geordnet und durchnumeriert wird zuerst das Fürstenhaus untersucht (S. 3 — 144). Gesicherte Nachrichten für die älteste Generation setzen erst 1164 ein. Die Herkunft des Hauses ist bis auf die u. a. durch eine Äußerung Jaromars I. (f 1217/18) bezeugte slawische Stammeszugehörigkeit ungeklärt. Die Versippung mit deutschen Geschlechtern beginnt in der IV. Generation (um 1263). Eine gesicherte genealogische Ableitung des 1858 erloschenen Hauses Putbus/Rügen, einer Nebenlinie des Fürstenhauses, ist wegen der fehlenden Überlieferung aus vordeutscher und vorchristlicher Zeit nicht möglich. Dagegen behandelt Sch. im 2. Teil der Arbeit (S. 148 —177) ausführlich das von Barnuta (zuletzt 5.2.1236), einem Sohn Jaromars I., abstammende Haus Gristow bis zur V. Generation (2. Hälfte d. 14. Jh.s), das wahrscheinlich 1740 ausgestorben ist. Regesten für das Haus Gristow, musterhafte Tabellen über Alter, Begräbnisstätten, Verwandtschaft und Verwandtschaftsbezeichnungen beschließen die Darstellung. Der Text ist leider nicht dem letzten Editions- und Forschungsstand angeglichen worden. Auf S. 173 wird die Manuskriptnumerierung des Pomm. Urkundenbuches VIII zitiert, die sich gegenüber dem Druck (1961) geändert hat. Das Lit.-Verz. ist nicht ganz vollständig. So fehlt z. B. ein Hinweis darauf, daß in Bd. 1 (1953) der neuaufgelegten Isenburgschen Stammtafeln eine Tafel der Fürsten v. Rügen veröffentlicht wurde, die weitgehend der vorliegenden Arbeit folgt. Insgesamt zählt die Arbeit trotz dieser mehr das Formale betreffenden Einschränkungen (auch ein Register fehlt) zu den guten genealogischen Untersuchungen aus der Schule Hofmeisters. Wenn Sch. auch auf zahlreichen älteren Einzeluntersuchungen aufbauen konnte, so ist doch durch umfassende Heranziehung der Quellen und mit sicherem kritischen Urteil eine weithin abschließende genealogische Aussage erarbeitet worden, wie man sie sich für manches andere größere Geschlecht des deutschen Mittelalters noch wünscht. Gewiß werden weder verfassungsnoch im weiteren Sinne landesgeschichtliche Fragen aufgegriffen. Für ihre Beantwortung ist jedoch nunmehr ein verläßlicher und wertvoller Ausgangspunkt geschaffen worden. Berlin

Gerd

Heinrich

Rudolph, Wolfgang: Die Insel der Schiffer. Zeugnisse und Erinnerungen von rügischer Schiffahrt. Von Beginn d. Entwicklung bis 1945. — Rostock: VEB Hinstorff 1962. 246 S. 28 Taf. Abb. mit Text. DM 16,80. Spruth, Herbert: Landes- u. familiengeschichtliche Bibliographie für Pommern. T. 1. — Neustadt a. d. Aisch: Degener 1962. 256 S. = Genealogie z. Landesgesch. Bd. 2. DM 3 0 , - .

5. West- und Ostpreußen Wermke, Ernst: Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen bis 1929. Bearb. im Auftr. d. Histor. Kommission f. ost- u. westpr. Landesforschung. Neudr. d. Ausg. 1933 mit ergänzendem Nachtrag. — Aalen: Scientia-Verl. 1962. XV, 1098, 21 S. 4°. DM 1 3 5 , - . Nachtrag z. Pr. von DM 3 , - gesondert erhältlich. Das Werk Wermkes, eine der umfassendsten und zuverlässigsten deutschen landesgeschichtlichen Bibliographien, bildet für jede ernsthafte Beschäftigung mit der historischen Landeskunde Ost- und Westpreußens (einschließlich Danzigs und seines Gebietes)

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GEBIETE

im weitesten Sinne die unentbehrliche bibliographische Grundlage. Es ist darum sehr zu begrüßen, daß sie, seit dem letzten Kriege vergriffen, nunmehr buchhändlerisch wieder greifbar ist. Ihr überdurchschnittlicher, seit Jahrzehnten bewiesener und anerkannter fachlicher Wert liegt einmal in der bemerkenswert vollständigen Erfassung des gedruckten Materials, wobei sowohl die ausländische (russische, polnische) Forschung zum Gegenstand wie auch die landschaftliche und ortsgeschichtliche Literatur sorgfältige Beachtung gefunden hat, und zum anderen in ihren äußeren Vorzügen, wie einer übersichtlichen, durch Verweisungen aufgelockerten Gliederung, der klaren Druckanordnung und Genauigkeit des Registers. Dem kürzlich erfolgten Nachdruck der vor 30 Jahren im Auftrage und mit materieller Förderung seitens der genannten Historischen Kommission hergestellten, seinerzeit bei Gräfe & Unzer erschienenen Bibliographie (in 6 Lieferungen 1931—33) hat ihr damaliger Bearb. und langjähriger Bibliotheksdirektor in Breslau einen kurzen Nachtrag mit 215 vor 1930 erschienenen Titeln beigeben können, so daß hiermit jetzt über 16000 Arbeiten überwiegend historischen Inhalts verzeichnet und registermäßig erschlossen sind. Zur Gegenwart hin schließen sich — vorerst noch — die vom selben Vf. bearbeiteten Jahresberichte in den Altpreußischen Forschungen (Bd. 8 — 16, 1931—39) an, die jedoch durch eine Zusammenfassung der Berichtsjahre 1930 — 38, ebenfalls durch Wermke (etwa 7200 Titel, ca. 500 S.; wird 1964 im gleichen Verlag erscheinen), demnächst überholt sein werden. Für die einschlägigen Veröffentlichungen seit 1939 existieren sodann die Mehrjahresberichte Wermkes (für 1939—51 und 1952—56) sowie seine jährlichen Auswahlbibliographien in der Zeitschrift für Ostforschung (zuletzt, für 1961, in Bd. 12, 1963, S. 185-200). Z. Z. Köln

Werner Schochow

KAPS, Johannes: Handbuch über die katholischen Kirchenbücher in der Ostdeutschen Kirchenprovinz östlich der Oder und Neiße und dem Bistum Danzig. (Quellennachweis für ostdeutsche Kirchenbücher.) Bearb. nach dem Stande vom 8. Mai 1945, hrsg. vom Kath. Kirchenbuchamt u. Archiv für Heimatvertriebene München. — München 1962. 159 S. D M 2 , - . Für die Beschaffung von Personen- und Familien-Dokumenten, die in den Kriegswirren verlorengegangen waren, wurde das Kirchenbuchamt von vielen Seiten um Hilfe gebeten. Diese oft recht mühevolle und langwierige Aufgabe verursachte die Fertigung des vorliegenden Orts- und Bestandsverzeichnisses, mit allgemeinen Angaben über jede einzelne Pfarrei oder Seelsorgestelle und besonderen Vermerken über die Kirchenbücher. Hierin sind aufgeführt unter: a) das Jahr der Gründung bzw. ersten Erwähnung des kirchenbuchführenden Kirchortes oder das Erbauungsjahr der Kirche, b) seit wann und welche Kirchenbücher geführt wurden, c) das Schicksal der in der Pfarrei verbliebenen Kirchenbücher, d) verlagerte Kirchenbücher und ihr jetziger Verwahrungsort und e) der letzte deutsche Pfarrer bzw. Seelsorger. Aus dem 12. Jh. sind folgende Orts- bzw. Kirchengründungen: in der Grenzmark 1108 Behle, in Niederschlesien 1110 Zobten-Gorkau, 1112 Breslau, St. Adalbert und 1125 St. Michael, 1137 Nimptsch, 1149 Breslau, St. Maria auf dem Sande, 1150 Leubus, in O.S. 1155 Ottmachau, in N.S. 1155 Trebnitz, 1175 Beuthen a. d. Oder, 1175 Breslau, St. Nikolaus, 1178 die Kathedrale in Danzig-Oliva, 1185 Danzig, St. Nikolai, in N.S. 1189 Wartha, Kr. Frankenstein, 1194 Glatz, in O.S. 1194 Sabschütz, in N.S. 1198 Groß-Tinz, Kr. Breslau und vor 1200 Markt Bohrau und Striegau. Aus dem 13. Jh. enthält das Handbuch 205

WEST- UND OSTPREUSSEN

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Gründungen oder Errichtungen, aus dem 14. Jh. 399 Kirchen bzw. Kirchorte und die weiteren aus den folgenden Jh.en. Alte Kirchenbücher aus dem 16. und 17. Jh., nur gering an der Zahl und überwiegend verlagert, befinden sich im Berliner Hauptarchiv, jetzt Geheimes Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem und im Kath. Kirchenbuchamt in München, ferner beim Erzbischöfl. Diözesanarchiv in Breslau und beim Deutschen Zentralarchiv in Potsdam; die Bestände der beiden letzten Archive sind nicht aufgeführt. Einige Register sind an Orten in Verwahr, wo sie kaum vermutet werden können, so z. B. von der Garnisonkirche Allenstein in Bonn, von Breitenstein, Grzm., in Stavenhagen, Mecklenburg und für die vernichteten Kirchenbücher von Alt-Baudendorf (Alt-Budkowitz), Kr. Oppeln, wird auf die erhaltenen standesamtlichen Duplikate verwiesen. Die Vermerke über das Schicksal der Kirchenbücher sind ungeheuerlich. Die Zerstörungsfurie hat die Merkbücher über die Taufen, Trauungen und Toten nicht ausgelassen und sie in erheblichem Maß vernichtet oder wahrscheinlich vernichtet. Vollständig erhaltene Register gibt es nur in geringem Umfang; meistens heißt es unsicher: wahrscheinlich erhalten oder es werden die übriggebliebenen und verringerten Bestände aufgezählt. In den wichtigen Erläuterungen zum Handbuch wird jedoch der Rat gegeben, bei den Angaben „wahrscheinlich erhalten" oder „wahrscheinlich vernichtet" dennoch erforderliche Urkunden beim Kirchenbuchamt zu beantragen. Hier könnte eine fallweise Klärung erfolgreich sein. Sind Orte aus den Ostgebieten nicht enthalten, ist eine Einsicht empfehlenswert in das „Verzeichnis der in Berlin (West) vorhandenen ortsfremden Personenstands- und Kirchenbücher". Hrsg. vom Standesamt I in Berlin (West) und Berliner Hauptarchiv. Amtl. Ausgabe 1955, Vlg. f. Standesamtswesen, Frankfurt a. M., Berlin. Paul Tillmann, der jetzige Leiter des Kath. Kirchenbuchamtes und Archivs für Heimatvertriebene in München, hat durch die Herausgabe des Handbuches, der letzten Arbeit seines Vorgängers Johannes Kaps (t 1959), eine gute Schrift vorgelegt, die allen Stellen mit Urkundenverkehr, den Pfarr- und Standesämtern, wertvoll sein wird. Für das Handbuch werden sich Ergänzungen und Berichtigungen ergeben, deren Veröffentlichung zu gegebener Zeit wünschenswert ist. Berlin Martin Jacob Ostpreußen, Westpreußen und Danzig. Das große Bilderbuch d. Erinnerung. Mit 270 Fotos. Einf. von Willy Kramp. — München: Gräfe u. Unzer 1962. 175 S., S. 1 7 - 1 5 3 Abb. 4°. DM 3 3 , - . Der vorliegende Bd. vermehrt nicht nur die schon recht stattliche Zahl der über das Preußenland erschienenen Bildbd.e um einen weiteren, sondern bereichert sie auch durch seinen vorzüglichen Gehalt. Umrahmt von einer Einführung des durch den ostpreußischen Heimatroman „Die Fischer von Lissau" bekannten Dichters Willy Kramp und einem knapp gehaltenen Abriß über Land, Menschen, Geschichte, Kultur und Wirtschaft des Preußenlandes von O. Dickreiter bilden 270 z. T. bisher noch niemals veröffentlichte Fotos den eigentlichen Kern des Bd.es. In bunter Folge wechseln hier Landschaftsaufnahmen, Fotos von Städten sowie von Bau- und Kunstwerken mit hervorragenden Bildern von Menschen und Tieren. Eine Tafel aus Geschichte und Kultur bekannter und berühmter Persönlichkeiten beschließt das Werk. Es ist ein Buch, das nicht nur in jedem Ostpreußen die Erinnerung an seine unvergleichlich schöne Heimat lebendig werden läßt, sondern das auch allen, die das Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen nicht kannten, vor allem aber der Jugend den ganzen Zauber des Preußenlandes lebendig werden läßt. Göttingen

Hans

Koeppen

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE

GEBIETE

FECHTER, Paul: West- und Ostpreußen. Bilder aus d. dt. Osten. — (Gütersloh:) S. Mohn 1962. 30 S., 20 Bl. Abb. = Das kleine Buch, 76. DM 3 , - . Ein kleines Geschenkbuch, zugleich auch eine knappe Einführung in Geschichte, Architektur und Landschaft West- und Ostpreußens. Der bekannte Autor hat in diesem Büchlein 47 Abbildungen zusammengestellt und ihnen eine Einleitung vorangeschickt, die mehr sein möchte als nur ein Bilderkommentar. Die Marienburg, Symbol staatlichen Formwillens, die Dome von Pelplin und Thorn, Danzig mit seiner Marienkirche und seinem Neben- und Ineinander von Gotik und Barock, dann Elbing und Königsberg, Burgen und Schlösser, über das ganze Land verstreut, und schließlich die Landschaft in ihrer Vielgestaltigkeit selbst — das sind die Themen, die das kleine Buch umfaßt. Über die Einleitung, die an mancher Stelle aus Geschichte Mystik und aus Herrschaft Romantik macht, mag man streiten, über die Aussagekraft der Bilder nicht. Sie sollten nicht vergessen werden. Glücksburg

Walter

Mertineit

DÖNHOFF, Marion Gräfin: Namen, die keiner mehr kennt. Ostpreußen — Menschen und Geschichte. - Düsseldorf: Diederichs 1962. 200 S. DM 12,80. Das Buch enthält 5 Kapitel Erinnerungen an die ostpreußische Heimat der Vf.in, Geschichte, die zu persönlicher Erfahrung wurde, aber auch Geschichte, die in der Generationenfolge der eigenen Familie die großen Linien der historischen Strömungen festhält. Ein Buch über Ostpreußen, ohne Pathos, ohne Rechthabenwollen und ohne eine Spur von Provinzialismus, aber erfüllt von einer Rechtsgesinnung, die die eigene geschichtliche Erkenntnis unbestechlich gemacht hat gegenüber falschen Ansprüchen. Nicht Rechte einzuklagen, sondern selber das Rechte rechtzeitig zu tun, ist für die Vf.in die gültige Regel. Sie zeigt sie, wenn auch unausgesprochen, in der Schilderung der eigenen Flucht nach dem Westen, in der Lebensbeschreibung eines nahen Verwandten, des Grafen Lehndorff, der seinen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror mit seinem Leben bezahlen mußte, in der Geschichte ihrer Familie und ihrer Güter von der Ordenszeit bis in die Mitte des 20. Jh.s, Genealogie, die nicht Weihrauch spendet, sondern geschichtlicher Urstoff ist. Sie hat von ihm geistig Besitz ergreifen können, noch ehe er materiell verlorenging. So bleibt sie auch noch in der Niederlage die Überlegene und hilft anderen, materiellen Verlust geistig zu bewahren. Glücksburg

Walter

Mertineit

KADELBACH, Gerd: Die Stunde Null. Ostpreußen 1945. 2. Aufl. — Weinheim a. d. Bergstr.: Beltz 1962. 32 S. mit Abb. = Erlebte Geschichte. DM 1,20. Der wenig ergiebige Erlebnisbericht eines ehemaligen deutschen Offiziers über die Schlußkämpfe in Ostpreußen soll einen Beitrag zur „Bewältigung der Vergangenheit" bieten. In dieser Form lassen sich schwerlich „die vielfältigen Komponenten der ostpreußischen Passion 1945 aufzeigen". Berlin Gerd Heinrich SCHUMACHER, Bruno: Die Burgen in Preußen und Livland. — Würzburg: Holzner 1962. 26 S. mit Abb. u. Ktn. = Der Göttinger Arbeitskreis, 65. DM 1,80. Dieses bereits seit über 10 Jahren angekündigte Heftchen ist jetzt aus dem Nachlaß des inzwischen verstorbenen Professors Dr. Bruno Schumacher herausgegeben worden,

WEST- U N D

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OSTPREUSSEN

der, bereits durch seine „Geschichte Ost- und Westpreußens" bekannt, auch in diesem Heft ein Gebiet behandelt, das ihm auf Grund eigener Forschungen vertraut war. Die Arbeit, die von der Aufsiedlung Preußens und Livlands über eine allgemeine Charakterisierung der Ordensburgen zu einer etwas ausführlicheren — gewissermaßen exemplarischen — Beschreibung der Marienburg führt, kann natürlich auf Grund ihres geringen Umfanges nur zu einer ersten Einführung und einem allgemeinen Uberblick dienen, wobei es nicht verwunderlich ist, daß etwa eine bedeutende Burg wie Rössel völlig unerwähnt blieb oder im Literaturverzeichnis kein einziges Werk Armin Tuulses über die Burgen dieses Raumes aufgeführt ist. Lobende Erwähnung verdient indessen ein kurzer alphabetischer Anhang der wichtigsten Burgen, der außer Daten zu ihrer Baugeschichte auch kurze Notizen über ihren heutigen Zustand bringt, d. h. anführt, ob und wieweit die Bauten im 2. Weltkrieg gelitten haben. Gerade dieses Anhanges wegen ist das Heft als ein geeigneter Nachtrag zu älteren Werken über die Ordensburgen zu empfehlen. Berlin Dietmar Lührig ENGEL, Carl: Typen ostpreußischer Hügelgräber. Bearb. v. Rudolf Grenz. Mit e. Nachwort v. W. La Baume. - Neumünster: Wachholtz 1962. 50 S., 35 Tafeln, 4° = Göttinger Schriften z. Vor- u. Frühgeschichte, Bd. 3. DM 21, — . Das nachgelassene Manuskript des Vf.s ist von R. Grenz für den Druck überarbeitet und von W. La Baume mit einem Nachwort versehen worden. Auf 40 S. hat Engel die Ergebnisse von Ausgrabungen in Hügelgräbern der vorchristlichen Metallzeit in Ostpreußen vorgelegt, indem er — anknüpfend an ältere Arbeiten Tischlers und La Baumes — sieben verschiedene Bestattungstypen herausgestellt hat. Diese Ergebnisse, auf 34 Kunstdrucktafeln durch Pläne und Grabungsphotos dokumentiert, geben einen ausgezeichneten Uberblick der verschiedenartigen Bestattungsbräuche in Grabhügeln. Eine Auswertung der Befunde nach historischen oder religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist — entsprechend dem Charakter der Arbeit, einer Materialvorlage — nicht vorgenommen worden. Ihren besonderen Wert erhält die Arbeit dadurch, daß nur wenige wissenschaftlich einwandfrei untersuchte Hügelgräber des ostpreußischen Raumes bisher publiziert worden sind, so daß unsere Kenntnis der Grabarchitektur dieser Landschaft durch dieses neue Quellenmaterial erweitert wird. W. La Baume hat in seinem Nachwort gezeigt, in welcher Beziehung die hier vorgenommene Ordnung zu älteren Arbeiten des Vf.s steht. Göttingen

Konrad

Weidemann

PIEP KÖRN, Otto: Die Heimatchronik der westpreußischen Stadt Christburg und des Landes am Sorgefluß. — Detmold: Bösmann 1962. 264 S., 16 Tfln, Abb. u. Ktn. DM 2 5 , - . Heimatkundliche Darstellungen bemühen sich, ein möglichst objektives Bild der Landschaft und ihrer Bevölkerung zu zeichnen. Je mehr das Gebiet und seine Geschichte aber umstritten sind, um so schwerer wird es, eine solche Arbeit, der es naturgemäß um die Zeitspanne „von den Anfängen bis zur Gegenwart" geht, entsprechend zu bewältigen. Die vorliegende Chronik des Christburger Gebietes ist inhaltlich dort am brauchbarsten, wo sie Material zusammenträgt und die diffizilen Grenzziehungen und ihre jeweiligen Folgen nicht zu berücksichtigen braucht. So ist dem Vf. die Darstellung der Vor- und Frühgeschichte ebenso gelungen wie die der Komturei Christburg zur Ordenszeit. Für

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GEBIETE

die Zeit nach 1466 und nach dem Lubliner Reichstag 1569 vermag die Chronik nicht immer zu überzeugen. Die Teilung in ein herzogliches und ein königliches Preußen und die in unmittelbarer Nähe Christburgs hinzugekommene verwaltungsmäßige Sonderstellung der Marienburger Ökonomie und des Elbinger Territoriums hätte den Vf. zu einer genauen Abgrenzung seines Untersuchungsgebietes veranlassen sollen (auf S. 150 wird sogar ein Ort zwischen Marienburg und Dirschau zum Christburger Gebiet gerechnet). Ein Auswerten des nach der preußischen Besitzergreifung 1772/73 hergestellten Katasters (Abschriften in Marburg) und ein Beschränken auf die darin zum Amt Christburg gerechneten Gebietsteile wäre sicher förderlich gewesen. Für die ganze Darstellung der Neuzeit wünschte man sich eine regelmäßigere Zitierweise und für die der Zeitgeschichte manchmal eine sorgfältiger gewählte Formulierung (Abschnitt „Das Jahr 1933"). In der Fülle des aus den verschiedensten Darstellungen und einigen gedruckten Quellen zusammengetragenen Materials stehen einzelne Ungenauigkeiten. Vom Rez. bemerkt wurde: statt Rhtlr. („Rheintaler") muß es stets Rthlr. (Reichstaler) heißen. Die Mennoniten besaßen das Recht des freien Grunderwerbs de facto gerade während der polnischen Zeit. Der Nordwestteil des alten Bistums Pomesanien wurde mit dem Bistum Kulm erst 1601 durch Clemens VIII. vereinigt. Im ganzen gesehen eine anerkennenswerte Arbeit, die für den Historiker als Einführung in die geschichtliche Problematik der durch Nationalitäten- und Grenzfragen zerstrittenen westpreußischen Landschaft wertvoll wird. Als Aufgabe bleibt bestehen, die Einzelprobleme systematisch zu erforschen. Mainz

Karl-Hein%

Ludwig

D w o r z a c z kowa, Jolante: Dziejopisarstwo gdariskie do polowy XVI wieku. [Die Geschichtsschreibung Danzigs bis zur Mitte des 16. Jh.s.] Danzig 1962 ( = Gdariskie towarzystwo naukowe, wydzial I. Nauk splecznych i humanistycznych). 199 S. zl. 3 0 , - . [Dt. Resümee.] Die Vf.in, bekannt durch eine Studie über die Chronik des Simon Grunau (Studia Zrödloznawcze II, 1958, S. 119 ff.), betrachtet in diesem Buch die Danziger Geschichtsschreibung bis zum Einsetzen der gelehrten, d. h. humanistischen Historiographie. Nach einer kurzen einführenden Betrachtung der bisherigen Ausgaben und der — deutschen — Arbeiten zu dem Problemkreis der Danziger Stadtgeschichtsschreibung untersucht sie im 1. Teil den ältesten Codex der Danziger Chroniken, das Ebert-Ferber-Buch. Im Gegensatz zu Theodor Hirsch, der die einzelnen Bestandteile des Codex als selbständige Chroniken im 4. Bd. der Scriptores rerum Prussicarum edierte, hatte 1892 Paul Gehrke angenommen, daß es sich um eine einheitliche Geschichte Danzigs handele, die man bereits der humanistischen Geschichtsschreibung zuweisen müsse („Das Ebert-Ferber-Buch und seine Bedeutung für die Danziger Tradition der Ordensgeschichte", in: Zs. d. Westpreuß. Geschichtsvereins 31, 1892, S. 35ff.). Die Vf.in stellt auf Grund einer Untersuchung der Handschriften fest, daß es sich in der Tat um eine Sammlung von Uberlieferungen verschiedenen Ursprungs und verschiedener Art handelt und in den ältesten Teilen auf die Zeit des 13jährigen Krieges zurückgeht. Hier ist wichtiges Material für eine Neuausgabe zusammengestellt. In weiteren Abschnitten untersucht sie verschiedene kleine erzählende Quellen (die Notizensammlung des Jakob Lübbe, die Chronik des Kaspar Weinreich, die sogen. Chronik des Christoph Beyer u. a.), die sogen. Chronik des Batholomäus Wartzmann in

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ihren beiden Redaktionen, die Elbinger Dominikanerchronik, und gibt am Schluß dieses Kapitels eine chronologische Übersicht über die Entstehung der Danziger Geschichtsschreibung und ihre Entwicklung bis zum Jahre 1558, d. h. bis zur Abfassung des 1. Bd.es der Chronik des Stenzel Bornbach, mit dem die kritische Geschichtsschreibung beginnt. In einem 2. Teil (S. 121 ff.) untersucht die Vf.in die Stellung der Danziger Geschichtsschreibung zu der Chronistik im Ordenslande Preußen, im Reich, in Schlesien und Pommern, in den Hansestädten. Hier ist viel wichtiges Material zusammengetragen, das die Forschung beachten muß. Insgesamt läßt sich die enge Beziehung zur Ordensgeschichtsschreibung (und der der Dominikanerklöster) immer wieder feststellen. Im Vergleich zu den Chroniken anderer Hansestädte (Köln, Lübeck) ergibt sich, daß die Danziger Chronisten sich stets für die Ereignisse in ganz Preußen interessierten, nicht nur für ihre eigene Stadt allein. „Es war dies Ausdruck der Stellung, die Danzig einnahm, als wichtiges Glied des preußischen Ordenslandes, als faktischer Repräsentant der Interessen Preußens innerhalb der Hanse, und schließlich als Vorkämpfer für die Autonomie des königlichen Preußen" (S. 186). — Die wichtige Arbeit bedarf bei einer dringend wünschenswerten neuen Bearbeitung der Danziger Quellen großer Aufmerksamkeit. Münster/Westf.

Manfred

Hellmann

C i e s l a k , Edmund: Walki spoleczno-polityczne w Gdarisku w drugiej polowie XVII wieku. Interwencja Jana III. Sobieskiego. [Die sozial-politischen Kämpfe in Danzig in der 2. Hälfte des 17. Jh. s. Die Intervention Johann Sobieskis.] — Gdarisk: Gdanskie Towarzystwo Naukowe 1962. 310 S. zl. 40, — . Die vorliegende Arbeit beruht auf den Archivalien der Stadt Danzig, die sich im Staatsarchiv Danzig befinden, und zwar auf den Ordnungsrezessen, den Briefen an Adrian Stoddert, den Beauftragten der Stadt beim polnischen König, den Rezessen der preußischen Stände, der Korrespondenz in auswärtigen Angelegenheiten, den Akten über die Gewerke u. a. Danach schildert der Vf. eingehend jede Phase der Auseinandersetzung zwischen dem Rat, der dritten Ordnung (Hundertmänner) sowie vor allem den Gewerken über die Stadtverfassung und Stadtverwaltung, die sich an den Streit über die Absetzung des Predigers Aegidius Strauch seit 1674 knüpften. In ihrem Verlauf riefen die Gewerke die Vermittlung des polnischen Königs an. Aber Johann Sobieski wollte gar nicht in die inneren Verhältnisse der Stadt eingreifen, sondern begnügte sich während seines Aufenthalts in Danzig im wesentlichen mit materiellen Vorteilen für sich und mit Konzessionen für die Katholiken. Als im Mai 1678 wieder religiöse Unruhen in der Danziger Bevölkerung entstanden, während derer das Karmeliterkloster zerstört wurde, konnte der Rat mit Zustimmung des polnischen Königs wirkungsvoll durchgreifen und den Einfluß der Gewerke endgültig zurückdrängen. Es ist sicher wertvoll, daß der Vf. das Hin und Her dieser Streitigkeiten, die in der älteren Literatur mehr oder weniger summarisch erwähnt werden, nach den Akten Schriftstück für Schriftstück darstellt; doch fehlen Angaben über die eigentlichen Gründe dieser Machtkämpfe innerhalb der Stadt. Auf die religiösen Verhältnisse im ganzen wird kaum eingegangen. Die wirtschaftliche Lage der einzelnen Bevölkerungsschichten bleibt unerörtert. In dem so breit angelegten Buch wird nicht befriedigend geklärt, weshalb die Gewerke sich so stark fühlten, um gegen den alles beherrschenden Rat vorzugehen, und weshalb diese schließlich unterlagen. Berlin

Hans

Branig

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GEBIETE

BECK, Franziska: Vom Volksleben auf der Danziger Nehrung 1594—1814. — Marburg/Lahn: Johann-Gottfried-Herder-Inst. 1962. 352 S., 8 Taf. = Wiss. Beiträge z. Geschichte u. Landeskunde Ost-Mitteleuropas, 61. DM 12, — . Das vorliegende Buch erwuchs aus einer Dissertation, die 1940 der geisteswissenschaftlichen Abteilung der Technischen Hochschule zu Danzig-Langfuhr vorgelegt wurde. Daß nicht nur die Bearbeitung eines außerordentlich interessanten Materials, sondern die gesammelten Archivalien selber veröffentlicht wurden, begründet die Vf.in einmal mit der heutigen Unzugänglichkeit der Archive, andererseits mit der Bedeutung, die die Sammlung mit der Vertreibung der Nehrungsbewohner von der angestammten Scholle und mit der teilweisen Vernichtung ihrer Häuser und Höfe erhielt. Die Volkskunde begrüßt aber die Vorlage exakter Zeitdokumente dieser Art an sich. An Darstellungen aus dem 20. und 19. Jh. ist diese Wissenschaft überreich, aber die besonders von Hans Moser immer wieder geforderte Durcharbeitung und Veröffentlichung älterer archivalischer Quellen ist erst in Angriff genommen. So bedauert man vielleicht sogar die zeitliche Begrenzung, die die Vf.in vornahm. Der im Titel genannte Zeitraum umfaßt die wichtigsten Quellen zur Geschichte der Nehrung: die Amtsbücher der Nehrung und Scharpau und ihre Beilageakten, Erbebücher und Landkarten. Das Gebiet reicht von Weichselmünde bis NeukrugNarmeln und gehörte vom 15. bis 18. Jh. zum Territorium der Stadt Danzig. Es umfaßte im 17. Jh. an die 30 Dörfer. Nach einer knappen Quellenbeschreibung wird das Volksleben der Nehrung in seinen allgemeinen Zügen — soweit diese die Quellen spiegeln — wie in seinen stark hervortretenden Besonderheiten (Fischerei, Schiffahrt, Bernsteingewinnung, Krugwirtschaft, Nachbarschaftshilfe bei Eisgang, Hochwasser, Bergung und Wolfsjagd) dargestellt. Der Siedlungs- und Hausforscher wie der Rechtshistoriker finden wertvolles Quellenmaterial in den Abschnitten über Haus und Hof, Besitz- und Erbrecht und über die Dorfverwaltung. Der Realien- und Volkskunstforschung dienen ausführliche Testamente und Inventarien, die uns einen Begriff geben von der Lebenshaltung einer Zeit, die noch Vorratswirtschaft im weitesten Sinne betrieb. Anmerkungen und Literaturverzeichnis erweisen die Gründlichkeit der Arbeit. Was man vermißt, ist ein aufgliederndes Stichwortregister. Wie z. B. findet man schnell wieder die Zeugnisse zur Hausgeist- und Drachensage, die im Osten besondere Formen gefunden hat? Der Hinweis auf die willkommenen Tafeln ist nicht immer deutlich. S. 324 fehlt eine Überschrift der Gliederung (,,b) Die Inneneinrichtung"). Im ganzen: In bescheidenem Gewand ein unentbehrliches Quellenwerk für die Volksforschung auf deutschem und grenzländischem Boden. Berlin

Richard

Beitl

SATORI-NEUMANN, Bruno Thomas: Berufsständisches Theater in Elbing 1846 bis 1888. Mit e. Nachw. hrsg. v. Hermann Kownatzki. — Marburg/Lahn: Elwert 1962. XI, 575 S. = 300 Jahre berufsständisches Theater in Elbing. Die Geschichte e. ostdt. Provinzialbühne. Nach d. Quellen dargest. Bd. 2 (Hist. Komm. f. Ost- u. Westpr. Landesforschg.). DM 48,—. Satori-Neumann (1886—1943) war einer der hervorragendsten Schüler Max Herrmanns, des Begründers der akademischen Disziplin der Theaterwissenschaft in Berlin. Er erwarb sich erhebliche Verdienste bei der Vorbereitung, Begründung und Ausgestaltung des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität, das M. H. nach langen Mühen durchsetzen konnte, und war auch lange Assistent dieses Instituts. Seine

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Arbeit über die Frühzeit des Weimarischen Hoftheaters unter Goethes Leitung, erschienen 1922, bewies die besondere Präzision, mit der S.-N. Herrmanns Begriff der Theaterphilologie in archivalische und realiengeschichtliche Anwendung brachte. Das bestätigt sich in seinem 2. Werk, der auf unverhältnismäßigen Umfang angelegten Theatergeschichte Elbings. Die Arbeit folgt methodisch den Intentionen für das Weimarbuch, aber die ungekürzte Breite und die Abgelegenheit des Themas schränken den Präzedenzcharakter ein, der S.-N. zweifellos vorschwebte. Der Antrieb ist hier mindestens auch, im Grunde sogar überwiegend heimat-, nicht theatergeschichtlich, wie schon der 1. Bd. bewies, der trotz der Verfolgung des Vf.s noch 1936 erscheinen konnte und die interessanteren Zeiträume (1605 — 1846) behandelte. Der nach langen Irrfahrten des Ms., über die der Hrsg. im Nachwort berichtet, jetzt erscheinende 2. Bd. setzt die Ausbreitung des unabsehbar reichen Materials bis zum Jahre 1888 fort. Für die restlichen Jahrzehnte liegen dem Hrsg. nur Bruchstücke des Ms. vor. Der Wert des Buches für die landesgeschichtliche und lokalgeschichtliche Thematik, für die auch die Register wie im 1. Bd. angefügt sind, ist bereits jetzt zu erkennen. Den theatergeschichtlichen Nutzen, in der Unmenge der Details gelegen, werden erst die noch fehlenden Register der Bühnenangehörigen, Stücke und Autoren für den 1. und 2. Bd. ganz aufschließen. Berlin

Wolfgang

Baumgart

Fritz: Die Geschichte der Handelshochschule Königsberg/Pr. — Würzburg: Holzner 1962. 120 S. = Beihefte z. Jahrbuch d. Albertus-Univ. Königsberg/Pr., 21 (Der Göttinger Arbeitskreis, Veröffentlichg. 255). DM 7,50. URBSCHAT,

Die Geschichte der Handelshochschulen beginnt in Deutschland um 1900. Wenn sie an einem Universitätsort entstanden, lehnten sie sich meist an die Universität an oder wurden ihr als besondere Fakultät eingegliedert, wie in Leipzig, Köln, Frankfurt/M., Berlin, München. Die Handelshochschule in Königsberg begann zunächst auch in enger Anlehnung an die 1544 gegründete Universität aus Handelshochschulkursen, die 1907 eingerichtet und meist von Dozenten der Universität abgehalten wurden. Der bereits 1911 gestellte Antrag, diese Kurse in eine Hochschule umzuwandeln, wurde 1915 verwirklicht, die Eingliederung in die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät aber nicht erreicht, wenn auch personell teilweise ein Zusammenhang mit der Universität bestehenblieb. Die Hochschule blieb selbständig, erhielt 1926 die Rektoratsverfassung, 1930 das Promotionsrecht, 1930—34 einen umfangreichen Neubau. In ihrer 30jährigen Geschichte 1915 — 1945 hat sie bedeutende Arbeit geleistet. Sie hat eine große Schülerzahl in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt. Ein besonderes Verdienst ist die Pflege der Kontakte zu den osteuropäischen Nachbarstaaten. Auch eine Schriftenreihe wurde von ihr herausgegeben. — Der Vf. hat der Hochschule 21 Jahre angehört, ihre Geschichte miterlebt. Nachdem die Akten der Hochschule dem Kriege zum Opfer gefallen sind, konnte er noch aus den Vorlesungsverzeichnissen und anderen Drucksachen schöpfen und daraus ein anschauliches Bild vom Werden und Vergehen der Hochschule entwerfen, auch ein paar Akten und ein Namensverzeichnis beigeben. Hingewiesen sei auf ein Aktenstück des Kultusministeriums, das sich im Preuß. Geh. Staatsarchiv in Berlin-Dahlem befindet (Rep. 76, Hochschulabteilung, Nr. 538). Es enthält Verhandlungen betr. Übernahme der hauptsächlich von der Stadt Königsberg unterhaltenen Hochschule durch das Land Preußen aus den Jahren 1936 — 1945 und ist auch für die allgemeine Geschichte der Hochschule von Interesse. Göttingen

Kurt

Forstreuter

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GEBIETE

FREVERT, Walter: Rominten. 3. Aufl. — München: BLV-Verl.Ges. (Bayerischer Landwirtschaftsverl.) 1962. 227 S. mit 64 Bildtaf. DM 24,80. Frevert, von 1936 bis 1945 Oberforstmeister von Rominten, hat die 3. Aufl. seines 1957 erstmals erschienenen Buches nicht mehr erlebt. Er ist im Juli 1962 durch einen unverschuldeten Jagdunfall ums Leben gekommen. Daß diese Aufl. notwendig wurde, ist erfreulich und erstaunlich zugleich, denn das Buch ist keine leichte Lektüre. Es werden nur selten Jagderlebnisse erzählt oder Naturschilderungen gegeben. F. hat ein Sachbuch für Forstleute, genauer gesagt für Jäger, geschrieben. Von der Forstwirtschaft ist wenig die Rede, um so mehr vom Wild und besonders von den starken Hirschen, durch die Rominten, dieses riesige Jagdgebiet mit 4 Forstämtern und 29 Revieren, berühmt war. Diese werden, fast könnte man sagen biographisch, gewürdigt, und zwar in einer Fachsprache, die dem Laien nicht ohne weiteres verständlich ist (barocke und gotische Geweihe, maralartige Krone, endenfreudige Krone, Verjüngungsfreudigkeit u. a. m.). Ausdrücke wie „der vorbeigeschossene Wolf" (S. 166) und „der Beamte, der sattgeschossen war" (S. 191) dürften aber wohl auch über das in der Jägersprache Zulässige hinausgehen. Von eindringendem Fachwissen und jägerischer Erfahrung zeugen Ausführungen über Fütterung und Salzlecke, die Arbeit mit dem Schweißhund, über Gewehre und Munition, über den chemischen Aufbau der Geweihe und die Tabellen von Körper- und Geweihmaßen. Das Verhalten des Wildes wird mit geschultem Auge beobachtet und ohne Sentimentalität beschrieben. Der Mensch steht in diesem Buche hinter dem Tier zurück, doch erfahren wir manches über die Förster und Waldarbeiter und auch über die mehr oder minder waidgerechten Jagdgäste, die F. zu betreuen hatte. Die über 100 Bildbeigaben, teils Fotos von Tieren, Häusern und Landschaften, teils Wiedergaben von Bildern der Tiermaler Richard Friese und Gerhard Löbenberg, sind nicht nur Illustration, sondern dienen dem Verständnis des Textes. F. ist kein Historiker. Deshalb soll über den Abriß der Geschichte des Jagdreviers, den er gibt, in Einzelheiten nicht gerechtet werden. Der halbe Satz, in dem er die Legende von der Vernichtung der Prussen durch die Ordensritter wiederholt (S. 19), hätte nicht geschrieben werden dürfen. F. hat, ohne es ausdrücklich zu wollen, der jahrhundertelangen deutschen Kulturarbeit an der östlichsten Grenze des Reiches ein würdiges Denkmal gesetzt. Essen

Frit^ Gause

Das Dohnasche Schloß Schlobitten in Ostpreußen. Unter Mitw. von . . . von Carl Grommelt u. Christine von Mertens. — Stuttgart: Kohlhammer 1962. 543 S. mit 374 Abb. 4° = Bau- u. Kunstdenkmäler d. dt. Ostens. Reihe B, Bd. 5. DM 7 8 , - . „Das Schloß in Schlobitten, im Besitz der gräflich zu Dohnaschen Familie, wurde vom Burggrafen Abraham Dohna in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts neu gebaut. Er war der Gründer der jetzt 23000 Bände enthaltenden Bibliothek. Farbige Darstellung des Schlosses bei Duncker, Die ländlichen Wohnsitze . . ., Berlin 1861." Das ist alles, was der 3., das Oberland behandelnde Bd. des ostpreußischen Kunstdenkmälerinventars, 1938 erschienen, dort auf S. 31 über Schlobitten zu berichten weiß. Man ist betroffen, wenn man dann den hier angezeigten, gewichtigen Bd. in die Hand nimmt, der schon bei flüchtigem Blättern etwas ganz anderes offenbart: nämlich einen Schloßkomplex von großartiger Konzeption und einen Reichtum an künstlerischer Ausstattung, die ihresgleichen sucht. Natürlich hatten auch andere unter den zahlreichen ostpreußischen Gutshäusern und Landsitzen Kunstbesitz, aber dem Schloß zu Schlobitten

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waren sie in dieser Hinsicht nicht im entferntesten gleichzusetzen. Am nächsten käme noch Groß Steinort (Lehndorff) in der Nähe von Lotzen. Nicht zu übersehen waren ferner die Kunstsammlungen in Beynuhnen (Farenheid), Dönhoffstädt (Stolberg-Wernigerode), Finckenstein (Dohna-Schlobitten), Friedrichstein (Dönhoff), Waldburg (v. Wrangel) und Wicken (Eulenburg), um nur die wichtigsten zu nennen. Eingedenk des Schicksals, das im und nach dem 2. Weltkrieg über diese Provinz hereingebrochen ist, erhebt sich zwangsläufig die anklagende Frage, wie viele Kunstwerke durch mangelhafte Veröffentlichungen, wie das genannte Inventar oder noch ausstehende Publikationen ganz allgemein, uns unbekannt geblieben sind. Im Bereich der ehem. Provinz Brandenburg sei an die Schlösser zu Neuhardenberg und Friedersdorf erinnert, in Pommern an Schwerinsburg (südlich Stralsund) und an Stargordt (Borken) und schließlich in Sachsen an Schloß Rötha der Freiherrn von Friesen. Diese Versäumnisse lassen sich heute nicht mehr gutmachen! Die gewissenhaft gearbeiteten Veröffentlichungen Carl v. Lorcks für den ostpreußischen Bereich haben diese Lücke nicht zu schließen vermocht, da vorwiegend baugeschichtliche Zusammenhänge herausgearbeitet werden. Ernst Gall mußte bei der Neubearbeitung des Dehioschen Handbuches der deutschen Kunstdenkmäler (Das Ordensland Preußen, Berlin München 1952) handbuchbedingt knapp sein und auf Abbildungsmaterial verzichten. Man darf deshalb dem Hrsg., Prof. Dr. Günther Grundmann, beipflichten, wenn er in allem Unglück die glücklichen Umstände preist, denen wir lange Jahre nach der Vernichtung des Dohnaschen Schlosses die Erstellung dieses Werkes verdanken. Bereits 1922 hatte der Jugendfreund des Fürsten Alexander zu Dohna, Dr.-Ing. Carl Grommelt, in seiner Publikation „Die ostpreußische Bauverwaltung im Anfang des 18. Jahrhunderts und der königlich preußische oberländische Landbaumeister und Landmesser Johann Caspar Hindersin" die Baugeschichte des Schlobitter Schlosses in gedrängter Form behandelt. Später entstand der Plan, den gesamten Schloßkomplex weiter auszuforschen, während der Fürst gleichzeitig eine systematische Inventarisation der Ausstattung und der Kunstgegenstände beginnen ließ. Der Tätigkeit von Frau Dr. Christine von Mertens verdanken wir die Erfassung von nahezu 3000 Objekten. Man kann es mit Grundmann als ein Wunder bezeichnen, daß sich nach Kriegsende der Schlobitter Grundherr, Dr. Carl Grommelt und Frau Dr. von Mertens wieder zusammenfanden und nach vielerlei Mühen das vorliegende Werk entstand, das nun gleichsam drei Aufgaben erfüllt: Monographie eines Familienbesitzes, inventarmäßige Darbietung eines bedeutenden bau- und kunstgeschichtlichen Materials und schließlich Dokumentation des engen Verknüpftseins mit dem brandenburgpreußischen Herrscherhaus und der verwandtschaftlichen Bindungen mit den großen deutschen und außerdeutschen Häusern. Schlobitten war schon etwas Besonderes! Uber 4 Jahrhunderte ist man dort am Werk gewesen, nicht nur staatlich und militärisch sein Bestes zu geben, sondern auch geistig und künstlerisch. Darum fällt es auch aus dem Rahmen der anderen großen Adelssitze heraus: Finckenstein, Friedrichstein und Dönhoffstädt sind Schöpfungen aus einem Guß. Schlobitten ist das Ergebnis zweier kunst- und kulturgeschichtlicher Entwicklungsstufen, an deren Ende eine geschlossene einheitliche Form steht. Den 1. Teil, Bauten und Baugeschichte, liefert Carl Grommelt. Er gibt zunächst einen knappen, zusammenfassenden Überblick und untersucht dann noch einmal breiter angelegt das Baugeschehen im einzelnen. Methodisch ist das gut gemeint, aber in der Durchführung nicht ganz gelungen, da der „Uberblick" sich schon gelegentlich zu stark ins Detail verliert. G. spannt den Bogen von der Erwerbung Schlobittens durch die aus dem Altenburgischen stammenden Burggrafen zu Dohna im Jahre 1525 über den im niederländischen Frühbarockstil errichteten Schloßbau des Abraham zu Dohna, kurz nach 1622, bis hin zu der

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imposanten Schloßanlage des Alexander zu Dohna am Anfang des 18. Jh.s, die Gali (Handbuch, S. 145) den großen Planungen des süddeutschen Barocks an die Seite stellt. Abraham zu Dohna war selbst als Festungsbaumeister tätig gewesen (1627 Befestigung von Memel für Kurfürst Georg Wilhelm); von seiner Hand fanden sich im Schlobitter Archiv in einem von ihm selbst angelegten „Baubüchlein" mehrere Vorzeichnungen und Ausführungsrisse. G. neigt dennoch dazu, einen ihm unbekannten Baumeister anzunehmen und diesen im „Kreis der Niederländer Danzigs und ihrer Schüler zu suchen". Bestünde nicht auch die Möglichkeit, in Abraham selbst den Schöpfer zu sehen, der sich lediglich zur praktischen Durchführung eines ansässigen Bau- oder Werkmeisters bediente ? Daß es sich um einen weitgereisten Mann gehandelt haben muß, erweisen Einzelformen des zweigeschossigen, auf H-förmigem Grundriß errichteten Putzbaues. Die dreizonigen Zwerchhäuser finden sich am Kirchentrakt des Königsberger Schlosses (auf der Hofansicht mit der Huldigungsszene von 1663) und an der Schloßapotheke zu Berlin. Die schräggestellten Eckerker des Obergeschosses entsprechen solchen am Albrechtstor des Königsberger und an der Südseite des Berliner Schlosses, ja auch dem epochemachenden Schloß Rottwernsdorf in Sachsen (1556). Im letzten Jahrzehnt des 17. Jh.s beginnt Alexander Burggraf zu Dohna, dessen vorzügliches, 1715 von Pesne gemaltes Bildnis als Gouverneur der Festung Pillau leider in Schlobitten verlorenging, den eindrucksvollen Umbau. Durch Alexander, der zunächst als Erzieher des Kronprinzen Friedrich Wilhelm I. und auch später als Soldat und Politiker in engster Beziehung zum preußischen Hof gestanden hat, werden die künstlerischen Wechselbeziehungen zwischen Schlobitten und der brandenburg-preußischen Bautradition forciert und mit Erfolg gepflegt. Es ist der im Berliner Raum wohlbekannte Jean Baptiste Broebes, der — damals als Stabsingenieur der Festung Pillau unter Dohnas Kommando stehend — als erster von diesem zum Schloßbau gezogen wird und einen Umbau- und Erweiterungsentwurf vorlegt. Aus dem stattlichen Frühbarockschloß soll nach Broebes eine zeitgemäße Wohnanlage von solch großen Ausmaßen entstehen, wie sie in dieser Provinz bis dahin unbekannt geblieben sind. Man muß dabei berücksichtigen, daß diese Planungen in eine Zeit fallen, da die neuerworbene preußische Königskrone die höchsten Staatsdiener zu größter Repräsentanz verpflichtete. Von Broebes stammen ein Vorentwurf und der sog. Generalplan; insbesondere der letztere weitet den Schloßkomplex in die Ebene aus — nicht in die Höhe. Beide Pläne lassen das Abrahamsche Schloß noch unangetastet. Broebes konnte selbst nur noch den Ostflügel verwirklichen, die weitere Bauausführung übernahm nach seinem Fortgang Johann Caspar Hindersin (1677 — 1738). Als Gutachter ist durch Alexander des öfteren der Oberlandesbaudirektor Joachim Ludwig Schultheiß von Unfriedt in Königsberg hinzugezogen worden. Wenn beide auch die Grundkonzeption von Broebes beibehielten, so dürfte doch auf ihr Wirken die Erhöhung des alten Abrahamschen Baues um das zweite Obergeschoß zurückzuführen sein. Dadurch war es nun möglich, einen zweigeschossigen Festsaal anzulegen, wenn auch nicht im Mittelbau, der sogar in den Treppen und Zugängen unverändert blieb, sondern im Westflügel. Dieser Festsaal und auch einige andere obere Räume stammen in ihren Bildhauerarbeiten von Joseph Anton Kraus, einem Gehilfen Schlüters. Da Alexander diesen aus Berlin her persönlich kannte, zögerte er nicht, von ihm einige Abrisse für Plafonds zu erbitten. Schlüter sandte tatsächlich einen Entwurf, über den aber ebensowenig wie über andere von ihm in Aussicht gestellte Zeichnungen etwas bekannt ist. Wahrscheinlich hat die Münzturmkatastrophe dann den Kontakt abgebrochen.

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Die Umwandlung des frühbarocken Baues, der — wie schon gesagt — in seiner Substanz möglichst nicht angetastet werden sollte, gelang im Grunde nur durch Zuhilfenahme von Architekturplastik und Dekorationsmalerei. Neben dem bereits genannten Kraus wirkte hier Giovanni Baptista Schannes ("f 1719), von dessen Plafonds (um 1710) einige gelungene Farbtafeln beigegeben sind. Mit der Errichtung des Marstalles 1721 ist der engere Schloßbezirk abgeschlossen gewesen, so wie er bis zur Zerstörung 1945 bestanden hat. — In der späteren Baugeschichte ist noch ein von Grommelt wiedergegebener Umbauentwurf aus der Zeit um 1850 von Interesse (S. 80), über den leider nichts ausgesagt wird. Zweifellos hätte seine Verwirklichung — im Geist der mittelalterlich-romantischen Gedankenwelt König Friedrich Wilhelms IV. — das Ende der großen Barockschöpfung bedeutet. Was die Ausstattung, die Christine von Mertens im 2. Teil vorlegt, anlangt, so ist auf Kraus und Schannes schon hingewiesen worden. Seine größte Bedeutung erlangte Schlobitten indes durch sein Kunstinventar, das in vorzüglicher Dokumentation mit zahlreichen, oft erstaunlich guten Abbildungen vorgeführt wird, auf das aber im einzelnen hier nicht eingegangen werden kann. Einige Hinweise müssen genügen. Schlobitten war ausschließlich mit alten Möbeln eingerichtet, von denen die schönsten aus dem Anfang des 18. Jh.s stammen, also Anschaffungen zum Neubau Alexanders darstellen. Fast alle Lackmöbel kamen aus Berlin, wo um 1700 die Lackfabrik von Gerard Dagly florierte. An Gemälden waren 450 vorhanden, fast ausschließlich Porträts vom 17. bis zum Ende des 19. Jh.s. Außer der Ahnengalerie dürften von allgemeinem Interesse sein 22 Oranierporträts und 31 Hohenzollernbildnisse. Das preußische Königshaus war ferner durch eine stattliche Reihe von Porträtbüsten vertreten. Alexander zu Dohna verdankte das Schloß seine prachtvollen Gobelins, darunter Nachbildungen der Berliner Manufaktur nach Beauvais, um 1740—50. — Das Silberinventar von 1938 umfaßte 348 Teile, darunter Girandolen, eine Kammdose und einen Spiegelrahmen von Johann Christian Lieberkühn d. Ä. und 12 Becher und eine Kammdose von Otto Männlich. An Fayencen besaß Schlobitten wertvolle alte Bestände von insgesamt 195 Stücken, vorwiegend Delft, Frankfurt, Berlin und Ansbach. Im Porzellankabinett waren vorwiegend vertreten die Manufakturen von Meißen und Berlin. Die wertvolle Glassammlung war zum großen Teil alter Familienbesitz und durch Wappen als solcher ausgewiesen. Vorhanden waren ferner zahlreiche Gefäße und Gerätschaften aus Zinn, Messing, Kupfer, Bronze und Eisen, eine 177 Nummern umfassende historische Waffensammlung und schließlich auch kostbare Münzen und Medaillen. Vielleicht der größte Schatz, den Schlobitten aber aufzuweisen hatte, war die Büchersammlung, die bis auf die Zeit Abrahams zurückreichte. Umfassender kann kein Privatbesitz an Literatur gedacht sein: Ein im Jahre 1858 verfaßter Katalog gab über 55000 Bände Auskunft. Man fand hier die gesamte Madrigalmusik Venedigs des 16. Jh.s ebenso wie seltene bibliophile Privatdrucke und seltene Erstausgaben. Der 2. Weltkrieg hat diese seit Jh.en gesammelten und gehüteten Kostbarkeiten entweder zerstört oder in alle Winde zerstreut. Genaueres wird leider nicht mitgeteilt, und doch hätte man sich gewünscht, einen entsprechenden Hinweis beim jeweiligen Objekt zu finden. Die im 3. Teil zusammengefaßten „Kulturgeschichtlichen Beiträge" berichten u. a. über „Die Dohna und Schlobitten", „König Friedrich Wilhelm III. und Königin Louise in Schlobitten 1802" und bringen „Erinnerungen an das Leben in Schloß Schlobitten". Diese, 27

Jahrbuch 12

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE

GEBIETE

vom letzten Schlobitter Grundherrn Alexander Fürst zu Dohna verfaßt, geben einen erschütternden Bericht über die letzten Tage in Ostpreußen und von dem faktischen Ende dieses einmaligen Besitztums. Ein mustergültig gearbeiteter wissenschaftlicher Anhang (Teil 4) ermöglicht eine vorzügliche Auswertung des vorgelegten Materials. Berlin Hans-Herbert Möller

Alienstein. Hrsg. im Auftr. d. Kreisgemeinschaft Stadt Allenstein in d. Landsmannschaft Ostpreußen. — Osnabrück: Fromm (1962). 65 S., m. Abb., 1 Titelbild. (Die Kette.) DM 5,80. KEYSER, Erich: Westpreußen. Aus d. dt. Geschichte d. Weichsellandes. Würzburg: Holzner 1962. 93 S. mit Abb. DM 7,50. Addreß-Calender (Adreßkalender) Königsberg auf das Jahr 1733. — Hamburg: (Verein f. Familienforschung in Ost- u. Westpreußen e.V.) 1962. 42 S. = Sonderschriften d. Vereins f. Familienforschung in Ost- u. Westpreußen e.V. Nr. 2. Auskunft für Königsberger. Erteilt durch die Stadt Duisburg, Patenstadt f. Königsberg (Pr.). Stand: Jan. 1962. — (Duisburg: Stadtverwaltung 1962) 96 S. KÜHNEMANN, Helmut: Danzig. Die Entwickig. d. Organismus d. Handelsstadt vor u. nach d. Industrialisierung. — München 1962. IX, 206 gez. Bl., 24 Taf.; Anl. 4°. (Maschinenschr.) München, TU, F. f. Bauwes., Diss. v. 19. Juni 1962. (NfdA.)

6. Provinz Sachsen und Anhalt WÄSCHER, Hermann: Feudalburgen in den Bezirken Halle und Magdeburg. 2Bde. Text und Bildbd. - Bln.: Henschel-Verl. 1962. 218 S.; 699 Abb. = Dt. Bauakademie. Schriften d. Instituts f. Theorie u. Geschichte d. Baukunst, zus. DM 5 5 , - . Die beiden Bd.e bilden den Abschluß der bereits 30 burgenkundlichen Veröffentlichungen Hermann Wäschers, von denen sein Bericht über die Baugeschichte des Burgberges in Quedlinburg zweifellos die bedeutendste und bekannteste Arbeit war. Dem Autor selbst war es nicht mehr vergönnt, den endgültigen Abschluß seines umfangreichen Werkes zu erleben; denn er verstarb nach schwerer Krankheit am 24. Mai 1961 im Alter von 74 Jahren, noch bevor die Drucklegungsarbeiten abgeschlossen waren. W., der wie viele andere Burgenforscher aus dem Baufach stammte — er hatte zunächst Maurer und Steinmetz gelernt, war Meisterschüler, dann selbständiger Architekt für Denkmalspflege in Sachsen-Anhalt, seit 1936 Provinzialkonservator und schließlich seit 1954 am Kunstgeschichtlichen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit der Durchführung eines Forschungsauftrages „Mittelalterliche Burgen in Mitteldeutschland" betraut —, legt hier das reiche Material vor, das aus seiner über 50jährigen Tätigkeit in der Denkmalspflege stammt. Diese Forschungen sind, wie der Vf. ausdrücklich betont (S. 205), ausschließlich archäologisch-baugeschichtlich und nicht historisch; die historischen Angaben sind aus der (stets angegebenen) Fachliteratur kompiliert.

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Der in der Art eines alphabetischen Inventarbd.es angelegte Textbd. behandelt in einem allgemeinen Teil (S. 32) zunächst die Geschichte des Raumes (verfaßt von Erhard Voigt) und beschäftigt sich dann in 10 kurzen Kapiteln mit grundsätzlichen Fragen der Burgenforschung wie Typologie, räumliche Gliederung, Gründungsdaten der Burgen usw., in denen — im Gegensatz zu den streng sachlichen Artikeln über die einzelnen Burgen — z.T. die marxistische Geschichtsauffassung anklingt, von der offenbar auch der Terminus „Feudalburgen" im Titel inspiriert ist. Im Hauptteil (S. 33—202) finden wir eine „Beschreibende Darstellung der Objekte", die, alphabetisch angeordnet und nach drei Regionen gegliedert, 135 Anlagen aus den Bezirken Halle und Magdeburg (dem ehemaligen Sachsen-Anhalt) behandelt. Die Artikel selbst sind alle nach dem gleichen Schema übersichtlich unter 6 Stichworte unterteilt. „Geographischer Typ", „Lage", „Historische Funktion", „Geschichte", „Beschreibung der Anlage", „Literatur". Was die Reihenfolge angeht, so hätten wir lieber die „Lage" vor dem „Geographischen Typ" und die „Geschichte" vor der „Historischen Funktion" angeführt, denn dies sind die Oberbegriffe, die auf die folgenden bestimmend einwirken. Das Literaturverzeichnis enthält leider nur die wichtigsten Werke. W. führt jedoch bei jedem Objekt die Katalognummer von Paul Grimms Werk „Die vor- und frühgeschichtlichen Burgwälle der Bezirke Halle und Magdeburg" (Berlin 1958) an, wo man neben einem Literaturverzeichnis auch ausführliche Angaben über die benutzten Quellen findet. Es empfiehlt sich daher gerade für den Historiker zur Ergänzung das Werk von Grimm mit heranzuziehen. Zu dem Bildmaterial (im 2. Bd.) ist nicht viel zu sagen. Wenig burgenkundliche Werke gibt es, und schon gar keine über den behandelten Raum, die ein auch nur annähernd so reiches, so vielfältiges und z. T. auch so neues Material vorlegen. Die meisten der Ortspläne, Grundrisse, Schnitte usw. stammen von W. selbst und sind von hervorragender Qualität. Sehr instruktiv sind ebenfalls die vom Vf. sehr sorgfältig und liebevoll ausgeführten Rekonstruktionen, die z. T. die Objekte zu verschiedenen Zeiten zeigen und so die Bauabschnitte in ihren einzelnen Phasen vor Augen führen. Da das Material für diese Rekonstruktionen hauptsächlich aus Grabungen, d. h. aus der Freilegung und Untersuchung der Grundmauern gewonnen wird, nimmt natürlich die Zuverlässigkeit mit der Höhe der Gebäude ab, denn Abbildungen — vor allem zuverlässige — sind ja aus alter Zeit nicht häufig. Beachtenswert sind so die Rekonstruktionen der Quedlinburg (Bilder 388—391), denen umfangreiche und ergiebige Grabungsarbeiten des Vf.s zugrunde liegen, während einem bei der Rekonstruktion von Kyffhausen etwa nicht ganz verständlich wird, wie der Vf. bei dem vorliegenden Material zu dem detaillierten Ergebnis seiner Zeichnung kam. Das gilt vor allem für die seit langem fast völlig zerstörte Mittelburg. Daneben enthält das Werk eine Menge ausgezeichneter Photos, die erfreulicherweise vielfach vom hergebrachten Kanon abweichen, denn sie sind nicht — wie in solchen Fällen häufig — nur nach ästhetischen Gesichtspunkten angefertigt, sondern zeigen in der Gesamtsicht oder im Detail, was den Fachmann interessiert und leider nur selten gut abgebildet wird, wie etwa das karolingische Torhaus und die Poterne mit Zugbrücke in Querfurt oder die Luftaufnahme des Burggeländes von Bösenburg. Als Ergänzung der Grundrisse, Rekonstruktionen und photographischen Aufnahmen sind dem Bildbd. noch eine Reihe Pläne und Darstellungen aus älterer Zeit beigegeben, die vieles erklären, was der heutige Baubefund allein nicht mehr deutlich macht. So kann man abschließend sagen, daß die beiden Bd.e von W.s „Feudalburgen" für den Landesgeschichtler wie Kunst- oder Baugeschichtier und natürlich jeden, der sich ganz 27*

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allgemein mit dem mittelalterlichen Wehrbau beschäftigt, eine nahezu unerschöpfliche Fundgrube bilden — und ein unerläßliches und wertvolles Nachschlagewerk für all diejenigen, denen es augenblicklich nicht möglich ist, sich an Ort und Stelle zu begeben. Gleichzeitig wollen wir den Wunsch aussprechen, daß das Werk auch an anderen Stellen Deutschlands Forscher ermutigen möge, uns ähnliche Inventare zu liefern. Berlin Dietmar Lührig Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Magdeburg. (Photomechan. Nachdr. d. 1. Aufl., Leipzig 1869.) 2., unveränd. Aufl., Bd. 1. — Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962. 508 S. mit 1 Kt. = Die Chroniken der dt. Städte vom 14. bis ins 16 Jh. Bd. 7. DM 5 6 , - . Der photomechanische Nachdruck der ersten, 1869 erschienenen Ausgabe ist hier anzuzeigen, da die den Bd. füllende sog. Magdeburger Schöppenchronik zu den wichtigsten Quellen gehört, welche uns aus dem späteren Mittelalter zur Geschichte des Gebiets erhalten sind, das diese Zeitschrift in erster Linie ins Auge faßt. Wahrscheinlich würden insbesondere die Germanisten eine Neuausgabe begrüßen, welche die Normalisierungen Janickes beseitigt und nicht nur die Handschriften A und B zugrunde legt. Aber das Bessere ist der Feind des Guten. Wir wollen froh sein, daß wenigstens der Janickesche Text wieder greifbar ist. Marburg)Lahn Walter Schlesinger Sachsen-Anhalt. Text v. Karl Rauch. — Königstein i. Ts.: Langewiesche o. J. 47 S. Abb. mit Text. (Langewiesche-Bücherei.) DM 3,30. Das Bändchen gibt in seinem Textteil eine beschreibende Wanderung durch SachsenAnhalt, die anspricht, wo sie bei der Beschreibung bleibt, gelegentlich aber in schwülstige Würdigung verfällt — es berührt uns peinlich, den Naumburger Dom als „geheiligte Herzmitte deutscher Geist-Seligkeit" gepriesen zu finden. Das Historische wird meist nur angedeutet, oft gar zu knapp (so erfährt man nicht, daß Merseburg seit ottonischer Zeit Bischofssitz war), leider auch nicht immer richtig (die Stifterfiguren im Naumburger Dom stellen nicht Landgrafen von Thüringen dar, von einer „Stadtgründung" in Quedlinburg kann im 10. Jh. noch nicht gesprochen werden, die Jerichower Stiftskirche ist nicht im 13., sondern im 12. Jh. erbaut, der Magdeburger Reiter ist auch nicht „vermutlich" eine Schöpfung des Naumburger Meisters, sondern steht nur in Zusammenhang mit dessen Schule). Daß die Historie nicht des Vf.s Stärke ist, erhellt auch aus seiner Meinung, „mit der Völkerwanderung [seien] die geistigen Schwerpunkte des alten Römischen Reiches Deutscher Nation vom Süden und Westen her ins mitteldeutsche Gebiet und nach Osten verlagert" worden. Nebuloser geht es nicht! — Der Bildteil gibt mit trefflichen, gut ausgewählten Aufnahmen einen Eindruck von Natur, Geschichte und Kunst des schönen Landes. Dem Verlag ist für diese seine Bemühung um ein Stück Mitteldeutschland zu danken. Berlin

Wolf gang H. Fritze

Der Magdeburger Dom. Text v. Siegfried Scharfe. — Königstein i. Ts.: Langewiesche 1962. 47 S. Abb. mit Text. (Langewiesche-Bücherei.) DM 3,30. Dem Aufbauschema der Langewiesche-Reihe entsprechend, gliedert sich der vorliegende Bd. in einen Text- und einen Tafelteil. Dieser letzte fällt ebenso wie die zahlreichen Textabbildungen durch gute Bildauswahl auf. (Zu begrüßen wäre allerdings eine Vervollständigung der Bildtitel durch Angabe der Datierung, wie es bei den Textabbildungen durchgeführt ist.) Mit einem kurzen historischen Uberblick über Gründung und Bedeutung des

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Erzbistums M. und Angaben über den ottonischen Bau leitet der Textteil die Baugeschichte des gotischen Domes ein. Die hier wirksam gewordenen Einflüsse nordfranzösischer und burgundischer Gotik sowie westdeutscher Zisterzienserarchitektur behandelt der Vf. sehr summarisch; klarer wären sie geworden, hätte er sie der Besprechung der einzelnen, mit Planänderungen verbundenen Bauabschnitte unter den Erzbischöfen Albrecht, Burkhard und Wilbrand zugeordnet. Die Eigentümlichkeit der Magdeburger Gotik wird jedoch deutlich. Eine besondere Würdigung erfährt die reiche plastische Ausstattung des Domes. Daß der Deutung der berühmten Sitzbilder des Chores auf Otto I. und Edith in der Forschung die auf Christus-sponsus und Ecclesia-sponsa gegenübersteht, wird allerdings nicht erwähnt. Auch auf die Bedeutung der Klugen und Törichten Jungfrauen der Paradiesespforte hätte hingewiesen werden können, wo — als radikale deutsche Neuerung gegenüber Frankreich — die Gestalten zum ersten Male in monumentaler Fassung erscheinen. Berlin Maria-Elisabeth Fritze T H U L I N , Oskar: Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten. 3. Aufl. — Bln.: Evang. Verl.-Anst. 1962. 42 S. mit Abb., 27 Bl. Abb. DM 5,80. Einmal ein Bildbd. von wirklichem Rang! Der Leiter der Wittenberger Lutherhalle gibt eine auf intimer Kenntnis beruhende, in ihrem schlichten, auf Geistreicheleien verzichtenden Stil wohltuende Darstellung der Stadt Wittenberg und ihrer Hauptstätten zur Lutherzeit, die er mit liebevoll ausgesuchten Abbildungen, meist Wiedergaben von Holzschnitten, begleitet. Der Tafelteil erläutert die Darstellung des Textes mit einer Fülle schöner Aufnahmen der behandelten Stätten und Kunstwerke. Es entsteht auf diese Weise ein lebendiges und eindrucksvolles, von warmer Liebe zum Gegenstand durchleuchtetes Bild, dem weite Verbreitung zu wünschen ist. Berlin Wolfgang H. Fritze STRUCK, Wolf-Heino: Die Neubürger von Großalsleben 1604—1874. — Neustadt a. d. Aisch: Degener 1962. 133 S. = Genealogie u. Landesgeschichte. Bd. 3 = Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen. Bd. 15. DM 18,—.

Zwei alte Bücher und andere Akten holte der Vf. im Jahre 1941 aus einem löchrigen Schuppen des Rathauses von Großalsleben in die pfleglichere Obhut des Anhaltischen Staatsarchivs in Zerbst. Die beiden verschmutzten, schmalen und hohen Bd.e der ältere in ein Pergament mit einer geistlichen Handschrift aus dem 14. Jh. gebunden und durch Feuchtigkeit völlig gelöst, entpuppten sich als die Ratsbücher mit den Bürgerlisten von Großalsleben aus den Jahren 1604 bis 1778 und 1779 bis 1882. Berlin (E. Kaeber) verzeichnete 1736/38, also in drei Jahren, 1103, die Stadt Großalsleben in rd. 270 Jahren insgesamt 1094 Neubürger. In der gut unterrichtenden Arbeit von Reinhold Specht: Das Land Anhalt, in: Familiengeschichtl. Wegweiser durch Stadt und Land, hrsg. v. Friedrich Wecken, H. 7—9, 1937, ist das ehemalige Amt Groß-Alsleben, mit der Stadt Groß-Aisleben, die 1336 Einwohner im Jahre 1933 zählte, und den Dörfern Klein-Alsleben und Alickendorf aufgeführt, eine winzige anhaltische Exklave zwischen Magdeburg und Halberstadt. Großalsleben, vor 1703 ein Flecken, seitdem eine Ackerbürgerstadt, liegt an keiner Eisenbahn. Die Ratsbücher enthalten die „Statuta und Ordnunge dieses Pfleckens", die Bestandteile des Heergewettes und der Frauengerade, die Neubürger, merkwürdige Begebenheiten, Aufzeichnungen über das Abzugsrecht und ausgestellte Geburtsbriefe, die Erlebnisse aus

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE GEBIETE

dem 30jährigen und 7jährigen Krieg, mehrere Feuersbrünste, Exekutionen, Beisteuer zur Glocke und Orgel, Einkünfte von Kirche und Pfarre, Abgaben an das Amt u. a., von den Schulmeistern, Rektoren und Kantoren vermerkt. Die letzten Eintragungen von 1872 bis 1882 besorgte der Bürgermeister. Die Neubürgereintragungen geben Auskunft über Herkunft, vielfach über den Vater, Trauung, Ehefrau und deren Eltern, sie sind von besonderem Wert, weil 1690 das ältere Kirchenbuch verbrannte und erst 1714 ein neues angelegt wurde. Im April 1616 schwor den Bürgereid Matthiaß Lentz, von Kleinen Rappin in der Mark gebürtig, das nach dem beigefügten Ortsregister Kleinrambin, Kr. Belgard/Persante, sein soll. Dies dürfte, wenn nicht belegt, unwahrscheinlich und Ruppin in der Mark sein, im Volksmund damals gesprochen: Rappin. Die Bezeichnung Klein Ruppin für Alt-Ruppin ist unbekannt (Joh. Schultze: Geschichte der Stadt Neuruppin. 2., überarb. u. erw. Aufl. 1963). Auch kann es ein Hör-, Lese- oder Eintragungsfehler des Ratsschreibers Bischof sein, dem das benachbarte Dorf „Kleinen" Alßleben geläufig war. In Neuruppin ist Achim Lentze wohnhaft i. d. J. 1541/58 (Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede u. -Register des 16. u. 17. Jh.s. 2. Bd.: Das Land Ruppin [Inspektionen Neuruppin, Wusterhausen, Gransee und Zehdenick], A. d. Nachl. v. Victor Herold, hrsg. v. Gerhard Zimmermann, bearb. v. Gerd Heinrich = Veröffentl. d. Hist. Komm, zu Berlin, Bd. 6, Quellenwerke, Bd. 2, Berlin 1963, S. 67) und i. J. 1604 (Paul Meyer: Neuruppiner Bürgerlisten 1559-1711, in: Veröffentl. des Hist. Vereins der Grafschaft Ruppin, Nr. 9, 1940, S. 9). Als Geburtsort können ferner in Frage kommen Reppen, Kr. Weststernberg, und vielleicht Reppinichen, Kr. Zauch-Belzig. Ausführlich werden die Bürgeraufnahme, die Rechte und Pflichten der Bürger behandelt. In einer Bevölkerungsstatistik der Neubürger kommt der ländliche Charakter zum Ausdruck. Der geringe Zuzug kam meist aus der nächsten Umgebung, vielfach aus dem Westen. Aufschlußreich, zugleich barock und grotesk für den kleinen Ort ist die Liste der in den Bürgerbüchern genannten Groß-, Ober-, Klein- und Unter-Bürgermeister, der Groß-, Ober-, Klein- und Unter-Kämmerer und der Ratsherren, in der die Familie Schütz(e) von 1611 bis 1820 häufig vertreten und in den B. B. von 1609—1856 genannt ist. Sorgfältige Personen-, Berufs- und Standes- und Ortsregister, leider nur für die Neubürgerlisten, sind beigegeben. Der 1614 genannte Vortratmacher (?) Heinrich Heinemann, der die Witwe des Leinewebers Jonas Staffelt heiratete, könnte Vierdrahtmacher gewesen sein, ein Tuchmacher, der vierdrähtiges Garn verwendet (Wasmansdorff: Alte deutsche Berufsnamen, S. 44). Die jüdischen Einwohner sind in den Ratsbüchern und Neubürgerlisten verzeichnet, darunter die in Großalsleben am 9. 2. 1685 geborene Beyle Moses, die ebd. am 9. 2. 1795 verstarb und deren Enkel Joseph Hohne/Höhne, der am 9. 9. 1789 das Bürgerrecht erwarb. Der am 13. 10. 1816 in Großalsleben geborene Carl Baruch Liepmann wurde am 10. 3. 1843 Bürger von Berlin (Jacob Jacobson: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin. 1809 — 1851. Mit Erg. f. d. J. 1791—1809 = Veröffentl. d. Hist. Komm, zu Berlin, Bd. IV, Quellenwerke, Bd. 1, Berlin 1962, S. 407) und sein Bruder Moses Liepmann, Bürger im gleichen Jahr in Großalsleben. Die Vorgeschichte wird in der Einleitung kurz gestreift, in der Frühgeschichte treten Aisleben und Neu-Aisleben ( = Kleinalsleben) unter den Erbbesitzungen des Markgrafen Gero auf, als Ausstattungen des im Jahre 961 begründeten Stifts in Gernrode, hierdurch wurde für das gesamte Mittelalter Großalsleben Teil eines kleinen geistlichen Staates. Die weiteren Ereignisse werden im Rahmen der Landesgeschichte behandelt, die Reformation und die folgende Kirchenparteipolitik mit ihren Streitigkeiten münden in den 30jährigen Krieg, der auch Großalsleben zur wüsten Einöde macht. Die innere Entwicklung von Großalsleben erfährt eine sorgfältige Schilderung.

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PROVINZ SACHSEN UND ANHALT

Geschichte darbieten ist eine Kunst; Struck, der Archivar, beherrscht sie in überlegener Weise. Es ist zu hoffen, daß der Vf. aus den Ratsbüchern die Geburtsbriefe und die Eintragungen über die Legung des Heergewettes inzwischen ausgewertet hat und 1964 seine Behandlung vorlegt, auch über eine anheimgestellte Untersuchung: Beziehungen der Familie des Komponisten Heinrich Schütz zu dem Großalslebener Groß-Bürgermeister David Schütze, der sich 1675 mit Margarete Telemans, der Tochter des (f) Georg Telemann, Seelsorgers der christl. Gemeinde zu Kochstädt, verheiratete, deren Verwandtschaft mit dem Komponisten Georg Philipp Telemann sicher erscheint und zusammenhängt mit Joachim Telemann, dem Pfarrer in Mariendorf bei Berlin von 1541—1588. Berlin

Martin

Jacob

Kühn-Aichiv. Arbeiten aus der Landwirtschaftl. Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hrsg. im Auftr. d. Fakultät von Hans Stubbe und Gustav Könnecke. Bd. 76, H. 1/2 mit Theodor-Roemer-Gedenkschrift. — Halle (Saale): Niemeyer 1962. 308, 101 S. 4°. DM 47,60. Der 76. Bd. des Kühn-Archivs enthält vier Arbeiten. Im 1. Beitrag beschäftigt sich K. Riedel mit den „Landtechnischen Disziplinen in historischer Sicht", wobei er sich neben der im Thema genannten Frage ausführlich mit der Deutung und Einordnung des Begriffs Landtechnik befaßt. Unter dem Titel „Zur Frage der Verträglichkeitsbeziehungen bei Getreide" legt G. Franke die Ergebnisse von ausgedehnten, mehrjährigen Versuchen über Vorfruchtwert und Verträglichkeit von Getreide auf verschiedenen Standorten vor. G. Meier und J. Wünsche berichten über „Arbeitswirtschaftliche Untersuchungen und Kosten-Ertragsvergleich in der Obstbaumschule des VE Lehr- und Versuchsgutes Prussendorf". K. Dörfer kommt auf Grund seiner „Untersuchungen zur Lösung bestehender Probleme der Unterflurbewässerung" zu dem Schluß, daß diese Bewässerungsart für Großflächen ungeeignet, hingegen für bestimmte Böden und für kleinere Flächen zu empfehlen sei. Dem 76. Bd. des Kühn-Archivs vorgeheftet ist eine 101 S. starke Festschrift zur Theodor-Roemer-Gedenkfeier der Universität am 20. 11. 1961. Sie enthält 11 Gedenkansprachen und Vorträge von Wissenschaftlern der verschiedenen Gebiete der Landwirtschaftswissenschaften, die die Bedeutung Roemers für das jeweilige Fachgebiet würdigen. Gießen Eberhard Schinke

Beiträge zur Geschichte der Stadt Coswig (Anhalt). (Zsgest. v. d. Arbeitsgemeinschaft Heimatgeschichte im Dt. Kulturbund, Ortsgruppe Coswig.) — Coswig (Anh.): Rat d. Stadt 1962. 39 S., mehr. Bl. Abb. D M 2 , - . ISO (Hundertfünfzig) Jahre Theater Halberstadt. (Festschr. Red.: Margrit Lenk.) — (Halberstadt: Volkstheater Halberstadt 1962.) 76 S. mit Abb., mehr Bl. Abb. 20 x 21 cm. (Umschlagt.) DM 2,—. (TOEPFER, Volker:) Halle vor 961. Erläuterungen z. Ausstellung im Lichthof d. Landesmuseums f. Vorgeschichte Halle (Saale). (Vignetten: L. Scherffig. Zeichn.: M. Rothe u. E. Weber. Fotos: Ch. Knospe u. a.) — Halle (Saale: VEB Kreuz-Verl.) 1962. 60 S. D M 2 , - .

JAHN, Johannes, Prof. Dr.: Der Dom zu Halberstadt. 8 Fotos in Handabzügen. Ausgew. — (Markkleeberg/Leipzig: Schmiedicke 1962.) 8 Kt. (Umschlagt.) DM3, — .

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BESPRECHUNGSTEIL

E I N Z E L N E GEBIETE

Die Kali- und Steinsalzlagerstätten des Zechsteins in der Deutschen Demokratischen Republik. T. 3. — Bln.: Akademie-Verl. 1962 = Freiberger Forschungshefte. (Reihe) C, 97,3. 3. Sachsen-Anhalt. Von Joachim Löffler. Mit 2 Beitr. von Günter Schulze. (Mit) 135 Bildern (u.) 89 Tab. 347 S. DM 52,50. LAWERENZ, Hans: Harzer Lande im Bauernkrieg. (2., Überarb. Aufl.) — (Wernigerode: Feudalmuseum Schloß Wernigerode 1962.) 48 S. mit Abb. DM 1, — . STÖWESAND, Rudolf: Zur Genealogie und Geschichte der Stifter des Naumburger Domes. 1. — (Berlin-Zehlendorf, Lupsteiner Weg 61: R. Stöwesand 1962.) 1. Graf Dietmar d. Gefallene u. Timo der Vogelfreie. (1962) S. 1 6 3 - 1 8 7 m. Abb. Aus: Der Herold. Bd. 4. 1962, H. 8/9. Unverkäuflich. WIND, Heinrich, Domprediger: Abschiedsgottesdienst im Dom zu Halle (Saale). 24. Juni 1962. (Zum Abschied v. s. Gemeinde am 1. Juli 1962.) - (Halle 1962: E. Klinz.) 20 S.

7. Thüringen PESCHEL, Karl: Die vorgeschichtliche Keramik der Gleichberge bei Römhild in Thüringen. - Weimar: Böhlau 1962. 227 S., 1 Titelb., 51 Tafeln, 4° = Veröffentlichungen d. Vorgeschichtl. Museums d. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Bd. 1. DM 33,50. Die Arbeit, eine Jenenser Diss. von 1960, stellt die Auswertung eines Fundgutes dar, das in fast lOOjähriger Denkmalpflege zusammengekommen, aber bisher kaum behandelt worden ist. Der Vf. hat sämtliche erfaßbaren Gefäßfragmente einer formenkundlichen Gliederung unterzogen, der sich eine ausgreifende historische Einordnung in die allgemeinen Kulturzusammenhänge unmittelbar anschließt. Der chronologischen Ordnung folgend sind diese Untersuchungen in knapper klarer Art unter Einbeziehung des zum Verständnis notwendigen Vergleichsmaterials auf 93 S. vorgenommen worden. 51 Tafeln, auf die häufig verwiesen wird, geben in ihrer einfachen ansprechenden Ausführung eine Vorstellung von dem Material. Der 57 S. lange, knapp gehaltene Katalog ergänzt diese Vorlage. Während der Große Gleichberg allein aus der jüngeren Urnenfelderzeit echte Siedlungszeugnisse ergeben hat, zeigt das Fundgut der Steinsburg eine Besiedlungsfolge, durch die die Anlage in die urgeschichtlichen Vorgänge des süddt. Raumes einbezogen wird. Erste sichere Siedlungsreste stammen vom Ende der frühen Bronzezeit (Reinecke A 2) und verbinden die Höhensiedlungen mit zahlreichen entsprechenden Anlagen des südl. Mitteleuropas, auf deren gemeinsamen Entstehungsanlaß die tschechische Forschung hingewiesen hat. Auch die erneute Besiedlung der Höhe in der jüng. Urnenfelderzeit hat im süddt. Raum ihre Parallelen und mag im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Hallstattkultur gesehen werden. Eine dritte Phase setzt zu Ende der späten Hallstattzeit ein und führt durch die Latenezeit kontinuierlich zu dem Oppidum, das in augusteischer Zeit aufgelassen wird. Der Keramik dieses Abschnittes, die ihre Parallelen im nordbayrisch-hessischen Gebiet am Nordrand des keltischen Siedlungsraums findet, hat der Vf. die ausführlichste Behandlung gewidmet. Durch diese systematische Untersuchung sind die Forschungen von Jacob, Götze, Neumann u. a. in einer zusammenfassenden Arbeit vereint, die zugleich richtungweisend für zukünftige Forschungen an dieser Stelle sein wird. Als Bd. 1 der Schriftenreihe des

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Jenenser Universitätsinstituts kann die formal wie inhaltlich gelungene, auswertende Materialpublikation als beziehungsreicher Auftakt gewertet werden. Göttingen

Konrad

Weidemann

Hans: Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen. T. 1. — Köln, Graz: Böhlau 1962. XVI, 692 S., 8 Bl. Ktn. = Mitteidt. Forschungen, 22. DM 6 8 , - . PATZE,

Die vorliegende Arbeit reiht sich thematisch an die zahlreichen Untersuchungen zum Problem der Entwicklung der Landesherrschaft in Deutschland an, und man soll sie nach der Absicht ihres Vf.s geradezu als eine Fortsetzung des Buches „Die Entstehung der Landesherrschaft" von Walter Schlesinger betrachten. Wer jedoch aus dem Titel auf eine eng auf die eigentlich verfassungsrechtlichen Fragen beschränkte Untersuchung schließt, wird bald erkennen müssen, daß das Buch einen ganz anderen Charakter trägt. In einer — fast möchte man sagen programmatischen — Einleitung betont der Autor die engen Beziehungen, die zwischen der verfassungsrechtlichen Gestalt und den äußeren Geschicken der Territorien bestanden, Beziehungen, die in verfassungsgeschichtlichen Arbeiten zwar nie geleugnet, selten aber mit letzter Konsequenz dargestellt wurden. Von diesem methodischen Standpunkt aus gesehen ist es einleuchtend, daß der Vf. lieber den Vorwurf der „Stoffhuberei" (Vorwort, S. XII) auf sich nimmt, als auf eine genaue Beschreibung der Fakten verzichtet, bestimmt nicht zum Schaden des Werkes, das sich — ohne den vom Thema gesteckten Rahmen zu sprengen — zu einer Geschichte Thüringens im frühen und hohen Mittelalter ausweitet. Dem methodischen Anliegen entsprechend beginnt der 1. Teil der Arbeit, der der Untersuchung der „Grundlagen und Vorstufen der Landesherrschaft" gewidmet ist, mit Abschnitten über Gliederung und Abgrenzung der Landschaft Thüringen, über Besiedlung, Pagus-Einteilung und Straßenführung. Mit der Betonung der oft vernachlässigten räumlichen Komponenten wird eine zuverlässige Grundlage für die folgenden Darlegungen über die politische Geschichte dieses Raumes und die damit verbundenen verfassungsgeschichtlichen Fragen geschaffen. Es erweist sich als ein ebenso schwieriges wie reizvolles Unternehmen, der Entwicklung der Landesherrschaft gerade in einer Landschaft wie Thüringen nachzugehen, die zwar als Stammesverband ins Licht der Geschichte trat, ihre politische Einheit aber schon früh verlor. Patze kann zeigen, daß das Fehlen einer starken Gewalt, wie sie in anderen Gebieten durch das Herzogtum verkörpert wurde, das Land Einflüssen verschiedenster Art öffnete. Neben den Erzbischöfen von Mainz und den Klöstern Hersfeld und Fulda, die hier ausgedehnte Besitzungen erwarben (für den Besitz von Fulda vgl. Exkurs 1), waren es vor allem die Babenberger (Poppo II.) und die Liudolfinger, die schon am Ende des 9. Jh.s nach der Vorherrschaft in Thüringen strebten. Der Aufstieg der Liudolfinger brachte in der ottonischen Zeit eine Vormachtstellung des Königtums, daneben stiegen — vorzugsweise im Dienste des Reiches — Adelsfamilien, wie die der Grafen von Merseburg im thüringisch-ostsächsischen Grenzraum, der Grafen von Bilstein im Werragebiet und der Grafen von Weimar-Orlamünde in Innerthüringen, empor. Ausführlich behandelt werden die Ekkehardinger, deren Herrschaft bereits verschiedene Elemente der späteren Landesherrschaft aufwies und eine unübersehbare Tendenz zur Territorialisierung zeigte. Mit Recht wird auf die Beziehungen zwischen dem Besitz von Grafschaften und der Herrschaftsbildung in dieser Zeit hingewiesen. Der Versuch einer zusammenfassenden Darstellung des Grafschaftsproblems enthält zahlreiche wichtige Beobachtungen für den thüringischen Raum.

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE GEBIETE

Von diesen Ansätzen zur Bildung hochadliger Herrschaftsbereiche, die der thüringischen Geschichte zeitweilig das Gepräge gaben, führt jedoch keine gradlinige Entwicklung zu den hochmittelalterlichen Territorialstaaten. Erst der Aufstieg der Ludowinger, dem im 2. Teil des Werkes nachgegangen wird, brachte hier eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse und zwang die großen thüringischen Dynastenfamilien, sich entweder den Landgrafen zu beugen oder selbst auf die Errichtung einer eigenen Landesherrschaft hinzuwirken. Bei der Darstellung der politischen Geschichte des Landgrafenhauses der Ludowinger geht der Vf. von einer sorgfältigen Interpretation der in dem ludowingischen Familienkloster Reinhardsbrunn entstandenen Überlieferung aus, die nicht nur auf ihren faktischen Quellenwert, sondern vor allem auf ihren ideologischen Gehalt hin geprüft wird. Die damit verbundenen Untersuchungen gehören zu den interessantesten Passagen des Buches. Nach der eingehenden Behandlung der Anfänge der Ludowinger, deren genealogische Beziehungen zu den Grafen von Rieneck aufgezeigt werden, folgt eine Darstellung Thüringens in den Sachsenkriegen und der weiteren Schicksale des Landgrafenhauses, wobei auch die Verhältnisse in Hessen gebührend berücksichtigt werden. Es wird deutlich, daß die Ludowinger aktiv im Dienste des Reiches tätig waren, daneben aber mit gleicher Intensität den Ausbau ihrer zunächst nur schmalen Machtbasis in Thüringen betrieben. Dabei kamen ihnen die Beziehungen zum Königtum zustatten; nach dem Sturz Heinrichs d. Löwen konnten sie die Landgrafschaft Thüringen, die Pfalzgrafschaft Sachsen und die hessischen Besitzungen unangefochten in ihrer Hand vereinigen. Die vom Vf. angestrebte Einfügung des regionalen Geschehens in die Reichsgeschichte ist ihm in besonders eindrucksvoller Form bei der Behandlung des Königtums Heinrich Raspes gelungen, das Höhepunkt und Ausklang der Geschichte des Landgrafenhauses bildete. Zahlreiche Korrekturen an dem umstrittenen Bild des Gegenkönigs verleihen diesem Abschnitt einen besonderen Wert. Der verfassungsrechtlichen Struktur der landgräflichen Herrschaft, die sich bis zur Mitte des 13. Jh.s so gefestigt hatte, daß das Aussterben des ludowingischen Hauses nicht zu ihrem Zerfall führte, ist der letzte Teil des Werkes gewidmet. Seiner „Abneigung gegen unscharfe räumliche Vorstellungen" entsprechend, die er im Vorwort geäußert hatte, versucht der Vf. das Territorium zu umschreiben, in dem die Landgrafen Herrschaftsrechte ausgeübt haben. Dabei zeigt es sich, daß das Gebiet, in dem die Ludowinger als Landesherren auftreten konnten, wesentlich kleiner war als der Bereich, in dem sie in ihrer Eigenschaft als Landgrafen Rechte geltend machten. Den Kern des Herrschaftsbereiches bildete ein kleines Allod um Eisenach, ein großer Teil des Besitzes war Lehen des Erzbistums Mainz; auffällig ist der geringe Anteil der Reichslehen. Die Verschmelzung dieser heterogenen Bestandteile war das Ziel der landgräflichen Politik; sie kündigte sich in Formulierungen w i e p r i n c i p a t u s und terra nostra an, in denen sich das Bewußtsein von der Einheit des Staatsgebildes widerzuspiegeln scheint. Gebührend berücksichtigt wird die Rolle der ludowingischen Ministerialität bei der Entwicklung der Landesherrschaft. Den Ausgangspunkt scheinen die Hofämter gebildet zu haben, deren Inhaber (Truchsessen von Schlotheim, Schenken von Vargula u. a.) stets den ersten Platz unter der landgräflichen Dienstmannschaft einnahmen. Die vielfach abgelehnte Hofämtertheorie von Wittich (VSWG 4, 1906, S. 1 ff.) hat damit eine neue Stütze bekommen. Hinter den Ministerialen treten die übrigen Vasallen der Landgrafen an Bedeutung zurück. Unklar bleibt die in der Kapitelüberschrift angezeigte Unterscheidung von „freien und edelfreien Vasallen", da es sich bei allen folgenden Familien um Edelfreie handelt. Wichtigstes Ergebnis der Untersuchungen über die Vogteirechte der Landgrafen ist der Nachweis der Wandlungen, denen der Begriff der Vogteigewalt durch die Entstehung der Landesherrschaft unterlag. Der Streit um einzelne Vogteirechte hörte fast völlig auf, da

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sich der Landesherr immer mehr als der natürliche Defensor aller Kirchen und Klöster in seinem Territorium zu fühlen begann. Mit Recht hat die Stadt als Element der Territorialisierung eine ausführliche Behandlung erfahren. Dem Vf. kommt es darauf an, die aktive Städtepolitik der Landgrafen in den allgemeinen Rahmen ihrer Territorialpolitik einzufügen. Was hier freilich auf fast 100 S. und 36 Plänen thüringischer und hessischer Städte geboten wird, geht weit über die im Titel angekündigte Fragestellung hinaus; es handelt sich um vorzügliche, Topographie, Verfassung und Rechtsverhältnisse in gleicher Weise berücksichtigende Stadtgeschichten en miniature. In weiteren Kapiteln werden Gerichtsbarkeit, Verwaltung, Steuern, Kanzlei, Wappen, Siegel und Münzen der Landgrafen behandelt. Der Abschnitt über das Wappenwesen, in dem gezeigt wird, wie sich das Wappen vom Geschlecht löst und zum Wappen des Landes wird, bildet einen schönen Beitrag zu dem bisher wenig bearbeiteten Problem der landesherrlichen Herrschaftszeichen. Mit der Untersuchung der Gerichtsbarkeit (S. 496—517) wird schon das Schlußkapitel vorbereitet, das dem Problem der Landgrafschaft und ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung gewidmet ist. Es zeigt sich, daß hinter dem landgräflichen Gericht Mittelhausen, das in der Nähe einer alten Versammlungsstätte der Thüringer lag, die übrigen Gerichtsbezirke der Ludowinger an Bedeutung weit zurücktraten. P. sieht in dem auch von einem Teil der thüringischen Grafen aufgesuchten Gericht den eigentlichen Inhalt des landgräflichen Amtes (S. 500). Tatsächlich hat Mittelhausen besonders als Landfriedensgericht für den thüringischen Raum eine große Rolle gespielt. Nicht näher erörtert wurde leider die Annahme Theodor Mayers über die Beziehungen der Landgrafen zu den „Freien" (ZRG germ. Abt. 58, 1938, S. 138 ff.), doch hat es nicht den Anschein, als ob in Thüringen im Hochmittelalter in stärkerem Maße mit der Existenz einer solchen Schicht zu rechnen sei. Nur ein einziges Mal verfällt P. der von ihm abgelehnten Methodik der „Monokausalität", indem er — gestützt auf ein freilich nicht zu übersehendes Zeugnis — zu der Feststellung gelangt, mit dem Besitz der Gerichtsstätte Mittelhausen sei der Reichsfürstentitel verbunden gewesen (S. 551). Dieser apodiktischen Formulierung, die wohl als Entgegnung auf den Satz Theodor Mayers „Wohl waren die Landgrafen von Thüringen Reichsfürsten, aber nicht auf Grund der Landgrafschaft" gewertet werden muß, wird man sich nicht ohne weiteres anschließen können, zumal P. selbst wenige Seiten weiter bemerkt, daß die Dinge „rein juristisch" nicht zu fassen seien und daß den thüringischen Landgrafen die eigene machtpolitische Position und der Besitz der Pfalzgrafschaft Sachsen den Aufstieg in den Kreis der Reichsfürsten gebahnt habe (S. 553). Die Rolle, die der Besitz der Landgrafenwürde dabei gespielt hat, sollte weder überschätzt noch unterbewertet werden. Die mit dem Amt des Landgrafen verbundenen Rechte, die im wesentlichen jurisdiktioneller Art gewesen zu sein scheinen, haben offensichtlich nicht ausgereicht, eine Landesherrschaft im gesamten Amtsbereich zu errichten. In Gebieten, wo den Ludowingern Möglichkeiten unmittelbarer Herrschaftsausübung (Besitz, Ministeriale, Vogteien etc.) fehlten, bot die Landgrafschaft kein ausreichendes Äquivalent. Der Annahme Theodor Mayers, in Thüringen sei der Landgraf der den Grafen „übergeordnete Landesherr" geworden, wird der Satz „Der Landgraf war Landesherr nur in seiner Grafschaft" (S. 550) entgegengestellt. In einer Auseinandersetzung mit Brunners Auffassung vom „Land" wird gezeigt, daß in Thüringen, dem Einflußbereich fränkischen und sächsischen Rechts, mit einem einheitlichen thüringischen Landrecht nicht zu rechnen ist. Die Entstehung der Landesstaaten erfolgte hier in erster Linie unter dem Einfluß der aufsteigenden Landesherren, obgleich nicht zu übersehen ist, daß sich ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl der Thüringer über alle Zeiten der politischen Zersplitterung gerettet hat.

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE GEBIETE

In dem Werk von Hans Patze ist eine Fülle von Material unter einem einheitlichen, für die deutsche Verfassungsgeschichte zentralen Gesichtspunkt zu einer umfassenden Darstellung zusammengefügt, die von minuziösen genealogischen Untersuchungen und topographischen Analysen bis hin zu den großen Fragen der Reichsgeschichte reicht. So ist das Buch, dem ein 2. Bd. über die verfassungsgeschichtliche Stellung der kleineren thüringischen Dynastenfamilien folgen soll, anregende Lektüre und Handbuch zugleich. MarburgjLahn

Hans K. Schulde

WIEMANN, Harm: Der Heimbürge in Thüringen und Sachsen. — Köln, Graz: Böhlau 1962. XI, 147 S., 1 Kt. = Mitteidt. Forschungen, 23. DM 1 6 , - . Ausgehend von der Bedeutung des schon im Summarium Heinrici (um 1000) und den Schlettstädter Vergilglossen belegten Begriffes heimburgo untersucht Wiemann die Verbreitung und die Funktionen des Heimbürgen in Mitteldeutschland. Seine Schrift, die überarbeitete Fassung einer noch bei Rudolf Kötzschke in Leipzig angefertigten Dissertation, gewinnt ihren besonderen Wert durch die Verwendung zahlreicher ungedruckter Quellen aus thüringischen und sächsischen Archiven. Die Ergebnisse der Archivstudien sind in einem Verzeichnis niedergelegt, das alle Orte enthält, in denen sich das Amt des Heimbürgen nachweisen ließ. Eine Verbreitungskarte zeigt trotz ihrer mangelhaften kartographischen Gestaltung den Wert der Kartierung einzelner rechtshistorischer Erscheinungen recht deutlich. Das Amt des Heimbürgen ist in Thüringen auf das Altsiedeiland beschränkt, es fehlt völlig in den Gebieten, die erst im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaues besiedelt wurden. Noch instruktiver ist das Bild östlich der Saale, wo der Heimbürge nur in Gebieten erscheint, die von einer ersten deutschen Siedlungsbewegung erfaßt worden sind. Bevorzugt wurden die Randbezirke der slawischen Altlandschaften um Altenburg, Leisnig, Colditz und Dresden. Die Institution des Heimbürgen scheint so durch eine von Thüringen ausgehende Siedlungswelle im 12. Jh. bis an die Elbe vorgedrungen zu sein, wurde aber in den späteren Phasen der deutschen Ostsiedlung von der Schulzenverfassung kolonialer Prägung in den Hintergrund gedrängt. Bei den Untersuchungen über Herkunft und Funktion des Heimbürgen erwies sich die vom Vf. angewandte rückschreitende Methode dem vom 13. bis ins 19. Jh. reichenden Quellenmaterial als wenig angemessen; die Entwicklungen, die sich in diesem langen Zeitraum zweifellos vollzogen haben, gehen in der Fülle der gebotenen Einzelheiten unter. Es wäre besser gewesen, von den mittelalterlichen Belegen auszugehen, zumal in Thüringen eine so vorzügliche Quelle wie das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch zur Verfügung steht. Immerhin ermöglichte die breite Quellenbasis eine übersichtliche Zusammenstellung der einzelnen Aufgaben des Heimbürgen, wobei besonders die Rolle als Vorsitzender des Feldgerichtes betont wurde. Der Heimbürge wird als Beauftragter der Gemeinde dem Schultheißen gegenübergestellt, der als Vertreter der Herrschaft erscheint; der Wandel in der Stellung des Schulzen im Bereich der deutschen Ostsiedlung wird allerdings nicht genügend berücksichtigt, doch bedürften die Begriffe Schultheiß, Bauermeister, Richter, Heimbürge einmal einer zusammenfassenden Untersuchung, in der die starken regionalen Unterschiede gebührend beachtet würden. Grundlegende Erkenntnisse über das Verhältnis von Schultheiß und Heimbürge hat bereits K. H. Quirin vorgelegt, dessen Arbeit „Herrschaft und Gemeinde nach mitteldeutschen Quellen des 12. bis 18. Jh.s", 1952 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 2), W. leider unbekannt geblieben ist.

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Ungeachtet einiger kritischer Einwände erweist sich W.s Arbeit als erfreulicher Beitrag nicht nur zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, sondern auch zur Frühgeschichte der deutschen Ostsiedlung. Marburg!Lahn Hans K. Schulde Die Schöffenspruchsammlung der Stadt Pößneck. Tl. I: Der Text der Sammlung. Bearb. v. R. Grosch unter Mitarb. v. K. Th. Lauter ( t ) u. W. Flach. XIX u. 358 S.; Tl. II: Studien über die Entstehung und die landesgeschichtliche Bedeutung der Sammlung. Von W. Flach. XI u. 147 S.; Tl. III: Die Bedeutung der Sammlung für die allgemeine Rechtsgeschichte. Von G. Buchda. XII u. 150 S. — Weimar: Böhlau 1957, 1958, 1962 = Thüringische Archivstudien, Bd.e 7 - 9 . DM22,50; 12,-;12,-. Die erste wissenschaftliche Erfassung der Schöffensprüche liegt nun fast 30 Jahre zurück und hat, wie Namen und Schicksal der Bearbeiter ausweisen, das Los vieler ähnlich geplanter großer Unternehmungen geteilt. Es bleibt das hohe Verdienst von G. Buchda, das umfassende Werk, weithin auch im Sinne seiner Vorgänger, im Kern abgeschlossen zu haben. Die Anlage der Sammlung beweist ihre Zweckgebundenheit in die Bedürfnisse des Tages: sie dient der Belehrung des kleinen Mannes und spiegelt damit getreulich die Praxis in einem überschaubaren Bereich, dessen Rechtsleben die „großen Fälle" fremd geblieben sind. Nicht zuletzt gerade darin wird der Historiker den Wert der Publikation suchen. Der terminus post quem für das Interesse des Städtchens, Gerichtsbrauch und Rechtsübung schriftlich zu fixieren, ist mit dem 30. April 1448 gegeben. An diesem Tage erwarb der Rat die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit vom Landesherrn, Herzog Wilhelm von Sachsen. Wir ordnen die Aufzeichnung in ihren weiteren historischen Zusammenhang ein, wenn wir die weitreichenden verfassungsmäßigen und politischen Folgen des sogen. Sächsischen Bruderkrieges und der damit in Verbindung stehenden Landesteilung bedenken. Als Verfasser der Sammlung hat B. in diffiziler hilfswissenschaftlicher Untersuchung den Stadtschreiber von Neustadt an der Orla, Johann Jeche nachgewiesen, der auf der Grundlage von eigenen, jetzt verschollenen Aufzeichnungen und aus einer älteren naumburgischen Vorlage umfassenderen Inhalts den der Edition zugrunde liegenden Text zusammenstellte. Da die Ausgabe über das Rechtsgeschichtliche im engeren Sinne hinaus auch der Landesgeschichte sowie der Philologie dienen will, müssen die Editionsgrundsätze besonderen Forderungen folgen, die, von der „klassischen" Methode abweichend, neuerdings mehr und mehr in den Vordergrund treten und denen, wie auch die Arbeit an den Deutschen Reichstagsakten zeigt, allgemein zuzustimmen ist. Sie gehen, aufs Ganze gesehen, darauf aus, die Überlieferung maßvoll so weit zu modifizieren, daß das vom Autor gegebene Bild weitgehend erhalten bleibt. Die eindringlich knappen Erörterungen im 2. Teil bringen zunächst Studien zur Entstehung der Sammlung (Quellen und Verfasser). Die Empfängerstatistik erweist die wettinischen Ämter des Orlagebietes und — für die Vorlage bezeichnend — den Raum um Naumburg als den engeren Wirkungsbereich. Die gleiche landschaftliche Geschlossenheit ergibt sich auch sachlich von den Orten der Rechtsobjekte her. Die Chronologie stellt die naumburgischen Materialien an den Anfang und weist damit erneut auf einen Kern der Vorlage hin. Die Dreiteiligkeit des Gesamtkomplexes (Naumburg-Neustadt a. d. OrlaPößneck und der Zug der Rechtsmitteilung von Magdeburg über Halle ins Naumburgische treten deutlich heraus).

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Wesentlich wird weiter die Tatsache, daß die Sammlung eine geschlossene Quelle Sächsischen Rechtes darstellt, daß also der hier angesprochene Raum noch um die Mitte des 15. Jh.s ein geschlossenes Rechtsgebiet war. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Rechtsverleihung, Rechtsbrauch und Territorienbildung drängt sich auf. Sie ist soeben von Hans K. Schulze für eine mittelalterliche Periode der Mark Brandenburg kartographisch beantwortet worden. Sein Ergebnis zeigt, daß die Elemente in Beziehung zueinander gebracht werden können. Buchda erörtert diese Frage mit der für spätmittelalterliche Verhältnisse gebotenen Vorsicht durchaus zu Recht. Der Bogen spannt sich weit. Was im brandenburgischen Raum in Anfängen erkennbar wurde, treffen wir hier gleichsam im Endstadium und doch zugleich als Brücke in einen neuen staatlichen Zustand. Der Vf. spricht (im Anschluß an R. Kötzschke) mit Recht vom „erfolgreichen Streben des spätmittelalterlichen Landesstaates, das Territorium auch rechtlich zu einem geschlossenen und einheitlichen Gebiet auszubauen" (II, 43). Er weist auf die Umgebung des Leipziger Schöppenstuhls zugunsten des magdeburgischen hin, was nicht zuletzt auch auf den Widerstand des thüringischen Adels gegen die Politik der Wettiner zurückzuführen sei, ein Zug, der das unterschiedliche Verhalten des Adels im sächsischen und im thüringischen Raum im 15. Jh. überhaupt kennzeichnet, jedoch nicht einseitig überschätzt werden darf. Die hier erkennbaren Verhaltensweisen in Meißen und Thüringen sind nicht aus struktureller Verschiedenheit, sondern aus der Geschichte der adligen Gruppen selbst zu verstehen. Auch hier gehören Buchdas Ergebnisse also in einen größeren Zusammenhang. Die sorgfältige Hand des Vf.s erweist sich schließlich in der bis ins Kleinste gehenden Erläuterung der Sprüche. Den Dank der Rechts- und Verfassungshistoriker verdient schließlich die mühevolle Arbeit an Teil 3, der allerdings erst mit dem Gesamtregister voll auszuschöpfen sein wird. Der Wert der Ausgabe für die Landesgeschichte bleibt in jeder Hinsicht unbestritten. Berlin

Heinz

Quirin

Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392—1816). Hrsg. vom Rektor der Medizinischen Akademie Erfurt, Heft 1—9. Erfurt 1956—1962. Bis zum Jahre 1963 sind 9 Hefte dieser von der Medizinischen Akademie Erfurt hrsg. Schriftenreihe erschienen. Die Hefte 1, 5 und 6 erlebten 1962 eine 2. Aufl. In den „Beiträgen" ist überaus interessantes Material zur Universitätsgeschichte enthalten. Sowohl unter Gesichtspunkten der Methodik als auch der Problematik der Geschichte des deutschen Hochschulwesens ist die Lektüre der hier veröffentlichten Studien von Bedeutung. Quellenkundlich beachtenswert sind die Arbeiten des Erfurter Stadtarchivars Fritz Wiegand, der neben dem Historiker Horst Rudolf Abe und dem Mediziner Egbert Schwarz einer der Hrsg. der „Beiträge" ist, „Das Schriftgut der ehemaligen Universität Erfurt in den Archiven von Magdeburg und Erfurt" (Heft 2) und die Herausgabe des Namensverzeichnisses der Erfurter Matrikel von 1637—1816 (Buchstabe A—K in Heft 9) sowie der Aufsatz von Meta Kohnke „Quellen zur Geschichte der Universität Erfurt im Deutschen Zentralarchiv Abt. Merseburg" (Heft 7). Abe gibt im Heft 3 eine Ubersicht „Der gegenwärtige Stand der wissenschafdichen Vorarbeiten zu einer Gesamtgeschichte der Universität Erfurt". Wichtig ist auch die Ubersicht über die Rektoren der Universität, die für die Zeit von 1392—1521 von Abe (Heft 5) und für die Zeit von 1637—1816 von Wiegand (Heft 8) bearbeitet wurde. Für die allgemeine Hochschulgeschichte von Bedeutung sind die Untersuchungen Abes über die Frequenz der Universität in dem Zeitraum von 1392—1521 (Heft 1) und „Die

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frequentielle Bedeutung der Erfurter Universität im Rahmen des mittelalterlichen deutschen Hochschulwesens" (Heft 2) sowie die Studie „Die soziale Gliederung der Erfurter Studentenschaft im Mittelalter (1392—1521). Teil I: Der Anteil der Geistlichkeit an der Erfurter Studentenschaft" (Heft 8). Diese Arbeiten legen wichtige Ergebnisse zur Sozialgeschichte der Universität mittels statistischer Untersuchungen vor. Der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse über die anderen Berufsgruppen und auch für die späteren Epochen muß mit Spannung entgegengesehen werden. Auf diesem Gebiet liegen bisher nur Ansätze einer Erforschung der sozialen Herkunft und Verhältnisse der Akademiker vor, und es ist nur zu begrüßen, wenn hier mit solider Methodik die Forschung vorangetrieben wird. Ein Gebiet, auf dem unsere Kenntnisse bisher noch sehr lückenhaft sind, ist die Bibliothekskunde auf dem Sektor der Medizin. Durch die Studie von Wolfgang Altmann „Das medizinische Schrifttum in den mittelalterlichen Erfurter Universitätsbibliotheken des .Collegium maius' und des .Collegium Amponianum' 1408—1524" (Heft 7) wird unser Wissen erweitert. Zahlreich sind Biographien in den „Beiträgen" vertreten. Abe gibt im Heft 4 eine Ubersicht von Kurzbiographien: „Die Universität Erfurt in ihren berühmtesten Persönlichkeiten. I : Mittelalter 1392—1521", in der die Bedeutung dieser mittelalterlichen deutschen Hochschule im Zeitalter des Humanismus und der Reformation erkennbar wird. Weiter finden wir folgende Arbeiten biographischen Inhalts: F. Wiegand, „Arnoldus Sommernat de Bremis, Symon Baechtz de Homborch und Joannes Osthusen de Erffordia — drei Erfurter Universitätsjuristen des 15. Jh.s als Ratssyndiker von Lübeck" (Heft 7) und Siegfried Ort, „Johann Jakob Adlung (1699—1762), ein deutscher Musiker der Bachzeit als Angehöriger der Universität Erfurt" (Heft 8). Zahlreich sind natürlich die Lebensbeschreibungen von Medizinern, wie Baidur Schyra, „Die Bedeutung Johann Wilhelm Baumers (1719-1788) und Christoph Andreas Mangolds (1719-1767) für die Geschichte der Medizin und der Medizinischen Fakultät in Erfurt" (Heft 5) sowie vom gleichen Autor „Christoph Andreas Mangold (1719—1767) und die Grundzüge seines Systems der Medizin" (Heft 7) und „Johann Hieronymus Kniphof (1704 — 1763) — der Inhaber des Lehrstuhls für Anatomie, Chirurgie und Botanik an der medizinischen Fakultät der Universität Erfurt während der Jahre 1 7 4 5 - 1 7 6 3 " (Heft 8), H. R. Ahe, „Gerhard Hohenkirchen c. 1382 bis 1448) — ein Erfurter Universitätsmediziner des 15. Jh.s" (Heft 7) und Elisabeth Schmöger, „Dr. med. Johann Friedrich Christoph Fischer (1772—1849) und die Gründung der ersten deutschen Augenklinik in Erfurt (1802)" (Heft 7). Einige Untersuchungen beschäftigen sich mit der Stellung der Erfurter Universität in der Geschichte der Medizin, wie Horst Winkler, „Die Bedeutung der Erfurter medizinischen Fakultät, dargestellt an den Doktorpromotionen der Jahre 1392—1816" (Heft 7) und W. Altmann, „Die medizinische Fakultät der Universität Erfurt im Zeitalter der Spätscholastik und des Humanismus 1392—1524" (Heft 6). Während einige Arbeiten die Vorgeschichte der Medizinischen Akademie in Erfurt, die 1954 gegründet wurde, darstellen, so Harry Güthert, „Zur Gründungsgeschichte der Medizinischen Akademie Erfurt" (Heft 7) oder Ahe, der über die Hebammenlehranstalt in Erfurt in einem Aufsatz „Die historischen Wurzeln der Medizinischen Akademie Erfurt" (Heft 9) berichtet, sind auch anderseits Studien zur Allgemeingeschichte der Hochschule aufgenommen, wie Ahe „Die mittelalterliche Universität Erfurt im Spiegel der zeitgenössischen Chroniken des Härtung Cammermeister (f 1467) und des Conrad Stolle (f 1505)" (Heft 3) oder vom gleichen Autor „Die Grabdenkmale mittelalterlicher Universitätsrektoren in Erfurt" (Heft 6). Schließlich seien vollständigkeitshalber auch noch einige Jubiläums-Aufsätze erwähnt, wie „Der Friedrich-

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Schiller-Universität Jena zu ihrem 400jährigen Jubiläum im Jahre 1958" (Heft 4) oder Würdigungsartikel für die Professoren Friedrich Schneider (Heft 3 und 9) und Egbert Schwarz (Heft 7) erwähnt. Die „Beiträge", die mit guten Abbildungen in ansprechender Aufmachung erscheinen, legen beachtliche Arbeiten zur deutschen Hochschulgeschichte der Öffentlichkeit vor. Obwohl von der Medizinischen Akademie hrsg., berichten sie nicht nur von der Geschichte der Medizin in Erfurt, sondern publizieren, in teilweise methodisch vorzüglich fundierten Untersuchungen — wie die von A.be über die Soziologie der Universität im späten Mittelalter — über die allgemeinen Probleme aus der Geschichte des deutschen Hochschulwesens. Bei der thematischen Breite der in den „Beiträgen" veröffentlichten Studien würde es den Rahmen dieses Sammelreferates sprengen, wenn die einzelnen Arbeiten kritisch besprochen würden. Es war daher nur möglich, über den Inhalt der bisher erschienenen Hefte zu berichten. Es bleibt zu hoffen, daß die für den Historiker an etwas versteckter Stelle erscheinenden Untersuchungen die Beachtung finden, die sie verdienen. Berlin

Manfred

Stürzbecher

Jutta: Die Altenburg. Geschichte eines Hauses. Mit 15 Kunstdruckbildern u. 2 Faks. d. Hs. Goethes. - Weimar: Kiepenheuer 1961. 211 S. DM 6,40. HECKER,

In novellistischem Stil wird die Geschichte der gegenüber Weimar und über der Ilm liegenden „Altenburg" geschildert, die sich Anfang des 19. Jh.s der großherzogliche Oberstallmeister v. Seebach bauen ließ und in der später Franz Liszt gewohnt hat. Die Schilderung läßt die geistige Geselligkeit, die in diesem Hause Platz gehabt hat, vor dem Auge des Lesers vorüberziehen: Goethe, Richard Wagner, Bettina v. Arnim, Hebbel, Hoffmann v. Fallersleben, der Dichter und Komponist Cornelius und andere mehr. Die Begründung und der Bau des dem Hause gegenüberliegenden „Goethe-Schiller-Archivs" bilden den Abschluß der anspruchslosen, aber gefälligen Schilderung. Berlin

Richard

Dietrich

( H E I N E M A N N , Albrecht v., Walther SCHEIDIG U. Walter I W A N : ) Weimar. Ein Führer durch die Stadt. 3. Aufl. - Weimar: Volksverl. 1962. 85 S. DM 2,80.

Günther, u. Klaus B E Y E R : Weimar. Mit e. Vorw. v. Louis Fürnberg. — Weimar: Volksverl. 1963. 88 S. mit Abb. DM 5 , - .

BEYER,

Die 1. der angezeigten Darstellungen ist ein um Objektivität der Schilderung einigermaßen bemühter, bebilderter Stadtführer, die 2. eine Weimars würdige ausgezeichnete Sammlung von Photos der Stadt und der Umgebung, wobei nur zu bedauern ist, daß man ihr statt des unerträglich-pathetischen Vorworts nicht eine sachliche Einführung beigegeben hat. Berlin Richard Dietrich SCHEIDIG, Walther: Das Schloß in Weimar. (Fotos: Günther Beyer u . a . ) 4., durchges. Aufl. — Weimar: Böhlau 1962. 19 S., 21 S. Abb. mit Text. (Weimarer Beiträge z. Kunst.) DM 1,90.

Die kleine Schrift ist eine kurzgefaßte und doch gewissenhafte Darstellung der Baugeschichte des Weimarer Schlosses, die im frühen Mittelalter beginnt — 975 wird zum

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THÜRINGEN

erstenmal eine Burg an der Stelle des heutigen Komplexes genannt — und bis in das 20. Jh. reicht. Die Entstehung des Neubaues nach dem Brand von 1618 ist durch ungefähr 40 Zeichnungen und Stiche ungewöhnlich reich dokumentiert. Scheidig bildet 5 dieser Blätter ab, so daß zusammen mit älteren und jüngeren Ansichten des Schlosses seine Geschichte schon beim Durchblättern des Abbildungsteiles anschaulich wird. Der Wiederaufbau des Schlosses nach dem Brand von 1774 ist mit dem Namen Goethes verbunden. Durch die Mitwirkung von Heinrich Gentz und Friedrich Tieck nach 1801 sowie von Schinkel, der Entwürfe für die nach 1835 ausgeführte Goethe-Galerie schuf, steht der Schloßbau im Einflußbereich der Berliner Kunst. Berlin

Helmut

Börsch-Supan

KÜHNLENZ, Fritz: Ilmwanderung mit Goethe. Thüringens Fluß in Dichters Welt und Werk. Mit Federzeichnungen v. Michael Lißmann sowie 32 Tafeln nach Fotos. 3. Aufl. - Leipzig: Prisma-Verl. 1962. 226 S. DM 7 , - . Der Gedanke, die Ilm entlang zu wandern auf den Spuren Goethes, ist so naheliegend, daß man sich fast wundern muß, daß er nicht schon früher verwirklicht worden ist. Das kleine Werk ist kenntnisreich geschrieben, doch ein wenig zu aufdringlich in seiner Besinnlichkeit, mit der Geschichte, Geographie und Dichtung miteinander verflochten werden. Manche Bezüge zwischen Dichtung und Landschaft bzw. Entstehungsort sind zudem etwas gewaltsam hergestellt. Für den Freund einer gemütvoll-poetischen Heimatliteratur ist das Schriftchen sicher ein Gewinn. Berlin

Richard

Dietrich

KOBER, Julius: Die Mundart der Stadt Suhl im Thüringer Wald. Lautlehre, Sprichwörter u. Redensarten u. wortgeograph. Grenzen ihrer Umgebung. — Marburg/Lahn: Elwert 1962. VIII, 166 S., 23 Ktn. = Dt. Dialektgeographie. Bd. 63. DM24,-. Der Vf. — Sohn des Suhler Mundartdichters Friedr. Wilh. Kober und selbst bekannter Mundartdichter — beherrscht die hier beschriebene Mundart vollkommen, und es hatte ihm anfangs eine in jeder Hinsicht erschöpfende Darstellung seines Heimatdialekts vorgeschwebt. Die Verwirklichung dieses Plans mußte natürlich an der Fülle des Materials und der Gesichtspunkte scheitern. Übrig blieben „vom grammatischen Teil die Lautlehre, vom lexikalischen eine umfangreiche Sammlung von Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten, vom dialektgeographischen Teil eine wortgeographische Studie" (S. 6). Aus diesen drei, voneinander relativ unabhängigen Teilen setzt sich die vorliegende Arbeit zusammen. Bei ihrer Beurteilung ist stets zu bedenken, daß die beiden wichtigsten Abschnitte, die Lautlehre und die Wortgeographie, bereits 1922 entstanden sind (Diss. Marburg; masch.). Dialektgeographisch gehört Suhl zum Hennebergischen Sprachraum, jener eigenartigen Übergangslandschaft zwischen dem thüringischen Norden und dem fränkischen Süden. Dargestellt ist im 1. Hauptteil (S. 12—93) der Lautstand der Ma. etwa zur Zeit des 1. Weltkrieges. Nur so ist es zu erklären, daß sich für eine zwar kleine, aber doch beträchtlich industrialisierte Stadt — einst als „Waffenschmiede Europas" bekannt — noch ein derart geschlossenes mundartliches Lautsystem aufstellen ließ. Allerdings ist nicht angegeben, auf welchen Teil der Bevölkerung es damals zutraf. Sprachsoziologische Probleme, die die Sprachforschung heute besonders beschäftigen, tauchen in dieser Arbeit begreiflicherweise 28

J a h r b u d i 12

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE GEBIETE

noch nicht auf 1 . — Ein paar Randbemerkungen zur Lautlehre: Mir erscheint sie als zu vollgestopft mit Beispielen; sie sind zudem nach keinem Prinzip geordnet. Aufgefallen sind mir außerdem zahlreiche mundartferne Fremdwörter wie Attest, Katalog, Katastrophe, Kapriole, venerisch, Volt, Vulkan u. a. m. Es wäre meines Erachtens auch besser gewesen, wenn die Entwicklung der Vokale in unbetonter oder nebentoniger Stellung gesondert behandelt worden wäre. Inkonsequent behandelt ist die Verschiebung von german. p (§36; vgl. zum Beispiel „Schaf, schief, Schiff, PfifFer[ling]" in § 43). Im § 43 vermißt man etwa die Form fuchse „15" und in § 69 das Präfix er-. Der 2. Hauptabschnitt (S. 94—142) mit der Sammlung von rd. 1000 Sprichwörtern und Redensarten steht etwas beziehungslos in diesem Bd. Für den Lexikographen enthält er jedoch reiches Material. Die phonetische Umschrift ist hier leider, wenngleich aus besonderen Gründen, aufgegeben worden. Das 3., wortgeographische Kapitel ist das schmälste (S. 143—166), wenn man von den 20 Wortkarten, der Grund-, der Kombinations- und der historischen Karte absieht. Das Material ist indirekt, mittels Fragebogen, erhoben worden; daher wird auch hier auf die phonetische Umschrift verzichtet. Besonders herausgehoben sind die Erscheinungen der Sprachmischung (Kontaminationsformen, § 50). Beachtenswert ist die „historische Begründung der Kombinationskarte" (§ 49), d. h. der Vergleich der Sprachgrenzen (besser: Isoglossen) mit den territorialen Grenzen. Die Methode scheint sich zunächst selbst ad absurdum zu führen; denn nahezu jedes Teilstück einer Isoglosse läßt sich mit irgendeiner Territorialgrenze in Verbindung bringen. K. kommt danach aber zu folgenden Ergebnissen: Der Wortschatz ist ständig in Bewegung. Die Wortgrenzen sind ihrem Wesen nach jung. Alte Grenzen wirken nur nach, soweit sie bis heute erhalten geblieben sind; das Alter selbst ist nicht entscheidend. Geographische Grenzen (hier: der Rennsteig) sind nur sekundär an der Ausbildung sprachlicher Grenzen beteiligt. Berücksichtigt man ferner, daß es sich immer nur um Teilstücke sowohl von Isoglossen isolierter Wörter als auch von Territorialgrenzen handelt, so erweisen sich m. E. die territorialen Grenzen als schwache Krücken bei der sprachlichen Gliederung. Wirtschaftliche Kräfte sind es vielmehr, die die Stärke und Dauer der Kontakte zwischen den Ortsmaa. bestimmen. Im Literaturverzeichnis (S. 163 — 166) sind auch jüngere Arbeiten zur Mundartkunde Südthüringens berücksichtigt. Die Arbeit liefert insgesamt einen wertvollen Beitrag zum „Thüringischen Dialektatlas". Lüneburg

Wilfried Seibicke

Schönes Thüringen. Eine Erinnerung. Mit e. Einl. v. Karl Rauch. 2., verb. Aufl. — Frankf./M.: Weidlich 1962. 20 S. Text, 95 Abb. DM 19,80. Ein gut aufeinander abgestimmtes Bildmaterial läßt mit landschaftlichen Impressionen und Aufnahmen aus dörflichem und städtischem Leben die vielfältigen Reize des mitteldeutschen Gaues lebendige Anschauung werden. In den vorgestellten Anmerkungen zu Landesnatur, Heimatgeschichte und Ethnologie des Raumes müht sich K. Rauch in gewiß liebevollem Eifer um Mitteilung wissenswerter Details. Der hierzu gewählte, bisweilen Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Zitat (S. 4f.) aus einem Buch von 1720, worin es u. a. heißt, „1. daß die Dörffer, welche an denen Städten liegen, mehr von dem Stadt-Dialecto participiren, als andere" und „4. Daß in denen Städten, wo Fürstl. Residentzen, Regierungen oder verbesserte Schulen entweder gewesen sind, oder noch gefunden werden, der grobe Hennebergische Dialectus sich nicht, oder doch nicht vielmehr, hören lassen". 1

THÜRINGEN

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sehr gefühlige Volkston und die Tendenz zu lexikalischer Aufzählung mindern indessen den Wert der Ausführungen. Berlin Hans Martin Barth

(BADSTÜBNER, Ernst:) Die Marienkirche zu Mühlhausen. (1.—5. Tsd.) — (Bln.: VEB Union Verl. 1962.) 32 S. mit Abb. (Umschlagt.) = Das christl. Denkmal. H. 49. DM1,50.

Manfred: Thomas Müntzer u. d. Thüringer Aufstand 1525. Die Bedeutg. Thomas Müntzers u. s. Partei f. d. Kampf d. plebejischen Schichten, d. Bauern u. d. revolutionären Bürgertums zu Thüringen und d. Weiterführg. d. früher bürgerl. Revolution in Dtschld. (1.2.) — Bln. 1962., 325; (LX II gez. BL; Anh. 4° (Maschinenschr. vervielf.) Bln. Inst. f. Gesellschaftswiss. beim ZK d. SED, Diss. v. 12. Dez. 1962. (NfdA.) BEUSING,

Karl: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens. 1804—1813. (Mit 7 Taf.) — Weimar: Böhlau 1962. 415 S. = Claves Jenenses. 11. DM 3 0 , - . BÖLLING,

Wilhelm: Die Ortsnamen des Stadt- und Landkreises Weimar. — Leipzig 1962. 172 gez. Bl. 4° (Maschinenschr. vervielf.) Leipzig, Phil. F., Diss. v. 25. Jan. 1962. (NfdA.) FUHRMANN,

Geschichte der Universität Jena. 1548/58 — 1958. (Festgabe zum 400jähr. Universitätsjubiläum.) Im Auftr. v. Rektor u. Senat verf. u. hrsg. von e. Kollektiv d. Histor. Instituts d. Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung von Max Steinmetz. Bd. 2. Quellenedition zur 400-Jahr-Feier 1958. - Jena: VEB G. Fischer 1962. LVII, 841 S. DM 1 8 , - . Goethes Gartenhaus in Weimar. (Bildmappe.) Zusammenstellg.: Herbert Kiese. — (Weimar: Nationale Forschungs- u. Gedenkstätten d. klassischen deutschen Literatur 1962.) 10 Taf. 9 X 7 cm. DM 1 , - . GUTSCHE, Willibald, u. Kurt L U D W I G : Erfurt. (Ubersichtskt.: Helmut Heyne. Fotos von Ernst Schöfer.) — Dresden: Sachsenverl. (1962) 28 S., 61 S., Abb. = Kleine Städtereihe. Bd. 9. DM 4,20. H E S S , Ulrich: Geheimer Rat und Kabinett in den Ernestinischen Staaten Thüringens. Organisation, Geschäftsgang u. Personalgeschichte d. obersten Regierungssphäre im Zeitalter d. Absolutismus (mit 8 Taf.). Weimar: Böhlau 1962. XII, 438 S. — Veröffentlichungen d. Thüring. Landeshauptarchivs, Weimar. Bd. 6. DM37, — .

Ich fand mein Vaterland. Stellungnahmen v. Angehörigen d. Friedrich-SchillerUniversität Jena zum Dokument d. Nationalrats d. Nationalen Front d. demokrat. Dtschld. — (Jena: Friedrich-Schiller-Universität 1962.) 123 S. mit Abb. = Jenaer Reden u. Schriften, N.F., H. 3. Wolfgang: Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht des 19. Jahrhunderts. — Baden-Baden: Lutzeyer 1962. 69 S. = Tradition, Beih. 2. DM 5,20. HUSCHKE,

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BESPRECHUNGSTEIL

E I N Z E L N E GEBIETE

KELLER, Käthe: 125 Jahre Kur- u. Erholungsort Friedrichsrode (Thüringer Wald). (1837-1962.) Fotos v. Helmut Lindemann. - (Friedrichsrode: FDGB Feriendienst-Kuren; Rat d. Stadt 1962.) 44 S. m. Abb. DM 1 , - . LÖSCHE, Dietrich: Mühlhausen einst und jetzt. Ein kurzer Abriß d. Stadtgeschichte. - Mühlhausen (Thür.: Rat d. Stadt) 1962. 23 S. 19,5 X 21 cm. (Umschlagt.) Aus: Mühlhausen in Thüringen. DM —,50. MALBERG, Hans Joachim: Thüringer Miniaturen. Kleine Städte zwischen einst u. heute. (III.: Horst Hansotte.) — Rudolstadt: Greifenverl. (1962) 131 S. (Erlebt und aufgeschrieben.) DM 5, — . PRANTZSCH, Hans: Die Oberkirche in Arnstadt. (Hrsg. v. d. Evang.-luth. Kirchengemeinde zu Arnstadt [Thür.]) — Jena: Wartburg-Verl. Kessler (1962). 58 S., 6 Bl. Abb. DM 1,20. RÖDEL, Wolfgang: Goethes Gartenhaus in Weimar. (3., verb. Aufl.) — Weimar: Nationale Forschungs- u. Gedenkstätten d. klass. dt. Literatur 1962. 43 S., 3 Bl. Abb., 1 Titelb. DM 1 , - . ROTHE, Hans Werner: Burgen u. Schlösser in Thüringen. Verschwundene Schlösser und Herrensitze Thüringens. — Frankf./M.: Rothe 1962. S. 53—56 m. 11 Abb. 4° (Umschlagt.) DM 2, — . Zuerst veröffentl. in: Burgen u. Schlösser (Jg.) 2, 1962. VULPIUS, Wolfgang: Der Goethepark in Weimar. (3., verb. Aufl.) — Weimar: Nationale Forschungs- u. Gedenkstätten d. klass. dt. Literatur 1962. 42 S. m. Abb. DM

1,-.

Carl Zeiß, Jena — einst u. jetzt. Von e. Autorenkoll. unter Leitg. v. Wolfgang Schumann. — Bln.: Rütten & Loening 1962. 941 S. mit Abb., mehr. Bl. Abb.; 1 gef. Bl. DM 22,80.

8. Land Sachsen Neujahrsgaben der Deutschen Bücherei. 1957 — 1962: Neuausgaben von Werken Goethes und Schriften über Goethe, 1945 — 1955. Wiedergabe der Titel aus dem „Deutschen Bücherverzeichnis" und dem „Jahresverzeichnis des deutschen Schrifttums". (1) Heinrich UHLENDAHL: Vorgeschichte und erste Entwicklung der Deutschen Bücherei. (2) L. N. Tolstoj. Bibliographie der Erstausgaben deutschsprachiger Ubersetzungen und der seit 1945 in Deutschland, Österreich und der Schweiz in deutscher Sprache erschienenen Werke. Mit e. einleitenden Artikel v. Anna Seghers = Sonderbibliographien der Deutschen Bücherei, 13. (3) Die Deutsche Bücherei im Bild. (4) Neue deutsche Buchkunst. Beispiele aus der Sammlung künstlerischer Drucke in der Deutschen Bücherei. Ausgew. u. mit e. Einl. versehen v. Julius Rodenberg. (5) Schätze der ehemaligen Bibliothek des Börsenvereins der deutschen Buchhändler zu Leipzig. (Bearb. v. Fritz Funke, Martha Debes, Lieselotte Reuschel, Elfriede

LAND SACHSEN

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Seifert. Mit e. Geleitw. v. Heinrich Becker.) (6) — [Sämtlich:] Leipzig: Deutsche Bücherei 1956-1961. 4°. 48 S., 6 Bildtaf.; 63 S., Abb.; 57 S.; ungez. S. u. Abb.; 38 S„ 49 Abb.; 59 S., Abb. Ihrer Thematik wie ihres Wertes wegen sei auf die Neujahrsgaben der Deutschen Bücherei, wenn auch nur zusammenfassend und mehr andeutungsweise, an dieser Stelle aufmerksam gemacht. Die im Kopf genannten ersten 6 Hefte gewähren, jedes durch einen anderen Ausschnitt, einen guten Einblick in Geschichte und Leistung der DB, die mit ihren heute 3 Millionen Bd.en nach wie vor — neben Frankfurt — die Hauptsammelstelle des deutschsprachigen Schrifttums darstellt. Sie betreffen gleichermaßen die bibliographische wie die bibliothekarische Seite der Tätigkeit der Leipziger Bibliothek. Die annähernd vollständige Goethe-Bibliographie für die Jahre 1945—55 (1), unter Einschluß auch fremdsprachiger Ausgaben und Sekundärarbeiten (im ganzen 1800 Buchtitel) und mit einigen schönen Buchillustrationen aus seinen Werken, sowie das Verzeichnis der deutschsprachigen Tolstoj-Literatur, zusammengestellt aus Anlaß seines 50. Todestages (3), dem der Abdruck eines allzu aphoristischen Vortrages von A. Seghers aus dem Jahre 1953 vorangestellt ist, zeigen in ihrer formalen Genauigkeit und übersichtlichen Titelanordnung an Einzelbeispielen das gewohnt zuverlässige Bild der bibliographischen Arbeit der DB. Zwei andere Hefte befassen sich mit der Geschichte der Bibliothek (2) und ihrer durch viele Abb.en veranschaulichten heutigen Einrichtung (4). Von ihnen verdient die Schrift Uhlendahls, als die gewiß wichtigste dieser Neujahrsgaben, unsere besondere Aufmerksamkeit. Hier untersucht U., der langjährige Leiter der Bücherei, auf Grund vor allem der einschlägigen Akten, die Anfänge der Bibliothek, geht aber dabei zurück bis ins bewegte Jahr 1848, als der Gedanke einer deutschen Nationalbibliothek in der damaligen „Reichsbibliothek" zu Frankfurt (1848—51) seine erste, freilich nur sehr kurzlebige Verwirklichung gefunden hat. Eingehend werden sodann die in den 70er Jahren auflebenden und nun nicht mehr verstummenden theoretischen Erwägungen und praktischen Vorschläge weiterverfolgt, bis es schließlich den vereinten Bemühungen von Bibliothekaren und Buchhandel gelang, die langwierigen, auch mit den Reichs- und den sächsischen Landesbehörden geführten Verhandlungen zum zufriedenstellenden Abschluß zu führen und im Okt. 1912 die DB als „eine Anstalt des Börsenvereins und [als] dessen Eigentum" (S. 47) zu gründen. Nach Schilderung der Baujahre und des schwierigen Beginns unter dem ersten Direktor Gustav Wahl bricht die sehr gediegene, mit wertvollen Abb.en ausgestattete Arbeit (Ende 1916) ab. Die hier vorgelegten Kapitel hatten, wie Curt Fleischhack, der Nachfolger in der Direktion, in seinem Geleitwort hervorhebt, die von U. geplante Gesamtgeschichte der Bibliothek einleiten sollen, und es bleibt doppelt schmerzlich, daß es ihm nicht mehr vergönnt war, die weitere Entwicklung und zumal die Zeit, in der er selbst an der Spitze des Instituts gestanden hat, darzustellen. Die beiden jüngsten Veröffentlichungen enthalten Beispiele aus den künstlerisch wertvollen Beständen zweier Spezialabteilungen, die heute dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum der DB angegliedert sind. Die von Rodenberg sorgsam ausgewählten und erläuterten 49 Faksimilia (5) sind deutschen Buchausgaben aus den Jahren 1900 — 1959 entnommen; sie verdeutlichen die mannigfaltigen Möglichkeiten der Druckgraphik unseres Jh.s. 18 ausnehmend schöne Wiedergaben aus dem früheren Besitz des Börsenvereins (6) schließlich, sachkundig erläuterte Handschriften- und Druckproben aus dem 13.— 19. Jh., geben eine ungefähre Vorstellung von dem einstigen Reichtum der Fachbibliothek für den deutschen Buchhandel, die zum größten Teil ein Opfer des letzten Krieges geworden ist. Die ausführliche Einleitung beschreibt ihre mehr als 100 Jahre alte Geschichte und den noch vorhan-

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE GEBIETE

denen Restbestand. — Abschließend sei dem Bedauern Ausdruck gegeben, daß diese wertvolle Reihe nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit, nämlich außerhalb des Buchhandels „erscheint", die hier angesprochenen Interessenten also nur zum kleineren Teil erreicht werden. Marburg!Lahn Werner Schochom SCHLESINGER, Walter: Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter. 2 Bde. I. Von den Anfängen kirchlicher Verkündigung bis zum Ende des Investiturstreites. II. Das Zeitalter der deutschen Ostsiedlung. 1100—1300. — Köln, Graz: Böhlau 1962. XII, 399 S., 1 Faltkt.; VIII, 762 S., 1 Faltkt. = Mitteidt. Forschungen, 27. zus. DM98,—. Im Bereich der allgemeinen Geschichte ist die Zeit, in der Kirchenhistorie als Domäne von Pastoren und Universitätstheologen galt, längst vorüber: Namen wie E. Caspar und J. Haller zeugen davon. Auf regionaler Ebene vollzieht der gleiche Prozeß sich mit erheblicher Phasenverschiebung. Für das Mittelalter der einstmals slawischen Landschaften Deutschlands hat er sich bisher nur in der Forschung ausgewirkt — denken wir etwa an K. Jordans Monographie über die Bistumsgründungen Heinrichs des Löwen —; Darstellungen kamen, soweit sie überhaupt unternommen wurden, nach wie vor von Vertretern der institutionellen Kirche im heutigen Sinne, die der Vergangenheit dieser ihrer Institution nachgingen. Mit dem hier vorzustellenden Werk hat die Geschichtswissenschaft auch diese Schranke durchbrochen. Sein Verfasser hat, wie bekannt, seit Jahrzehnten in nicht alltäglicher Intensität landesgeschichtliche und allgemeinhistorische Forschung als Mediävist in seiner Person verbunden. Das bedeutet schon rein vom Methodischen her eine Schulung, wie sie den traditionellen Vertretern der Kirchengeschichtsschreibung im allgemeinen nicht zur Verfügung stehen kann; es bedeutet aber auch einen Blick für das Ganze mittelalterlichen Lebens, in dem seinerzeit das Kirchlich-Religiöse als Teilerscheinung besonderen Gewichts aufgegangen ist, wie er von der Mehrheit älterer Kirchenhistoriker gleichfalls nicht ohne weiteres zu verlangen war. So darf dieses Werk weit über den unmittelbaren Gegenstand hinaus die Aufmerksamkeit aller beanspruchen, die um eine sachgerechte Erfassung dieser Teilerscheinung mittelalterlicher Geschichte bemüht sind, gleich, in welchem geographischen Rahmen. Den Anstoß zur Entstehung gab ein Plan des Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamtes von Sachsen. Ziel war eine umfassende Kirchengeschichte dieses Landes, und der Vf. übernahm bald nach dem Kriege den mittelalterlichen Teil. Zeitbedingte Schwierigkeiten verhinderten nicht nur die beabsichtigte Fortführung bis zur Reformation, sondern auch den Druck der bis gegen 1300 reichenden Partien, die schon 1948 — 1951 fertiggestellt waren. Grundlegend revidiert, konnten sie erst jetzt an ursprünglich nicht vorgesehener Stelle veröffentlicht werden. Diese Vorgeschichte erklärt den nicht unbedingt glücklichen Titel, der schon wegen der bekannten Verschiebung des Namens Sachsen und seines Geltungsbereiches seit dem Mittelalter die Erwartungen fehlleiten kann. Tatsächlich geboten wird nicht Kirchengeschichte des Landes, dessen geläufige Grenzen nur von 1815 — 1945 gültig waren, sondern die geistliche und weltliche Geschichte der Bistümer, die im Mittelalter den überwiegenden Teil seiner Fläche einschlössen: Meißen, Zeitz-Naumburg und Merseburg. Diese Bistümer werden im Ganzen behandelt, ohne Rücksicht auf jüngere Grenzen. Das bedeutet einen Verzicht auf sächsische Landesteile, die zu den mittelalterlichen Diözesen Prag, Regensburg und Bamberg gehörten. Sie waren jedoch wenig ausgedehnt (vgl. Bd. II, S. 38—40). Dafür sind wesent-

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liehe Teile der späteren Provinzen Sachsen, Brandenburg und Schlesien eingeschlossen, außerdem bestimmte Gebiete Thüringens; Landschaften, die bis 1815 fast alle zu einer sehr viel langlebigeren geschichtlichen Einheit gehört haben, dem Kurstaat und Königreich Sachsen vor dem Wiener Kongreß. Was diese Planung bedeutet, zeigt ein Blick auf die Art, wie das Abgrenzungsproblem, das die Diskrepanz moderner und historischer Grenzen jeder Geschichtsdarstellung aufgibt, für die eingedeutschten Wendenlande des Mittelalters von der bisherigen Kirchengeschichtsschreibung gelöst worden ist. Drei Wege wurden beschritten. Einmal kam es zum Versuch einer zusammenfassenden Behandlung, der sich nach Möglichkeit an die alten ethnographischen Grenzen anlehnte. Er erbrachte eine skizzenhafte Kompilation, unkritisch und dürftig, die in erster Linie zeigte, wie sehr es damals noch an brauchbaren Vorarbeiten fehlte 1 . Eine zweite Möglichkeit war die Anknüpfung an die Grenzen einer mittelalterlichen Einzeldiözese. Sie wurde schon verhältnismäßig früh genutzt 2 . Eine weitere Gruppe von Darstellungen erschien im Rahmen regionaler Kirchengeschichten, die bis in die Gegenwart weiterführen. Sie gingen auch für das Mittelalter, soweit überhaupt möglich, von Landesgrenzen der eigenen Zeit aus, die in diesem Bereich meist ungefähr mit solchen protestantischer Landeskirchen zusammenfallen 3 . Der ursprünglichen Planung nach hätte auch das vorliegende Werk sich hier anschließen müssen. Der Vf. beschreitet jedoch einen neuen, vierten Weg, der in manchem zwischen den älteren vermittelt, zugleich aber weit über sie hinausführt. Denn die von ihm gefundene Lösung ist überaus glücklich zu nennen. Sie hält sich an reale Zusammenhänge der Zeit, die zu verstehen seine Arbeit helfen will, kommt dabei aber dem historischen Orientierungsbedürfnis, das von den Voraussetzungen der Gegenwart her zurückfragt, so weit entgegen, wie das von diesen Zusammenhängen her möglich ist. Sie faßt dabei drei Diözesen zusammen, von denen bisher keine mit einer befriedigenden Gesamtdarstellung bedacht worden ist; die darüber hinaus und vor allem gegenüber den anderen Bistümern ihrer Zeit eine engere Einheit bildeten. Alle drei sind im gleichen Jahre 968 entstanden, im Zuge der gleichen übergreifenden Maßnahmen, als Suffragane der gleichen Magdeburger Kirchenprovinz, die mit ihnen zugleich ins Leben trat. Alle drei entfalteten sich größtenteils oder ganz in damaligen Markengebieten. Sie alle hatten es dort in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens im wesentlichen mit sorbischen Slawen, deren größten Anteil sie einschlössen, unter deutscher Herrschaft zu tun, und zwar so, daß sie — nur sie — im Gegensatz zu den nördlicheren Schwesterdiözesen von den schweren Rückschlägen seit 983 verschont blieben. Alle drei konnten sich somit in einer Weise kontinuierlich entwickeln, die im Bereich deutsch-mittelalterlicher Wendenmission nirgends wiederkehrt. Seit der Wende zum 12. Jh. wurde auch ihr Gebiet von der deutsch-mittelalterlichen Ostsiedlung erfaßt. Das geschah für sie alle so, daß das fränkische Kolonistenelement dominierte. Alle drei schließlich entstanden in Gebieten, die lange Zeit wie wenige andere im Brennpunkt der Reichspolitik standen — immer neuer Versuche, ein möglichst E. Kreusch, Kirchengeschichte der Wendenlande, Paderborn 1902. Vgl. z. B. Ph. W. Gercken, Ausführliche Stifts-Historie von Brandenburg, Braunschweig/ Wolffenbüttel 1766; G. M. C. Malsch, Geschichte des Bisthums Ratzeburg, Lübeck 1835. 3 Hierher gehören etwa die jeweils ersten Bände der Kirchengeschichte Mecklenburgs von K. Schmaltz (Schwerin 1935) und der Kirchengeschichte Pommerns von H. Heyden (Stettin 1937; 2 Köln-Braunsfeld 1957); ferner derjenige der von mehreren Verfassern bearbeiteten Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins (von Hans v. Schubert; Kiel 1907), der aus dem einstmals wendischen Bereich das wichtige Wagrien einschließt. 1 2

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umfassendes mitteldeutsches Reichsterritorium auszubauen —, und alle hatten sich mit der aufstrebenden wettinischen Landesherrschaft auseinanderzusetzen. Das sind Gemeinsamkeiten, die zu zusammenfassender Behandlung geradezu einladen; die vergleichende Betrachtung aber, die sich dabei von selbst einstellen muß, gibt Gelegenheit, die individuellen Züge jeder Einzelentwicklung schärfer herauszuarbeiten und damit ungerechtfertigten Verallgemeinerungen zu begegnen, die sich gerade auf dem Boden derart ähnlicher Voraussetzungen nur zu leicht einstellen können. So schließt diese Planung, ebenso naheliegend wie unkonventionell, Erkenntnismöglichkeiten ein, wie keins der zuvor geübten Verfahren sie irgend zu bieten vermag. Daß ihre Chancen vom Vf. genutzt werden konnten, wurde nicht zuletzt durch den zur Verfügung stehenden Raum ermöglicht, der diesem Werk gleichfalls eine Sonderstellung unter seinesgleichen sichert. Die 2. Auflage der Kirchengeschichte Pommerns von H. Heyden4 z. B. mußte sich von den Anfängen bis 1540 mit etwas über 240 Seiten (freilich kleineren Druckes) begnügen; Schlesinger konnte bis zum Anfang des 14. Jh.s mehr als 1150 Seiten in Anspruch nehmen. Sie verteilen sich auf zwei Bd.e, deren Zäsur sich aus der Sache selbst ergibt: das erste Viertel des 12. Jh.s brachte das Ende des Investiturstreites, der das Selbstverständnis der Kirche in so vieler Hinsicht revolutionierte, und den Anfang jenes intensiven Landesausbaues, der mit dem Zuzug christlicher Neusiedler und der Ausweitung der besiedelten Flächen das kirchliche Leben im Lande auf das tiefste beeinflußte. Der I. Bd. behandelt zunächst die allgemeinen Voraussetzungen der mitteldeutschen Slawenmission, insbes. die politischen und sonstigen äußeren Bedingungen, die für ihre Entfaltung ähnlich wichtig wurden wie „Europäismus" und „Kolonialismus" für diejenige der neuzeitlichen Missionen in Übersee. Eine eingehende Darstellung der Gründungsgeschichte der drei Bistümer schließt sich an; in ihrem Rahmen werden auch die problematischen Anfänge des Erzbistums Magdeburg kritisch neu durchdacht. Zwei weitere Kapitel schildern die Entwicklung der drei Diözesen bis zum Investiturstreit und während seines in diesem mitteldeutschen Gebiet z. T. besonders aufschlußreichen Verlaufs. Diese Kapitel schließen möglichst eingehende Lebensabrisse der einzelnen Bischöfe ein; sie setzen jedoch, wie es in diesem Werk überhaupt laufend geschieht, auch wichtige neue Akzente zum Verständnis der allgemeinen Entwicklung und ihrer geistesgeschichtlichen Hintergründe, u. a. in Auseinandersetzung mit den Konzeptionen C. Erdmanns von der Entstehung des Kreuzzugsgedankens und ihrer Bedeutung als Symptom für die innere Entwicklung der mittelalterlichen Kirche (bes. S. 114f., dazu S. 313). Hervorhebung verdient die Gegenüberstellung der drei Nachbarbischöfe Eberhard von Naumburg, Werner von Merseburg und Benno von Meißen, die unmittelbar nebeneinander auf diesem engen Raum die drei für einen deutschen Bischof damals möglichen Haltungen im Investiturstreit beispielhaft verkörperten (S. 128—131). — Es folgt eine Rekonstruktion des Netzes der ältesten Pfarrkirchen in den drei Bistümern, zweifellos die mühseligste Leistung des gesamten Werkes, mit wichtigen methodischen Bemerkungen (bes. S. 151—157), ergänzt durch eine Faltkarte (von H. Tode) am Ende des Bd.es. Das Ergebnis dieser vielfach lokalgeschichtlichen Kleinarbeit hat allgemeinere Bedeutung: schon um 1100 muß eine einigermaßen ausreichende kirchliche Versorgung auch der Landbevölkerung in den drei Diözesen, soweit dies allein nach der Anzahl der Kirchen zu beurteilen ist, in sehr viel größerem Umfang gewährleistet gewesen sein, als man bisher erwarten konnte; auch der Übergang von offenen Missionsbezirken zu geschlossenen Parochien mit Pfarrzwang scheint schon damals weitgehend vollzogen gewesen zu sein, was einen gewissen Abschluß der äußeren Christianisierung im 4

Siehe Anm. 3.

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Lande voraussetzt (bes. S. 171 f., S. 188f., S. 212ff.). Den Abschluß des Bd.es bilden Verkündigung und Frömmigkeit dieser Frühzeit sowie die verfassungs-, rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung der Bistümer einschließlich ihrer nachgeordneten Instanzen: Entfaltung und Bedeutung der Kirche jener Zeit als geistige und geistliche Macht, aber auch als Faktor des unmittelbar weltlichen Lebens in diesem Bereich. Alle diese Themen von der allgemeinhistorischen Einleitung an kehren, mutatis mutandis, im II. Bd. in gleicher Ordnung wieder, nur daß vor die Veränderungen im Pfarrnetz, wie Zuzug von Neusiedlern, Ausweitung der Siedelflächen, das aufkommende Städtewesen und die allgemeine Intensivierung der Seelsorge sie bedingten, ein Kapitel über Klöster und Stifter eingeschoben ist. Es behandelt rückblickend auch die äußerst spärlichen Anfänge derartiger Institutionen im Lande, die rein chronologisch in die Berichtszeit des I. Bd.es gehören, aber erst in dieser systematischen Verknüpfung mit der nachfolgenden Entwicklung sinnvoll eingeordnet werden können: die Entfaltung eines lebensfähigen Klosterwesens war, so andersartig die allgemeine Entwicklung von deutscher Herrschaft und christlicher Kirche auch jeweils verlief, im Obersächsischen nicht weniger eine Begleiterscheinung deutscher Ostsiedlung seit dem 12. Jh. wie im Brandenburgischen oder Mecklenburgischen; bei aller sonstigen Diskrepanz eine Parallele, der (in Ergänzung der Ausführungen II, S. 165ff. und 174ff. über die Gründe, die zur Retardierung religiöser Gemeinschaftsbildungen in den Landschaften östlich der Saale führten) noch weiter nachgegangen werden sollte. Sämtliche Darlegungen zeigen eine Materialausnutzung, die wohl erschöpfend genannt werden darf, ohne doch in jene allzu vollständige Mitteilung des einmal Erfaßten abzugleiten, die nur ermüden kann. Der Ausgangsposition des Vf.s entspricht es, daß die so oft vernachlässigten Grenzgebiete, in denen kirchliche und profane Geschichte sich verschränken, mit besonderer Intensität durchforscht werden, vor allem die verfassungsgeschichtliche Problematik. Schon in den Bischofsviten tritt sie mit Recht stark hervor, so daß sich an ihnen bereits ein gutes Stück des Weges verfolgen läßt, der vom Reichskirchentum der Frühzeit dieser Bistümer (dazu bes. noch I, S. 242) über das gewandelte Reichskirchentum nach dem Investiturstreit (dazu bes. noch II, S. 74ff.) zur spätmittelalterlichen Vorbereitung des nachmaligen landesherrlichen Kirchenregiments führte, eine Entwicklung, die gleichfalls in diesem Markenbereich besonders wechselvoll und fesselnd verlief. Ebenso sind verfassungs- und rechtsgeschichtliche Gesichtspunkte z. B. im Kapitel über die Klöster und Stifter laufend berücksichtigt, etwa Spannungen, wie sie sich immer neu aus Vogteiverhältnissen ergaben. So kommt es zu wichtigen Feststellungen über die allmähliche Eingliederung dieser geistlichen Institutionen in die werdende Landesherrschaft (z. B. II, S. 572ff.). Unzweifelhaft kommt hier eine ausgeprägte persönliche Neigung des Vf.s der klareren Erfassung einer der wichtigsten Seiten spezifisch mittelalterlich-kirchengeschichtlicher Problematik zugute. Die beiden verfassungs- und rechtsgeschichtlichen Sonderkapitel fassen die auf diesem Wege gewonnenen Materialien straff zusammen und ergänzen sie durch das, was vorher nicht erörtert werden konnte: die Entwicklung der Domkapitel oder der Archidiakonatsverfassung im Lande, der Kirchenausstattung, des Zehntwesens, dessen erstaunlich bunte Mannigfaltigkeit in Anknüpfung an ältere Arbeiten des Vf.s fesselnd aufgezeigt wird, u.a.m. Auch diese Darlegungen hüten sich, aus allzu verstreutem Material einen einheitlichen Gesamtbefund zu konstruieren, wie dies besonders in juristischsystematischer Betrachtung so leicht geschieht: Arbeit eines Historikers, gehen sie aus vom konkreten Objekt als einmaliger, unwiederholbarer Individualität, gelangen von dort zu vergleichender Betrachtung, heben in ihr Verschiedenheiten heraus, wie sie sich, echt mittelalterlich, selbst zwischen so unmittelbar benachbarten Diözesen derart gleichartiger Ausgangsstellung ausbilden konnten, und scheuen sich nicht, Lücken unserer Kenntnis, die

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so oft durch voreilige Analogieschlüsse verschleiert werden, zuzugeben, wo dies methodisch unumgänglich scheint. So kommt es beispielsweise zu wesentlichen Modifikationen bisheriger Ansichten vom Wesen der Inkorporation, die einseitig aus dem Quellenmaterial anderer Gegenden abgeleitet waren (II, S. 585—589, vgl. S. 594, dazu S. 662), vor allem aber zu laufender Überprüfung der einstmals bahnbrechenden Forschungsergebnisse von H. F. Schmid (z. B. I, S. 240ff., 336ff. u. ö.). Ein besonderer Reiz liegt auch für diese Kapitel in dem ständigen Blick auf das Verhältnis von Rechtstheorie und tatsächlich geübter Praxis, auf das konkrete geschichtliche Leben mit all den verschiedenartigen Einflüssen, die sich auf seinem Boden kreuzen konnten (vgl. z. B. II, S. 524ff. über die Bischofswahlen seit ca. 1100). „Wie überall in der Verfassungsgeschichte, genügt auch in der kirchlichen Verfassungsgeschichte eine rein institutionelle Betrachtungsweise nicht, sondern es sind lebendige Menschen, die die Institutionen nach ihrem Willen benutzen und gestalten" (II, S. 526). Besonders zeigt dies die weit über den Investiturstreit hinausreichende Auseinandersetzung zwischen kanonischem Recht und den lange Zeit unausrottbar nachwirkenden Vorstellungen eigenkirchenrechtlicher Art samt all den seltsamen Kompromissen, von denen sie begleitet war: als eine der wichtigsten Entwicklungen mittelalterlicher Kirchengeschichte wird sie hier von immer neuen Seiten beleuchtet, wie das in dieser Klarheit und Eindringlichkeit vielleicht noch niemals geschehen ist. Das heißt nicht, daß die Stärken dieses Werkes ausschließlich im Grenzsaum zwischen Kirchen- und Profanhistorie lägen: dort fallen sie nur, weil er so häufig vernachlässigt wurde, besonders ins Gewicht. Die Abschnitte über Frömmigkeit und Verkündigung z. B. dringen nicht weniger tief in die Materie ein, führen gleichfalls in vielem über ältere Literatur hinaus. Wenige Beispiele müssen genügen. Die eindringliche religionsgeschichtliche Würdigung Thietmars von Merseburg (I, S. 226—238, dazu S. 332) enthält einen grundsätzlich wichtigen Versuch, statt verschwommener Allgemeinplätze von einer „Germanisierung des Christentums" vorsichtig zu sondern, was in der Frömmigkeit dieses einen Menschen teilweise recht unausgeglichen nebeneinander stand: klerikale und laikale Komponenten, unter denen dann auch versucht wird, synkretistischen Nachwirkungen vorchristlich-germanischer Frömmigkeit nachzuspüren (bes. I, S. 235f.). Dieser Versuch mußte sich an solcher Stelle naturgemäß in Grenzen halten. So war es nicht möglich, innerhalb der christlichen Komponente genauer zwischen alttestamentlichen, neutestamentlichen und nachbiblisch-patristischen Zügen zu scheiden, was doch einmal geschehen sollte, schon wegen der Bedeutung dieser Frage für die allgemeine Erkenntnis der Art, wie die innere Aneignung des Christentums durch die Sachsen erfolgte. Wahrscheinlich würde dann hervortreten, wie wichtig das Alttestamentliche als Brückenglied zwischen Vorchristlich-Germanischem und Christlichem auch in diesem Stammesbereich gewesen ist. Auch die Nachwirkung des Germanischen wäre auf solchem Hintergrunde klarer zu bestimmen: Thietmars Bild vom Wolfsrachen z. B., der den Sünder zerfleischt, I, S. 233 hier eingereiht, kann auch aus altchristlicher Tradition erklärt werden, die den Wolf früh zum Teufelstier stempelte. Doch das sind Aufgaben, deren Lösung, wie gesagt, über die Möglichkeiten eines solchen Werkes hinausging; sie ändern nichts an der Feststellung, daß die gegebene Analyse weit über ältere Versuche hinaus vordringt. Als weiteres Beispiel aus diesem Teilgebiet seien die aufschlußreichen Versuche herausgehoben, aus Urkundenarengen auf den tatsächlichen Gehalt damaliger Predigten zurückzuschließen, der aus den überlieferten literarischen Predigtsammlungen nicht ohne weiteres entnommen werden kann (II, S. 450, vgl. S. 463, dazu S. 447f.). Ein ausführliches Register ist, sehr zur Bequemlichkeit des Benutzers, jedem Bd. einzeln beigegeben (insges. 145 zweispaltige Druckseiten). Die bei einem Werk dieses Umfangs besonders mühevolle Arbeit hat W. Kühter auf sich genommen. Durch weitgehende Auf-

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Schlüsselung mit Hilfe von Unterstichworten — zuweilen vielleicht allzu mechanisch dem alphabetischen Ordnungsprinzip unterworfen — leisten diese Zusammenstellungen wertvolle Dienste, wo man sich über Personen oder Orte orientieren will. Für Sachfragen allerdings lassen sie einen weitgehend im Stich: erfaßt ist ungefähr, was dem Gesichtskreis konventioneller Kirchengeschichtsschreibung entspricht, auf lokalgeschichtlicher Ebene nicht selten mehr. Was Schlesinger jedoch an übergreifenden Gesichtspunkten neu einbezieht und was künftige Kirchengeschichtsschreibung besonders anregen sollte, wird vielfach übergangen: vergebens sucht man so gewichtige Stichwörter wie Eigenkirchenwesen, Landesherrschaft, Patronat, Vogtei, zu denen der Text laufend so Grundsätzliches beibringt (auch an Stellen, die nicht mit Hilfe des dankenswert ausführlichen Inhaltsverzeichnisses leicht aufgefunden werden können); vergebens Termini, die in den Dotierungsurkunden der Bistümer, Klöster und Pfarrkirchen so häufig begegnen wie scobrones (dazu bes. II, S. 504, wo auch interessante Rückschlüsse aus diesem „Schoberzehnt" auf erfolgte Umlegung slawischer Dörfer zu deutschem Recht); vergeblich sozialgeschichtlich wichtige Begriffe wie Ministerialität, über deren Anfänge und Entwicklung im Untersuchungsgebiet vor allem die rechts- und verfassungsgeschichtlichen Kapitel sich mehrfach aufschlußreich äußern und äußern müssen, schon weil die bischöfliche Verwaltung vielfach auf diese Schicht angewiesen war; vergeblich selbst kanonisch-rechtliche Begriffe, wie Obödien^en, Postulation, Provisionen oder geistesgeschichtliche wie Säkularisierung, wo die mancherlei wichtigen und neuen Beobachtungen des Vf.s über diesen seit dem Investiturstreit fortschreitenden Prozeß auch innerhalb der Kirche (vgl. bes. I, S. 141; II, S. I i i . ) noch einmal übersichtlich zusammengefaßt worden wären. Gern hätte man dafür Stichwörter, die dem Gegenstande ferner liegen, samt ihren oft so erstaunlich lichtvollen Erläuterungen entbehrt ( A l p e n „mitteleuropäisches Gebirge", Paris „St. i. Frankreich", Rhein „Strom i. Westdtschl.", Rußland „osteurop. Staat" usw.). Es gibt weitere Desiderate. Daß ein zusammenfassendes Verzeichnis der Klöster und Stifter fehlt, wird bis zu einem gewissen Grade durch die instruktive Faltkarte zum II. Bd. ausgeglichen, die wieder H. Tode zu danken ist. Auch eine zusammenfassende Bischofsliste mit Daten sucht man vergeblich. Anmerkungen und Belege sind nicht unter den Text umbrochen, sondern jedem Bd. einzeln als geschlossener Anhang nachgestellt. Diese Anhänge umfassen zusammen 121 S. zu 893 S. Text. Da sie jedoch seitenlange Exkurse vom Rang selbständiger Untersuchungen einschließen und auch nicht durch ein besonderes Literaturverzeichnis entlastet sind, bleiben trotzdem für Benutzer, die das Material nicht gleich souverän beherrschen, manche Wünsche offen, besonders, wenn ihnen die einschlägigen Urkundenbücher zu selbständiger Belegsuche nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen: zu der Vita Bischof Dietrichs I. von Naumburg (I, S. 134 — 146) z. B., die keinerlei Belegnotiz ergänzt, läßt sich manches aus Anmerkungen zum II. Bd. zusammensuchen, wo die von ihm gegründeten Klöster behandelt sind; wenigstens für sein so bemerkenswert gewaltsames Ende durch einen slawischen Klosterbruder aber hätte doch mancher gern Genaueres über die Quellenaussagen erfahren, die z. T. nur an schwer zugänglicher Stelle gedruckt sind. Dasselbe gilt zu unbelegten Einzelmitteilungen wie der, daß 1293 vom Pfarrer der Marienkirche vor Bautzen slawische Sprachkenntnisse erwartet wurden (so, etwas vereinfachend, I, S. 224 und II, S. 422). Wenn für das sog. Sendrecht der Main- und Rednitzwenden (um 900) vermutet wird, es sei „vielleicht auch für die Slawen des Südostens" angewendet worden (I, S. 221), so wünscht man sich angesichts der Bedeutung und Einzigartigkeit dieser Quelle, die zunächst doch als regionaler Sonderfall wirkt, eine Begründung, u.a.m. Auch Sachkritik wird vom Rez. normalerweise erwartet. Dies bringt ihn hier allerdings in Verlegenheit. Gewiß: gleich zu der ersten Textseite stellt sich die Frage, ob der unmittel-

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bare Beginn der Kirchengeschichte Sachsens, statt beim zufällig erstüberlieferten Feldgottesdienst eines gelegentlich durchmarschierenden Heeres, nicht eher bei den ersten konkreten Bemühungen liegt, die Kirche und ihreVerkündigung im Lande selbst heimisch zu machen. Die I, S. 219 vorgenommene Auswertung von Thietmars Bericht über Bischof Eid von Meißen oder die II, S. 46 angedeutete Auffassung der Arenga der bekannten Kührener Kolonisationsurkunde von 1154 wecken Bedenken, die I, S. 225 eingesetzte neue Übersetzung von altsächs. diobolgelde, die I, S. 292 ausführlich begründete Neudeutung der mesaburii Widukinds von Corvey, die I, S. 347 zusammengestellten Belege für ZipkornLeistung durch deutsche bzw. flämische Neusiedler überzeugen nicht unbedingt; die eingehende Würdigung Bischof Gerungs von Meißen läßt unerwähnt, daß den Namen dieses Prälaten auch das ältestbekannte Erzeugnis einer selbständigen Münzprägung seines Bistums trägt 5 , auf das weitere erst in beträchtlichem Abstände folgen, — wie überhaupt die numismatische Seite dieser drei Bistumsgeschichten samt ihren rechts- und wirtschaftshistorischen Nebenproblemen in diesem Werk stark zurücktritt. In den Literaturangaben, sagen wir, zu einer Quelle vom Rang des Chronicon Montis Sereni ist die wichtige Arbeit B. Schmeidlers aus „Sachsen und Anhalt" 15 (1939) nicht zitiert, u.a.m. Aber wer wollte sich an dieser Stelle bei Einzelheiten dieser Größenordnung aufhalten ? Daß Bemerkungen dieser Art sich anbringen lassen, versteht sich bei einer Publikation solchen Umfangs von selbst; sich darauf einzulassen, wo ein Werk dieses Ranges als Ganzes gewürdigt werden soll, wäre läppisch. Fruchtbarer mag es sein, sich mit der Methode der Darstellung auseinanderzusetzen, die als persönliche Antwort des Vf.s auf ein kritisches Problem allgemeinerer Bedeutung zu werten ist. Diese Methode wechselt je nach dem Gegenstand. Häufig werden wichtige Ergebnisse-«gewonnen, indem die zufällig überkommenen, verstreuten Einzelbelege in übergreifende Zusammenhänge eingefügt werden, etwa in diejenigen von allgemeiner Kirchen- und Reichsgeschichte einerseits, Landes- und Ortsgeschichte andererseits. Wo es um Wirksamkeit und Bedeutung von Persönlichkeiten geht, eröffnen sich auf diesem Wege nicht selten überraschende Perspektiven, etwa aus der Zeugenschaft eines Bischofs in einer räumlich und sachlich scheinbar weit abliegenden Königsurkunde (vgl. für viele die Lebensabrisse für Udo I. von Naumburg oder Konrad von Meißen, die beispielhaft zeigen, wie sich auf diese Weise ein dürres Gerüst zusammenhanglos überlieferter Daten überzeugend mit Leben füllen läßt: II, S. 52—58 bzw. S. 86—92); daß dabei manches hypothetisch bleiben muß, liegt in der Natur der Sache. Ebenso wird, um die Wahl eines Ortes als Bischofsoder Pfarrsitz verständlich zu machen, nach seiner allgemeinen Bedeutung zur betreffenden Zeit gefragt. Dadurch ist viel siedlungs-, Verkehrs- und wirtschaftsgeschichtliches Material einbezogen, das dieses Werk auch unabhängig von kirchengeschichtlicher Fragestellung zu einer Fundgrube macht, nicht zuletzt für die Frühzeit des Städtewesens im erfaßten Gebiet. Dies alles aber geschieht so, daß es im Dienst der Kirchengeschichte, verstanden als Ausschnitt der Gesamtgeschichte, verbleibt; man kann dies daher nur dankbar begrüßen.— Anders ist das Verfahren, wo Zuständliches geschildert werden soll: dann wird Quellenmaterial, das „nicht die territoriale, sondern die allgemeine Kirchengeschichte angeht", nur mit äußerster Zurückhaltung, mehr nur vergleichsweise herangezogen, selbst Ordensregeln und sonstige Rechtskodifikationen fremden Ursprungs (vgl. bes. I, S. 240; II, S. 561). Die Darstellung hält sich an Unterlagen, die das Untersuchungsgebiet selbst an die Hand gibt, um aufzuzeigen, was wirklich dort an Anschauungen jeweils lebendig Vgl. A. Suhle, Der Män^fund von Anusin, in: Deutsches Jb. f. Numismatik 2 (1939), S. 132, Nr. 20 m. Abb. Taf. 8. 5

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war und — wichtige Ergänzung — wie die erkennbare Praxis dort sich zu ihnen verhielt. Wichtige Ergebnisse werden also in diesen Abschnitten gerade durch bewußtes Absehen von allgemeineren Zusammenhängen zutage gefördert. Etwa vorgefaßten Meinungen wird damit wirksam begegnet ; es wird deutlich, wie stark die bekannte Kontrollfunktion landesgeschichtlicher Forschung gegenüber allen Ergebnissen der Allgemeinhistorie auch für die Kirchengeschichte gilt — nennen wir nur die bemerkenswerten Abwandlungen hirsauischer Reformbestrebungen in Klöstern wie Pegau, Bürgel und Chemnitz. Eine Frage bleibt, ob die strenge Beschränkung auf das unmittelbar landeskirchengeschichtliche Quellenmaterial nicht doch auch in diesen Kapiteln zuweilen eine gewisse Auflockerung vertragen hätte. Um ein Beispiel herauszugreifen, das dem Rez. besonders naheliegt: die entscheidende Aufgabe der drei Bistümer in den ersten Jh.en ihres Bestehens war die Missionierung der eingesessenen Sorben. Zu den wichtigsten Voraussetzungen, die die christliche Verkündigung dabei vorfand, zählte das überkommene religiöse Eigengut dieser Bevölkerung. Ihm sind deshalb einleitend einige Seiten gewidmet (I, S. 215—219, dazu S. 330f.), bevor die Frage nach Art und Wirkung dieser Verkündigung aufgeworfen wird. Das Prinzip, vom Quellengut des Landes selbst auszugehen, führt zu einer klaren Zusammenfassung dessen, was sich von der Glaubens- und Kultwelt gerade dieses Teiles der Slawen noch positiv fassen läßt. Gegenüber verbreiteten Verallgemeinerungen wirkt diese Zurückhaltung wohltuend, denn eine gesamtslawische oder auch nur gesamtnordwestslawische Einheitsreligion hat es in historisch faßbarer Zeit zweifellos niemals gegeben. Trotzdem ließe sich denken, daß die Darstellung sich vom Prinzipiellen her hätte noch schärfer fassen, zugleich auch zum Christianisierungsproblem in engere Beziehung setzen lassen, wenn auch sie, unter unbedingter Wahrung der charakterisierten Quellengrundlage, stärker in allgemeine Zusammenhänge hineingestellt worden wäre. Vor allem der grundsätzliche Strukturunterschied zwischen altslawischer und christlicher Religion, den man durch die Termini „Gentilreligion" und „Universalreligion" kennzeichnen kann — ein Unterschied, der aus dem Material des Landes für sich allein nicht ohne weiteres ableitbar ist, der aber zwingend hervortritt, wenn dieses Material im Lichte allgemeiner religionsgeschichtlicher Kriterien überprüft wird —, hätte wesentlich zum Verständnis der Gesamtentwicklung beitragen können. Die Träger christlicher Verkündigung unter den Sorben kamen aus dem gleichen Volk, das dort vorher die bekannten, durchgreifenden kriegerischen Erfolge erzielt hatte. Diese Erfolge müssen für die Betroffenen auch religiöse Bedeutung gewonnen haben: ist diese Einstellung auch für diese elbslawische Stammesgruppe nirgends ausdrücklich bezeugt, so darf sie doch auch für sie unbedenklich vorausgesetzt werden, zumal von den allgemeinen Belegen für die gentilreligiöse Grundstruktur auch der wendischen Religionsformen ein besonders wichtiger gerade ihrem Bereich entstammt (ohne diesen Zusammenhang benutzt auch bei Schlesinger I, S. 221). Manche der vom Vf. zusammengestellten Missionshindernisse (I, S. 222f.) dürften durch diese Eindrücke aufgewogen worden sein, während andererseits aus der gleichen Grundhaltung andere und wesentlichere Hindernisse erwuchsen, vor allem aus der Anschauung, Verschiedenheit der Numina von Volk zu Volk sei das Selbstverständlichste, Gleichheit über Volksgrenzen hinweg dagegen nahezu unvorstellbar — gerade in dem erwähnten Zeugnis besonders deutlich zu greifen. Wenn dann die Darstellung der Mission selbst eine „sehr äußerliche Auffassung" vom Wesen des Bekehrungswerkes registriert (I, S. 220), so ist dieses Urteil vom heutigen Standpunkt aus zweifellos berechtigt. Auf dem Hintergrund allgemeinerer Zusammenhänge läßt jedoch auch dieser Befund sich von innen heraus verstehen. Die damals anerkannte Missionspraxis beschränkte prinzipiell die Mitteilung christlichen Lehrgutes vor der Taufe in einem Ausmaß, das erstaunlich wirkt; sie wollte damit jedoch den „Missionsobjekten", wie der

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häßliche Terminus heißt, möglichst bald den Zugang zu den Sakramenten eröffnen, von deren hilfreicher Gnadenwirkung sie sich eine maßgebliche Unterstützung des Verkündigungswerkes versprach, und dafür nahm sie die Notwendigkeit einer umfangreicheren religionspädagogischen „Nacharbeit" innerhalb der Kirche in Kauf, die sich dann jedoch zugleich im Geltungsbereich ihrer unmittelbaren Disziplinargewalt und ihrer Zwangsmittel — an Ungetauften, außerhalb der Kirche, unanwendbar — vollziehen konnte. Daß diese zweite Aufgabe aus menschlicher Unzulänglichkeit gerade in schwierigen Missionsgebieten oft genug vernachlässigt wurde, ist ein Problem für sich. Es ist damit zu rechnen, daß dabei auch auf sächsisch-deutscher Seite unüberwundene gentilreligiöse Reminiszenzen unter dem vorerst noch allzu weiten universalreligiös-christlichen Gewände nachwirkten, doch ist dies bisher noch recht wenig erforscht 6 . Ähnliche Gesichtspunkte ließen sich an anderen Stellen dieses Werkes aufzeigen, und so wird man fragen dürfen, ob die Art der Festlegung auf unmittelbar landeskirchengeschichtliches Quellenmaterial, wie die fraglichen Partien sie zeigen, schon eine endgültige Lösung des damit in Angriff genommenen Problems kritischer Darstellung bietet. Vielleicht ist sie doch eher als ein Experiment zu beurteilen, das der vom Vf. vorgefundene Forschungsstand mit großer Dringlichkeit herausforderte, das aber ein gewisses Verharren in der Antithese zu dem älteren, unkritischen Verfahren wesensmäßig in sich schloß; ein Experiment, mit dessen Hilfe zuvor vernachlässigte Möglichkeiten wissenschaftlicher Wahrheitsfindung ausgenutzt werden konnten, aber auch deren Grenzen demonstriert worden sind. Die Ebene, auf der die Kritik gegenüber dem besprochenen Werk sich bewegen kann, ist damit ungefähr angedeutet. Man sieht: es handelt sich durchweg um Einzelheiten. Die Gesamtkonzeption, der Wurf als solcher, wird durch sie nicht berührt, und auch das ist nicht zu vergessen, daß fast jedes der vermerkten Desiderate zusätzlich Raum beansprucht hätte über die vorliegenden etwa 1150 S. hinaus. So ist abschließend festzustellen: nahm bisher in der Kirchengeschichtsschreibung für das wendisch-deutsche Markengebiet des Mittelalters der ostseeslawische Bereich die erste Stelle ein', so ist nunmehr, zunächst für die Zeit bis 1300, der obersächsische Raum samt seinen Nachbargebieten mit weitem Abstand an die Spitze gerückt, und für die Art, wie das geschehen ist, gebührt dem Vf. uneingeschränkter Dank. Gießen

Hans-Dietricb

Kahl

KLEIN, Thomas: Der Kampf um die Zweite Reformation in Kursachsen 1586 bis 1591. — Köln, Graz: Böhlau 1962. X, 220 S. mit Abb. = Mitteidt. Forschungen, 25. DM 2 8 , - . Die vorliegende Arbeit, eine unter der Leitung G. Oestreichs angefertigte Berliner Diss., unternimmt nach den Worten des Vf.s „erstmalig den Versuch einer wissenschaftlichen Gesamtdarstellung" der Regierung Kurfürst Christians I. von Sachsen (1586 — 1591) und will die „personalgeschichtliche Erforschung dieses wichtigen Abschnitts der sächsischen Geschichte stark in den Mittelpunkt stellen" (S. X). Der „Frage nach der Persönlichkeit des Kurfürsten sowie seiner wichtigsten Mitarbeiter Krell und Pauli" (S. 6) widmet der 6 Einige Andeutungen bei H.-D. Kahl, Slawen und Deutsche in der brandenburgischen Geschichte, Köln/Graz 1964, S. 644, Anm. 3, S. 675, Anm. 88, sowie S. 119. Ebd., S. 546f. Nachweis weiterer Arbeiten des Rez., die vorstehende Zusammenhänge berühren. 7 Siehe Anm. 3.

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Vf. den 1. Teil seines Buches, während der 2., umfangreichere „Kursachsen auf dem Wege zur Zweiten Reformation" zeigen soll, dessen wichtige Etappen die stillschweigende Aufhebung der Subskriptionsverpflichtung der Konkordienformel, die „Reformation" der Universitäten, Fürstenschulen, Konsistorien und höheren Gerichte 1587/88, das Kanzelmandat von 1588, der „außenpolitische Umschwung" von 1589 und schließlich die Abschaffung des Exorzismus bei der Kindertaufe sind. Es liegt in der Natur der Dinge, daß die Gestalt des Rates und späteren Kanzlers Nikolaus Krell als der dieses Lustrum sächsischer Geschichte beherrschenden Persönlichkeit im Vordergrund steht. Die von Krell und Pauli angestrebte Abwendung der sächsischen Kirche und Landesuniversitäten von der lutherischen Orthodoxie und der von ihnen gewünschte Wandel der kursächsischenAußenpolitik mußten nach dem Regierungsantritt des jungen Kurfürsten zunächst durch eine Vielzahl personeller Veränderungen vorbereitet werden. Ihnen geht der Vf. mit größter Sorgfalt nach, und es ist durchaus überzeugend, wenn er „eine gezielte Personalpolitik" feststellen zu können glaubt, durch die „bedeutende Schlüsselstellungen in Kirche und Staat" (S. 128) besetzt worden sind und die erst die Grundlage für Krells Wirken als Kanzler bildete. Im Gegensatz zu der spektakulären Vertreibung der Kryptokalvinisten unter Kurfürst August vollzog sich diese „Personalpolitik" stiller und ohne größeres Aufsehen. Hier wie auch sonst häufig glaubt K. Zurückhaltung und behutsame Vorsicht als ein Kennzeichen der Politik des sächsischen Kanzlers zu erkennen. Während der Vf. nun die äußeren Lebensdaten und -umstände der von der Krellschen „Personalpolitik" im Guten wie im Schlechten Betroffenen mit Fleiß gesammelt hat, untersucht er so gut wie gar nicht ihr Glauben, Denken und Wollen. „Was diese Männer, die als Calvinisten oder Zwinglianer verketzert wurden und sich als Philippisten oder noch häufiger als gemäßigte Orthodoxe tarnten, wirklich dachten, ist in den meisten Fällen noch gar nicht ermittelt. Stellen wir die Frage genau, so läßt uns fast die gesamte Literatur im Stich" (S. 5). Leider auch der Vf. Freilich wird man ihm wie der bisherigen Forschung zugute halten müssen, daß der „genaue Standort" vieler jener Männer sich aus Mangel an Quellen gar nicht oder nur unzureichend wird ermitteln lassen. Hier aber liegt eine Schwäche von K.s Darstellung der Krellschen „Personalpolitik": Sind nämlich — wie er annimmt — ihre Motive in einer theologischen Uberzeugung zu suchen und liegt ihr Ziel in der Durchführung einer Zweiten Reformation, würde es eben oft des Nachweises bedürfen, daß die neu eingesetzten Männer diesem Motive wie dem angestrebten Ziel entsprachen. Bestand doch die schon von M. Ritter (ADB 17, 118) angedeutete Möglichkeit, daß man Leute zu gewinnen suchte, „die im Geiste Melanchthons wirken sollten", jedoch der calvinistischen Lehre zum Siege zu verhelfen gedachten. Der anscheinend grundsätzliche Verzicht des Vf.s auf eine Analyse der Denkweisen und theologischen Uberzeugungen, der Wertvorstellungen und Frömmigkeitshaltungen macht vor allem seine interessante These von der Gebundenheit Krells an das calvinistische Dogma fragwürdig. Lehnt doch K. eine Deutung als „völlig falsch" ab (S. 36), die das politische Handeln des sächsischen Kanzlers von einer „aufgeklärten Denkweise" herleitet (Chr. Schille, in: NDB 3, 407). Er bestreitet entschieden die Richtigkeit der Auffassung Rankes, Krell sei „von den Satzungen des bestimmten Dogma nicht unbedingt gefesselt" gewesen, und behauptet genau das Gegenteil. Den Beweis freilich, der doch allein in einer Analyse der theologischen Uberzeugungen Krells hätte bestehen müssen, bleibt K. schuldig. Und er muß es tun, weil die Quellenlage ihn dazu zwingt. Denn die Persönlichkeit Krells ist für uns, wie Vf. richtig bemerkt, „kaum faßbar" (S. 20) und bleibt „trotz des immer neuen Interesses, das sie fand, letztlich unbekannt und wird es möglicherweise auch bleiben" (S. 37). Die These von der Gebundenheit Krells an das calvinistische Dogma hat so nur

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den Wert einer Hypothese, die mit einer vom Vf. seinem Helden nachgerühmten Vorsicht dargelegt und aufgenommen werden sollte. K. versteht in Übereinstimmung mit der jüngsten Forschung — man denke etwa an das gute Buch J. Moltmanns über Chr. Pezel — die sog. Zweite Reformation vor allem als eine „Reformation des Lebens". Eine außenpolitische Neuorientierung und Verbesserung der Militärverfassung, eine von humanistisch-pädagogischen Idealen her angestrebte Belebung der Wissenschaften und Künste, eine Reform der Rechtspflege sowie eine Neugestaltung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt zueinander gehören nach dem Vf. zum „Programm der Zweiten Reformation" (S. 70 f.), sind jedoch — das muß ihm gegenüber betont werden — keineswegs deren Kriterien und erlauben nicht den Schluß auf eine Hinwendung zum Calvinismus. Die genannten Maßnahmen lassen sich z. T. aus rein politischen Maximen und in ihrer Gesamtheit durchaus als Konsequenzen eines humanistischen, dem Dogma indifferent und der intoleranten lutherischen Orthodoxie ablehnend gegenüberstehenden Geisteshaltung begreifen. Hochschätzung der „bonae litterae" und Kritik am neuen Luthertum sowie daraus folgende Reformen machen allein noch nicht die Eigenart der sog. Zweiten Reformation aus. Erschöpft sich ihr Wesen, auch nach dem Verständnis der Zeitgenossen, zweifellos nicht in einer „dogmatischen Annäherung an Calvin" (S. 70), so ist sie doch ohne diese nicht denkbar. Vor allem schieden sich an der Lehre von der Prädestination die Geister. Humanistisches Denken fand verhältnismäßig leicht den Weg zu einem dem reformierten mindestens sehr verwandten Abendmahlsverständnis, wie etwa der späte Erasmus und Melanchthon zeigen, nicht aber zu dem calvinistischen Determinismus. Zanchi hebt nicht etwa zufällig bei seiner Kritik Melanchthons alle Lehrpunkte hervor, die mit der Prädestinationslehre zusammenhängen (vgl. z. B. Moltmann, S. 89). Um eine Hinführung Kursachsens zum Calvinismus durch Krell zu beweisen, hält K. denn auch schließlich eine Untersuchung der theologischen Disputationen, die nach den vom sächsischen Kanzler bewirkten personellen Veränderungen in Wittenberg gehalten wurden, für nötig (S. 138 ff.), begnügt sich aber leider mit der Aufzählung der Disputationsthemen und mit der Versicherung, die Disputationen selbst hätten den reformierten Standpunkt herausgestellt. Was die neu nach Wittenberg berufenen Professoren etwa über die Prädestination dachten, erfahren wir nicht. Für K.s Annahme, der sächsische Kanzler habe versucht, „zum Calvinismus vorzustoßen" (S. 134, Anm. 9), sprechen so lediglich die nur allzu knappen und wenig ergiebigen dogmatischen Bemerkungen der unvollendeten sog. Krell-Bibel und die Abschaffung des Exorzismus bei der Kindertaufe kurz vor dem Tode Christians I. Der frühe Tod des Kurfürsten läßt alle politischen Maßnahmen und Entscheidungen seiner Regierung rückblickend nur als Ansätze und Vorbereitungen erscheinen, deren Ziel keineswegs mit jener Sicherheit auszumachen ist, die Vf. zeigt. Ob Krell, wie sein Mitarbeiter Andreas Pauli sagt, nur die „Zustände, die der rasende Andreae mit einem Schlage umgestürzt hat" wiederherstellen und „in die alten Wittenberger Tendenzen Melanchthons" zurücklenken wollte (K.Brandi) oder aber Kursachsen behutsam auf den „Weg zur Zweiten Reformation" und damit zum Calvinismus zu führen beabsichtigte, läßt sich aus den Fakten nicht schlüssig erkennen. Berlin

Karl Heinz

Oelrich

Um die polnische Krone. Sachsen und Polen während d. Nordischen Krieges (1700—1721). Bearb. v. Johannes Kaiisch u. Jösef Gierowski. — Bln.: Rütten Sc Loening 1962. 307 S. = Schriftenreihe d. Kommission d. Historiker d. DDR u. Volkspolens, Bd. 1. DN 19,80.

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Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Geschichte der sächsisch-polnischen Beziehungen während der zwei Menschenalter der Personalunion der beiden Mächte noch einer eindringlichen Erforschung bedarf. Es kann dabei ebensowenig Zweifeln unterliegen, daß manche Gesichtspunkte, unter denen früher deutsch-polnische Beziehungen von deutscher Seite her erforscht und betrachtet worden sind, revidiert zu werden verdienen. Ob freilich die marxistische Geschichtsforschung berufen ist, diese Aufgabe zu übernehmen, auch wenn manche im vorliegenden Sammelbd. zu findende kritische Anmerkungen gegenüber deutschen Autoren wie Gurlitt, Haake oder Rohde keineswegs mit leichter Hand abgetan werden können, steht auf einem anderen Blatt. Daß auch die nicht-marxistische Historie hier wertvolle Arbeit zu leisten vermag — man denke nur an die Forschungen von Horst Jablonowski —, sollte endlich auch von den marxistischen Historikern der sog. DDR zugegeben werden. Es wäre aber falsch, den hier angezeigten Sammelbd. abzutun mit der Charakteristik: marxistische Tendenzhistorie. Dazu steckt viel zu viel ernsthafte Archivarbeit in diesen von polnischen und mitteldeutschen Historikern erarbeiteten Beiträgen, die auch uns zum Nachdenken anregen sollte. Es ist ein Verdienst der Hrsg., den Blick auf manches bisher nur wenig erforschte Problem dieser Jahre gelenkt zu haben, wobei auch über den Rahmen der sächsisch-polnischen Beziehungen hinaus neue Schlaglichter auf Vorgänge der allgemeinen europäischen Geschichte gelenkt werden. Dazu sind etwa zu zählen die beiden Beiträge von Kazimierz Piwarski und Hellmut KretEschmar. P. stellt „Das Interregnum in Polen 1696/97 und die politische Lage in Europa" und K. den „Friedensschluß von Altranstädt 1706/07" in ihren allgemeingeschichtlichen Zusammenhängen und Bedeutungen einleuchtend dar, wobei man K. besonders zu danken hat für den Abdruck des Textes des Friedensvertrags als einer bedeutsamen Quelle zur Geschichte der politischen Beziehungen zu Beginn des 18. Jh.s. Auch die Beiträge von Johannes Kaiisch und Rudolf Forberger verdienen hervorgehoben zu werden: „Sächsisch-polnische Pläne zur Begründung einer See- und Handelskompanie am Ausgang des 17. Jh.s" und „Zur wirtschaftlichen Neueinschätzung der sächsisch-polnischen Union". Sie sind interessante Untersuchungen zu wirtschaftsgeschichtlich bisher noch so gut wie unerschlossenen Themen; besonders dankenswert, daß auch hier bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial aus den Dresdener Archiven vorgelegt wird. Auch der Beitrag Jozef Gierowskis („Personal- oder Realunion") ist für die Pläne der sächsischen Politik von Bedeutung. Heinz Lemkes Aufsatz über die römische Mission des Barons Hecker 1721 gibt einen reizvollen Einblick in die diplomatischen Mittel, mit denen einerseits der Plan einer Sicherung der sächsischen Erbfolge in Polen, andererseits die Absichten des Vatikans für eine Rekatholisierung Sachsens verfolgt wurden. Julian Janc^ak („Der Palej-Aufstand von 1702—1704") und V. D. Koroljuk („Der Eintritt der Rzeczpospolita in den Nordischen Krieg") beschäftigen sich vom Standpunkt marxistischer Historiographie mit innerpolitischen Problemen Polens. Von der gleichen Blickrichtung aus behandelt schließlich Jözef Les^cynski die „Oberlausitz in den ersten Jahren des Nordischen Krieges", wobei dieses leider bisher noch nie geschlossen behandelte Thema nur recht oberflächlich abgehandelt wird. Die Hrsg. betonen selbst, daß diese Sammlung kein abschließendes Wort geben könne. Spätere Untersuchungen sollten sich z. B. auch mit den von O. E. Schmidt angedeuteten Versuchen Kurfürst Augusts auf Herstellung einer territorialen Verbindung zwischen Kursachsen und Polen durch Niederschlesien einmal näher befassen. Berlin 29 Jahrbudi 12

Richard

Dietrich

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EINZELNE GEBIETE

Wolfgang: Die deutsche Oper in Dresden unter der Leitung von Carl Maria von Weber. 1817-1826. - Bln.: Colloquium-Verl. 1962. 178 S. = Theater und Drama, Bd. 22. DM 14,—.

BECKER,

Jede Arbeit, die es unternimmt, sich mit Person und Werk Webers auseinanderzusetzen, steht vor der Schwierigkeit, daß es weder eine umfassende moderne Weber-Biographie noch eine Gesamtausgabe seiner Briefe gibt. Da die Quellen zudem teilweise schwer zugänglich und auf verschiedene Orte verstreut sind, ist bislang manche notwendige Einzeluntersuchung unterblieben. Unter diesen Umständen ist es besonders dankenswert, daß in der vorliegenden Arbeit die Tätigkeit Webers als Theaterdirektor zum Gegenstand einer speziellen Untersuchung gemacht wird. Der Vf. kann sich dabei nicht nur auf zahlreiche bisher unveröffentlichte Quellen stützen, sondern hat auch in zeitgenössischen Musikzeitschriften vieles gefunden, was über die Dresdener Theaterverhältnisse zur Zeit Webers näheren Aufschluß gibt. Ein einleitender historischer Teil, der von den Anfängen der deutschen Oper in Dresden berichtet, bringt nichts grundlegend Neues, bereichert und ergänzt aber das bekannte Bild in manchen Einzelheiten, wie etwa der genauen Beschreibung der von Webers Truppe bespielten Bühnen. Im Anschluß daran folgt eine systematische Untersuchung des Repertoires, wobei sich erweist, daß, allen Bemühungen Webers zum Trotz, in der Spielplangestaltung eine zunehmende Tendenz zur Verflachung zu beobachten ist. Die Schwierigkeiten, mit denen Weber in Dresden zu kämpfen hatte, zeigen sich auch in der Zusammensetzung des Sängerpersonals, über dessen Verwendung und künstlerische Bedeutung die Arbeit eingehende Auskunft erteilt. Der Vf. schließt mit einer Darstellung von Webers Inszenierungsstil, in der dessen Vorliebe für kräftige Theatereffekte, derb-eindeutige Charakterisierung und sinnfällige szenische Arrangements an Hand zahlreicher Beispiele nachgewiesen wird. Insgesamt eine aufschlußreiche, in ihrer geschickten Darstellung den Durchschnitt von Dissertations-Publikationen beträchtlich überragende Arbeit. Berlin

Arno

Forchert

Herbert: Der große Streik der Chemnitzer Metallarbeiter zur Durchsetzung des Zehnstundentages im Jahre 1871. — Karl-Marx-Stadt [Aue 16]: Rat d. Stadt, Stadtarchiv 1962. 82 S. mit 6 Abb. = Beiträge z. Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, 10. DM 2,50. STÖBE,

Von gleichwertigen westlichen Diplomarbeiten unterscheidet sich die an Ernst Heilmann anknüpfende, über seine Darstellung aber mit Resultaten eigener Quellendurchsicht hinausführende Studie eines Absolventen der Pädagogischen Hochschule Potsdam weniger durch ihre gelegentlich unterlaufenden Klischeeaussagen und Banalitäten als durch eine für den Marxisten besonders lästige Penetranz naiv moralischer Entrüstung. Fasziniert vom Teilaspekt des Ubergangs zur „intensiven Ausbeutung" bringt der Vf. bei seiner Analyse des im Okt. 1871 eröffneten Angriffsstreiks nur einen Bruchteil der zumal vom gewerkschaftlichen Erfahrungsstandpunkt gebotenen kritischen Schärfe des Urteils auf. Streiktypologisch ist der in Ausnutzung einer Konjunkturphase, insoweit also unter taktisch günstigen Vorzeichen eingeleitete Konflikt in die Reihe jener vom emotionalen Druck der Unorganisierten erzwungenen Aktionen einzuordnen, die auf Grund des krassen Mißverhältnisses zwischen Forderungen und verfügbaren Kampfmitteln den Keim des Scheiterns von vornherein in sich tragen und sich deshalb nicht eben zur Glorifizierung empfehlen. Organisationsstand wie Kassenlage hätten einer manövrierfähigen Streikleitung das rechtzeitige Eingehen auf die Angebote der Unternehmer nahegelegt, hinter deren

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Kompromißvorschlägen der Vf. aus seiner Perspektive wiederum nur das Profitstreben, nicht aber den progressiven Trend zum Abbau vorindustrieller Relikte wahrzunehmen vermag. Berlin Henryk Skr^jpc^ßk 750 Jahre St. Thomas zu Leipzig. Hrsg. v. Herbert Stiehl. — Bln.: Evang. Verlagsanstalt 1962. 136 S. mit 48 Abb. DM 4,50. CRASS, Eduard: Die Thomaner. Kommentierter Bildbericht über ihre 750jährige Geschichte 1212 — 1962. — Leipzig: Enzyklopädie 1962. 50 S., 40 S. Textteil. DM 3,50. Im Jahre 1962 feierte die Thomaskirche zu Leipzig das Fest ihres 750jährigen Bestehens. Das von Herbert Stiehl, dem derzeitigen Leipziger Superintendenten, herausgegebene Büchlein erinnert sich aus diesem Anlaß der Geschichte dieser berühmten Kirche von ihren Anfängen bis in die heutige Zeit. Ein Dreivierteljahrtausend deutscher Kulturgeschichte auf rund 100 Textseiten — da ist es selbstverständlich, daß nur vereinzelte Linien aus dem dichten Gewebe der Ereignisse hervorgehoben werden konnten. St. und seine Mitarbeiter haben sich dafür entschieden — sieht man von einem einleitenden Kapitel ab, das die vorreformatorische Zeit behandelt —, die Geschichte der Thomaskirche gleichsam vom Standpunkt jener 29 Superintendenten zu betrachten, die seit der Reformationszeit für die Geschicke der Kirche verantwortlich waren. Daß die Leipziger Thomaskirche ihre weitverbreitete Berühmtheit vor allem den Kantoren verdankt, die hier gewirkt haben, wird bei solcher Art der Darstellung allerdings nicht deutlich. — Hier hilft das kleine Bildbändchen über die Thomaner, das richtige Gleichgewicht wiederherzustellen. Zahlreiche Dokumente, Musikerportraits, Notenhandschriften u. a. belegen die Bedeutung, die dem Amt des Thomaskantors durch jene glänzende Reihe hervorragender Musiker zuteil wurde, die schließlich in Bach ihre Krönung fand. Leider ist das Format der Bilder so klein, daß die Texte der Dokumente oft unlesbar bleiben. Der von E. Crass verfaßte sachgerechte und instruktive Textteil hätte eine bessere Bebilderung verdient, die aber hier wohl aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war. Berlin

Arno Forchert

Fünfzig Jahre Insel-Bücherei. 1912—1962. (Bearb. v. Heinz Sarkowski.) — (Frankf/M.:) Insel-Verl. (1962). 160 S. D M 3 , - . Der Insel-Verlag gibt Rechenschaft von seiner wohl bedeutendsten, gewiß erfolgreichsten Tat — der jetzt 50 Jahre zurückliegenden Begründung seiner Insel-Bücherei. In damals einzigartiger Weise vereinte und vereint noch heute diese Sammlung — bei niedrigem Preis — das künstlerisch und literarisch Wertbeständige mit ästhetisch ansprechender Ausstattung. Ein wahrhaft gültiger Querschnitt aus der Weltliteratur, der von Aischylos bis Heinrich Boll, von chinesischer Lyrik bis zur nordischen Sagenwelt, von Herodot bis zu Mommsen und Th. Heuss reicht und auch die bildende Kunst (z. B. japanische Holzschnitte, die Minnesinger oder auch L. Feininger und Paul Klee) einschließt, präsentierte sich in einem stets individuell gestalteten, ja intimen Äußeren und fand überraschend starken Anklang — das schöne und zugleich preiswerte Buch war geboren, in einem ausgesprochen aristokratischen Verlag hatte das demokratische Element Eingang gefunden (St. Zweig). — So kann es sich der Verlag leisten, eine einfache, jedoch bibliographisch sehr exakt gearbeitete und registermäßig vorbildlich erschlossene, im wesentlichen chrono29»

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logische Aufzählung der (mit der jetzigen Leipziger Produktion) annähernd 1000 Titel, gedruckt in insgesamt 50 Mill. Exemplaren, nebst einigen beispielhaften Illustrationen und Skizzen für sich sprechen zu lassen. Der Bibliographie vorauf gehen ein zu knapper Abriß über die Entwicklung dieser Reihe — er behebt nicht, sondern läßt den Wunsch nach einer eingehenden, mit Belegen versehenen Darstellung erst recht laut werden — und liebevoll einführende Betrachtungen H. W. Eppelsheimers über die „Annehmlichkeiten bibliographischer Lektüre", in denen er unter feinsinnigem Bezug auf den Gegenstand des Büchleins und das hier vorgeführte Titelverzeichnis der „süßen Gewohnheit, zu literarischer Entspannung . . . in Antiquariatskatalogen zu schmökern", gedenkt. Z. Z. Köln Werner Schochow Deutsche Bücherei 1912—1962. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der dt. Nationalbibliothek. (Redaktion: Helmut Rötzsch, Gerhard Hesse, Hans-Martin Pleßke.) - Leipzig: [Dt. Bücherei] 1962. XXII, 400 S., 18 Bl. Abb. 4°. DM 81,50. RÖTZSCH, Helmut: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig und die Deutsche Bücherei. Ein Beitrag zur Geschichte der dt. Nationalbibliothek. — Leipzig: Dt. Bücherei 1962. 44 S. = Neujahrsgabe der Dt. Bücherei 1963. Nicht im Handel. Deutsche Bücherei, Deutsche Nationalbibliothek. Neue Mitteilungen aus der Deutschen Bücherei. Gesamtausgabe. (Hrsg. anläßlich des 50jähr. Bestehens der Dt. Bücherei am 3. Okt. 1962.) — Leipzig: [Dt. Bücherei] 1962. (Nr. 1 - 4 0 in getr. Paginierung; nicht im Handel.) Unter den vielen von der Deutschen Bücherei (DB) zu ihrem 50jährigen Bestehen herausgebrachten Veröffentlichungen nimmt die stattliche Festschrift ihrem Umfange wie ihrer Ausstattung nach vor den übrigen (von denen im folgenden noch die zwei vorliegenden angezeigt werden sollen) bei weitem den ersten Platz ein. Nur wenige, ältere Bibliotheken in Deutschland können eine ähnlich aufwendige Jubiläumsgabe vorweisen, und man ist — angesichts des geringen Alters dieser Bibliothek — zunächst versucht zu fragen, entsprechen Anlaß und Inhalt — gemessen an der traditionsreichen Geschichte und den bisherigen Leistungen im deutschen Bibliothekswesen — auch wirklich dem hier erhobenen hohen Anspruch. Nach genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, daß bei der inneren und äußeren Gestaltung des Werkes verschiedentlich unstreitig nicht zu übersehende sachfremde Uberlegungen bedauerlicherweise Einfluß gewonnen haben — Tendenzen, die in noch stärkerem Maße einen Großteil der vielen Jubiläumsartikel in der ostzonalen Fachpresse (auch im Zentralbl. f. Bibl.wesen, Jg. 1961 — 1963) kennzeichnen. Auf der anderen Seite aber läßt sich ebensowenig die Bedeutsamkeit des Ereignisses, zu welchem die Festschrift erschien, verkennen, verkörpert die erst vor 50 Jahren errichtete DB doch einen Bibliothekstyp, den es zuvor in Deutschland tatsächlich nicht gegeben hatte, an dessen Daseinsberechtigung aber schon damals kein Zweifel mehr hatte sein können. Vergegenwärtigt man sich zudem, daß die deutsche Buchproduktion in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zahlenmäßig von keiner anderen Nation erreicht wurde (s. hier S. 24), so ist es gewiß nicht übertrieben, die in erster Linie dem deutschen Buchhandel zu verdankende Gründung des Instituts im Oktober 1912 als längst überfällig zu bezeichnen. Daß und wie die DB in der Folgezeit ihrer Verpflichtung, das bibliothekarische „Gesamtarchiv des deutschen Schrifttums" zu werden, satzungsgemäß gerecht wurde, ist das bleibende Verdienst Heinrich Uhlendahls, der die Bibliothek ein überaus bewegtes Menschen-

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alter hindurch (1924—1954) leitete. Seine ausdauernde Energie und sein — allen widrigen Gewalten und politischen Umwälzungen zum Trotz — unbeirrbares Festhalten an ihren ursprünglichen und von ihm bald erweiterten Aufgaben legten den Grund für ihr Ansehen in der nationalen und internationalen Fachwelt, so daß später mit Recht ihre Gründung ein „epochemachendes Ereignis" in der jüngeren deutschen Bibliotheksgeschichte genannt werden konnte. Leider aber vernachlässigt die Festschrift bei aller Umfänglichkeit gerade die mittleren Lebensjahre der Bibliothek (bis 1945), die Hauptwirkungszeit Uhlendahls, über Gebühr, indem sie diese quellenmäßig bisher am wenigsten erschlossenen Jahrzehnte, von beiläufigen, spezielle Gesichtspunkte in den Vordergrund rückenden Erwähnungen abgesehen, weitgehend ausspart. Gelegentliche thematische Überschneidungen und Wiederholungen — vgl. dafür das ausführliche und zuverlässige, von H. Wolter hergestellte Namen- und Sachregister (S. 381 ff.) — wiegen demgegenüber ungleich leichter, sind ganz in einem Sammelwerk auch kaum zu vermeiden. Es ergibt sich somit, daß wir keine inhaltlich geschlossene Gesamtdarstellung der Bibliothek, auf die wir vermutlich noch lange werden warten müssen, vor uns haben, sondern nur einzelne (13) locker aneinandergefügte Beiträge, Bausteine zu ihrer Geschichte also, die sich erfreulicherweise in ihrer Mehrzahl dank dem Zurückgreifen auf die unmittelbaren, z. T. ungedruckten Quellen, namentlich auf die in der DB aufbewahrten Akten des Börsenvereins, im wesentlichen als haltbar erweisen dürften. Davon auszunehmen sind freilich großenteils die nicht zufällig an den Anfang des Bd.es gerückten politisch orientierten Aufsätze, deren tendenziöse, historisch oft nicht haltbare Thesen in Erfüllung eines offenbar vorgeschriebenen Solls an Polemik gegen die Bundesrepublik mitunter unvermittelt neben durchaus sachbezogenen Aussagen stehen, diese aber dadurch nur zu verdunkeln geeignet sind; so wenn, um nur ein Beispiel herauszugreifen, etwa Klaus Gysi vom Leipziger Börsenverein in einem der Glückwunschartikel die offensichtlich unsinnige Bemerkung macht, „die nationale wie die internationale Bedeutung der DB" sei 1945 „weitgehend zerstört" gewesen (S. XIX) — eine Behauptung, welche die späteren fundierten Beiträge im selben Bd. nicht müde werden zu widerlegen. Um dieser, hier vereinigten wertvollen Arbeiten willen soll im folgenden von derartigen unqualifizierten Äußerungen möglichst abgesehen werden. Allein die ins Grundsätzliche reichende Auseinandersetzung mit der Ende 1946 ins Leben gerufenen Deutschen Bibliothek in Frankfurt kann an dieser Stelle nicht ganz übergangen und damit unwidersprochen hingenommen werden. Es versteht sich, daß der Leser aus den hier gemachten Ausführungen allein, die erklärlicherweise die Beurteilung nur der einen Seite wiedergeben, keine allseitige Vorstellung von dieser, um der Sache willen sehr zu bedauernden Kontroverse gewinnen kann, daß insbesondere einige der grundlegenden Ursachen für die auf die Länge wohl kaum vermeidbare Gegengründung und ihren vorangetriebenen Ausbau ungesagt bleiben, wie die von Anfang an erkennbaren, allmählich zunehmenden Zensurbestrebungen in der SBZ und nicht zum wenigsten die früh einsetzenden Maßnahmen zur recht- und entschädigungslosen Enteignung im dortigen privaten Buchhandel, die gerade einige der alteingesessenen, großen Firmen betraf. Daß umgekehrt die Existenz der Frankfurter Bibliothek und der von ihr bearbeiteten Bibliographie für die DB auch ihre gute Seite hatte, indem sie nämlich dazu führte, die Position der DB und zumal der Leipziger Nationalbibliographie angesichts der westlichen Konkurrenz der eigenen Staatsgewalt gegenüber zu stärken, steht auf einem anderen Blatt und wird, soweit ich sehe, nur an einer Stelle (S. 76) indirekt eingestanden. Um so häufiger ist hier dagegen von der „Deutschen Nationalbibliothek" die

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Rede, welcher Begriff stellenweise bis zum Überdruß strapaziert wird. Die DB legte sich diese Bezeichnung im Sommer 1961 recht unauffällig zu, um damit ihren Anspruch, die alleinige „Zentrale der deutschen Allgemeinbibliographie" zu sein, zu stützen und einer befürchteten Antizipation des Titels von westlicher Seite zuvorzukommen. Mit dem Stichwort „Nationalbibliographie" ist der Grundton angeschlagen, welcher die gesamte Geschichte der DB und ihrer Abteilungen beherrscht und dementsprechend in den meisten der hier abgedruckten Einzelbeiträge wiederkehrt. Von ihnen seien die inhaltlich bemerkenswerteren herausgegriffen. Sie betreffen zunächst die Vorverhandlungen und die Anfangsjahre der DB, die dank früheren Arbeiten (u. a. von Uhlendahl selbst) bislang als gut durchforscht gelten konnten. Sie kommen hier, z. T. auf Grund nochmaliger Aktendurchsicht, erneut zur Sprache — vor allem bei G. Hesse (über Gründung und Entwicklung der DB bis 1923) und H. Röt^sch (über den engen Kontakt zwischen Börsenverein und DB) —, wobei neben dem seit langem bekannten Einfluß der maßgeblichen Vertreter des Börsenvereins, voran Karl Siegismunds und Erich Ehlermanns, auf die Gründung neu der nicht geringere Anteil Arthur Meiners vom Verlegerverein seine gerechte Würdigung erfährt. Mehr noch stehen Grundfragen der deutschen Allgemeinbibliographie, insbesondere das formal bestimmte Vollständigkeitsprinzip, unter den erschwerten Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft zur Debatte. Aus intimster Vertrautheit mit der Materie gibt hierzu namentlich Curt Fleischback in seinem ausfuhrlichen Beitrag (Die bibliographische Tätigkeit der DB), wohl dem Kernstück der ganzen Festschrift, einen genauen, dokumentarisch belegten Bericht, der im übrigen zeitlich von den bibliographischen Vorläufern im vorigen Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart hineinreicht. Seine Ausführungen über die von den damaligen Machthabern getroffenen und beabsichtigten Maßnahmen und das von ihnen ausgesprochene Verbot der Aufnahme bestimmter Verfasser- und Titelkategorien in die laufende Bibliographie sowie über die hartnäckige und jedenfalls teilweise erfolgreiche Gegenwehr Uhlendahls (vor allem S. 119—121) seien deshalb besonders hervorgehoben. Sie berühren sich thematisch teilweise mit der wichtigen und ausgewogenen Arbeit von Horst Halfmann (Das Schrifttum der Emigration in der DB), aus der hervorgeht, daß die DB die in Deutschland umfangreichste Sammlung an Buch-u. Zs.literatur auf diesem Gebiet besitzt: Die Kartei der Bibliothek weist 1213 emigrierte Schriftsteller mit 1865 ermittelten (größtenteils vorhandenen) selbständigen Veröffentlichungen nach (vgl. u. a. die Tabelle auf S. 216). Beachtung verdienen seine vorläufigen Ansätze zu einer kritisch-bibliographischen Bewertung dieser Schriftengattung und zumal sein Hinweis auf die von der DB vorbereitete „Bibliographie über die im Ausland erschienenen Veröffentlichungen deutscher Emigranten" (S. 200), die durch das Erscheinen der „Deutschen Exil-Literatur 1933—1945" von W. Sternfeld und E. Tiedemann (Darmstadt 1962) gewiß nicht überholt ist. An keiner Stelle erwähnt werden hingegen die ganz ähnlichen folgenreichen Eingriffe des jetzigen Regimes gegen ihm politisch mißliebige deutschsprachige Neuerscheinungen. Ganz abgesehen von der sehr beschränkten Benutzbarkeit dieser Bestände in der SBZ tauchen derartige Titel vielfach nur noch in den Mehrjahresverzeichnissen auf, in denen man also das früher innegehaltene Prinzip der unbedingten Autopsie aufgegeben hat, nicht aber — ebenso wie seit Ende 1936 — in der wöchentlich erscheinenden Primärbibliographie.1 In Zusammenhang mit der bibliographischen Hauptaufgabe der DB stehen ferner der 1 Zu weiteren politisch bedingten Einschränkungen vgl. den Artikel „Ist die Leipziger Bibliographie objektiv oder .parteilich*?" (Börsenbl. f. d. Dt. Buchh., Frankf. Ausg., Nr. 30 v. 11. Apr. 1963.)

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historische Abriß über die musikbibliographische Leistung der Bibliothek und ihrer Vorgänger (H.-M. Pleßke) und die Erörterung zweier aktueller, heute weithin diskutierter Probleme: der aufschlußreiche Aufsatz über die umfangreiche Titeldrucktätigkeit der DB (Rudi Franz), die zwar noch nicht voll befriedigend entwickelt werden konnte, für bibliographische Zwecke jedoch und vor allem bei der Titelaufnahme durch Zentralisierung wesentlich zur dringend erforderlichen Rationalisierung im Kataloggeschäft einer Vielzahl von Bibliotheken beitragen kann. Auch die eingehende Behandlung des Gruppenschlagwortkataloges der DB (Ernst Rückert und R. Franz) dürfte allgemeines Interesse beanspruchen. Das hier vorgeführte und durch Gliederungsbeispiele näher erläuterte Katalogsystem, in seiner gedanklichen Klarheit in der Regel bestechend, hat nicht umsonst auch in westdeutschen Bibliotheken Eingang oder Nachahmung gefunden und dürfte künftigen Überlegungen auf diesem Gebiet wertvolle Erfahrungsunterlagen liefern. Sachkundige Beiträge über zwei der DB heute angegliederte und gemeinsam verwaltete, einst sehr reichhaltige Sammlungen seitens der zuständigen Abteilungsleiter (Fritz Funke, Originales Sammelgut im Deutschen Buch- und Schriftmuseum; mit zahlreichen Reproduktionen von Schaustücken nah- und fernöstlicher Herkunft; und Martha .Dii«/Lieselotte Reuschel, Die ehem. Bibliothek des Börsenvereins; mit eingehender Beschreibung des früheren Bestandes) sowie die anschauliche Einführung in die Baugeschichte und die technischen Einrichtungen (Waldemar Krieger und Gottfried Rost) — die seinerzeit ungewöhnlich großzügige Anlage ist noch heute fast unbegrenzt erweiterungsfähig — beschließen in glücklicher Weise den darstellerischen Teil des Buches. — Ihm folgen dankenswerterweise: eine genaue Zeittafel zur Geschichte der DB (Hans Schurig)-, die sehr ausführliche und zuverlässige, zudem übersichtlich gegliederte und registermäßig gut erschlossene Bibliographie (Albert Paust, Charlotte Alberti und Anneliese Weißenborn)-, das Namen- und Sachregister zum Textteil (Herbert Wolter) und endlich ein umfänglicher Bildteil mit 47 wertvollen oder aufschlußreichen Photographien. Während es sich bei der „Neujahrsgabe" lediglich um den (etwas gekürzten) Abdruck des gleichnamigen, nicht ohne Voreingenommenheit verfaßten Aufsatzes aus der Festschrift handelt, verdienen die „Neuen Mitteilungen" noch einen kurzen Hinweis. Die einzelnen Nrn. unterrichten in zwangloser Folge kurz und sachlich über die Aufgaben und die Tätigkeit der DB und ihrer zahlreichen Abteilungen, über Benutzung und Auskunfterteilung, Spezialsammlungen und die beiden letzten Direktoren und nicht zuletzt über die vielen bibliographischen Unternehmen und Vorhaben der Bibliothek. Die (leider ungezeichneten) Artikel mögen ursprünglich für den internen Dienstgebrauch gedacht gewesen sein, besitzen darüber hinaus aber zumeist auch für den größeren Kreis der Fachleute Interesse, weshalb ihre Drucklegung zu begrüßen ist. Die zusammenfassende Jubiläumsausgabe legt 35 der 40 bisher erschienenen Hefte, zum größeren Teil in einer überarbeiteten Neufassung, erneut vor. Im einzelnen berühren sie sich natürlich oft mit den entsprechenden Beiträgen in der späteren Festschrift, sind gelegentlich auch wörtlich in diese übernommen worden. Abschließend darf festgestellt werden, daß aufs Ganze gesehen die Deutsche Bücherei weiterhin sehr zuverlässige und nützliche Arbeit leistet, wie gerade auch die vorliegende Festschrift deutlich macht. Ihre Unausgeglichenheit und die in Teilen unterschiedliche Qualität einiger Beiträge spiegeln nichts anderes als unsere eigene zerrissene Welt wider. Z. Z. Köln Werner Scbochow SEYDEWITZ, Max: Die unbesiegbare Stadt. Zerstörung u. Neuaufbau von Dresden. 5., verb. Aufl. - Bln.: Kongreß-Verl. (1962), 387 S. mit Abb. DM 1 0 , - .

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GEBIETE

Es handelt sich um die 5. Aufl. (1961) des ehemals (1955) unter dem Titel „Zerstörung und Wiederaufbau von Dresden" erschienenen Buches des Vf.s. Noch immer, und im zeitlichen Abstand vielleicht mehr denn je, erschüttern Bilder und Berichte von der Zerstörving dieser uns so ans Herz gewachsenen Stadt. Um so mehr wendet man sich voller Ekel ab von dem politischen Mißbrauch, der hier mit dem Leid und Elend von Tausenden und dem Untergang einer der schönsten Städte Europas zum Nutzen einer üblen politischen Hetze getrieben wird. Und nicht ohne tiefstes Bedauern muß man feststellen — was eine Anerkennung der Arbeit zur Wiederherstellung historischer Bauten keineswegs ausschließt —, daß das neue, „sozialistische" Dresden mit dem alten Bild der vertrauten Stadt noch weniger zu tun hat als mancher Wiederaufbau einer zerstörten Stadt im Westen unseres Vaterlandes. Berlin

Richard Dietrich

Das schöne Bautzener Land. H. 10. — Bautzen: Rat d. Kreises, Abt. Kultur 1962. 10. Königswarha im Teichland. (Bearb.: Theodor Schütze im Zusammenwirken mit . . . 1962) 68 S. mit Abb. D M 1,80. Paul Reinhard: Neues über d. ältere Geschichte d. Salzquellen zu Altensalz. (Mit 11 Bildern.) - Bln.: Akademie-Verl. 1962. 44 S. (Best.-Nr. 2062/ D39) = Freiberger Forschungshefte D39. Kultur + Technik. D M 5,50. BEIERLEIN,

Werner, u. Gottfried R O S T : Die Deutsche Bücherei. Ein Farblichtbildervortrag über Aufgaben, Entwickig. u. Arbeitsweise d. dt. Nationalbibliothek. Aus Anlaß ihres fünfzigjähr. Bestehens bearb. Photogr. v. Herbert Strobel. — (Leipzig: Deutsche Bücherei 1962.) 27 gez. Bl. 4° (Maschinenschr. vervielf.) BERGMANN,

Karlheinz, Dr.: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. — Leipzig 1962.139 S. mit eingekl. Abb.; Anl. 4°. (Maschinenschr. vervielf.) Leipzig, Reihe F., Hab.-Schr. v. 30. Mai 1962. (NfdA.)

BLASCHKE,

CZECZOT, Ursula: Die Albrechtsburg, Meißen. (4. Aufl.) — (Meißen: Rat d. Stadt, Albrechtsburg 1962.) 35 S., mehr. Bl. Abb. D M 1,50.

Deutsche Bücherei. Dt. Nationalbibliothek. Gesamtarchiv d. in Dtschld. erschienenen Schrifttums u. d. deutschsprachigen Schriften d. Auslandes seit 1913. Zentrale d. dt. Allgemeinbibliographie. Neue Mitteilungen aus d. Dt. Bücherei. Nr. 8. 17. 20. 28. 36. 38. — (Leipzig C 1, Dt. Platz: Dt. Bücherei 1962) Nicht im Buchhdl. 8. D. Lesesäle d. Dt. Bücherei. (Überarb. Neudr.) 2 Bl. 17. Zur Vorgeschichte d. Dt. Bücherei. (Überarb. Neudr.) 2 Bl. m. Abb. 20. Der Verleger- u. Institutionenkatalog d. Dt. Bücherei. (Überarb. Neudr.) 2. Bl. 28. Das Gebäude d. Dt. Bücherei u. seine baul. Erweiterungen. (Überarb. Neudr.) 3 Bl. m. Abb. 36. Die Musikbibliographien d. Dt. Bücherei. 2 Bl. 38. Curt Fleischhack. Hauptdirektor d. Dt. Bücherei von 1955—1961. 2 Bl., 1 Bl. Abb. Beil.

LAND

SACHSEN

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50-(Fünfzig-)Jahr-Feier der Deutschen Bücherei Leipzig. 2.—6. Okt. 1962. Mitteilung 1—3. — (Leipzig: Deutsche Bücherei) 1962. 23; 28; 12 S. Ruhm d. Dt. Bücherei in Leipzig, 1912—1962. (Zum 50. Jahrestag d. Gründung d. Dt. Bücherei.) — (Leipzig: VEB Offizin Andersen Nexö 1962.) 6 Bl. 4°. Thesen zum 50. (fünfzigsten) Jahrestag der Gründung der Deutschen Bücherei. — (Leipzig: Deutsche Bücherei 1962.) 24 gez. Bl. 4°. 10 (Zehn) Jahre Bezirk Dresden. 1952—1962. — (Dresden: S(ozialistische) E(inheitspartei) Deutschlands), Agitationskommission 1962.) 20 S. Erzgebirge. Mit e. Vorw. v. Hermann Heinz Wille. — Dresden: Sachsenverl. 1962. 19 S., 48 Bl. Abb. = Unsere schöne Heimat. DM 4,80. FRÄNZEL, DM 3 , 5 0 .

Helmut: Moritzburg. — Dresden: Sachsenverl. ( 1 9 6 2 ) . 3 0 S., 3 2 Bl. Abb.

GORSKI, Günter: Sachsen 1 9 1 7 . Ein Beitr. zu d. Auswirkungen d. russ. Februarrevolution auf Deutschland. (1. 2.) — Halle 1962. XVII, 191 gez. Bl.; gez. Bl. 192 bis 460. 4°. (Maschinenschr.) Halle, Phil. F., Diss. v. 7. März 1962. (NfdA.)

Walter: Bergrat Henckel. Ein Wegbereiter d. Bergakademie. (Mit 9 Bildern) — Bln.: Akademie-Verl. 1962. 218 S. = Freiberger Forschungshefte (Reihe) D, 37. DM 20,50. HERRMANN,

Erna Hedwig: Der Dresdener Kreuzchor. — (Leipzig): Edition Leipzig 1962. 98 S. mit Abb. DM 1 3 , - . HOFMANN,

Landschaftsschutzgebiet Leipziger Auewald. (Hrsg. von Alfred Birkfeld u. Emst Suhr im Auftr. d. Bezirkskommission Leipzig d. Natur- u. Heimatfreunde im Dt. Kulturbund. Textill.: Ellinor Kluge. Fotos: Helmut Hofmeister u. a. Ktn.Skizzen: Ehrhart Kundisch.) — Leipzig: VEB Bibliograph. Institut 1962. 87 S. DM 3 , - . Ulrich: Zur Bewegung des Landproletariats und der werktätigen Bauern in der Novemberrevolution u. d. revolutionären Nachkriegskrise im Freistaat Sachsen ( 1 9 1 8 bis 1 9 2 3 ) . (1.2.) - Leipzig 1962. VIII, 210 gez. Bl.; gez. Bl. 211—484. 4°. (Maschinenschr.) Leipzig, Phil. F., Diss. v. 12. Juli 1962. (NfdA.) MANTZKE,

MENZ, Henner: Die Dresdener Gemäldegalerie. Mit 344 Abb., davon 104 Farbtaf. — München, Zürich: Droemer/Knaur (1962). 319 S. (Knaurs Galerien d. Welt). DM 19,80. Elmar: Studien zur mittleren und späten Kaiserzeit in Sachsen. (Bez. Dresden, Leipzig u. Karl-Marx-Stadt, dazu d. mittl. Kreise d. Bez. Cottbus.) — Leipzig 1962. 338, 209 gez. Bl. 4°. (Maschinenschr.) Leipzig, Phil. F., Diss. v. 2. Febr. 1962. (NfdA.)

MEYER,

Helene v.: Festliches Dresden. Die Stadt Augusts d. Starken. — Frankfurt/M.: Weidlich 1962. 2. Aufl. 191 S. mit 23 Abb. DM 14,80.

NOSTIZ,

458

BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE

GEBIETE

Ordnung des Hauptgottesdienstes in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens. Einfache Form. Orgelbegleitsätze. — (Bln.: Evang. Verl.-Anst. 1962.) Nicht im Buchhdl. Richard: Der Leipziger Thomanerchor. — Leipzig: VEB Breitkopf & Härtel (1962). 93 S. mit Abb. DM 1 3 , - .

PETZOLD,

Kurt, Prof. Dr.: Geologie von Sachsen. (Bezirke Dresden, Karl-MarxStadt u. Leipzig.) Mit 300 Abb. im Text u. e. Formationstab, im Anh. — Bln.: Dt. Verl. d. Wiss. 1962. XIV, 870 S. DM 1 2 7 , - . PIETZSCH,

Heribert: Clemens Wenzeslaus von Sachsen und seine Zeit (1739—1812). Bd. 1. — Freiburg (i. Br.), Basel, Wien: Herder 1962. 1. Dynastie, Kirche u. Reich im 18. Jh., mit e. Titelbild XXXI, 374 S., Habil.-Schrift, Mainz. DM 4 8 , - . RAAB,

Kurt Bruno: Der sächsische Bergsteiger. (Zeichn.: Christian Hasse, Fotos: W. Berndt u. a.) - Bln.: Sportverl. (1962) 288 S., 8 Bl. Abb. DM 9,40. RICHTER,

Sächsische Bibliographie. Zus.gest. von Johannes Jandt unter Mitarbeit von Dr. Friedrich Seydel. Berichtsjahr 1961. — Dresden: Sachs. Landesbibliothek 1962. XX, 211 S. DM 1 9 , - . Ernst: Das Erzgebirge u. sein Handwerk. — (Bln.:) Verl. d. Nation (1962). 87 Bl. mit zahlr. Abb. 4°. DM 18,50.

SCHÄFER,

Dieter: Torgau. Eine stadtgeogr. Studie. (Nebst Kartenbd.) — Leipzig 1962. 177, XIX gez. Bl.; Anl. 4°. (Maschinenschr. vervielft.) Leipzig: Mathemat.naturwiss. F., Diss. v. 22. Febr. 1962. (NfdA.) SCHOLZ,

SEIFERT, Siegfried: Untergang und Wiederauferstehung des Katholizismus in Sachsen. 1517—1773. — Leipzig 1962. VI, 263 gez. Bl. (Maschinenschr.) Leipzig, Theolog. F., Diss. v. 28. März 1962. (NfdA.) SEYDEWITZ, Ruth, u. Max SEYDEWITZ : Die Dresdener Kunstschätze. Zur Geschichte d. Grünen Gewölbes u. d. anderen Dresdener Kunstsammlungen. (2., verb. Aufl.) Dresden: VEB Verl. d. Kunst (1962). 384 S. m. 118 Abb. 4°. DM 34,50.

Werner: Leipzig. Ein Gang durch d. Messestadt. Einf. in d. Gesch. d. Stadt v. Dr. Heinz Füßler. (Hrsg. von Museum f. Gesch. d. Stadt Leipzig.) — Leipzig: Bibliogr. Inst. 1962. 65 S., 16 Bl. Abb. DM 3,50. STARKE,

Eberhard, Dr.: Bergarbeit zur Kaiserzeit. D. Gesch. d. Lage d. Bergarbeiter im sächs. Steinkohlenrevier Lugau-Oelsnitz in d. Jahren v. 1889 — 1914. (Kt.-Zeichn.: Karl Bienst.) — Bln.: Tribüne 1962. 459 S., mehr. Bl. Abb. = Gesch. d. Fabriken u. Werke. Bd. 9. DM 1 1 , - . WÄCHTER,

9. Die Sorben Frido: Die brandenburgisch-preußische Sorbenpolitik im Kreise Cottbus. Vom 16. Jh. bis zum Posener Frieden (1806). — Bln.: Akademie-Verl. 1962. IV, 130 S. mit 18 Taf., 1 Kt. = Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin. Veröffentlichungen d. Instituts f. Slawistik, 25. DM 38,50. METSK,

SORBEN

459

Die Veröffentlichung Metsks, der zu den eifrigsten und fleißigsten sorbischen Forschern gehört, würde Anlaß bieten, auf eine ganze Reihe von Ansichten und Feststellungen einzugehen; wir müssen uns hier auf das Wichtigste beschränken. Zutreffend unterstreicht er einleitend die Notwendigkeit, das Verhalten gegenüber den Sorben nach den ehemaligen Territorien gesondert zu behandeln. Die Behauptung, in meiner Geschichte des Wendentums (1930) sei der Unterschied zwischen der im Markgraftum Niederlausitz und im Cottbuser Kreise geübten Praxis negiert worden, trifft nicht zu (s. dort S. 112, 114 u. 123). Daß sich, von der Oberlausitz abgesehen (wo es sich ja auch um deren Kerngebiet handelt), allein im Cottbuser Kreise die sorbische Volkssprache zu einer Schriftsprache entwickeln konnte, erklärt sich sehr wesentlich aus der Tatsache heraus, daß hier, in der Mitte des einstigen sorbischen Bereichs, das Volkstum am längsten kompakt blieb. In weiteren einleitenden Ausführungen behandelt der Vf. Umfang und Besitzverhältnisse des einstigen Kreises, seine Geschichte, die staatliche und kirchliche Verwaltungsstruktur und schließlich die Nationalitätenverhältnisse. Der Anteil des sorbischen Elements im mittelalterlichen und noch im späteren Cottbus dürfte überbewertet sein, zumal bei Schlüssen aus dem Vorhandensein sorbischer Familiennamen größte Vorsicht geboten ist. Die Landbevölkerung war am Anfang des 19. Jh.s noch so gut wie rein sorbisch; sie blieb es auch noch im wesentlichen bis gegen die Mitte desselben (vgl. dazu meine demnächst in den Berichten zur deutschen Landeskunde erscheinende Arbeit: Der sorbische [wendische] Sprachbereich in der Niederlausitz in den Jahren 1846 und 1849 mit einer Karte für 1846). Den Hauptteil der Veröffentlichung bilden die Quellentexte (S. 21 —92). Sie werden in 8 Unterabschnitten mit jeweils besonderer Numerierung und für das 18. Jh., aus dem das meiste Material stammt, in der Hauptsache nach der Regierungszeit der preußischen Herrscher dargeboten. Es handelt sich um Texte aus den allerverschiedensten Bereichen der öffentlichen wie der privaten Sphäre, von Reskripten bis hin zu Spezialeingaben und Betrachtungen. M. ist offenbar bemüht gewesen, alles, was irgendwie mit seinem Anliegen im Zusammenhang stand, auch wenn es nur geringen oder kaum Aussagewert für den Komplex Sorbenpolitik selbst besitzt, zusammenzutragen. Die Zahl der Verordnungen, Patente u. dgl., die grundsätzlich das Sorbentum bzw. seine Sprache betreffen, ist gering. Wenn auch Schriftsätze und Urteile aus der Zeit der bäuerlichen Bewegungen von 1667 und 1715/16 gebracht werden, so ist zu bedenken, daß das Vorgehen gegen die Bauern nicht deshalb erfolgte, weil sie Wenden waren, sondern weil sie als Aufrührer betrachtet wurden. Weiter sind vorhanden Berichte und Urteile von Behörden wie von Privaten, Bittgesuche und Klagesachen in speziellen kirchlichen, kirchenbaulichen und PfarrerAngelegenheiten, eine pietistische Denkschrift über die Notwendigkeit einer Schulbildung für die Landbevölkerung, Gesuche um Druckbeihilfen für geistliche Schriften in wendischer Sprache und die Entscheide, Auszüge aus Ordnungen, Tabellen usw., insgesamt 86 Nummern. In dem den Texten folgenden Kommentar, Kontinuität und Schwankungen in der Sorbenpolitik Brandenburg-Preußens im Kreise Cottbus (S. 93—102), gibt M. zu, daß das ganze 18. Jh. mit Ausnahme der Jahre 1713—1740 eine Periode der Toleranz war, erklärt aber, daß seit dem ausgehenden 16. Jh. die Verfahrenslinie doch festgelegt war, nämlich tolerant in der Taktik, germanisatorisch im Endziel. Dazu ist zu sagen, daß von einer stetig und systematisch verfolgten „Sorbenpolitik" der Herrscher nicht die Rede sein kann. Eingriffe zugunsten — sie sind häufig — bzw. zuungunsten der Erhaltung der sorbischen Sprache und bei anderen Dingen erfolgten gelegentlich; es gab ja weder beim König noch bei den Behörden so etwas wie eine Abteilung für Sorbenfragen, wie sie unsere Zeit kennt. Im übrigen ignoriert M. völlig die eigentlichen auf Hebung der Volkskultur gerichteten

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BESPRECHUNGSTEIL EINZELNE GEBIETE

Bestrebungen, die natürlich aus der Zeit heraus, der die heutige Betonung des Volkstums völlig fremd war, verstanden und beurteilt werden müssen. Eine Überbewertung, ja Übersteigerung aber bedeutet es, wenn M. annimmt, daß die geübte Toleranz im wesentlichen durch Rücksichtnahme auf außenpolitische Situationen bedingt und geboten worden sei. Bei dem Großen Kurfürsten, für den er solche Situationen nicht zu finden weiß, bei Friedrich Wilhelm I., für den, weil er nicht tolerant war, sich eine derartige Begründung erübrigte, werden andere, nicht minder überspitzte Motive ins Feld geführt. So spricht M. von der „auf sozialer Ebene gegen die sorbischen Bauern des Kreises eingeleiteten Politik" des Großen Kurfürsten und meint, er habe sich augenscheinlich durch die Stärke der Bewegung sorbischer Bauern derartig beunruhigt gefühlt, daß er den Versuch unternahm, den sagenhaften „wendischen König" aufzuspüren. Friedrichs I. „neue Linie", d. h. verschiedene Maßnahmen zugunsten der sorbischen Sprache unter anscheinend pietistischem Einfluß, scheint nach M. „auch recht handgreifliche außenpolitische Gründe gehabt zu haben", und zwar im Hinblick auf die Lage des Kreises als „Brückenkopf" bei den auf Schlesien zielenden preußischen Bestrebungen und der dadurch hervorgerufenen Rivalität mit Österreich und Sachsen. „In solcher prekären außen- und militärpolitischen Situation war die staatstreue Haltung des überwiegenden Teils der Bevölkerung eines so exponierten Gebietes von nicht zu unterschätzender Bedeutung." Friedrich d. Große, so heißt es weiter, mußte am Anfang seiner Regierung und weiterhin im Hinblick auf den noch nicht gesicherten schlesischen Landzuwachs an „eine wirkliche innere Befriedung des Raumes Cottbus denken", indem er sich den Sorben gegenüber tolerant zeigte. Am Hofe Friedrich Wilhelms II. „erschrak" man schließlich über seine eigene Politik der Toleranz. Unter Friedrich Wilhelm III. aber, so wird gesagt, schien es für Preußen „angesichts der politischen Lage in Europa damals nicht ratsam, oifen von der Toleranzpolitik gegen das sorbische Volk abzugehen." Aller Groll des Bearbeiters aber richtet sich gegen Friedrich Wilhelm I. Dieser „engstirnige" Herrscher, „welcher im Wahne des fürstlichen Absolutismus glaubte, strittige Probleme allein durch Bajonette lösen zu können, ging jetzt zur offenen und brutalen Germanisierung über." M. denkt dabei an die schon längst bekannte, in meinem Wendenbuch (S. 115f.) gebrachte Weisung vom 2. Dez. 1717 an das Neumärkische Konsistorium, der ähnliche, aber bis jetzt nicht aufzufindende vorangegangen sind. Es heißt darin, aus Erwägungen des praktischen Lebens heraus, „daß durch tüchtige Schulmeister die Jugend nach und nach [von mir gesperrt] dergestalt zur deutschen Sprache gewöhnet werde, deshalb solche überall eingeführet, hingegen die wendische mit der Zeit [von mir gesperrt] sich ganz und gar verlieren möge". Von einer brutalen Germanisierungsabsicht kann hier wohl nicht die Rede sein; im übrigen haben die Verhältnisse selbst und die tolerante Haltung der späteren Könige ausgleichend gewirkt. M. bemerkt selbst, daß z. B. die geistliche Inspektion in Cottbus vieles getan habe, um die Realisierung der „radikalen" Verordnungen Friedrich Wilhelms I. gegen die sorbische Sprache zu umgehen oder wenigstens zu mildern, und weiter, daß die ethnische Stärke des Sorbentums im Kreise ungebrochen blieb und daß auch die Siedlungspolitik Friedrichs d. Großen die Nationalitätenverhältnisse kaum hat verändern können. Zwei kurze abschließende Betrachtungen behandeln die sozialen und sprachlich-ethnischen Auswirkungen der vom Hrsg. in oben angedeuteter Weise kritisierten Sorbenpolitik sowie Erwägungen zum Entstehen einer sorbischen Schriftsprache im Kreisgebiet, die Ende des 18. Jh.s in der Herausgabe geistlicher Bücher sorbischkundiger Geistlicher stärker in Erscheinung trat. Der Tafelanhang enthält 9 Dokumente in Fotokopie sowie zeitgenössische Abbildungen von Cottbus u. a. Das Bemühen M.s, das in den verschiedensten Archiven (S. 18—20) recht verstreute Quellenmaterial zusammenzubringen und darzubieten, soll

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SCHLESIEN

nicht verkleinert werden, ebenso darf ihm der ehrliche Wille, von seiner Haltung und Bindung heraus die Dinge zu beurteilen, nicht abgesprochen werden, auch wenn wir sie in vielem anders sehen und bewerten müssen. Senftenberg

Rudolf

Lehmann

A tola Serbam lipa K£e. Horsc dopomnjenkow z 50 letneho skutkowanja Domowingy. [Und dennoch blüht den Sorben eine Linde. Eine Handvoll Erinnerungen aus d. 50jähr. Wirken d. Domowina.] (Fotogr.: Kurt Hajna u. a.) — Budysin (Bautzen): Domowina 1962. 207 S. DM 3,15. ( B R A N S K A T S C H K , Achim:) Aus d. Geschichte d. Sorben u. d. Lausitz. Materialien f. d. Hand d. Lehrers. (Als Ms. gedr.) — Bautzen: Domowina 1962. 88 S. (Best.Nr. 8/12/62 B-l.) DM 1,80.

Milos: Dr. Jan Petr Jordan. Jeho Ziwienje a skutkowanje wot leta 1848. — Budysin (Bautzen): Domowina 1962. 98 S. = Schriftenreihe d. Instituts f. Sorbische Volksforschung i. Bautzen bei d. Dt. Akad. d. Wiss. z. Bln. 14. DM 6,20. SCHMIDT,

10. Schlesien Geschichte Schlesiens. Hrsg. v. d. Historischen Kommission für Schlesien. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526. 3. Aufl. — Stuttgart: Brentano-Verl. 1961. 620 S., mehr. Abb. Das 1938 zuerst erschienene, dann nochmals unverändert aufgelegte Werk, das ohne Zweifel zu den besten deutschen Landesgeschichten zu zählen ist, war seit langem vergriffen, und so werden insbesondere die Schlesier, die im Vorwort angesprochen werden, die Neuaufl. freudig begrüßen. Ich selbst tue es, wie ich gestehen muß, nur mit gemischten Gefühlen. Der Bd. ist zwar doppelt so stark wie die 1. Aufl., aber dies geht im wesentlichen zu Lasten stärkeren Papiers und der Umstellung des Satzes auf Antiqua. Am Inhalt dagegen hat sich wenig geändert. Der musikgeschichtliche Abschnitt von A. Schmitz hat unter Mitarbeit von F. Feldmann eine Überarbeitung erfahren, und ganz neu wurde die Vorgeschichte von O. Kleemann bearbeitet (früher von H. Seger, der inzwischen verstorben ist). Alles andere blieb unverändert. Das Vorwort begründet dies mit dem Tode einiger Mitarbeiter (neben Seger H. v. Loesch und E. Randt) und mit der Unzugänglichkeit der schlesischen Archive und Bibliotheken, vor allem aber damit, daß „das für das Mittelalter gezeichnete Bild im wesentlichen auch heute noch als gültig angesehen werden" könne. So erschien eine Umarbeitung „nicht notwendig", „ein äußerer Anlaß, das Werk umzuschreiben, lag nicht vor". Danach hätten der 2. Weltkrieg und seine Folgen, hätten Auschwitz und Hiroshima keinerlei Änderung unseres Geschichtsbildes bewirkt, die deutsche Forschung hätte in 20 Jahren nichts irgendwie Bemerkenswertes zur Geschichte des schlesischen Mittelalters zu sagen gehabt und die Leistungen der polnischen Forschung in dieser Zeit könnte man einfach ignorieren, ohne sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich teile diesen Standpunkt nicht und brauche dies wohl nicht näher zu begründen. Ich kann mich auch nicht einverstanden erklären, wenn noch immer für die mittelalter-

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE

GEBIETE

liehe deutsche Ostsiedlung der Ausdruck „Wiederbesiedlung" gebraucht wird. Daß auf Anmerkungen verzichtet wird, wie schon in der 1. Aufl., ist verständlich, wenn es auch im Interesse der Überzeugungskraft des Werkes außerhalb Deutschlands und vom Standpunkte des Fachhistorikers aus wünschenswert gewesen wäre, in einem Anhang mit der Begründung der vorgetragenen Auffassungen wenigstens in gröbsten Zügen bekannt gemacht zu werden. Weniger verständlich ist, daß ein Verzeichnis der wichtigsten Literatur und ein Register wiederum fehlen. Ein wirklicher Fortschritt ist das neue vorgeschichtliche Kapitel, das in sehr klarer Weise den Stand der Forschung, aber auch die Grenzen unserer bisherigen Kenntnis aufzeigt. Nur zu dem den Slawen gewidmeten letzten Abschnitt, für den auch Schriftquellen benutzt werden mußten, darf ich mit einige Bemerkungen erlauben. Die Datierung des sog. Bairischen Geographen wird heute vor 876 angesetzt (S. 87), ganz Böhmen wurde nicht bald nach 900 (S. 90), sondern erst 995 politisch geeint, und die Bemerkung Thietmars über den Namen Nimptsch bedeutet weiter nichts als einen etymologischen Deutungsversuch des gelehrten Bischofs (S. 90). An der Tatsache des Vorhandenseins eines „die Deutschen" bedeutenden Ortsnamens schon zu Beginn des 11. Jh.s ändert dies freilich nichts. Der Name Mieszkos sollte nicht in der m. W. nirgends überlieferten Form Misika wiedergegeben werden, (bei Thietmar steht Miseco, bei Widukind Misaca), und die Erörterungen über die angeblich wikingischen Züge seiner Staatsgründung (S. 93) sind in einer Geschichte Schlesiens nicht unbedingt nötig, während wikingische Funde in Schlesien natürlich als solche gekennzeichnet werden müssen, wie dies auch geschehen ist. Uber die hohe wissenschaftliche Qualität der übrigen, unveränderten Beiträge erübrigt sich jede Bemerkung, sie ist seit 1938 bekannt. Frankfurt!Main

Walter

Schlesinger

SCHULTZE, Erich: Der Anteil des evangelischen Schlesien an der Weltmission. — Ulm: Verl. Unser Weg 1962. 214 S. = Das evangel. Schlesien, hrsg. v. Gerhard Hultsch, 5. DM 19,50. Wie eng Schlesien mit der Reformation zusammenhängt, das ist jedem Kenner der Kirchengeschichte gut bekannt. Der vorliegende Bd. geht den Spuren evangelischen Lebens in seiner Verbindung mit der sog. Äußeren Mission nach, dabei sehr richtig auf die Anfänge durch den Pietismus zurückgehend, wobei natürlich der erste Missionar, Bartolomäus Ziegenbalg, ein Schlesier, seine besondere Erwähnung finden muß. Der inzwischen hochbetagt verstorbene Vf. des Bd.es hat seine Aufgabe hervorragend gelöst. Man empfängt ein geschlossenes geschichtliches Bild der mannigfachen Beziehungen Schlesiens zu den verschiedenen Werken der Äußeren Mission. Die Darstellung geht zeitlich bis z. J. 1945. Dabei fällt allerdings auf, daß der Kirchenkampf, der auch in Schlesien stark zur Entfaltung kam und auch hart in die Missionswerke hineinwirkte, so gut wie gar keine Erwähnung findet. Nur an einer Stelle, wo der im Kirchenkampf überaus tapfere heutige Bischof Hornig erwähnt wird, heißt es sehr knapp, daß er die Leitung des Breslauer Hilfsvereins niedergelegt habe, der Grund habe im inzwischen hell entbrannten Kirchenkampf gelegen (S. 61). Dabei sei noch auf ein wahrscheinlich drucktechnisches Versehen hingewiesen: Hornig, der im Inhaltsverzeichnis erscheint, wird auf S. 52 bei der Aufzählung der Vorsitzenden des Breslauer Hilfsvereins weggelassen, erhält im Text allerdings eine knappe Darstellung, wodurch jedoch die Zählung durcheinander kommt. Ein anderes drucktechnisches Versehen sei angemerkt: Auf S. 37 lautet die Überschrift

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SCHLESIEN

etwas anders als in der Aufzählung im Inhaltsverzeichnis. — Sonst wird man für diese sachlich-nüchterne Darstellung dankbar sein können, weil sie Dinge festhält, die nur zu leicht dem Vergessen anheimfallen und deren Bedeutung doch über eine Lokalgeschichte hinausgeht. Berlin Karl Kupisch BUNZEL, Ulrich: Schlesien lebt. Zeitungen, Zeitschriften u. Rundbriefe d. schles. Heimatvertriebenen. — Würzburg: Holzner 1963. 77 S. = Ostdt. Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis. Bd. 25 = Der Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichung Nr. 268. DM 4,50. Diese bibliographische Zusammenstellung will primär „auf die Quellen hinweisen, die uns die Erinnerung an unsere Heimat in den deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße lebendig zu erhalten berufen sind" (S. 16). Zu diesem Zweck verzeichnet sie in lockerer systematischer Abfolge 333 seit 1945 erschienene oder noch erscheinende Zeitschriften — 144 von ihnen haben inzwischen ihr Erscheinen wieder eingestellt —, die von Schlesiern oder schlesischen Heimatverbänden, namentlich konfessionell getragenen, veranlaßt oder herausgegeben worden sind oder noch werden. Ihr Wert ist naturgemäß sehr unterschiedlich, mitunter recht begrenzter, wenn nicht gar problematischer Natur, wie etwa die von W. Steller verfaßten und in offenbar nicht geringer Aufl. verbreiteten Mitteilungsblätter (hier S. 25). 1 Überdies „erschien" ein Teil von ihnen lediglich in hektographierter Form oder ist anderen Publikationsorganen beigelegt. Gerade deshalb aber mag es vor allem späterhin von Nutzen sein, eine zusammenhängende dokumentarische Übersicht über die von den Vertriebenen in diesen Jahren auf diesem Gebiet entfaltete Aktivität zu besitzen. Leider sind unverständlicherweise und ohne Angabe von Gründen (s. S. 19) gerade die wissenschaftlich bedeutsamsten Periodica, nämlich die Jahrbücher (zumal das der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität), unberücksichtigt geblieben. Im übrigen hat der Bearb., wie sein Revisionsbericht darlegt, weder Zeit noch Mühen gescheut, um halbwegs ausreichende oder gar vollständige bibliographische Angaben bieten zu können. Außerdem hat er dem Ganzen sowie jedem einzelnen Abschnitt knapp informierende allgemeine Bemerkungen vorangestellt, die unter anderem auf Inhalt und nähere Absichten einzelner Titel und auf die Bezugsmöglichkeiten hinweisen. Z. Zt. Köln

Werner Schochorv

GOERLITZ, Theodor (T): Verfassung, Verwaltung und Recht der Stadt Breslau. Tl. 1: Mittelalter. Hrsg. im Auftrag der Histor. Kommission f. Schlesien v. Ludwig Petry. - Würzburg: Holzner 1962, VIII u. 155 S., 3 Taf. = Quellen u. Darstellungen z. schlesischen Geschichte, Bd. 7. DM 17,40. Aus dem Nachlaß von Th. Goerlitz, dem verdienstvollen Breslauer Rechtshistoriker 1949), erscheint nun der 1. Teil einer Breslauer Verfassungs- und Rechtsgeschichte, von den Anfängen bis zur Steinschen Städtereform, die ursprünglich für die Festschrift zur 700-Jahr-Feier (1941) vorbereitet worden war. G., dem wir das Buch über die schlesischen Oberhöfe (1938) und zahlreiche weitere Arbeiten und Artikel zur schlesischen Rechtsgeschichte verdanken, hat mit dieser Arbeit der deutschen Stadtgeschichtsforschung eine letzte bedeutsame Gabe dargebracht. Eine größere Lücke im Ms. für die habsbur1

Vgl. W. H. Fritze in diesem Jahrbuch 9/10 (1961), S. 293ff.

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gische Zeit (1526 — 1740) wird der Hrsg. mit Hilfe eigener älterer Arbeiten und zusätzlicher Studien schließen. Der kritische Apparat wurde von Petry erheblich ergänzt, das Ganze ist mehrfach überprüft worden. So ist „ein Höchstmaß an Belegung und Nachprüfbarkeit" erreicht worden, das bei diesem Bd. besonders erwünscht ist, weil G. zahlreiche ungedruckte Quellen vornehmlich des Stadtarchives ausgewertet hat, die nunmehr unzugänglich oder verloren sind. Insgesamt entstand eine sehr dichte und quellennahe Darstellung, um die man die künftige Breslauer Stadtgeschichtsschreibung beneiden darf, in der jedoch die Analyse der Rechtsinstitute vorherrscht, während die Ursachen der Wandlungen in Verfassung, „Verwaltung" und Recht weniger beachtet werden. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis wird zweckmäßigerweise erst dem 3. Bd. beizugeben sein. Der ausschließlich von G. stammende Text dieses 1. Teiles umfaßt 15 Kap. und ist mehr systematisch als chronologisch gegliedert. G. setzt ein mit den staatsrechtlichen Grundlagen, mit der Darstellung der Stadtgründungsepoche (dazu ein Stadtgrundriß, Taf. 1), behandelt dann die Magdeburger Rechtseinflüsse, die Erweiterung und Abgrenzung des Stadtbezirks und die städtischen und landesherrlichen Gerichte. 1337 wird die Stadt von dem Landgericht ( = „Burggrafengericht", „Vogtding im Weichbild") und vom Zaudengericht ( = Rest des poln. Kastellaneigerichtes) eximiert. Schon 1329 hatte die Stadt die beiden Erbvogteien ( = Lokatorengerichte) erworben. Das nunmehrige Stadtgericht setzte sich damit im Bereich der Bannmeile (Taf. 3) weitgehend durch — eine Entwicklung, die in den Grundzügen der in den Nachbarterritorien gleicht. Doch stellt G., soweit erkennbar, nicht die Frage nach dem Ausmaß der Konkurrenz der geistlichen Gerichtsbarkeit, des Offizialats in Breslau. Anschließend (S. 34ff.) werden die Ratsund Schöffenkollegien untersucht. Kap. 6 ist der „Finanz- u. Abgabenverwaltung" gewidmet, und auch in Kap. 7 („Bauverwaltung, Polizeiverwaltung . . .") zögert G. nicht, die moderne Terminologie (vgl. auch S. 67) heranzuziehen. Kap. 8 („Monopol u. Betriebsverwaltungen") behandelt den Übergang von Dukalien (Schrotrecht, Salzhandel, Brauereiu. Mühlenrechte) auf die Stadt sowie die Ziegel- und Kalkgewinnung. Die Darstellung der Landeshauptmannschaft des Fürstentums in den Händen des Rats (1361—1635) ließe sich wohl noch vertiefen (Kap. 9, S. 76—79), ihre Bedeutung für die Machtstellung der Stadt wird nur erwähnt. Im 10. Kap. (S. 80 — 104) werden die Gerichtsbarkeit des Rates allgemein, die freiwillige Gerichtsbarkeit, der Rechtsgang und die beiden Gerichte für Privilegierte, das oben erwähnte Landgericht und das damit personell eng verbundene „Mannrecht" (iudicium curiae) sowie der als Oberhof des „Mannrechts" wirkende Sechserausschuß (1346ff.) erörtert. Dieses Kap. ist das qualitative und quantitative Herzstück des 1. Teiles und bietet ein überzeugendes Ergebnis 40jährigen Bemühens des Vf.s um die Probleme der Breslauer Gerichtsverfassung. In den Kap. 11—14 geht G. einigen spezielleren Fragen nach (Geleit des Rates, Breslau als Oberhof, Breslauer Recht u. Rechtsliteratur). Im Schlußkap. gibt G. dann noch eine knappe Übersicht über die Stadt- und Schöffenbücher, bei denen sich im Gegensatz zu einigen anderen ostdt. Städten keine Mischformen herausgebildet haben, weil die dem Rat unterstehenden Schöffen lediglich „Schöffenbriefregister" führen durften. Der Sache nach bestand freilich auch dort Konkurrenz zwischen Rat und Schöffen bei Immobiliarauflassungen (S. 83 f.). Wer aus eigener Erfahrung weiß, welche mitunter wenig dankbare Aufgabe es ist, wertvolle Nachlaßmanuskripte zum Druck zu befördern, wird die Arbeit des Hrsg.s besonders hochschätzen. Mögen die beiden anderen Teile recht bald folgen. Berlin

Gerd

Heinrich

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SCHLESIEN

Gieraths, Günther: Breslau als Garnison und Festung 1241—1941. Mit Plan der Belagerung 1806. — Hamburg: H. G. Schulz. 50 S. = Forschungen und Urkunden zur Heeresgeschichte, 1. DM 7,50. Die vorliegende Arbeit behandelt nicht nur wehrhistorische Fragen, sondern muß ebenso auch als ein in der gegenwärtigen Zeit unwiederholbarer Beitrag zur schlesischen Landesgeschichte gewertet werden, da der Vf. bei der Entstehung seiner Untersuchung, die als Beitrag für die Festschrift zur 700-Jahr-Feier Breslaus gedacht war, die damals noch verfügbaren Archivalien verwerten konnte. In methodisch strenger Form führt der Vf. mit klaren, knappen Sätzen durch die Baugeschichte der Festungswerke und ihre verschiedene Bewaffnung, ordnet sie ein in die Kriegsereignisse der für Breslau als Festung bedeutendsten Zeit von 1741 bis 1813 und schließt mit einer chronologischen Aufstellung der wechselnden Truppenteile, die Breslau als Garnison von 1741 bis 1933 beherbergte. Ausführlicher Anmerkungsapparat und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis erhöhen den Wert dieser gediegenen Untersuchung. Sie bringt trotz ihres geringen Umfangs eine Fülle von Tatsachen, ohne an Übersichtlichkeit einzubüßen und kennzeichnet damit zugleich das umfassende wehrhistorische Wissen des Vf.s. Hamburg

Albrecht

Lampe

Bukowski, Marcin: Katedra wroclawska. Architektura. Rozwöj — zniszczenie — odbudowa. [Der Breslauer Dom. Die Architektur. Entwicklung — Zerstörung — Wiederaufbau.] - Wroclaw: Ossolineum 1962. 268 S., 264 Abb., 23 Grundrisse u. Schnitte. 4°. zh 1 0 0 , - . Der für den Wiederaufbau des Breslauer Domes verantwortliche Architekt, dem wir u. a. auch ein großes Werk über das Breslauer Rathaus (1958) verdanken, legt hier eine Monographie über den Breslauer Dom vor. Ihr Schwergewicht liegt naturgemäß im 2. Teil, der ausführlich Zerstörung und Wiederaufbau dieser Kathedrale schildert. In den vorangehenden baugeschichtlichen Kapiteln sind vor allem die Ausführungen über den romanischen Vorgängerbau wichtig. Haben doch die Ausgrabungen der Jahre 1946 — 1947 unsere Kenntnis dieses romanischen Doms wesentlich erweitert und auch zur Freilegung der Krypta geführt. Für die Probleme des Wiederaufbaus ist auch die nachmittelalterliche Geschichte des Domes recht bedeutsam. Bei dem Brand von 1633 z. B. gingen die gotischen Gewölbe des Langhauses verloren; sie wurden später durch gotisierende Barockgewölbe ersetzt. Die Zerstörung am Ende des 2. Weltkrieges wird vom Vf. sehr ausführlich mit Abbildungen, Grundrissen und Schnitten dokumentiert (leider sind die zahlreichen Abbildungen des Buches drucktechnisch sehr mangelhaft). In der Osternacht 1945 fielen die brennenden Turmspitzen auf das Dach des Domes und lösten einen Brand aus, dem zwischen Türmen und Ostgiebel Dach und Gewölbe im Mittelschiff fast völlig, bei den Seitenschiffen und Kapellen etwa zur Hälfte zum Opfer fielen. In der Südwand des Hauptschiffes waten durch Beschuß zwei große Breschen entstanden; Explosionen hatten überdies Risse verursacht. Strebepfeiler und Pfeiler im Schiff waren zu erheblichem Teil beschädigt oder durch Brand geschwächt. Im Westen waren die Türme zwar ausgebrannt, sonst aber einschließlich der Vorhalle und ihres plastischen Schmucks erhalten. Da der Ostgiebel den Brand aufgehalten hatte, blieben die östlich anschließenden Teile, also vor allem der Kleinchor und die beiden Barockkapellen, im wesentlichen unversehrt. Der Wiederaufbau vollzog sich 1945 bis 1951 in mehreren Etappen und war, wie erwähnt, von Ausgrabungen begleitet. An Stelle des verbrannten hölzernen Dachstuhls wurde 30 Jahrbudi 12

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BESPRECHUNGSTEIL

EINZELNE

GEBIETE

ein leichterer Dachstuhl aus Stahl aufgesetzt. Da man keine Anhaltspunkte dafür hatte, wie das 1633 zerstörte Mittelschiffsge wölbe aussah, entschloß man sich, das gotisierende Barockgewölbe an Hand eines verbliebenen Restjoches zu rekonstruieren. Durch den Brand des Chorgestühls war es 1945 offenbar geworden, daß sich dahinter spitzbögige Arkaden befanden, die in der 2. Hälfte des 19. Jh.s vermauert worden waren. Man hat nun diese Arkaden geöffnet und dadurch die ursprüngliche Raumwirkung des Chores (mit Blick in den Umgang) wiedergewonnen. Außerdem hat man überall die Tünche, die durch Brand und Witterungseinfluß großenteils schon abgefallen war, entfernt und dem Innenraum dadurch die ursprüngliche, vom Backstein bestimmte Farbwirkung zurückgegeben. Das alles war in den Grundzügen in Deutschland bereits bekannt, doch liegt nun erstmalig eine ausführliche, fachmännische und reich dokumentierte Darstellung vor, die auch die gesamte Dominsel einbezieht. Die zahlreichen Anmerkungen wachsen sich mehrfach zu selbständigen Exkursen aus. Wichtig ist z. B. Anmerkung 131 (S. 218—228); sie gibt einen sehr interessanten, von aufschlußreichem Bildmaterial begleiteten Uberblick über die Zerstörung von Baudenkmälern in der historischen Innenstadt Breslaus. Die reichhaltige Bibliographie läßt keine wesentlichen Arbeiten aus. Nur der Vollständigkeit halber könnte man sie noch um einige Titel ergänzen, z. B. den bebilderten Bericht von J. Kaps in „Das Münster" 1957 (S. 431—432) oder den Bonner Bericht von H. Ullrich „Das Schicksal der Bau- und Kunstdenkmäler in den Ostgebieten des Deutschen Reiches und im Gebiet von Danzig" (2. Aufl., Bonn/Berlin 1963). MarburgjLahn

Ewald

Behrens

HECK, Roman: Zjazd Glogowski w 1462 R. [Die Zusammenkunft in Glogau 1462.] - Breslau 1962. 92 S. zl. 6 , - . Vf. schildert eingehend die Vorgeschichte und die Verhandlungen selbst, die zwischen Georg Podiebrad von Böhmen und König Kasimir von Polen 12 Tage lang Ende Mai 1462 in Glogau stattfanden. Obwohl Böhmen und Polen viele politische Streitpunkte hatten, da die Jaggiellonen die Nachfolge auf dem böhmischen und ungarischen Thron anstrebten und die schlesischen Gebiete Sewerien, Zator und Auschwitz zurückforderten, während umgekehrt Georg Podiebrad die Bindung Polens in dem Kampf mit dem Deutschen Orden für sich ausnutzen wollte, führte beide Parteien schließlich der Gegensatz zu Kaiser und Papst zusammen. Denn das Reich und die Kirche unterstützten den Deutschen Orden gegen Polen und sprachen Georg Podiebrad als Utraquisten das Recht auf die böhmische Krone ab. Vf. versucht, den Inhalt der Verhandlungen in Glogau zu rekonstruieren. Da der offizielle Vertrag vom 27. Mai 1462 das Wesen der Verhandlungen nicht erkennen läßt, werden zeitgenössische Kommentare, besonders aus Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau und aus der politischen Korrespondenz Johann Kitzings mit dem Rat von Breslau herangezogen. Keine der beiden Parteien konnte sich für die Sache der anderen fest engagieren; so blieb die Zusammenkunft in der Hauptsache eine antipäpstliche und antikaiserliche Demonstration. Berlin Hans Branig HECK, Roman: Szkice Legnickie. [Liegnitzer Skizzen.] — Wroclaw: Ossolineum 1962. 221 S. zl. 2 5 , - . Diese Skizzen sind als 1. Bd. einer fortlaufenden Veröffentlichung des Vereins der Freunde der Wissenschaften in Liegnitz gedacht. Die darin enthaltenen Aufsätze wenden

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SCHLESIEN

sich an eine breitere Leserschicht „zur Bildung des kulturellen Lebens und zur Anregung für einen gesunden Lokalpatriotismus". Das Buch enthält folgende Aufsätze: J. Kazmierc^jk und Z. Trudxjk, Aus der Vorgeschichte des Landes Liegnitz; J. Domanski, Polnische Siedlungsnamen im Kreis Liegnitz; K. Bartos^ewski, Die Schlacht bei Liegnitz in der (polnischen) schönen Literatur; W. Turon, Kurzbiographien einiger Liegnitzer Piasten; J. Lepiarczyk, Die Grabkapelle der Liegnitzer Herzöge; J. Minkiewicz, Polnische Soldaten auf Liegnitzer Boden in Napoleonischer Zeit; I . P r e s s l e r , Die Selbstverwaltung in Liegnitz 1945 — 1950; A. Ro^bicki, Erinnerungen aus einem Dorf bei Liegnitz (von einem polnischen Ansiedler nach 1945); H. Bobomka, 15 Jahre Pädagogisches Lyzeum in Liegnitz 1946 — 1961; Z. Bias^ak, Bevölkerungsstatistik von Liegnitz 1955 — 1959; E. Kob^daj, Das Staatsarchiv in Liegnitz; T. Gumifiski, Der Verein der Freunde der Wissenschaften in Liegnitz. Alle Aufsätze sind im Sinne der polnischen Propaganda gehalten, die Schlesien als urpolnisches Land ansieht. So wird z. B. die germanische Besiedlung Schlesiens in drei Zeilen als Durchzug einiger Stämme im 4. und 5. Jh. abgetan (S. 21), und die Herzöge von Liegnitz werden nur als bedeutsame Glieder, die Liegnitz mit Polen verbunden haben, dargestellt (S. 82). Berlin

Hans Branig

Jan Evangelista PurkynS. Hrsg. von der Presseabteilung des Ministeriums für Gesundheitswesen in Prag im Staatsverlag für medizinische Literatur. Prag 1962. 143 S., zahlr. Abb. Das Buch enthält zwei Beiträge, eine Biographie des Gelehrten von dem Brünner Physiologen Vladislav Kruta und eine Darstellung der Weltanschauung Purkinjes von Mikulas Teich. Die Arbeit von Teich zeigt in marxistischer Parteilichkeit die Bedeutung P.s für die tschechische Nationalbewegung. Die von Kruta verfaßte Biographie zeichnet sich durch eine hervorragende Kenntnis der Quellen und der Literatur aus. Die Darstellung gibt auch dem Leser, der nicht mit der Problematik der Physiologie des 19. Jh.s vertraut ist, einen guten Einblick in die Leistungen dieses Naturforschers. Neben der wissenschaftlichen Tätigkeit werden auch die Bestrebungen P.s für die tschechische Nationalkultur hervorgehoben. Der Autor versteht es, an Hand von familiären Quellen dem Leser ein abgerundetes Bild von der Persönlichkeit P.s zu geben. Berlin

Manfred

Stür^becher

HALLER, Rudolf: Eichendorffs Balladenwerk. — Bern, München: Francke 1962. 115 S. DM 11,80. Nicht nur in der Eichendorff-Forschung ist die Beschäftigung mit der Ballade seit langem in den Hintergrund getreten. Gleiches gilt für die Geschichte der Gattung in ihrem gesamten Verlauf. Uberall fehlt es an neueren Einzeluntersuchungen. Solange sie nicht in größerer Anzahl vorliegen, kann man kaum hoffen, daß Wolfgang Kaysers „Geschichte der deutschen Ballade", zu deren Neubearbeitung er selbst nie mehr Zeit gefunden hat, eine würdige Nachfolge erfährt. Um so dankbarer müßte jede Arbeit begrüßt werden, die sich nicht scheut, einem als unzeitgemäß empfundenen Thema ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Sonderart der Balladendichtung Eichendorffs in ihren Stoffgebieten, ihren Gestaltungsformen, ihren weltanschaulichen und religiösen Aussagen zu erkennen, ihr 30*

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Verhältnis zur reinen Lyrik und zur Erzählkunst des Dichters zu bestimmen, literargeschichtliche Voraussetzungen und Folgen aufzuzeigen, das alles sind Aufgaben, die dem tieferen Verstehen des Dichters und einer schärferen Profilierung der Gattungsgeschichte zugleich zu dienen vermögen. R. Haller stellt an den Anfang eine Chronologie der Balladen und Romanzen, die er aus den Arbeiten von Hilda Schulhof zur historisch-kritischen Ausgabe übernommen hat. Das folgende Kapitel „Thematik" befaßt sich dann vornehmlich mit einer deutlicheren Unterscheidung des religiösen Gehalts in den zwei Hauptschaffensperioden, womit der Vf. der heute vielfach vertretenen These von einer „Wende" Eichendorffs um 1815 folgt. Liebe und Natur, die beiden bei E. jedes Menschenleben schicksalhaft bestimmenden Mächte, erfahren diesseits und jenseits der „Wende" eine nahezu gegensätzliche Wertung. An den „Darbietungsformen" wird das Vorherrschen des Lyrischen in den Balladen E.s am offensichtlichsten. Immer handelt es sich um eine Ich-Aussage des Dichters, auch dann, wenn er sich der Form des Rollengedichts bedient oder in der Weise des Verallgemeinerns durch Figuren wie den Ritter, den Jäger oder den Spielmann nach Objektivierung strebt. Die Untersuchung des „Geschehens" zeigt das fast völlige Fehlen des dramatischen Moments, während epische Züge dem vorwaltend Lyrischen durch den Wechsel der szenischen Situation ein Entfalten in der zeitlichen Folge gewähren können. Das hat sein Vorbild in den balladenhaften Volksliedern des „Wunderhorns". Für die „örtlichkeit", den Schauplatz der Balladen, ist der „Unbestimmtheitsfaktor" kennzeichnend. Chiffren, Formeln, Allegorien, auch Symbole — wie der Waldesgrund, der Garten, die Tageszeiten — sind Elemente des Landschaftsbildes. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist gefühlsbestimmt (der Vf. sagt mißverständlich „sentimental"): Sie folgen dem Anruf der Natur, auch wenn er sie ins Verderben zieht. In der Begegnung mit Naturwesen objektiviert der Dichter die Teilhabe des Menschen am Lebensgeheimnis, er gestaltet seelische Vorgänge aus der Tiefenschicht des Unbewußten. Der naturmagische Vorgang vollzieht sich in der Zeitlosigkeit. Wo die „Zeit" am Verlauf des Geschehens Anteil hat, ruft sie erinnerte Vergangenheit herauf. E.s historisches Zeitgefühl ist das der verlorenen Heimat. Als einziges historisch festgelegtes Ereignis erscheint in seiner Balladendichtung die französische Revolution. Die an W. Kaysers Klassifizierung der Balladengruppen wegen ihrer Vermischung formaler und gehaltlicher Unterscheidungsmerkmale geübte Kritik enthält keinerlei neue Gesichtspunkte; sie bringt nur Erweiterungen und Ergänzungen. Wenn als E.s besondere Leistung bezeichnet wird, daß er den Menschen in die Situation einer entscheidenden Begegnung stelle, so läßt sich genau das gleiche von Goethe und zahlreichen anderen Balladendichtern sagen. Es ist ganz einfach eine Gattungsforderung. Das Schlußkapitel beschäftigt sich, angeregt durch R. Alewyns Aufsatz „E.s Dichtung als Werkzeug der Magie" (Neue dt. Hefte 43, 1958, S. 977ff., und in: „Eichendorff heute", hrsg. v. P. Stöcklein, München 1960, S. 7 ff.), mit E.s Auffassung vom Wesen und Beruf des Dichters, wie sie in dem Roman „Dichter und ihre Gesellen" und in den späten literarhistorischen Schriften formuliert wird. Ein Bezug zur Balladendichtung wird nicht aufgewiesen. Der Vf. äußert in seinem Vorwort selbst die Befürchtung, seine Methode könne als veraltet empfunden werden. Er bedient sich eines aufzählenden Verfahrens, indem er Entsprechungen, Ähnlichkeiten und Varianten in langen Folgen aneinanderreiht. Das wirkt ermüdend und bleibt auch oft am Uncharakteristischen hängen. Interpretationen einzelner Balladen fehlen ganz. Noch nachteiliger werden der Arbeit stilistische Mängel, die dem Leser namentlich in den ersten Kapiteln kaum erträgliche Banalisierungen zumuten. Wenn irgendwo in unserem wissenschaftlichen Schrifttum sprachliche Sensibilität

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erwartet werden darf, dann doch wohl bei der Beschäftigung mit sprachlichen Kunstwerken. Gießen Adalbert Eischenbroich Joachim: Gerhart Hauptmann. — Bln.: Colloquium-Verl. (1962). 96 S. = Köpfe d. XX. Jahrhunderts. Bd. 27. DM 5,50.

SEYPPEL,

Der Versuch, Werk und Person Gerhart Hauptmanns in Form einer zugleich werbend einführenden und kritisch resümierenden Porträtstudie darzustellen, stößt auf Schwierigkeiten, mit denen sich der Vf. nicht rechtzeitig und detailliert genug vertraut gemacht hat. Er beschäftigt sich allzu ausführlich mit den Einflüssen von Heimat, Herkunft und literarischen Anregern auf das Frühwerk H.s. Bruch und Wende, die um 1910 in Thematik und Stil der weiterhin reichlich quellenden Produktivität des Hocharrivierten erkennbar werden, berücksichtigt Seyppel nicht konsequent genug bei seiner Bemühung, die teils unwillkürlich-läßliche, teils willentliche Stimmenthaltung H.s vor den großen politischen Aufgaben und Entscheidungen der 20er und 30er Jahre zu analysieren. — Der bedenkenlose Gebrauch von Klischeeverben, wie „sich auseinandersetzen", „nachvollziehen" und „erfolgt", beeinträchtigt ärgerlich das sprachliche Niveau der sonst zu größeren Teilen recht sorgfältig geschriebenen Monographie. Berlin Berthold Walter Hermann: Gedenkrede auf die Universität Breslau. In der Universität Köln am 24.11.1961. - Krefeld: Scherpe 1962. 28 S. = Kölner Universitätsreden, 29. DM 2,80.

AUBIN,

EBERMAYER, Erich: Hauptmann. Eine Bildbiographie. (Fotos: Benvenuto Hauptmann u. a.) — München: Kindler 1962.143 S. (Kindlers Bildbiographien) DM 15,80.

Emil: Böhmen, Mähren, Schlesien und das Reich. Vortrag. (Als Ms. gedr.) — (Wald-Kraiburg/Obb., Eichendorffstr. 5a: Arbeitsgemeinschaft Sudetendt. Erzieher e.V. 1962.) 16 S. Nicht im Buchhdl. DM 1 , - .

FRANZEL,

GRÜNEWALD, Johannes: Beiträge zur Kirchen- u. Pfarrergeschichte von Neukirch an der Katzbach. — (Ulm/Donau: Schlesische Evangelische Zentralstelle) 1962. S. 7—39. Aus: Jahrb. f. Schlesische Kirchengesch. 1962.

Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Eine Gedächtnisausstellung d. Dt. Literaturarchivs zum 100. Geburtstag d. Dichters im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N., vom 13. Mai bis 31. Okt. 1962. (Katalog: Bernhard Zeller in Verb, mit . . . Mit Originalbeiträgen von C. F. W. Behl u. a.) — (Marbach a. N.: SchillerNationalmuseum 1962.) 391 S. mit Abh. = Sonderausstellungen d. Schiller-Nationalmuseums Katalog-Nr. 10. Nicht im Buchhdl. DM7, — . Erich: Die katholisch-theologische Fakultät der Universität Breslau 1811-1945. - Köln: Wienand 1962. 219 S. mit zahlr. Abb. DM 16,80.

KLEINEIDAM,

Herbert: Ratibor. Stadt im Schlesischen Winkel. — Leverkusen: (Stadtverwaltung) 1962. 47 S. mit Abb. Nicht im Buchhdl.

HUPKA,

Leben in Schlesien. Erinnerungen aus 5 Jahrzehnten von Wolfgang Jaenicke u. a. Hrsg. v. Herbert Hupka. — München: Gräfe & Unzer 1962. 310 S. DM 19,80.

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GEBIETE

LUBOS, Arno: Valentin Trozendorf. Ein Bild aus d. Schles. Kulturgeschichte. — (Ulm/Donau): Verl. Unser Weg (1962). 63 S., 1 Titelbild. DM5,90. MARSCHALL, Werner: Die ältesten Kirchenpatrozinien des Archidiakonates Breslau. (Von d. Anfängen d. Christianisierung bis zum Mongolensturm 1241) u. in ihnen sich widerspiegelnden Einflüsse kirchl., polit. u. volkl. Art (1. 2.) — Freiburg i. Br. 1962. 230 gez. Bl.; gez. Bl. 232-375. 4°. (Maschinenschr.) Freiburg i. Br., Theol. F., Diss. v. 16. Febr. 1962. (NfdA.) MITZKA, Walther: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 1, Lfg. 1. — Bln.: de Gruyter (1962). 4°. 1, Lfg. 1. 1. Einführung, Bibliographie, A—Auerhahn. 56 S. mit Ktn. DM16, — . RISTER, Herbert: Schlesische Bibliographie. Im Auftr. d. Hist. Kommission f. Schlesien bearb. 1928—1934, T . B . — Marburg/Lahn (Behringweg 7: JohannGottfried-Herder-Institut) 1962. 4° (Maschinenschr. autograph.) = Einzelschriften d. Hist. Kommission f. Schlesien. 7 = Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte u. Landeskunde Ost-Mitteleuropas. Nr. 60. 1928-1934. T.B. B. Nr. 7997-15181 (Geschichte, Parteiwesen, Orts- u. Landschaftsgeschichte, Wirtschaft, Sozialgeschichte, Gesundheitswesen u. Sport, Recht u. Verwaltung, Heerwesen, geistiges Leben.) IX, 418 S. D M 2 4 , - . SIEBER, Helmut: Burgen und Schlösser in Schlesien. Nach alten Stichen. — Frankf./M.: Weidlich 1962. 260 S. mit zahlr. Abb. = Burgen, Schlösser, Herrensitze. Bd. 35. DM 16,80. Trachenberg in Schlesien. 1253 — 1953. 700 Jahre dt. Stadt. (Gedenkschrift hrsg. anläßl. d. 700-Jahr-Feier d. Stadt am 17. Juni 1962. Zus.gest. v. Robert Samulski.) — Springe a. Deister: Heimatkreisgemeinschaft Militsch-Trachenberg 1962. 83 S. m. Abb. Nicht im Buchhdl.

11. Rand- und Zwischengebiete THOMSON, Erik: Baltische Bibliographie 1945—1956.1957—1961 und Nachträge 1945-1956. - Würzburg: Holzner 1957-1962. X, 218 S.; VI, 150 S. = Ostdt. Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis. Bd. 5 u. 23 = Der Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichung 173 u. 269. DM 12, — ; 12, — . Die vorliegende Bibliographie will in dem Bestreben, „die pietätvolle Beziehung der Vertriebenen und ihrer Nachkommen zur Väterheimat im Osten seelisch zu stärken und das Bewußtsein landsmannschaftlicher Gemeinschaft zu beleben" (so Max H. Boehm in seinem Geleitwort S. VI), „in erster Linie Rechenschaft ablegen über den deutsch-baltischen Beitrag zum Geistesschaffen unserer Gegenwart" (Thomson, S. X). In dieser einschränkenden Zielsetzung liegt ihr Wert wie auch ihre Begrenzung. Die zwei hier anzuzeigenden Bd.e, welche zusammengenommen eine Berichtszeit von 17 Jahren umspannen, sind aus kürzeren, zuvor in vorläufiger oder unselbständiger Form veröffentlichten Zusammenstellungen erwachsen und gleichen einander in ihrer sachlichen Abgrenzung und im äußeren Aufbau (grob systematische, im einzelnen dann alphabetische Titelanordnung) weitestgehend. Sie beschränken sich ganz überwiegend auf deutschsprachige Schriften und verzichten völlig auf die oft unerläßliche Zugabe von Annotationen; ohne sie ist mit

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den Nrn. 949, 969, 1058 f., 2999, 3067, 3316 u. v. a. wenig anzufangen. Auch ist der Verzicht auf die allgemeinen thematischen Verweisungen im 2. dieser Bd.e angesichts des Fehlens eines Sachregisters zu bedauern. Stofflich enthält die Bibliographie einmal mehr, als von ihrem Titel her zu erwarten wäre, nämlich möglichst vollständig das in die Berichtszeit fallende selbständig erschienene originale und das Übersetzungsschrifttum der heute fast ausschließlich in der Bundesrepublik lebenden Balten oder von (einem) Balten abstammenden Deutschen, weshalb Autoren wie Ludwig Dehio, H. Hesse und Ina Seidel Aufnahme gefunden haben. Dabei unterliegt der behandelte Gegenstand keinerlei Beschränkung, so daß thematisch ein überaus buntes Bild entsteht, in dem zahlenmäßig naturgemäß die schöne Literatur (zu der auch die vielen von Balten ins Deutsche übertragenen ausländischen Werke gehören) herausragt. Im 2. Teil dagegen, der Arbeiten, darunter auch Aufsätze, über das Baltikum als Ganzes sowie über Estland und Lettland enthält (über Litauen handeln, entgegen dem auf S. IX Gesagten, die Nrn. 3309 und 3333), vermißt man, von 150 wohl mehr zufällig ausgewählten fremdsprachigen Titeln abgesehen, fast die gesamte ausländische Forschung. Ungeachtet dieser angedeuteten inhaltlichen Unausgeglichenheit dürfte die Bibliographie mit ihren mehr als 3400 Nrn. (darunter übrigens auch einige Schallplattenaufnahmen) dank intensiver Auswertung von Sammel-(Fest-)schriften sowie verschiedener allgemeiner und fachbezogener Zeitschriftenorgane, dazu gelegentlich auch der Tages- und der Vertriebenenpresse, im angegebenen Rahmen, d. h. für das deutsche Sprachgebiet, im ganzen nützliche und bibliographisch zuverlässige Dienste leisten. Zur Ergänzung nach der wissenschaftlichen Seite hin kann daneben freilich, namentlich für die slawischsprachigen Veröffentlichungen und die unselbständig erschienene Literatur, über die S. IX gen. Fachbibliographien hinaus auf die materialreichere laufende Bibliographie von Helmuth Weiss in der Zeitschrift für Ostforschung (ab Bd. 3, 1954; letzter Bericht in Bd. 12, 1963; Berichtszeit 1945—62) nicht verzichtet werden. — Das Register verzeichnet lediglich die Verfassernamen und einen größeren Teil der behandelten Persönlichkeiten. Wenn schon die Herstellung eines Sachregisters als nicht möglich erschien, so sollte der Bibliographie in Zukunft doch wenigstens ein geographisches (insbesondere Orts-)Verzeichnis beigefügt werden. Z. Zt. Köln Werner Sehocbow Pocz^tki paristwa polskiego. Ksi?ga tysi^clecia. [Die Anfänge des polnischen Staates. Buch des Jahrtausends.] T. 1—2. — Poznan: Poznariskie Towarzystwo Przyjaciol Nauk 1962. 428 + 368 S. zus. zl. 2 2 0 , - . Das prachtvoll ausgestattete zweibändige „Buch des Jahrtausends" darf mit Fug und Recht als das Kernstück der polnischen wissenschaftlichen Publikationstätigkeit im Rahmen der von 1960 bis 1966 durchgeführten nationalen Jubiläumsfeiern gelten. Weder diese Millenniumsfeiern noch ihr historischer Anlaß, die Ereignisse um und nach 963, gestatten es uns in Deutschland, unbeteiligt und ohne Betroffensein den politischen und wissenschaftspublizistischen Vorgängen in ihrer Verknüpfung und gegenseitigen Bedingtheit, aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit zuzusehen. Denn 963 wie tausend Jahre danach steht in erster Linie Polens Verhältnis zum deutschen Nachbarn auf dem Spiel: Ging es im 10. Jh. um die Gestaltung der aus der Begegnung mit dem Imperium der Ottonen erwachsenden politischen Interessenüberschneidungen, so geht es heute um die historische Legitimierung und Reflektierung jener Vorgänge seit dem 2. Weltkrieg, die durch die gewaltsame Revision einer tausendjährigen Geschichte im deutsch-slawischen Kontaminationsgebiet ostwärts der Oder das deutsch-polnische Nachbarschaftsproblem in unseren Tagen über-

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schatten. Hier ist nicht der Ort, die politischen Probleme des Millenniums der polnischen Nation und das revisionistische Anliegen der polnischen Geschichtswissenschaft im Rahmen der Jahrtausendfeiern zu erörtern. 1 Es soll hier allein auf den historiographischen Ertrag der Bemühungen der polnischen Mediävistik um die Aufhellung der Anfänge des polnischen Staates hingewiesen werden. Zu dieser fachinternen Einschränkung der Betrachtungsweise darf sich ein deutscher Rezensent um so mehr legitimiert fühlen, als die einschlägigen Forschungsprobleme seit Richard Roepell auch in der deutschen Geschichtswissenschaft immer wieder Beachtung gefunden und auch mancherlei Ergebnisse gezeitigt haben. Freilich steht diesem begrenzten deutschen Interesse an der polnischen Geschichte des 10. Jh.s eine heute kaum noch überschaubare polnische Spezialforschung gegenüber, deren kritische Aufarbeitung in Gestalt einer umfassenden Bibliographie raisonn de zum Millennium eigentlich an der Zeit gewesen wäre. Es versteht sich von selbst, daß das vorliegende Werk diesem Desiderat — das zumal der ausländische Historiker, der trotz aller nunmehr eingetretenen Erleichterungen in der Literaturbeschaffung doch immer noch Kenntnislücken befürchten muß, gern erfüllt sähe — nicht entsprechen kann und nicht entsprechen will. Dennoch dürfen wir die enzyklopädische Fülle der in den Beiträgen diskutierten Forschungsliteratur als einen vorläufigen Ersatz dankbar begrüßen. Freilich gibt es hier Intensitätsunterschiede von Beitrag zu Beitrag, aber wer wollte von einem Sammelwerk, zu dem 21 Spezialforscher 28 Beiträge geliefert haben, Ausgeglichenheit in jeder Beziehung erwarten ? Es geht in beiden Bd.en in der Hauptsache um eine Querschnittanalyse des Zeitraums der ersten schriftlichen Überlieferung zur Geschichte Polens, also der Jahre von 963 bis um die Jahrtausendwende. Freilich finden sich Beiträge, die räumlich und zeitlich weiter ausgreifen, um den historischen und historisch-völkerkundlichen Hintergrund genauer zu fixieren: der Altmeister der polnischen Altertumskunde, K. Tymienieckt, beschreibt die Stellung der Slawen unter den europäischen Völkern des ersten Jahrtausends, verfolgt die Wandlungen der europäischen Völkerkarte bis zum Vorabend von Polens erstem geschichtlichen Auftreten (I, S. 13—42), und G. Labuda kreist in einer Skizze der frühen politischen Organisationsformen bei den Westslawen vom 6. bis zur Mitte des 10. Jh.s den polnischen Geschichtsraum schon enger ein, ohne freilich mehr bieten zu können, als eine in das marxistische Fachvokabular getauchte knappe Zusammenfassung der sehr intensiven Westslawen-Forschung der letzten 50 Jahre (I, S. 43—70). Im Wirkungsbereich einer so entschieden auf Entwicklung und Stufenfolge fußenden Geschichtslehre ist diese Sparsamkeit an Beschäftigung mit den „Vorstufen" selten. Nach diesen Aufsätzen steht das Sammelwerk vorwiegend im Problembereich der frühesten schriftlichen Überlieferung und verrät eine sehr gut durchdachte Gesamtkomposition. Nur bei dem letzten Beitrag, in dem K. Maleczynski die Auflösung der Verbindungen zwischen Schlesien und Polen von der Mitte des 14. bis zum Anfang des 16. Jh.s schildert (II, S. 281 —293), wird man für einen Augenblick an dem Vorsatz irre, hier nur den wissenschaftlichen Ertrag des Millenniumswerkes zu würdigen. — Bleiben wir lieber bei den schriftlich überlieferten, also historischen Anfängen des polnischen Staates: Eine naheliegende Zweiteilung gliedert den Gesamtstoff in „Politische Organisation" (Bd. I) und „Gesellschaft und Kultur" (Bd. II). 1 Dazu kann verwiesen werden auf die Bemerkungen von H. Ludat, Die Anfänge des polnischen Staates und das Verhältnis der Polen zu ihrer Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 10 (1960), S. 581—599, und G. Rhode, Tausendjährige Feindschaft oder Nachbarschaft?, in: Europäische Begegnung, Aug./Sept. 1962, S. 2—9.

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In Neuland stößt man bei der Lektüre des 1. Bd.es nicht vor. Über fast alle Spezialgebiete, die in den Einzelabhandlungen zur Sprache kommen, liegen umfangreiche moderne Monographien vor, aus denen die Autoren schöpfen können (ein Schönheitsfehler ist es, daß bei der Erörterung der ältesten Ostgrenze Polens durch St. M. Kuc^j'nski [S. 233—252] die umfangreichste und neueste Gesamtdarstellung von G. Rhode nicht einmal erwähnt wird). In den meisten Fällen liefern auch die durch größere Spezialstudien ausgewiesenen Forscher die Beiträge. Die frühgeschichtliche Stämmegeographie der polnischen Länder bildet seit den 20er Jahren ein besonders intensiv behandeltes Forschungsproblem, an dem sich lehrreiche Methodendiskussionen der führenden mittelalterlichen Verfassungshistoriker Polens entzündet haben. St. Zajqc^kovski gibt (S. 73 — 108) einen informativen Einblick in die Problemlage und den Stand der Diskussion. Bei aller Aufgeschlossenheit für die Rolle der Volksmassen im geschichtlichen Prozeß will H. Lowmianski mit seinem Beitrag (S. 111 bis 162) über die Piastendynastie von Mieszko I. bis zu Boleslaw Schiefmund (f 1138) das Verständnis für die außerordentlich zentrale geschichtliche Funktion der Dynastie in den Anfangszeiten des polnischen Staates schärfen. Dazu muß die historische Forschung schon deshalb Stellung nehmen, weil mit dem ersten polnischen Chronisten Gallus Anonymus eine ausgesprochen offiziöse piastische Hofhistoriographie zu Worte kommt und somit im mittelalterlichen Geschichtsbild Polens von ausschlaggebender Bedeutung wird. 2 In dem innerpolnischen Streit um die Authentizität der von Gallus überlieferten Liste polnischer Herrscher vor Mieszko I. vertritt L . die Auffassung, daß die Namen der drei Vorfahren Mieszkos, Ziemowit, Leszko und Ziemomyst, als authentisch anzusehen sind. Ihren materiellen Niederschlag hat die politische Aktivität der Dynastie vor allem in den Wehrbauten gefunden, die der Posener Archäologe W. Heusei (S. 163—185) vorführt. Dabei zwingen die Beschaffenheit des Quellenmaterials und die archäologischen Datierungsschwierigkeiten zu einer bedeutenden Ausweitung des chronologischen Rahmens, den H. vom 6. bis zur Mitte des 13. Jh.s spannen muß, um den Problemen der Denkmäler gerecht zu werden. Waffen- und Rüstungsfunde sowie die spärlichen Nachrichten der schriftlichen Uberlieferungen zu den Kriegen zwischen Mieszko und den deutschen Markgrafen bzw. zwischen Boleslaw Chrobry und Heinrich II. bilden die Grundlage für A. Nadolskis phantasievolle Ausführungen über Armee und Kriegskunst im frühen polnischen Staat (S. 187 bis 212). Die polnische Forschung ist wohl nicht mehr davon abzubringen, daß der Schlachtort Cidini 972, wo Markgraf Hodo gegen Mieszko und Czcibor unterlag, mit Zehden an der Oder zu identifizieren ist, obwohl keine stichhaltigen Gründe dafür anzuführen sind. Die außenpolitischen Probleme des frühen Staates finden — wie seit eh und je in der polnischen Historiographie — ihre besondere (bei der hier gebotenen Knappheit bisweilen sehr einseitige) Berücksichtigung. So werden die Grenzprobleme in West (K. Malecz.ynski, S. 213—232) und Ost (St. M. Kuc^jnski, S. 233—252) auf Grund der Schriftquellen des 10. Jh.s behandelt, und K. Tymieniecki bemüht sich, auf knapp 35 S. (S. 261 —295) die äußerst komplizierten und sehr umstrittenen Probleme der politischen und staatsrechtlichen Beziehungen Polens zum Reich im 10. Jh. zu durchleuchten. Auf diesem Gebiet — so scheint es — regen die engen Grenzen, die der historischen Erkenntnis durch die kargen Quellenzeugnisse gezogen sind, immer wieder die Kombinationskunst der Forscher an. Hier ist kein Ende abzusehen. Nüchtern und klar ist G. Labudas Bestandsaufnahme der Beziehungen, die zunächst Pommern und später den frühen polnischen Staat — infolge 2 Vgl. dazu jetzt B. Kürbisówna, L'historiographie médiévale en Pologne, in : Acta Poloniae histórica VI (1962), S. 7 - 3 4 .

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seiner zeitweiligen politischen Herrschaft über die pomoranische Ostseeküste — mit Skandinavien im 9. und 10. Jh. verbanden (S. 299—318). Die restlichen Beiträge des 1. Bd.es sind der frühen Kirchengeschichte Polens und seinen Beziehungen zum Heiligen Stuhl gewidmet und bilden deutlich den Schwerpunkt des Bd.es. Liegt doch nach ziemlich allgemeiner polnischer Auffassung — die auch in Tymienieckis Beitrag über die Beziehungen zum Reich vertreten wird — gerade in der klug geplanten Kirchenpolitik und Romdiplomatie die eigentlich staatsmännische Leistung des ersten Mieszko. Infolgedessen interessieren die kirchenpolitischen und geistig-religiösen Verbindungen zum Lateinischen Westen besonders. T. Manteuffel geht ihnen in einer knappen Betrachtung (S. 253—259) nach. Den Weg der polnischen Kirchenpolitik bis zur planvollen Errichtung des Erzbistums Gnesen im Einvernehmen zwischen Polenherrscher und Papst — dem Kaiser wird die Rolle des Protektors zugebilligt — zeichnet T. Silnicki (S. 319—360) nach. Den Abschluß bildet das Kronzeugnis dieser so verstandenen Rompolitik, das berühmte Dagomeiudex-Regest über die Schenkung der eivitas sehinesghe an den Heiligen Stuhl, das B. Kürbisöwna (S. 363—423) einer diplomatischen Analyse unterzieht und mit einem kritischen Literaturbericht versieht. Bleibt so der 1. Bd. auf die traditionellen Forschungsschwerpunkte konzentriert, so finden wir im 2., der „Gesellschaft und Kultur" überschrieben ist, eine Reihe von neuen Fragestellungen aufgegriffen, die in der polnischen Historiographie erst in den letzten Jahren erprobt worden sind und stellenweise zu beachtlichen und interessanten Ergebnissen geführt haben. Sie liegen weniger auf dem in Polen immer stark gepflegten sozial- und verfassungsgeschichtlichen Gebiet — das seinerseits im 2. Bd. die gebührende Berücksichtigung findet —, als vielmehr in dem Versuch, die geistigen und kulturellen Kräfte der frühpolnischen Gesellschaft aus allen nur irgend erreichbaren und in Frage kommenden Quellen herauszudestillieren. Auf den letzten beiden polnischen Historikerkongressen in Krakau 1958 und in Warschau 1963 sind die methodischen Möglichkeiten einer solchen vertieften kultur- und geistesgeschichtlichen Forschung ausgiebig diskutiert worden und die „Politische Kultur", die „Historische Kultur", die „Psychische Kultur" als neue Erkenntnisgegenstände umrissen worden. 3 Einiges davon findet auch in diesem Bd. seinen Niederschlag, etwa in den beiden religions- bzw. ideologiegeschichtlichen Beiträgen von St. Urbdncv^yk über die Religion der altpolnischen Stämme (S. 137 — 154) und von A. Gieys^tor über die mit der Annahme des Christentums verbundenen ideologischen Wandlungen in der polnischen Gesellschaft (S. 155 —170). Das sprachliche (T. Lehr-Splamnski, S. 189—216) und das kunstgeschichtliche Material am Beispiel der Architektur (Z. Swiechowski, S. 245 —268) erweisen sich für diese Fragestellungen natürlich als sehr wertvolle Quellen, ebenso wie das allgemeine archäologische Fundmaterial, das J. Kostr^ewski im Hinblick auf die polnische frühe Zivilisation untersucht (S. 7 —14). Am eindrucksvollsten treten freilich die Ergebnisse zum Thema „Historische Kultur" in den historiographiegeschichtlichen Forschungen von B. Kürbisowna (S. 217—232) und den Untersuchungen J. Kawarsinskas über die hagiographischen Denkmäler des 11. und 12. Jh.s (S. 233-244) hervor. Die übrigen Abhandlungen bewegen sich im Rahmen der sozialwirtschaftlichen Strukturproblematik des frühen polnischen Staates und sind von früheren monographischen For3 Vgl. die gedruckten Referate der genannten Kongresse; in: VIII powszechny zjazd historyköw polskich, T . I I (Historia Polski do polowy XV wieku), Warschau 1960; IX powszechny zjazd historyköw polskich, Historia kultury sredniowiecznej w Polsce, Warschau 1963.

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schungen her weitgehend bekannt: H. Lowmianski hat die wirtschaftlichen Probleme behandelt (S. 15—36); K. Tymieniecki gibt einmal mehr eine Zusammenfassung seiner Rekonstruktionsversuche an den Bauelementen der vorstaatlichen Gesellschaftsverfassung und verfolgt ihren Wandel während der Herausbildung der Fürstenherrschaft (S. 37—58), während A. Vetulani deren Einfluß auf die quasi staatsrechtlichen Einrichtungen und die Rechtsnormen und -praxis der frühstaatlichen Epoche als Forschungsproblem zu umreißen versucht. Die Siedlungsgeschichte kann dank den großen Anstrengungen der frühgeschichtlichen Archäologie heute in all diesen Fragen ein gewichtiges Wort mitreden. Ihre besondere Akzentuierung findet sie in der Erforschung der Burgen und frühen Burgstädte, von denen Gnesen und Posen in der Zeit der Entstehung des Staates als politische Hauptzentren in den Quellen hervortreten. Die frühgeschichtliche Bedeutung dieser Plätze wird daher in zwei speziellen Studien dargestellt, und zwar handelt J. Zurowski über die „hauptstädtische" Burg Gnesen im Lichte der archäologischen Quellen (S. 61—90), während Z. Kac^marc^jk die Rolle Posens, das seit Mieszko I. Gnesen zu überflügeln begann, im Staat der ersten Piasten darstellt (S. 91—106). Den Hintergrund für diese Einzelbeispiele skizziert T. Lalik mit seinem Grundriß der frühgeschichtlichen, vorkolonialen Stadtwerdung in Polen (S. 107-135). Unmittelbar zum Thema des Gesamtwerks gehört G. Labudas knappe Skizze über die Einflüsse der Entstehung des polnischen Staates auf die geschichtliche Entwicklung Pommerellens und Pommerns (S. 269—278), und eine parallele Bearbeitung der schlesischen Fragen, die zwar andere, aber den pommerellisch-pommerschen doch vergleichbare sind, wäre durchaus am Platze gewesen. K. Malec^jnskis Abschlußstudie über die allmähliche Herauslösung Schlesiens aus dem polnischen Geschichts- und Lebenszusammenhang aber hat, wie gesagt, mit dem Gesamtthema des Werkes nichts mehr zu tun. Alles in allem ein Sammelwerk, das in bestimmten und deutlichen Grenzen die Lebenskraft der Posener Schule bezeugt, die in diesen Fragen einmal tonangebend war. Der Marxismus hat hier vieles eingeebnet, darunter auch manches nationalistische Vorurteil, und er hat auch, so wie er nun einmal in der polnischen Geschichtswissenschaft seinen Platz hat — neben kolossalen Fehleinschätzungen — vieles neu zu sehen gelehrt. Von alledem finden sich in den vorliegenden Bd.en deutliche Spuren. Wer sich dadurch die Freude an den vielen Anregungen, die das Werk zu geben vermag, trüben ließe und den auch äußerlich schön gestalteten Bd.en die Anerkennung versagte, die ihnen als geschichtswissenschaftliche Leistung zukommt, sollte sich erinnern, daß sie zum Geschichtsjubiläum eines kommunistischen Staates erschienen sind. Gießen

Klaus

Zernack

AMBURGER, Erik: Geschichte des Protestantismus in Rußland. — Stuttgart: Evang. Verlagswerk 1961. 210 S. DM 14,80. Das oben genannte Buch interessiert an dieser Stelle vor allem als Beitrag zur Geschichte des Deutschtums in Rußland. Der Rahmen der Arbeit ist jedoch, wie schon der Titel erkennen läßt, weiter gespannt, denn den Protestantismus haben im Zarenreich nicht nur Deutsche, sondern auch Holländer, Engländer, Schotten, Schweizer und Franzosen sowie Letten, Esten und Finnen repräsentiert, von Splittergruppen unter den anderen Völkern des einstigen russischen Reiches einmal abgesehen. Auch nach 1917 haben sich im bolschewistischen Reich trotz der Grenzveränderungen im Westen die Anhänger des Protestantismus auf verschiedene Völker verteilt, was mutatis mutandis bis zur Gegenwart

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gilt. Gerade die auf Erfassung aller Schattierungen und Gruppen des Protestantismus in Rußland gerichtete Darstellung Amburgers läßt die führende Rolle des Deutschtums in diesem Bereich bis über die bolschewistische Revolution hinaus sichtbar werden. Ein weiterer Vorzug der vorliegenden Arbeit besteht darin, daß in ihr die Geschichte des Protestantismus in Rußland auf dem Hintergrund der jeweiligen politischen Situation des Zarenreiches und der herrschenden geistigen und religiösen Zeitströmungen erscheint. Auf diese Weise wird der Zusammenhang zwischen der allgemeinen russischen Entwicklung und der des Protestantismus (und auch des Deutschtums) in Rußland greifbar und damit der Weg zu einer Würdigung der historischen Rolle sowohl des Protestantismus als auch des Deutschtums in Rußland geebnet. Man wird daher bedauern, daß der Vf. nicht die Frage, welche Wirkungen vom Protestantismus in Rußland auf das geistige und politische Leben der Russen ausgegangen sind, erörtert, ja diese Frage nicht einmal aufwirft, die schon Masaryk in seinem Buch über die russische Geschichts- und Religionsphilosophie angedeutet hat. Die Darstellung ist in 3 große Abschnitte gegliedert. Im 1. behandelt der Autor die Geschichte des Protestantismus in Rußland im Gesamtzusammenhang von den Anfängen im 16. Jh. bis zur Gegenwart. Der 2. Abschnitt bietet getrennte Ubersichten historischstatistischer Art für die einzelnen protestantischen Kirchen und Gruppen, und der 3. beschäftigt sich mit deren innerem Leben (mit der Stellung und Wirksamkeit der Pastoren, dem Schulwesen, der sozialen Arbeit usw.). Man muß dem Vf. äußerst dankbar dafür sein, daß er mit seinem Buch den an der Geschichte des Deutschtums in Rußland Interessierten eine Fülle wertvollen und heute z. T. nicht mehr erreichbaren Materials zugänglich macht. Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, daß einzelne Bemerkungen in der Darstellung nicht ganz zutreffend sind. Hier sei lediglich darauf hingewiesen, daß von einer Bedrohung der Glaubensfreiheit der Mennoniten in Westpreußen (nach 1772) durch den preußischen Staat und die lutherische Kirche (S. 141) nicht die Rede sein kann (vgl. Gnadenprivileg Friedrichs d. Großen von 1780). Die auf der Volkszählung von 1959 beruhenden offiziellen sowjetischen Statistiken besagen, daß es noch rund 1,6 Millionen Deutsche in der Sowjetunion gibt. Somit kann dort der Protestantismus auch außerhalb des geschlossenen evangelischen Gebietes von Lettland und Estland noch nicht tot sein, trotz der Beseitigung des organisatorischen Zusammenhaltes. A.s Darstellung läßt das auch erkennen. Es berührt daher merkwürdig, daß die Einleitung von Herbert Krimm so ganz auf den Ton einer Grabrede abgestimmt ist. Bonn Horst Jablonowski Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Hrsg. von H. G. Adler, Hermann Langbein, Ella Lingens-Reiner. — Frankf./M.: Europ. Verlagsanstalt 1962. 423 S., 36 Abb., Zeittaf. DM 2 4 , - . In der ganzen Welt ist der bisher unbekannte Name des kleinen polnischen Ortes zum Inbegriff für die grauenhaften Untaten geworden, die vom nationalsozialistischen Staat verübt worden sind. Uber die Tatsache der systematischen Menschenvernichtung in Gaskammern hinaus hat die Öffentlichkeit nur verschwommene Vorstellungen, und selbst den amtlich mit dem Auschwitz-Komplex befaßten Personen, Richtern, Staatsanwälten und Historikern, ist es bis heute noch nicht möglich, exakte Angaben über die Zahl der dortigen Opfer zu machen. Wichtige Unterlagen sind vernichtet, über manche Transporte wurde überhaupt nicht Buch geführt. Nur über einzelne „Vorgänge" der Vernichtung, um mit dem ehemaligen Kommandanten Höß zu reden, können überlebende Zufallszeugen aus-

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sagen. Die Exekutoren schweigen — oder lügen. So ist es bis heute noch nicht möglich gewesen, eine zuverlässige Geschichte des Lagers Auschwitz mit all seinen Abteilungen und Phasen zu schreiben. Erhaltene SS-Dokumente und die Berichte Überlebender müssen vorerst die Lücken schließen. In dem vorliegenden Sammelbd. finden sich neben 9 amtlichen Dokumenten 43 sorgfältig ausgewählte Berichte von Häftlingen aus allen Ländern, die von der „Endlösung der Judenfrage" betroffen waren. Sie bieten nur einen Ausschnitt aus dem Leid der Menschen, die unschuldig gnadenlosen Henkern ausgeliefert wurden. 14 Bilder und eine Reihe von Faksimiles ergänzen das Bild. Eine umfangreiche, bei aller Lückenhaftigkeit aber als exemplarisch anzusehende Zeittafel bietet einen gewissen Ersatz für die noch ausstehende Geschichte von Auschwitz. Mit einem Gefühl der Beklemmung legt man das Buch aus der Hand. Im derzeitigen Frankfurter Auschwitz-Prozeß — weitere werden folgen — wird z. T. über auch hier geschilderte Tatbestände verhandelt. Prozeßberichte in der Presse und dieses Buch ergänzen einander. Berlin

Friedrich

Zipfel

Werner: Dtschlds. Annexionspolitik in Polen u. im Baltikum 1914 bis 1918. — Bln.: Rütten & Loening 1962. 457 S. = Veröffentlichgn. d. Instituts f. Gesch. d. Völker d. UdSSR an d. Martin-Luther-Univer. Halle-Wittenberg. Reihe B, Bd. 3. DM 17,50. BASLER,

Bruno: Widerstand in Auschwitz. (2., bearb. Aufl.) — Bln.: KongreßVerl. (1962). 110 S., mehr. Bl. Abb. DM 4,20. BAUNE,

Ahasver v.: Die Hanse und die nordischen Mächte im Mittelalter. — Köln, Opladen: Westdt. Verl. 1962. 48 S. DM3,90.

BRANDT,

Albin: Bevölkerungsbewegungen in Mittel- und Osteuropa. — Würzburg/M.: Holzner (1962). 51 S. = Der Göttinger Arbeitskreis. H. 67. DM2,40. EISSNER,

Kurt: Deutschland und Litauen im Mittelalter. — Köln, Graz: Böhlau 1962. IV, 82 S. = Studien zum Deutschtum i. Osten, H. 1. DM9, — .

FORSTREUTER,

FRIEDBERG, Marian: Polnische und deutsche Kultur. (Kultura polska a niemiecka, dt.) Bodenständige Elemente u. dt. Einflüsse in Verfassung u. Kultur d. mittelalterl. Polens. (Bd. 1) — Marburg/Lahn (Behringweg 7: Johann-Gottfried-Herder-Inst.) 1962 = Wissenschaftliche Übersetzungen. Nr. 39,1. (1.) 464 S. D M 2 0 , - .

Benita: Der Strukturwandel in der baltischen Lebensart um die Mitte des 18. Jahrhunderts. (Dortmund, Rheinlanddamm 203) Ostdt. Forschungsstelle im Lande Nordrhein-Westfalen 1961. 74 S. 4° = Veröffentlichungen d. Ostdt. Forschungsstelle im Lande Nordrhein-Westfalen. Reihe B, Nr. 3. Nicht im Buchhdl. MEDER,

ZEITSCHRIFTENUMSCHAU FÜR 1962 Bearbeitet von Jürgen Bergmann unter Mitarbeit von Richard Dietrich, Adalbert Eischenbroich, Erkki Hakulinen, Herbert Heibig, Charles B. Robson, Dieter Schuster, Adelheid Simsch, Manfred Stün$>echer, Rolf Ulbrich, Hermann Weber. LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN Zeitschriften, denen kein unser Gebiet betreffender Titel entnommen werden konnte, erscheinen in Klammern. DEUTSCHSPRACHIGE ZEITSCHRIFTEN Altpreußische Geschlechterkunde. NF. Blätter des Vereins für Familienforschung in Ostund Westpreußen, Hamburg. Alt-Thüringen. Jahresschrift des Museums für Ur- und Frühgeschichte Thüringens, Weimar. (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg.) (Archiv für Hygiene und Bakteriologie, München, Berlin.) (Archiv für Kulturgeschichte, Köln —Graz.) (Archiv für Liturgiewissenschaft, Regensburg.) Archiv für schlesische Kirchengeschichte, Hildesheim. Archiv für Sozialgeschichte, Hannover. Archiv ostdeutscher Familienforscher, Wolfenbüttel. (Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen, Düsseldorf.) Archivalische Zeitschrift, München. Archivmitteilungen, Berlin (Ost). Ärztliche Mitteilungen, Köln, Berlin. Aurora. Eichendorff-Almanach, Würzburg. Ausgrabungen und Funde. Nachrichtenblatt für Vor- und Frühgeschichte, Berlin (Ost). Baltische Briefe. Das Heimatblatt der Deutschbalten, Hamburg-Rahlstedt. Baltische Hefte. Vierteljahresschrift für Gegenwartsfragen, Kultur und Wissenschaft des Baltikums, Hannover. Baltische Studien, Hamburg. Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin. Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin (Ost). (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Halle.) (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Tübingen.) (Beiträge zur Namensforschung, Heidelberg.) Berlin im Spiegel, Berlin-Halensee.

LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN

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Berliner Medizin, Berlin. (Berliner Museen. Berichte aus den ehem. preuß. Kunstsammlungen, Hamm—Berlin.) Berliner Numismatische Zeitschrift, Berlin. (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Berlin.) (Berichte zur deutschen Landeskunde, Stuttgart.) Der Bibliothekar. Zeitschrift für das Bibliothekswesen, Leipzig. Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln. Blätter für deutsche Landesgeschichte, Wiesbaden. (Braunschweigisches Jahrbuch, Wolfenbüttel.) Breslauer Kreisblatt. Heimatzeitung des Landkreises Breslau mit den Städten Brockau, Kanth, Zobten a. B., Marktheidenfeld/Main. Britzer Heimatbote, Berlin-Britz. Bücherei und Bildung. Fachzeitschrift des Vereins Deutscher Volksbibliothekare e. V. und Mitteilungsblatt des Deutschen Büchereiverbandes e. V., Reutlingen. Bunzlauer Heimatzeitung. Vertriebenen-Organ für den gesamten Heimatkreis Bunzlau, Marktheidenfeld/Main. Das Carolinum. Blätter für Kultur und Heimat, Göttingen. (Cisterzienser-Chronik, Bregenz.) (Credo. Katholisches Hausbuch, Jahr des Herrn, Leipzig.) DDR in Wort und Bild, Berlin (Ost). (Dermatologische Wochenschrift, Leipzig.) Deutsch-polnische Hefte, Uffing/Obb. Deutsche Apotheker-Zeitung, Stuttgart, Berlin. Deutsche Fragen. Informationen und Berichte aus der Zone des Unrechts, Berlin. Das deutsche Gesundheitswesen, Berlin (Ost). Deutsche Kunst und Denkmalspflege, München. (Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Berlin .) Deutsche Medizinische Wochenschrift, Leipzig. Deutsche Ostkunde. West-ostdeutsche Blätter für Erziehung und Unterricht, Troisdorf/Rhld. Deutsche Rundschau, Darmstadt —Zürich. (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Stuttgart.) Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin (Ost). Deutscher Ostdienst. Die unabhängige deutsche Ostkorrespondenz. Information des Bundes der Vertriebenen, Bonn. Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, Köln —Graz. (Deutsches Bühnenjahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch, Berlin.) Deutsches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk, Neustadt/Aisch. Deutsches Medizinisches Journal, Berlin. Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, Berlin (Ost). Dokumentation der Zeit. Informationsarchiv, Berlin (Ost). Eichsfelder Heimatstimmen. Zeitschrift des Bundes der Eichsfelder Vereine, Lingen/Ems. Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, Berlin (Ost). Ermländischer Hauskalender, Osnabrück. Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heidelberg.

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

Europa-Archiv. Halbmonatsschrift der deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Bonn. Europäische Begegnung. Beiträge zum west-östlichen Gespräch, Köln, Berlin. Der europäische Osten. Monatsschrift für Selbstbestimmungsrecht, München. (Der Flüchtling. Für Wiedervereinigung und Frieden und Freiheit, Bonn.) Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik, Berlin (Ost). Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Berlin. Frankenstein-Münsterberger Heimatblatt. Bergglocke Reichenstein. Das Organ des Heimatkreises Frankenstein/Schlesien, Lengerich/Westf. (Franziskanische Studien. Vierteljahrsschrift, Werl/Westf.) Genealogie. (Familie und Volk.) Deutsche Zeitschrift für Familienkunde, Neustadt/Aisch. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, Stuttgart. Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde, Berlin. (Gesundheitspolitik, Berlin, München.) Glückauf. Zeitschrift des Erzgebirgsvereins, Frankfurt/Main. Goethe. N. F. des Jahrbuchs der Goethegesellschaft, Weimar. Goldberg-Haynauer Heimat-Nachrichten. Monatsschrift d. Altkreises Schönau a. K. Mitteilungsblatt für die Heimatvertriebenen des Kreises Goldberg, Braunschweig. (Die goldene Mark. Zeitschrift für die Heimatarbeit im Kreise Duderstadt, Duderstadt.) (Göttingische Gelehrte Anzeigen, Göttingen.) Gubener Heimatkalender, Guben. Gutenberg-Jahrbuch, Mainz. Hamburger Beiträge zur Numismatik, Hamburg. (Der Hautarzt, Berlin, Göttingen, Heidelberg.) Händel-Jahrbuch, Leipzig. Hansische Geschichtsblätter, Köln—Graz. Heimatblatt für die Kreise Strehlen/Ohlau, Velen/Westf. Heimatblätter für den Kreis Soldin. Mitteilungsblatt für die Heimatgemeinschaft, Braunschweig. (Heimatblätter für den süd-westlichen Harzrand, Osterode/Harz.) Heimatbrief der Danziger Katholiken, Münster. Heimatglocken in der Fremde. Gemeinschaftsblatt der Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Kreis Usedom-Wollin und Cammin-Süd, Eutin. Heimatkalender für den Kreis Angermünde, Eberswalde. Heimatkalender für den Kreis Bad Freienwalde, Bad Freienwalde. Heimatzeitung des Kreises Königsberg/Neumark. Mitteilungsblatt des Arbeitskreises Königsberg/Neumark und offizielles Organ für den gesamten Heimatkreis Königsberg/ Neumark, Braunschweig. Hessische Blätter für Volkskunde, Gießen. Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Marburg. (Hippokrates, Stuttgart.) (Das historisch-politische Buch. Ein Wegweiser durch das Schrifttum, Göttingen.) (Historische Zeitschrift, München.) (Historisches Jahrbuch, München—Freiburg.)

LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN

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Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde, Straßburg. Internationales Jahrbuch für den Geschichtsunterricht, Braunschweig. Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, Würzburg. (Jahrbuch des baltischen Deutschtums, Hannover-Döhren.) Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Berlin-Neukölln. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Stuttgart. Jahrbuch der Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau, Würzburg. Jahrbuch für Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen, Berlin (Ost). (Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Blomberg.) Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Leipzig. Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte, Kallmünz/Opf. (JpeK. Jahrbuch für prähistorische & ethnographische Kunst. Annuaire d'art préhistorique et ethnographique. Annual Review of prehistoric and ethnographical art. Annuario d'arte preistorica e etnografica. Anuario de arte prehist6ric6 y etnogrâfico, Berlin.) Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte, Ulm/Donau. (Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Göttingen.) Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. Niederdeutsches Jahrbuch, Neumünster. Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, München. Jahresschrift fur mitteldeutsche Vorgeschichte, Halle/Saale. (Kinderärztliche Praxis, Leipzig.) Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kitchenkunde, Stuttgart. (Kirchliches Jahrbuch für die deutschen Alt-Katholiken, Bonn.) Krankenhaus-Umschau, Kulmbach. Kreis Trebnitzer Heimatzeitung. Nachrichtenblatt für die Vertriebenen des Kreises Trebnitz/Schlesien, Tauberbischofsheim. (Der Landsmann. Das offizielle Organ der Arbeitsgemeinschaft der ostdeutschen Landsmannschaften in Frankfurt/Main.) Leitmeritzer Heimatbote. Heimatblatt der Vertriebenen des Heimatkreises Leitmeritz mit den Gerichtsbezirken Leitmeritz, Lobositz, Auscha und Wegstädtl, München. Lëtopis. Historische Jahresschrift des Instituts für sorbische Volksforschung. Reihe B, Bautzen. Löwenberger Heimatgrüße. Zeitschrift für Vertriebene des Kreises Löwenberg, Bückeburg. Lübeckische Blätter, Lübeck. (Luther. Mitteilungen der Luthergesellschaft, Berlin.) (Luther-Jahrbuch. Jahrbuch der Luther-Gesellschaft, Berlin-Grunewald.) Märkische Heimat. Aus Natur und Geschichte der Bezirke Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam, Potsdam. Märkische Zeitung. Unsere märkische Heimat. Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Berlin—Mark Brandenburg für die Bundesrepublik und Westberlin, Berlin-Charlottenburg. Maske und Kothurn. Vierteljahrsschrift für Theaterwissenschaft, Graz-Kroisbach—Köln. 31 Jahrbudi 12

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

Medizinische Monatsschrift, Stuttgart. Die medizinische Welt, Stuttgart. Meine liebe Heimat du. Jahrbuch für alle Stadt- und Landkreise des Riesen- und Isergebirges, Wolfenbüttel. Memeler Dampfboot. Die Heimatzeitung aller Memelländer, Oldenburg. Memelland-Kalender. Ein Jahresbegleiter für alle, die unsere Heimat kennen und lieben, Oldenburg. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Stuttgart—Baden-Baden. (Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins, Dortmund.) (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Graz-Kroisbach — Köln.) (Mitteilungen der westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e. V., Köln.) (Mitteilungsblatt. Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg, Berlin.) Moja domizna. Meine Heimat. Bildkalender in niedersorbischer und deutscher Sprache, Bautzen. Der Monat. Eine internationale Zeitschrift, Berlin-Dahlem. Münchner Medizinische Wochenschrift, München. Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen, Berlin—Leipzig. Neißer Heimatblatt für den Stadt- und Landkreis Neiße. Organ des „Neißer Kultur- und Heimatbundes", Schwabach. Neuköllner Heimatverein, Berlin-Neukölln. Neue Museumskunde. Informationsorgan über die Arbeit der kulturgeschichtlichen und naturkundlichen Museen in der DDR, Leipzig. (Neue politische Literatur. Berichte über das internationale Schrifttum, Stuttgart—Düsseldorf.) (Die Neue Rundschau, Berlin—Leipzig.) (Neue Sammlung. Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung, Göttingen.) Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte. N. F. der Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, Hildesheim. Norddeutsche Familienkunde. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Genealogischer Verbände in Niedersachsen, Neustadt/Aisch. (Northeimer Heimatblätter. Zeitschrift für Heimatforschung und Heimatpflege, Northeim.) (Der öffentliche Gesundheitsdienst, Stuttgart.) (Offa. Berichte und Mitteilungen des Museums vorgeschichtlicher Altertümer in Kiel, Neumünster/Holstein.) Ostbrief. Mitteilungen der deutschen Akademie Lüneburg. Monatsschrift der Ostdeutschen Akademie, Lüneburg—Berlin. Ostdeutsche Familienkunde. Zeitschrift für Familiengeschichtsforschung im deutschen Osten, Wolfenbüttel. Ostdeutsche Heimat. Jahrbuch der Grafschaft Glatz, Lüdenscheid/Westf. Ostdeutsche Monatshefte, Stollhamm/Oldb. Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrats, München. Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Stuttgart. (Osteuropa-Recht. Gegenwartsfragen aus den Rechten des Ostens, Stuttgart.)

LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN

483

Das Ostpreußenblatt. Organ der Landsmannschaft Ostpreußen, Hamburg. (Ost-Probleme, Bonn.) (Periodikum für wissenschaftlichen Sozialismus. Eine internationale Zeitschrift, München.) Petermanns geographische Mitteilungen. (Die Pharmazeutische Industrie, Aulendorf/Württemberg.) Pharmazeutische Zeitung, Frankfurt/Main. Pharmazie, Berlin (Ost). Prähistorische Zeitschrift, Berlin. Der redliche Ostpreuße. Ein Kalenderbuch. N. F. des Familienkalenders: Der redliche Preuße und Deutsche, Leer/Ostfriesland. Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde. Veröffentlichung der volkskundlichen Abteilung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn, Bonn. Riesengebirgsbote. Heimatbrief für Schlesier und Sudetendeutsche. Nachrichten aus dem Riesen- und Isergebirge, Stadt und Kreis Hirschberg, Uelzen. Rößeler Heimatbote. Mitteilungsblatt für den Förderring des Kreises Rößel im Kulturbund Deutscher Osten, Keidorf über Kaltenkirchen/Holstein. Rudolstädter Heimathefte. Beiträge zur Heimatkunde des Kreises Rudolstadt, Rudolstadt. Sächsische Heimatblätter. Heimatkundliche Blätter für die Bezirke Dresden, Karl-MarxStadt, Leipzig; Dresden—Karl-Marx-Stadt—Leipzig. SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen, Köln. Schlesien. Vierteljahrsschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum, Neumarkt/Opf. Der schlesische Katholik. Mitteilungsblatt der Eichendorffgilde, Heimatwerk schlesischer Katholiken, München. Schlesischer Gebirgsbote. Mitteilungsblatt der Heimatvertriebenen aus dem Kreis Landeshut in Schlesien und dem östlichen Riesengebirge, Groß-Denkte über Wolfenbüttel. (Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Berlin.) (Schopenhauer-Jahrbuch, Frankfurt/Main.) (Schrifttumsberichte zur Genealogie und zu ihren Nachbargebieten, Neustadt/Aisch.) (Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Zürich.) Sinn und Form, Beiträge zur Literatur, Berlin (Ost). Sorauer Heimatblatt, Dortmund. Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Berlin (Ost). (Die Sprache. Zeitschrift für Sprachwissenschaft, Wien.) Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost). Steglitzer Heimat. Mitteilungsblatt des Heimatvereins für den Bezirk Steglitz, BerlinSteglitz. Stifter-Jahrbuch, Gräfelfing bei München. (Stimmen der Zeit. Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart, Freiburg i. Br.) Stolper Heimatblatt. Für die Heimatvertriebenen aus der Stadt und dem Landkreise Stolp in Pommern, Lübeck. Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Wiesbaden. (Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, Berlin .) 31»

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

Thüringer Heimatkalender. Das Jahrbuch für alle Thüringer, Würzburg. Thüringer Tageszeitung. Veröffentlichungsblatt der Bundeslandsmannschaft Thüringen, Düsseldorf. Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte, Baden-Baden. (Tribus. Zeitschrift für Ethnologie und ihre Nachbarwissenschaften, Stuttgart.) Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, Stuttgart. Unser Harz. Heimat-Zeitschrift für den gesamten Harz und seine Vorlande. Amtliches Nachrichtenblatt des Harzklubs, Braunlage. Unser Oberschlesien. Organ der Landsmannschaft der Oberschlesier e. V., Bundesverband Frankfurt/Main, Bonn. Unsere ermländische Heimat. Mitteilungsblatt des Historischen Vereins für Ermland, Osnabrück-Haste. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Stuttgart. (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Wiesbaden.) Volkskalender für Schlesier, München. Waldenburger Heimatbote. Offizielles Organ für den gesamten Heimatkreis Waldenburg, Norden/Ostfr. Weimarer Beiträge. Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, Weimar. (Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte, Stuttgart.) (Weltwirtschaftliches Archiv. Zeitschrift des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Hamburg.) Das Werraland. Heimat, Kunst, Dichtung. Vierteljahrsschrift des Werratalvereins, Eschwege. Der Westpreuße. Bundesorgan der Landsmannschaft Westpreußen, Lübeck. Westpreußen-Jahrbuch, Leer/Ostfr. Wichmann-Jahrbuch für Kirchengeschichte im Bistum Berlin, Berlin. Wiener slavistisches Jahrbuch, Wien. Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe. — (Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe.) — Greifswald. Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. — (Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe.) — Jena. Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Weimar. (Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Bauwesen Cottbus, Cottbus.) (Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Binnenhandel Leipzig, Leipzig.) (Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Elektrotechnik Ilmenau, Ilmenau.) Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. — Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe. — Berlin (Ost). Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. — Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe. — Leipzig.

LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN

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Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe. — Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe. — Halle. Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Mathematischnaturwissenschaftliche Reihe, Potsdam. (Wissenschaftliche, Zeitschrift der Technischen Hochschule für Chemie Leuna-Merseburg, Halle.) Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. — Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe. — Rostock. Wissenschaftlicher Dienst für Ostmitteleuropa, Marburg/Lahn. Zahnärztliche Mitteilungen, Köln. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, Berlin. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, Jena. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Organ des Vereins Deutscher Bibliothekare und des Vereins der Diplombibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken, Frankfurt/Main. Zeitschrift für deutsche Philologie, Berlin—Bielefeld—München. (Zeitschrift für deutsche Wortforschung, Berlin.) (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Wiesbaden.) (Zeitschrift für Ethnologie. Organ der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, Braunschweig.) (Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Tübingen.) Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete, Berlin (Ost). (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Tübingen.) Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde des Ermlands, Münster/Westfalen. (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin .) (Zeitschrift für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Berlin.) (Zeitschrift für Heeres- und Uniformkunde, Berlin.) (Zeitschrift für Kirchengeschichte, Stuttgart.) (Zeitschrift für Kunstgeschichte, München—Berlin.) Zeitschrift für Mundartforschung, Wiesbaden. Zeitschrift für Ostforschung. Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa, Marburg/Lahn. Zeitschrift für Politik. N. F., K ö l n - Z ü r i c h - W i e n . (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Leiden—Köln.) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanische Abteilung, Weimar. (Zeitschrift für slawische Philologie, Heidelberg.) Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Hamburg. (Zeitschrift für Volkskunde, Stuttgart.) (Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie [Sozialgeographie] unter Berücksichtigung der Verkehrs- und Handelsgeographie, Hagen/Westf.) Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig. Zentralblatt für Gynäkologie, Leipzig. FRANZÖSISCHE ZEITSCHRIFTEN (Annales. Economies, sociétés, civilisations, Paris.) (Annales historiques de la Révolution Française, Nancy u. a.)

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

(Cahiers d'histoire mondiale, Paris.) Cahiers Pologne-Allemagne, Paris. (Esprit. Revue internationale, Paris.) (Etudes, Paris.) Politique, Paris. Politique étrangère, Paris. (Revue de défense nationale, Paris.) (Revue des deux mondes, Paris.) (Revue de droit publique et de la science politique en France et à l'étranger, Paris.) (Revue d'économie politique, Paris.) (Revue économique, Paris.) (Revue française de sciences politiques, Paris.) (Revue générale de droit international public, Paris.) Revue d'histoire de la deuxième guerre mondiale, Paris. Revue d'histoire diplomatique, Paris. Revue d'histoire économique et sociale, Paris. Revue d'histoire moderne et contemporaine, Paris. Revue historique, Paris. (Revue historique de droit français et étranger, Paris.) (La Revue maritime, Paris.) (La Revue de Paris, Paris.) (Revue politique et parlementaire, Paris.) POLNISCHE ZEITSCHRIFTEN Polish Western Affairs, Posen. (Archeion, Warschau.) Biuletyn numizmatyczny. (Münzkundliche Nachrichten.) Warschau. (Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego. [Nachrichten des Jüd. Hist. Instituts.] Warschau.) Komunikaty mazursko-warminskie. (Masurisch-ermländische Berichte.) Allenstein. Kwartalnik historii kultury materialnej. (Viertel) ahrsschrift für die Geschichte der materiellen Kultur.) Warschau. (Kwartalnik historyczny. [Historische Vierteljahrsschrift.] Warschau.) Kwartalnik opolski. (Oppelner Vierteljahrsschrift.) Oppeln. (Materialy zachodnio-pomorskie. [Westpommersche Materialien.] Stettin.) (Pamiçtnik literacki. [Literarische Denkschrift.] Warschau.) (Paiistwo i prawo. [Staat und Recht.] Warschau.) Przegl^d historyczny. (Historische Rundschau.) Warschau. Przegl^d zachodni. (Westliche Rundschau.) Posen. (Roczniki dziejów spolecznych i gospodarczych. [Jahrbücher für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.] Posen.) Roczniki historyczne. (Historische Jahrbücher.) Posen. Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu. (Jahrbücher der Gelehrten-Gesellschaft in Thorn.) Thorn. Sobótka. Sl^ski kwartalnik historyczny. (Der Zobten. Schlesische Vierteljahrsschrift.) Breslau. Sprawy miçdzynarodowe. (Internationale Fragen.) Warschau.

LISTE DER BEARBEITETEN ZEITSCHRIFTEN

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(Sprawozdania Towarzystwa Naukowego w Toruniu. [Berichte der Gelehrten-Gesellschaft in Thorn.] Thorn.) Studia i materialy z dziejöw Sl^ska. (Studien und Materialien zur Geschichte Schlesiens.) Breslau u. a. (Studia i materialy do dziejöw Wielkopolska i Pomorza. [Studien und Materialien zur Geschichte Großpolens und Pommerns.] Posen.) (Studia wczesnosredniowieczne. [Frühmittelalterliche Studien.] Warschau.) Zapiski historyczne. (Historische Schriften.) Thorn. ENGLISCHE UND AMERIKANISCHE ZEITSCHRIFTEN American Scholar, New York. Current History, Philadelphia. Contemporary Review incorporating The Fortnightly, London. Foreign Affairs. An American quarterly review, New York. Harper's Magazine, New York. History Today. A monthly magazine, London. Journal of Central European Affairs, Boulder/Colorado. Military Review, Fort Leavenworth/Kansas. The Reporter. The magazine of facts and ideas, New York. The Slavonic and East European Review, London. Social Research. An international quarterly of political and social science, New York. Survey. A journal of Soviet and East European studies, London. Western Political Quarterly, Salt Lake City/Utah. World Today. Chatham House review, London. SCHWEDISCHE ZEITSCHRIFTEN (Arsbok för kristen humanism, Lund.) (Ekonomisk revy, Uppsala.) Fornvännen, Stockholm. (Geografiska notiser, Malmö.) Historisk tidskrift, Stockholm. Kristen forum. Kyrkohistorisk ¿Lrsskrift, Uppsala. Nordisk tidskrift för vetenskap, konst och industri, Stockholm. Samtid och framtid, Stockholm. Scandia, Stockholm. Svensk tidskrift, Uppsala. Tiden, Stockholm. Ymer, Stockholm. NIEDERLÄNDISCHE UND BELGISCHE ZEITSCHRIFTEN (Economisch en Sociaal Tijdschrift, Antwerpen.) (De Gids op maatschappelijk gebied. Tijdschrift voor sociale, culturele en syndicate Probleme, Brüssel.) International Review of Social History, Amsterdam. (Internationale Spectator. Tijdschrift voor internationale politiek, Den Haag.)

488

ZEITSCHRIFTENUMSCHAU

(Mens en Maatschappij. Tweemaandelijks Tijdschrift voor Sociale Wetenschappen, Amsterdam.) (De Nieuwe Stem. Maandblad voor cultuur en politiek, Amsterdam.) S en D, socialisme en democratie. Maandblad van de Partij van de Arbeid, Amsterdam. (Tijdschrift voor Geschiedenis, Groningen.) TSCHECHOSLOWAKISCHE ZEITSCHRIFTEN Archivni Casopis. (Archivalische Zeitschrift.) Prag. öasopis Spoleönosti pritel staroiitnosti. (Zeitschrift der Gesellschaft der Freunde für Altertumskunde.) Prag. Numismaticke listy. (Numismatische Blätter.) Prag. Sbornik archivnich praci. (Sammelband archivalischer Arbeiten.) Prag. Sbornik historicky. (Historischer Sammelband.) Prag. (Vestnik Ceskoslovenske akademie ved. [Zeitschrift der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften.] Prag.) (Vlastivedny vestnik moravsky-, [Heimatkundliche Zeitschrift Mährens.] Brünn.) SOWJETISCHE ZEITSCHRIFTEN Istoriieskie zapiski. (Historische Notizen.) Moskau. IstoriCeskij archiv. (Historisches Archiv.) Moskau — Leningrad. Letopis iurnal'nych statej. (Jahresschrift für Zeitschriftenartikel.) Moskau. Nowaja i nowejsaja istorija. (Neue und neueste Geschichte.) Moskau. Vojenno-istoriöeskij iurnal. (Zeitschrift für Kriegsgeschichte.) Izdatel'stvo ministerstva oborony CCCR. [Veröffentlichung des Verteidigungsministeriums der UdSSR.] Moskau. Voprosy istorii. (Historische Fragen.) Izdatel'stvo „Pravda". (Veröffentlichung der „Prawda".) Moskau. Voprosy istorii KPSS. (Historische Fragen der sowjetischen kommunisten Partei.) Moskau. SORBISCHE ZEITSCHRIFTEN Letopis Instituta za Serbski Ludospyt. (Jahresschrift des Instituts für sorbische Volksforschung.) Bautzen. Moja domizna. (Meine Heimat.) Bautzen. Rozhlad. öasopis za Serbsku Kulturu. ^ (Zeitschrift für sorbische Kultur.) Bautzen. Serbska Pratyja na leto. (Sorbischer Kalender für die Niederlausitzer Sorben.) Bautzen. A. ALLGEMEINES 1. HILFSMITTEL. ALLGEMEINE OSTKUNDE Archiv wesen Archivmitteilungen 12 K n a a c k , Rudolf: Ordnungsarbeiten am Bestand der Regierung Potsdam. S. 7 — 14. B r a u n , Heinz: Zur Geschichte des brandenburgisch-preußischen Landratsamtes. S. 23—30. B a r n a c k , F.: Archivarbeiten im Kreis Königs Wusterhausen. S. 34—35.

HILFSMITTEL

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L e h m a n n , Joachim: Ordnungsproblematik am Bestand des preußischen Finanzministeriums. S. 49—53. B a u d i s , Klaus: Erfahrungen des Mecklenburgischen Landeshauptarchivs Schwerin bei der Ordnung und Strukturierung moderner Aktenbestände. S. 54—58. F a l k , Gebhard: Tektonik und Bestandsübersicht. Erörterungen im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam. S. 58—62. B l o ß , Wolfgang: Erfahrungen bei der Bearbeitung der „Archivalischen Quellennachweise zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" im Deutschen Zentralarchiv, Abteilung Merseburg. S. 62—68. K o h n k e , Meta: Die Anfragen- und Benutzerkarten im Deutschen Zentralarchiv, Abteilung Merseburg. S. 6 8 - 7 1 . S c h m i d t , Irmtraut: Der Bestand des Auswärtigen Amtes im Deutschen Zentralarchiv Potsdam. I. Teil: 1870-1920. S. 7 1 - 7 9 ; II. Teil: 1920-1945. S. 1 2 3 - 1 3 2 . K o b u c h , Manfred: Diplomatik und Archivpraxis. Analytische Inventare und Kataloge zur Erschließung mittelalterlicher Urkundenbestände in den Staatsarchiven der DDR. S. 1 1 6 - 1 2 2 . S c h r e c k e n b a c h , Hans-Joachim: Die Kassationstätigkeit der Betriebs- und Verwaltungsarchive in den Bezirken Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam in den Jahren 1959 bis 1961. S. 1 7 5 - 1 8 1 . A n g e r , Sigrid: Zur Arbeit der Abteilung Literatur-Archive bei der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. S. 1 8 4 - 1 8 5 . A l b e r t i , Charlotte: Die Sammlung und Verzeichnung der amtlichen Druckschriften in der Deutschen Bücherei. S. 1 8 7 - 1 8 9 . K u b a , Karlheinz: Archivarbeit im Bereich des Magistrats von Groß-Berlin. S. 214—218. L i e n i n g , Rudi: Das Archiv der Hauptstadt der DDR. S. 218—222. R i c h t e r , Hans-Heinrich: Die Deutsche Fotothek Dresden. S. 222—224. W u r m o v a , Milada: Knejnovejäim skartaönim smernicim v. NDR. (Zu den neuesten Richtlinien über die Kassation in der DDR.) [Die Richtlinien über die Vereinfachung des Kassationsverfahrens vom 28. 2. 1959 werden durch 9 Gruppen von Weisungen abgeändert, z. B. über Leitung, Sekretariate, Kanzleien, Planung, Materialversorgung. Über sog. „Weglegesachen" herrscht nicht völlige Klarheit. Die Ansichten von E. Neuß stehen gegen die von W. Eger.] Archivni öasopis 1, S. 34—36. C h a r o u s , Jaromir: Skartace a jeji problematika v. NDR. (Die Kassation und ihre Problematik in der DDR.) [H. Lötzke, Potsdam, vertritt die Ansicht, nicht eine Instanz, sondern zwei seien zur Kassation befugt.] Archivni öasopis 4, S. 246—248. Buch- und Bibliothekswesen Zentralblatt für Bibliothekswesen 76 S c h i l d , Johannes / S c h u l z e , Helmut: Die Zusammenarbeit der technischen und ökonomischen Hochschulbibliotheken der DDR. S. 529—538. R ö t z s c h , Helmut: 50 Jahre Deutsche Bücherei — 50 Jahre deutsche Nationalbibliothek. [Tendenziöse Geschichte der Deutschen Bücherei in Leipzig.] S. 386—394. S c h i l d , Johannes: Die Einheit der Bibliotheksarbeit im Hochschulbereich. [Die Vereinheitlichung des Bibliothekswesens im Bereich der SBZ.] S. 337—344.

490

ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES

R i c h t e r , H.-H.: Deutsche Fotothek Dresden — eine Institution der Deutschen Staatsbibliothek. S. 3 4 9 - 3 5 1 . F r i t z s c h e , H.-J.: Aus der Arbeit der Beratungsstelle für technische und naturwissenschaftliche Literatur der Berliner Stadtbibliothek. S. 351—356. M ö b i u s , Dieter / D u x , Werner: Die Planung des Neubaus der Universitätsbibliothek Dresden. S. 1 9 4 - 1 9 8 . K i t t e l , Peter: Forum über die Forderung nach Rückführung der noch in Westdeutschland befindlichen Bestände der Deutschen Staatsbibliothek. S. 98—104. Der Bibliothekar 16 Auswahl aus einer Fülle sachlich wenig ergiebiger Kurzbeiträge (u. a. über Arbeiterfestspiele, Büchereineubau in Potsdam): R ü c k l , Gotthard: Wissenschaft und Bibliothek in der Kulturrevolution. S. 4—9. R ö m p l e r , Ursula: Wie sieht heute die Arbeit mit dem Kinderbuch auf dem Lande aus? S. 9 - 1 5 Eine Bibliothek besonderer Art. Zum Erscheinen der Nr. 9000 in „Reclams UniversalBibliothek". S. 2 6 3 - 2 6 6 . Bibliographische Vorhaben der Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik für das Jahr 1962. S. 3 2 1 - 3 3 4 . H e s s e : Gerhard: 50 Jahre deutsche Nationalbibliothek. S. 902—910. L a n g e , Irmgard: Bibliotheksneubau in Dessau. S. 1212 — 1215. M ü h l e , Wolfgang: Probleme der Funktion und der Wirkungsweise der allgemeinbildenden Bibliotheken in der Deutschen Demokratischen Republik. S. 1236—1245. Bücherei und Bildung 14 G i e g l e r , Eugen: Büchereiwerbung und Literaturpropaganda in Mitteldeutschland. H. 4, S. 1 7 2 - 1 8 2 . Arbeit mit dem Kinderbuch in mitteldeutschen Büchereien. [Bericht über Entwicklung und Tendenzen der mitteldeutschen Kinderbüchereiarbeit.] H. 8/9, S. 390—406. W e g e h a u p t , Heinz: Die Erschließung der schönen Literatur in den Sachkatalogen der deutschen wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken, dargestellt am Beispiel einiger Bibliotheken in der DDR. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- und sprachwiss. Reihe 11, H. 4, S. 625—640. T h i l o , Martin: Die Entwicklung des Bibliothekswesens. Multiplikatoren der kommunistischen Ideologie. SBZ Archiv 13, Nr. 23, S. 3 5 5 - 3 5 8 .

Zur allgemeinen Ostkunde Bibliographie. Neue Veröffentlichungen (West). [Kommunismus, Kulturarbeit.] Ostbrief 8, S. 102—103.

SBZ,

Ostdeutsche

S c h i e n g e r , Herbert: Deutsches Schrifttum über Ostmitteleuropa. Literaturbericht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13, H. 12, S. 795—812. Zur „Ostforschung" in der Sowjetzone. [Mit einem Verzeichnis der sowjetzonalen Pro-

HILFSMITTEL • OSTKUNDE

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motions- und Habilitationsschriften zum deutsch-slawischen Verhältnis.] Ostbrief 8, S. 2 4 1 - 2 6 6 . N e u m a n n , Rudolf J . : Ostmitteleuropa in Aufsätzen und Berichten des „Ostbriefs" 1955—1962. [Literaturübersicht.] Ostbrief 8, S. 205—211. N e u m a n n , R. J . : „Kultura"-Paris. [Besprechung des Jahrgangs 1961 der Pariser Zeitschrift „Kultura", die neben Aufsätzen über literarische Themen u. a. Beiträge zur Deutschlandfrage, Oder-Neiße-Linie, zur deutsch-polnischen Verständigung und zur Schaffung einer neutralen Zone in Osteuropa enthält.] Ostbrief 8, S. 64—72. S t r o s c h e , Johannes-H.: Ostkunde — gestern, heute und morgen. Deutsche Ostkunde 8, S. 1 - 8 . 20 Thesen zur Ostkunde. [Aufgestellt auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft sudetendeutscher Erzieher am 19. und 20. März i960.] Deutsche Ostkunde 8, S. 16—17. G ü l c h e r , Edwin: Ostmitteleuropa in der Sicht des Westens. Ostbrief 8, S. 212—215. Fl i e ss, Gerhard: Die Bonner „Ostforschung" — ein Teil unbewältigter Vergangenheit im westdeutschen Hochschulwesen, bewiesen mit Darlegungen über „Hochschule und imperialistische Ostpolitik in der Zeit der Weimarer Republik". [Der westdeutschen Ostforschung wird vorgeworfen, sie setze die „revanchistische Ostforschung" der Weimarer Zeit fort und versorge den „westdeutschen Imperialismus" mit pseudowissenschaftlichen Argumenten.] Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 39—50. Zum Verhältnis Deutschland—Polen L a b u d a , Gerard: The Territorial, Ethnical, and Demographic Aspects of Polish-German Relations in the Past. X—XX centuries. Polish Western Affairs 3, t. 2, S. 223—260. J ä c k e l , Hartmut: Polen in Geschichte und Gegenwart. [Sammelbericht über vorwiegend westdeutsche Literatur, die einen guten Einblick in das wissenschaftlich erarbeitete Polenbild in der Bundesrepublik bietet.] Neue politische Literatur 7, S. 107 — 118. Z i t z l a f f , Dietrich: Zur Diskussion gestellt: Müssen wir unser Polenbild revidieren? Deutsch-polnische Hefte 5, S. 8—20. H o f f m a n n , Jakub: Bemerkungen zu Thesen Enno Meyers und Gotthold Rhodes über das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen im Geschichtsunterricht. Internationales Jahrbuch f. Geschichtsunterricht 8, S. 314—331. H o n s z a , Norbert: Gerhart Hauptmann und die Polen. Deutsch-polnische Hefte 5, S. 560 bis 570. [Siehe vorliegende Umschau, S. 511.] W i s k e r m a n n , Elizabeth: Germany's Eastern Neighbours. [Behandelt die deutschen Beziehungen mit der Tschechoslowakei und mit Polen seit dem ersten Weltkrieg.] Survey, a Journal of Soviet and East European Affairs 44—45, S. 45—53. E p s t e i n , Fritz T.: Die deutsche Ostpolitik im 1. Weltkrieg. Bemerkungen zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914-18". Jahrbücher f. die Geschichte Osteuropas, NF 10, S. 3 8 1 - 3 9 4 . G r o s f e l ' d , L.: Politika Germanii i Avstro-Vengrii v. otnoäenii Pol'si v gody pervoj mirovoj vojny. (Die Politik Deutschlands und Österreich-Ungarns Polen gegenüber in den Jahren des 1. Weltkrieges.) Voprosy istorii 1—4, S. 94—102.

492

ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES

Geis s, Imanuel: Der polnische Grenzstreifen. Wilhelminische Expansionspläne im Lichte heutiger Geschichtsforschung. Der Monat 14, H. 171, S. 58—62. B a s l e r , Werner: Imperializm niemiecki i akt 5 listopada. (Der deutsche Imperialismus und die Akte vom 5. November.) [Befaßt sich mit der Proklamation eines selbständigen Königreiches Polen durch Deutschland und Österreich im Jahre 1916.] Przegl^d historyczny 53, S. 273—291. F i e d o r , K. : Wladze niemieckie wobec polskich robotniköw rolnych w latach 1918 — 1932. (Die Einstellung der deutschen Behörden gegenüber den polnischen Landarbeitern 1918-1932.) Sobôtka 17, S. 204ff. L j a p t e r , K.: O pol'sko-germanskom soglaäenii 1934 goda. (Das polnisch-deutsche Abkommen von 1934.) Voprosy istorii 10, S. 99 — 108. B a g i n s k i , Henryk: La Pologne — pays maritime. [Statistisch belegter Überblick über die Entwicklung des polnischen Seehandels und der polnischen Seehäfen vor und nach dem 2. Weltkrieg, der zeigen soll, daß die polnischen Wirtschaftsbemühungen sich nicht allein auf den Binnenhandel beschränken.] Cahier Pologne-Allemagne 4 (15), S. 8—21. K r a n n h a l s , Hanns v. : Warum versagte die deutsche Ostpolitik im Zweiten Weltkrieg? Dokumentation zur Zeitgeschichtsforschung. Ostbrief 8, S. 137 — 147. B e r e n s t e i n , Tatiana / R u t k o w s k i , Adam: Grabiezcza polityka gospodarcza hitlerowskiej administracji wojskowej w Polsce. (Die räuberische Wirtschaftspolitik der HitlerKriegsverwaltung in Polen.) Biuletyn numizmatyczny 42, S. 61—87. S e e b e r , E. : Eksploatacja robotniköw polskich w niemieckim przemysle i rolnictwie w latach 1939—1945. (Die Ausbeutung polnischer Arbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie in den Jahren 1939-1945.) Sobôtka 17, S. 248ff. B a r t o s z e w s k i , Wladyslaw: Les études clandestines en Pologne occupée (1939 — 1945). [Gibt einen Überblick über Umfang, Fächer, Schwerpunkte, Lehrer und Ergebnisse der sich vor allem in Warschau, Krakau und (in geringerem Umfange) Lwow und Wilnow entwickelnden Untergrund-Universitätsstudien, in denen eine mutige intellektuelle Elite trotz der nazistischen Vernichtungspolitik polnische Kultur und Wissenschaft hochhielt.] Cahiers Pologne-Allemagne 3 (14), S. 38—52. Z u r o w s k i , Stanislaw: Mlodziez niemiecka wobec planu zasielenia ziem polskich. 1941. (Die deutsche Jugend angesichts des Besiedlungsplanes der polnischen Gebiete. 1941.) Przegl^d zachodni 18, 1, S. 133-138. W a g n e r , Ruth Maria: Polen und Deutsche leben zusammen. Bericht über das Zusammenleben von Deutschen und Polen im südlichen Ostpreußen in der Nachkriegszeit als Modellfall für die Zukunft. Der europäische Osten 8, S. 50—53. [Siehe vorliegende Umschau, S. 529.] Polen, Deutschland und das vereinigte Europa. Übersetzung aus „Dziemik Polski", London, Nr. 229 vom 25. September 1962. [Stellungnahme des Exilpolen Aleksander Bregman zum Problem der Einheit Europas angesichts der deutsch-französischen Annäherung.] Wissenschaftlicher Dienst f. Ostmitteleuropa 12, H. 12, S. 441 —445. S t r o b e l , Georg W.: Das Deutschlandproblem in der polnischen Politik. Ein Bericht über das Jahr 1961. Osteuropa 9, S. 165-172. K o m a r n i c k i , Tytus: Polen und die Berlin-Krise. Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 57. [Siehe vorliegende Umschau, S. 513.] H o f f m a n n , Emil: Aktuelle Probleme des westdeutsch-polnischen Handels. Deutschpolnische Hefte 5, S. 3—7. A r n o l d , Friedrich: Polnische Stimmen zu westdeutschen Erdkundebüchern. Internationales Jahrbuch f. Geschichtsunterricht 8, S. 332—341.

ALLGEMEINE LITERATUR IN ZEITLICHER FOLGE

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T a r g , Alojzy: Zarys dzialalnosci Zwi^zku Polakow w Niemczech. (Abriß der Tätigkeit des Verbandes der Polen in Deutschland.) Przegl^d zachodni 18, t. 2, S. 227—263.

L a q u e r , Walter Z.: Russia and Germany. [Die ersten zwölf Artikel in diesem Doppelheft sollen in den historischen Hintergrund der heutigen Beziehungen einführen. Der frühere deutsche „Drang nach Osten", so sagt der Autor, sei von einem russischen „Drang nach Westen" abgelöst worden.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 4 4 - 4 5 , S. 3 - 1 1 . F r a n k , Victor: Russians and Germans, an Ambivalent Heritage. [Ein emigrierter Russe vertritt die Ansicht, die Haltung der breiten russischen Masse gegenüber den Deutschen bestehe aus einer Mischung von Verachtung und Bewunderung.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 66—73. 2. ALLGEMEINE LITERATUR IN ZEITLICHER FOLGE Vor- und Frühgeschichte Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 46 S c h w a r z e , Ernst: Ergebnisse der botanischen Untersuchung von bronzezeitlichem Wandbewurf aus Mitteldeutschland. S. 221 —222. S c h w a r z e , Ernst: Sapropelit-Armringe aus Mitteldeutschland. S. 223 —229. M ü l l e r , Hanns-Hermann: Zur Beurteilung der Tierreste in Brandgräben Mitteldeutschlands. S. 3 0 1 - 3 0 6 . R u d o l p h , Wolfgang: Eine Ubergangsform vom Einbaum zum Plankenboot an der deutschen Ostseeküste. Deutsches Jahrbuch f. Volkskunde 8, S. 30—52. Mittelalter Leipziger Abhandlungen zur Namenforschung und Siedlungsgeschichte. [Auf den seit 1955 stattfindenden Jahrestagungen der Arbeitsgruppe Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte ist laufend über neue methodische und sachliche Erkenntnisse gehandelt worden, und die umfangreiche Liste der seither erschienenen Veröffentlichungen (403 —405) bietet ein eindrucksvolles Zeugnis von den zielstrebig und erfolgreich durchgeführten Forschungsvorhaben. Im vorliegenden Heft wird die vielseitige Problematik der Namenforschung in Gebieten deutsch-slawischen Zusammenlebens erörtert an schwierigen Ortsnamen Thüringens (.Rudolf Fischer), an Ortsund Flurnamen im unteren Spreewald (Friedrich Redlich), an den slawischen Forst- und Flurnamen im Obermaingebiet (Ernst Eichler und Hans Jakob) und an der Struktur der slawischen Orts- und Flußnamen in Nordostbayern im Vergleich mit verwandten Namengruppen in Thüringen, im Vogtland und in Böhmen (Ernst Eichler). Den Einfluß von Rechtsgewohnheiten auf die Namengebung macht ein durch Karten gut erläuterter Beitrag über Grenzbezeichnungen im Flurnamenschat2 Nordwestsachsens deutlich (Horst Naumann). Besonders verwiesen sei auch auf die methodischen Grundsätze, die bei der Auswertung namenkundlichen Materials für die Siedlungsgeschichte zu befolgen sind (Hans Walther). Außerdem wird die Diskussion über das vielerörterte Problem des Volksnamens der Siebenbürger Sachsen durch einen neuen Beitrag

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES (Helmut Protze) aufrechterhalten.] Wiss. Zs. der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges.u. sprachwiss. Reihe 11, S. 273—405. H. Heibig

Weczerka, Hugo: Kartographische Beiträge zur kirchlichen Gliederung Ost-Mitteleuropas (mit 12 Karten). Zs. f. Ostforschung 11, S. 292—323. Kahl, Hans-Dietrich: Ein gefährliches Zerrbild deutsch-slawischer Frühgeschichte. [Stellungnahme zu den Thesen W. Stellers; vgl. JGMOD 9/10, S. 293—304.] Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13, H. 1, S. 21—32. Schwarz, Ernst: Probleme der Stammeskunde im deutsch-slawischen Berührungsgebiet. Forschungsbericht. Zs. f. Ostforschung 11, S. 90—123. Hensel, Witold / L e c i e j e w i c z , Lech / S t a b a c z y n s k i , Stanislas: En Pologne médiévale: L'archéologie au service de l'histoire. 1. Villes et campagnes. [Hensel/Leciejewicz.] 2. Les fonctions pécuniaires des trésors. [Stabaczynski.] [Während im ersten Teil in aufzählender Form die Fülle neuer Gesichtspunkte dargestellt wird, die sich durch die archäologischen Methoden für die Siedlungs- und Stadtgeschichte ergeben haben, wobei vor allem für die Städte mit eigenem Recht in Großpolen, Pommern und Schlesien große Erfolge zu verzeichnen sind, analysiert der Vf. des zweiten Teiles auf Grund von 345 mittelalterlichen Schatzfunden in den gleichen Gebieten neben Fragen der Herkunft vor allem die Funktion der Geldanhäufung im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung sowie die Beziehungen zu dem Geldumlauf im Lokal- und Fernhandel.] Annales 17, S. 209—238. J a s i e n i c a , Pawel: Recherches récentes sur la culture médiévale polonaise. [Die neuesten Ergebnisse der polnischen Archäologie — hervorgehoben die Funde in Strzelno, Wislica und Tyniec — bestätigen die These, daß der polnische Staat im Augenblick der Annahme des Christentums bereits voll konstituiert und relativ weit ausgedehnt war, wobei die Völkerschaften, aus denen er sich zusammensetzte, bereits auf hoher Kulturstufe standen, so daß sie die christliche Kultur leicht assimilieren konnten.] Cahiers Pologne-Allemagne 3 (14), S. 8 - 2 2 . Kahl, Hans-Dietrich: Heidnisches Wendentum und christliche Stammesfürsten. [Versuch, Missionsgeschichte aus der heidnischen Perspektive zu sehen.] Archiv f. Kulturgeschichte 44, S. 72-119. O c h m a n s k i , Jerzy: Uwagi o obronie polskiego pogranicza zachodniego w okresie wczesnofeudalnym. (Bemerkungen zur Verteidigung des polnischen westlichen Grenzlandes in frühfeudaler Zeit.) Roczniki historyczne 28, S. 69—74. M a n t e u f f e l , Tadeusz: L'état de Mesco 1er et les relations internationales au Xe siècle. [Nach zehn Jahren anfänglicher Isolierung sah sich der polnische Staat Mieszkos I. in engem Kontakt mit östlichen, südlichen und westlichen Nachbarn, die alle mehr oder weniger mit dem deutschen König verbunden und christianisiert waren. Durch eine direkte Verbindungsaufnahme mit Rom um 965 suchte Mieszko sich einer Christianisierung von Magdeburg aus im Interesse seiner politischen Unabhängigkeit zu entziehen. Der engen Beziehung zu Bayern und Böhmen als Gegengewicht gegen das deutsche Königtum folgte nach der Aussöhnung Böhmens mit dem Kaiser gegen 980 eine Anlehnung an Sachsen, die wohl auch durch das dänische Interesse an der Odermündung bedingt war. Um Schlesien möglichen tschechischen oder noch mehr deutschen Rückforderungen zu entziehen, bezog Mieszko es 991 in seine Lehensauftragung an den Papst ein, jedenfalls interpretiert der Vf. die Urkunde „Dagome iudex" in diesem Sinne.] Revue Historique 86, Bd. 228, S. 1—16.

ALLGEMEINE LITERATUR IN ZEITLICHER FOLGE

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J a s i e n i c a , Pawel: Mieszko I. und die Deutschen. Deutsch-polnische Hefte 5, S. 385—394. M a n t h e y , F.: Die Religion der Ostseeslawen. Heimatbrief der Danziger Katholiken 13, Nr. 7, S. 6 - 7 . S c h n e i d e r , Annerose: Thietmar von Merseburg über kirchliche, politische und ständische Fragen seiner Zeit. Archiv f. Kulturgeschichte 44, S. 34—71. S c h m a l e , Franz-Josef: Zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg. Deutsches Archiv 18, S. 236 bis 244. H r a b o v a , Libuse: K problemu nemecki kolonisace ve stredni Evrope. (Zum Problem der deutschen Kolonisation in Mitteleuropa.) [Bisher hielt man die deutsche Kolonisation im 12. und 13. Jh. für eine planmäßige Aktion des deutschen Volkes unter Zusammenarbeit aller Klassen unter Führung der herrschenden Schichten. Nach dem 1. Weltkrieg verband man damit den Kampf gegen das Vordringen des russischen Bolschewismus. Als Beweis für eine angebliche freiwillige Unterordnung unter die deutsche Oberherrschaft führen deutsche Historiker den Olmützer Bischof Bruno von Schaumburg (1245 — 1281) an, der die Deutschen ins Land rief und als Berater des Böhmenkönigs Premysl Ottokar II. die Länder Böhmen und Mähren unter deutschen Einfluß brachte. Seine Bedeutung als „großer Kolonisator", in einer Biographie von M. Eisler hervorgehoben, wird jedoch in Frage gestellt. Für eine Zuführung von Kolonisten aus Sachsen gibt es keinen Beweis. Die Autorin sucht nachzuweisen, daß es dem Bischof lediglich auf ein Abhängigkeitsverhältnis der Kolonisten und ihre Zahlungsfähigkeit angekommen sei, daß er aber an einer planmäßigen Kolonisierung und Germanisierung kein Interesse hatte. Die Vf.in wendet sich gegen die Verwendung des Begriffes der „ostdeutschen Kolonisation" — besonders bei B. Bretholz, R. Kötzschke und W. Schlesinger („neue Konzeption") — und bezeichnet die „sogenannte" deutsche Ostforschung als Werkzeug des Revanchismus und der Aggression gegen die „Länder des sozialistischen Lagers" in Osteuropa. Die jungen Historiker der „DDR" analysieren die westeuropäischen Forschungen über die slawischen Länder (die sogen. Ostforschung) und bemühen sich, die politischen Hintergründe zu zeigen. Die Autorin möchte die westlichen Begriffe und Theorien widerlegen und die aggressiven Tendenzen der ostdeutschen Kolonisation mit denen des deutschen Faschismus, der Rassentheorie und des „deutschen Imperialismus" der Gegenwart gleichsetzen.] Sbornik historicky 9, S. 6 7 - 9 2 . K u h n , Walter: Kirchliche Siedlung und Grenzschutz 1200—1250 (am Beispiel des Oderraums). Ostdeutsche Wissenschaft 9, S. 6—55. S c h u l z e , Ingrid: Norddeutsche Glockenritzzeichnungen des späten 14. und 15. Jh.s in ihren Beziehungen zur gleichzeitigen Malerei und Plastik. [Neben Glocken aus Hamburg und Lübeck werden die Glockenritzzeichnungen auf Glocken aus Frankfurt/Oder, Rostock, Greifswald und anderen Teilen Mecklenburgs besprochen.] Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 7, S. 8 5 1 - 8 7 2 . F l a s k a m p , Franz: Die deutschen Kalande. [Bruderschaften des norddeutschen Kulturraums im ausgehenden Mittelalter.] Forschungen und Fortschritte 36, S. 187—189. Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde 5. Das Jahrbuch bringt Beiträge aus „verschiedenen Bereichen kirchengeschichtlichei Forschung" oder bietet „Übersichten zur Kirchenkunde der Gegenwart". Fallen auch die Aufsätze von Friedrich Heyer über die „Geschichte der orthodoxen Kirche in Amerika", von Heinz Skrobucha „Zur Ikonographie des Jüngsten Gerichts in der russischen Ikonenmalerei", Hans Petri über „Schwäbische Chiliasten in Südrußland"

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES

und Georg von Rauch über „Das baltische Pfarrhaus" nicht unmittelbar in den Bereich unserer Umschau, so sei doch ausdrücklich auf sie hingewiesen. Unser Gebiet selbst betrifft der Beitrag von Adalbert Goertz: „Die Mennoniten Altpreußens", S. 118 — 134. Nach einem kurzen Überblick über die Anfänge der Täufer — später nach ihrem Führer Menno Simons Mennoniten genannt — und über die Verfolgung, die sie wegen der Ablehnung jeglichen staatlichen Einflusses auf das religiöse Leben des einzelnen allenthalben erleiden mußten, geht Goertz auf den — meist niederländischen — Ursprung der Mennonitengruppen Preußens ein und versucht, Weg wie Zeitraum ihrer Flucht zu bestimmen. Der anschließenden Einzelbetrachtung der preußischen Mennonitengemeinden Danzigs und Thorns oder auch selbständiger wie Elbing, die meist Angaben über Herkunft, Umfang, Rechtsstellung und Entwicklung enthält, folgt außer einem Einblick in die mennonitische Glaubenslehre — vermittelt durch den auszugsweisen Abdruck der Satzung der Mennonitengemeinde Montau — ein Uberblick über die Stellung und Entwicklung der Mennoniten von der „Preußischen Zeit" 1773 bis zur Gegenwart. In einem vierten Abschnitt schließen sich sehr übersichtliche statistische Angaben über die Zahl der preußischen Mennoniten in den Jahren etwa von 1816 bis 1925 an. P e e s c h , Reinhard: Kulturströmungen in den Küstenzonen der südlichen Ostsee. [15. Jh. bis zur Gegenw.] Deutsches Jahrbuch f. Volkskunde 8, 1, S. 3—29. M a c k e n s e n , Lutz: Ostdeutschland und die deutsche Sprache. [Uber die normierende Funktion ostdeutscher Sprachschöpfer auf die Entwicklung der deutschen Sprache; auch Neuzeit.] Ostdeutsche Monatshefte 28, S. 265—275. 16.—18. Jahrhundert E b e l , Wilhelm: Das Preußische im Preußischen Allgemeinen Landrecht. [Fragt nach dem, was „preußisch" heißt, soweit das Allgemeine Landrecht von 1794 und die darin sichtbare preußische Rechtsordnung dafür Kriterien liefern können.] Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 12, S. 149—161. H u b a t s c h , Walther: Preußen als internationales Forschungsproblem. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13, H. 2, S. 7 1 - 8 6 . H u b a t s c h , Walther: Der preußische Staat. Probleme seiner Entwicklung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 12, S. 107 bis 148. D e t h a n , Georges: L'absolutisme en Prusse au XVIIe siècle. Le Grand Electeur Frédéric Guillaume. [Der Große Kurfürst ist als Vater des preußischen Absolutismus kein Nachahmer Ludwigs XIV., sondern unterscheidet sich wesentlich von ihm durch seine religiös fundierte Auffassung von der Fürsorgepflicht des Königs für den Staat, die sein Denken und Handeln bestimmt.] Revue d'Histoire Diplomatique 76, S. 267 bis 273. S c h o e p s , Hans-Joachim: Preußen — gestern und morgen. [18.—20. Jh.] Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 12, S. 271—291. 19. und 20. Jahrhundert Bibliographie zur örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung. [Auch 20. Jh.] Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, S. 253—272, S. 516—542. Bibliographie zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung. [Auch 20. Jh.] Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, S. 1064—1086.

ALLGEMEINE LITERATUR IN ZEITLICHER FOLGE

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R ü s t o w , A.: Worin bestand die geschichtliche Leistung des Freiherrn vom Stein? [Das preußisch-deutsche Reformbeamtentum als fortdauernde geschichtliche Schöpfung Steins.] Universitas 17, 1, S. 489-502. F r e i h e r r v o m S t e i n : Preußische Polenvorschläge 1807. Aus der „Nassauer Denkschrift" vom Juni 1807 an den König von Preußen. Der europäische Osten 8, S. 402—404. A d a m s , Henry M.: Probleme der Beziehungen zwischen Preußen-Deutschland und den USA seit Bismarck. Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 12, S. 162 bis 186. T e s c h n e r , Hellmut: Die Ost-West-Wanderungen des deutschen Volkes in den letzten 100 Jahren. Deutsche Ostkunde 8, S. 8 - 1 6 . K a h n s , Johannes: Die Entstehung und Entwicklung der Industrie im Ostseeraum. Lübekkische Blätter 122, S. 278-282, S. 295 - 2 9 9 . Archiv für Sozialgeschichte 2. In seinem Aufsatz „Lassalles Beziehungen zu Bismarck — ihr Sinn und Zweck" (S. 55—85) versucht Shlomo Na'aman auf dem Wege subtilerer Interpretation der von G. Mayer veröffentlichten Dokumente zu einem neuen Verständnis der politischen Aktion L.s zu gelangen. Ohne die utopischen und illusionistischen Züge in der Konzeption L.s zu verkennen, gelangt Vf. doch zu dem Urteil, daß der Gründer des ADAV bei seinen Beziehungen zu B. vom agitatorischen Standpunkt betrachtet keineswegs „schlecht abgeschnitten" habe. Unfruchtbar seien die Gespräche für L. insofern gewesen, als er „die Organisationschancen, die ihm dank der Verbindungen erwachsen waren", wegen seiner Erfolglosigkeit bei dem potentiellen Machtfaktor der Berliner Arbeiterschaft „nicht positiv ausnützen konnte". — Otto-Ernst Schüddekopfs Beitrag „Karl Radek in Berlin" (S. 87 — 166) umfaßt neben einer kürzeren Studie und drei kleineren Dokumentationen die erste deutsche Übersetzung der von R. 1926 unter dem Titel „November" veröffentlichten Erinnerungen an seinen Berlin-Aufenthalt vom Dez. 1918 bis Jan. 1920. Vom Hrsg. fälschlich als Tagebuch bezeichnet, vermittelt die Darstellung R.s mit ihren zahlreichen Details wertvolle Einblicke in den Problemkreis der deutsch-russischen Nachkriegsbeziehungen und in die Frühgeschichte der KPD. — Unter dem Titel „Die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg und der Kapp-Putsch" (S. 359—368) legt Karl-A. Hellfaier mehrere Akten aus dem Bestand „Preußisches Kulturministerium" des DZA Merseburg vor, die das gespannte Verhältnis von Studentenschaft und Universitäten zur Weimarer Demokratie am Einzelfall beleuchten. — Weitere Beiträge behandeln Themen außerhalb unseres Forschungsbereichs. H. Skrzypczak F r i e d l ä n d e r , Henry Egon: Conflict of Revolutionary Authority: Provisional Government vs. Berlin Soviet, November-December 1918. International Review of Social History 7, 2, S. 163-176. S c h u r r e r , Heinz: Some reflections on Rosa Luxemburg and the Bolshevik Revolution. [Untersucht Luxemburgs Kritik der bolschewistischen Revolution im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen deutschem und russischem Kommunismus.] Slavonic and East European Review 40, Nr. 95, S. 356—372. Z w e r e n z , Gerhard: Vorschlag: Ein Orden fürs Morden. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Hauptmann Pabst. Der Monat 14, H. 165, S. 37—43. S p e n c e r , Arthur: National Bolshevism. [Untersucht die Reaktion deutscher Kommunisten auf die Ideen des Nationalismus in drei Krisenperioden in der Weimarer Republik 32

Jahrbudi 12

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1919, 1923 und 1930.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 133-152. Carsten, F. L.: The Reichswehr and the Red Army, 1920—1933. [Eine Untersuchung der geheimen Abmachungen und der Zusammenarbeit zwischen Chefs der deutschen und der russischen Wehrmacht; baut vor allem auf den Seekt-Dokumenten auf, die sich jetzt im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg im Breisgau befinden; Vf. folgert, daß beide Armeen beträchtliche Vorteile zogen, daß aber bei Betrachtung aller Momente die Rote Armee der Hauptgewinner war.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 114—132. Mann, Golo: Rapallo, the Vanishing Dream. [1950 verfaßter Essay mit einem Postskriptum von 1962.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 74 bis 88. E x - I n s i d e r : Moscow-Berlin 1933. [Ein ehemaliges Mitglied des Kominternapparates, tätig in Berlin 1931/32 und in Moskau von Mitte 1932 bis Ende 1933, behandelt die Kontroversen innerhalb führender deutscher und sowjetischer kommunistischer Gruppen über die Frage, wie der wachsende Nazismus am besten zu bekämpfen sei; behauptet, daß Stalins falsche Einschätzung der Lage eine Taktik bedingte, die Hitlers Triumph ermöglichte.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 153-164. B e y e r , Hans: Grundlinien des Kirchenkampfes im Osten und Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung der kirchenpolitischen und verfassungsrechtlichen Entwicklung in Ostpreußen, Danzig, Kongreßpolen, Pommern, Grenzmark Posen-Westpreußen, Schlesien, Böhmen-Mähren und Siebenbürgen 1932/1935. Ostdeutsche Wissenschaft 9, S. 301-340. H e i s t e r , Bernhard: Ostdeutsche Jugendheime und Jugendherbergen. [Uber die Entwicklung des deutschen Jugendherbergswesens in den deutschen Ostprovinzen bis 1945.] Europäische Begegnung 2, H. 2, S. 53. Neumann, Rudolf J.: Ostmitteleuropa nach fünfzehn Jahren Sowjetisierung. Ostbrief 8, S. 177-184. D w a n , John E. II: The Anatomy of Disengagement. [Analysiert verschiedene Disengagement-Pläne und entwirft auf dieser Grundlage einen eigenen Vorschlag ; bespricht die Voraussetzungen, die dem Begriff „disengagement" zugrunde liegen; kommt zum Ergebnis, daß jede Art von Disengagement eine militärische Gewichtsverlagerung zuungunsten der NATO-Mächte zur Folge habe.] Military Review, U.S. Army Command and General Staff College 42, Nr. 2, S. 2 - 1 5 . R a p a c k i , Zbigniew: L'U.R.S.S., la Chine et les démocraties populaires. [Und:] L'occident et les pays satellites. [Die Satellitenstaaten bilden im sowjetischen Machtblock den schwachen Punkt, vor allem auch wegen der enttäuschenden Resultate der sozialistischen Wirtschaftspolitik. Die Chance der westlichen Politik ihnen gegenüber kann wahrgenommen werden, wenn die kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse des Westens eine auf lange Sicht hin zu erwartende allgemeinere Auflockerung vorbereiten. Das gilt vor allem auch für die deutsche Frage. Weniger dogmatisch und mehr pragmatisch behandelt, könnte zunächst einmal eine „österreichische Lösung" angestrebt werden. Das Kernproblem dabei ist die deutsch-polnische Aussöhnung, für deren Zustandekommen der Vf. eine Reihe wichtiger Anregungen gibt.] Politique Etrangère 27, H. 6, S. 516-551. H u d a k , Alfred: Der europäische Protestantismus zwischen neuer Gesellschaftsordnung und Friedensvertrag. [Analyse der Haltung der evangelischen Kirchen, bes. derjenigen

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in den „östlichen Volksdemokratien", zu den allein von der politischen Wirklichkeit des Ostens her zu verstehenden und von dort her ständig in die Diskussion geworfenen Thesen von der „Neuen Gesellschaftsordnung" und des „Friedensvertrages".] Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 39—43. Schall, Hermann: Baltische Sprachreste zwischen Elbe und Weichsel. Forschungen und Fortschritte 36, S. 56—61. 3. SBZ UND WIEDERVEREINIGUNG Zur allgemeinen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der SBZ Dokumentation der Zeit 14 Charakter der Zeitschrift unverändert, vgl. Hinweis in JGMOD 9/10, S. 628. Statistisches Jahrbuch der DDR 7 [Statistiken und Tabellen mit der Zielsetzung, „über die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung unseres Arbeiter- und Bauern-Staates bis zum Ende des Jahres 1961" zu berichten. Die Auswahl der Gebiete und der Ansatzpunkt der Berechnungen — besonders im Vergleich mit der Bundesrepublik — ermöglichen es, vielfach eine stetige Aufwärtsentwicklung nachzuweisen.] R e i n h o l d , Alfred: Die Statistik ergreift Partei. Zum neuen Statistischen Jahrbuch der „DDR". SBZ Archiv 13, Nr. 21, S. 322-26. A n d e r s o n , Evelyn: EastGermany. [Vf.in meint, daß die Rolle der „DDR" im Sowjetbereich durch eine Reihe von Paradoxen gekennzeichnet ist. Die sich verschärfende Krise sei mehr eine politische, moralische und kulturelle als eine wirtschaftliche.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 42, S. 96 — 106. Schirmer, Gregor: Zur Völkerrechtssubjektivität des Staates und zum Problem der völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit der Deutschen Demokratischen Republik. [Versuch, die Legitimität der „DDR" vom östlichen Standpunkt aus zu begründen.] Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 267—275. Harz, Ilse: Die DDR — der einzige rechtmäßige Staat in Deutschland. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 10, S. 1279-1283. Hoch, W.: Uber Strategie und Taktik der KPD und SED zur Lösung der nationalen Frage in Deutschland in der Zeit von 1945—1949. Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, Nr. 5/6, S. 293—296. Kopp, Fritz: Über den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. [Zum Aufsatz des Altkommunisten Anton Ackermann „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?" in: Einheit — Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei. Februar 1946, Nr. 1.] Ostbrief 8, S. 117-124. Kopp, Fritz: Die Stellung der SED zu den Spannungen im Weltkommunismus seit dem XX. Parteitag der KPdSU. Osteuropa 12, S. 389-394. Wolf, Hanna: Zur Generallinie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Einheit 17, H. 2, S. 3 - 1 4 . S c h i m a n s k i , Hans: Das neue Parteistatut. Die SED formiert sich unter veränderten Verhältnissen. [Über den Entwurf eines neuen Parteistatuts von 1962.] SBZ Archiv 13, Nr. 22, S. 340-342. F e d e r a u , Fritz: Ein östlicher Beitrag zur Deutschland-Frage. [Über das Dokument Walter Ulbrichts „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und 32*

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die Zukunft Deutschlands", das vom „Nationalkongreß" am 16. und 17. 6. 1962 zum „Nationalen Programm des Kampfes für das neue Deutschland" erklärt worden ist.] Deutsche Rundschau 88, S. 605—608. K e r s t e n , Heinz: Beispiel hinter der Mauer? Alfred Kurella interpretiert die Deutschlandpolitik der SED. SBZ Archiv 13, Nr. 16, S. 2 5 0 - 2 5 2 . S c h i m a n s k i , Hans: SED-Propagandisten vor neuen Aufgaben. Parteilehrjahr und Massenpropaganda. SBZ Archiv 13, Nr. 21, S. 3 2 6 - 3 2 8 . S c h i m a n s k i , Hans: Sozialismus auf Stottern. Einige ideologische Aspekte des Parteiprogramms der SED. SBZ Archiv 13, Nr. 24, S. 377-380. F r i c k e , Karl Wilhelm: „Vorwärts mit Genossen Ulbricht". Personenkult in der SED gestern und heute. SBZ Archiv 13, Nr. 6, S. 8 4 - 8 7 . K r ö n , Fritz: Ist die SED eine „sächsische" Partei? Deutsche Fragen 8, H. 7, S. 133—134. F r i c k e , Karl Wilhelm: FDJ-Streifendienst. Die Ordnungsgruppen der Freien Deutschen Jugend. SBZ Archiv 13, Nr. 3, S. 4 0 - 4 1 . A l b r e c h t , Erhard: Die Trommel ruft. Erfolg und Mißerfolg des FDJ-Kampfauftrages vom 28. August 1961. SBZ Archiv 13, Nr. 3, S. 3 7 - 4 0 . W e b e r , Gerda: Frauen als letzte Reserve. 15 Jahre Demokratischer Frauenbund Deutschlands. SBZ Archiv 13, Nr. 10, S. 154-157. H u t h , Wolfgang: Die Rolle der örtlichen Volksvertretungen bei der Entwicklung der sozialistischen Demokratie in der DDR. Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 4, S. 3 2 6 - 3 3 3 . N e u m a n n , Rudolf J . : Zur Wirtschaftsentwicklung des Ostblocks. [Literaturbericht.] Ostbrief 8, S. 2 1 6 - 2 1 8 . B o r g m e i e r , Anton: Die Ökonomik des sozialistischen Weltsystems und die Wirtschaftsgemeinschaft DDR—UdSSR. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 10, S. 1285—1302. K., W. U.: Backs to the Wall: East Germany's Economy in 1962. [Weist auf eine Verminderung der Wachstumsrate der Wirtschaft hin und auf den Fehlschlag der Versuche, diese Tendenz umzukehren. Vf. sagt voraus, daß die „DDR" auch weiterhin auf sowjetische Wirtschaftshilfe angewiesen sein werde und erwartet in Zukunft eine noch größere Unterwürfigkeit des Ulbrichtregimes gegenüber Moskau.] World Today 18, S. 2 4 2 - 2 4 8 . K o e h l e r , Heinz: On East Germany's Foreign Economic Relations. [Zusammenfassung der unveröffentlichten Doktorarbeit des Autors, die als Ergänzung zu Wolfgang Stolper, The Structure of East German Economy, 1961, gedacht war.] Social Research 29, Nr. 2, S. 2 2 5 - 2 3 7 . J o r d a n , Götz: Die Entwicklung von Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der Etappe des Aufbaus und des Sieges des Sozialismus in der DDR. Wiss. Zs. der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 10, S. 1302 bis 1363. R i t z s c h k e , Georg / W o l f , Paul: Die komplex-territoriale Planung in der DDR. [Dogmatisch gebundene Darlegung der Entwicklungsmaßnahmen in allen Lebensbereichen.] Wiss. Zs. der Universität Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 4, S. 505—519. K a b e r m a n n , Heinz: Territoriale Neugliederung der Zone. [Das Zonenterritorium soll nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegliedert werden.] SBZ Archiv 13, Nr. 18, S. 279 - 2 8 2 .

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W o l f , P.: Zu einigen Fragen der komplex-territorialen Planung der Finanzen in der DDR. Wiss. Zs. der Universität Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1/2, S. 91—97. K a b e r m a n n , Heinz: Manipulationen mit der Planung. Planwirtschaft und demokratischer Zentralismus. [Die Wirtschaftsmisere der Zone.] SBZ Archiv 13, Nr. 13, S. 197-201. G r e i n e r t , Horst: Plananlauf 1962. SBZ Archiv 13, Nr. 9, S. 129-133. D e g e n k o l b , Karl: Neue Methodik der Planung von Materialvorräten im Schiffbau der DDR. Wiss. Zs. der Universität Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 473 —487. B u s s , Franz: Die Einnahmen des sowjetzonalen Staatshaushaltes. Gedanken zur Entwicklung des Steuersystems. SBZ Archiv 13, Nr. 20, S. 310—313. M e n z , G. : Ein Vergleich der öffentlichen Finanzen der Bundesrepublik und Mitteldeutschlands. Deutsche Rundschau 88, S. 403 —409. L i e b i g , Werner / W a m b u t t , Horst: Probleme der Herausbildung der nationalen Wirtschaft der DDR. Einheit 17, H. 12, S. 1 1 - 2 0 . P e r n u t z , Karl W. : Die private Wirtschaft in Mitteldeutschland. Deutsche Fragen 8, H. 2, S. 3 3 - 3 4 . L u c k , H. / B a r t l , W.: Zu den Beziehungen zwischen den Investitionen, dem Wachstum des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens in der Wirtschaft der DDR. Wiss. Zs. der Universität Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1/2, S. 1 1 - 2 8 . R o s k a m p , Karl W.: Who did better in the 1950's, East or West Germany? [Unterstützt die von Wolfgang Stolper, The Structure of East German Economy, 1961, vertretene Ansicht, daß ostdeutsche Planwirtschaft weniger erfolgreich war als die Marktwirtschaft Westdeutschlands.] Social Research 2, S. 221—225. S c h e n k , Fritz: Das neue Wirtschaftsjahr in der Zone. [1962.] SBZ Archiv 13, Nr. 5, S. 6 5 - 6 9 . G ö t z , Julius: Die Situation im Kalibergbau. Ein Uberblick über Entwicklung und Probleme der sowjetzonalen Kaliproduktion. SBZ Archiv 13, Nr. 2, S. 21 —24. O h l s e n , Bernhard: Soll und Haben im Lokomotivbau. Zur Produktion von DieselLokomotiven in der Zone. SBZ Archiv 13, Nr. 1, S. 8—9. A l b re c h t , Erhard: Ikarus fiel in die Elbe. Die Liquidation der Flugzeugindustrie in der Sowjetzone. SBZ Archiv 13, Nr. 2, S. 1 9 - 2 1 . G r ü n b e r g , Gerhard: Die DDR — Bannerträger nationaler Agrarpolitik. Einheit 17, H. 6, S. 3 - 2 3 . H e i d r i c h , Heinz / G r o s c h o f f , Kurt: Die schöpferische Agrarpolitik der Partei der Arbeiterklasse — der Grundstein für die erfolgreiche Entwicklung der Landwirtschaft in der DDR. [Zum Erscheinen der beiden Bände von Walter Ulbricht „Die Bauernbefreiung in der Deutschen Demokratischen Republik".] Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, S. 611—628. W a c h o w i t z , Heinz / L i n d o w , Wulf: Die weitere Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse auf dem Lande. Einheit 17, H. 3, S. 27 —40. N o s k e , Dietrich: Der Leninsche Genossenschaftsplan und seine Verwirklichung in der DDR. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 2, S. 7 3 - 8 5 . B a r t h e l m a n n , Robert: Uber die Rolle der bäuerlichen Genossenschaften im Gebiet der DDR in den zwei Etappen der revolutionären Umwälzung. Wiss. Zs. der FriedrichSchiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 333—337.

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES

S c h r ö d e r , Ernst: Probleme der finanziellen Unterstützung der LPG durch den Arbeiterund Bauernstaat. Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Math.- u. naturwiss. Reihe 11, H. 1, S. 59—69. A l b r e c h t , Erhard: Neue Finanz- und Planungsmethoden für LPG. Die Bauern sollen die Kollektivierung selber bezahlen. SBZ Archiv 13, Nr. 11, S. 166—170. M e i l e n t i n , Franz / W i n k e l m a n n , Herbert: Die Produktionsreserven in unseren LPG planmäßig erschließen. Einheit 17, H. 1, S. 68—80. E l v e r t , Gerhard / N e u b a u e r , Günter / S o m m e r , Josef: Größere Aufmerksamkeit der erweiterten sozialistischen Produktion in den LPG. Einheit 17, H. 4, S. 38—48. M i l k e , Harry: Zu Problemen der Entwicklung einer neuen Art LPG Typ II. Einheit 17, H. 2, S. 6 9 - 8 0 . H a h n , Erich: Ideologie und Demokratie in der LPG. Einheit 17, H. 1, S. 81—91. G r i e b e , Walter: Die Rolle der Entfaltung der innergenossenschaftlichen Demokratie sowie die Durchsetzung von Ordnung und Disziplin für die Uberwindung der Aneignungsdelikte in den LPG. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 845—850. R ü h l e , O.: Die Problematik der Beseitigung der wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land im Programm der KPdSU und einige Schlußfolgerungen für die Generalperspektive der DDR. Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1/2, S. 127—135. L e i s s i n g , Rudolf: Die Entfaltung der gegenseitigen sozialistischen Hilfe als Ausdruck der neuen Beziehungen zwischen den Werktätigen in der DDR. Wiss. Zs. der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 4/5, S. 293 bis 298. W e g n e r , Hermann: Der Bauernkongreß in Magdeburg. [Vom 9. —11. 3. 1962.] Deutsche Fragen 8, H. 3, S. 50. G o t t s c h a l k , Bertold: Bauernhäuser. DDR in Wort und Bild 3, H. 8, S. 23—25. G ö t z , Julius: Hochsee- und Küstenfischerei der Sowjetzone. Der mühselige Weg zum Weltniveau. SBZ Archiv 13, Nr. 4, S. 5 6 - 5 8 . K r a n n h a l s , Hanns v.: Die Ostsee und der Ostblock. Ostbrief 8, S. 185—187. K r a n n h a l s , Hanns v.: Die Handelsflotten des Ostblocks. [Polen, SBZ u. Tschechoslowakei.] Ostbrief 8, S. 188—204. B u n g e , W. / K u h l m a n n , G.: Transportleistungen und Transportkosten im Seeverkehr der DDR. Wiss. Zs. der Universität Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1/2, S. 8 5 - 8 9 . L a n g e , Ernst: Die Aufgaben des Außenhandels im Kampf um die Stärkung unserer Republik. Einheit 17, H. 3, S. 5 0 - 5 9 . S c h e n k , Fritz: Entwicklungshilfe für Ulbricht? Politik und Ökonomie — Zu den Pankower Kreditwünschen. SBZ Archiv 13, Nr. 13, S. 194-197. Oh Isen, Bernhard: Leipziger Messe ein Erfolg? [Exportrückgänge der SBZ in den letzten Jahren.] Deutsche Fragen 8, H. 5, S. 88—89. G ö l l n e r , Siegfried: Darf man den Sozialismus aufessen? Ursachen und Ausmaß der Versorgungskrise. SBZ Archiv 13, Nr. 7, S. 103—105.

K r a u s e , Wolfram: Zum neuen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit in der DDR. Einheit 17, H. 4, S. 111-115.

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R ö s s l e r , Hans: Zur Herausbildung des Systems der gesellschaftlichen sozialistischen Arbeit in der DDR. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.u. sprachwiss. Reihe 11, H. 4/5, S. 271-281. L a n g e , Helmut: Von Stachanow zum Produktionsaufgebot. Produktionssteigerung durch verstärkte Ausbeutung. [Über Produktionssteigerung in der SBZ nach dem Vorbild des sowjetischen Aktivisten Stachanow und die verschiedenen Ausbeutungsmethoden des Zonenregimes.] SBZ Archiv 13, Nr. 12, S. 182—186. T h i e l , Wera: Das Prinzip der Sorge um den Menschen im Arbeilsschutz der Deutschen Demokratischen Republik und die Entwicklung des Arbeitsschutzes in Westdeutschland. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 851-857. Z a c h m a n n , Eberhard: Die Rolle der Krankheit im Klassenkampf. Die SED kämpft gegen den hohen Krankenstand. SBZ Archiv 13, Nr. 18, S. 282—284. R e u s c h e r , Gerhard: Die Entwicklung und Vervollkommnung der Wirtschaftsrechnungen der Werktätigen im Gebiet der DDR von 1947 bis zur Gegenwart. [Die Repräsentativbefragungen ausgewählter Haushalte der Bevölkerung werden in der SBZ als Wirtschaftsrechnungen bezeichnet.] Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 7, S. 787-793. Militär- und Rechtswesen S t r o b e l , Georg W.: Die Warschau-Pakt-Organisation. Zs. f. Politik 9, S. 33 —49. V e r n e r , Waldemar: Zur Militärpolitik des deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates. Einheit 17, H. 3, S. 3 - 1 3 . K o p p , Fritz: Streitkräfte und Milizen. Die militärischen und paramilitärischen Verbände der Sowjetzone seit Errichtung der Sperrmauer. SBZ Archiv 13, Nr. 14, S. 213—217. M a m p e l , Siegfried: Die Versorgung der Pankower Soldaten. Deutsche Fragen 8, H. 4, S. 6 7 - 6 8 . M a r a , Michael: Fluchtstation Grenzpolizei. Der Weg eines jungen Menschen vom FDJJournalisten zum Flüchtling. SBZ Archiv 13, Nr. 10, S. 147—150. H e l l e r , Fritz: Sperrzone an der Ostsee. Deutsche Fragen 8, H. 9, S. 168. G r ü n d l e r , A.: Zonen-Reichsbahn rüstet für den „Ernstfall". Umgehungskurven und Maximalfahrpläne zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft. SBZ Archiv 13, Nr. 19, S. 296-298. S c h l o m a n n , F. W.: Gibt es Schutz vor Atombomben? Im Osten ja, im Westen nein. Luftschutz in der Zone. SBZ Archiv 13, Nr. 1, S. 3—5. R o s e n t h a l , Walter: Das neue Militärstrafrecht in der SBZ. Deutsche Fragen 8, H. 4, S. 66. Volk ans Gewehr. [Zum „Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht" vom 24. Januar 1962 in der SBZ.] SBZ Archiv 13, Nr. 3, S. 3 3 - 3 7 . H a n e y , Gerhard: Die Funktion des sozialistischen Rechts in der Deutschen Demokratischen Republik. [Darstellung der Zivilgerichtsbarkeit in der SBZ aus östlicher Sicht.] Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 307 bis 315. H o c h b a u m , Hans-Ulrich: Bemerkungen zum Gegenstand und zu den Methoden der Allgemeinen Aufsicht des Staatsanwalts in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des umfassenden Aufbaus des Sozialismus in der DDR. [Die Allgemeine Aufsicht des Staatsanwalts in der SBZ soll nicht in der Übernahme von Aufgaben der ort-

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liehen Volksvertretungen bestehen, sondern soll für die Einhaltung der einheitlichen Gesetzlichkeit sorgen.] Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 317—323. F r i c k e , Karl Wilhelm: System ohne Fehlentwicklung? Die strafpolitischen Auseinandersetzungen in der Sowjetzonen-Justiz. SBZ Archiv 13, Nr. 17, S. 259—261. B u c h h o l z , Erich: Die schrittweise Überwindung der Kriminalität in der DDR — ein Ausdruck ihrer geschichtlichen Überlegenheit gegenüber Westdeutschland (dargestellt an der Eigentumskriminalität). Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 837 —844. W i n k l e r , Friedrich-Karl: Die Gerichte als Glieder der Arbeiter- und Bauern-Macht der DDR und ihre Aufgaben in der Zivilrechtsprechung nach geltendem Recht. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 7, S. 831-838. S c h l i c h t , Götz: Zum künftigen Zivilgesetzbuch der SBZ. Deutsche Fragen 8, H. 11, S. 204-205. W a l t e r , Rudolf: Die neue Arbeitsgerichtsordnung. Arbeitsgerichte und Konfliktkommissionen. SBZ Archiv 13, Nr. 4, S. 53—56. H e u e r , Uwe-Jens: Zum Verhältnis von Recht und Ökonomik in der DDR. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 821—827. G r a n d k e , Anita: Die Rolle des Güterrechts als Hebel zur sozialistischen Umgestaltung in der DDR. [Autorreferat zur Dissertation.] Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 155. Zur geistigen Lage der SBZ S i e g m u n d - S c h u l t z e , Walther: Die DDR als Bewahrerin des humanistischen nationalen Kulturerbes. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 11, S. 1461-1475. R e i n h a r d t , H. / S c h m o l l a c k , J . : Zur sittlichen Pflicht in der DDR. Deutsche Zs. f. Philosophie 10, H. 2, S. 165-187. S c h ü s s e l e r , Rolf: Die Entwicklung von Organen der Gesellschaftlichen Erziehung und Selbsterziehung in der DDR und ihre Rolle im Kampf um die allseitige Durchsetzung sozialistischer Lebensformen. Wiss. Zs. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 8, S. 889 —899. K ü h r i g , Herta: Zur Entwicklung sozialistischer Familienbeziehungen in der DDR. Einheit 17, H. 8, S. 3 8 - 5 1 ; H. 9, S. 101-112. M o h r o , Wolf: Die Fehde der Kulturfunktionäre. [Über den starren Kurs der Kulturfunktionäre Ulbrichts — bes. des SED-„Kulturchefs" Kurella —, der zum Gegensatz zu Moskau führt.] Deutsche Fragen 8, H. 7, S. 131—133. B a u m e r t , Olaf: „Gesamtdeutsche" Schizophrenie? [Es werden die Absichten Ulbrichts, auch die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik zu unterbinden, aufgezeigt.] Deutsche Fragen 8, H. 7, S. 153—154. Betz, Werner: Zwei Sprachen in Deutschland. [Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß es in der SBZ nur Sprachlenkung, aber keine neue Sprache gibt.] Merkur 16,2, S. 873-879. H e i l , Karolus Heinz: Antennen werden zerstört. Die Fernsehoffensive in der Zone. [Fernsehoffensive der SBZ nach Westen und Zerstörung der auf den Empfang des Westprogramms eingestellten Antennen.] Der europäische Osten 8, S. 42—49.

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M i c h e l , Johannes: Sind die Ostdeutschen antikommunistisch? Der Monat 14, H. 164, S. 5 1 - 5 5 . N o h a r a , Erik: Gespräche in Leipzig. Probleme des Lebens in der SBZ auf Grund privater Gespräche. Der Monat 14, H. 163, S. 87—92. W e r t h , Wolfgang: Republikflüchtling L. [Schilderung des äußeren und inneren Weges eines Flüchtlings.] Der Monat 14, H. 167, S. 14—20. Zur Lage der Christen in der DDR. Ein Situationsbericht, Stand Mai 1962. Heimatglocken in der Fremde 90, S. 8 2 - 8 6 . B a u k l o h , Friedhelm: Die Kirche besteht auf Entscheidungsfreiheit. Scharf, Mitzenheim, Seigewasser zur Lage — Die Antwort der Gemeinden in der Zone. SBZ Archiv 13, Nr. 12, S. 177-180. B a u k l o h , Friedhelm: Die Evangelische Kirche und die Wehrpflicht in der Zone. Neuer Konflikt, weil Pankow kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkennt. SBZ Archiv 13, Nr. 4, S. 5 0 - 5 3 . B a u k l o h , Friedhelm: Regeres kirchliches Leben in der Zone. Weltrat der Kirchen protestiert gegen die Spaltung von „Volk und Kirche". SBZ Archiv 13, Nr. 16, S. 252 bis 255. B a u k l o h , Friedhelm: Kein Eid auf den Kommunismus. Die Zerreißprobe der evangelischen Synode von Berlin-Brandenburg. SBZ Archiv 13, Nr. 7, S. 100—108. M a s e r , Werner: Zum Problem der Pfarrerflucht aus der SBZ. Deutsche Fragen 8, H. 6, S. 103-105. K r e c k e r , Margot / L a u n e r , Irmgard: Die Aufgaben des Kindergartens im System der Volksbildung der DDR. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1, S. 119-142. Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, Nr. 1/2. [Das 1. Heft bringt auf den S. 3 — 126 die im Rahmen der III. Pädagogischen Tage 1961 der Ernst-Moritz-Arndt-Universität am 12. und 13. Juli gehaltenen Hauptvorträge und Referate. Die Konferenz beschäftigte sich mit der Entwicklung und dem Stand des Schulwesens in der SBZ und Westdeutschland, so u. a. mit der Schulpolitik in der SBZ und der Bundesrepublik (H. Quitzsch: Über die Beziehungen von Staat und Schule in beiden deutschen Staaten; M. Radtke: Probleme der Pädagogik und Schulpolitik in beiden deutschen Staaten; Baumann, Breuer, Gorny, Wegener: Einige Beziehungen zwischen Begabtentheorie und Schulpolitik in beiden deutschen Staaten; H. Schulz: Partnerschaft oder Kollektiverziehung?); ferner mit einzelnen Unterrichtsfachern bzw. -themen, z. B. K. H. Jahnke: Zur Darstellung des antifaschistischen Widerstandskampfes im Geschichtsunterricht der Schulen beider deutscher Staaten; E. Trzcionka: Die Behandlung der Oder-Neiße-Grenze in den deutschen und polnischen Schulen; P. Fretwurst: Zum erzieherischen Charakter des Russischunterrichts in beiden deutschen Staaten (dargestellt an den Russischlehrbüchern); J. Kusch: Die Stellung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts in den allgemeinbildenden Schulen beider deutscher Staaten.] V o g t , Peter: Zum Entwicklungsstand und Aufgabenbereich der Sonderschulpädagogik in der DDR. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1, S. 143-147. N e y e , Walther: Das Hochschulwesen der DDR, wegweisend für ein gesamtdeutsches Hochschulwesen. Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 859-883.

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R e i n h a r d t , Rudolf: The Universities in East Germany. [Beschreibt die Verhältnisse an Universitäten in der „DDR" und stellt fest, daß Professoren mehr und mehr gezwungen sind, Lehrtätigkeit und Forschung den Forderungen und Direktiven des Ulbrichtregimes anzupassen.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 40, S. 6 8 - 7 6 . M a s e r , Werner: Sowjetzonale Studenten. Deutsche Fragen 8, H. 11, S. 216—219. P o n d o r f , Otto: 10 Jahre Sprachunterricht für alle Studierenden an den Hochschulen und Universitäten der Deutschen Demokratischen Republik. Wiss. Zs. der FriedrichSchiller-Universität Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, S. 51—59. S t e e n b e c k , Max: Die Verantwortung des Wissenschaftlers in der DDR. Einheit 17, H. 4, S. 5 8 - 6 5 . K ö l l n e r , Lutz: Die Flucht von Wissenschaftlern aus der „DDR" als Symptom mitteldeutscher Hochschulpolitik. Ostbrief 8, S. 3—9. P i e b e n g a , J. Tj.: Drie Duitse grensgangers, Walter Benjamin, Alfred Kantorowicz en Gerhard Zwerenz. S en D 19, Nr. 12, S. 815-832. C a s t e l l a n , Georges: Remarques sur l'historiographie de la République Démocratique Allemande. [Sich stützend auf das anläßlich des Stockholmer Historikertages erschienene Sonderheft der Zs. f. Geschichtswissenschaft (1960) analysiert der Vf. zunächst das ideologische Engagement der ostdeutschen Geschichtswissenschaft, das diese zu einer „action politique" macht. Dementsprechend steht die Zeitgeschichte im Mittelpunkt des Interesses, und C. zeigt am Beispiel der Behandlung der Geschichte der Weimarer Republik, welche Tendenzen sich dabei ergeben. Er steht nicht an, die Form, d. h. den Ton der ostdeutschen Historiographie schärfstens zu kritisieren, wünscht aber andererseits, daß man ihrem Inhalt die verdiente Beachtung zollt. Einer objektiven historischen Betrachtung, so stellt C. im Schlußteil fest, kann es nicht entgehen, daß auch die Historiographie der Bundesrepublik ideologisch gebunden ist, was er an Hand des „Sachwörterbuchs zur deutschen Geschichte", Wilhelm Treues „Deutsche Geschichte" und Friedrich Lütges „Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" demonstriert.] Revue Historique 86 (228), S. 409—426. F i s c h e r , Alexander: Der Weg zur Gleichschaltung der sowjetzonalen Geschichtswissenschaft. 1945 — 1949. Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 10, S. 149 — 177. Bar t e l , Horst / G e m k o w , Heinrich / W i n k 1er, Gerhard: Bericht über die Marx-EngelsForschung in der DDR auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft. Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, Sonderheft: Beiträge zur Marx-EngelsForschung in der DDR, S. 13—51. S c h u f f e n h a u e r , Werner / U l l r i c h , Horst: Bericht über die Marx-Engels-Forschung in der DDR auf dem Gebiet der Philosophie. Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, Sonderheft: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung in der DDR, S. 5 2 - 7 2 . T u c h s c h e e r e r , Walter: Bericht über die Marx-Engels-Forschung in der DDR auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4, Sonderheft: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung in der DDR, S. 73 bis 99. Deutschland im Spiegel sowjetzonaler Erdkundebücher. Ostbrief 8, S. 52—58. K e r s t e n , Heinz: Sozialistischer Realismus contra Moderne. Die Situation der Bildenden Kunst in der Sowjetzone. SBZ Archiv 13, Nr. 19, S. 292—296.

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A n d e r s , Ulf: Eingegrenzte Kunst. [Über Gegenwartskunst in der SBZ.] Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 5 4 - 5 6 . S c h i l l e r , Dieter: Die Entwicklung der Lyrik in der DDR 1945—1960. Weimarer Beiträge 8, S. 3 5 7 - 3 8 0 . K e r s t e n , Heinz: Der Zonenfilm und sein Publikum. SBZ Archiv 13, Nr. 22, S. 345 - 3 4 8 . S i e g m u n d - S c h u l t z e , Walther: 10 Jahre Händel-Pflege und Händel-Forschung. Bemerkungen zu den künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen der hallischen Händel-Renaissance. [Ein Rückblick auf die Händel-Pflege in der SBZ 1952—1962.] Händel-Jahrbuch 14, S. 5 - 3 3 . H ö n t s c h , Winfried: Das Händel-Gedenkjahr 1959. Bemerkungen zur Händel-Pflege außerhalb der Festspiele. [Über die Musikerehrungen in der SBZ.] Händel-Jahrbuch 14, S. 2 1 9 - 2 3 7 . B e r g n e r , D.: Die DDR würdigt Johann Gottlieb Fichte. Deutsche Zs. f. Philosophie 10, H. 4, S. 417 - 4 2 9 . B e r g n e r , D.: Lebendiges nationales Erbe — Zur Fichteehrung in der Deutschen Demokratischen Republik. Deutsche Zs. f. Philosophie 10, H. 11, S. 1347—1359. H e l w i g , Werner: Bert Brechts Poesie und Politik. Merkur 16, 2, S. 933—943. Zum Problem der Wiedervereinigung K o c h a n , Lionel: L'U.R.S.S. et le partage de l'Allemagne en zones d'occupations. [Die sowjetische Auffassung bewegte sich zwischen der Möglichkeit eines Sonderfriedens mit einem ungeteilten Deutschland und einer Aufteilung Deutschlands im Rahmen einer Zerstückelung Europas, bei der Rußland die einzige militärisch und politisch bedeutende Macht auf dem Kontinent geblieben wäre. Die Aufteilung Deutschlands in Zonen, deren Planung und Verwirklichung von Teheran bis Potsdam in den einzelnen Phasen geschildert wird, ist das Ergebnis der Tatsache, daß keiner der Alliierten auf Deutschland verzichten konnte.] Revue d'Histoire de la deuxième guerre mondiale 12, H. 46, S. 1 3 - 2 7 . M r u c k , Armin E.: Neue Aspekte der amerikanischen Deutschlandpolitik? [Zur OderNeiße-Linie, Wiedervereinigung und zu West-Berlin.] Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 3 4 - 3 5 . F e d e r a u , Fritz: Das deutsche Problem. Ein Beitrag zur Frage der Wiedervereinigung. Deutsche Rundschau 88, S. 31 —44. A l l e m a n n , F. R . : Adenauer's Eastern Policy. [Behauptet, daß die Hallsteindoktrin, obwohl juridisch und logisch überzeugend, die Entwicklung einer gangbaren Ostpolitik verhindert hätte.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 2 9 - 3 6 . C r o a n , Melvin: Reality and Illusion in Soviet-German Relations. [Bespricht Beziehungen zwischen Moskau und Pankow und die Verhandlungen zwischen Moskau und Bonn.] Survey, a Journal of Soviet and East European Studies 44—45, S. 12—28. C o r n i d e s , Wilhelm: Die vermauerte Wilhelmstraße. Perspektiven der Deutschland-Frage am Beginn der Genfer Abrüstungskonferenz von 1962. Europa-Archiv 17, S. 179—184. P o e g g e l , Walter/Wagner, Ingo: Der deutsche Friedensvertrag und die friedliche Wiedervereinigung. Völkerrechtliche Studie. Wiss. Zs. der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1, Beilage S. 3—30. T h e d i e c k , Franz: Die deutsche Wiedervereinigung im Rahmen des weltpolitischen Ge-

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU ALLGEMEINES

schehens. Konstruktive Ostpolitik auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts. Ostdeutsche Monatshefte 28, S. 1 2 9 - 1 3 3 . S c h m i d - E g g e r , Hans: Selbstbestimmungsrecht und Föderation. [Über Probleme der Wiedervereinigung.] Deutsche Ostkunde 8, S. 84—87. S c h r o e r s , Rolf : Aufstand für die Wiedervereinigung ? [Sehr kritisch über die westdeutsche Haltung zur Wiedervereinigung und zur SBZ sowie zu den Zielen, die heute ein Aufstand in der Ostzone noch haben könnte. Sch. ist der Meinung, daß angesichts der Entwicklung in der Bundesrepublik und der SBZ ein solcher Aufstand nicht mehr für die Wiedervereinigung, sondern nur für „einen besseren Kommunismus" stattfinden könnte.] Merkur 16,1, S. 3 0 6 - 3 2 0 . A l t m a n n , Rüdiger/B o n d y , Francois/Marsch, Wolf-Dieter/Schuster, H a n s / U e x k ü l l , Gösta v. : Gibt es einen „Aufstand für die Wiedervereinigung" ? Diskussionsbeiträge zu dem Aufsatz von R. Schroers. Merkur 16,2, S. 667—673. B o v e r i , Margret/Hentig, Hartmut v . : Gibt es einen „Aufstand für die Wiedervereinigung"? Diskussionsbeiträge zum Aufsatz von R. Schroers. Merkur 16,1. Merkur 16,2, S. 9 6 2 - 9 6 9 . L i n k , Hetta: Der 17. Juni. Lübeckische Blätter 122, S. 165—168. B a r i n g , Arnulf: Patriotische Fragezeichen. [Gedanken zur Wiedervereinigung und zur westlichen Wiedervereinigungspolitik.] Der Monat 14, H. 167, S. 7—13. A Ile m a n n , Fritz René: Ging es denn besser ohne Ulbricht? [Gegenfragen auf den Beitrag von Arnulf Baring „Patriotische Fragezeichen", in: Der Monat 14, H. 167.] Der Monat 14, H. 169, S. 1 4 - 2 0 . B e s s e r t , Lieselotte: Um die kirchliche Einheit im geteilten Deutschland. Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 3 6 - 3 8 . G r o t e , Hinrich: Deutschland-Wettbewerbe der Jugend. Junge Menschen sehen ihr geteiltes Land. Europäische Begegnung 2, H. 2, S. 54—55. 4. DIE DEUTSCHEN OSTGEBIETE (NACH 1945) UND DAS VERTRIEBENENPROBLEM M a r z i a n , Herbert: Zeittafel und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie. Juli 1960 bis Juni 1961. [Mit Presseauszügen.] Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 12, S. 2 9 2 - 3 0 8 . Oder-Neiße-Dokumentation. — Eine sowjetzonale Propagandaschrift. [„Oder-NeißeDokumentation". Ost-Berlin 1956.] Ostbrief 8, S. 267—275. R i c h t h o f e n , Bolko v . : Die Oder-Neiße-Linie im Lichte ausländischer Stimmen. Ostdeutsche Monatshefte 28, S. 31 —36. D r o ß , Armin: Legende und Wirklichkeit. Zur Darstellung der Oder-Neiße-Frage in der deutschen und polnischen Publizistik. Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 27—30. T r z c i o n k a , E. : Die Behandlung der Oder-Neiße-Grenze in den deutschen und polnischen Schulen. Wiss. Zs. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 11, H. 1/2, S. 5 9 - 6 5 . St o l l , Christian Th. : Die Oder-Neiße-Gebiete und die „verifizierten" Deutschen im Lichte des Völkerrechts. [Zur Rechtslage der deutschen Ostgebiete und zur Staatsangehörigkeit der in den Ostgebieten verbliebenen Deutschen.] Ostbrief 8, S. 77—82. B r a u n , Joachim Freiherr v . : Völkerrechtlich fragwürdig? Ein Beitrag zu den Fragen des östlichen Deutschland. Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 4—10.

DIE DEUTSCHEN OSTGEBIETE UND DAS VERTRIEBENENPROBLEM

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B e s k e , Hans: Oder-Neiße — Friedensgrenze oder europäischer Krisenherd? Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 2 - 3 . D o m s , Julius: Warum sind die deutschen Ostgebiete kein Handelsobjekt? Deutsche Ostkunde 8, S. 2 5 - 3 7 . K r ü g e r , Heinz: Oder-Neiße-Grenze kein Preis oder Tauschgeschäft. Deutsch-polnische Hefte 5, S. 2 1 - 2 2 . S k o w r o n s k i , Andrzej: Program Polskiej Partii Robotniczej wobec problemu granicy polsko — niemieckiej. (Das Programm der polnischen Arbeiterpartei angesichts des Problems der polnisch-deutschen Grenze.) [1943—1945.] Przegl^d zachodni 18, t. 1, S. 2 3 6 - 2 5 2 . P i l i c h o w s k i , Czeslaw: Zagadnienie ziem zachodnich w programie i dzialalnosci Polskiej Partii Robotniczej. (Das Problem der Westgebiete im Programm und in der Tätigkeit der Polnischen Arbeiterpartei.) Kwartalnik opolski, Nr. 1/29, r 8, S. 11—44. M i n c z a k i e w i c z , Tadeusz: Problematyka ziem zachodnich w dokumentach KC PPR. (Die Problematik der Westgebiete in den Dokumenten des Zentralkomitees der Polnischen Arbeiterpartei.) Kwartalnik opolski, Nr. 1/29, r 8, S. 82—86. H i e r o w s k i , Zdzislaw: The Western Territories in Polish Literature. Polish Western Affairs 3,1.1, S. 4 4 2 - 4 5 7 . M e y e r , Enno: Die Oder-Neiße-Frage und die polnische Geschichtswissenschaft. Europäische Begegnung 2, H. 1, S. 16—18. P r o r o k , Leszek: Congresses of Writers from the Western Territories. Polish Western Affairs 3,1.1, S. 4 5 8 - 4 6 8 . K o w a l s k i , Wlodzimierz Tadeusz: Problem granicy polsko-niemieckiej przed konferencj^ w Jalcie. 1943 — 1944. (Das Problem der polnisch-deutschen Grenze vor der Konferenz in Jalta. 1943—1944.) Sprawy miçdzynarodowe 15, z. 5, S. 44—71. M a j k a , Abbé Joseph: Les bases morales des rapports polono-allemands. [Ausgehend von dem Grundsatz, daß die politische Moral Bestandteil der allgemeinen Moral mit dem Ziel des Bonum commune ist, spricht der Vf. dem deutschen Volk eine kollektive Verantwortung für die Hitler-Verbrechen zu. Andererseits sind die nach dem Kriege von ihm geforderten Opfer als Wiedergutmachung und als Garantie des Friedens moralisch gerechtfertigt.] Cahiers Pologne-Allemagne 1 (12), S. 8—22. K o k o t , Joseph: Le marché du travail en Allemagne contemporaine (R.F.A. et R.D.A.). [Die demographische Entwicklung Deutschlands bleibt immer mehr hinter den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zurück. Erst recht verfügt das deutsche Volk also nicht mehr über die biologischen Kräfte, um die verlorenen Ostgebiete wieder aufzufüllen. So ist die Oder-Neiße-Linie eine natürliche Grenze der deutschen Wirtschaft.] Cahiers Pologne-Allemagne 1 (12), S. 4 7 - 5 9 . Z i ô l k o w s k i , Janusz: The Sociological Aspects of Demographic Changes in Polish Western Territories. Polish Western Affairs 3, t. 1, S. 3—37. S z a m b e l a n , Andrzej : Zagadnienia rozwoju panstwowego przemyslu terenowego na Ziemiach Zachodnich. (Probleme der Entwicklung der staatlichen Gebietsindustrie in den Westgebieten.) Przegl^d zachodni 18, t. 2, S. 287—295. S t r o b e l , Georg W . : Entwicklung und Probleme der polnischen Agrarwirtschaft in den Jahren 1959—1960. [Behandelt auch die deutschen Ostgebiete.] Osteuropa 12, S. 190 bis 201. Um die Bewirtschaftung des Brachlandes in Ostdeutschland und Polen. Auszug und Zusammenfassung aus„Nowe Drogi" 16,1962, Nr. 3, S. 34—43. Wissenschaftlicher Dienst f. Ostmitteleuropa 12, H. 6, S. 2 0 1 - 2 0 6 .

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ZEITSCHRIFTENUMSCHAU EINZELNE GEBIETE

Die wirtschaftliche Ausnutzung der Oder nach 1945. Ubersetzung und Zusammenfassung nach „Gospodarka Wodna" 22 (62), H. 6, S. 245—249. Wissenschaftlicher Dienst f. Ostmitteleuropa 12, H. 11, S. 4 0 1 - 4 0 5 . K r u s k a , Harald: Evangelische Kirche jenseits von Oder und Neiße. [Uber die evangelischen Restgemeinden in den deutschen Ostgebieten.] Ostdeutsche Monatshefte 28, S. 327 bis 333. Deutscher Ostdienst. Informationen des Bundes der Vertriebenen 4, Charakter der Zeitschrift unverändert, vgl. Hinweis in JGMOD 9/10, S. 634—635. H u b a t s c h , Walter: Flüchtlingstransporte aus dem Osten über See. Ostdeutsche Wissenschaft 9, S. 4 0 4 - 4 2 7 . D u l c z e w s k i , Zygmunt/Kwilecki, Andrzej: Udzial wielkopolskiej organizacji PPR w akcji przesiedlerinczej na Ziemie Zachodnie w r. 1945. (Der Anteil der großpolnischen Organisation PPR [polnische Arbeiterpartei] an der Umsiedlungsaktion in die Westgebiete im Jahre 1945.) Przeglqd zachodni 18, t. 1, S. 99—121. R o g a l l a , Erwin: Das Trauma der Vertreibung. Fragen und Antworten zum Problem der psycho-politischen Auswirkung der Massenvertreibung. Unser Oberschlesien 12, Nr. 11, S. 3. S c h w a b - F e l i s c h , Hans: Kann Gott wiedergeben? Zur Frage der Heimatvertriebenen. Der Monat 14, H. 161, S. 3 7 - 4 4 , H. 162, S. 4 3 - 5 1 . W a l c z a k , A. W . : The Conception of Heimatpolitik in the Foreign Policy ofWest Germany. Polish Western Affairs 3,1.1, S. 38—79. J a k s c h , Wenzel: Die Stimme Ostdeutschlands. [Bedeutung und Forderungen der landsmannschaftlichen Kundgebungen 1962.] Der europäische Osten 8, S. 245 —249. S t r o s c h e , Johannes H.: Grundfragen der Behandlung von Vertriebenen- und Flüchtlingsproblemen im Unterricht. Deutsche Ostkunde 8, S. 87—92. L e h m a n n , Ernst: Ostdeutsche Volksgruppen im Unterricht. Deutsche Ostkunde 8, S. 7 3 - 8 3 . C h r i s t , Hans: Gefeit gegen jeden politischen Leichtsinn. Die junge Vertriebenen-Generation in der sich wandelnden Gesellschaft. Unser Oberschlesien 12, Nr. 13/14, S. 8. L e o p o l d , W. F.: Ostdeutsche Speisenamen in Westdeutschland. [Sprachliche Einwirkung der Ostflüchtlinge auf Westdeutschland.] Rheinisch-westfälische Zs. f. Volkskunde 9, S. 5 6 - 7 6 . B. EINZELNE GEBIETE 1. BERLIN Bibliographie zur Geschichte Berlins für die Jahre 1960/61. Bearb. v. J. Lachmann, M. Kühn