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German Pages 425 [385] Year 2022
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR Z E N T R A L I N S T I T U T FÜR G E S C H I C H T E Direktor: Akademiemitglied Prof. Dr. Walter Schmidt INSTITUT FÜR ALLGEMEINE GESCHICHTE Direktor: Prof. Dr. Karl Drechsler
Redaktionskollegium: Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Helmut Bleiber, Karl Drechsler, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Martin Robbe, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Walter Schmidt, Wolfgang Schröder, Gustav Seeber Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Dietrich Eichholtz, Jutta Eichholtz, Petra Heidrich, Gerhard Keiderling, Michael Lemke, Klaus Mammach, Hans Schleier
JAHRBUCH 3 8 FOR GESCHICHTE
AKADEMIE-VERLAG
BERLIN 1989
Redaktionsschluß: 15. Oktober 1987
ISBN 3-05-000559-9 ISSN 0448-1526 Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1989 Lizenznummer: 202 • 100/40/89 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg L S V : 0265 Bestellnummer: 7548276 (2130/38) 02500
Inhalt
Karl-Heinz Börner
Krise und Ende des Rheinbundes — hauptsächlich unter militärpolitischem Aspekt
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Zur Konstituierung „kleiner" Selbständiger während der bürgerlichen Umwälzung in Leipzig. Ein Beitrag zur messestädtischen Sozialgeschichte
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Jakob Rokitjanski/ Waltraud Seidel-Höppner
Wilhelm Weitlings autobiographische Aufzeichnungen 1858-1870 (Erstveröffentlichung)
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Harald Koth
Vorstellungen opportunistischer Kräfte in der deutschen Sozialdemokratie über den Weg zum Sozialismus (1898-1904) 139
Hans-Jürgen Arendt
Die bürgerlichen Frauenorganisationen in der Weimarer Republik. Ein Überblick • ' . . . . 167
Annette Neumann
Grundzüge der Gewerkschaftspolitik der KPD von August 1921 bis Ende 1922 201
Johannes Glasneck
Die Sozialistische Partei SFIO und ihre Stellung im politischen System des französischen Imperialismus (1921-1932/33) 235
Klaus Mammach
Deutsche Emigration in Österreich 1933—1938 . . . .
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Ines Mietkowska-Kaiser
Der Weg zum Moskauer Vertrag
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Heinrich Bortfeldt
Zu konservativen Trends in der Historiographie und in der Politikwissenschaft der USA in den 70er und 80er Jahren 361
Susanne Schätz
Autorenverzeichnis
381
Abkürzungen
BzG DZfPh GdA GG HZ IISG IML/CPA IML/ZPA JbG JbRG JbW MEGA MEW StAD StaL StAP WZ ZIG ZStAM ZStAP
Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Deutsche Zeitschrift für Philosophie Geschichte der Arbeiterbewegung, 1966 Geschichte und Gesellschaft, Göttingen Historische Zeitschrift, München Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, Zentrales Parteiarchiv Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Geschichte Jahrbuch für Regionalgeschichte, Weimar Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Marx-Engels-Gesamtausgabe Marx/Engels, Werke Staatsarchiv Dresden Stadtarchiv Leipzig Staatsarchiv Potsdam Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam
Verlagsort ist, sofern nicht anders angegeben, Berlin. Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, 1956—1965, zitiert.
Karl-Heinz
Börner
Krise und Ende des Rheinbundes — hauptsächlich unter militärpolitischem Aspekt
Im Sommer 1806 hatten 16 Fürsten ihren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erklärt und sich unter dem Protektorat Napoleons zum Rheinbund zusammengeschlossen. Nach der Annexion Nordwestdeutschlands durch Frankreich im Herbst 1810 erhielt die rheinische Konföderation ihre endgültigen Grenzen: 283 100 km 2 mit ca. 13,5 Millionen Einwohnern. 1 Mit dem Rheinbund hatte Napoleon das entscheidende Instrument für sein Hegemonialsystem in Deutschland geschaffen. Das Vertragswerk legte u. a. fest, daß der Krieg eines Bundesmitglieds als Krieg aller zu gelten habe, wofür Frankreich 200 000 und der Rheinbund nach einer letzten Erhöhung 1809 121 370 Soldaten stellen mußten. Angesichts des Kräfteverhältnisses konnte allein Frankreich im Rahmen des Bundes über die Frage Krieg oder Frieden entscheiden und damit die Konföderation jederzeit für seine expansiven Interessen ausnutzen. Der Bund diente zur Sicherung der französischen Westgrenze, stand den französischen Korps stets als Aufmarschraum offen, bedeutete eine Bedrohung der ebenfalls von Frankreich abhängigen Staaten Preußen und Österreich und verstärkte das napoleonische Militärpotential beträchtlich. Seit der Annexion deutscher Territorien durch Frankreich diente eine nicht näher bestimmbare Zahl von Soldaten deutscher Nationalität direkt in der französischen Armee.2 Die Kontingente für die Feldzüge 1806/07 gegen Preußen und 1809 gegen Österreich waren von den Rheinbundfürsten bereitwillig gestellt worden. Am Schluß beider Kriege wurde der Einsatz besonders der größeren Fürsten mit zum Teil beträchtlichen Landzuweisungen durch Napoleon honoriert. 1809 boten die süddeutschen Fürsten, hauptsächlich der König von Württemberg, mehr Truppen auf, als das „Verteidigungsbündnis" mit Frankreich vorsah, denn in diesem Krieg ging es um die Erhaltung ihrer Territorien, in die umfangreiche ehemalige österreichische Gebiete integriert waren. Ein Sieg des früheren Reichsober1
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Koppen, Wilhelm, Deutsche gegen Deutsche, Hamburg 1936, S. 82; Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart 19672, S. 87. Am 2. 3.1811 hatte Napoleon z. B. in den drei hanseatischen Departements die Aushebung von 3 000 Seeleuten für die französische Flotte angeordnet. Rüthning, Gustav, Oldenburgische Geschichte, Oldenburg/Berlin 1937, S. 507. Die Infanterieregimenter Nr. 127—129 rekrutierten in den norddeutschen französischen Departements. Ebenda, S. 513.
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Börner
Tabelle 1 Einwohner und nach dem Rheinbundtraktat der Rheinbundstaaten
zu stellende
Militärkontingente
Staat
Einwohner 3
Militärkontingent
Königreich Bayern Königreich Westfalen Königreich Sachsen Königreich Württemberg Großherzogtum Baden Großherzogtum Berg Großherzogtum Hessen Großherzogtum Würzburg Herzogtum Mecklenburg-Schwerin Großherzogtum Frankfurt Herzogtum Nassau Herzogtum Sachsen-Gotha Herzogtum Sachsen-Weimar Herzogtum Mecklenburg-Strelitz Fürstentum Lippe-Detmold Herzogtum Sachsen-Coburg Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt Herzogtum Anhalt-Dessau Herzogtum Sachsen-Meiningen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen Fürstentum Isenburg Fürstentum Waldeck Herzogtum Anhalt-Bernburg Herzogtum Sachsen-Hildburghausen Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen Herzogtum Anhalt-Köthen Fürstentum Schaumburg-Lippe Fürstentum Reuß-Schleiz Fürstentum Reuß-Greiz Fürstentum Reuß-Lobenstein Fürstentum Reuß-Ebersdorf Fürstentum Hohenzollern-Hechingen
3 530 000 2160 000 2 050 000 1320 000 960 000 800 000 570 000 350 000 330 000 303 000 270 000 187 000 110 000 70 000 66 000 61 000 58 000 54 000 48 000 45 000 45 000 41 000 36 000 32 000 32 000 29 000 24 000 24 000 22 000 15 000 15 000 14 000
30 000 25 000 20 000 12 000 8 000 5 000'* 6 0005 2 000 1 900 2 800 1 680 1 100 800 400 5606 400 325 350 300 325 291 400 240 200 290 200 280
Fürstentum Liechtenstein Fürstentum von der Leyen 3
4
5
5 000 4 500
45Q
s. HohenzollernSigmaringen 40 29
Einwohnerzahlen hauptsächlich nach Koppen, S. 82; Behr, Wilhelm Joseph, Der Rheinische Bund, Glashütten 1971, Nachdruck von 1808, S. 70; Viebahn,*Georg v., Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 2, Berlin 1862, S. 40, 43. Die Sollstärke des bergischen Militärs erhöhte Napoleon im August 1808 auf 7 200 Mann, im Juni 1811 auf 8180 Mann; bereits im Frühjahr 1809 befanden sich 6 500 Soldaten außerhalb der Landesgrenzen im Einsatz. Goecke, Rudolf, Das Großherzogtum Berg, Köln 1877, S. 32, 45; Poten, B., Handwörterbuch der gesamten Militärwissenschaften, Bd. 1, Bielefeld/Leipzig 1877, S. 478. Das hessische Kontingent betrug ursprünglich 4 000 Mann, wurde später aber nach weiterer territorialer Ausdehnung des Großherzogtums auf 6 000 Mann erhöht.
Krise und Ende des Rheinbundes
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hauptes hätte die gesamte seit 1805 zugunsten der Rheinbundfürsten vollzogene Machtkonzentration in Frage gestellt. Ersten Widerstand setzten einige deutsche Potentaten dem Aufgebot zur Bek ä m p f u n g der spanischen Insurgenten ab 1808 entgegen. Napoleon verzichtete z. B. aufgrund der Argumentation Bayerns und Württembergs, sie benötigten ihr Militär zum Schutz gegen Österreich, auf die Teilnahme bayrischer und württembergischer Truppen an seinem Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel. Ebensowenig wie durch den spanischen Aufstand sahen sich die Rheinbundfürsten durch Rußland bedroht. Doch der nachdrücklichen Forderung Napoleons zur Erfüllung ihrer Bündnispflicht kamen sie 1812 mit Eifer nach. Genauso bereitwillig erfüllten die Könige und Großherzöge zwischen Rhein und Elbe in der Regel auch im Herbst 1812 die Forderungen ihres Protektors nach Ersatzformationen zur Auffüllung der in Rußland kämpfenden Kontingente. 1811 und Anfang 1812 hatte Napoleon den teilweisen Abzug der größeren und den Rückmarsch der sehr dezimierten Gesamtformationen der kleineren Rheinbundstaaten von Spanien nach Deutschland veranlaßt, wo sie als Kader f ü r neue Bataillone und Schwadronen dienen sollten. Doch blieben 1812 weiterhin ca. 9 500 Rheinbundsoldaten auf der Pyrenäenhalbinsel. Das im F r ü h j a h r 1812 f ü r den Krieg gegen Rußland gestellte Kontingent zählte ca. 128 000 Mann. Dazu kamen als Ersatz bis Anfang Januar 1813 nochmals 12 000 bis 14 000 Soldaten. Damit betrug das Gesamtaufgebot des Rheinbundes 1812 rund 150 000 Mann. Bei der Planung des Feldzuges gegen die russisch-preußische Koalition operierte Napoleon zu Beginn des Jahres 1813 mit einem Militärpotential des Rheinbundes, das dem des Jahres 1812 nicht viel nachstand. Am 12. März legte er in einem Erlaß zur neuen Organisation der Armee f ü r die Rheinbundkontingente fest, daß Bayern und Sachsen je zwei, Westfalen und Württemberg je eine, Hessen, Baden und F r a n k f u r t gemeinsam eine Division bilden sollten. 7 Hatte Napoleon dabei lediglich im Falle Westfalens mit einer erheblich geringeren Gestellung als 1812 gerechnet, so stellte sich jedoch heraus, daß der militärische Einsatz des Rheinbundes im Frühjahrsfeldzug 1813 weit unter den Erwartungen des f r a n zösischen Kaisers blieb. Napoleon hatte seine Politik gegenüber Deutschland systematisch darauf gerichtet, die Rheinbundfürsten zu zuverlässigen Stützen seines Hegemonialsystems rechts des Rheins zu machen. Rangerhöhungen, territoriale Erwerbungen, Befreiung der kleineren Fürsten aus mittelalterlichen Lehnsverhältnissen und die Proklamation der Souveränität verpflichteten die gekrönten Häupter gegenüber Napoleon. Im Zuge der von ihm geförderten Reformbestrebungen konnten die süd- und westdeutschen Fürsten die bisherige Machtstellung ständischer Vertretungen brechen und die staatliche Gewalt verstärkt oder allein in ihren Händen konzentrieren, durch eine Reihe von umwälzenden Maßnahmen die Lei-
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Ebling, Hanswerner, Die hessische Politik in der Rheinbundzeit 1806—1813, Diss. Mainz 1952, S. 152. In der Rheinbundakte wurde das Kontingent Lippe-Detmolds mit 500 Mann und das Schaumburg-Lippes mit 150 Mann beziffert, in einer Konvention 1809 auf 560 bzw, 280 Mann erhöht. Fischer, Hans-Jürgen, Die Rheinbundpolitik Schaumburg-Lippes 1806-1813 und ihre Rechtsfolgen, Rinteln 1975, S. 36, 68. Correspondance de Napoleon Ier, Bd. 25, Paris 1868, Nr. 19 698.
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Tabelle 2 Militäraufgebot des Rheinbundes 1812 Staat
Bayern Westfalen Sachsen Württemberg Baden Berg Hessen Würzburg Frankfurt Mecklenburg Nassau sächsische Herzogtümer Anhalt Lippe Schwarzburg Reuß Waldeck Hohenzollern Isenburg Liechtenstein Leyen
Einsatz in Spanien
700
2 000 600 1 610 800 600
Große Armee Sommer 1812
Ersatz
28 860 27 700 26 880 13 550 6 770 6 000 5110 3 000 2100 2100
8 000 1300 5 000 1 360 1 200 330 300
3 460 2 800 860 840 800 450 400 in das Kontingent Nassaus integriert
stungsfähigkeit ihrer Territorien steigern und damit ihre Machtmittel potenzieren. Eine Opposition gegen Napoleon hätte ihnen den stärksten Rückhalt gegen die retardierenden Kräfte genommen und erschien deswegen undenkbar. Ein weiteres Mittel zur Stabilisierung der französischen Position im Rheinbund bedeuteten die drei napoleonischen Protektoratsstaaten Westfalen, Berg und Frankfurt. Die Heirat König Jérômes mit einer Tochter des Königs von Württemberg, die Ehe Eugène Beauharnais, des Adoptivsohns Napoleons, mit einer Tochter des Königs von Bayern und die Ehe des Großherzogs von Baden mit einer Tante des Eugène band weitere Fürstenfamilien enger an Frankreich. Den hohen Grad der Abhängigkeit deutscher Fürsten von Napoleon fixierte der Rheinbundtraktat. Nach seinen Paragraphen wurde die innere Souveränität der Einzelstaaten voll akzeptiert, ihre Außenpolitik und militärische Kommandogewalt aber stillschweigend auf den Bundesprotektor delegiert.8 Das ausgeklügelte System vielfältiger Bindungen der Rheinbundfürsten an Napoleon, das im Laufe der Zeit infolge permanenter Kriegführung und einer nur Frankreich begünstigenden Handelspolitik immer stärkeren Belastungen ausgesetzt war, brauchte als Hauptvoraussetzung die unangefochtene Militärdominanz Napoleons in Europa. Nach der eklatanten Niederlage der Großen Armee in Rußland entstanden bei einigen Rheinbundfürsten ernsthafte Zweifel 8
Huber, S. 81.
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darüber, ob es weiterhin vorteilhaft sei, die Anforderungen des französischen Kaisers zu erfüllen. Zwar besaßen die Untertanen der Rheinbundfürsten kein politisches Mitspracherecht, doch erstmals in der kurzen Geschichte der rheinischen Konföderation wirkten sie Anfang 1813 in einigen Rheinbundstaaten auf die Entscheidung ein, ob und in welchem Umfang die Forderungen Napoleons erfüllt wurden. Aus der französischen Hegemonialpolitik hatten sich für das deutsche Volk sehr widersprüchliche Resultate ergeben. „In Deutschland war Napoleon der Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten feudalen Gesellschaft. Napoleon wandte die Schreckensherrschaft, die in Frankreich ihr Werk getan hatte, in der Form des Krieges auf andere Länder an — und diese Schreckensherrschaft war in Deutschland dringend notwendig." 9 Dank des französischen Sieges über die Feudalordnung in Deutschland hielt der bürgerliche Fortschritt in den meisten deutschen Territorien Einzug. Doch die zahlreichen in ihrem Wesen progressiven Maßnahmen erzeugten nur kurzfristig — wenn überhaupt — in breiteren Schichten Sympathien für die neue, von den Franzosen initiierte Ordnung. Einerseits fehlte es dem Antifeudalismus Napoleons an Konsequenz, weil sein Träger im Wesen antidemokratisch war und die französischen Eroberungsinteressen die Grenzen diktierten, in denen sich die bürgerliche Umwälzung vollzog,10 andererseits wurde die nationale Krise unter den Bedingungen der Fremdherrschaft zur Existenzkrise des deutschen Volkes gesteigert.11 Große personelle Opfer hatten schon die Feldzüge Napoleons von 1806 bis 1811 gefordert. So verlor das Regiment der Herzöge von Sachsen in den Kriegen gegen Österreich und Spanien 1809—1811 2 135 Mann,12 vom Bataillon der Herzöge von Anhalt kamen nach zweijährigem Einsatz 112 Mann zurück,13 von 280 Soldaten Schaumburg-Lippes sahen Anfang 1811 nur 34 ihre Heimat wieder,14 die beiden Regimenter Nassaus verloren in Spanien im Verlauf von fünf Jahren 4 081 Mann.16 Allgemein ist der Verlust der von 1808/09 bis 1811 in Spanien eingesetzten Rheinbundkontingente auf 80 bis 90 Prozent ihrer Sollstärke zu veranschlagen. Außer dem Blutopfer verlangte der militärische Einsatz für Napoleons Interessen auch erhebliche materielle Aufwendungen. Allein Baden kostete die Verwendung seiner Truppen in Spanien ca. drei Millionen Franken. 16 Darüber hinaus zerstörte die permanente Kriegspolitik „die Hoffnungen jener 9 10
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Vl 15
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Engels, Friedrich, Deutsche Zustände, Brief 1, in: MEW, Bd. 2, 1957, S. 568. Scheel, Heinrich, Die nationale Befreiungsbewegung, in: Das Jahr 1813, hrsg. von Heinrich Scheel, Berlin 1963, S. 5. Lenin, W. I., Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Werke, Bd. 27, 1960, S. 149. Keerl, Erich, Herzog Ernst I. von Sachsen-Coburg zwischen Napoleon und Metternich. Ein deutscher Kleinstaat im politischen Kräftespiel der Großmächte 1800—1830, Diss. Erlangen/Nürnberg 1973, S. 109. Wäschke, H., Geschichte Anhalts von der Teilung bis zur Wiedervereinigung, Bd. 3, Kothen 1913, S. 317. Fischer, S. 68. Bernays, Guillaume, Schicksale des Großherzogtums Frankfurt und seiner Truppen, Berlin 1882, S. 312. Waller, Anneliese, Baden und Frankreich in der Rheinbundzeit 1805—1813, Diss. Freiburg 1935, S. 128.
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Karl-Heinz
Börner
Deutschen, die in Napoleon einen Bahnbrecher der menschlichen und staatsbürgerlichen Freiheit, im Rheinbund eine entwicklungsfähige Staatenföderation erwarteten", 17 unter ihnen viele namhafte Anhänger des bürgerlichen Fortschritts. Weitreichende Nachteile erwuchsen der Wirtschaft des Rheinbundes aus der Handels- und Zollpolitik Napoleons,18 die sich auf die soziale Situation fast aller Bevölkerungsschichten auswirkten. Die gegen England gerichtete Kontinentalsperre hinderte oder verteuerte den Import wichtiger Rohstoffe und hochwertiger Industriewaren und brach zudem auch den Export der deutschen Staaten. Das Gewinnstreben der französischen Bourgeoisie sicherte Napoleon durch Einfuhrverbote und hohe Zölle auch gegenüber dem Rheinbund. Ebenso schloß er den spanischen und italienischen Markt weitgehend für deutsche Waren. Der Schutz vor der englischen Konkurrenz kam lediglich der Metallwarenproduktion und einigen Branchen der Textilindustrie zugute, letzteres besonders im Königreich Sachsen. Schwere wirtschaftliche Schäden erlitten das Küstengebiet durch Sperrung der Häfen und die vor allem auf den Export landwirtschaftlicher Produkte orientierten Gebiete.19 Zu Notstandsgebieten wurden Hanau, wo ein hochspezialisiertes Textilgewerbe hauptsächlich für den Export nach Übersee produziert hatte, und Berg, dessen Baumwollwebereien, Eisenund Stahlwarenproduktion durch die französische Handelspolitik ruiniert wurden. Die katastrophale Wirtschaftslage und das sinkende Vertrauen in den Bestand der herrschenden Ordnung spiegelten sich u. a. in der Bewertung der Staatspapiere wider. Obligationen der Stadt Frankfurt, eines Zentrums des Geldgeschäfts, die 1810 noch 80 Prozent ihres Nennwertes besaßen, fielen bis Ende 1812 auf 54 Prozent.20 Noch bevor Napoleon Deutschland ein diskriminierendes handelspolitisches System aufzwang, hatte er durch direkte Ausplünderung vieler deutscher Staaten die französische Kriegskasse gefüllt. Aus dem 1803 für etwas mehr als zwei Jahre okkupierten Kurfürstentum Hannover preßte er 26 Millionen Taler.21 Im Verlauf des Krieges 1806/07 behandelte er fast alle nicht zum Rheinbund gehörigen Territorien als erobertes Gebiet, obwohl er sich nur mit Preußen und 17
Deutsche Geschichte, hrsg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 4, Berlin 1983, S. 78. 18 Vgl. Mottek, Hans, Zu den ökonomischen Auswirkungen der Fremdherrschaft, in: Der Befreiungskrieg 1813, Red. Peter Hoffmann u. a., Berlin 1967, S. 95-105. 19 In Mecklenburg sank der Preis für einen Scheffel Roggen von vier Talern 1806 auf 0,4 Taler bis 1811. Vitense, Otto, Geschichte von Mecklenburg, Gotha 1920, S. 380. Vom bayrischen König wurde der jährliche Verlust des bayrischen Handels infolge der von Napoleon dekretierten Vorschriften auf 800 000 Gulden veranschlagt. König von Bayern an Napoleon I. November 1810; Schwarz, Hans W., Die Vorgeschichte des Vertrages von Ried, Diss. München 1933, S. 3. Die Zolleinnahmen der Stadt Frankfurt gingen von 1807 bis 1809 von 60 Millionen Franken auf 11,5 Millionen zurück. Darmstaedter, Paul, Das Großherzogtum Frankfurt/M., Frankfurt a. M. 1901, S. 308. 20 Ebenda, S. 188. 21 Koppen, S. 54. 22 Härtung, Fritz, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775-1828, Weimar 1923, S. 240.
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Sachsen im Kriegszustand befand. So wurden dem kleinen Herzogtum SachsenWeimar 550 000 Taler Kontribution auferlegt. 22 Die Hansestadt Bremen mit knapp 50 000 Einwohnern mußte ab Ende 1806 in drei Jahren 10,5 Millionen Franken und weitere 25 Millionen für den Unterhalt französischer Truppen aufbringen. 23 Mit den negativen Begleiterscheinungen des französischen Hegemonialsystems in Deutschland war die Masse der Bevölkerung in ihrem Alltagsleben konfrontiert. Zerstörung der Produktivkräfte, wachsende steuerliche Belastung, Aushebungen für das Militär, der Zwang zur Versorgung sich immer wiederholender Einquartierungen und die aus alldem resultierende Verelendung — das prägte die Einstellung des Volkes zu der im Rheinbund geschaffenen Ordnung. Der mit den Franzosen in das Land gekommene bürgerliche Fortschritt brachte dagegen nur für eine kleine Minderheit greifbare Vorteile. Aus der krisenhaften Situation des Rheinbundes erwuchs eine latente Opposition, die sich bereits im Königreich Westfalen 1809 bis zum offenen Aufstand gesteigert hatte. Die innere Entwicklung ihrer Staaten beunruhigte auch die Fürsten. König Jérôme schrieb Ende 1811 voller Sorge dem französischen Kaiser: „Die Gärung ist auf dem höchsten Grad angelangt. Man gibt sich den verrücktesten Hoffnungen hin . . . Man nimmt Spanien zum Beispiel, und falls der Krieg (mit Rußland — K.-H. B.) ausbrechen sollte, werden alle zwischen Rhein und Oder gelegenen Gegenden Schauplatz einer ausgedehnten und lebhaften Erhebung werden." Die Gründe für die gefährliche Lage sah er im Haß gegen die Franzosen, in der Ungeduld, das fremde Joch abzuschütteln, und im „Unglück der Zeiten", worunter er die napoleonische Kriegspolitik subsumierte. Jérôme befürchtete, daß „die Verzweiflung der Völker, die nichts mehr zu verlieren haben, da ihnen alles abgenommen wurde", als „Feuersbrunst" bei allen Herrschern des Rheinbundes ausbreche und sie zu den ersten Opfern ihrer Untertanen werden lasse.2'* Die Alternative, entweder mit ihren „Untertanen" das Joch der Fremdherrschaft abzuwerfen oder weiterhin eine in erster Linie französischen Interessen dienende Politik zu treiben, bestand für die Fürsten des Rheinbundes nicht. Angesichts der überlegenen militärischen Stärke Napoleons sahen sie nur die Möglichkeit, den einmal gewählten Weg fortzusetzen und sich durch ihre Willfährigkeit die Gunst des französischen Kaisers zu erhalten. Für die Niederwerfung von Aufständen ihrer Untertanen würde er im Interesse der Stabilität seines Herrschaftssystems allemal Sorge tragen. Mit der Vorbereitung des Feldzuges gegen Rußland erreichte die Mißstimmung der Bevölkerung eine neue Stufe. Truppenaushebungen, neu ausgeschriebene Steuern, an den Heerstraßen bisher nicht gekannte Einquartierungsbelastungen, Vorspannforderungen, Ausschreitungen des Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung und Plünderungen waren für das Volk die Begleiterscheinungen des Aufmarsches der Großen Armee. Passiver Widerstand gegen den Krieg, der nur Napoleons Machtstreben diente, zeigte sich von Anfang an. Massenhaft suchten sich die Wehrpflichtigen der Konskription zu entziehen. Im Großherzogtum 23 24
Bippen, Wilhelm v., Geschichte der Stadt Bremen, Halle/Bremen 1904, S. 351. Fürstenbriefe an Napoleon, hrsg. von Friedrich M. Kircheisen, Bd. 2, Stuttgart/Berlin 1929, S. 284.
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Börner
Würzburg blieb fast ein Viertel der Aufgebotenen der Musterung fern.2a Doch bei der großen Zahl Wehrfähiger konnten alle Einheiten vollzählig gestellt werden. Nach dem Ausmarsch der Truppen kam es bei einigen Kontingenten, wie dem Würzburger, Frankfurter und Thüringer, zu umfangreichen Desertionen. In den ersten Kriegsmonaten erfüllten die Rheinbundtruppen in der Regel die Erwartungen Napoleons. Die Fürsten spornten hauptsächlich die Offiziere durch Auszeichnungen und materielle Zuwendungen an und lechzten förmlich nach lobenden Worten des Kaisers über die Leistungen ihrer Soldaten.26 Mit zunehmenden Strapazen, steigenden Verlusten und angesichts der Benachteiligung gegenüber französischen Einheiten wuchs die Mißstimmung und sank die Kampfmoral. Agitation von russischer Seite förderte unter diesen Bedingungen Zersetzungserscheinungen, die auf dem Rückzug allgemeinen Charakter annahmen. Unter den Deserteuren befanden sich hauptsächlich Deutsche. Deserteure und Gefangene erklärten oftmals die Bereitschaft, sich am Kampf gegen die Franzosen zu beteiligen. Hauptsächlich aus ihnen wurde die russisch-deutsche Legion rekrutiert. Ein westfälisches Bataillon konnte im Oktober geschlossen in das Korps Wittgenstein eingereiht werden.27 Das Erlebnis des Rußlandfeldzuges trug aber auch zur Desillusionierung führender Militärs des Rheinbundes über den Charakter der napoleonischen Politik im allgemeinen und die Funktion deutscher Truppen unter französischem Kommando im besonderen bei. Die prononciert antinapoleonische Verhaltensweise des sächsischen Generals von Thielmann und des bayrischen Generals von Wrede 1813 wäre sicherlich ohne das Jahr 1812 nicht denkbar gewesen. Unter den Rheinbundfürsten war es der König von Württemberg, der dem Feldzug mit Vorbehalten entgegengesehen hatte, weil er die Dezimierung seines wichtigsten Machtinstruments, der mit viel Engagement auf hohe Leistung und Disziplin gedrillten Armee, befürchtete.28 Durch die Kritik Napoleons an der Moral württembergischer Kavallerie und dessen Zweifel an der Zuverlässigkeit einiger Generale und Offiziere sowie die Ersetzung württembergischer Kommandeure durch Franzosen fühlte er sich als Souverän zutiefst verletzt.29 Im Herbst erfüllte er nur noch zögernd die Ersatzanforderungen Napoleons. Im Rheinbund und in dem von Frankreich annektierten Gebiet Nordwestdeutschlands war den Behörden bekannt, daß die Bevölkerung den Krieg gegen Rußland ablehnte.30 Die Aversion gegen die von Napoleon errichtete Ordnung verstärkte sich, doch kam der Widerstand nicht über passive Formen hinaus. Der Präfekt des Departements Ems Orientale ließ sicherheitshalber in Ostfries-
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Chroust, Anton, Das Großherzogtum Würzburg (1806—1814). Die äußere Politik des Großherzogtums, Würzburg 1932, S. 341, 344. Ebling, S. 52 ff. Vgl. Röder, Reinhold, Zur Geschichte der Konvention von Tauroggen, in: Das Jahr 1813, S. 100 ff. Hölzle, Erwin, Württemberg im Zeitalter Napoleons und die deutsche Erhebung, Stuttgart/Berlin 1937, S. 155. Pfister, Albert, Aus dem Lager des Rheinbundes 1812 und 1813, Stuttgart/Berlin 1897, S. 32, 36, 38 ff., 64; Fürstenbriefe an Napoleon, Bd. 1, S. 238, 240 ff. Kleinschmidt, Arthur, Geschichte des Königreichs Westfalen, Kassel 1970, Nachdruck von 1893, S. 490, 531; Waller, S. 143; Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 353.
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land im September 1812 die privaten Schußwaffen einsammeln. 31 Manch ein Bewohner des Rheinbundes erwartete von dem Krieg eine entscheidende Schwächung oder gar die Vernichtung des napoleonischen Hegemonialsystems. 32 In F r a n k f u r t am Main unterlegte man den vier „N" auf den Uniformjacken der französischen Infanterie den prophetischen Sinn: „Nur nicht nach Norden". In Thüringen und Sachsen zeigte das einfache Volk durch Beschenkung von Transporten gefangener Russen dem Gegner Napoleons unverhohlene Sympathie und in Westfalen durch den Boykott der Tedea f ü r den Sieg der Großen Armee bei Borodino dem Feldherrn Napoleon seine Antipathie. 33 Nachrichten über die massenhaften Verluste des französischen Kaisers verbreiteten sich erst im Spätherbst. Als Ende November eine Zeitung in Würzburg die Verlustziffern des großherzoglichen Infanterieregiments bekanntgab, löste dies eine solche Erregung aus, daß auf Drängen des französischen Geschäftsträgers die Angaben schnell dementiert wurden. 3 '' Das 29. Bulletin der Großen Armee vom 3. Dezember, in dem Napoleon die Vernichtung der Großen Armee mitteilte, schien erhebliche Teile der Bevölkerung von einem Alpdruck zu befreien. In Bremen beglückwünschten und umarmten sich die Menschen auf der Straße. Obwohl die Rheinbundkontingente in das Inferno mit einbezogen waren, kam es an vielen Orten zu Freudensäußerungen über den Untergang des napoleonischen Heeres. Der französische Gesandte in F r a n k f u r t beschwerte sich bei einem großherzoglichen Minister über zu lautstarke Freudenbekundungen. Napoleon drohte Bremen wegen des unpatriotischen Verhaltens der Bürger Repressalien an.35 Aus Würzburg berichtete der französische Geschäftsträger dem Außenminister Maret zum Jahreswechsel, daß die militärischen Verluste f ü r Übelgesinnte eine wahre Quelle der Freude seien, aber auch schon Furcht vor dem Wiederauffüllen der Lücken auslösten. 36 Ein Pfarrer beschrieb die Stimmung im Südosten des Königreichs Westfalen: „Als endlich die lodernden Flammen des ungeheuren Brandes (von Moskau — K.-H. B.) bis in die weiteste Ferne des Abendlandes zu uns herüberleuchteten, da war es, als wenn ein neuer Stern des Trostes und der Hoffnung aufblitzte, daß die Geschicke der Völker eine andere Wendung bekommen könnten." Das Volk meinte, im Untergang der napoleonischen Armee „ein göttliches Strafgericht zu erkennen und ein gerechtes". 37 Napoleon hatte schon von Moskau aus Anordnungen zur Ersatzbeschaffung f ü r seine stark reduzierte Heeresmacht erlassen. Neben Aushebungen in Frankreich befahl er seinem Außenminister am 23. September, von den Rheinbundfürsten
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Wiarda/Tilemann/Dothias, Ostfriesische Geschichte, Bd. 10, 2. Abt., Leer 1817, S. 825 f.; vgl. auch Rüthning, S. 509. 32 Röder, S. 91 f.; Darmstaedter, S. 388. 31 Röder, S. 96; Kleinschmidt, S. 531. 34 Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 352. 35 Bippen, S. 371; Wohlwill, Adolf, Neuere Geschichte der Freien und Hansestadt Hamburg insbesondere von 1789 bis 1815, Gotha 1914, S. 425; Röder, S. 97; Darmstaedter, S. 389. 36 Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 353. 37 Nagel, F. G., Bilder aus der Heimat. Die denkwürdigen Jahre von 1806 bis 1815, hrsg. von Heinrich Gemkow, Berlin 1855, S. 190.
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Truppenergänzungen zu verlangen. 38 Marschall Murat, der Anfang Dezember das Kommando über die Trümmer der Großen Armee übernommen hatte, zeichnete in seinen Berichten ein Schreckensbild der militärischen Situation an der Ostgrenze des französischen Machtbereichs. Napoleon brauchte buchstäblich den letzten Mann, um seinen Hegemonieanspruch in Europa weiter behaupten zu können. Nicht nur die Front auf der Pyrenäenhalbinsel und im Osten gegen Rußland benötigte zahlreiche kampfstarke Verbände, sondern auch innerhalb des französischen Herrschaftssystems war gegen den wachsenden Widerstand des eigenen und der unterjochten Völker sowie zur Einschüchterung abhängiger Fürsten eine stärkere Militärpräsenz erforderlich. Nachdem in Frankreich die Rüstungen bereits auf vollen Touren liefen, wies der Rheinbundprotektor die deutschen Fürsten ebenfalls zu Höchstleistungen bei der Vorbereitung auf den neuen Feldzug an. 39 In seinen Schreiben ging Napoleon von einer angeblich günstigen militärischen Situation an der Ostgrenze seines Imperiums aus. Allerdings, so räumte er ein, könne sich durch den Verrat Yorcks der Krieg weiter nach Deutschland hineinziehen. „Ich habe alle Maßregeln ergriffen, um die Grenze des Rheinbundes zu decken, aber alle Bundesstaaten müssen die Notwendigkeit fühlen, ihrerseits den Umständen entsprechende Anstrengungen zu machen. Es gilt nicht allein gegen den äußeren Feind sich vorzusehen; es gilt noch einen viel gefährlicheren zu fürchten: den revolutionären Geist der Anarchie." Der beim Zaren einflußreiche Freiherr vom Stein „und alle Leute, die eine Änderung in der Gestaltung Deutschlands erhoffen, suchen seit langer Zeit, sie durch den Umsturz und die Revolution zu erreichen". Napoleon stellte damit den deutschen Vasallen seine militärischen Anstrengungen allein als Schutz des Rheinbundes vor dem russischen Heer hin, gleichzeitig aber auch als Abwehr einer durch progressive Kräfte drohenden Entmachtung der Rheinbundfürsten. So konnte es nicht unbillig erscheinen, von den angesprochenen Fürsten zu verlangen, „keine einzige Maßregel zu vernachlässigen und alles zu tun, um Ihr Kontingent auf den nämlichen Stand wie vor dem Kriege zu setzen". Als Lohn stellte Napoleon in Aussicht, daß „in einem zweiten Feldzug" die gemeinsame Sache triumphieren werde „als die sichere Gewähr eines ehrenvollen und sicheren Friedens, dessen erste Bedingung sein wird, alles Bestehende zu erhalten und weder an das Bestehen des Rheinbundes noch an die Interessen seiner Souveräne zu rühren". Napoleon verschleierte die wirkliche militärische Lage bewußt. Abgesehen von den Festungsbesatzungen standen im Osten nur verschwindend kleine demoralisierte Reste der ehemals sieggewohnten Korps, die mit eilig herangezogenen Verstärkungen Mitte Februar erst wieder 55 000 Mann zählten. 40 Auch ging es zum Jahresanfang 1813 nicht um die Sicherung des Rheinbundes, sondern um die Existenz des napoleonischen Machtsystems überhaupt, was auch die Rheinbundfürsten inzwischen erkannt hatten. Dagegen bestand tatsächlich die von Napoleon als Schreckmittel angeführte „Gefahr" einer „Änderung in der Gestaltung Deutschlands". Zwar fehlten für eine soziale Revolution die objektiven 33 39 40
Correspondance de Napoleon Ier, Bd. 24, Paris 1868, Nr. 19 218. Ebenda, Nr. 19 462. Helmert, Heinz/Usczek, Hansjürgen, Europäische Befreiungskriege 1808 bis 1814/15, Berlin 19812, S. 199.
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Bedingungen, doch an einem Umsturz der im Rheinbund und im französisch gewordenen Nordwestdeutschland bestehenden Verhältnisse war die Bevölkerungsmehrheit interessiert. In den nächsten Monaten mußte sich zeigen, ob sie willens und fähig war, diesen Umsturz zu versuchen oder sich an der Seite der militärischen Gegner Napoleons daran zu beteiligen. Eugène Beauharnais, Vizekönig von Italien, übernahm von Murat am 17. Januar den Oberbefehl über die Große Armee. Unter dem anhaltenden Druck der Russen erreichte er am 6. März 1813 bei Wittenberg die Elbe, sein Hauptquartier verlegte er anschließend nach Leipzig. Napoleon befahl ihm mehrmals von Paris aus, die Elbe so lange wie möglich zu halten und sie von Torgau bis Magdeburg zu besetzen, gleichzeitig von dieser Position aus auch das Königreich Westfalen und die 32. Militärdivision, die französischen Departements in Norddeutschland, zu decken.41 Nach diesen Aufforderungen setzten sich die Hauptkräfte des Vizekönigs endlich am 18. März nach Norden in Bewegung, er selbst verließ Leipzig erst zwei Tage später. Seit dem 17. März schon befand sich die Streifschar Tettenborns im aufständischen Hamburg. Für Napoleon gab es mehrere Gründe, den Vizekönig gerade mit der Deckung der Unterelbe zu beauftragen. In keinem Gebiet links des Flusses waren die Ablehnung und der Widerstand gegen die französische Herrschaft so stark wie gerade in Norddeutschland. Hier bestand am ehesten die Gefahr einer umfassenden Insurrektion. Würde diese zusätzlich von Russen und Engländern militärisch unterstützt, so konnte das zu einem gefährlichen Einbruch an der Nordflanke des französischen Herrschaftssystems führen. An die untere und mittlere Elbe grenzte aber auch der instabilste Rheinbundstaat — Westfalen, an das sich nach Westen das ebenfalls sehr instabile Großherzogtum Berg anschloß. Beide Protektoratsstaaten Napoleons bedurften jetzt für ihre Fortexistenz eines verstärkten Schutzes. Und schließlich gefährdete ein gegnerischer Vorstoß über die Unterelbe die Mobilisierung der militärischen Kräfte im norddeutschen Raum, darunter besonders die Tätigkeit der Remontierungsplätze Hannover und Braunschweig für die so dringend benötigte Kavallerie. Außerdem beabsichtigte Napoleon noch Anfang 1813, den Kampf gegen die Russen mit einem Vorstoß von der Unterelbe aus zu beginnen. Indem der Vizekönig das Hauptaugenmerk auf die Verteidigung der rechten Flanke seines Verteidigungsabschnittes richtete, begünstigte er an der Niederelbe eine Entwicklung, die schwerwiegende Folgen haben sollte. Zu ersten Widerstandsaktionen im Rheinbund war es im Großherzogtum Frankfurt gekommen. Am 17. Januar hatten hier im Gebiet um Hanau mehrtägige Unruhen begonnen. Eine größere Menschenmenge ließ auf dem Markt von Hanau den Zaren und den Kurfürsten von Hessen, den ehemaligen Landesherrn, hochleben, sang Spottlieder auf die Franzosen und riß von den Gebäuden der kaiserlich napoleonischen Domänenverwaltung die französischen Wappen herunter. Junge Leute, als Kosaken verkleidet, verprügelten französische Offiziere. Am 20. steigerte sich der Aufruhr so weit, daß vom Volk der Abmarsch der
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Holleben, Albert v., Geschichte des Frühjahrsfeldzuges 1813 und seine Vorgeschichte, Bd. 1, Berlin 1904, S. 211 f.; Correspondance de Napoleon ler, Bd. 25, Nr. 19 664, 19 675, 19 721.
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Konskribierten trotz Militäreinsatzes verhindert wurde.42 Die Unruhen, ausgelöst durch die Konskription, griffen auf mehrere Ämter über. Nach den Aufständen von 1809 war diese lokal eng begrenzte und spontane Aktion ein erstes Zeichen für den rapide gewachsenen Widerstandswillen und die Bereitschaft großer Teile des Volkes zur Abschüttelung der Fremdherrschaft im Rheinbund. Paris wertete die Vorgänge in Hanau richtig als Symptom der allgemeinen Stimmung in Deutschland und forderte exemplarische Strafen. 43 Ein Frankfurter Bataillon stellte die alte Ordnung wieder her. Neben einigen Verhaftungen gab es eine Reihe von Vorschriften und Verboten zur Wahrung der „öffentlichen Ruhe und Sicherheit".44 Wesentlich bedeutender war der Aufstand im Großherzogtum Berg, der zwischen Ruhr und Sieg ein Gebiet von mindestens 3 000 km2 mit den Städten Hagen, Iserlohn, Remscheid und Solingen erfaßte und damit den größten Teil Bergs erschütterte. Dieser Aufstand war organisiert, besaß im sogenannten russischen Hauptquartier eine Leitung und hatte als militärischen Führer den Schmied Kratz, einen desertierten Unteroffizier mit Kriegserfahrungen von der Pyrenäenhalbinsel. Die Erhebungen begannen in Etappen seit dem 22. Januar immer, in den Orten, wo sich größere Menschenmengen anläßlich des Konskriptionstermins zusammenfanden. In Haufen von 300 bis 500 Mann durchzogen die Aufständischen das Land. Die größte rebellierende Menge fand sich am 27. Januar mit 7 000 bis 8 000 Mann in Wermelskirchen ein.45 Ehemalige Untertanen des Fürsten von Nassau trugen ein orangefarbenes Band, die Farbe des früheren Landesherrn. Die Beteiligten am Aufstand waren Arbeiter, aber auch Kleinbürger. Unmittelbar richtete er sich gegen die befohlene Konskription, gegen die von Frankreich aufgezwungenen diskriminierenden Handelsbestimmungen und -praktiken sowie die Kontinentalsperre, gegen Douaniers und den Franzosen gegenüber besonders willfährige Gendarmen und Maires. Beabsichtigt wurde auf längere Sicht aber ein Partisanenkrieg zur Schwächung der Militärkraft Frankreichs, um das Vordringen des russischen Heeres zu erleichtern,46 auf das die Aufständischen große Hoffnungen setzten. Was diese von einem Sieg über Napoleon erwarteten, besagte ein Plakat: „Es lebe Kaiser Alexander! Napoleon hat euch die Gleichheit des Elends gebracht, Alexander wird euch Zucker und Kaffee geben."47 Das hieß neben dem Sturz der französischen Macht Aufhebung aller Bestimmungen und Maßnahmen, die das Wirtschaftsleben hemmten. Der württembergische Gesandte berichtete seinem König nach einem Gespräch mit dem französischen Außenminister, daß in Paris „Furcht vor einem Aufstand 43
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Kleinschmidt, S. 550; Darmstaedter, S. 200, 390 f.; Bernays, S. 441; Heitzer, Heinz, Über den Kampf des deutschen Volkes gegen die nationale Unterdrückung, vor allem im Königreich Westfalen, phil. Diss. Berlin 1956, S. 258. Darmstaedter, S. 391. Ebenda, S. 391 f£. Rosenthal, Heinz, Der bergische Aufstand von 1813, in: Hildener Jahrbuch 1965-1970, Hilden 1971, S. 201 ff. Ebenda, S. 200, 204. Schmidt, Charles, Le Grande-Duché de Berg (1806-13), Paris 1909, S. 466; nach Rosenthal, S. 199.
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in Deutschland ist, der im Bergischen, in der Gegend von Düsseldorf und Elberfeld . . . schon in vollen Flammen steht". 48 Die Sorge, daß dieser Aufstand Signalfunktion f ü r weitere Erhebungen bekommen könnte, war berechtigt. So meldete ein französischer Intendant, in Schmalkalden würden württembergische Offiziere die Bevölkerung auffordern, gemeinsame Sache mit den bergischen Aufständischen zu machen. 49 Aus bürgerlichen Kreisen erhielten die Insurgenten nur geringe Unterstützung. Die Masse des Bürgertums zog die Weiterexistenz der französischen Herrschaft einer Befreiung durch die unteren sozialen Schichten vor und unterstützte die Aktionen zur Niederschlagung der Erhebung. Noch ehe die von Napoleon aus Wesel, Mainz und dem Königreich Westfalen aufgebotenen Streitkräfte das Aufstandsgebiet erreicht hatten, konnte dadurch von- einem halben Hundert Mann Kavallerie die Zerschlagung der Aufständischen erfolgreich begonnen werden. Mit 17 Todesurteilen - glaubte das französische Militär eine genügend abschreckende Wirkung zu erzielen. 50 Der bergische Aufstand, der auch im angrenzenden Großherzogtum Hessen „aufrührerische" Bewegungen auslöste, ließ König Jérôme das Schlimmste befürchten. Ende Januar wurden Truppen zum Schutz der Westgrenze Westfalens entsandt, und in der Residenz Kassel sollten starke Militärpatrouillen der Insurrektionsgefahr entgegenwirken. 51 Die Aufstände von Hanau und Berg reflektierten Merkmale, die typisch f ü r die antifranzösische Bewegung im Rheinbund waren : 1.Der Sieg der russischen Armee 1812 gab den Anstoß f ü r die Insurrektionen und erweckte die Hoffnung, daß auch in Deutschland die französische Fremdherrschaft durch die Russen gebrochen würde. 2. Die Bevölkerung war am ehesten dort bereit, vom passiven zum aktiven Widerstand überzugehen, wo sie am meisten unter französischen Drangsalierungen und Benachteiligungen durch das napoleonische Handelssystem zu leiden hatte. 3. Erhebungen waren n u r in Gebieten zu erwarten, wo schon eine relativ große Zahl vorproletarischer Elemente existierte. Während diese Kräfte zu vorbehaltlosem Einsatz f ü r die Befreiung von dem fremden Joch bereit waren, wartete das Bürgertum weiterhin auf die Befreiung durch das reguläre Militär der Gegner Napoleons und schreckte im Interesse der Wahrung seiner Klassenposition auch nicht vor einer Zusammenarbeit mit napoleonischen Machtorganen zurück. 4. Die Aufstandsbewegungen zeigten starke restaurative Züge. Nach den außerordentlichen Belastungen unter den neu geschaffenen Verhältnissen sah die ideologisch und politisch noch unreife Masse des Volkes nur die Alternative, sich f ü r die Wiederherstellung von wesentlichen Elementen der alten Ordnung einzusetzen. 5. Aufstandsbewegungen hatten keine Erfolgsaussichten, wenn sie nicht von regulären Truppen unterstützt wurden. i8
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Pfister, S. 195. Rosenthal, S. 204.
Ebenda, S. 206. Kleinschmidt,
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Führende russische und preußische Militärs wie Kutusow und Scharnhorst berücksichtigten in ihrer strategischen Planung im Februar die Situation Norddeutschlands. Schnell bewegliche Streifkorps sollten im Raum zwischen Elbe und Weser weit vor den Armeen die zum aktiven Widerstand bereite Bevölkerung insurgieren bzw. Insurrektionen unterstützen, die Aufstellung militärischer Verbände fördern und damit das Potential der Verbündeten stärken, die ökonomischen und militärischen Ressourcen der Franzosen aber schwächen. 52 Das Hinauszögern des Bündnisabschlusses Friedrich Wilhelms III. mit Alexander I. und die relativ späte Kriegserklärung Preußens an Napoleon ließen auch in dieser Hinsicht kostbare Zeit ungenutzt verstreichen. Bestärkt durch die Hoffnung auf das baldige Erscheinen der Russen war es in Hamburg am 23./24. Februar zu Aktionen der Bevölkerung gegen die französische Herrschaft gekommen. Anschließende Tumulte in Hamburg, Lübeck und Lüneburg kennzeichneten die ausgeprägt antifranzösische Stimmung im gesamten Departement der Elbmündung. Schon die Umwandlung der Hamburger Kohorten der Nationalgarde in Militärformationen und deren Abmarsch nach Magdeburg waren nur unter Einsatz französischer Soldaten möglich gewesen. 03 General Carra St.-Cyr konnte in Hamburg die französische Herrschaft kurzfristig nochmals stabilisieren, wobei er sich auf das Großbürgertum und dessen städtische Organe Mairie sowie Munizipalrat stützte. Mit sieben Erschießungen rächte er den Aufstand. Dem Bürgertum wurde gestattet, die frühere Bürgergarde zum Schutz vor weiteren Erhebungen neu zu organisieren. 54 Schon Anfang März breitete sich der A u f r u h r im Elbdepartement weiter aus. Mangelhaft bewaffnete Arbeiter, Tagelöhner und Bauern zerstörten staatliche Einrichtungen und vertrieben Repräsentanten der französischen Staatsmacht. Die geringen militärischen Kräfte St.-Cyrs waren diesem permanenten Widerstand gegenüber machtlos, so daß französische Beamte und das Militär nach dem Westen auswichen. St.-Cyr räumte Hamburg am 12. März, am 18. flohen die französischen Behörden aus Lüneburg. Der Abfall des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin vom Rheinbund beim Erscheinen der russischen Streifschar Tettenborn und seine sofortige Bereitschaft zu einem Bündnis mit der russisch-preußischen Koalition ermöglichten Tettenborn den raschen Vorstoß auf Hamburg, wo seine Reiter am 17./18. März mit Glockengeläut und Illuminationen empfangen wurden. Vom Departement der Elbmündung sprang der Funke des Aufstandes zum Departement der Wesermündung über und zündete schließlich auch im dritten Küstendepartement rechts der Ems. Der Unterpräfekt von Oldenburg gab vor seiner Flucht die Vollmachten freiwillig an eine Administrativkommission ab. Graf Bentinck, unter den Franzosen Maire eines Kantons, trug den Aufstand mit einer Schar Bauern bis an die ostfriesische Küste. 55 Vom verängstigten Präfekten des Departements Wesermündung wurden Militär, Gendarmen und Douaniers in Bremen zusammengezogen, was die Erhebung im Lande zunächst nur begünstigen konnte. Am 16. März verjagten Bauern und deutsche Kanoniere der Küsten52 w w 55
Usczek, Hansjürgen, Scharnhorst, Berlin 1974, S. 215. Wohlwill, S. 426. Ebenda, S. 430 f.; Heitzer, S. 264 f. Rüthning, S. 515 f.
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batterie Blexen (Wesermündung) die französischen Vorgesetzten. Die Batterie von Geestdorf am gegenüberliegenden rechten Weserufer zwangen ebenfalls Bauern der Umgebung zur Kapitulation. 56 Damit waren die letzten militärischen Stützpunkte der Franzosen in den Küstendepartements gefallen. Am Ende der zweiten Märzdekade beherrschten die Aufständischen den größten Teil des von Frankreich annektierten Territoriums Nordwestdeutschlands. Noch bevor Preußen als erster deutscher Staat am 16. März Frankreich den Krieg erklärte und noch ehe preußische Truppen Kampfhandlungen gegen französische aufnahmen, hatte der Befreiungskrieg Deutschlands als Insurrektionskrieg angefangen. Es begann die „ruhmvolle Zeit, wo die deutsche Nation seit Jahrhunderten wieder zum ersten Male sich erhebt und auswärtiger Unterdrückung in ihrer ganzen Kraft und Größe sich gegenüberstellte". 57 Es war der von Scharnhorst herbeigesehnte Moment eingetreten, die Empörung Norddeutschlands als wirksames Mittel zur Bekämpfung Frankreichs einzusetzen. Doch jetzt fehlten die regulären Truppeneinheiten zur Abwehr der momentan schwachen französischen Kräfte und Initiativen zur Mobilisierung der kampfbereiten Volksmassen. Die noch im Februar in Kaiisch erörterten Pläne für einen Volkskrieg waren von der reaktionären Gruppierung im Lager der Verbündeten inzwischen verworfen. Hinzu kam, daß Rußland und Preußen ihre Hauptbemühungen auf die Gewinnung Sachsens und Österreichs richteten. Der Kriegsschauplatz Norddeutschland besaß nur noch untergeordnete Bedeutung. Die Hilfe des Zaren, der durch seine Streifscharen in Norddeutschland zum Gegengewicht Napoleons wurde, „galt den mit ihm verbündeten Fürsten, sein Beistand trotz der Kalischer Proklamation den Vertretern des Absolutismus ,von Gottes Gnaden'". 58 In einem Aufruf an die Bewohner Nordwestdeutschlands vom 16. März verkündete der russische General Graf Wittgenstein als Ziel des russisch-preußischen Feldzuges: „Euere Ketten zu brechen, Euch Euere Sprache, Euere Euch teuren vorigen Verfassungen, um Euch Euch selbst wieder zu geben." 59 Mit dieser Politik, die „vorigen Verfassungen" wieder einzuführen, wurde von vornherein die objektiv bestehende historische Aufgabe eines deutschen Nationalstaates mißachtet und den Forderungen solcher Patrioten wie Stein und Scharnhorst nach einem vereinheitlichten Deutschland entgegengearbeitet, dagegen den Interessen derjenigen Gewalten Vorschub geleistet, die sich im lokalen Rahmen Norddeutschlands kurzfristig etablierten. So dem Senat von Hamburg, dessen Hauptanliegen die Wiederherstellung der alten hansestädtischen Rechte und Freiheiten war, der Administrativkommission in Oldenburg, die sich als Interessenvertretung des Herzogs auffaßte, und dem Grafen von Bentinck, der das entstandene Machtvakuum dazu benutzte, nie besessene Hoheitsrechte zu usurpieren. 60 Als Reaktion auf die Entwicklung zwischen Niederelbe und Ems stellte Napo36 37 M 39
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Ebenda, S. 515; Bippen, S. 372 f. [Engels, Friedrich], Ernst Moritz Arndt, in: MEW, Erg.bd. T. 2, 1967, S. 120. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die russische Note, in: MEW, Bd. 5, 1959, S. 294. Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Die Erhebung gegen Napoleon 1806—1814/15, hrsg. von Hans-Bernd Spies, Darmstadt 1981, S. 251. Rüthning, S. 515.
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leon die drei Küstendepartements unter Belagerungszustand und setzte Marschall Davout mit Sondervollmachten im Gebiet der 32. Militärdivision als Befehlshaber ein. Zunächst standen f ü r die Niederwerfung des Aufstandes nur schwache Kräfte zur Verfügung. Da kein bewaffneter Widerstand geleistet wurde, konnte noch im März mit den Rebellen links der Weser und am rechten Weserufer blutig abgerechnet werden. 61 Die Herrschaft der Franzosen blieb bis in die zweite Aprilhälfte im wesentlichen durch die Weser-Aller-Linie begrenzt, zumal inzwischen weitere Streifkorps der Verbündeten links der Niederelbe operierten und am 2. April bei Lüneburg die hauptsächlich aus Sachsen bestehende Division Morand aufreiben konnten. Selbst die Ankündigung brutalster Strafen f ü r Handlungen gegen die Franzosen in einer Proklamation des Vizekönigs vom 4. April vermochte den Widerstandswillen der Bevölkerung nicht zu brechen. Gemäß dieser Bekanntmachung sollte jeder Einwohner in den von französischen Truppen besetzten Ländern, der „den Feind Frankreichs und seiner Verbündeten" begünstigt oder ihm Dienste leistet, „auf der Stelle arretiert, einer Militärkommission übergeben und binnen 24 Stunden mit dem Tode bestraft" werden. 62 Als Hauptstützpunkt der Verteidigung des norddeutschen Raumes bot sich Hamburg als Großstadt an. Geschützt durch natürliche Wasserhindernisse und umgeben von älteren Befestigungsanlagen konnte es in kurzer Zeit zu einem nur schwer einnehmbaren Bollwerk ausgebaut werden. Der Senat, zum großen Teil aus Vertretern der ehemaligen französischen Stadtobrigkeit zusammengesetzt, betrieb die Verteidigungsmaßnahmen aus Furcht vor späteren Repressalien der Franzosen jedoch nur halbherzig. Militärischen Wert erhielt eine mit Lübeck gemeinsam aufgestellte Hanseatische Legion.63 Nach Berg war es unter den Rheinbundstaaten nur Westfalen, wo die Volksbewegung gegen die bestehende Ordnung Massencharakter annahm. Sie entwickelte sich nach dem Beginn des Befreiungskrieges, ohne über eng begrenzte lokale Erhebungen hinauszugehen. Charakteristische Merkmale besaß sie im Anwachsen der Desertion, der Meldung zahlreicher Westfalen in den Freikorps der Verbündeten und bei Steuerverweigerungen. 64 Die Entfaltung des Partisanenkrieges im Westfälischen erschöpfte sich in Einzelaktionen. Dagegen fanden die Operationen der russischen und preußischen Streifscharen vielfältige Unterstützung. Diese und Aktionen der Bevölkerung desorganisierten die westfälische Verwaltung während der Monate April und Mai in den nördlichen und östlichen Departements und nahmen der Regierung die Möglichkeit, die Ressourcen dieser Gebiete f ü r die Neuaufstellung des Heeres zu nutzen. Mitte April teilte Jérôme seinem Bruder mit, daß seit vier Tagen alle Zahlungen, außer Sold und Gehalt, eingestellt seien und die Beschaffung von Kleidung und Pferden f ü r das Militär völlig unterbrochen wäre. Napoleon müsse sofort einige Millionen schicken, „damit wir uns halten können". 65 61 62
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Ebenda, S. 518 f£.; Bippen, S. 374 f£. Specht, F. A. K. v., Das Königreich Westfalen und seine Armee 1813, Kassel 1848, S. 46. Wohlwill, S. 442 ff. Heitzer, S. 305, 312. Fürstenbriefe an Napoleon, Bd. 2, S. 290.
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Am 24. April begannen die Franzosen den allmählichen Vormarsch von der Weser und Aller aus zur Niederelbe. Seit dem 9. Mai, sieben Tage nach dem Sieg Napoleons bei Großgörschen, richteten sie ihre Angriffe auf Hamburg, aus dem Tettenborn mit seiner Schar und einigen hanseatischen Einheiten am 30. Mai abzog. Damit befand sich das linkselbische Gebiet wenige Tage vor dem Waffenstillstand wieder in der Verfügungsgewalt Napoleons. In dem Aufstandsgebiet hatte unter dem Schutz und mit Hilfe der Verbündeten die Hanseatische Legion eine Stärke von mehr als 3 000 Mann erreicht. In dem früheren hannoverischen Territorium war hauptsächlich von ehemaligen Offizieren der englisch-hannoverischen Armee die Deutsch-Englische Legion aus Freiwilligen gebildet worden, die Ende April ca. 3 400 Mann zählte. 66 Die einsatzfähigen Teile dieser Verbände, die russischen Streifkorps (Tettenborn, Tschernitschew und Dörnberg), kleinere mecklenburgische und preußische Kontingente umfaßten Anfang Mai 11 630 Mann und bildeten unter dem Generalleutnant Graf Wallmoden das Korps zum Schutz der rechten Flanke der Verbündeten. Gegen diesen bunt zusammengewürfelten Truppenkörper, dem noch die mangelhaft bewaffnete Hamburger Bürgergarde zuzurechnen ist, bot Napoleon unter Davout 36 000 Soldaten auf, 67 d. h. 15 Prozent seiner Feldarmee. Außerdem war das westfälische Militär mit der Abwehr der Streifkorps und dem Niederhalten der aufsässigen Bevölkerung beschäftigt. Erst Mitte Mai konnte Napoleon zur Verstärkung seiner Armee in Sachsen von Davout 10 000 Mann abziehen und ebenso eine 5 000 Mann starke westfälische Division unter dem Generalleutnant von Hammerstein nach Dresden in Marsch setzen lassen. Ohne den Zwang zur Niederwerfung des insurgierten norddeutschen Gebietes hätten Napoleon schon Anfang Mai auf dem Hauptkriegsschauplatz wahrscheinlich 20 000 Soldaten mehr zur Verfügung gestanden. In dem Teil Deutschlands, wo sich der Widerstand gegen die Fremdherrschaft am stärksten regte, ließen sich auch kaum Truppenteile rekrutieren, die zur Verteidigung der französischen Hegemonie in Europa bereit waren. Im Großherzogtum Berg befanden sich Anfang Mai 4 000 Mann in der Formation, doch wagte der französische Kriegsminister nicht, sie wegen „ihrer schlechten Gesinnung" gegen den Feind zu führen. 6 8 Ein Regiment wurde daraufhin zur Festungsbesatzung von Cherbourg gezogen. Am Frühjahrsfeldzug nahm nur eine Schwadron teil, der Rest der bergischen Kavallerie aus dem Feldzug von 1812. Selbst die drastische Verschärfung der Strafen konnte in Berg, Westfalen und im französischen Nordwestdeutschland die Desertion nicht unterbinden. 69 Die westfälische Armee erreichte bis zum Juni zwar ihre Sollstärke, mächte infolge des Mangels an Unteroffizieren und Offizieren und lückenhafter materieller 66
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Herfurth, Helmuth, Die französische Fremdherrschaft und die Volksaufstände vom Frühjahr 1813 in Nordhannover, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 45, Leipzig 1936, S. 131 f. Caemmerer, R. v., Der Frühjahrsfeldzug 1813 und seine Vorgeschichte, Bd. 2, Berlin 1909, S. 352-355, 358, 368. Holleben, Bd. 1, S. 239. Rüthning, S. 527; Lünsmann, Fritz, Die Armee des Königreichs Westfalen 1807—1813, Berlin 1935, S. 275; Feldmann, Hildegard, Einwohner aus dem Kanton Duisburg im französischen Militärdienst 1806—1813, in: Duisburger Forschungen, Bd. 15, Duisburg 1971, S. 152.
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Ausstattung aber nur geringe Ausbildungsfortschritte. Dies und die Notwendigkeit einer starken Präsenz im Lande zur Verhinderung offenen Widerstandes gestattete allein den Abmarsch des kleineren Teils der Truppen zur napoleonischen Feldarmee. Wegen ihrer geringen Zuverlässigkeit setzte der französische Kaiser die Westfalen nicht als geschlossenen Verband ein. Trotz des Sieges der napoleonischen Waffen hatten der Widerstand der Bevölkerung, die Insurrektionen und die Operationen der Verbündeten in Norddeutschland nicht zu unterschätzende militärische Bedeutung: Erhebungen und Streifzüge banden starke militärische Kräfte des napoleonischen Lagers; Desertionen und Aufstellung militärischer Einheiten für die Koalition entzogen dem Gebiet einen Teil der Wehrpflichtigen; Konskription und Aufstellung militärischer Einheiten für die Armee Napoleons wurden erheblich gestört; dauernde Behinderung der Pferdebeschaffung verzögerte die Komplettierung des ersten und zweiten französischen Kavalleriekorps; von der Insurrektions- und Widerstandsbewegung ausgehende Vorbildwirkungen und der zunehmende Terror der Franzosen verstärkten die Ablehnung des französischen Regimes noch mehr; Aufstände, Plünderungen und Kampfhandlungen hatten die Wirtschaftskraft des betroffenen Gebietes stark beeinträchtigt, so daß Steuererhebungen teilweise eingestellt werden mußten. Im Unterschied zu Westfalen, Berg und dem Gebiet um Hanau kam es im Rheinbund, abgesehen vom Süden Bayerns, zu keinen nennenswerten Widerstandsaktionen. Zugute kam den meisten Rheinbundstaaten, daß der naive Monarchismus der übergroßen Bevölkerungsmehrheit den Gehorsam der Untertanen gegenüber alteingesessenen Fürstenfamilien weiterhin garantierte. Widerstandswille und die Tendenz zu Erhebungen zeigten sich hier vor allem in Gebieten, die seit 1803 in andere Staatswesen integriert waren. Die geringste Schwierigkeit bei der von Napoleon geforderten Neugestellung der Militärkontingente bereitete allen Rheinbundstaaten trotz der überall verbreiteten Desertion die Rekrutenbeschaffung. Da das von Frankreich direkt oder modifiziert übernommene Konskriptionssystem nur einen Teil der jungen Männer vom Militärdienst befreite, jährlich beinahe ein Prozent der Bevölkerung neu konskriptionspflichtig wurde und von den Gemusterten über die Hälfte den Tauglichkeitsanforderungen entsprach, hatte bis 1812 bei einer sechsjährigen Dienstzeit der Ausgehobenen stets nur ein Teil der Konskribierten einrücken müssen. So konnte man Ende 1812 und Anfang 1813 bei den Rekrutenaushebungen auf Wehrpflichtige mehrerer Jahrgänge zurückgreifen. Nur schwer zu bewältigen war 1813 die Neubeschaffung der im Krieg gegen Rußland fast völlig vernichteten Ausrüstung. Das zweite große Problem bestand im Mangel an Offizieren und Unteroffizieren. Die Rheinbundfürsten hatten darum Ende 1812 und Anfang 1813 die umgehende Rücksendung ihrer Kontingente gefordert. Doch von diesen existierten Anfang 1813 günstigstenfalls nur noch 20 Prozent der Ausmarschstärke, in ungünstigen Fällen unter zehn Prozent.70 Die Kontin70
Das Regiment der Herzöge von Sachsen zählte noch 550 Mann (Keerl, S. 109) bzw. 309 (Bernays, S. 400); von 28 500 Mann des königlich sächsischen Kontingents befanden sich noch 4 500 bis 5 000 Soldaten bei ihren Einheiten. Von 5 340 Hessen kehrten 370 zurück (Ebling, S. 168); von 1 700 Mann des Kontingents MecklenburgSchwerins etwas über 150 (Vitense, S. 388).
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gentreste mehrerer Staaten wurden vollständig (z. B. Anhalt, Lippe, sächsische Herzogtümer) oder teilweise (z. B. Bayern, Sachsen, Baden) zur Verstärkung von Festungsbesatzungen östlich der Elbe benutzt. Ein Teil des bayrischen und sächsischen Kontingents blieb bis zum April als mobile Truppe im Einsatz. Unter diesen Bedingungen verringerte sich die Zahl der zur Aufstellung neuer Einheiten verfügbaren Kader weiter. Den kleineren Fürstentümern standen aus dem Feldzug 1812 gar keine zur Verfügung, da deren Kontingente vollständig in der Festung Danzig stationiert wurden. Sie sahen sich dadurch außerstande, für den Frühjahrsfeldzug 1813 neue Truppen zu liefern. Unter den im Winter 1812/13 Zurückgekehrten befanden sich verhältnismäßig viel Offiziere, so daß ein großer Teil der Führungsfunktionen in den neuen Einheiten mit kriegserfahrenen Kräften besetzt werden konnte. Wie es um die Tauglichkeit der Teilnehmer des Krieges von 1812 bestellt war, belegt der Inspektionsbericht eines württembergischen Infanterieregiments vom 27. Februar 1813: Alle 83 Soldaten und Unteroffiziere des Rußlandfeldzuges litten an Brustbeschwerden und Fieberanfällen. Sie mußten als nur bedingt brauchbar eingestuft und vom Ausmarsch des Regiments suspendiert werden.71 Im Januar beteuerten die Rheinbundfürsten Napoleon ihre weiterbestehende Gefolgschaftstreue. „Es ist mein größter Ehrgeiz, durch meinen Eifer und meine unveränderliche Ergebenheit die Billigung Euerer Majestät zu erlangen, und ich schmeichle mir, daß Euere Majestät mit der Haltung meiner Truppen zufrieden gewesen ist", heißt es in einem Brief des Großherzogs Karl von Baden.72 Ähnlich lautet das Bekenntnis des Großherzogs Ferdinand von Würzburg, mit dem Zusatz: „Und kein Opfer wird gespart werden, um Sie, Sire, von meinem unveränderlichen Eifer zu überzeugen, Ihre Wünsche zu erfüllen, selbst in Fällen, wo die Schwierigkeiten fast unüberwindlich sind."73 Nur die größeren Fürsten wagten es, ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Neuaufstellung des Kontingents mit dem betonten Hinweis auf die Schwierigkeiten einzuschränken, die sich aus den großen Verlusten von 1812 ergaben. Patriotisch-nationales Denken war fast allen Rheinbundfürsten fremd. Ihnen ging es in erster Linie um die Wahrung des Besitzstandes und der nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches gewonnenen Souveränität. Empfanden auch einige der Fürsten die willenlose Unterordnung unter die französische Herrschaft als nur schwer zu tragendes Joch, so wagten sie aber nicht, Zweifel an ihrer Treue aufkommen zu lassen. Für die Großherzöge von Baden, Hessen und Frankfurt waren die Treueerklärungen nicht nur taktische Manöver, sondern Ausdruck tatsächlicher Ergebenheit. Christian Gottlieb Voigt, Minister in Sachsen-Weimar, formulierte die einfache Überlegung wohl der meisten deutschen Potentaten: „Wir kleinen Könige werden alle unsere Klugheit und Behutsamkeit nötig haben, uns ruhig, unparteiisch und dem Kaiser Napoleon treu zu verhalten, wenn wir nicht auch untergehen wollen."74 Die aus dieser Einstellung
71 72 73 74
Pfister, S. 218. Fürstenbriefe an Napoleon, Bd. 1, S. 290. Ebenda, S. 294. Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Bd. 3, hrsg. von Hans Tümmler, Göttingen 1973, S. 162.
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resultierenden Belastungen und Leiden des Volkes spielten f ü r die Fürsten dabei kaum eine Rolle. Besonderen Eifer bei der Neuaufstellung ihrer Kontingente zur Stärkung der napoleonischen Militärmacht zeigten die Großherzöge von F r a n k f u r t und Würzburg 75 , deren Staaten napoleonische Schöpfungen waren, sowie die Großherzöge von Hessen und Baden. Nur die unbarmherzige Auspressung der Länder ermöglichte die materiellen und personellen Komplettierungen. 76 Ein Diplomat schildert die Situation der Bevölkerung Hessens: „Die Geduld, mit der sie ihre Kinder zur Konskription und die letzten Heller ihres Vermögens zur Bezahlung der exorbitanten Steuern und zur Verpflegung der französischen Einquartierung entweder freiwillig hergeben oder durch Auspfändung ihrer notwendigen Hausgerätschaften die Zahlungen leisten müssen, erregt bei jedem nicht ganz gefühllosen und verworfenen Menschen Mitleiden und Grauen zugleich." 77 Die Bevölkerung der vier Großherzogtümer setzte der Aufstellung und dem Ausmarsch der Kontingente keinen wirksamen Widerstand entgegen. Eine strenge Pressezensur und verschärfte Polizeimaßnahmen sorgten f ü r Ruhe in den Ländern. Hinzu kam, daß diese Großherzogtümer Anfang 1813 starkem militärischem Druck Frankreichs unterlagen: Baden als Grenznachbar, die übrigen als Durchmarsch- und Sammelraum der französischen und italienischen Divisionen sowie der Rheinbundkontingente bei Aufstellung der Mainarmee. Andererseits fehlten aber auch Anzeichen f ü r einen patriotischen Aufschwung wie in den preußischen Provinzen, obwohl der französische Gesandte in Würzburg feststellte, daß die öffentliche Meinung ganz den Interessen und Pflichten der Regierung entgegengesetzt sei.78 Doch leisteten im Großherzogtum F r a n k f u r t nach dem Ausmarsch der beiden Bataillone drei von vier Departementsverwaltungen Widerstand gegen die Gestellung weiterer Rekruten f ü r Ersatzformationen. 79 Hier hatten sich auch schon große personelle Schwierigkeiten bei der Aufstellung des zweiten Bataillons gezeigt. Geführt von Offizieren, die den Anforderungen nicht im geringsten entsprachen, verlor es innerhalb eines Monats den größten Teil seines Bestandes durch Desertion. Gering war auch die 75
70
77 78 79
Großherzog Ferdinand von Würzburg war der Prototyp des Rheinbundfürsten, der ohne Rücksicht auf die Folgen für sein Land und dessen Bewohner bedenkenlos alle Anforderungen Napoleons erfüllte. Er, jüngerer Bruder Kaiser Franz' I. von Österreich, war 1799 von französischen Soldaten als Großherzog von Toskana vertrieben worden, hatte 1802 das säkularisierte Erzbistum Salzburg als Kurfürstentum erhalten, das er 1805 mit dem wiederum kleineren Würzburg tauschen mußte. Obwohl sein Hofstaat und seine ersten Räte von den napoleonischen Diplomaten und Agenten als franzosenfeindlich charakterisiert wurden, gab Ferdinand diesen keinen Anlaß zum Mißtrauen. Er suchte sich um jeden Preis das Wohlwollen Napoleons als wichtigste Voraussetzung für die Sicherung seines dritten Thrones zu erhalten und hoffte, durch besonderen Eifer gegenüber dem französischen Kaiser das Großherzogtum territorial ausdehnen zu können. Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 344, 365, 382 ff., 392, 530. Der Würzburger Militäretat betrug 1812/13 mit 746 000 Gulden das Zweieinhalbfache der Friedensnorm. Ders., Das Würzburger Land vor hundert Jahren, Würzburg 1914, S. 391. Ebling, S. 173 f. Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 357. Bernays, S. 444.
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Kampfmoral eines großen Teiles der Hessen und Badenser zu veranschlagen. Nach der Schlacht von Großgörschen zählte das hessische Kontingent mehr als 800 Vermißte. Einen Tag nach der f ü r Napoleon siegreichen Schlacht meldeten sich bei dem preußischen General von Bülow 200 Überläufer des hessischen und badischen Kontingents. 80 Neben dem norddeutschen Raum, wo der Widerstand des Volkes gegen die napoleonische Herrschaft am stärksten ausgeprägt war und in Insurrektionen gipfelte, und neben dem Oberrhein-Main-Gebiet, wo die Forderungen Napoleons am bereitwilligsten erfüllt wurden, zeichneten sich als drittes Gebiet mit spezifischen gemeinsamen Merkmalen im Rheinbund Anfang 1813 die drei Königreiche Sachsen, Bayern und Württemberg ab. Diese Staaten hatten eine verhältnismäßig große Selbständigkeit bewahren können. Nach der eklatanten Niederlage der Großen Armee versuchten die hier herrschenden K r ä f t e eine vorsichtige Lösung aus der napoleonischen Abhängigkeit, um nicht noch weiter in die Katastrophe ihres Protektors hineingerissen zu werden, um die Kriegsfurie bei weiterem Zurückweichen der Franzosen möglichst von ihren Grenzen fernzuhalten und durch rechtzeitigen Frontwechsel die durch Napoleons Gunst erreichte Machtstellung auch nach dessen eventuellem Rückzug über den Rhein zu retten. Versuchten die Verbündeten im F r ü h j a h r 1813 ihr Vorfeld in Norddeutschland durch Zerschlagung des französischen bzw. "des napoleonhörigen Machtapparates mittels der Volksmassen auszudehnen, so setzten sie im Süden des Rheinbundes ihre Hoffnungen auf die Könige. Gelang es, Sachsen, Bayern und Württemberg, deren Bevölkerung die Hälfte der Einwohner des Rheinbundes ausmachte, oder zumindest Sachsen und Bayern auf ihre Seite zu ziehen, so war bei gleichzeitiger Insurgierung Nordwestdeutschlands noch vor dem Aufmarsch der neuen napoleonischen Heeresmacht mit einem weitgehenden Zusammenbruch der französischen Herrschaft rechts des Rheines zu rechnen. Motive und diplomatische Aktivitäten sowohl der deutschen Großmächte als auch der Herrschenden der drei Königreiche bei der Suche nach einem Modus vivendi boten das Bild eines Geraufes um die Sicherung dynastischer Interessen und machtpolitischer Vorteile. Bayern fürchtete bei einer Fortsetzung des Kampfes an Napoleons Seite Aufstände in den früheren preußischen Territorien Ansbach/Bayreuth sowie den ehemals österreichischen Gebieten von Tirol und Vorarlberg. Die anfängliche Ungewißheit über das Verhalten Österreichs machte es schwer, das Kräfteverhältnis zu kalkulieren. Der Übertritt Österreichs auf die Seite der Verbündeten und deren dann wahrscheinlicher Sieg mußten die Existenz Bayerns und Württembergs in Frage stellen. Ein Teil der -führenden Personen in den drei Königreichen plädierte zeitweilig übereinstimmend dafür, ihre Staaten durch Verweigerung der Truppengestellung f ü r Napoleon aus dem Krieg herauszuhalten. Eine abgestimmte Politik verhinderten aber der ausgeprägte Partikularismus der Mittelstaaten und die Eifersüchteleien zwischen Bayern und Württemberg um die Machterweiterung im süddeutschen Raum und die schon erkennbare Tendenz Bayerns zum Führungsanspruch unter den deutschen Mittelstaaten. Sachsen, das vorübergehend mit Bayern Abmachungen f ü r 80
Steiner, J. W. Chr., Ludwig I. Großherzog von Hessen und bei Rhein, Offenbach 1842, S. 155.
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gemeinsame Schritte traf, 81 verpflichtete sich am 20. April vertraglich zur Unterstützung der österreichischen Vermittlungspolitik. Für Preußen bestand die Aussicht, durch ein direktes Bündnis mit Rheinbundstaaten seine Position in der Koalition gegenüber Rußland zu stärken, gleichzeitig aber auch schon Einflußsphären in dem nachnapoleonischen Deutschland abzustecken.82 Die ultimative Forderung des preußischen Geschäftsträgers in München führte sehr schnell zum Abbruch der preußisch-bayrischen Verhandlungen. Die Wiederinbesitznahme des sächsischen Kreises Cottbus durch Preußen, die Pläne der preußischen Patrioten für eine Zentralisierung Deutschlands und der Appell an das Volk sowie Drohungen gegen napoleontreue Fürsten in Aufrufen der Verbündeten stärkten die Vorbehalte der Rheinbundpotentaten gegen die russisch-preußische Koalition. Mit dem Vormarsch der napoleonischen Armee wuchs das Vertrauen der schwankenden Rheinbundfürsten auf die Stärke des französischen Kaisers erneut, was den Abbruch der Verhandlungen mit Preußen bewirkte und Österreich als vermittelnde neutrale Macht bevorteilte, zumal Wien gleich bereit war, die territoriale Größe der Rheinbundstaaten zu garantieren. Unter diesen Bedingungen scheiterten die von Preußen von vornherein mit geringen Erwartungen geführten Verhandlungen mit Württemberg und Bayern. Ihre Hauptanstrengungen richteten die Verbündeten auf die Gewinnung Sachsens, das sie von Ende März bis Anfang Mai beinahe vollständig besetzt hielten. Mit Aufrufen an- die Bevölkerung suchten sie das Land für den Befreiungskampf zu mobilisieren und mit zwei Verhandlungsangeboten an den König zu einem Bündnisvertrag zu kommen.83 Zwar wurden die verbündeten Truppen mit Sympathiekundgebungen empfangen und wünschte die Bevölkerungsmehrheit den Bruch mit Napoleon,84 aber es kam zu keiner Volksbewegung, die die herrschende Klasse zu einer Entscheidung zwang. Die höhere Beamtenschaft, große Teile des Adels und des Offizierskorps sowie die Kreise des Bürgertums, die vom französischen Handelssystem profitierten, widerstrebten einer sofortigen Lossagung von Napoleon. Den Ausschlag gab das Verhalten des Königs, der unter dem Einfluß des Ministers von Senfft zwischen den Fronten lavierte, Napoleon seiner Treue versicherte, ihm aber keine Truppen stellte, die Angebote der Verbündeten ablehnte, sich schließlich unter österreichischen Schutz begab und nach der Schlacht von Großgörschen reumütig an die Seite des siegreichen Napoleons zurückkehrte. Von den Rheinbundfürsten zeigte allein der König von Württemberg Anfang 1813 gegenüber Napoleon ein gewisses Selbstbewußtsein. Mit der öffentlichen Erklärung, die neuen Steuern müsse er seinem Volk als „unverschuldete neue Lasten" zur Wiederaufstellung des Heeres zumuten, löste er den höchsten Unwillen des französischen Kaisers aus. Dieser beschuldigte daraufhin den König, er bringe sein Land „in Erregung gegen mich", ließ ihm mitteilen, er möge sich 81 82 53
M
Schwarz, S. 19 f. Ebenda, S. 25 ff. Quellen zum politischen Denken der Deutschen, S. 259—262, 270; Ulmann, Heinrich, Geschichte der Befreiungskriege 1813 und 1814, Bd. 1, München/Berlin 1914, S. 289 f. Lange, Bernhard, Die öffentliche Meinung in Sachsen von 1813 bis zur Rückkehr des Königs 1815, Gotha 1912, S. 6 ff., 10 ff., 18-20, 43 f.
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in acht nehmen, notfalls werde der Rheinbundprotektor die landständischen und reichsritterschaftlichen Rechte in Württemberg wieder herstellen. 80 Eventuell war dem württembergischen König die Tatsache, daß sein Neffe auf dem russischen Thron saß und einer seiner Brüder zu den führenden Generalen des russischen Heeres zählte, als besondere Sicherheitsgarantie erschienen. Nun suchte Friedrich von Württemberg sein Verhalten zu relativieren. Und obwohl er wußte, daß das „Mißvergnügen mit allem, was französisch ist, in Stuttgart und auf dem platten Lande täglich wächst" und dieses Mißvergnügen den Opfern aus „Fehlern und Eigensinn eines einzigen zuzuschreiben" war, 86 unternahm er jetzt größere Anstrengungen, Napoleons Forderungen zu erfüllen. Wenngleich er als erster Rheinbundfürst 1813 Verhandlungen mit Österreich aufgenommen hatte und mit Preußen weiterhin führte, teilte er Napoleon als Beweis seiner Lauterkeit alle Informationen mit, die er von bayrischen und sächsischen Sonderbestrebungen erhielt, und warnte Ende Mai vor Hintergedanken Österreichs in Verhandlungen mit Frankreich. 87 Trotz des wachsenden „Mißvergnügens" störte auch in dem autoritär regierten Württemberg keine Opposition die Politik des Königs. Zirkel aus Vertretern der Intelligenz, der Beamtenschaft und des Offizierskorps diskutierten „umstürzlerische Ideen" lediglich hinter verschlossenen Türen. 88 Im Unterschied zu Sachsen und Württemberg unterlag die bayrische Regierung bei ihren politischen Entscheidungen im Frühjahr 1813 einem starken Druck der inneren Opposition. Der Widerstand des Adels und der übrigen konservativen Elemente in den bayrischen Stammlanden gegen die bürgerlichen Reformen des Ministers Montgelas verstärkte sich im Rahmen der allgemeinen Unzufriedenheit. Als bedrohlich empfand die Staatsführung die Tendenzen zur offenen E r hebung in den neubayrischen Gebieten, die in Vorarlberg schließlich zum bewaffneten Aufstand führten. Außer Tirol verweigerten im April selbst einige altbayrische Bezirksämter die Konskription. 89 Mit der frühzeitigen Aufdeckung des Alpenbundes, der sich über den ganzen Nordrand des Alpengebietes ausgedehnt hatte und eine großangelegte Erhebung plante, konnte die Insurrektion der südbayrischen Region gerade noch verhindert werden. Der französische Gesandte in München war schon Ende Januar zu dem Resultat gekommen, daß in Bayern der „Geist der Revolte und Anarchie" herrsche. 90 Über eine konkrete politische Konzeption konnten sich die führenden Kreise Bayerns nicht verständigen. Einig war man darin, die Existenz des Staates nur durch ein Übereinkommen mit Österreich retten zu können. Keinesfalls durfte man sich eine aktive Kriegsteilnahme an Napoleons Seite leisten, als dessen potentieller Gegner Österreich im Frühjahr 1813 erkennbar wurde. Nachdem der vorsichtige und willensschwache König unter dem Einfluß des allmächtigen Montgelas Mitte Mai angesichts der wachsenden Erfolge Napoleons den Ent85 86 87 88 89
90
Pfister, S. 179 f.; Fürstenbriefe an Napoleon, Bd. 1, S. 249 f. Ebenda, S. 251. Ebenda, S. 252f.; Holleben, S. 403. Pfister, S. 181 f. Schwarz, S. 44f.; Handbuch der bayerischen Geschichte, hrsg. von Max Spindler, Bd. 4, Das neue Bayern 1800-1970, 1. Teilbd., München 1974, S. 35. Schwarz, S. 5.
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Schluß zur engeren Bindung an Österreich wieder fallenließ, setzte Wrede ohne Wissen der Regierung die Beziehungen zu Wien fort. Karl Philipp von Wrede, Kommandierender der bayrischen Streitkräfte, versprach den Übertritt der bayrischen Armee auf Österreichs Seite, wenn es den Krieg gegen Napoleon beginnen würde. 91 Die Könige von Bayern, Sachsen und Württemberg wagten im F r ü h j a h r 1813 die Lossagung von Napoleon nicht. Ihre reservierte Haltung gegen den Protektor des Rheinbundes spiegelte sich aber wesentlich in der Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen wider. Friedrich August von Sachsen weigerte sich bis zur Schlacht von Großgörschen konsequent, Truppen zur Verfügung zu stellen. Dem Festungskommandanten von Torgau, Generalleutnant von Thielmann, hatte er Ende März den Befehl gegeben, die Festung f ü r niemand zu öffnen. Napoleon verlor damit einen wichtigen Stützpunkt seines Sicherungssystems an der Elbe. Die Verbündeten hingegen wurden bei ihrem Vormarsch von Thielmann begünstigt, der ihnen Informationen über Bewegungen der französischen Armee lieferte und sie mit pioniertechnischen Mitteln zur Überquerung der Elbe versorgte. 92 Obwohl unter den sächsischen Offizieren kaum Interesse an einer Fortsetzung des Krieges im napoleonischen Lager bestand, gelang es Thielmann nicht, die königstreuen Offiziere f ü r den Eintritt in den Krieg an der Seite der Verbündeten zu gewinnen. Als der König sein Bündnis mit Napoleon erneuerte, ging Thielmann mit seinem Stabschef und einigen weiteren Offizieren zu den Verbündeten über. Andere nahmen in den nächsten Wochen den Abschied und traten in die österreichische Armee ein. Das sächsische Kontingent wurde am 11. Mai erneut dem Kommando des f r a n zösischen Kaisers unterstellt. Von den ca. 8 200 Mann zählten über ein Viertel zur Kavallerie, an der Napoleons Armee großen Mangel litt. Mit dieser Truppenstärke 93 blieb Sachsen auch einschließlich des in Modlin stehenden Bataillons und des Anteils an der ehemaligen Division Morand weit hinter der Auflage des Rheinbundvertrages zurück. Bayern behielt mit dem Argument, sich gegen Österreich und die widerspenstige Bevölkerung Tirols und Vorarlbergs sichern zu müssen, den größten Teil seiner Truppen im Lande. Anfang März hatte Napoleon übermitteln lassen, daß sich umgehend eine 15 000 Mann starke Division bei Bamberg sammeln solle. Unter dem Generalleutnant von Raglovich trat Anfang April eine mit 8 200 Mann bezifferte Division zur Mainarmee. Diese den Franzosen genannte Effektivstärke wurde nie erreicht. Sie lag wahrscheinlich bei 7 000 Kombattanten. Raglovich bemängelte die schlechte Qualität der Offiziere und Unteroffiziere, die sich zwangsläufig auf den Kampfwert auswirken mußte, zumal eine starke f r a n zosenfeindliche Stimmung unter den Soldaten herrschte. 94 Ein Restkontingent des Feldzuges von 1812, die Division des Generalleutnants von Rechberg, kehrte nach monatelanger Teilnahme an den Rückzugs- und Verteidigungsgefechten 91 92 93 04
95
Ebenda, S. 75. Holleben, S. 348 ff., 359. Ebenda, S. 190. Ebenda, S. 192; Bezzel, Oskar¡Leyh, Max, Geschichte des königlich-bayerischen Heeres unter König Max Joseph von 1806 (1804) bis 1815, München 1933, S. 297. Holleben, S. 38, 220.
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der Armee des Vizekönigs Mitte April mit 1 030 Mann nach Bayern zurück. Am 1. Februar hatte sie noch 3 362 Offiziere und Soldaten unter Waffen gezählt. 95 Einschließlich der Brigade Zoller in Thorn und eines Regiments in Danzig, ebenfalls Teilkontingente aus dem J a h r 1812, betrug die Gesamtgestellung Bayerns im ersten Halbjahr 1813 14 000 bis 15 300 Mann. Die Stärke des Heeres in Bayern belief sich Anfang Juni auf 22 000 Soldaten. Hinzu kam die gerade formierte Nationalgarde, eine der preußischen Landwehr vergleichbare Truppenkategorie, mit etwas über 20 000 Mann. 96 Von den Rheinbundstaaten hatte Württemberg nach Beginn des Rußlandfeldzuges 1812 das verhältnismäßig stärkste Truppenkontingent in den Heimatgarnisonen disloziert, 50 Prozent der Ausmarschstärke. Trotzdem versuchte der König Napoleon Anfang 1813 mit vielen Argumenten zu begründen, daß eine schnelle Neuformation einsatzfähiger Einheiten nicht möglich sei. Nach der Androhung von Repressionen stellte Württemberg Anfang März ein erstes Regiment zur Verfügung. Am 20. April traf das Hauptkontingent in Würzburg ein, so daß bei Beginn des Frühjahrsfeldzuges 9 000 Württemberger unter Napoleons Befehl standen. Nach dem Ausmarsch weiterer Regimenter Ende Mai betrug die Gestellung des Königreichs ca. 13 500 Mann. 97 Friedrich von Württemberg schloß im F r ü h j a h r 1813 eine Niederlage Napoleons nicht aus. Um die Armee als entscheidenden Machtfaktor bei einer eventuell notwendigen Verteidigung seiner Position gegenüber den Verbündeten in die Waagschale werfen zu können und sie angesichts der militärischen Machtentfaltung Bayerns als Gegengewicht beim Ringen um die Vorherrschaft im süddeutschen Raum zur Verfügung zu haben, traf er vorbeugende Maßnahmen. Mitte April schärfte er den Offizieren nochmals die Pflicht zum bedingungslosen Gehorsam ein und verbot ihnen kritische Äußerungen zu politischen und militärischen Fragen. Zuwiderhandelnden drohte er als Staatsverbrechern lebenslängliche Strafen an.98 Dem Kommandeur des im März ausmarschierten Regiments und danach dem Kommandeur der württembergischen Division, Generalleutnant von Franquemont, gab er eine Instruktion f ü r den Fall mit, daß Napoleon zum Rückzug gezwungen würde. Die Württemberger sollten sich dann auf ihre Landesgrenzen zurückziehen, eine Rheinüberquerung aber verweigern und sich bei einem von den Franzosen erzwungenen Rheinübergang als militärischer Verband auflösen. 99 Unter den Satelliten Napoleons gehörten die Württemberger im F r ü h j a h r 1813 zu den diszipliniertesten und zuverlässigsten Kontingenten. In der Schlacht bei Bautzen hatten sie überdurchschnittlich hohe Verluste. Die Ende Mai ausmarschierte Kavallerie hatte nach dem Waffenstillstand entscheidenden Anteil an dem Überfall auf das Freikorps Lützow bei Kitzen. Die kleinen Fürsten an der Peripherie des napoleonischen Imperiums, deren Existenz f ü r beide sich feindlich gegenüberstehende Lager von geringer Bedeutung war, beugten sich zur Sicherung ihrer Throne dem jeweils Stärkeren. Der Herzog von Anhalt-Dessau ließ den preußischen General von Yorck Anfang April wissen, daß er die Verbündeten „unter Zwang" unterstützen würde. Vier 95 97 98 93
Ebenda; Bezzel/Leyh, S. 328 f., 331. Pfister, S. 256; Holleben, S. 230. Pfister, S. 219. Holleben, S. 424 f.
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Wochen später marschierte ein Bataillon der Herzöge von Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen, verstärkt durch Freiwillige, zum Korps Wallmoden ab. Im Juni bedankte sich der Herzog von Anhalt-Dessau bei Napoleon für die zurückgegebene Freiheit.100 Ein auf Napoleons Befehl zusammengestelltes Bataillon der sächsischen Herzöge ließ sich Mitte April von 15 Reitern einer preußischen Streifschar ohne Widerstand gefangennehmen. Wenige Tage später erklärte es seinen geschlossenen Übertritt auf die Seite der russisch-preußischen Koalition. Stärkere Aktivitäten im Interesse der Verbündeten entfalteten Karl August von Sachsen-Weimar und Ernst I. von Sachsen-Koburg, wofür ihnen Napoleon sein Mißfallen ausdrücken ließ. Mit dem Verhalten der übrigen Thüringer Fürsten zeigte er sich zufriedener.101 Allerdings beschuldigte er sie, den „Räubereien" der von der Bevölkerung unterstützten Freischaren im Rücken der französischen Armee nicht entgegenzutreten. Tabelle 3 Truppengestellung
des Rheinbundes im ersten Halbjahr 1813
Staat
Feldarmee
Festungen
Bayern
10 300
Westfalen Sachsen Württemberg Baden Berg Hessen Würzburg Frankfurt Nassau sächsische Herzogtümer Anhalt |
7 100103 9 500104 13 290105 4 770loe 200107 4 800 1900 1 720
4150 1000 1500 600 250 1200
Lippe I Schwarzburg Reuß Waldeck
(Thorn)102 (Danzig) (Küstrin) (Modlin) (Küstrin, Danzig) (Glogau)
400 (Modlin) 200 (Danzig) 400
(Danzig)
560
(Danzig)108
390
(Danzig)
Spani
150 1 000 600 600 3 400
100 Fürstenbriefe an Napoleon, Bd. 1, S. 350 f. Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August, S. 174; Keerl, S. 112 f., 117; Friedrich Facius, Zwischen Souveränität und Mediatisierung. Das Existenzproblem der thüringischen Kleinstaaten von 1806 bis 1813, in: Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes, hrsg. von Peter Berglar, Köln/Wien 1977, S. 184. m Bezzel/Leyh, S. 277. Oder 2 730 Mann. Holleben, S. 37. los Division Hammerstein, Besatzung Magdeburgs und ein Ersatzkontingent vom Februar 1813. 104 Einschließlich des Anteils an der Anfang April zerschlagenen Division Morand. lor. während des Feldzuges kamen davon 8 940 Mann zum Einsatz. los Angabe nach Windelband, Wolf gang, Badens Austritt aus dem Rheinbund 1813, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, NF, Bd. 25, Heidelberg 1910, S. 107. Dem entspricht auch Steiner, S. 153. Nach Waller, S. 146, stellte Baden für die Feldarmee im März und April 1813 3 080 Mann. Der kommandierende General der badi101
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Die nach Rückeroberung des östlichen Rheinbundterritoriums befohlene Neubildung des Regiments der sächsischen Herzöge, eines Regiments berittener Jäger der Herzöge von Anhalt und eines Bataillons der Fürsten von Schwarzburg kam erst gegen Ende des Waffenstillstands zum Abschluß. Zu Beginn des Frühjahrsfeldzuges standen in Napoleons Feldarmee links der Saale ungefähr 30 000 Rheinbundsoldaten, das Gesamtaufgebot f ü r die Feldarmee gegen die russisch-preußische Koalition zählte bis Ende Mai ca. 55 000. In den eingeschlossenen Festungen befanden sich Anfang des Jahres 9 500 bis 12 000, in Spanien etwas unter 6 000 Mann. Damit betrug die Gesamtgestellung des Rheinbundes f ü r Napoleon zur Zeit des Frühjahrsfeldzuges rund 70 000 Mann, d. h. ungefähr die Hälfte von 1812. Kampfmoral und Leistungsfähigkeit der Rheinbundtruppen hatten nach Verlust der langgedienten Kader, die in mehreren Feldzügen zum Teil nicht ohne Begeisterung den ruhmreichen Fahnen Napoleons gefolgt waren, sehr gelitten. Aber auch in den neuen Einheiten bildeten sich Stämme heraus, die sich getreu dem Eid auf ihren Landesherrn von Napoleon bedenkenlos gegen die nationalen Interessen mißbrauchen ließen, vor allem, wenn sie von Generalen geführt wurden, die dem französischen Kaiser unbeirrt die Treue hielten — wie Prinz Emil von Hessen und Graf Hochberg, ein Sohn des Großherzogs Karl Friedrich von Baden. Besonderen Wert f ü r das napoleonische Heer besaß die vom Rheinbund gestellte Kavallerie, Anfang Mai immerhin 19 Schwadronen von 33 bei den in Sachsen und Thüringen konzentrierten Armeekorps. 109 Verringerte Quantität und geminderte Qualität der militärischen Leistung des Rheinbundes im F r ü h j a h r 1813 waren zum großen Teil eine direkte Folge der Verluste im Krieg gegen Rußland. Eine noch größere Rolle spielten aber die politischen und moralischen Wirkungen des Jahres 1812110 und die immer unerträglicheren Belastungen der Fremdherrschaft. In Mecklenburg dagegen wurde nach dem Anschluß an die Verbündeten ein um die Hälfte stärkeres Kontingent als 1812 aufgestellt und anschließend zusätzlich eine Landwehr formiert. Ähnlich waren die Anstrengungen der übrigen Rheinbundstaaten auf seiten der Koalition ab November, obwohl deren Kontingente bis zum Oktober ein weiteres Mal stark dezimiert worden waren. 111
107 108 199 110
111
sehen Truppen, Graf Hochberg, beziffert die Ausmarschstärke der 1. badischen Brigade Ende März mit 3 678 Mann, die Stärke der Ende Juni ausmarschierten 2. Brigade mit 2 790 Mann. Denkwürdigkeiten des Generals der Infanterie Markgrafen Wilhelm von Baden aus den Feldzügen von 1809 bis 1815, hrsg. von Philipp Röder von Diersburg, Karlsruhe 1864, S. 104. Ein Infanterieregiment stand in Frankreich. Nach Bernays, S. 400. Caemmerer, Anlage I. Stulz, Percy, Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen .in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin 1960, S. 146. Vitense, S. 390, 393-396; Bloch, Hermann, Mecklenburg zu Beginn der Freiheitskriege, Rostock 1913, S. 17, 21 f.; Schneider, Eugen, Württembergische Geschichte, Stuttgart 1981, Nachdruck von 1896, S. 463; Losch, Philipp, Geschichte des Kurfürstentums Hessen 1803 bis 1866, Kassel 1972, Nachdruck von 1922, S. 80, 83; Windelband, S. 127.
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Karl-Heinz
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Nach Abschluß des Waffenstillstandes richteten sich die Hoffnungen der Rheinbundbevölkerung auf den baldigen Frieden. Diese Erwartung hegte ebenfalls die Mehrheit der Rheinbuifdfürsten, denn eine Verständigung Napoleons mit seinen Gegnern mußte ihnen wesentlich günstiger erscheinen als die Unwägbarkeiten eines weiteren Feldzuges und der bei einer nicht auszuschließenden Niederlage des Imperators entstehende Zwang zu neuen, in ihren Folgen nur schwer abzuschätzenden außenpolitischen Entscheidungen. Während des Waffenstillstandes wurden im Rheinbund die Rüstungen angestrengt fortgesetzt. Bayern und Württemberg führten ihren Felddivisionen keinen Ersatz zu, verstärkten aber mit dem Hinweis auf die zweideutige Haltung Österreichs das Militär innerhalb der Landesgrenzen. Den größten Eifer bei der Erfüllung napoleonischer Forderungen zeigten wiederum die Großherzöge, unter denen die von Hessen, Frankfurt und Würzburg ihre Kontingente überkomplett stellten.112 Die sächsische Armee erreichte eine Iststärke von 18 000 Mann, litt aber ständig unter einem auffallend hohen Krankenstand. 113 Im Königreich Westfalen wurde eine zweite Division mobilisiert, so daß dessen Kontingent etwas über die Hälfte der Sollstärke erreichte. Außer den Formationen einiger der kleineren Rheinbundfürsten trat im Laufe des Sommers auch ein bergisches Kavallerieregiment neu unter das Kommando Napoleons.114 Bei Beginn des Herbstfeldzuges standen in Deutschland ungefähr 60 000 bis 65 000 Rheinbundsoldaten im napoleonischen Heer. Mit Hinzunahme der Kontingente in Spanien und in den eingeschlossenen Festungen kämpften zu diesem Zeitpunkt noch immer über 70 000 Rheinbündler unter französischen Fahnen. Die franzosenfeindliche Stimmung der Rheinbundbevölkerung wuchs mit den anhaltenden Belastungen weiter, besonders in Sachsen, wo die Masse der napoleonischen Armee konzentriert war. Über Leipzig verhängte der Stadtkommandant am 20. Juni nach einigen Auftritten gegen das französische Militär den Belagerungszustand. Widersetzlichkeiten gegen französische Soldaten nahmen aber auch in anderen Staaten zu.115 österreichische Behörden schätzten, daß sich in Böhmen 18 000 Deserteure bzw. Konskriptionspflichtige aus Rheinbundstaaten aufhielten. 116 Ähnlich wie zu Beginn des Frühjahrsfeldzuges schreckte der französische Kaiser die Rheinbundfürsten mit der angeblichen Forderung seiner Gegner, Deutschland das Ancien régime wieder aufzwingen zu wollen. Dem König von Württemberg schrieb er am 13. August: „ . . . sie verlangen Venedig, die Länder am Inn, Magdeburg, die Auflösung des Rheinbundes; und das bedeutet offenbar soviel )1J
113
1,4
113 116
Ebling, S. 182 f.; Bernays, S. 442, 448; Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 364 f. Ferdinand von Würzburg z. B. hatte vor Antritt einer längeren Reise auf seine österreichischen Besitzungen Anweisung gegeben, die Forderungen Napoleons schnellstens zu erfüllen (ebenda, S. 365). Sdiuster, O./Franche, F. A., Geschichte der sächsischen Armee, Bd. 1/2, Leipzig 1885, S. 354. Herrmann, Friedrich, Bergische Reiter 1807—1815, in: Zeitschrift für Heereskunde, Hamburg 1980, 287, S. 2; Hahn, O., Heimatkunde für das Fürstentum SchwarzburgSondershausen, Sondershausen 1914, S. 221. Lange, S. 49 f. ; Chroust, Das Großherzogtum Würzburg, S. 361, vgl. auch S. 359 f. Lange, S. 53.
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als die Wiederbelebung der alten Zustände in Deutschland; denn der Rheinbund ist ja nur die Folge meiner mit den Fürsten geschlossenen Verträge." 117 Zu Beginn des Herbstfeldzuges hatte Napoleon die Rheinbundsoldaten auf acht seiner allgemeinen Armeekorps, die Garde, ein Kavalleriekorps und einige Festungen verteilt. Die größeren Kontingente, ausgenommen Bayern und Baden, waren dabei in jeweils zwei Armeekorps eingegliedert. Das westfälische Kontingent, gegen das Napoleon das stärkste Mißtrauen hegte, stand in drei verschiedenen Korps, in der Festung Magdeburg und in Dresden.118 Am stärksten waren die Soldaten des Rheinbundes mit den Bayern, dem größten Teil der Sachsen und Württemberger sowie je einem Regiment Westfalens, Hessens und Würzburgs in der Berlinarmee unter Oudinot konzentriert. Hier machten sie von 70 000 Mann ungefähr die Hälfte aus und bildeten angesichts der mangelhaften Qualität der französischen Truppen die kampfstärksten Einheiten dieses Heeresteils. In den verlustreichen Gefechten und Schlachten vor Berlin, besonders bei Dennewitz, schrumpften sie auf einen Bruchteil ihres ursprüglichen Bestandes. Die bayrische Division hatte zu Beginn des Waffenstillstandes 5 220 Mann gezählt. Am 1. September standen noch 3 750 unter Waffen, nach Dennewitz 2 300, und am 20. September betrug die Effektivstärke nur noch 1 900 Kombattanten.119 Trotz der bis Mitte September gewonnenen Erkenntnis mancher Rheinbundkommandeure, daß Napoleons Lage aussichtslos war, 120 blieb der Übertritt ganzer Einheiten zu den Verbündeten eine Ausnahmeerscheinung. Lediglich ein sächsisches und ein westfälisches Bataillon sowie zwei westfälische Husarenregimenter wechselten im August und im September die Front, dagegen nahm die Desertion einzelner oder kleinerer Gruppen zu. Über die Einsatzbereitschaft der meisten Rheinbundkontingente konnte sich der französische Kaiser bis zum Ende des Feldzuges in Deutschland nicht beklagen. Die Rheinbundkommandeure lehnten es bis zum vollständigen Zusammenbruch der französischen Herrschaft rechts des Rheins ab, ohne Befehl ihrer Landesherren den Übertritt zur sechsten Koalition zu vollziehen. Mit dieser allein am Prinzip des militärischen Gehorsams orientierten Auffassung setzte sich die Rheinbundgeneralität in immer größeren Widerspruch zur Haltung der Bevölkerung. Der württembergische General Graf Beroldingen berichtete seinem König am 22. September aus Gotha: „Die Stimmung ist hier wie in Sachsen auf das höchste gespannt; man kann den gänzlichen Untergang der französischen Armee gar nicht erwarten. Es ist nicht zu beschreiben, welch schwieriger Geist in ganz Sachsen herrscht." 121 Beinahe die Reste aller Rheinbundkontingente gerieten in den Schmelztiegel der Völkerschlacht. Am Vormittag des 18. Oktobers gingen die württembergische Kavalleriebrigade mit 556 Mann und eine sächsische Kavalleriebrigade — ohne ihren Kommandeur — zu den Verbündeten über. Einige Stunden später folgten, trotz des Verbots ihres Divisionsgenerals, die sächsische Artillerie und der größere Teil der sächsischen Infanterie. Insgesamt wechselten an diesem Tag 1!7 113 119 120 121
3'
Pfister, S. 309. Friederich,, Rudolf, Der Herbstfeldzug 1813, Bd. 1, Berlin 1903, Anlage III und V. Bezzel/Leyh, S. 318, 480, 484; Pfister, S. 341. Ebenda, S. 342. Ebenda, S. 356.
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Karl-Heinz Börner
ca. 3 300 Sachsen die Front. 122 Andere Rheinbündler, hauptsächlich die Hessen und Badenser, beteiligten sich noch bis zum Mittag des 19. Oktobers an den verlustreichen Verteidigungskämpfen in Leipzig, als dessen Stadtkommandant Napoleon zuletzt den badischen Grafen Hochberg eingesetzt hatte. Mit der Gefangennahme von ungefähr 7 000 Rheinbundsoldaten in und bei Leipzig und der Selbstauflösung kleinerer Kontingente nach der Schlacht waren die Truppen der rheinischen Konföderation im wesentlichen zerschlagen. Der letzte noch intakte Verband, der Rest der württembergischen Division mit 1 200 Mann, trennte sich mit Genehmigung Napoleons am 27. Oktober von der französischen Armee. 123 Erster Zielpunkt der Alliierten, den Rheinbund durch diplomatische Aktivitäten zu sprengen, wurde zu Beginn des Herbstfeldzuges Bayern. Der Aufmarsch stärkerer österreichischer Kräfte an der bayrischen Grenze und das Unvermögen Napoleons, seinen Verbündeten militärisch zu schützen, verstärkten die Tendenz der bayrischen politischen Führung, sich von Frankreich zu lösen. Durch das Angebot günstiger Bedingungen und behutsames Vorgehen wollten die Alliierten Bayern freiwillig zu einem Bündniswechsel bewegen, um durch dieses Beispiel auch andere Rheinbundstaaten in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Bei ihren Verhandlungen in Teplitz hatten sich Metternich, Hardenberg und Nesselrode als die Vertreter der Führungsmächte in der sechsten Koalition hinsichtlich der deutschen Frage am 9. September 1813 darauf geeinigt, den Staaten zwischen Preußen, Österreich und dem Rhein die „volle und absolute Unabhängigkeit" in dem neuen Reich zu sichern.124 In dieser, ganz monarchisch-partikularistischen Interessen entsprechenden Prämisse sah die wiedererstarkte Reaktion im Lager der Koalition eine entscheidende Voraussetzung für die Gewinnung der Rheinbundfürsten. Doch trotz der Verhandlungen auf der in Teplitz vereinbarten Basis und der zugesagten Garantie des Territorialbesitzstandes zogen sich die Verhandlungen mit Bayern wochenlang hin und führten bis Ende September nur zu dem Ergebnis, daß sich König Max Joseph für die Neutralität erklärte und seine Truppen von Napoleon zurückforderte. Erst die ultimative Forderung Wiens erzwang die Abschlußverhandlung in Ried, die am 8. Oktober mit der Unterzeichnung eines Bündnisvertrages endete. 125 Der entscheidende Artikel vier der Konvention sicherte alle sogenannten „Rheinbundvorteile", indem Franz von Österreich auch im Namen seiner beiden großen Alliierten dem „König von Bayern den freien und ruhigen Besitz sowie die volle Souveränität über alle Staaten, Städte, Domänen und Festungen, in deren Besitz Seine Majestät sich vor dem Anfange der Feindseligkeiten befunden hat", garantierte. 126 In einem weiteren Artikel behielt sich Österreich allerdings das Recht zu einem Gebietsaustausch vor. Als Zeichen seines Vertrauens in die Lauterkeit der bayrischen Politik unterstellte Wien dem General Wrede sofort ein österreichisches Armeekorps. Die Zugeständnisse Metternichs gingen wahrscheinlich über das hinaus, was Friedrich 122 Friedrich, Der Herbstfeldzug, Bd. 2, Berlin 1904, S. 168 ff. !23 Pfister, S. 374. 124 Streisand, Joachim, Deutschland von 1789 bis 1815, Berlin 1977, S. 238. 125 Vgl. Schwarz, S. 73-104; Bezzel/Leyh, S. 322 f. 126 Ebenda, S. 481.
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Wilhelm III. und Alexander I. den Rheinbundfürsten gewähren wollten, denn sie zögerten ihre Zustimmung zu dem Vertragswerk vier Wochen hinaus. Die Chance zur Schaffung eines einheitlicheren deutschen Staatswesens, die Patrioten wie Stein, Gneisenau und Jahn in der Zerschlagung des Rheinbundes gesehen hatten, wurde mit den Verträgen von Ried, Fulda und F r a n k f u r t vertan. Ried präjudizierte das Fortbestehen der staatlichen Zersplitterung Deutschlands. 127 Die Absicht des Freiherrn vom Stein, den Zentralverwaltungsrat f ü r die besetzten Rheinbundterritorien zu einer Institution auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat werden zu lassen, wurde damit schon im Herbst 1813 von den dynastisch-reaktionären Kräften zu Fall gebracht. Trotz der sehr weitgehenden Konzessionen erzielte der Vertrag von Ried nicht die gewünschte Wirkung. Kein weiterer Rheinbundstaat erklärte vor der Völkerschlacht seine Bereitschaft zum Übertritt auf die Seite der Koalition. Und selbst nach Leipzig waren die größeren bestenfalls bereit, freiwillig den Status der Neutralität zu proklamieren. Der König von Württemberg verfolgte anfangs das Ziel, sich den Bündniswechsel mit dem Erwerb Hohenzollerns oder Teilen des Breisgaus honorieren zu lassen. Er und der Großherzog von Hessen mußten durch Ultimaten der bereits an den Grenzen stehenden Koalitionstruppen regelrecht zum Bündnisabschluß gezwungen werden. 128 Am längsten zögerte Baden. Nach dem Anschluß der Nachbarstaaten an die Koalition und unter wachsendem Druck der Bevölkerung konnte schließlich Minister von Reitzenstein in einer Staatsratssitzung am 5. November den Großherzog durch rein opportunistische Erwägungen von der Notwendigkeit des Frontwechsels überzeugen. 129 Ein in Fulda geschlossener Vertrag vom 2. November nahm Württemberg zu den gleichen Bedingungen wie Bayern in die große Koalition auf. Abweichend hiervon enthielten die Allianzverträge mit den übrigen Rheinbundstaaten, die in der dritten Novemberdekade in F r a n k f u r t zustande kamen, nicht mehr den Passus, f ü r Gebietsabtretungen eine vollwertige Entschädigung zu gewähren. 130 Lediglich dem König von Sachsen, der sich in Gefangenschaft befand, den Fürsten von Isenburg und von der Leyen verweigerten die Alliierten unter den Mitgliedern der rheinischen Konföderation die Aufnahme in die Koalition. Ihre Territorien wurden ebenso wie das Großherzogtum Frankfurt, dessen Fürst Anfang Oktober nach Konstanz ausgewichen war, dem Zentralverwaltungsrat unterstellt. In Norddeutschland löste sich der Machtapparat der napoleonischen Protektoratsstaaten und der französischen Departements infolge der Streifscharenzüge und bei Annäherung regulärer Truppen der Koalition auf. Das westfälische Militär war seit Anfang Oktober massenhaft desertiert. 131 Nachdem in Spanien auf Befehl seines Landesherrn ein nassauisches Regiment, dem sich das Frankfurter Bataillon anschloß, am 10. Dezember zu den Engländern übergegangen Huber, S. 494. M Pfister, S. 375, 385 ff.; Ebling, S. 188 ff.; Willms, Johannes, Nationalismus, ohne Nation. Deutsche Geschichte von 1789 bis 1914, Würzburg 1983, S. 329, 332 ff. i23 Windelband, S. 118 f. 130 Friedrich, Bd. 2, S. 309. 131 Kleinschmidt, S. 620 ff., 648 f.; Heitzer, S. 337 f.
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war, entwaffneten die Franzosen auf der Pyrenäenhalbinsel die noch vorhandenen Reste der Rheinbundformationen. 132 Die deutschen Truppen in den Festungen zwischen Elbe und russischer Grenze bekamen von den Festungskommandanten auf die Nachricht vom Bündniswechsel ihrer Landesherren den freien Abzug gewährt. Nur in Danzig hatte sich ein so enges Verhältnis zwischen deutschen und französischen Soldaten entwickelt und waren die Rheinbündler durch den Kommandanten Rapp so fanatisiert, daß sie zunächst erklärten, weiterhin an der Seite ihrer „Waffenbrüder" ausharren zu wollen.133 Sie verließen die Festung nach Abschluß eines Waffenstillstands im Dezember. Damit war der Rheinbund als politische und militärische Institution aufgehoben. Die mit ihm auf das Gebiet zwischen Rhein und Elbe übertragenen progressiven Ideen und Elemente der entstehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aber sollten noch f ü r Jahrzehnte' in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands ihre Wirkung tun. Die Befreiung von der Fremdherrschaft war f ü r das deutsche Volk 1813 zur Gewährleistung seiner nationalen Existenz zu einer historischen Notwendigkeit geworden. Ermutigt durch den Anstoß aus dem Osten hatten die Volksmassen den Befreiungskampf in Deutschland in Gang gesetzt. Zu seinem hauptsächlichen Träger aber wurde von deutscher Seite die preußische Armee. Die tiefe Krise schließlich, in die das napoleonische Herrschaftssystem geraten war, ermöglichte seinen erfolgreichen Verlauf. Durch aktives Handeln und passiven Widerstand schwächten die Volksmassen zwischen Rhein und Elbe die Machtmittel Napoleons und verstärkten mit mehreren Tausend Freiwilligen die K a m p f k r a f t der Koalition. Hiermit leisteten sie ihren Beitrag zur Abschüttlung der Fremdherrschaft. Letzten Endes diente auch das subjektiv aus egoistischdynastischem Denken resultierende Verhalten einiger Rheinbundfürsten, das Hinauszögern oder Verweigern der vollen Kontingentsgestellung, objektiv dem Erfolg des Befreiungskampfes. Desolater politischer Zustand und verringerte militärische Leistung der Territorien der rheinischen Konföderation als Ausdruck der Krise des napoleonischen Machtsystems bildeten 1813 einen der Faktoren, die im F r ü h j a h r den militärischen Sieg Napoleons über die russischpreußische Koalition verhinderten und im Herbst den Zusammenbruch des premier Empire beschleunigten. 133
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Bernays, S. 303 f., 306 ff., 310 f.; Spielmann, C., Geschichte von Nassau, T. 1, Wiesbaden 1909, S. 273. Bernays, S. 433. In Danzig befanden sich Ende 1813 als Rheinbundkontingente die Reste eines bayrischen und eines westfälischen Regiments sowie das sogenannte Bataillon Europa, das aus den Soldaten von 23 deutschen Fürstentümern zusammengestellt war.
Susanne Schätz
Zur Konstituierung „kleiner" Selbständiger während der bürgerlichen Umwälzung in Leipzig. Ein Beitrag zur messestädtischen Sozialgeschichte
Der vorliegende Aufsatz geht einem interessanten Phänomen der noch weitgehend im dunkeln liegenden Sozialgeschichte der selbständigen Mittelschichten nach1: der ökonomischen und sozialen Konstituierung von Leipziger Viktualien-
1
Wesentliche Erkenntnisse erbrachten bisher vor allem Haupt, Heinz-Gerhard. (Hg.), Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848, München 1985 sowie Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt/Main 1988. Dagegen ist die Erforschung eines Teiles der nichtselbständigen Mittelschichten, nämlich der industriellen Angestellten von privaten Großunternehmen, in den letzten 25 Jahren deutlich vorangekommen. Vgl. u. a. Barth, Ernst, Zum Prozeß der Herausbildung von Angestellten in Chemnitzer Betrieben am Ende des 18. und im ersten Drittel des 19. Jh. (insbesondere auf der Grundlage der Nahrungsstandtabellen im Stadtarchiv KarlMarx-Stadt), in: Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, 1979, 23; Handke, Horst, Soziale Mobilität oder Immobilität? Eine Studie über soziale Wandlungen in einem ehemaligen Großbetrieb zwischen 1915 und 1945 anhand von Betriebsakten, in: JbW, 1966, T. III; Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969; ders., Die Angestellten in der deutschen Geschichte, 1850—1980. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981; Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jh., hrsg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1981 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 7); Rupieper, Hermann-Josef, Arbeiter und Angestellte im Zeitalter der Industrialisierung. Eine sozialgeschichtliche Studie am Beispiel der Maschinenfabriken Augsburg und Nürnberg (MAN) 1837-1914, Frankfurt a. M. 1982; Schulz, Günter, Die industriellen Angestellten, in: Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870—1914), hrsg. von Hans Pohl, Paderborn 1979; Siegrist, Hannes, Vom Familienbetrieb zum Managerunternehmen. Angestellte und industrielle Organisation am Beispiel der Georg Fischer AG in Schaffhausen 1797-1930, Göttingen 1981. Verhältnismäßig gering ist unser Wissen jedoch noch immer über Handelsangestellte und Angestellte/Beamte von staatlichen Unternehmen wie der Post und Eisenbahn. Als Beiträge zur Schließung dieser Lücke bzw. zur Erforschung der städtischen Mittelschichten vgl. Schätz, Susanne, Zur Entstehung und Beamtung von Postpersonal. Das Beispiel Leipzig, in: JbRG, Bd. 12, 1985, sowie dies., Städtische Mittelschichten in Leipzig während der bürgerlichen Umwälzung (1830—1870), untersucht auf der Grundlage biographischer Massenquellen, phil. Diss. A, Leipzig 1985 (MS.) Vgl. auch König, Mario, Angestellte am Rande des Bürgertums. Kaufleute und
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Susanne Schätz
händlern und Gastwirten während der bürgerlichen Umwälzung. Interessant deshalb, weil Viktualienhändler und Gastwirte als „kleine" Selbständige in Leipzig, aber nicht nur dort, zwischen 1830 und 1870 besonders zahlreich wurden.2 Dies geschah immerhin zu einem Zeitpunkt, da die vordringende kapitalistische Warenproduktion andere Angehörige der selbständigen Mittelschichten, so nicht wenige „kleine" Handwerker und Bauern, aus traditioneller Selbständigkeit riß, wenn sie deren Gewerbe erfaßte. Denn dann schuf sie neue, der jeweiligen stadialen Entwicklung adäquate, kapitalistische Klassenverhältnisse. Warum sich Viktualienhändler und Gastwirte synchron zur massenhaften Klassenbildung von Proletariat und Bourgeoisie als Angehörige selbständiger Mittelschichten konstituieren konnten, welche Menschen in das Lebensmittel- und Gastgewerbe einströmten, woher, auf welchen Lebenswegen und mit welchen Motiven sie kamen, soll im folgenden gezeigt werden. Dabei wird zugleich der Versuch unternommen, wichtige Momente ihrer Arbeits- und Lebensweise aufzudecken, um den Typ des zu den Mittelschichten zählenden „kleinen" Selbständigen zu charakterisieren. Um diesen möglichst plastisch hervortreten zu lassen, bietet es sich an, als Kontrast die Gruppe der Kaufleute mit überwiegend bourgeoisem Charakter vorzustellen, die zwischen 1830 und 1870 in Leipzig ebenfalls expandierte. Die Untersuchung beruht wesentlich auf der Auswertung von 625 Bürgerakten3 und weiteren — beschreibenden sowie statistischen — Archivalien des Stadtarchivs Leipzig.
2
3
Techniker in Deutschland und in der Schweiz 1860—1930, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hrsg. von Jürgen Kocka, München 1988, Bd. 2, S. 220-251. Wurden in der Aufnahmeperiode 1832/33 durchschnittlich nur jährlich vier Viktualienhändler als Bürger der Stadt Leipzig aufgenommen, waren es von 1843 bis 1845 bereits 29, von 1861 bis 1865 38 und von 1866 bis 1868 sogar 78. Insgesamt 848 Gastwirte erwarben zwischen 1827 und 1871 das Leipziger Bürgerrecht. Berechnet nach eigener Auszählung der entsprechenden Bürgerprotokollbände, vgl. StaL, Tit. XXXIV Nr. 88, Bürgerprotokolle und -akten, Bände 1832/33, 1843/45, 1861/65, 1866/68. Folgt man Dieterici, waren 1846 29 Prozent aller Handelsgeschäfte der Zollvereinsländer Lebensmittelgeschäfte. Die insgesamt 65 467 Geschäfte wurden von 65 463 Personen betrieben. Vgl. Dieterici, F. W. C., Statistische Übersicht der Fabrikationsund gewerblichen Zustände in den verschiedenen Staaten des deutschen Zollvereins im Jahre 1846, in: Mitteilungen des statistischen Büros in Berlin, hrsg. von F. W. C. Dieterici, Berlin 1851, S. 295 f. Der Aussagewert der Bürgerakten ist zum Teil sehr hoch. Im optimalen Fall können ihnen entnommen werden: der Name, das Geburtsdatum, der Geburtsort, die Konfession, die Anschrift des Bürgers, Name und Beruf des Vaters, der Verlauf der beruflichen Entwicklung, die Arbeitsstelle und Einkommenshöhe, zukünftige berufliche Absichten, Angaben zum Militärdienst, Name und Herkunft der Ehefrau und Anzahl der Kinder. Zumeist fehlt jedoch die eine oder andere Angabe. Vgl. zur näheren Charakteristik der Quelle Zwahr, Hartmut, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871. Voraussetzungen und Folgen, Bd. 1, hrsg. von Horst Barthel und Ernst Engelberg, Berlin 1971, S. 513.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
1.
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Viktualienhändler
188 Personen, die zwischen 1830 und 1870 als Viktualienhändler das Bürgerrecht der Stadt Leipzig gewannen, bilden die Untersuchungsbasis. 38 von ihnen etablierten sich in den 30er, 100 in den 40er und 50 in den 60er J a h r e n . Die zuletztgenannten Zahlengruppen stellen Stichproben aus weit größeren Gesamtheiten dar.
1.1.
Zur ökonomischen Konstituierung der Viktualienhändler
J a h r g a n g 1819 des Leipziger Adreßbuches verzeichnet unter der Rubrik „Bürgerschaft, Künstler, Fabrikanten, H a n d w e r k e r und andere Geschäftsleute" erstmals Viktualienhändler: J. G. Kaltenborn, Reichsstraße 499, und R. Kaltenborn, Nikolaistraße, A m t m a n n s Hof. 4 J a h r g a n g 18175 f ü h r t e J. G. Kaltenborn bereits als Federnhändler auf, Viktualienhändler sind jedoch in diesem Band, wie in allen vorigen Bänden, nicht a u f g e f ü h r t . In die Bürgerschaft Leipzigs f a n d e n lediglich Fleisch- und Wildbrethändler jener Zeit Aufnahme. 6 Das ist noch im 17. J h . anders gewesen. Damals gab es Leipziger Bürger, die sogenannten Höken, die mit landwirtschaftlichen Produkten wie Butter, Käse, Eiern, Hanf, Mohn, Hirse, Trockenfleisch, Speck, aber auch mit Hühnern, Tauben, Gänsen oder mit Obst und Gemüse handelten. 7 Ihre Gewerbe entstanden, als die Stadtbevölkerung zahlreicher w u r d e und sich die Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen landwirtschaftlichen und handwerklichen Produzenten und allen übrigen Gewerbetreibenden vertiefte. Die Herausbildung der Lebensmittelhändler als gesonderte Tätigkeitsgruppe w a r möglich und notwendig, weil sie zwei gesellschaftlichen Bedürfnissen der vornehmlich nichtlandwirtschaftlich tätigen Stadtbevölkerung Rechnung trug. Erstens halfen die Höken, neben den Bauern, den Lebensmittelbedarf dieses wachsenden Teils der Einwohnerschaft Leipzigs zu sichern. Damit verhinderten sie zweitens die fast vollständige Abhängigkeit der Städter vom B a u e r n m a r k t . Die sich vertiefende Arbeitsteilung zwischen städtisch-gewerblichen und dörflich-landwirtschaftlichen Produzenten sicherte die ökonomische Fortexistenz der Lebensmittelhändler über J a h r h u n d e r t e . Während die Viktualienhändler anfangs an einem einzigen Stand auf den Wochenmärkten neben den Bauern ihre Waren feilhielten, v e r k a u f t e n sie später, als die Stadt gewachsen war, in kleinen Verkaufslokalen, die sich über die Stadt und die Vorstädte verteilten. Ihre Existenz w a r besonders f ü r den Teil der Stadtbevölkerung bedeutsam, der über keinen oder n u r geringen Grundbesitz verfügte, auf dem Ackerbau bzw. Viehhaltung möglich gewesen wäre. Dennoch gehörte nach den Adreßbüchern kein einziger Höke in der zweiten Hälfte des 18. Jh. zur Leipziger Bürgerschaft. 5 6 1
Vgl. Adreßbuch der Stadt Leipzig auf das Jahr 1819. Das Adreßbuch von 1818 fehlt im Bestand des Stadtarchivs Leipzig. Vgl. alle vorhandenen Adreßbücher Leipzigs im Zeitraum 1755—1817. Vgl. Kroker, Ernst, Handelsgeschichte der Stadt Leipzig, Leipzig 1925, S. 25 ff. Die älteste überlieferte Leipziger Hökenordnung stammt aus dem Jahre 1504.
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Susanne Schätz
Die Verfasserin ist nicht der Ansicht, daß deshalb die Lebensmittelhändler als eigenständige Tätigkeitsgruppe zu existieren aufgehört hatten. Sie wurden gebraucht, und es gab sie weiter — jedoch als Schutzverwandte, die keine Aufnahme in die Adreßbücher fanden. Bereits im späten Mittelalter hat es derartige Händler gegeben, die nicht das Bürgerrecht besaßen. Sie wurden als Sonnenkramer bezeichnet und vom Rat gegen eine jährliche Gebühr zugelassen. 8 Offensichtlich hatten die Lebensmittelhändler, die einst in einer Innung vereint waren, einen derartigen sozialen Abstieg erlebt. Zur Ausübung ihres Gewerbes waren im Vergleich zu den meisten Handwerken nur geringe Anfangskapitalien notwendig. Die noch sehr unzureichenden Konservierungsmöglichkeiten setzten dem Umfang des Gewerbes natürliche Grenzen. Nur kleinere Mengen von Lebensmitteln konnten frisch an die Verbraucher gebracht werden. So versorgte ein jeder Händler auch nur wenige Kunden, und es boten sich für viele Klein- und Kleinsthändler zunächst Existenzmöglichkeiten. Da die Tätigkeit des Lebensmittelhändlers weder kaufmännische Buchhaltung und Korrespondenz noch sonstige Spezialkenntnisse erforderte, die eine Berufsausbildung voraussetzten, war dafür jeder, der nur zählen, wiegen, messen und rechnen konnte, geeignet. Das mußte das Lebensmittelgewerbe zu einem Sammelbecken verschiedenster, häufig deklassierter sozialer Elemente machen. Nicht wenige von ihnen verloren ihre meist geringe Habe erneut, das konnte bei fehlgeschlagenen kleinen Spekulationen und sich plötzlich verändernden Marktlagen rasch geschehen. Es ist denkbar, daß viele Lebensmittelhändler vor allem in der Winterszeit, wenn der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zurückging, der Stadtgemeinde im Heer der Armen zur Last fielen. Demgegenüber verfügten erst 1819 die ersten Lebensmittelhändler über das notwendige Vermögen, das den Erwerb des Bürgerrechts ermöglichte bzw. das dazu verpflichtete. Das Adreßbuch von 1825 verzeichnet bereits 12, das von 1830 22 Viktualienhändler. 9 Dennoch war das Ausmaß des Ruins kleiner Lebensmittelhändler weiterhin beträchtlich. Davon zeugt eine Bekanntmachung des Leipziger Magistrats von 1828. Um dem „möglichen Falle der Verarmung und der dann besorglichen Belästigung der hiesigen Kommune" 10 entgegenzuwirken, wurde ihr zufolge nur dann noch die Konzession zum Viktualienhandel erteilt, wenn der Antragsteller eine eigentümliche Barschaft von wenigstens 600 Talern nachweisen konnte und das Bürgerrecht erwarb. 11 Diese Maßnahmen galten ebenfalls für das Schankgewerbe, das zwar von alters her an das Bürgerrecht gebunden war, dessen sozial-ökonomische Gegebenheiten jedoch denen des Viktualienhandels ähnelten. „Wegen des zu großen, von vielen schädlichen Folgen für das allgemeine Beste begleiteten Andrangs zum Betriebe des Bier- und Branntweinschanks, des Vik-
s 9 10 11
Ebenda, S. 32. Vgl. entsprechende Adreßbücher. Vgl. StaL, Tit. XXXIV Nr. 88 Bd. 6, Bürgerprotokolle 1827-1831, vorangestellte Bekanntmachung des Magistrats der Stadt Leipzig vom 9. Juli 1828. Ebenda.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
43
tualienhandels und überhaupt der sogenannten bürgerlichen Nahrung" 12 verbot der Magistrat ferner eine Erhöhung der Zahl dieser Gewerbetreibenden. Die Etablierung als Schänkwirt oder Viktualienhändler sollte nur noch bei Verzicht, Wegzug oder Tod eines bisherigen Gewerbetreibenden möglich sein.13 Adreßbücher und Aufnehmeakten zeigen jedoch, daß diese Anordnung in der Folgezeit nicht eingehalten wurde: 1840 gab es in Leipzig 42 Viktualienhändler, 1850 schon 171,1860 283 und 1870 238.1'' Angesichts des außerordentlichen Bevölkerungszuwachses im Untersuchungszeitraum 15 konnte die Zahl der Lebensmittelhändler nicht konstant gehalten werden. Da Boden-, Grundstücks- und Mietpreise seit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 im steten Steigen begriffen waren, 16 ließ sich die Masse der Viktualienhändler in den Vorstädten nieder. 17 Hier eröffneten sich in den 40er Jahren mit der Entstehung neuer Vorstadtteile im Bereich der Bahnhöfe im Nordosten der Stadt sowie zwischen dem Peters- und Windmühlentor und dem Bayrischen Bahnhof neue Wirkungsfelder. Nur eine verschwindend kleine Minderheit, nämlich sechs von 188 Viktualienhändlern, war in der Lage, ein Haus oder Grundstück käuflich zu erwerben. 18 Die übergroße Mehrheit pachtete ein Verkaufslokal, nicht selten wurden Kellerräume genutzt. 19 12
Ebenda. Ebenda. 14 Vgl. Adreßbücher Leipzigs von 1840, 1850, 1860 und 1870. 13 Die Bevölkerung Leipzigs nahm zwischen 1830 und 1870 um das Anderthalbfache zu. Von 40 946 Einwohnern im Jahre 1830 erhöhte sich ihre Zahl auf 102 936 im Jahre 1870. Vgl. Hasse, Ernst, Die Stadt Leipzig und ihre Umgebung, geographisch und statistisch beschrieben. Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig für die Jahre 1866 bis 1877, Leipzig 1878, S. 119 f. 16 Vgl. Zwahr, Hartmut, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978, S. 197. " Von Viktualienhändlern der Aufnahmeperiode 1860 bis 1869 konnte ermittelt werden, wo sie sich etablierten: je zwei in der Waldstraße, der Hospitalstraße, der Eisenbahnstraße, der Weststraße, der Sternwartenstraße, der Antonstraße, der Schützenstraße und auf dem Brühl und je einer in der Zentralstraße, der Brüderstraße, der Friedrichstraße, der Langen Straße, der Tauchaer Straße, der Emilienstraße, der Talstraße, der Inselstraße, der Universitätsstraße, der Ritterstraße, der Bosestraße, der Johannisgasse, der Parkstraße, der Dresdener Straße, der Reichsstraße, der Zeitzer Straße, der Georgenstraße, der Großen Fleischergasse, der Windmühlengasse und auf dem Markt- und Roßplatz. 13 Von 188 Viktualienhändlern waren nur sechs Haus- bzw. Grundstücksbesitzer. Vgl. StaL; Tit. XXXIV Nr. 88, Bürgerprotokolle und -akten, 1830 bis 1870 (im folg. Bürgerprotokolle und -akten), BP (Bürgerprotokoll) v. Kotteritz, 1839/292 BP Dürll, 1831/518 BP Dietrich, 1833/268 BP Händel, 1843/127 BP Maerz, 1843/73 BP Such, 1865/23 712. 19 Vgl. ebenda, BP Schaaf, 1832/20. 13
44
Susanne Schätz
A u f g r u n d seines Kapitalbesitzes w a r der Viktualienhändler sein eigener Herr, wegen niedrigen Kapitalbesitzes jedoch zugleich sein eigener Arbeiter. Die Anstellung eines Kommis erwies sich in der Regel weder als notwendig noch als möglich. Im Bedarfsfall konnten Familienangehörige mithelfen. Die durchschimmernde bescheidene ökonomische Situation der Viktualienhändler widerspiegelt sich in den jährlichen Gewerbesteuersätzen. 1866 h a t t e n 122 von 133 Viktualienhändlern, das sind 92 Prozent, weniger als vier Taler, den Mindestsatz f ü r Kaufleute, zu zahlen. Der höchste Steuersatz, den n u r ein einziger Viktualienhändler zu entrichten hatte, betrug zwölf Taler, demgegenüber versteuerten sieben Kaufleute ü b e r 500 Taler. 20 Die Steuersätze der Viktualienhändler weisen dagegen Übereinstimmungen mit denen verschiedener anderer Berufs- und Tätigkeitsgruppen a u f : 15 Prozent versteuerten jährlich 15 Neugroschen — diesen Satz zahlte die Masse der Facharbeiter und ein geringer Teil der Kellner, Hausmänner, Hausknechte u n d Markthelfer. Der Steuersatz weiterer 70 Prozent lag zwischen einem und zwei Talern und entsprach dem einiger Arbeitergruppen mit Spitzenlöhnen wie Schriftsetzern und Buchdruckergehilfen, dem der Minderheit der Kommis sowie dem des größten Teils der Kellner, Hausmänner, Hausknechte und Markthelfer und der Post- und Eisenbahnbeamten. Nur die Steuersätze weniger Viktualienhändler w a r e n geringfügig höher. 21 Die Existenzbedingungen der meisten Lebensmittelhändler ähnelten einander stark. Wie die Gewerbesteuersätze zeigen, w a r das Niveau der sozialen Differenzierung und Polarisierung innerhalb dieser Tätigkeitsgruppe gering. Ganz offensichtlich w a r es im Lebensmittelhandel jener Zeit unmöglich, ein größeres Vermögen zu erwerben und zum Bourgeois aufzusteigen. Der Geschäftsumfang eines Lebensmittelhandels, der sich auf ein Kapital von 600 Talern begründete, w a r gering. Er konnte sich trotz eifrigster Bemühungen nicht wesentlich erweitern, weil ihm die immer noch unzureichenden Konservierungsmethoden n a t ü r liche Grenzen setzten. So w a r es fast unmöglich, die in anderen Handelsbranchen üblichen Vorratslager anzulegen, auf deren Grundlage größere Spekulationen erst möglich wurden. Das Lebensmittelgewerbe blieb deshalb Kleingewerbe; größeres Kapital sucht andere Anlagesphären. Die ökonomische Situation eines kleinen Lebensmittelhändlers m u ß t e sich besonders dann zuspitzen, w e n n sich in seinem Kundenkreis ein K o n k u r r e n t niederließ. Wer sich demnach von der Etablierung im Lebensmittelhandel bürgerliche Selbständigkeit auf sicherer Grundlage versprach oder gar davon träumte, reich zu werden, m u ß t e sich bitter enttäuscht sehen. Viele kleine Händler gaben deshalb schon nach kurzer Zeit ihr Gewerbe wieder auf. Während beispielsweise im Adreßbuch von 1850 171 Viktualienhändler a u f g e f ü h r t werden, sind es in dem von 1855 200.22 Das entspräche einem jährlichen Zuwachs von sechs Viktualien-
20
21 22
Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer in Leipzig. Viertes Heft der Mitteilungen des statistischen Büros der Stadt Leipzig, hrsg. von Georg Friedrich Knapp, Leipzig 1870, S. 4-6, 40, 60. Diese Angaben wurden berechnet nach ebenda, S. 4—6, 28 f. und 34—38. Vgl. Adreßbücher Leipzigs von 1850 bis 1855.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
45
händlern. Im Zeitraum 1850 bis 1855 etablierten sich laut Bürgerprotokollen über 209 Viktualienhändler 2 3 — demnach 35 im Jahresdurchschnitt. Folglich müssen jährlich durchschnittlich 29 Viktualienhändler ihr Gewerbe wieder aufgegeben haben. Selbst wenn man einen Teil der Abgänge auf Krankheit oder Tod zurückführt, bleibt die Fluktuationsrate beachtlich. Sie schnellte in den 60er Jahren noch in die Höhe, als es unter den Bedingungen der Gewerbefreiheit seit dem 1. J a n u a r 1862 nicht mehr erforderlich war, zum Viktualienhandel ein Anfangskapital von 600 Talern vorzuweisen. Jetzt ergriffen viele Menschen mit weit geringerem Vermögen die Chance, sich im Lebensmittelhandel selbständig zu machen, und gingen unweigerlich ihrem Ruin entgegen. So etablierten sich zwar zwischen 1860 und 1865 191 neue Viktualienhändler, 2 '* dennoch sank ihre Gesamtzahl von 283 im Jahre 1860 auf 220 im Jahre 1865.25 Damit gaben jährlich im Durchschnitt 51 Viktualienhändler ihr Gewerbe wieder auf! Freilich war dies nicht in jedem Fall mit geschäftlichem Bankrott verbunden. Allein 13 Probanden gaben im Aufnahmegespräch zur Gewinnung des Bürgerrechts an, den Viktualienhandel nur bis zur Erteilung einer Konzession zur Eröffnung einer Schankwirtschaft zu betreiben. Insgesamt bestätigt sich eindrucksvoll die von Engels getroffene Charakteristik des „modernen Kleinbürgertums" als unstete „Masse von Handwerkern und Kleinhändlern", die „eine schwankende Existenz führte" und „der flukturierendste Teil der Bevölkerung" war. 26 Bei ihr wurden „Erwerbswechsel und periodischer B a n k e r o t t . . . die Regel". 27 Wenngleich sich die unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnisse der Lebensmittelhändler und zahlloser kleiner Handwerker stark anglichen, lagen ihnen doch unterschiedliche sozialökonomische Entwicklungen zugrunde. So f ü h r t e die Ausdehnung der kapitalistischen Warenproduktion — sei es als Produktion im Verlagssystem, in der Manufaktur oder Fabrik — zur Verelendung und Proletarisierung zahlreicher Leipziger Zunftmeister. 2 8 Die unstete Masse schwankender Handwerkerexistenzen ist demnach als Produkt kapitalistischer Klassendifferenzierung aufzufassen. Dagegen scheint die ökonomische Labilität der Viktualienhändler fast so alt wie das Gewerbe selbst, gleichsam sein Spezifikum zu sein. Sie beruhte auf den erläuterten Besonderheiten des Lebensmittelhandels, die ihm den Stempel eines ausgesprochenen Kleinhandels aufdrückten. Erst hochwertige chemische und technologische Konservierungsverfahren ermöglichten im 20. Jh. größere Geschäfte und schließlich Lebensmittelkaufhallen analog den Fabriken. Mit deutlicher Verspätung trat nun auch dieses Gewerbe in die kapitalistische Klassendifferenzierung ein.
23 24 23 26
27
28
Ausgezählt im Bürgerprotokollband 1850—1855. Ausgezählt im Bürgerprotokollband 1860—1865. Vgl. Adreßbücher Leipzigs von 1860 und 1865. Vgl. Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880, in: MEW, Bd. 19, S. 197. Vgl. ders., Aus dem handschriftlichen Nachlaß. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, geschrieben von Dezember 1887 bis März 1888, ebenda, Bd. 21, S. 451 f. Vgl. Zwahr, Zur Konstituierung, S. 56 f.
46
1.2.
Susanne
Schätz
Zur sozialen Konstituierung der Viktualienhändler im Untersuchungszeitraum
Im Zentrum des folgenden Abschnitts steht die Frage, welchen Menschen die bescheidene Existenz eines kleinen Lebensmittelhändlers erstrebenswert erschien. In Anbetracht der enormen Ausbreitung des Viktualienhandels im Untersuchungszeitraum interessiert insbesondere, woher die in ihn einströmenden Massen kamen und was sie zu diesem Schritt veranlaßte. Untersucht werden Ursachen und Charakter einer in unterste selbständige Mittelschichten zielenden sozialen Mobilität. 1.2.1.
Soziale Herkunft, berufliche Entwicklung, Intergenerationsmobilität
Bei 122 von 171 männlichen Viktualienhändlern29 konnte der Beruf bzw. die Tätigkeit der Väter ermittelt werden (Tabelle 1). Danach waren 35 von 100 Vätern als Gesinde oder Lohnabhängige proletarischen Typs tätig, und mindestens 63 lebten als Angehörige mittlerer Gesellschaftsschichten. Da sich die sozialökonomische Qualität der als Kaufmann angegebenen Väter nicht eindeutig schlußfolgern läßt, erhielten sie in der Tabelle eine Zwischenstellung zwischen den Mittelschichten und den durch Ausbeutung und Machtausübung existierenden Klassen und Schichten. 1.2.1.1.
Soziale Herkunft, berufliche Entwicklung und Intergenerationsmobilität der den Familien von Gesindepersonen und Lohnabhängigen proletarischen Typs entstammenden Viktualienhändler
29 von hundert Viktualienhändlern waren als Söhne von Lohnabhängigen proletarischen Typs zur Welt gekommen (Herkunftsgruppen drei und vier), sechs dagegen als Söhne von Gesindepersonen. Unter den lohnabhängigen Vätern dominierten un- und angelernte Arbeiter. Allein 13 Viktualienhändler gaben im Aufnahmegespräch zur Gewinnung des Bürgerrechts an, Handarbeitersöhne zu sein. Ihre Väter verdienten wie die als „Einwohner" und „Hausgenossen" Bezeichneten den Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeit verschiedenster Art.30 Häufig wechselnde Arbeitsverhältnisse zogen äußerst unsichere Lebensverhältnisse nach sich. So waren Handarbeiter die Ärmsten der arbeitsfähigen Armen. Das findet im biographischen Material seinen Niederschlag, wenn der Handarbeitersohn und spätere zeitweilige Viktualienhändler Johann Carl Friedrich Lehmann seinen Vater einen Leipziger Almosenempfänger nennt.31 Was mußte es doch für Kinder aus derart ärmlichen Verhältnissen bedeuten, die lebenslange Lohnabhängigkeit der Väter überwinden zu können und sich als Bürger Leipzigs selbständig zu machen! Tabelle 2 belegt, daß etwa drei Viertel der Viktualienhändler, deren Väter unund angelernte Arbeiter waren, ebenfalls keinen Beruf erlernt hatten. Fast 29
20 31
17 der 188 Leipziger Viktualienhändler waren Frauen. Sie werden im Anschluß an die Untersuchung ihrer männlichen Kollegen gesondert betrachtet. Vgl. Zwahr, Zur Konstituierung, S. 70 ff. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Lehmann, 1834/105.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
47
Tabelle 1* Die soziale Herkunft der Viktualienhändler,
Geburtsjahrgänge
1790 bis 1840
Vater nach Beruf/Tätigkeit Angehöriger der ausbeutenden und Mittelschichten Gesindepersonen bzw. machtausübenden Lohnabhängigen Klassen und Schichten proletarischen Typs N N N 1. häusliches Gesinde Bedienter Dienstknecht 2. Gesinde kleiner Gewerbetreibender und kapitalistischer Unternehmer Markthelfer 3. Handwerksgesellen 4. un- und angelernte Arbeiter Handarbeiter Einwohner Hausgenosse Häusler Aufläder Bergmann Hofdrescher
4 10 13 5 2 3 1 1 1 Z 43
5. Handwerksmeister 24 6. Bauern/Nachbarn 26 7. Gastwirt 6 8. Viktualienhändler 4 9. Hausbesitzer 5 10. Chirurgus 1 11. untere/mittlere Angestellte Beamte von Regierung Kommunalverwaltung Kirche Bürgermeister 1 Gemeinderat 1 Gerichtsschöffe 1 Ratskohlenmesser 1 Ratsholzaufseher 1 Ratstaxator 1 Kgl. Torwärter in Moritzburg 1 Kantor/Lehrer 3 Förster 1 Z 77 12. Kaufmann
Die Tabelle ist — wie alle folgenden — auf der Grundlage der benutzten Bürgerakten erstellt. N: Anzahl
80 Prozent von ihnen standen in Gesindediensten — das waren deutlich mehr als in der Generation der Väter. Offenbar nehmen die Söhne lieber die stärkere persönliche Abhängigkeit der sogenannten dienenden Klasse als die unsichere Existenz der doppelt freien Lohnarbeiterväter hin. Unter den verschiedenen Beschäftigungen waren die als Kellner und Markthelfer besonders begehrt. 32 Die wenigen nicht in Gesindediensten stehenden Söhne waren als Handarbeiter 32
Von 15 in Gesindediensten Stehenden waren je fünf als Kellner und Markthelfer beschäftigt, drei als Hausmann und je einer als Kutscher und Mühlknecht. Es überwogen demnach Gesindepersonen kleiner Gewerbetreibender bzw. kapitalistischer Unternehmer, während das häusliche Dienstpersonal in der Minderheit war.
48
Susanne
Schätz
Tabelle 2 Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und bei späteren Viktualienhändlern Vater tätig als
Berufsausbildung des Sohnes ohne ohne Angabe
N 1. häusliche Gesindeperson 2. Gesindeperson bei kleinen Gewerbetreibenden oder kap. Unternehmern 3. Handwerksgeselle 4. un- bzw. angelernter Arbeiter 5. Handwerksmeister 6. Bauer/Nachbar 7. Gastwirt 8. Viktualienhändler 9. Hausbesitzer 10. Chirurgus 11. unterer/mittlerer Angestellter/Beamter von Regierung, Kommunalverwaltung, Kirche » 12. Kaufmann
Berufsausbildung
Handwerkslehre
4 10
1 7
3
26
19 6 14 3
6 18
24 26
6 4 5 1
Schreiber
Kaufmannslehre
2
12
3 3
3 1
2
55
61
11 2
2 122
und Zigarrenmacher tätig. 33 Nur sie lernten vermutlich Formen kapitalistischer Ausbeutung kennen. Von zehn Vätern mit erlerntem Beruf waren sieben in stark proletarisierten Handwerkszweigen als Maurer-, Zimmer-, Schuhmacher- und Schneidergesellen tätig. 34 Aus den Berufsangaben der Väter kann leider nicht geschlußfolgert
34
Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -äkten. Es handelt sich um zwei Handarbeiter. AaB (Aufnahmeakte zur Gewinnung Vater: Einwohner und Schutzverwandter des Bürgerrechts) Schneider, 1861/10 386, Vater: Aufläder und Schutzverwandter AaB Steinbrück, 1861/15 818, sowie um zwei Zigarrenmacher BP Brommer, 1843/37, Vater: Einwohner und Schutzverwandter AaB Schlegel, 1863/21 209, Vater: Handarbeiter. Vgl. ebenda, Vater: Maurergeselle 1839/510, BP Müller, Vater: Maurergeselle 1840/669, BP Pönicke, 1844/720, Vater: Maurergeselle BP Röder, 1845/754, Vater: Zimmergeselle BP Otto, 1843/44, Vater: Zimmergeselle BP Fahnert, 1847/8 669, Vater: Schuhmachergeselle, AaB Seidel, außer der Ehe geboren Vater: Schneidergeselle. BP Kleemann, 1842/505,
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
49
werden, ob es sich um Lohnarbeiter der kleinen oder bereits der kapitalistischen Warenproduktion handelte. Doch unabhängig vom konkreten Produktionsverhältnis wiesen sie eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: es war ihnen nicht mehr gelungen, den traditionellen Weg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister zu gehen. Die Gesellenzeit führte nicht mehr zu kleinbürgerlicher Selbständigkeit, sie bedeutete Lohnarbeit auf Lebenszeit. Die Kinder dieser Generation von Handwerksgesellen wurden im wesentlichen zwischen 1800 und 1820 geboren; die Söhne traten in den 20er und frühen 30er Jahren ins Berufsleben ein. Es erscheint fast folgerichtig, wenn die Mehrheit ein Handwerk nicht mehr erlernte.35 Angesichts der finanziellen Unbemitteltheit und der bitteren Lebenserfahrung der Väter traten sieben von zehn Gesellensöhnen nach der Schulzeit in Gesindedienste als Laufburschen und Hausknechte oder als Kellner, Gärtner und Holzhacker. Sie sanken gegen „Kost und Logis" in ungelernte Tätigkeitsgruppen ab. Eine Ausnahme in dieser Gruppe macht Friedrich Carl Julius Schindler, Sohn eines Perückenmachergesellen. Schindler „widmete sich nach der Schulzeit der Schreiberei bei mehreren Prinzipalen" — so als Handlungskopist beim Leipziger Kaufmann Kämpf.36 Mit der Wahl seiner Tätigkeit war von Anfang an eine nichtproletarische Orientierung verbunden. Es fällt auf, daß die in Gesindediensten stehenden Väter als einzige mehrheitlich bemüht waren, ihre Söhne ein Handwerk erlernen zu lassen. Doch weder einem ihrer Söhne noch einem Sohn lohnabhängiger Eltern proletarischen Typs gelang es, in seinem Gewerbe das Meisterrecht zu erwerben und sich zu etablieren. Zwei Berufswege scheinen typisch: Zum einen waren diese Gesellen jähre- oder genauer jahrzehntelang in ihrem Beruf tätig, bevor sie Viktualienhändler wurden. Hierfür steht das Beispiel des Buchbindergesellen Johann Heinrich Urban, der 17 Jahre bei seinem Meister in Arbeit stand, ehe er 1848 einen Viktualienhandel begründete.37 Zum anderen gab eine Reihe von Handwerksgesellen nach längerer oder kürzerer Zeit ihr Gewerbe auf und suchte zunächst in Gesindediensten ihr Fortkommen. Als Beispiel sei der Strumpfwirkergeselle Carl Gotthold Hähle genannt. Er trat nach der Entlassung vom Militär 1835 beim Leipziger Kaufmann Sellier als Markthelfer in den Dienst.38 Prinzipiell muß die Intergenerationsmobilität aller Viktualienhändler, deren Väter Gesindedienste oder lohnabhängige proletarische Tätigkeiten verrichteten, als soziale Aufstiegsmobilität begriffen werden. Sie markiert das Aufrücken der Söhne in eine der untersten selbständigen Mittelschichten gegenüber den in jedem Fall nicht selbständigen, überwiegend lohnabhängigen Positionen der Väter. Mit der Erringung der sogenannten bürgerlichen Selbständigkeit war der Generation der Söhne etwas gelungen, was der Vätergeneration zeitlebens verwehrt blieb. Doch darf der soziale Aufstieg keinesfalls überschätzt werden. Viktualienhändler waren Klein- bzw. Kleinsthändler und konnten zumeist nicht erweitert reproduzieren. Das gestaltete ihr materielles Lebensniveau bescheiden 33
36 37 38
N u r zwei Gesellensöhne erlernten einen Handwerksberuf — beide den des Bäckers. Vgl. ebenda, B P Müller und Fahnert. Vgl. ebenda, B P Schindler, 1844/528. Ebenda, A a B Urban, 1848/9 956. Ebenda, B P Hähle, 1844/352.
4 Jahrbuch 38
50
Susanne Schätz
und ihre Existenz instabil. Der soziale Abstieg in die eigenen H e r k u n f t s g r u p p e n drohte als ständige Gefahr. Damit fehlten alle objektiven Voraussetzungen f ü r eine spürbare soziale Abhebung. Die soziale Nähe blieb zu Arbeitergruppen größer als zur Handelsbourgeoisie. 1.2.1.2.
Soziale H e r k u n f t , berufliche Entwicklung und Intergenerationsmobilität der in nichtproletarischen Verhältnissen geborenen Viktualienhändler
Die Viktualienhändler nichtproletarischer Herkunft entstammten fast ausnahmslos kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ihr Herkunftsproiii weist deutliche Kont u r e n a u f : 33 Prozent kamen aus bäuerlichen und fast ebensoviele aus H a n d werksmeisterfamilien. Es folgten bereits mit Abstand kleine Gewerbetreibende und niedere Angestellte und Beamte als Väter. Das vermutlich bürgerliche Herkunftselement w a r f ü r die G r u p p e ohne Bedeutung. Einer von zwei K a u f m a n n s v ä t e r n w a r der Vater eines außer der Ehe geborenen Kindes. Bei den Bauernsöhnen handelte es sich in keinem der untersuchten Fälle u m den erstgeborenen, sondern häufig um den vierten oder f ü n f t e n Sohn der Familie. Diesen Menschen verwehrte das Erbrecht eine selbständige Perspektive in der Landwirtschaft. K n a p p die Hälfte suchte sich deshalb durch das Erlernen eines Berufes die Grundlage f ü r eine den Eltern vergleichbare selbständige Existenz zu schaffen. Allerdings drangen sämtliche Probanden in stark vom Ruin bedrohte H a n d w e r k e ein: ins Müller-, Schuhmacher-, Maurer-, Tischlerund Schmiedehandwerk. 3 8 So gelang es n u r drei von ihnen, sich zeitweilig in ihrem H a n d w e r k selbständig zu machen: dem Schuhmacher J o h a n n August Silze, dem Schmied J o h a n n Michael Rothe und dem Müller Friedrich Hermann Sauer. 40 Silze w a r immerhin 13 J a h r e lang in Schmiedeberg als Schuhmachermeister tätig, bevor er 1854 bei der Königlich-sächsischen Staatseisenbahn als Maschinenputzer Beschäftigung fand. Er etablierte sich 1866 als Viktualienhändler. Rothe eröffnete sofort nach Aufgabe seines Handwerks einen Viktualienhandel. Sauer schließlich machte sich 1863 durch den Kauf eines Windmühlengrundstücks in der Nähe von Taucha ansässig, v e r k a u f t e dieses G r u n d stück jedoch 1865 schon wieder. Er t r a t vor Eröffnung seines Viktualienhandels im J a h r e 1867 zunächst als Leipziger H a u s m a n n in Dienste. Ausschließlich in verschiedenen Gesindediensten tätig zu sein, w a r das Los von mehr als der Hälfte der Bauernsöhne. Hier sei Friedrich Gottlieb Dietze genannt, der nach der Konfirmation Knecht wurde. Nach dem Militärdienst hielt sich Dietze in Leipzig a u f : als Laufbursche, Hausbursche und Hausknecht. 1841 ü b e r n a h m er einen Viktualienhandel. 4 1 Von den Handwerksmeistersöhnen h a t t e n n u r sechs keinen Beruf erlernt, fünf standen wiederum in Gesindediensten, während einer als Wollsortierer v e r m u t 39 w
41
Vier Schuhmacher-, drei Müller-, zwei Schmiede-, zwei Maurergesellen und ein Tischlergeselle. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Silze, 1868/25 183 BP Rothe, 1843/92 AaB Sauer, 1866/24 280. Ebenda, BP Dietze, 1841/197.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
51
lieh kapitalistisch ausgebeutet wurde.42 Acht der 18 gelernten Handwerksmeistersöhne waren im Gewerbe des Vaters ausgebildet. Nur zwei der 18 Gesellen schafften es, sich zunächst in ihrem Handwerk zu etablieren. Ihr Weg aus dem Handwerk führte sofort zum Viktualienhandel. Ebenso verlief der Weg weiterer zwölf Handwerksgesellen, die nach längerer Lohnarbeit in ihrem Gewerbe schließlich als Viktualienhändler Selbständigkeit errangen. Die restlichen vier Gesellen gaben ihren Beruf auf, ohne sofort einen Viktualienhandel eröffnen zu können. Einer wurde vorübergehend Handarbeiter, drei traten in Gesindedienste.43 Die Biographien der Söhne kleiner Gewerbetreibender (Viktualienhändler, Schankwirte) sowie von niedrigen Angestellten und Beamten einschließlich I,ehrern zeigen weitgehende Ubereinstimmung. Die Söhne erlernen in der Regel ein Handwerk, ohne Selbständigkeit zu erlangen. Zum Viktualienhandel führten die schon anderweitig festgestellten zwei Wege — entweder direkt aus dem Beruf oder über die Zwischenstufe der temporären ungelernten Gesindetätigkeit. Nach Ansicht der Verfasserin konnte kein Proband nichtproletarischer Herkunft gegenüber seinen Eltern einen gesellschaftlichen Aufstieg verzeichnen. Nach langjährigem Gesindedienst bzw. nach langjähriger Lohnarbeit proletarischen Typs wurden in der Regel gleichrangige, mitunter wohl auch leicht abfallende Positionen im Vergleich zur Vätergeneration erreicht. Insgesamt konnte aber die nichtproletarische Existenzweise der Eltern fortgesetzt werden. Der Vergleich zwischen Vätern und Söhnen offenbart tiefgreifende berufliche Umorientierungen im Generationswechsel: Söhne von Bauern und Handwerksmeistern verließen den Bereich der Produktion und drangen in die Zirkulation ein. Das war von den Handwerkern unter ihnen zunächst durchaus nicht beabsichtigt. Eine zweite Richtung der Intergenerationsmobilität, die weitaus schwächer ausgeprägt war, führte von nichtselbständigen unteren Mittelschichten in untere selbständige Mittelschichten. Auch hier hatten die Söhne, die einen Beruf erlernt hatten, ursprünglich nicht das Ziel, Viktualienhändler zu werden. 1.2.2.
Sozialökonomische Herkunft, Intergenerationsmobilität
Wie wechselvoll und verschlungen die schließlich im Viktualienhandel mündenden Wege sein konnten, deutete bereits die Untersuchung von sozialer Herkunft und Berufs- bzw. Lebensweg an. Abbildung 1 veranschaulicht sie: Es wird deutlich, daß Viktualienhändler vor ihrer Etablierung im Lebensmittelgewerbe recht unterschiedlichen Berufs- bzw. Tätigkeitsgruppen angehört hatten. Sie rekrutierten sich damit sozialökonomisch zwar aus recht verschiedenartigen Herkunftselementen, entstammten jedoch fast ausnahmslos dem werk42 43
4«
Ebenda, BP Klingner, 1835/378. Vgl. ebenda, je ein Bäcker, Leineweber, Glaser und Zimmermann. AaB Springsklee, 1861/20 942 BP Senf, 1844/337 BP Hauschke, 1838/121 BP Hübner, 1842/540.
52
Susanne Schätz
Abbildung 1 Zum Viktualienhandel führende Lebenswege Nachgewiesene Entwicklungswege
tätigen Volk. Dabei widerspiegelt die Verschiedenartigkeit der sozialökonomischen Herkunftsgruppen das gleichzeitige Nebeneinander von Verfall des Feudalismus und Entwicklung des Kapitalismus. So entspricht die Existenz von sich auflösenden Schichten des Spätfeudalismus — wie der Zunfthandwerksgesellen, der Zunfthandwerksmeister und des städtischen Gesindes — und sich ausformenden kapitalistischen Klassen und Schichten — so verschiedener stadialer Arbeiter- und Angestelltentypen — dem Übergangscharakter der Gesellschaft. Hierbei entstanden auch soziale Elemente, die diesen Übergangscharakter selbst verkörperten, beispielsweise jene Zunfthandwerksgesellen, die bereits irgendeiner Form kapitalistischer Ausbeutung unterlagen. Doch weniger die Verschiedenartigkeit der sozialökonomischen Herkunftselemente als vielmehr deren unterschiedlicher Anteil an der Rekrutierung der Viktualienhändler verdient Beachtung, weil er wichtige Aufschlüsse über die in selbständige Mittelschichten zielende Intergenerationsmobilität ermöglicht.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
53
Tabelle 3 und Abbildung 2 verdeutlichen den jeweiligen Anteil an der Rekrutierung der Viktualienhändler.44 Danach stand immerhin jeder zweite Viktualienhändler vor seiner Etablierung in Gesindediensten. 60 von 100 Gesindepersonen hatten häusliche Dienste geleistet, 40 als Markthelfer und Kellner bei Kaufleuten und Gastwirten gedient. 80 von 100 Gesindepersonen ernährten sich als ungelernte Arbeitskräfte seit dem zwölften, dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr. Sie erarbeiteten sich in einer langjährigen Dienstzeit das notwendige Kapital für eine selbständige Existenz. Viele setzten sich die Eröffnung eines Lebensmittelhandels zum Ziel, weil dazu keine Berufsausbildung erforderlich war. Markthelfer konnten zudem als Viktualienhändler jahrelange Arbeitserfahrungen anwenden. Mit welcher Bewußtheit und Hartnäckigkeit das Ziel Selbständigkeit angegangen wurde, verdeutlicht das Beispiel des Wilhelm Heinrich Carl Karius, Sohn eines herrschaftlichen Fleischers: „Und da ich in der Reihe von Jahren, stets bedacht auf eine selbständige Existenz, der größten Sparsamkeit mich befleißigt, so habe ich auf der Grundlage eines kleinen väterlichen Erbteils . . . sorgfältigst meinen Lohn und jedes damit verbundene, auch das geringste Emolument in strengster Zurückgezogenheit zusammengehalten, jede Ausgabe vermieden und durch verzinsliche Anlegung der Ersparnisse nach und nach eine runde Summe von 600 Talern erübrigt ..." Karius diente vor seiner Etablierung 17 Jahre als Haus- und Pferdeknecht.45 Selten war die Dienstzeit kürzer, aber manch einem gelang es, mehr Geld zu sparen. Vor allem Markthelfer, Kellner und Bediente konnten einiges Trinkgeld nebenbei verdienen.46 Das unterschied sie von den Arbeitern im Manufakturund Fabrikbetrieb. Die Tätigkeit des städtischen Gesindes, die hauptsächlich auf individuelle Dienstleistungen gerichtet war, rief eine ganze Reihe weiterer Besonderheiten hervor. Es war für die spätere nichtproletarische Orientierung des Haus- und Dienstpersonals bedeutungsvoll, daß dieses Personal über viele Jahre in nichtproletarischen Haushalten arbeitete und lebte. Der Kontakt zur sich konstituierenden Arbeiterklasse blieb infolgedessen gering, während Gesindepersonen beständig unter dem Einfluß von kleinbürgerlichen, bürgerlichen oder adligen Wertvorstellungen und Lebenshaltungen standen. So war beispielsweise Christian Friedrich Zschaake 23 Jahre lang als Herrendiener tätig: zwischen 1836 und 1845 in Leipzig beim Ökonomieinspektor Voigtländer, dem Rittergutsbesitzer Regel, beim Erbprinzen von Schaumburg-Lippe und den Herren Sander und Haring.47 Es war durchaus kein Zufall, wenn in Arbeiterfamilien geborene Gesindepersonen nach bürgerlicher Selbständigkeit zu streben begannen. Das Gesinde nichtproletarischer Herkunft war in der Regel ohnehin darum bemüht, an die meist kleinbürgerlichen Lebensverhältnisse der Eltern anzuAus 163 von 171 Viktualienhändlerbiographien konnte die Tätigkeit vor der Etablierung im Viktualienhandel eindeutig erschlossen werden. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Karius, 1850/11 859. Ebenda, BP Fahnert, 1843/44. 50 Ebenda, BP Hegenwald, 1837/800. iS
56
Susanne Schätz
Tabelle 3 Die sozialökonomische
Herkunft der
Viktualienhändler
Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Viktualienhändler
Häusliche
Sozialökonomische Qualität N
Gesindeperson
Dienstbote Gärtner Hausknecht Hausmann Haus- und Laufbursche Herrendiener/Lohnbedienter Holzhacker „in Diensten" Kutscher
1 3 11 7 3 6 1 12 4
Gesindepersonen kleiner Gewerbetreibender und kapitalistischer Unternehmer Kellner Oberkellner Markthelfer Schleifknecht
11 3 18 1
Handwerksgeselle Bäcker Bari>ier Buchbinder Buchdrucker Büchsenmacher Instrumentenmacher Korbmacher Kürschner Maurer Müller Schlosser Schneider Schriftsetzer Schuhmacher Seifensieder Steinhauer Tischler un- bzw. angelernte
6 1 1 4 1 3 1 1 2 5 1 2 1 8 1 1 2 Arbeiter
Handarbeiter Schmied bei der Eisenbahn Wollsortierer Zigarrenmacher
6 1 1 3
Gesinde und Lohnabhängige proletarischen Typs
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
57
Tabelle 3 (Fortsetzung) Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Viktualienhändler
unterer!mittlerer
Sozialökonomische Qualität N
Handelsangestellter
Handlungskopist Kommis
3 1
unterer/mittlerer industrieller Angestellter/Beamter Aufseher der Leipzig-Dresdner Eisenbahn für abgehende Güter Maschinenputzer der Leipzig-Dresdner Eisenbahn Werkführer einer Seifensiederei
1 1 1
/
mittlerer
landwirtschaftlicher
Angestellter
Gutsaufseher
1
unterer Angestellter/Beamter von Regierung und Kommunalverwaltung Postpackgehilfe Rentamtsbote Händler und sonstige
2 1
Angehörige nichtselbständiger und selbständiger Mittelschichten
Gewerbetreibende
Bierverleger Gastwirt Obsthändler Trödler Viktualienhändler
1 6 1 1 2
Hausbesitzer Handwerksmeister/ selbständiger Handwerker Bäcker Barbier Brauer Fleischer Gürtler Schmied Kaufmann
Angehöriger der selbständigen Mittelschichten bzw. der Handelsbourgeoisie E 163
58
Susanne Schätz
handels zu ihnen, rund 65 Prozent davon auch schon zu den selbständigen Mittelschichten. Nur vier von 100 Viktualienhändlern dieses Rekrutierungsfeldes gingen als Handwerksmeister zum Lebensmittelhandel über, während sieben von 100 einen anderen kleinen Handel oder noch häufiger eine Gastwirtschaft betrieben hatten. Wie die Beispiele des Gastwirtes Friedrich Eduard Pfuitz und des Schmiedemeisters Johann Michael Rothe zeigen, gelang es all diesen kleinen Selbständigen nicht, in ihrem Gewerbe erfolgreich zu bestehen. So bemerkte Pfuitz zur Aufgabe seines Gasthofes: „Da ich jedoch hierbei meine Rechnung nicht fand, sich mir auch eine Gelegenheit zu einem vorteilhaften Verkaufe darbot, so habe ich mein Grundstück wieder verkauft." 5 1 Der Erlös ermöglichte Pfuitz die Eröffnung eines Viktualienhandels. Sie bedeutete f ü r ihn den sozialen Abstieg um eine Stufe. Der Schmiedemeister Rothe begründete 1843 seinen Wechsel zum Viktualienhandel folgendermaßen: „Allein mehrfache Gründe haben in mir den Wunsch entstehen lassen, dieses mein Gewerbe gänzlich aufzugeben und mich nach einer größeren Stadt zu wenden und namentlich in Leipzig mein Domicil aufzuschlagen, weil ich eines Teils daselbst imstande bin, meinen vier Kindern eine bessere und zeitgemäßere Erziehung geben zu lassen, andernteils aber auch mein Gewerbe selbst wegen mehrerer Konkurrenten, die sich in der Nähe angesiedelt haben, nicht mehr denselben Schwung hat wie früher, ich auch befürchten muß, demselben, wenn ich in die Jahre komme, nicht mehr mit gleicher Tätigkeit obliegen zu können wie seither." 52 Während letzteres wohl Hauptursache f ü r Rothes Rückzug aus dem Handwerk gewesen sein dürfte, äußert sich im Erstgenannten das Bemühen, den Kindern durch Bildung bewußt neue Lebensbereiche zu eröffnen. Rothe hatte die Zeichen seiner Zeit verstanden! Der Wechsel anderweitig tätiger kleiner Gewerbetreibender zum Viktualienhandel widerspiegelt ihren zähen Kampf, die einmal errungene selbständige kleinbürgerliche Existenzweise unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Nicht selten f ü h r t e der Lebensweg eines solchen kleinen Selbständigen vom Zunfthandwerksmeister über den Gastwirt zum Viktualienhändler. Für alle selbständigen Gewerbetreibenden war der Übergang zum Viktualienhandel kein Aufstieg, sondern ein letzter Versuch, drohender Lohnarbeit und Proletarisierung zu entgehen. In etwas anderem Licht erscheint dagegen die Etablierung verschiedener kleiner Angestellter als Viktualienhändler. Sie befanden sich in nichtproletarischen lohnabhängigen Stellungen und waren deshalb um so eifrigere Anhänger illusionärer Vorstellungen von „bürgerlicher" Selbständigkeit. So betrachteten sie eine Etablierung im Viktualienhandel wohl als die Chance ihres Lebens. Vergleicht man soziale und sozialökonomische Herkunft der Viktualienhändler, ergibt sich ein wesentlicher Unterschied: Während Viktualienhändler nach ihrer sozialen Herkunft häufiger nichtproletarischen Familien entstammten, rekrutierten sich mehr als 80 Prozent von ihnen nach ihrer sozialökonomischen Herk u n f t aus dem Gesinde und aus lohnabhängigen Gruppen proletarischen Typs. Demnach hatte ein beträchtlicher Teil der Söhne nichtproletarischer Eltern nicht
51 52
Ebenda, BP Pfuitz, 1838/79. Ebenda, BP Rothe, 1843/92.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
59
mehr nahtlos an die kleinbürgerliche Existenz der Eltern anknüpfen können und langjährige Proletarisierung hinnehmen müssen. Die Probanden wurden überwiegend zwischen 1800 und 1840 geboren und traten etwa zwischen 1815 und 1855 ins Berufsleben ein. Ihr Arbeitsleben vollzog sidi damit unter den Bedingungen der industriellen Revolution und wurde durch das Vordringen von kapitalistischer Warenproduktion und Klassendifferenzierung bestimmt. Wie die Lebensläufe kaum deutlicher zeigen können, war dennoch alles Streben und Trachten auf kleinbürgerliche Selbständigkeit ausgerichtet. Sämtliche Probanden setzten alles daran, zunächst kapitalistischer und schließlich der Lohnarbeit überhaupt zu entgehen. Überkommene, auf sogenannter bürgerlicher Selbständigkeit gegründete Lebensmuster und Wertvorstellungen wirkten stark in ihnen nach und hatten derartige Kraft, daß sich selbst in Arbeiterfamilien geborene Gesindepersonen und Lohnarbeiter daran zu orientieren begannen. Die Lebensfähigkeit dieser Wertvorstellungen war deshalb so groß, weil sich auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Möglichkeiten zu ihrer Realisierung boten. Eine solche bestand im Viktualienhandel. Er erlangte mit der Entwicklung Leipzigs zur kapitalistischen Großstadt neue Bedeutung und Größenordnung. Das erklärt eine Richtung der Intergenerationsmobilität, die aus der von kapitalistischer Klassendifferenzierung durchdrungenen Produktionssphäre in einen Bereich der gesellschaftlichen Zirkulation führte, der von kapitalistischer Klassendifferenzierung noch nicht erfaßt war. In ihm war scheinbar noch bürgerliche Selbständigkeit und damit erfolgreiche Existenz zwischen den sich immer deutlicher ausprägenden Hauptklassen möglich. Die an anderer Stelle konstatierten hohen Fluktuationsraten im Leipziger Viktualienhandel belehren jedoch eines Besseren. Sie sind Ausdruck der von Heidt festgestellten Überbesetzung im Kleinsthandel. 53 Diese entstand, weil im Zeitalter fortgeschrittener kapitalistischer Klassendifferenzierung regelrechte Massen im Kleinsthandel eine Alternative suchten, während er in f r ü h e r e r Zeit durch einzelne deklassierte soziale Elemente ausgeübt worden ist. 1.2.3.
Lohnabhängige als Viktualienhändler
Die bisherige Betrachtung unterstellte, daß Viktualienhändler ausschließlich in ihrem Gewerbe tätig waren. Diese Vereinfachung war zweckmäßig, um zunächst die grundlegenden Ursachen und Motive f ü r die Hinwendung zum Viktualienhandel aufzudecken. Doch das immer wiederkehrende Grundmotiv des Strebens nach bürgerlicher Selbständigkeit kann f ü r diejenigen Probanden nicht ausschlaggebend gewesen sein, die neben ihrer Tätigkeit als Viktualienhändler lohnabhängig blieben. Dies traf auf sieben von 100 Viktualienhändlern zu. Sie standen im Gesindedienst, übten niedere Angestelltentätigkeiten aus oder arbeiteten als Handwerksgesellen. Auch hier legen die Biographien die Motive f ü r die Nebenerwerbstätigkeit im Viktualienhandel frei: sämtliche Probanden übten Tätigkeiten aus, die ihnen 53
Vgl. Peter Heidt, Grundriß der deutschen Handelsgeschichte, phil. Diss. B Leipzig 1962 (MS), S. 229.
60
Susanne Schätz
noch genügend freie Zeit für eine zweite Erwerbstätigkeit ließen. Sie waren zudem häufig verheiratet und beabsichtigten, sich beim Lebensmittelhandel von ihren Ehefrauen und Familien unterstützen zu lassen. So erwarb der Rentamtsbote im Schlosse Pleißenburg, Ernst Wilhelm Schäffner, 1865 das Bürgerrecht, „um neben seiner amtlichen Beschäftigung Viktualienhandel teils selbst betreiben, teils durch die Seinigen betreiben lassen zu können". 54 Der Lebensmittelhandel war wiederum so attraktiv, weil zu seiner Eröffnung keine spezielle Qualifikation erforderlich war und ein kleiner Lebensmittelhändler selbständig über die zu leistende Arbeit bestimmen konnte. Er konnte sich besonders dann ohne Schwierigkeiten in Lohnarbeit und selbständige E r werbstätigkeit teilen, wenn er die Unterstützung seiner Familie besaß. Die feste Einbeziehung der Ehefrau in den Viktualienhandel bot dieser die Möglichkeit, zum Familieneinkommen beizutragen. Da die Etablierung im Viktualienhandel ein Mindestvermögen von 600 Talern voraussetzte, wurde dieser Nebenerwerb keineswegs von unvermögenden Lohnabhängigen betrieben. Er brachte Nebeneinnahmen und stabilisierte die Existenzgrundlage der Familie. In Anbetracht der schwankenden Existenzbedingungen im Kleinsthandel zeugt die Beibehaltung der Lohnarbeitsverhältnisse von Realitätssinn. Sie verdeutlicht zugleich fließende Grenzen bzw. Übergänge zwischen äußerlich so verschiedenartigen sozialökonomischen Typen wie Lohnarbeitern im Kapitalverhältnis und außerhalb desselben und untersten Schichten kleiner Selbständiger. 1.2.4.
Frauen im Viktualienhandel
Leider lassen die lückenhaften Angaben zur Biographie das soziale Profil der 17 weiblichen Viktualienhändler nur teilweise erkennen. Eines ist sicher: die Probandinnen waren entweder verheiratet oder verwitwet. Die Biographien der sechs verwitweten Viktualienhändlerinnen ähneln sich auf traurige Art und Weise. Es hat den Anschein, als seien sie durch den Tod der Ehemänner in bedrängte Lebensumstände geraten. Um sich und ihren Kindern den Unterhalt sichern zu können, waren sie zur Erwerbstätigkeit gezwungen. So wollte Christiane Friederike Remmler 1843 einen Viktualienhandel begründen, um die drückende familiäre La^e zu lindern. Sie war 1841 nach dem Tod ihres Mannes mit sechs unmündigen Kindern zurückgeblieben und hatte sich zunächst in Reichels Garten als Milchhändlerin versucht. Als ihr Milchhandel einging, wandte sie sich dem Viktualienhandel zu.55 Der Ehemann war Viehregistrator beim Polizeiamt gewesen. In drei weiteren Fällen hatte der Ehemann als Kellner 50 bzw. als selbständiger Mechanikus 57 gearbeitet. Die Männer hatten demnach dem Gesinde bzw. unteren Mittelschichten angehört. Neben den schon genannten Gründen, die zum Viktualienhandel führten, dürfte es für die ver-
54
55 56
57
Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Schaffner, 1865/22 929. Ebenda, BP Remmler, 1843/101. Ebenda, BP Rentzsch, 1841/232 AaB Steuer, 1847/9 030. Ebenda, BP Balzer, 1844/366.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
61
witweten Frauen von Bedeutung gewesen sein, daß sie als kleine selbständige Erwerbstätige besser ihre Kinder versorgen und beaufsichtigen konnten als in außerhäuslicher Lohnarbeit. Dieses Motiv spielte ohne Zweifel auch bei der Etablierung von verheirateten Frauen eine Rolle. Soweit das Untersuchungsmaterial diesen Schluß zuläßt, erfolgte die Hinwendung zum Lebensmittelhandel bei ihnen seltener in zugespitzten finanziellen Notlagen der Familien als bei verwitweten Frauen. So entschlossen sich lediglich vier von elf verheirateten Probandinnen unter dem massiven Druck familiärer Ereignisse, einen Viktualienhandel zu eröffnen: die Schankwirtsfrau Friederike Wilhelmine Bauer, deren Mann Konkurs hatte anmelden müssen und fortan außerstande war, die sechsköpfige Familie zu ernähren,58 Wilhelmine Schweiger, die sich als Frau eines Ratsdieners zum Viktualienhandel veranlaßt sah, um den Mehraufwand bestreiten zu können, der der Familie durch die Aufnahme des Schwiegervaters und einer Schwägerin in den Haushalt erwuchs,59 die Viktualienhändlersfrau Christiane Friederike Schneider, deren Ehemann zu einer mehrjährigen Arbeitshausstrafe verurteilt worden war und sie sein Geschäft fortführen wollte60, und schließlich die Schankwirtsfrau Marie Henriette Alwine Schmortte, die das Geschäft ihres schwerkranken Mannes hatte fortsetzen wollen, dazu jedoch keine Konzession erhielt und in den Viktualienhandel auswich.61 Sieben der elf verheirateten Viktualienhändlerinnen scheinen sich nicht in einer derartigen Zwangssituation etabliert zu haben. Sie entstammten sämtlich, wie auch schon die übrigen vier, unteren Mittelschichten. Ihre Ehemänner waren kleine Händler, Handwerksmeister oder Angestellte.62 Man darf annehmen, daß die Erwerbstätigkeit der Frauen das nicht allzu reichliche Familienbudget aufbessern sollte. Das war vor allem in den ersten Ehejahren, wenn die Kinder geboren wurden, und in späteren Zeiten, wenn sie ins heiratsfähige Alter kamen, bedeutsam. Insgesamt belegt die Erwerbstätigkeit von Frauen, deren Männer Angehörige der unteren Mittelschichten waren, bescheidene ökonomische Verhältnisse. Daß lohnabhängige Tätigkeiten proletarischen Typs peinlichst gemieden wurden, spricht für die ausgeprägte nichtproletarische Selbsteinschätzung dieser Familien.
,s 53 60 61 02
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
BP Bauer, 1844/716. AaB Schweiger, 1862/21 072. AaB Schneider, 1864/22 172. AaB Schmortte, 1866/24 179. AaB Schädlich, 1869/26 457, Ehemann: Bürger und Kaufmann AaB Schirmer, 1866/24 457, Ehemann: Bürger, Hausbesitzer und Materialwarenhändler AaB Steinert, 1867/24 885, Ehemann: Bürger und Kalkhändler AaB Sander, 1867/25 064, Ehemann: Bürger und Viktualienhändler AaB Schröder, 1867/25 331, Ehemann: Bürger und Buchbindermeister AaB Scheu, 1865/23 704, Ehemann: Bürger und Schneidermeister AaB Seidel, 1868/25 888, Ehemann: Korrektor in der Verlagsbuchhandlung Otto Sparner.
62 1.2.5.
Susanne Schätz Viktualienhändler im Spiegel ihrer Heiratsbeziehungen
Im Sommer 1844 äußerte der Instrumentenmachergehilfe Friedrich August K ü h n e beim Aufnahmegespräch zur Gewinnung des Bürgerrechts, daß die Eheschließung ihn in die Lage versetzt habe, n u n m e h r eine unabhängige Stellung als Viktualienhändler zu begründen, u n d damit ü b e r h a u p t manche günstige Veränderung in seinen Familienverhältnissen entstanden sei. K ü h n e h a t t e die dritte eheliche Tochter eines K a u f m a n n s aus Mühltroff bei Schieitz geheiratet. 6 3 Sein Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, welche Bedeutung der P a r t n e r w a h l und Eheschließung zur Erringung oder Verteidigung bürgerlicher Selbständigkeit zukommen konnte. Obgleich keinem weiteren Probanden eine K a u f m a n n s tochter als E h e f r a u erreichbar war, scheint die Eheschließung f ü r die Etablier u n g eines beachtlichen Teils der Viktualienhändler ebenso ausschlaggebend gewesen zu sein wie f ü r Kühne. So erfolgten bei 55 Prozent aller verheirateten Viktualienhändler, 6 4 das entspricht etwa einem Drittel aller Untersuchungspersonen, die Trauung und die Etablierung als Viktualienhändler in gleicher zeitlicher Nähe wie bei ihm. Die Vermögensnachweispapiere belegen unverhüllt, daß zahlreiche Viktualienhändler erst durch die finanziellen Mittel der E h e f r a u e n oder Bräute in der Lage waren, die zur Eröffnung eines Viktualienhandels notwendigen 600 Taler vorzuweisen. Genannt seien der Schuhmachergeselle J o h a n n Christoph Ohme und der Laufbursche Julius August Wilhelm Stieding. Ohme hatte sich von 1821 bis 1834 als Geselle ein Vermögen von 311 Talern erspart und heiratete dann im Alter von 35 J a h r e n die Polizistentochter J o h a n n e Dorothea Putz aus Lützen. Sie brachte in die Ehe ein mütterliches Erbteil von 300 Talern ein. 65 Stieding stand nach der Aufgabe seiner Riemerprofession seit 1842 f o r t w ä h r e n d in Gesindediensten. Als er sich 1849 etablierte, besaß er ein eigenes Vermögen von 300 Talern. Die fehlenden 300 Taler schenkte ihm seine Geliebte und spätere E h e f r a u J o h a n n a Henriette Bartel. Sie h a t t e sich das Geld während ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit in Leipzig zurückgelegt. Stieding war bei seiner Eheschließung 38, seine F r a u 37 J a h r e alt. 66 Das durchschnittliche Heiratsalter der Viktualienhändler betrug 30 Jahre 6 7 — die Untersuchung der sozialökonomischen H e r k u n f t ließ deren relativ hohes Heiratsalter bereits vermuten. Es lag jedoch häufig bei den in den Viktualienhandel einströmenden Handwerksgesellen höher, vor allem bei denen der Geburtsjahrgänge 1790/1805. Das Denken dieser Menschen w a r dem traditionellen Berufsweg im H a n d w e r k besonders
c3
Ebenda, BP Kühne, 1844/588. Der Familienstand konnte von 166 der 171 Probanden festgestellt werden. 66 Viktualienhändler waren zum Zeitpunkt der Etablierung unverheiratet und hatten auch nicht die Absicht, in absehbarer Zeit die Ehe einzugehen. 100 Probanden waren verheiratet oder standen unmittelbar vor der Eheschließung. cr ' Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Ohme, 1834/70. 05 Ebenda, AaB Stieding, 1849/10 943. G7 Das Untersuchungsmaterial gestattete es leider nicht, das durchschnittliche Heiratsalter der Ehefrauen zu ermitteln.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
63
stark v e r h a f t e t . Ihnen fiel es schwer, sich an den Gedanken eines alternativen Lebensweges außerhalb des Berufes zu gewöhnen. Dagegen verheirateten und etablierten sich ehemalige Gesindepersonen oft schon im Alter von 26/27 Jahren. All ihr Streben w a r frühzeitig auf Selbständigkeit in einem „ungelernten" Gewerbe ausgerichtet, denn sie h a t t e n nie die Möglichkeit besessen, einen Beruf zu erlernen. Wer in stabile kleinbürgerliche Verhältnisse einheiratete, der besaß, gestützt auf sein Vermögen, eine erfolgversprechendere Ausgangsbasis zum Viktualienhandel als andere Viktualienhändler. In dieser Uberzeugung äußerte sich der Schuhmachergeselle Wilhelm Kießner bei der Darlegung seiner Vermögensverhältnisse. Er besaß als Sohn eines Schneidermeisters wie jeder seiner drei Brüder ein Erbteil von 200 Talern und f e r n e r 225 Taler Ersparnisse. Als Kießner 1843 die Tochter eines Böttchermeisters und Gutsbesitzers aus Großdölzig heiratete, sah er sich „in den Stand gesetzt, jede Konkurrenz auszuhalten". 6 8 Er h a t t e vom Schwiegervater die Zusicherung erhalten, daß dieser ihn mit dem notwendigen Anlagekapital f ü r den Viktualienhandel unterstützen w e r d e und die erforderlichen Naturalien von Erzeugnissen seines Gutes liefern würde. Ähnlich günstig t r a f e n es diejenigen Probanden, die sich mit der Witwe eines Viktualienhändlers verehelichten, denn sie sparten sämtliche sonst u n u m g ä n g liche Ausgaben f ü r die Einrichtung des Verkaufslokals. 6 9 Besaßen sie zudem eigenes Vermögen, w a r ihre geschäftliche Ausgangssituation nicht schlecht. 70 Das trifft auch auf alle diejenigen zu, deren Mindestvermögen sich durch die Verheiratung auf 800 und m e h r Taler erhöhte. Die Quellen lassen leider keine verbindliche Aussage ü b e r die sozialökonomische H e r k u n f t der E h e f r a u e n zu. Es h a t allen Anschein, als wenn viele F r a u e n vor der Heirat in Gesindediensten standen. Beispiele von Fabrikarbeit oder anderen F o r m e n kapitalistischer Ausbeutung lassen sich nicht nachweisen. Möglicherweise brauchten Frauen, die in stabileren nichtproletarischen Verhältnissen aufgewachsen w a r e n und ein kleines Erbteil e r w a r t e n d u r f t e n , nicht unbedingt Lohnarbeit zu verrichten. Tabelle 4 zeigt die soziale H e r k u n f t der Viktualienhändler und ihrer E h e f r a u e n im Vergleich. 71 A u f g r u n d geringer Stichprobengröße k a n n vorsichtig geschlußfolgert werden, daß das soziale Herkunftsprofil beider weitgehend übereinstimmte. F r a u e n nichtproletarischer H e r k u n f t waren eventuell geringfügig stärker vertreten.
63 69 70
71
Vgl. Stall, Bürgerprotokolle und -akten, BP Kießner, 1843/227. Insgesamt elf Probanden verheirateten sich vor allem in den 30er Jahren mit Witwen, darunter sechs mit denen ehemaliger Viktualienhändler. Angeführt sei der Markthelfer Friedrich August Wilhelm John, der, gestützt auf ein mütterliches Erbteil von 34 Talern und einen Lotteriegewinn von 200 Talern, sich im Laufe seiner Dienstzeit ein Vermögen von mindestens 1 000 Talern erwarb. 1846 verheiratete er sich vor seiner Etablierung „mit einer ziemlich bemittelten hiesigen Witfrau", der ehemaligen Gattin eines Leipziger Hausmannes. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB John, 1846/8 148. Zur Untersuchung wurden nur diejenigen Paare herangezogen, von denen die soziale Herkunft beider Ehepartner herausgefunden werden konnte.
64
Susanne Schätz
Tabelle 4 Die soziale Herkunft der Viktualienhändler und ihrer Ehefrauen im Vergleich Soziale Herkunft
Ehemann
Vater tätig als Gesindeperson oder Lohnabhängiger proletarischen Typs Bedienter Hausknecht Hausmann Markthelfer Handwerksgeselle Gartenarbeiter Aufläder Bergmann Einwohner Handarbeiter Häusler
1 2
Ehefrau
— —
1 1 5 1
—
2 5 —
1 1 2 5 1
— —
6 —
—
E 20
15
7 7 7 1 4
15 2 8 1 1 3
E 26
30
Vater Angehöriger der Mittelschichten Handwerksmeister Bauer/Nachbar Händler/Gastwirt oder anderer kleiner Gewerbetreibender Chirurgus Musikus unterer Angestellter/Beamter einschließlich Lehrer
—
Vater Angehöriger der ausbeutenden und machtausübenden Klassen und Schichten Kaufmann E
—
1
—
1
E Gesamt 46
46
Unter den Ehepartnerinnen nichtproletarischer Herkunft waren Handwerksmeistertöchter und die Töchter kleiner Gewerbetreibender besonders begehrt. Bei den meisten von ihnen konnte vermutlich mit einem kleinen Erbteil gerechnet werden. Tabelle 5 belegt am Beispiel der Handwerksmeistertöchter, daß die große Mehrheit dieser Frauen eheliche Verbindungen mit Gesindepersonen oder Lohnabhängigen proletarischen Typs einging. Hier widerspiegelt sich anschaulich der Verfall der kleinen Warenproduktion, aber auch die instabile Situation kleiner Gewerbetreibender. Töchter aus diesen Schichten heirateten in den vorliegenden Fällen nicht in bestehende nichtproletarische Verhältnisse ein, sondern ermöglichten ihren Partnern erst durch ihr persönliches Vermögen, nichtproletarische Existenzen aufzubauen.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
65
Tabelle 5 Die sozialökonomische Herkunft der in Handwerksmeisterfamilien einheiratenden späteren Viktualienhändler
Gesinde/Lohnabhängige proletarischen Typs
Sozialökonomische Herkunft Mittelschichten N
N Städtisches Gesinde Handwerksgesellen Zigarrenmacher
7 3 1
Handwerksmeister Angestellter Viktualienhändler
E 11
1 1 1 E 3
Man wird auch bei der Mehrheit der Bräute aus Gesinde- bzw. lohnabhängigen Familien davon ausgehen können, daß es vor allem ihre Ersparnisse waren, die sie f ü r die Ehe mit k ü n f t i g e n Viktualienhändlern attraktiv werden ließen. So h a t t e die Einwohnertochter Christiane Walther in einer siebzehnjährigen Dienstzeit 350 Taler zurücklegen können, die sie 1848 ihrem zukünftigen Mann, dem Buchbindergesellen J o h a n n Heinrich Urban, zu seiner Etablierung als Viktualienhändler schenkte. 72 Es ist bemerkenswert, daß auch Arbeitertöchter sehr zielstrebig ihre Z u k u n f t abzusichern suchten. Das Beispiel der Christiane Walther weist nachdrücklich auf die schon an anderer Stelle erörterte Wirkung jahrelanger Gesindetätigkeit hin. Letztendlich demonstrieren die Heiratsbeziehungen der Viktualienhändler, daß in erster Linie zu denjenigen F r a u e n des sozialen und sozialökonomischen Herkunftsbereiches Kontakte g e k n ü p f t wurden, die ebenfalls den unbedingten Willen besaßen, nichtproletarische Existenzen zu f ü h r e n . 1.2.6.
Zur territorialen H e r k u n f t der Viktualienhändler
Die meisten Viktualienhändler k a m e n aus dem Königreich Sachsen nach Leipzig. Das sächsische Herkunftselement erhöhte sich, während sich die Anzahl der „Ausländer", die zumeist aus der preußischen Provinz Sachsen und den t h ü r i n gischen Staaten kamen, zwischen 1830 und 1870 rückläufig entwickelte. Der Anteil der Städter mit ca. 40 Prozent und der auf dem Dorf Geborenen mit ca. 60 Prozent stimmte in den 30er und 60er J a h r e n weitgehend überein. Dagegen war jeder zweite Proband, der sich in den 40er J a h r e n etablierte, in einer sächsischen Stadt, einschließlich Leipzig und seiner Grenz-, Vorstadt- u n d Außendörfer, geboren worden. Wie die Lebensläufe zeigen, h a t t e n sich die Nichtleipziger zumeist schon in den 30er J a h r e n nach Leipzig gewendet u n d hier als Gesinde oder Handwerksgesellen ihr Fortkommen gesucht. Das weist auf die Anziehungskraft Leipzigs vor anderen sächsischen Städten vor und w ä h r e n d der ersten Massenanlage von konstantem fixem Kapital hin.
72
Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Urban, 1848/9 956.
5 Jahrbuch 38
66
Susanne Schätz
Tabelle 6 Die territoriale
Herkunft der Leipziger Viktualienhändler
1830—1870
Bürgerrecht
Geburtsorte
1830-1839
1840-1849
1860-1869
1830-1870
Kgr. Sachsen Städte Leipzig Grenz-, Vorstadt- und Außendörfer Leipzigs Dörfer Andere deutsche
9 8
13
7 33
22
7 68
3 10
10 16
1 10
14 36
E 38
100
50
188
—
—
Territorien
Städte* Dörfer
2.
24 39
14 20
1 11
Kaufleute
Es bietet sich an dieser Stelle an, einige grundlegende Momente der sozialökonomischen Struktur der Leipziger Kaufleute vorzustellen, um den zwischen Viktualienhändlern und Kaufleuten bestehenden Kontrast näher zu beleuchten. Die Untersuchungsbasis setzt sich aus 150 Kaufleuten zusammen, die zwischen 1830 und 1870 das Leipziger Bürgerrecht erwarben. Je 50 etablierten sich in den 30er, 40er und 60er Jahren.
2.1.
Zur ökonomischen Konstituierung der Kaufleute
Die Berufsgruppe des Kaufmanns gehört zu den ältesten und bedeutendsten der Messestadt. Sie prägte nicht nur das ökonomische Profil Leipzigs über Jahrhunderte, sondern übte auch nachhältigen Einfluß auf das politische und kulturelle Leben aus.73 Die Geschichte ihrer ökonomischen Konstituierung reicht bis in die Zeit vor der Stadtgründung zurück. Generell konstituieren sich Kaufleute dann ökonomisch, wenn auf der Grundlage von Privateigentum an Produktionsmitteln und entwickelter gesellschaftlicher Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft und Handwerk mehr hergestellt wird, als zur eigenen Existenz notwendig ist, wenn also für den Austausch produziert wird und sich Geld als allgemeines Äquivalent im Warenaustausch durchgesetzt hat. Dann übernimmt der Kaufmann die Funktion des Kaufs und Verkaufs der zum Austausch be73
Vgl. Kroker.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
67
stimmten Waren und damit die Realisierung der im Produktionsprozeß geschaffenen Werte. Diese Funktion schließt produktive wie nichtproduktive Tätigkeiten ein. Vorteile und Wesen der Arbeitsteilung zwischen der Produktion von Werten und der Realisierung dieser Werte verdeutlichte Marx am Beispiel des industriellen Kapitalisten und des Kaufmanns: „Statt daß jener mehr Zeit im Zirkulationsprozeß verwendet, verwendet sie der K a u f m a n n ; statt daß er Zusatzkapital f ü r die Zirkulation vorschießen muß, schießt es der Kaufmann vor; oder was auf dasselbe hinauskommt: statt daß ein größerer Teil des industriellen Kapitals sich beständig im Zirkulationsprozeß herumtreibt, ist das Kapital des Kaufmanns gänzlich darin eingepfercht; und statt daß der industrielle Kapitalist geringem Profit macht, muß er einen Teil seines Profites gänzlich an den Kaufmann abtreten. Soweit das Kaufmannskapital auf diese Grenzen beschränkt bleibt, in denen es notwendig ist, ist der Unterschied nur der, daß durch diese Teilung der Funktion des Kapitals weniger Zeit ausschließlich auf den Zirkulationsprozeß verwendet, weniger Zusatzkapital dafür vorgeschossen wird und der Verlust an Gesamtprofit, der sich in der Gestalt des merkantilen Profits zeigt, kleiner ist, als er sonst wäre." 74 Während industrielles Kapital durch direkte Aneignung unbezahlter fremder Arbeit selbst Mehrwert produziert, eignet sich Kaufmannskapital „einen Teil dieses Mehrwertes an, indem es diesen Teil vom industriellen Kapital auf sich übertragen läßt. Es ist n u r durch seine Funktion der Realisierung der Werte, daß das Handelskapital im Reproduktionsprozeß als Kapital fungiert und daher, als fungiertes Kapital, aus dem vom Gesamtkapital erzeugten Mehrwert zieht. Die Masse seines Profites hängt ab f ü r den einzelnen Kaufmann von der Masse Kapital, die er in diesem Prozeß anwenden kann, und er kann u m so mehr davon anwenden, im Kaufen und Verkaufen, je größer die unbezahlte Arbeit seiner Kommis." 75 Einer Erklärung des Leipziger Handelsstandes zufolge, zählten zu ihm bis 1861 außer den Kunsthändlern vier besondere Korporationen: ,,a) Kaufleute außer der Innung, welche nur im Ganzen, Grosso verkaufen dürfen. b) Buchhändler, welche mit Büchern und Musikalien handeln. c) Tuchhändler, diesen gebührt der Kleinhandel mit gewöhnlichen Tuchen, Drap de Dames, Tüffeln und Calmuks . . . gemeinschaftlich mit den Kramern, während letzteren der Detailhandel mit allen Geweben aus reiner oder mit anderen Stoffen vermischter Schafwolle, so nicht unter die vorgegebenen gehörig, ausschließlich gebührt. d) Kramer, welche sowohl im Einzelnen, als im Ganzen, außer den oben erwähnten Separatartikeln der Tuchhändler, nicht bloß mit Material- und Kolonial-, Schnitt- und kurzen Waren, sondern überhaupt mit allen Waren, deren Vertrieb nicht durch besondere Landesgesetze entweder ganz, zum Beispiel Kochsalz, oder in gewissem Maße, zum Beispiel die Gifte . . . verboten ist, zu handeln berechtigt sind. 75 75
5»
Vgl. Marx, Karl, Der kommerzielle Profit, in: MEW, Bd. 25, S. 302. Ebenda, S. 304 f.
68
Susanne Schätz
Diese Rechte der Kramerinnung gründeten sich teils auf die . . . am 9. August 1695 allerhöchsten Orts bestätigten Kramerartikel, teils auf zahlreiche besondere Vergleiche mit anderen Innungen, und rechtskräftige Entscheidungen und sind mit wenigen Ausnahmen durch Prohibitis-Verordnungen, wodurch namentlich dem größten Teil der Professionisten der Verkauf anderer als eigener F a brikate verboten ist, geschützt." 70 Wer demnach nicht ausschließlich Großhandel treiben bzw. mit Kunstprodukten, Büchern, Musikalien oder verschiedenen Tuchen handeln wollte, mußte vor Einführung der Gewerbefreiheit Mitglied der Kramerinnung werden, um sich in Leipzig als Kaufmann niederlassen zu können. Dieses Erfordernis wurde mit dem Inkrafttreten der neuen Handelsgesetzgebung ab 1. Januar 1862 hinfällig. So unterscheidet die Gewerbesteuerstatistik von 1866 auch nicht mehr zwischen den einzelnen Korporationen, sondern führt unter der Rubrik „Kaufleute usw." alle Personen an, „welche selbständig und mit kaufmännischer Buchführung oder sonst kaufmännisch Handelsgeschäfte betreiben". 77 Im Unterschied zu Klein- und Kleinsthändlern wie den Viktualienhändlern besaßen Kaufleute eine Berufsausbildung und bedienten sich kaufmännischer Operationen — so der Buchhaltung, Korrespondenz, der Wechsel und Anweisungen. Zur Kaufmannschaft gehörten im Jahre 1866 750 Männer und 25 Frauen, in der Regel Witwen, in 52 Branchen. 78 Besonders zahlreich waren die Branchen der Kommissionäre/Spediteure und der Buchhändler mit je 94 Vertretern, der Manufakturwaren-, Ausschnitt- und Modewarenhändler mit 77 und der Material- und Kolonialwarenhändler mit 67 Vertretern. 7 9 Während Kommissionäre im eigenen Namen für fremde Rechnung Waren einund verkauften, organisierten Spediteure deren Versand. Dazu wählten sie die erforderlichen Fuhrleute aus und übergaben ihnen die zu transportierenden Waren. 80 Sowohl der Kommissions- als auch der sogenannte Speditionshandel bildeten sich in untrennbarem Zusammenhang mit dem Leipziger Messegeschehen heraus. Sie erforderten Umsicht und Erfahrungen und verschafften Einblick in zahlreiche Geschäftsverbindungen. Häufig gingen Speditions-, Kommissionsund Wechselgeschäfte einher. In der Rubrik „Kaufleute usw." fanden auch Versicherungsgesellschaften und Bankinstitute Aufnahme, obwohl sie nicht im eigentlichen Sinne kaufmännische Geschäfte betrieben. Banken, wie die 1856 als erste sächsische Kreditbank gegründete Allgemeine Deutsche Kreditanstalt, sammelten brachliegendes Geldkapital und Spareinlagen und verwandelten diese Mittel über Kredite in funktionierendes, profitbringendes Kapital. Sie trugen der Entwicklung des Industriekapitalismus Rechnung. Zu den Gründern der genannten Bank gehörten Gustav Harkort, Inhaber einer Handlung mit englischem Garn, der Bankier Wilhelm Seyffert und Caspar Hirzel-Lampe, Inhaber eines Exportgeschäftes 76
77 73 79 89
StaL, Kra. VI 1.12., Parere-Buch, Bl. 6 ff., Erklärung Kramerwaren betr. vom 27. 2. 1832. Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer in Leipzig, S. 64. Vgl. ebenda, S. 2 f. Ebenda. Siehe StaL, Altes Rep. Tit. XLV. G. 101, Akta, eine in Antrag gekommene Speditionsordnung für Leipzig betr., Bl. 100 a.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
69
mit englischen und sächsischen Manufakturwaren; zu ihren ersten Direktoren Albert Dufour-Jeronce, Inhaber der Seidenhandlung „Dufour Gebrüder u. Komp.".81 Wie bei der Untersuchung der Viktualienhändler schon angedeutet, war die Differenz zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Gewerbesteuersatz der Kaufleute außerordentlich groß. Sie betrug 1866 6 441 Taler !82 Dabei entrichteten die einzelnen Branchen sehr unterschiedliche Beträge. Während 22 Buchhändler den Mindestsatz von vier Talern versteuerten und nur ein Buchhändler den in dieser Branche höchsten Satz von 100 Talern entrichtete, zahlten bezeichnenderweise sechs von sieben Bankinstituten zwischen 880 und 6 445 Taler Gewerbesteuer. 83 Allerdings sind diese Angaben nur bedingt mit den Gewerbesteuersätzen der Viktualienhändler und anderer Gewerbetreibender vergleichbar, da in Leipzig die Besteuerung des Kaufmannsstandes recht kurios erfolgte. So zahlte der Kaufmannsstand nicht etwa die Summe, die sich aus der Einkommensbesteuerung jedes Mitgliedes ergeben hätte, sondern soviel mal 31 Taler, wie er Mitglieder hatte. Erst die sich daraus ergebende Gesamtsumme wurde auf die einzelnen Mitglieder unter Berücksichtigung ihrer Verhältnisse aufgeschlüsselt.84 Nach dieser Verfahrensweise läßt sich folgende Abstufung erkennen: 37 von 100 Kaufleuten entrichteten zwischen vier und zwölf Taler (davon etwa 25 zwischen vier und acht Taler), 47 von 100 zwischen 14 und 50 Taler, zehn zwischen 55 und 100 Taler, fünf zwischen 110 und 360 Taler und einer zwischen 880 und 6 445 Taler.85 Es kann mit aller Vorsicht geschlußfolgert werden, daß die sozialökonomische Situation einer breiteren unteren Schicht von Kaufleuten der der wohlhabenden Viktualienhändler ähnelte. Diese Schicht dürfte zu den Mittelschichten gezählt haben. Die Mehrheit der Kaufleute war jedoch in kleinerem oder größerem Umfang zur erweiterten Reproduktion fähig und gehörte zu unteren und mittleren Schichten der Handelsbourgeoisie. Nur einige wenige Vertreter der reinen Handelsbourgeoisie waren Großbourgeois. Die im Bankgeschäft verankerten Großbourgeois fungierten nicht mehr als reine Handelsbourgeois. Gestützt auf ihr Handelskapital, saßen sie als multipotente Gründer an den Schalthebeln der Industrialisierung in Sachsen. So bestimmten die genannten Vertreter der Allgemeinen Deutschen Kreditanstalt als Direktoren, stellvertretende Direktoren oder Ausschußmitglieder der Leipzig-Dresdner-Eisenbahn-Kompanie, einer Aktiengesellschaft, wesentlich die Entwicklung des kapitalistischen Transportgeschehens. Beyer charakterisierte diese Personen als kaufmännisch-industrielle Kapitalisten. 86 Doch nicht nur Exponenten der Großbourgeoisie legten ihr Kapital in mehreren 81 82 s3 84 85 86
Vgl. Kroker, S. 232 ff. Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer in Leipzig, S. 2 f. Ebenda. Ebenda, S. 60. Errechnet nach ebenda, S. 2 f. Vgl. Beyer, Peter, Leipzig und die Anfänge des deutschen Eisenbahnbaus. Die Strecke nach Magdeburg als Zweitälteste deutsche Fernverbindung und das Ringen der Kaufleute um ihr Entstehen 1829-1840, Weimar 1978, S. 105 ff.
70
Susanne Schätz
Sphären zugleich an. Auch kleinere und mittlere Bourgeois folgten diesem Trend. Der Steuerstatistik zufolge zahlten weitere 314 Personen nicht n u r als K a u f m a n n Gewerbesteuer, sondern auch als Kapitalist bzw. Rentier, als H a n d werker, Gastwirt oder Fabrikant. 8 7 Die Kapitalanlage m mehreren Sphären zugleich diente der Profitmaximierung.
2.2.
Zur sozialen Konstituierung der Kaufleute
Angesichts des überwiegend bourgeoisen sozialökonomischen Charakters der Leipziger Kaufleute erhebt sich die Frage, welche Menschen zu dieser Berufsgruppe und insbesondere zur Handelsbourgeoisie Zugang finden konnten. Die folgende Darstellung ist d a r u m bemüht, einige grundlegende Momente im allseitigen S t r u k t u r z u s a m m e n h a n g hervortreten zu lassen. 2.2.1.
Soziale H e r k u n f t , berufliche Entwicklung, Intergenerationsmobilität
Von 127 Leipziger Kaufleuten konnte die soziale H e r k u n f t ermittelt werden (Tabelle 7). Nur vier von 100 Kaufleuten w a r e n in Familien von Gesindepersonen oder Lohnabhängigen proletarischen Typs zur Welt gekommen, w ä h r e n d 96 nichtproletarischen Verhältnissen entstammten. Allein 45 von 100 Kaufleuten kamen aus Kaufmannsfamilien, 8 8 davon 19 aus Leipziger Kaufmannsfamilien. Die Berufsgruppe des K a u f m a n n s reproduzierte sich demnach in hohem Maße aus sich selbst. Doch auch viele mittlere und einige hohe Angestellte bzw. Beamte ließen ihre Söhne den Beruf des K a u f m a n n s erlernen. Etwa ein F ü n f t e l der Kaufleute rekrutierte sich aus diesen Familien. Es folgten bereits mit Abstand Handwerksmeister, verschiedene Angehörige wohlhabender Mittelschichten (Gasthofbesitzer, Advokat, Arzt) und zum Teil der Bourgeoisie (Fabrikanten) sowie schließlich Bauern als Väter. Der exakte Anteil der zu den Mittelschichten bzw. zu den ausbeutenden und machtausübenden Klassen und Schichten zählenden Väter k a n n leider nicht angegeben werden, weil wiederum Berufsangaben wie K a u f m a n n , Spediteur, Fabrikant keine eindeutige Klassifizierung ermöglichen. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus 2.1. darf m a n annehmen, daß die Mehrheit der als K a u f m a n n tätigen Väter als Handelsbourgeoisie fungierte. Kaufleute, die aus den Familien von Gesindepersonen oder Lohnabhängigen proletarischen Typs kamen, w a r e n soziale Aufsteiger. Als Angehörige wohlhabender Mittelschichten oder gar der Handelsbourgeoisie n a h m e n sie g r u n d legend verschiedene Stellungen und Funktionen in der gesellschaftlichen Reproduktion gegenüber den Vätern ein. Ihr äußerst geringer Anteil an der Rekrutierung der Kaufleute belegt, daß ein derartiger sozialer Aufstieg die Ausnahme blieb. 87 88
Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer in Leipzig, S. 2 f. sowie 40—43. Der Berechnung liegen die als Kaufleute und Spediteure bezeichneten Väter zugrunde.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
71
Die den Mittelschichten entstammenden Kaufleute erlebten dann einen gesellschaftlichen Aufstieg, wenn ihnen die Entwicklung zum Handelsbourgeois gelang. Verblieben sie als kleine Kaufleute in zumeist wohlhabenden Mittelschichten, unterschied sich ihre gesamte Situation wenig von der der Väter. Möglicherweise war ihr soziales Prestige höher. Kaufleute, deren Väter Angehörige der ausbeutenden und machtausübenden Klassen und Schichten waren, besaßen alle Voraussetzungen, um als Handelsbourgeois die Existenzweise der Väter fortzusetzen und auszubauen. Obwohl alle Kaufleute bei ihrer Etaiblierung den erfolgreichen Abschluß einer Kaufmannslehre sowie einige Jahre praktischer Berufstätigkeit nachweisen mußten, unterschieden sich die Berufswege der letztgenannten Söhne zum Teil beträchtlich von denen anderer Probanden. Wie die Biographien erkennen lassen, erhielten die Söhne reicher Väter, insbesondere Kaufmanns- und Fabrikantensöhne, vorzugsweise ihre Berufsausbildung in bedeutenden deutschen Handelsstädten. Sie traten ihre Lehre vermutlich in Handelshäusern an, zu denen die Väter in geschäftlichem Kontakt standen. Angeführt seien der Leipziger Kaufmannssohn Julius Heinrich Schomburgk, Geburtsjahrgang 1815, der in Bremen seine Ausbildung erhielt,89 und der Leipziger Bankiersohn Julius Erckel, Geburtsjahrgang 1807, der in Augsburg den Kaufmannsberuf erlernte. 90 Teilweise lernten Leipziger Kaufmannssöhne auch im elterlichen Geschäft.91 Nach dem Abschluß der Lehre wurden den Söhnen häufig Ausländsaufenthalte zur Bereicherung der Berufskenntnisse ermöglicht: in Paris, London, Manchester, Amsterdam, aber auch in der Schweiz, in Dänemark, Rußland, Brasilien und Amerika.92 Die so ausgebildeten Söhne konnten ganz andere Berufserfahrungen sammeln und Geschäftsbekanntschaften knüpfen als beispielsweise der Arztsohn Carl Eduard Richter oder der Lehrerssohn Karl Moritz Scheibe. Richter hatte in Würzen die Handlung erlernt und danach in Döbeln, Zwickau und Leipzig Engagements als Kommis gehabt.93 Scheibe absolvierte seine Lehre in Grimma und Würzen und konditionierte im Anschluß in Dresden und Leipzig.94 Familiärer Rückhalt bewirkte bei den den ausbeutenden und machtausübenden Klassen und Schichten entstammenden Kaufleuten in vielerlei Hinsicht günstigere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, als sie Kaufleute anderer Herkunft
89 90 91 92
93 94
Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Schomburgk, 1840/596. Siehe ebenda, BP Erckel, 1830/333. Ebenda, BP Oldenburg, 1842/462. Ebenda, BP Erckel, 1830/333, Kondition in Paris AaB Dittrich, 1847/8 755, Kondition in London BP Oldenburg, 1842/462, Kondition in Manchester AaB Spieß, 1863/21 335, Kondition in Amsterdam AaB Bornemann, 1846/7 548, Konditionen in der Schweiz, Frankreich und Brasilien BP Lomer, 1844/555, Konditionen in Dänemark, Rußland, Frankreich, England BP Fink, 1837/830, Kondition in Amerika. Ebenda, BP Richter, 1836/617. Ebenda, AaB Scheibe, 1868/20 782.
72
Susanne Schätz
Tabelle 7 Die soziale Herkunft der Kaufleute, Geburtsjahrgänge 1790—1840 Vater nach Beruf/Tätigkeit Angehöriger der Gesindepersonen bzw. Mittelschichten ausbeutenden und Lohnabhängigen machtausübenden proletarischen Typs Klassen und Schichten N N 1. Gesindeperson kleiner Gewerbetreibender bzw. kapitalistischer Unternehmer Markthelfer 1
4. Handwerksmeister
2. Handwerksgeselle
2
3. un- bzw. angelernter Arbeiter Einwohner Hausgenosse
1 1
2 5
15
5. Bauer/Nachbar
5
6. Gasthofbesitzer Gastwirt
1 3
7. Hausbesitzer/ Privatmann
2
8. Arzt
3
9. Advokat
1
10. unterer/mittlerer Handelsangestellter Kommis Buchhalter Warenmäkler Wechselsensal
3 1 1 1
11. mittlerer industrieller Angestellter Kohlenwerksaufseher
1
16. Rittergutsbesitzer
1
17. hoher Angestellter/ Beamter von Regierung, Kommunalverwaltung, Militär Kammerrat Justizkommissar Zahlkommissar Kanzleiinspektor Bürgermeister Gymnasialrektor Obristleutnant
1 1 1 1 2 1 1 E 9
12. mittlerer Angestellter/ Beamter von Regierung, Kommunalverwaltung, Militär, Kirche Steuereinnehmer 1 Stadtsekretär 1 Kammersekretär 1 Holzaufseher 1 Schloßbauschreiber 1 1 Kgl. Feldjäger Universitätsproklamator 1 Magister 1 Pastor 2 Gymnasiallehrer 1 Lehrer/Organist 2 2 50 13. Kaufmann 14. Spediteur 15. Fabrikant
N
54 3 6 S 63
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
73
besaßen. Während der genannte Arztsohn von seiner Mutter 800 Taler und von seinem Onkel, einem Kürschnermeister, 600 Taler zur Etablierung geschenkt bekommen hatte und sich das restliche, an 3 000 Taler noch fehlende Geld durch Spekulationen mit Eisenbahnaktien verschaffte, konnte der Fabrikantensohn August Wilhelm Bornemann bei seiner Niederlassung in Leipzig auf ein väterliches Geschenk von 12 300 Talern und eigene Ersparnisse von 3 400 Talern zurückgreifen. 95 Bornemann besaß darüber hinaus bedeutende verwandtschaftliche Verbindungen. Sein Bruder war Teilhaber der Handlung Lutteroth und Co. in Hamburg, sein Onkel Inhaber der Handlung C. W. Lutteroth in Paris. Der Konsul Lutteroth vom Hause Lutteroth und Co. in Triest galt ebenfalls als naher Verwandter. So maßgebliche Leipziger Kaufleute wie Friedrich Alexander Gontard, Pierre Louis Daniel Sellier und Albert Dufour-Feronce bemerkten deshalb in einem Gutachten zur Aufnahme Bornemanns unter die Leipziger Kaufmannschaft: „ . . . es wird wohl kein Kaufmann in Abrede stellen, daß solche bedeutenden verwandtschaftlichen Verbindungen, wenn sie einem ehrenvollen Charakter, vielseitigen Erfahrungen und ausreichenden Mitteln zur Seite stehen, als ein wichtiges Element des Erfolgs zu betrachten sind, indem sie zu guten Konnexionen führen und den Weg zu nützlichen Geschäften anbahnen." 96 Bornemann etablierte sich als Teilhaber eines Kommissionsgeschäftes mit überseeischen Artikeln. Sein Beispiel verdeutlicht, daß weder der Fakt der Teilhaberschaft noch der des Kommissionshandels Ausdruck finanzieller Unbemitteltheit sein mußte. Sowohl Teilhabergeschäfte als auch Kommissionshandel wurden auf verschiedenen sozialökonomischen Stufen betrieben. 2.2.2.
Sozialökonomische Herkunft, Intergenerationsmobilität
Tabelle 8 belegt, daß drei Viertel der untersuchten Kaufleute vor ihrer Etablierung in Leipzig im Angestelltenarbeitsverhältnis standen. Sie zählten als Kommis, Reisende, Buchhalter, Kassierer und Disponenten zu den Mittelschichten. Echter gesellschaftlicher Aufstieg gelang ihnen nur dann, wenn sie den Sprung zum Handelsbourgeois schafften und damit die Mittelschichten verließen. Prokuristen, die als leitende Angestellte an Stelle des Prinzipals zum Geschäftsabschluß berechtigt waren, gehörten zu einer ausbeutenden und machtausübenden, der Bourgeoisie sehr nahen Schicht. Für sie konnte die Etablierung als Kaufmann ebenfalls nur innerhalb der Handelsbourgeoisie zu echten Positionsverbesserungen führen. Der sozialökonomische Charakter fremder, sich in Leipzig niederlassender Kaufleute bzw. „Kaufleute und Fabrikanten" war überwiegend bourgeois. Diese Probanden besuchten meist schon seit Jahren mit ihren Waren oder eigenen Fabrikaten die Leipziger Messen. Sie entschlossen sich zur Gewinnung des Leipziger Bürgerrechts, um auch außerhalb der Messen von der immer reger werdenden Handelstätigkeit Leipzigs zu profitieren. 97 Ihre Niederlassung in der Messestadt zielte auf weiteren sozialen Aufstieg.
95 96 97
Ebenda, vgl. Anm. 93 und 92. Vgl. ebenda, AaB Bornernann, 1846/7 548. Vgl. die Aussagen zum Eisenbahnbau unter Kapitel 3, Punkt 4.2.2., in Schätz, Städtische Mittelschichten.
74
Susanne
Schätz
Tabelle 8 Die sozialökonomische
Herkunft
der Leipziger
Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Leipziger Kaufmann
Kaufleute98
Sozialökonomische Qualität N
Handelsangestellter
Bankkassierer Buchhalter Disponent Kommis Reisender
1 6
1 73 11
Prokurist
16
Kaufmann
25 10
Kaufmann
und
Angehörige nichtselbständiger Mittelschichten
Fabrikant
Angehöriger einer ausbeutenden und machtausübenden Schicht Überwiegend Angehörige der Bourgeoisie Angehöriger ausbeutender und machtausübender Klassen und Schichten
Rentier
E 144
2.2.3.
Kaufleute im Spiegel ihrer Heiratsbeziehungen
Sofern Kaufleute Mitglied der Leipziger Kramerinnung werden wollten, waren sie zur Eheschließung verpflichtet." Alle anderen Probanden konnten selbst über den Zeitpunkt ihrer Verheiratung befinden. Nur 40 der 150 Kaufleute waren bei ihrer Niederlassung in Leipzig verheiratet oder standen unmittelbar vor der Verehelichung. Dieser Tatbestand deutet auf einen geringen Anteil der Kramer unter den Untersuchungspersonen hin. Er kann zugleich als Indiz dafür gelten, daß die Eheschließung für die materielle Absicherung der selbständigen Etablierung eines Kaufmanns weniger bedeutsam war als für die eines kleinen Viktualienhändlers. So wählten sich die meisten Probanden erst als gestandene Kaufleute eine Lebenspartnerin. Von nur 17 der 40 Kaufmannsehepaare ließ sich die soziale Herkunft beider Eheleute ermitteln. Damit ist in gewissem Maße Aufschluß über die Sozialbeziehungen der Kaufleute möglich. Nach Tabelle 9 stimmte das soziale Herkunftsprofil der Kaufleute und ihrer Ehefrauen weitestgehend überein. Kaufleute knüpften im wesentlichen nur zu Töchtern aus gehobenen Mittelschichten,100 aus der Bourgeoisie, insbesondere der Handelsbourgeoisie, und aus der
93
99
100
Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Leipziger Kaufmann konnte von 144 der 150 Probanden festgestellt werden. Vgl. Moltke, Siegfried, Leipzigs Handelskorporation. Versuch der Gründung sächsischer Handelskammern im 19. Jahrhundert, Leipzig 1907, S. 5. Unter den fünf Handwerkstöchtern befanden sich allein drei Baumeistertöchter.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
75
Tabelle 9 Die soziale Herkunft der Kaufleute und ihrer Ehefrauen im, Vergleich Ehemann N
Soziale Herkunft
Vater Lohnabhängiger proletarischen Typs Schneidergeselle E Vater Angehöriger der Mittelschichten Handwerksmeister Bauer Bürger und Hausbesitzer mittlere Angestellte/Beamte und Kirche Stadtsekretär Rechtsanwalt Lehrer Prediger
von
Ehefrau N
1
—
1
—
1 2
5 1 1
—
Kommunalverwaltung 1
—
2
—
1
—
1
—
Z Vater Angehöriger der ausbeutenden und machtausübenden Klassen und Schichten Kaufmann* Fabrikant* Kanzleiinspektor Kgl. Forstkommissar Obristleutnant Generaladjutant, Major und Kammerherr von
6
9
8
5 1
—
1
—
1
—
1 —
—
1
£ 10
8
Z Gesamt 17
17
* Sozialökonomische Qualität nicht eindeutig klassifizierbar.
hohen Beamtenschaft partnerschaftliche Beziehungen. Die Abschließung gegenüber Angehörigen unterer Mittelschichten sowie gegenüber denen des Gesindes und der Lohnabhängigen proletarischen Typs war außerordentlich stark. 2.2.4.
Zur territorialen Herkunft der Kaufleute
Sowohl die meisten der sich in den 30er als auch die meisten der sich in den 60er Jahren in Leipzig etablierenden Kaufleute kamen aus dem Königreich Sachsen. Dagegen dominierte in den 40er Jahren die nichtsächsische Herkunft. Viele fremde, selbst ausländische Kaufleute und kaufmännische Angestellte ließen sich jetzt in der Messestadt nieder, weil sie sich von dem durch den Eisenbahnbau bewirkten Handelsaufschwung die glänzendsten Geschäfte versprachen.
76
Susanne Schätz
Tabelle 10 Die territoriale
Herkunft der Leipziger Kaufleute 1830—1870
Geburtsorte
Bürgerrecht 1830-1839
1840-1849
1860-1869
1830-1870
Kgr. Sachsen Städte Leipzig Grenz-, Vorstadt- und Außendörfer Leipzigs Dörfer Andere deutsche Städte Dörfer
4 22
5 9
7 16
16 47
4
1
2 5
2 10
13 5
25 6
15 4
53 15
2
3 1
1
6 1
50
150
—
—
Territorien
Ausland Städte Dörfer
—
S 50
50
—
Aus Tabelle 10 wird ersichtlich, daß ca. 83 Prozent aller Kaufleute als Städter geboren waren. Die Analyse der sozialen Herkunft hatte dies bereits vermuten lassen. Der beachtliche Anteil der gebürtigen Leipziger zeigt die große Attraktivität des Kaufmannsberufs in der führenden Messestadt Leipzig selbst.
3.
Schank- u n d G a s t w i r t e
Die Untersuchungsbasis besteht aus 150 Schank- und Gastwirten, die sich zwischen 1830 und 1870 in Leipzig etablierten. Je 50 von ihnen erwarben in den 30er, 40er und 60er Jahren des 19. Jh. das Leipziger Bürgerrecht. Sie stellen Zufallsstichproben aus größeren Gesamtheiten dar.
3.1.
Zur ökonomischen Konstituierung der Schank- und Gastwirte
Das Gastgewerbe zählt zu den ältesten eigenständigen Gewerben in Stadt und Land. Vor allem zwei Beweggründe führten dazu, daß spezielle Mitglieder der Dorf- und Stadtgemeinde die Punktion des Gastwirts übernahmen: Erstens entstand überall dort, wo sich mehrere ansiedelten, bald das Bedürfnis nach Geselligkeit und Zerstreuung. Das Wirtshaus bot diese Freuden über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus während des ganzen Jahres, auch an kalten Winteraben-
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
77
den. Es hatte zunächst weniger die Funktion der Speisegaststätte als die des Ortes der Begegnung, weil die meisten Haushalte jahrhundertelang die Mehrzahl ihrer Speisen und Getränke, auch Bier und Wein, selbst herstellten und daran kein Mangel bestand. Dagegen waren in den kümmerlichen Wohnungen wohl kaum Möglichkeiten vorhanden, Gastlichkeit und Geselligkeit in größerem Rahmen zu pflegen. Deshalb traf man sich am Feierabend im Wirtshaus. Hier redete man miteinander, erfuhr Neuigkeiten, traf Absprachen, beteiligte sich an Würfel-, Brett- und Kartenspielen und trank natürlich auch. So entrann m a n f ü r einige Stunden dem Alltagseinerlei und vergaß die Härte der Arbeit, die Gewalt und die Angst. 101 Zweitens e r f u h r das Gastgewerbe mit dem allgemeinen Aufschwung von Handel und Verkehr besondere Ausbreitung. Vor allem an großen Handelsstraßen und auf bedeutenden Handelsplätzen wurde das Gast- oder Wirtshaus als Stätte der Beherbergung und Bewirtung der Fremden unentbehrlich. So wirkten sich die rasche Aufwärtsentwicklung der Leipziger Messen im 15. und 16. Jh. und ihre schließliche Dominanz im Ost-West-Handel positiv auf das Leipziger Gastgewerbe aus. Allein zwischen 1756 und 1806 wuchs die Zahl der fremden Meßbesucher um mehr als das Doppelte und stieg von 2 991 auf 6 687 Personen. Zu einer erneuten Verdopplung kam es zwischen 1820 und 1840. Jetzt erhöhte sich die Zahl der zur Ostermesse in Leipzig weilenden Fremden von 10 000 auf 20 000. Doch diese gewaltigen Besucherzahlen wurden durch die Möglichkeiten, die der Eisenbahnverkehr in den folgenden Jahrzehnten erschloß, bei weitem überflügelt. 1864 trafen täglich bis zu 11 000 fremde Meßbesucher allein mit den Eisenbahnen in Leipzig ein.102 Viele von ihnen werden gern eine Gast- oder Schankwirtschaft, ein Weinlokal oder Kaffeehaus oder beispielsweise eine Konditorei aufgesucht haben. Wenn auch das Leipziger Gastgewerbe während der Messen sein größtes Geschäft machte, profitierte es doch allgemein von der auf dem Handelsaufschwung, dem Eisenbahnbau und der Fabrikentwicklung beruhenden Bevölkerungs- und Stadtentwicklung. So erhöhte sich zwischen 1830 und 1870 die Zahl der in den Adreßbüchern verzeichneten Hotels, Gasthöfe, Gastwirtschaften, Weinschänken und Speisehäuser, der Kaffeehäuser, Kaffeegärten, Konditoreien und Schankwirtschaften von 239 auf 625.103 Diese Aufwärtsentwicklung wurde fast ausschließlich von den Bierschänken oder Schankwirtschaften, in den 60er Jahren auch häufig Restaurationen genannt, getragen. Von ihnen gab es 1830 79, 1870 477, während der Anteil der übrigen gastronomischen Einrichtungen sich im gesamten Zeitraum nur wenig änderte. 104 Damit nahm vor allem die Anzahl kleiner Lokale zu, die hauptsächlich durch den Ausschank von Branntwein und Bier existierten. Ihr Publikum dürfte zumeist aus Menschen mit geringen Ansprüchen und/oder schmaler Geldtasche bestanden haben. Demgegenüber verkehrten in Hotels „Herrschaf101
Vgl. Kuczynski, Jürgen, Das Wirtshaus, die Linde — die Freude des Lebens. Exkurs, in: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studien 1, Berlin 1980, S. 274—282. 102 Sämtliche Zahlen wurden entnommen Kroker, S. 176, 220, 229 f. 102 Vgl. Adreßbücher Leipzigs von 1830 und 1870. i0/ ' Vgl. ebenda sowie beliebige weitere Adreßbücher aus dem Zeitraum zwischen 1830 und 1870.
78
Silsanne Schätz
ten, welche bequeme Logis und gute Bewirtung wünschen", und Gasthöfe waren in erster Linie für Reisende und Fuhrleute gedacht.105 Letztere unterschieden sich von Gastwirtschaften dadurch, daß sie Möglichkeiten der Übernachtung boten. Die 150 Probanden setzten sich aus einem Hotelpächter, einem Gasthofpächter, einem Gasthofbesitzer und 147 Gast- bzw. Schankwirten zusammen. 106 Wie schon die Viktualienhändler siedelten sich viele Gast- bzw. Schankwirte (im Folgenden der Einfachheit halber als Gastwirte bezeichnet) in den neu entstehenden Vorstadtteilen an. Nicht selten etablierten sie sich im Bahnhofsgelände oder direkt als Bahnhofsgastwirte. Dennoch übten etwa 40 Prozent der Probanden in den 60er Jahren ihr Gewerbe in der Innenstadt aus, weil im kommerziellen und kulturellen Zentrum der Bedarf an Gaststätten besonders groß war.107 Der Anteil der Haus- bzw. Grundstücksbesitzer war zwar höher als bei den Viktualienhändlern, lag mit ca. 16 Prozent jedoch relativ niedrig. 108 Auch Gastwirte nutzten zur Ausübung ihres Gewerbes Kellerräume und Hintergebäude.109 Den Gewerbesteuersätzen nach zu urteilen, war die ökonomische Situation der Gastwirte in der Mitte der 60er Jahre insgesamt günstiger als die der Viktualienhändler. Zwar versteuerten 55 Prozent und damit mehr als die Hälfte aller 105
Siehe entsprechende Bezeichnung im Adreßbuch von 1825. Es handelt sich um Christian Wilhelm Bergmann, Pächter des Hotels „Zur Stadt Hamburg" in der Nikolaistraße, um Friedrich August Wilhelm Schütz, Pächter des Gasthofes „Zur Laute", Katasternummer 1 060, und um Johann Friedrich August Muldhof, Besitzer des Gasthofes „Zum blauen Roß" auf dem Königsplatz. Muldhof hatte seinen Gasthof für 49 750 Taler gekauft. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Bergmann, 1861/19 689; BP Schütz, 1834/54; AaB Muldhof, 1863/21 439. 107 Von 44 der 50 Schankwirte, die in den 60er Jahren ein Lokal eröffneten, konnte festgestellt werden, wo sich ihre Lokale befanden. Danach etablierten sich fünf Probanden in der Nikolaistraße, je zwei auf dem Neumarkt, in der Sternwarten-, der Windmühlen-, der Kohlen-, der Bahnhofstraße, der Hohen und der Dresdener Straße und auf dem Brühl und je ein Proband in der Windmühlengasse, auf dem Neukirchhof, in der Kleinen Funkenburg, auf dem Magdeburg-Leipziger Bahnhof, auf dem Roß- und auf dem Königsplatz, in der Lützower und der Bayrischen Straße, der Karl-, der Gerber- und der Antonstraße, der Zeitzer Straße, der Promenaden-, der Brüder-, der Elisenstraße, der Tauchaer Straße, in der Zentralhalle, vor dem Rosenthaler Tore, in der Fleischergasse, der Ullrichgasse, in der Schützen-, der Reichs- und der Sophienstraße. Bahnhofsgastwirte waren Louise Auguste Zöller auf dem Bayrischen Bahnhof und Christian Wilhelm Herrmann Malsch auf dem Magdeburg-Leipziger Bahnhof. Vgl. ebenda, AaB Zöller, 1850/11 229, und AaB Malsch, 1863/ 21 250. 103 Aus 81 Bürgerprotokollen bzw. Aufnahmeakten konnte zweifelsfrei entnommen werden, ob der Proband Haus- bzw. Grundstücksbesitzer war oder ob es sich lediglich um den Pächter einer Gastwirtschaft handelte. Nach dieser Erhebung besaßen 13 Gastwirte ein Haus bzw. Grundstück, während 68 die Räume für ihr Gewerbe pachten mußten. 109 So pachtete Johann Karl Friedrich Schubert den Keller in Bäcker Ulbrichts Haus als Schanklokal. Gottlob Vogel übernahm „eine in einem Hintergebäude befindliche Schankwirtschaft". Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Schubert, 1834/65, und BP Vogel, 1834/498. 106
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Gastwirte ebenfalls weniger als vier Taler jährlich, aber immerhin 35 Prozent zahlten zwischen vier und zwölf Talern Gewerbesteuer. Ihre Vermögensverhältnisse entsprachen denen unterster Kategorien der Kaufmannschaft. 110 Die Steuersätze der restlichen zehn Prozent betrugen mehr als zwölf Taler — acht Prozent entrichteten zwischen 14 und 70 Taler und zwei Prozent sogar zwischen 75 und 150 Taler im Jahr. Man darf annehmen, daß es sich bei ihnen um Gasthof- und Hotelinhaber gehandelt hat, die in der Steuerstatistik nicht gesondert berücksichtigt wurden.111 Die Gewerbesteuerbeträge verdeutlichen vor allem dreierlei: Erstens lag das materielle Lebensniveau von 45 Prozent der Gastwirte über dem der Arbeiter und großer Angestellten- und Beamtengruppen sowie dem der Masse der Viktualienhändler. Es war demnach im Gastgewerbe möglich, sich eine relativ solide Existenz aufzubauen und in gewissem Umfang Vermögen zu erwerben. Wenn auch nur eine verschwindend kleine Minderheit der Gastwirte wirklich reich wurde und sich der Bourgeoisie annäherte oder zu ihr überging, konnte doch ein beachtlicher Teil eine relativ stabile Zwischenstellung zwischen den Klassen erlangen und behaupten. Dies blieb auch den Zeitgenossen, nicht verborgen und erklärt das Streben einiger Viktualienhändler, bei nächstmöglicher Gelegenheit in das Gastgewerbe überzuwechseln. Zweitens sollte man dennoch nicht übersehen, daß die materiellen Existenzbedingungen von mehr als der Hälfte der Probanden denen einiger Arbeiterund verschiedener Angestellten- bzw. Beamtengruppen sowie denen eines Großteils der Viktualienhändler ähnelten. Die ökonomische Situation dieser Gastwirte war bescheiden, und ihre selbständige Existenz konnte bei nachlassender Kaufkraft oder zunehmender Konkurrenz rasch in ernste Gefährdung geraten. Hier waren periodischer Erwerbswechsel und Bankrott nicht weniger selten als bei den Viktualienhändlern. Das Schicksal der „Goldenen Eule", einer kleinen Schankwirtschaft im Zentrum Leipzigs, veranschaulicht diesen Tatbestand. Sie zählte zwischen 1842 und 1904 zehn verschiedene Konzessionsberechtigte.112 Drittens bestanden zwischen dieser unteren, stark fluktuierenden Schicht von 11,1
111 112
Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer in Leipzig, S. 8 sowie 2 f. Die Berechnung erfolgte auf der Grundlage der angegebenen Steuersätze von Gastwirten und Schankwirten, da die Probanden sich vornehmlich aus diesen beiden Kategorien zusammensetzten. Vgl. ebenda, S. 8. Vgl. StaL, II, Sektion, S. 4 531, Akta, Die Anmeldung der hiesigen Schänkwirtschaften betr., 1847, einliegender Zettel ohne Blattangabe. Die „Goldene Eule", Brühl 25, hatte zwischen 1842 und 1904 folgende Konzessionsberechtigte: 1842 Karl Gottlob Richter 1846 Chr. Fr. Aug. Rehhahn 1850 Immanuel Traug. Kretzschmar 1855 C. G. Spargan 1860 J. C. Wagner 1863--1877 F. C. Albrecht 1878--1886 F. C. Albrechts Witwe 1887--1892 L. F. - O. A. Beer 1893--1901 F. A. Walter 1902--1904 L. F. Hoff.
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Susanne Schätz
Gastwirten, aber auch zwischen den auf stabilerer Grundlage existierenden Probanden und einer schmalen Schicht reicher Gastwirte ausgeprägte soziale Gegensätze. So beschäftigten im Jahre 1875 89 von 100 gastronomischen Einrichtungen keine oder bis zu fünf Personen, weitere sechs Einrichtungen bis zu zehn Personen, und nur fünf besaßen ein Personal zwischen elf und 50 Gehilfen." 3 Das Gastgewerbe war im wesentlichen ein Kleingewerbe, jedoch ein solideres als der Viktualienhandel und vor allem eins, in dem sich bereits eine stärkere soziale Differenzierung seiner Mitglieder vollzogen hatte. Die einzelnen Kategorien gastronomischer Einrichtungen unterschieden sich weniger in ihrer Betriebsgröße als in der Qualität und im Umfang der Dienstleistungen. Entsprechend verschiedenartig war, wie schon angedeutet, ihr Publikum. Da einfache Schankwirtschaften neben Speisegaststätten und vornehmen Hotels ihre Berechtigung haben und man noch heute gewöhnlich die Atmosphäre eines kleinen gepflegten Restaurants der einer Großgaststätte mit Massenabfertigung vorziehen wird, verlief die soziale Differenzierung im Gastgewerbe weniger rasant und dramatisch als in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
3.2.
Zur sozialen Konstituierung der Gastwirte
Die ähnlichen materiellen Existenzbedingungen eines beträchtlichen Teils der Gastwirte und der Masse der Viktualienhändler lassen die Frage aufkommen, ob auch andere Bereiche ihrer Struktur derartige Übereinstimmungen aufweisen. Dem bisherigen Untersuchungsalgorithmus folgend, sollen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede im sozialen und sozialökonomischen Herkunftsprofil und in den Heiratsbeziehungen gesucht werden. 3.2.1.
Soziale Herkunft, berufliche Entwicklung, Intergenerationsmobilität
Tabelle 11 zeigt die soziale Herkunft der männlichen Gastwirte. Sie konnte von 94 der 139 Probanden ermittelt werden.114 3.2.1.1.
Soziale Herkunft, berufliche Entwicklung und Intergenerationsmobilität der den Familien von Gesindepersonen und Lohnabhängigen proletarischen Typs entstammenden Gastwirte
Der Anteil dieser Gastwirte lag mit 18 von 100 deutlich unter dem entsprechenden Prozentsatz der Viktualienhändler. Dabei ernährten sich 17 von 100 Gastwirtsväter als Lohnabhängige proletarischen Typs der Herkunftsgruppen zwei 113
Vgl. Hasse, S. 313. Die veröffentlichte Statistik ermöglicht es nicht, zwischen Gastwirtschaften, die kein Personal hatten, also sogenannten Alleinbetrieben, und zwischen solchen mit Beschäftigten innerhalb der Kategorie 0—5 Beschäftigte zu unterscheiden. Dadurch kann der Anteil der Kleinstunternehmen nicht näher bestimmt werden. Eine Konkretisierung ist auch im sehr weiten Bereich 11—50 Beschäftigte nicht möglich. n '' Grundlegende Bemerkungen zu den elf weiblichen Untersuchungspersonen folgen wiederum im Anschluß an die Aussagen über ihre männlichen Kollegen.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger Tabelle 11 Die soziale Herkunft der Gastwirte, Geburtsjahrgänge
81
1790 bis 1840
Vater nach Beruf/Tätigkeit Angehöriger der Gesindepersonen bzw. Mittelschichten ausbeutenden und Lohnabhängigen machtausübenden proletarischen Typs Klassen und Schichten N N 1. häusliches Gesinde Dienstmann
4. Handwerksmeister 5. Bauern/Nachbarn 6. Gastwirt 7. Kleinhändler 8. Fuhrwerksbesitzer 9. Hausbesitzer
2. Handwerksgesellen 3. un- und angelernte Arbeiter Einwohner Handarbeiter Häusler Ölschläger Wachstucharbeiter E 17
23 29 12 2 4 1
10. untere/mittlere Angestellte/Beamte von Regierung, Kommunalverwaltung, Militär Schullehrer 1 Eisenbahnbeamter 1 Jäger 1 Schäfer 1 Unteroffizier 1 E 76 11. Kaufmann
und drei, während nur ein einziger Gastwirtsvater im Gesindedienst stand. Wie bei den Viktualienhändlern überwogen ebenfalls un- bzw. angelernte Arbeiter gegenüber Facharbeitern als Väter. Tabelle 12 belegt, daß auch unter den Söhnen die ungelernten Arbeitskräfte dominierten. Im Gegensatz zu den Vätern verrichteten jedoch 12 von 17 Söhnen nach der Schulzeit fortwährend Gesindedienste. 115 Die frühzeitige Verdingung 115
Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten. Es handelt sich um Johann Gottfried Zschunke, BP 1835/755, Vater: Häusler; Friedrich Traugott Thümmler, AaB 1862/ 20 485, Vater: Dienstmann; Karl August Schubert, BP 1832/11, Vater: Maurergeselle; Bernhard Fröhlich, AaB 1869/27 133; Christian Gottlieb Eismann, AaB 1847/3 860 ) Andreas Heinrich Trunkel, AaB 1864/22 119 l Vater: Handarbeiter Christian Friedrich Zieger, AaB 1846/7 534 Karl Gottlob Spargan, BP 1832/186 Gottlob Johann Vollrath, BP 1838/180 Johann Christian Flemming, BP 1833/303 Johann Gottlieb Apitzsch, AaB 1848/9 965 Louis Gerth, AaB 1866/24 457
6 Jahrbuch 38
Vater: Einwohner
82
Susanne
Schätz
Tabelle 12 Der Zusammenhang von sozialer bei späteren Gastwirten
Vater tätig als
Herkunft
Berufsausbildung
Berufsausbildung des Sohnes N
1. häusliche Gesindeperson 2. Handwerksgeselle 3. un- bzw. angelernter Arbeiter 4. Handwerksmeister 5. Bauer/Nachbar 0. Gastwirt 7. Kleinhändler 8. Fuhrwerksbesitzer 9. Hausbesitzer 10. unterer/mittlerer Angestellter/Beamter von Regierung, Kommunalverwaltung, Militär 11. Kaufmann
und
ohne ohne Angabe
1 3 13 23 29 12 2 4 1
1 1 1 4
Handwerkslehre
Schreiber
1
1
11 7 22 4 2 2 1
1 14 2 7
1 1 1
Kiiufmannslehre
1
2
5 1
1
2
1
E 94
6
53
28
1 1 4
3
als Gesinde mag von A n f a n g an darauf abgezielt haben, den äußerst wechselhaften, unsicheren und erbärmlichen Existenzbedingungen der lohnarbeitenden, zumeist dem Kapitalverhältnis unterworfenen Eltern zu entgehen. Allein acht der zwölf Gesindepersonen standen zeit ihres Lebens bei Gastwirten als Hausknechte oder Kellner in Arbeit. Indem sie tagtäglich ihren Dienst taten, erwarben sie die zur F ü h r u n g einer Gastwirtschaft erforderlichen Kenntnisse gleichsam nebenbei. Das mochte in ihnen den Wunsch entstehen lassen, selbst einmal Gastwirt zu werden. Zahlreiche Trinkgelder halfen ihn erfüllen. Tabelle 12 zufolge erlernten je ein Handwerksgesellensohn und ein Arbeitersohn ein Handwerk. 1 1 6 Zwei weitere, zunächst als Schreiber tätig gewesene Söhne übten später als Bücherauktionsproklamator bzw. Amtsregistrator nichtproletarische Tätigkeiten u n t e r e r bzw. mittlerer Angestellter/Beamter aus.117 Der Wachstucharbeitersohn schließlich ging den Weg der langjährigen Militärverpflichtung und wurde Kammerunteroffizier. Er eröffnete nach elfjähriger Dienstzeit eine Gastwirtschaft. 1 1 8 116 117
118
Ebenda, Karl Heinrich Mehlhorn, BP 1839/529, Müllergeselle, Vater: Schneidergeselle; Johann Friedrich Schubert, BP 1834/65, Schuhmachergeselle, Vater: ölschläger. Ebenda, Carl Ernst Schmidt, AaB 1846/8 517, Bücherauktionsproklamator, Vater: Zimmergeselle; Friedrich August Wilhelm Schütz, BP 1834/54, Amtsregistrator, Vater: Einwohner. Ebenda, Wilhelm Gottlieb Richter, AaB 1869/26 610.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
83
Alle Söhne dieses Herkunftsfeldes erreichten gegenüber ihren Vätern einen gesellschaftlichen Aufstieg. Sein Ausmaß war von der Solidität der errungenen selbständigen Position abhängig. 3.2.1.2.
Soziale Herkunft, berufliche Entwicklung und Intergenerationsmobilität der in nichtproletarischen Verhältnissen geborenen Gastwirte
Welche Wertschätzung die Stellung eines Gastwirtes im allgemeinen Selbstverständnis besaß, unterstreicht die Tatsache, daß immerhin 82 von 100 Gastwirten nichtproletarischen Elternhäusern entstammten. Probanden nichtproletarischer Herkunft zog es viel stärker ins Gastgewerbe als in den Viktualienhandel. Sie waren wohl häufig durch kleine Erbteile und eigene Ersparnisse in der Lage, sich im Gastgewerbe stabilere selbständige Existenzen zu eröffnen, als das im Viktualienhandel möglich gewesen wäre. Auch die meisten Gastwirte nichtproletarischer Herkunft kamen aus bäuerlichen (38 von 100) und Handwerksmeisterfamilien (30 von 100). Dagegen rekrutierten sie sich deutlich häufiger aus den Familien kleiner selbständiger Gewerbetreibender (25 von 100) als die Viktualienhändler, 16 von 100 Gastwirtvätern waren selbst Gastwirte; ein Gutteil von ihnen übergab den Söhnen das eigene Lokal zur Fortführung. Das verdeutlicht einmal mehr, daß im Gastgewerbe bei entsprechendem Vermögen durchaus relativ solide Existenzen möglich waren und nicht jede Gastwirtschaft das wechselvolle Schicksal der erwähnten „Goldenen Eule" nehmen mußte. Insgesamt entstammten die Gastwirte nichtproletarischer Herkunft überwiegend selbständigen kleinbürgerlichen Verhältnissen. Angehörige unselbständiger Mittelschichten waren als Väter fast ebenso bedeutungslos wie Angehörige gehobener Mittelschichten oder der Bourgeoisie. Während die übergroße Mehrheit der Bauernsöhne ungelernt war (siehe Tabelle 12) und sich vor ihrer Etablierung als Gastwirt durch Gesindedienste verschiedenster Art ernährte, hatten die Mehrheit der Handwerksmeistersöhne und etwa die Hälfte der Söhne kleiner Gewerbetreibender zunächst einen Handwerksberuf erlernt. Man wird davon ausgehen können, daß diese Berufsausbildung in der Absicht erfolgte, den Söhnen eine gesicherte Zukunft zu eröffnen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es interessant, daß jeder zweite kleine Gewerbetreibende die Situation im Handwerk besser oder doch zumindest nicht ungünstiger als die des eigenen Arbeitsbereiches beurteilte und seinen Sohn ins Handwerk schickte. Doch nur wenigen Söhnen gelang es, das Meisterrecht und/ bzw. die Selbständigkeit zu erringen.119 Sie schafften das ausnahmslos in den 20er, 30er oder 40er Jahren, wandten sich jedoch schon nach kurzer Zeit dem Gastgewerbe zu. Die meisten gelernten Probanden wechselten unmittelbar aus dem Zunftgesellen-Lohnarbeiter-Arbeitsverhältnis in die keine spezielle Qualifizierung voraussetzende Selbständigkeit eines Gastwirtes über. Mehr als ein Drittel konnte als 119
6*
Von 25 Handwerksgesellen erlangten sechs zeitweise Selbständigkeit in ihrer Profession. Vgl. ebenda, BP de Bruin, 1836/661, Waffelkuchenbäcker; BP Tennert, 1839/ 827, Braumeister; BP Apitzsch, 1842/392, Müller; B P Sebastian, 1842/481, Leinewebermeister; B P Großmann, 1843/172, Töpfermeister; AaB Streubel, 1849/10 805, Sattlermeister.
84
Susanne Schätz
gelernter Brauer, Fleischer oder Bäcker zumindest einige Fachkenntnisse im neuen Gewerbe nutzen. Alle Probanden nichtproletarischer Herkunft setzten die nichtproletarische Existenzweise der Eltern fort. Wie schon ein Großteil zukünftiger Viktualienhändler war auch die Mehrheit späterer Gastwirte dazu nur in der Lage, indem sie die traditionellen Lebensbereiche der Familie verließ. In einer Zeit, da die kapitalistische Warenproduktion und ihr gemäße neue Klassen und Schichten die gesellschaftliche Produktion mehr und mehr beherrschten und immer weniger Raum für herkömmliche Repräsentanten der einfachen Warenproduktion ließen, führte die Hauptrichtung der Intergenerationsmobilität aus Schichten produzierender Selbständiger in die von Selbständigen der Handels- und Dienstleistungssphäre. Hier gab es weiterhin bedeutende Freiräume für kleine selbständige Gewerbetreibende. 3.2.2.
Sozialökonomische Herkunft, Intergenerationsmobilität
Das sozialökonomische Herkunftsprofil von Gastwirten und Viktualienhändlern weist sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede auf. Abbildung 3 Die sozialökonomische
Herkunft der Gastwirte, 1830—1870
10
4 5 6
7
Anzahl 1. Häusliches Gesinde 2. Gewerbliches Gesinde 3. Handwerksgesellen 4. Un- und angelernte Arbeiter 5. Untere/mittlere Handelsangestellte 6. Mittlere industrielle Angestellte 7. Untere/mittlere Angestellte/Beamte von Regierung und Kommunalverwaltung 8. Landwirtschaftliche kleine Warenproduzenten 9. Handwerkliche kleine Warenproduzenten 10. Verschiedene kleine Gewerbetreibende
28
49 18 2
5 2
4 3 7 13 2 131
Konstituierung „kleiner" Selbständiger Talelle 13 Die sozialökonomische
85
Herkunft der Gastwirte Sozialökonomische Qualität
Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Gastwirt N häusliche
Gesindeperson
Bedienter Hausknecht Hausmann „in Diensten" Kutscher Laufbursche
5 14 3 2 3 1
Gesindeperson kleiner Gewerbetreibender bzw. kapitalistischer Unternehmer Brenner Geschäftsführer einer Gastwirtschaft Kellner Markthelfer Oberkellner Schleifknecht
2 9 24 7 1
Gesinde und Lohnabhängige proletarischen Typs
Handwerksgeselle Bäcker Barbier Fleischer Glaser Maurer Müller Schornsteinfeger Schuhmacher Tischler Töpfer Zimmermann un- bzw. angelernte
1 1 1 1 1 1 1 1 Arbeiter
Handarbeiter Kofferträger unterer ¡mittlerer
1 1 Handelsangestellter
Bücherauktionsproklamator Kommis Kopist Schaffner einer Spedition Wagenwächter einer Spedition unterer ¡mittlerer industrieller Angestellter/Beamter Bahnmeister der Magdeburger Eisenbahn Werkführer einer Brauerei
X 1 1 1 1
1 1
.
Angehörige nichtselbständiger Mittelschichten
86
Susanne Schätz
Tabelle 13 (Fortsetzung) Beruf/Tätigkeit vor der Etablierung als Gastwirt
Sozialökonomische Qualität
unterer/mittlerer Angestellter ¡Beamter von Regierung und Kommunalverwaltung Gerichtskopist Gesellschaftsdiener der Gesellschaft „Die Laute" Schauspieler am Stadttheater
1 2
Bauer
3
Gastwirt
1
10
Handwerksmeister! selbständiger Handwerker Braumeister Müller Töpfer Waffelkuchenbäcker Sonstiger kleiner Bierverleger Trockenplatzpächter Zeitungskolporteur
Angehörige nichtselbständiger und selbständiger Mittelschichten
4 1 1 1 Gewerbetreibender 1 1 1 E 131
Wie Tabelle 13 und Abbildung 3 demonstrieren, stimmt der Gesamtanteil der dem Gesinde und den Lohnabhängigen proletarischen Typs entstammenden Gastwirte mit dem der Viktualienhändler annähernd überein. Es fällt jedoch auf, daß sich Gastwirte noch häufiger aus dem städtischen Gesinde rekrutierten als Viktualienhändler. So hatten 58 von 100 Gastwirten vor ihrer Etablierung in Gesindediensten gestanden, die Mehrheit im gewerblichen Gesindedienst. Etwa 70 Prozent aller Gesindepersonen waren bei Gastwirten beschäftigt gewesen, davon drei Viertel als Hausknecht, Laufbursche oder Kellner und ein Viertel in den gehobenen Stellungen von Oberkellnern bzw. Geschäftsführern größerer gastronomischer Einrichtungen. Oberkellner und Geschäftsführer repräsentierten den Übergangscharakter der Gesellschaft besonders augenfällig. Sie unterstanden der althergebrachten reaktionären Gesindeordnung, verrichteten jedoch Tätigkeiten, die sich nicht wesentlich von denen bestimmter leitender kaufmännischer Angestellter unterschieden. Doch erst die Aufhebung der Gesindegesetzgebung gab ihnen alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten und subsumierte sie als Angestellte verschiedener Schichten der kapitalistischen Gesellschaft. Der Anteil der Handwerksgesellen unter den Gastwirten betrug 14 von 100 und war spürbar geringer als bei den Viktualienhändlern. Dafür mag es unterschiedliche Ursachen gegeben haben. Als eine nicht zu unterschätzende, wenn nicht als die ausschlaggebende Ursache f ü r die schwächere Mobilität der Handwerks-
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
87
gesellen ins Gastgewerbe begreift die Verfasserin jedoch ihre Vermögensverhältnisse. Das biographische Material hatte bereits bei der Erforschung der Viktualienhändler erkennen lassen, daß es sich bei ihnen zumeist um recht arme Menschen handelte. Nur wenigen war es möglich, die zur Etablierung notwendige Summe von 600 Talern in der eigenen Profession zu verdienen. Die meisten erlangten nur Selbständigkeit, indem sie durch eine günstige Heirat oder/und ein kleines Erbteil dazu in die Lage versetzt wurden. Einige Gesellen gaben sogar ihren Beruf auf, um in Gesindediensten das erforderliche Anfangskapital zu ersparen. Wenn auch die finanzielle Situation der sich im Gastgewerbe ansiedelnden Handwerksgesellen etwas günstiger war, ihr durchschnittliches Vermögen lag bei 885 Talern, 120 setzte sich ihr Besitz ähnlich zusammen wie der der Handwerksgesellen unter den Viktualienhändlern. So besaß der reichste Handwerksgeselle unter den Gastwirten Besitz im Werte von 2 000 Talern. Er hatte ihn sämtlich von seiner Mutter, einer Leipziger Gastwirtin, geschenkt bekommen. 121 Auch f ü r den zweitreichsten Handwerksgesellen unter den Gastwirten, den Fleischergesellen Julius Louis Scholtz, spielte die familiäre Mitgift die entscheidende Holle. Scholtz entstammte der Familie eines Leipziger Bürgers, Hausbesitzers und Fleischermeisters. Er erhielt nach dem Tod der Eltern und dem Verkauf des elterlichen Hauses wie seine beiden Geschwister ein Erbteil von 700 Talern. Ihm fielen ferner 300 Taler aus dem Besitz seiner Großmutter mütterlicherseits, einer Tuchscherermeistersfrau, zu. Er selbst sparte in zwölfjähriger Gesellenzeit 300 Taler und vergrößerte sein Vermögen noch um weitere 200 Taler durch die Heirat mit Louise Kockel, die „in einer Gastwirtschaft behilflich" war. Als Scholtz 1862 das Leipziger Bürgerrecht als Gastwirt gewann, konnte er ein Betriebskapital von 1 500 Talern bar vorlegen. 132 Obwohl auch einer Gesindeperson die Ehe mit einer nicht gänzlich unbemittelten Partnerin gelegen kam und ein Erbteil manche Erleichterung brachte, schafften es doch viele Angehörige des städtischen Gesindes aus eigener Kraft, 600 und mehr Taler zusammenzubekommen. So hatten die reichste und zweitreichste Gesindeperson unter den Gastwirten nach und nach 6 000 bzw. 4 000 Taler als Kellner zurückgelegt! 123 Das durchschnittliche Vermögen des ins Gastgewerbe einströmenden Gesindes lag bei 1 130 Talern. ,2/ ' Es wurde hauptsächlich während der Leipziger Dienstzeit erworben. 125 Zahlreiche Trinkgelder ermöglichten es beispielsweise dem Haus120
Bei 13 der 18 sich im Gastgewerbe etablierten Handwerksgesellen fanden sich Vermögensnachweispapiere. Danach besaßen sechs Gesellen etwa 600 Taler, zwei Gesellen 800 Taler und je ein weiterer Geselle 700, 900,1 200, 1 500 und 2 000 Taler. 121 Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Schindler, 1835/359. 122 Ebenda, AaB Scholtz, 1862/20 327. 123 Ebenda, AaB Malsch, 1863/21 250; AaB Bergmann, 1861/19 689. Malsch und Bergmann ersparten ihr Vermögen in den 40er und 50er Jahren. 12 '"' Von 54 der 77 Gesindepersonen besaßen 19 ca. 600 Taler Vermögen, acht 700, je drei 800 und 900, acht 1 000, zwei 1 300 Taler und je eine Gesindeperson 1 100, 1 500, 1 600, 1 700, 1 800, 2 300, 2 500, 2 700, 3 000, 4 000 und 6 000 Taler. 125 Der Hausknecht Karl August Mühlberg besaß 1 000 Taler, die er sich nach und nach erspart hatte. Er gab an, in Leipzig das Glück gehabt zu haben, jederzeit einträgliche Dienstposten zu finden. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Mühlberg, 1837/702.
88
Svsanne Schätz
knecht Johann Carl Friedrich Schreiber, in einer nur achtjährigen Dienstzeit beim Leipziger Gastwirt Rehhahn 1 500 Taler zu sparen. 126 Nicht selten waren Gesindepersonen in der Lage, Geld zu verleihen. 127 Es scheint sehr plausibel, daß bei der Konzessionserteilung für das Schankgewerbe eher Personen mit höherem Besitz berücksichtigt wurden als Antragsteller, die nicht viel mehr als 600 Taler besaßen. Damit waren insgesamt mehr Gesindepersonen als Handwerksgesellen in der Lage, sich als Gastwirt selbständig zu machen. Solidere Vermögensverhältnisse erklären auch den gegenüber den Viktualienhändlern höheren nichtproletarischen Anteil an der sozialökonomischen Rekrutierung der Gastwirte. 26 von 100 Gastwirten waren bereits vor ihrer Etablierung im Schankgewerbe Angehörige der Mittelschichten, 18 sogar der selbständigen Mittelschichten. Unter den kleinen Selbständigen dominierten Gastwirte und Brauer. Entgegen der Zuwendung ihrer Kollegen zum Viktualienhandel ist das Einströmen von fremden Gastwirten in das Leipziger Gastgewerbe wohl kaum als Abstieg und letzter Ausweg vor drohender Lohnarbeit zu werten. Leider geben die Biographien wenig Aufschluß über die Motive der Etablierung in Leipzig, weil viele der schon in früherer Zeit als Gastwirte tätigen Probanden erst in den späten 60er Jahren das Leipziger Bürgerrecht gewannen, als die Aufnahmeakten nicht mehr mit alter Sorgfalt angelegt wurden. Man darf jedoch annehmen, daß die Niederlassung jedes fremden Gastwirtes in Leipzig in der Hoffnung erfolgte, unter der kräftig wachsenden Bevölkerung der sich entwickelnden kapitalistischen Großstadt und unter dem nie versiegenden Strom der Messebesucher schwunghaftere Geschäfte zu machen, als das auf dem Lande oder in Kleinstädten der Fall gewesen wäre. Das läßt die Leipziger Etablierung dieser Pröbanden zumindest als Neubeginn auf gleicher Stufe erscheinen. Für den Übergang von Handwerksmeistern und niederen Angestellten/Beamten in das Gastgewerbe gilt grundsätzlich, was bereits zum Übergang dieser sozialökonomischen Herkunftstypen in den Viktualienhandel gesagt wurde. Er eröffnete jedoch prinzipiell die Möglichkeit zu einer solideren Lebensperspektive als ein Wechsel in den Viktualienhandel. Die bisherige Analyse verdeutlichte, daß das vorhandene Anfangskapital in vielerlei Beziehung die Weichen der künftigen Entwicklung stellte. So ist es nicht verwunderlich, daß der Anteil un- und angelernter Arbeiter im Kapitalverhältnis unter den Gastwirten noch geringer als unter den Viktualienhändlern war. Unter den Arbeitern gab es nur wenige, die den Mindestsatz von 600 Talern jemals erübrigen konnten. Insgesamt besaßen Lohnabhängige proletarischen Typs für die sozialökonomische Rekrutierung der Gastwirte weniger Bedeutung als für die der Viktualienhändler. Es zeigt sich ferner, daß das Gastgewerbe ebensowenig wie der Viktualienhandel Kapitalanlagesphäre der Bourgeoisie war. Selbst für heruntergekommene,
126 127
Ebenda, AaB Schreiber, 1861/20 107. So erklärte der Markthelfer Johann Andreas Hauschild, „600 Taler dem Herrn Fuchs auf Räcknitz geliehen zu haben und auch noch weitere Außenstände von Privatpersonen fordern zu können". Ebenda, BP Hauschild, 1839/379.
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ruinierte Bourgeois w a r dieses ausgesprochene Kleingewerbe weitestgehend tabu. Das deutet auf eine starke Abschottung der Bourgeoisie gegenüber u n t e r e n selbständigen Mittelschichten der Handels- und Dienstleistungssphäre hin. 3.2.3.
Gastwirt und Lohnabhängiger zugleich?
Der Gewerbesteuerstatistik von 1866 zufolge gab es auch im Gastgewerbe P e r sonen, die neben ihrer Tätigkeit als Gastwirt weiter in lohnabhängigen Stellungen standen. Doch ihr Anteil w a r mit n u r zwei von H u n d e r t verschwindend gering. 128 Unter den 150 Untersuchungspersonen befand sich kein einziger solcher Mischtyp. D a f ü r betätigten sich vier Probanden zugleich in anderen selbständigen Gewerb e n : als Viktualienhändler, als Waffelkuchenbäcker, als Besitzer eines L o h n f u h r geschäfts und als Bierverleger. 129 Nach der Steuererhebung betrug der Anteil derartiger Gastwirte fast ein Drittel. Gastwirte, die noch ein oder m e h r e r e weitere selbständige Gewerbe ausübten, existierten in 26 verschiedenen K o m binationen. Unter ihnen w a r die des Händlers und Gastwirts, die des K a u f m a n n s und Gastwirts, die des Handwerkers bzw. sonstigen Gewerbetreibenden und Gastwirtes sowie die des F u h r m a n n e s und Gastwirtes besonders zahlreich vertreten. 1 3 0 Auch bei diesen Gewerbetreibenden handelte es sich in der Mehrheit u m Steuerzahler unterer, wenn auch nicht unterster Bereiche. Während die gleichzeitige Kapitalanlage in mehreren Sphären bei der Mehrheit der Steuerzahler als Versuch gewertet werden muß, die selbständige Existenz der kleinen Gewerbetreibenden zu stabilisieren, offenbart sie bei einigen oberen Steuerzahlern das Wesen des kapitalistischen Unternehmers — die Gewinnung immer neuer Kapitalanlage- und -Verwertungssphären zur Profitmäximierung. 3.2.4.
F r a u e n im Gastgewerbe
Den recht kärglichen Personalakten der elf weiblichen Probandinnen ist zu entnehmen, daß allein n e u n das Leipziger Bürgerrecht beantragten, um die Gastwirtschaft des verstorbenen Ehemannes fortsetzen zu können. Sie w a r e n als Witwen gezwungen, den Lebensunterhalt ihrer Familien allein zu bestreiten. Wenn das im Einzelfall auch sehr h a r t gewesen sein mag, stellte doch eine bereits bestehende vollständig eingerichtete Gastwirtschaft eine günstigere Ausgangsbasis dar, als sie viele andere alleinstehende F r a u e n besaßen. Die restlichen zwei Probandinnen etablierten sich als E h e f r a u e n von Leipziger Viktualienhändlern im Gastgewerbe. 131 Dies entspricht der schon bei den Viktualienhändlerinnen konstatierten konsequent nichtproletarischen Orientierung von Angehörigen unterer Mittelschichten. 123
129 130 131
Der Berechnung liegen alle diejenigen Personen zugrunde, die nicht nur in der Abteilung der Gastwirte, sondern auch in einer oder mehreren weiteren Abteilungen Steuern zu zahlen hatten. Siehe Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer, S. 40-43 sowie 8. Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Halt, 1834/193; BP de Bruin, 1836/661; BP Arnold, 1841/152; AaB Streubel, 1849/10 805. Vgl. Die Verteilung der Gewerbe- und Personalsteuer, S. 40—43. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Busch, 1869/26 676; AaB Schreiber, 1869/ 26 545.
90 3.2.5.
Susanne Schätz Gastwirte im Spiegel ihrer Heiratsbeziehungen
Das durchschnittliche Heiratsalter der Gastwirte lag bei 30 Jahren. Auch f ü r ihre Etablierung hatte die Eheschließung immense Bedeutung. So stimmten bei jedem zweiten verheirateten Probanden und damit bei 30 Prozent aller Untersuchungspersonen die Termine der Eheschließung und der Niederlassung im Leipziger Gastgewerbe weitgehend überein. 132 Es hat jedoch allen Anschein, als wenn die finanziellen Rücklagen der Bräute weniger dazu dienten, das vorgeschriebene Mindestvermögen von 600 Talern zu erreichen. Sie trugen stärker zur Stabilisierung und zum Ausbau des männlichen Besitzes bei, begünstigten die Konzessionserteilung und erhöhten die K o n k u r renzfähigkeit. Es wirkte sich ohne Zweifel förderlich auf den Bürgerantrag Gottlob Vogels aus, daß er nicht n u r selbst eine Barschaft von 600 Talern besaß, sondern daß auch seine Braut über Vermögen im Wert von mehr als 700 Talern verfügte, das sie geerbt hatte. Vogel heiratete und etablierte sich im J a h r e 1834. Er hatte als Sohn eines Nachbarn und Einwohners aus Predel zeitlebens in Gesindediensten gestanden; seine F r a u w a r die Tochter eines Bürgers und Weißbäckermeisters aus Zörbig. 133 Dem Kellner J o h a n n Friedrich Gottlob Ceuthner war es durch eigene Ersparnisse und die Mitgift seiner Braut im J a h r e 1865 sogar möglich, f ü r 2 300 Taler eine Gastwirtschaft zu kaufen. 134 Damit begann er seine G a s t w i r t s l a u f b a h n u n t e r günstigeren Umständen als jemand, der sich n u r ein Schanklokal pachten konnte. 135 Man darf wohl mit Recht davon ausgehen, daß die sich im Leipziger Gastgewerbe Etablierenden n u r F r a u e n heirateten, die Vermögen besaßen. Tabelle 14 belegt, daß diese Anforderung eher Frauen nichtproletarischer sozialer H e r k u n f t erfüllen konnten, weil sie zumeist mit einem Erbteil rechnen durften. Frauen, deren Eltern Gesindepersonen oder Lohnabhängige proletarischen Typs waren, waren dagegen hauptsächlich auf eigene Ersparnisse angewiesen. So rekrutierten sich Gastwirtsfrauen bevorzugt aus den Familien von H a n d w e r k s meistern, Bauern und kleinen Gewerbetreibenden. Gastwirtskinder und Gastwirts- und Brauerkinder heirateten einander gern. 136 Insgesamt ist das soziale Herkunftsprofil der Gastwirte dem ihrer E h e f r a u e n sehr ähnlich. Es zeigt sich einmal mehr, daß die Söhne und Töchter von Handwerksmeistern, Bauern und Gewerbetreibenden alles daran setzten, auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die nichtproletarische Existenzwe.ise von 139 männlichen Probanden waren 79 (57 Prozent) verheiratet. Davon hatten 40 die Eheschließung entweder unmittelbar vor ihrer Etablierung im Gastgewerbe oder unmittelbar danach vollzogen. 1:;3 Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, BP Vogel, 1834/498. 13 '* Ebenda, AaB Geuthner, 1865/23 566. Geuthner war Sohn eines Fuhrwerkbesitzers, seine Braut eine Bauerntochter. 133 Die zu entrichtenden Pachtgelder für kleinere Schanklokale betrugen zwischen 150 und 200 Taler im Jahr. 135 Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Küber, 1850/11 686, Vater: Schankwirt - Schwiegervater: Gastwirt; AaB Jäger, 1862/20 729, Vater: Gastwirt — Schwiegervater: Gasthofbesitzer; BP Schlegel, 1835/419, Vater: Schankwirt — Schwiegervater: Brauereibesitzer; BP Tennert, 1839/2 827, Vater: Braumeister — Schwiegervater: Gasthofbesitzer.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger Tabelle 14 Die soziale Herkunft
der Gastwirte
und ihrer Ehefrauen
im
Vergleich
soziale Herkunft
Ehemann
Vater tätig als Gesindeperson proletarischen Typs
oder
1 2 2 — 1 1
1 1 3
7
6
4 11 4 — — 1
9 6 3 1 1 1
£ 20
21
£ Gesamt 27
27
Z der
Handwerksmeister Bauer/Nachbar Gastwirt Kleinhändler Lotteriekollektor unterer Angestellter
Ehefrau
Lohnabhängiger
Dienstmann Einwohner Handarbeiter Landarbeiter Häusler Handwerksgeselle
Vater Angehöriger
91
1
Mittelschichten
der Eltern fortzusetzen. Dies gelang ihnen aufgrund familiärer Zuwendungen in weit stärkerem Maße, als Kindern von Gesindepersonen, Handwerksgesellen und Arbeitern der Aufstieg in selbständige Mittelschichten. In jedem Fall erwies sich die Wahl des richtigen Lebenspartners als bedeutsam. So w a r es durchaus keine Seltenheit, wenn die Braut elf, 14 oder gar 19 J a h r e älter als der Bräutigam war, besaß sie n u r genügend Vermögen und den festen Willen, ein kleinbürgerliches Leben zu führen. 1 3 7 Vor allem bei denjenigen Probanden, die Gastwirtswitwen heirateten, 1 3 8 waren die Altersunterschiede der Eheleute oftmals beträchtlich. Diese Probanden erreichten auch häufig erst durch Geldgeschenke der F r a u e n das festgelegte Mindestvermögen. Die Schankwirtswitwe J o h a n n Dorothea Diersch schenkte beispielsweise ihrem Bräutigam, dem Maurergesellen Gustav Bernhardt Becker, sämtliche zu seiner Etablierung notwendigen Geldmittel, weil er ihr das Versprechen gegeben hatte, f ü r ihre sechs Kinder zu sorgen. 139 Bezeichnenderweise waren neun der 18 Probanden, die sich mit Witwen verheirateten, Handwerksgesellen! 137
Ebenda, AaB Becker, 1861/15 916, Altersunterschied der Eheleute 11 Jahre; AaB Winkler, 1861/19 616, Altersunterschied der Eheleute 14 Jahre; BP Görlich, 1845/855, Altersunterschied der Eheleute 19 Jahre. MS Probanden (23 Prozent aller verehelichten Probanden) verheirateten sich mit einer Witwe, 16 von ihnen mit einer Gastwirtswitwe. 139 Vgl. StaL, Bürgerprotokolle und -akten, AaB Becker, 1861/15 916.
92
Susanne
Schätz
Die Biographien verdeutlichen, daß den meisten Gastwirtswitwen gar nichts anderes übrigblieb, als sich so schnell wie möglich wieder zu verheiraten. Ihnen fehlte nicht nur der Lebensgefährte und Vater f ü r die Kinder, sondern vor allem die Arbeitskraft des Ehegatten. So gab die Schankwirtswitwe Christiane Gerhardt offen zu, daß sie „ohne Ehemann ihre Schankwirtschaft nicht so vorteilh a f t betreiben könne als mit eines solchen Hülfe und tätiger Mitwirkung". 1 '' 0 Die sozialökonomische Herkunft der Gastwirtsfrauen konnte auch nicht genauer erschlossen werden als die der Viktualienhändlerfrauen. Wiederum sind ausschließlich weibliche Gesindetätigkeiten nachweisbar, während Beispiele lohnabhängiger Arbeit im Kapitalverhältnis nicht gefunden wurden. 3.2.6.
Zur territorialen Herkunft der Gastwirte
Vor allem zwei Tendenzen werden deutlich: Erstens: Obwohl während des gesamten Untersuchungszeitraumes die im Königreich Sachsen geborenen Gastwirte überwogen, nahm die Zahl nichtsächsischer Gastwirte zu. Ihr Anteil erhöhte sich erstmals unter denjenigen Probanden Tabelle 15 Die territoriale
Herkunft
der Gastwirte
Bürgerrecht
Geburtsorte
Kgr.
1830—1870
1830-1870
1830-1839
1840-1849
1860-1869
2 6 4 26
5 7 3 16
4 3 2 20
11 16 9 62
1 10
5 12
14 6
20 29
—
—
Sachsen
Städte Leipzig X Dörfer Andere Städte Dörfer
deutsche
Territorien
Ausland Städte Dörfer
1
2
1
1 3
50
50
150
—
2 50
X Vorstadt-, Grenz- und Außendörfer Leipzigs
spürbar, die in den 40er Jahren das Leipziger Bürgerrecht erwarben. Diese Menschen entstammten zumeist den Geburtsjahrgängen 1810 bis 1820 und waren schon in den 30er Jahren nach Leipzig gekommen, um hier in Gesindedienste zu treten, eine Lehre zu beginnen bzw. als Gesellen zu arbeiten. Sie gehörten zu den Zuwanderern, die unter den Bedingungen der erstmaligen 140
Ebenda, B P Engelbrecht, 1845/779.
Konstituierung „kleiner" Selbständiger
93
Massenanlage von konstantem fixem Kapital die erste sprunghafte Bevölkerungsentwicklung Leipzigs zwischen 1830 und 1840 auslösten.141 Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes gewann das nichtsächsische Herkunftselement noch an Bedeutung. Jetzt war es für Heimatberechtigte der Bundesländer nicht mehr erforderlich, die sächsische Staatsangehörigkeit zu gewinnen, um sich in Leipzig niederzulassen. Damit entfielen nicht nur Gebühren, sondern auch umständliche Wege der Antragstellung, denen einfache Menschen oft nicht gewachsen waren. Das erleichterte das Eindringen unqualifizierter Arbeitskräfte in Leipzig. Zweitens erhöhte sich ständig der Anteil der in den Städten Geborenen. Vor allem in den 50er und 60er Jahren wandten sich viele Personen städtischer Herkunft nach Leipzig. Offensichtlich war die Anziehungskraft der Messestadt größer als die der Vaterstädte oder anderer Orte. Aus der bisherigen Untersuchung können unmittelbare Zusammenhänge zwischen der sozialökonomischen Situation der Probanden und ihrer territorialen Mobilität geschlußfolgert werden: 1. Der bei Leipziger Kaufleuten und Gastwirten besonders einträgliche Gesindedienst lockte Gesindepersonen aus nah und fern an. 2. Das kräftig expandierende messestädtische Gastgewerbe veranlaßte fremde Gewerbetreibende, darunter viele Gastwirte, zur Etablierung in Leipzig. 3. Die in das Leipziger Handwerk gesetzten Erwartungen auswärtiger Handwerksgesellen erfüllten sich nicht. Diese Menschen fanden letztlich im Gastgewerbe eine Alternative. Obgleich sämtliche Untersuchungspersonen über Kapital- bzw. Produktionsmittelbesitz verfügten, entschieden bereits unterschiedliche Besitzgrößen über spezifische Rollen in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und im Ausbeutungsprozeß. Viktualienhändler, die übergroße Mehrheit der Gastwirte und etwa ein Drittel der Kaufleute waren aufgrund ihres geringen Besitzes im wesentlichen nur zur einfachen Reproduktion fähig. Dennoch: diese „kleinen" Selbständigen lenkten und leiteten, planten und organisierten ihren Arbeitsprozeß — sie waren Herr und Eigentümer ihrer Arbeitsbedingungen. Das unterschied sie vom Gesinde und vom großen Heer der Gesellen — Lohnarbeiter, der Tagelöhner, Manufaktur- und Fabrikarbeiter. Doch trennte sie auch eine deutliche Kluft von kapitalistischen Unternehmern. So waren sie nicht nur Herr ihrer Arbeitsbedingungen, sondern zugleich ihre eigenen Arbeiter1'*2 und führten neben bestimmten geistigen zahlreiche körperliche Tätigkeiten aus. Den „kleinen" Selbständigen charakterisiert demnach ein Nebeneinander von leitender, kontrollierender, eigenständiger, geistig-schöpferischer sowie ausführender, körperlicher Tätig-
141
142
Während sich die Leipziger Bevölkerung zwischen 1820 und 1830 um 9,5 Prozent erhöht hatte, wuchs sie zwischen 1830 und 1840 um 26,3 Prozent. Vgl. Hasse, S. 127. Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Theorien über den Mehrwert. 3. Kapitel — Theorien über produktive und unproduktive Arbeit, geschrieben 1862—63, in: MEW, Bd. 26.1, S. 383, sowie Marx, Karl, Theorien über den Mehrwert, ebenda, Bd. 26.3, S. 349.
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Susanne Schätz
k'eit. Er ist Ausbeuter — sein eigener — und wird ausgebeutet — von feich selbst. Die Untersuchung erbrachte den Nachweis, daß spezifische Rollen in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit wie im Ausbeutungsmechanismus mit besonderen materiellen Lebenssituationen und spezifischen, weder für Arbeiter noch für kapitalistische Unternehmer typischen, sozialen Profilen einhergingen. Sie bestätigte damit die in der DDR — namentlich von Horst Handke — vorgebrachten Überlegungen zur Klassifikation der Mittelschichten.143 Dennoch bedarf es weiterer konkreter Untersuchungen zu Mittelschichtgruppen, wenn wir zu einer Gesamtsicht der Konstituierungsgeschichte der Klassen und Schichten der bürgerlichen Gesellschaft gelangen wollen. Dabei könnte die vergleichende Erforschung von Lebenszyklus und Klassen- bzw. Schichtenzugehörigkeit neue Einsichten eröffnen. 143 Ygl. Handke, Horst, Einige Fragen des dialektischen Wechselverhältnisses von Klassen- und Schichtmerkmalen, in: Zur Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1974.
Jakob Rokitjanski/Waltraud
Seidel-Höppner
Wilhelm Weitlings autobiographische Aufzeichnungen 1858-1870 (Erstveröffentlichung)
Arbeiterfunktionäre hinterließen selten autobiographische Aufzeichnungen oder gar Memoiren. Gewöhnlich ließ ihnen der Tageskampf weder Zeit noch Sinn zum Nachdenken über ihr eigenes spezifisches Gewicht in der Geschichte. Um so glücklicher birgt jeder Historiker Quellendokumente wie das unsrige, das wenigstens einiges aus der Familiensphäre dem Dunkel entreißt. Bei dem vorliegenden Büchlein 1 handelt es sich um eines jener ganz raren Zeugnisse, denen ursprünglich ein privater Zweck zugedacht war. Weitling hatte es seinem ersten Sohn als Vermächtnis zugedacht; es war daher von Anbeginn kein eigentliches Tagebuch. Zwischen den einzelnen Eintragungen liegen bisweilen zwei bis drei Jahre. Es liefert uns Einblick in Wilhelm Weitlings letzte fünfzehn Lebensjahre, besonders in familiäre Angelegenheiten. Es wurde fast drei J a h r e nach der Geburt des ersten Sohnes angelegt, und zwar im Mai 1858.2 Falls die letzte undatierte Notiz (S. 37—43 nach der Eintragung vom Dezember 1869) in das Jahr 1870 fällt, führen uns die Aufzeichnungen Weitlings bis an die Neige seiner Tage. Weitling selbst erklärt die großen Lücken nicht aus Mangel an hingehörigen Ereignissen, sondern aus fehlender Zeit. Ganz gewiß aber gebricht es ihm auch an Gewohnheit im Umgang mit solchem Vertrauten der Feder. Sein Leben dieser Jahre jedenfalls war randvoll von Arbeit, Kampf und Kümmernissen. Später ergänzte, kommentierte oder korrigierte Weitling gelegentlich ältere Eintragungen auf dem unteren, leer gebliebenen Teil der Seiten. Dies spricht dafür, daß er beim Abfassen der Eintragungen nicht nur an seine Famiiie dachte. 1
2
Handschrift, 43 S., von Weitling selbst paginiert, in: New York Public Library, Manuscript Division. Wilhelm Weitling Papers. Vgl. das Register bei Knatz, Lothar/Marsiske, Hans-Arthur, Die Wilhelm Weitling papers. Neue Quellen und Dokumente aus dem Nachlass Wilhelm Weitlings in der Public Library. New York, in: International Review of Social History, Bd. 29, 1984, Teil 1, S. 88. Wir veröffentlichen das Dokument nach der Fotokopie im IML/ZPA, Sign. NL 149/2, Bl. 113-155. Knatz/Marsiske (S. 88) lesen im Aktenumschlag eingeritzt: „1858, den 6. Mai angelegt von Wm. Weitling". Wittke, Carl, The Utopian Communist. A biographie of Wilhelm Weitling Nineteenth-Century Reformer, Baton Rouge 1950 (S. 280), datiert auf 1855. Dafür spräche die im Präsens gehaltene Angabe von Chambers Journal. Der erwähnte Artikel findet sich in der Ausgabe vom 11. 8. 1855, S. 93—95. Wir danken H.-A. Marsiske und L. Knatz für die Beschaffung einer Kopie.
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Jakob Rokitjanski/Waltraud
Seidel-Höppner
Am Zeitraum gemessen, dokumentiert das Schriftstück Weitlings längste Lebensetappe. Der fünfjährigen Hochzeit seiner sozialtheoretischen und politischen Aktivität in Frankreich und in der Schweiz von 1838 bis 1843, die mit einer fast einjährigen Gefängnishaft in Zürich abrupt endete, folgte das spannungsgeladene Intermezzo 1845/46 in London und Brüssel, das von der Entzweiung mit Freunden und Genossen überschattet wurde und ihn Ende 1846 erstmals nach New York trieb. 3 Bei Ausbruch der Revolution hatte er in der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung hinlänglich Fuß gefaßt, um« im Mai/ Juni 1848 von den Vereinen nach Deutschland delegiert zu werden'' und hier für die Aktivierung einer selbständigen Arbeiterbewegung, für ein Zusammengehen von bürgerlich-demokratischer und Arbeiterbewegung gegen die unbesiegte Konterrevolution und für die Festigung und Vertiefung der revolutionären Errungenschaften zu wirken. 5 Die Niederlage der Revolution verschlug ihn Ende 1849 für immer in die USA. Mit Recht wehrt sich Weitling in seinen Aufzeichnungen gegen Mißachtung seiner Verdienste um die deutsch-amerikanische Arbeiterbewegung 6 . Nach übereinstimmendem Zeugnis kompetenter Zeitgenossen steht an der Schwelle der kommunistischen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten Wilhelm Weitling. Friedrich Adolph Sorge, die Seele der deutschen Sektion der ersten Internationale in den USA, der mit Weitling im Allgemeinen Arbeiterbunde zusammenarbeitete und auch späterhin den Kontakt mit ihm aufrechterhielt, betont „den Einfluß, welchen Weitling auf die zeitgenössischen deutschen Arbeiter ausübte und die Achtung, welche seinem Wirken gezollt wurde". Sorge schreibt: „Die Bewegung der deutschen Arbeiter dieses Landes knüpft sich in diesem Jahrzehnt, 1850—1860, sowohl der Zeit wie der Bedeutung nach, in erster Linie an den Namen Weitling."7 Seiner Energie, seinem rastlosen Wirken und seiner 3
Weitling erwähnt in der Republik der Arbeiter, 25.12.1852, S. 213, ein Dekret, das seinen Ausschluß aus dem Bund der Kommunisten beschlossen habe. Doch ein solches Dekret ist bis heute nicht gefunden worden. Vgl. Rokitjanski, Jakob, Zum Rundschreiben des II. Kongresses des Bundes der Kommunisten, in: BzG, 1982, 3, S. 384. Die Tatsache, daß Weitling noch vor Gründung des Bundes der Kommunisten Europa verlassen hatte, spricht eher dafür, daß Weitlings Hinweis sich auf ein Gerücht gründet. '•Zum ersten Jahr seines Wirkens in den USA siehe Huch, C. F., Die Anfänge der Arbeiterbewegung unter den Deutschamerikanern, in: Mitteilungen des deutschen Pioniervereins von Philadelphia, 1910, 17. 5 Vgl. Seidel-Höppner, Waltraud/Rokitjanski, Jakob, Weitling in der Revolution 1848/49. Unbekannte Dokumente, in: JbG, Bd. 32, 1985, S. 65 ff. 6 Dies gilt bis heute. Siehe Weitling, Wilhelm, Garantien der Harmonie und Freiheit, Hamburg 1849. Mit einer Einl. und Anm. neu hrsg. von Bernhard Kaufhold, Berlin 1955, S. XLV. (Im folg. wird nach dieser Ausg. zit.) Zur Kritik dieser Konzeption siehe Knatz/Marsiske, S. 65 f. 7 Sorge, Friedrich Adolph, Die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten 1850 bis 1860, in: Die Neue Zeit, 1890/91, Bd. 2, S. 232. Ein weiterer Zeitgenosse, der Rollomaler Johannes Schröder, nennt seinen Sohn nach Weitling Wilhelm und schreibt am 17. 6.1851 aus New Orleans seinem Schwager Wilhelm Lemme nach Hamburg: „Unser Weitling führt mit jugendlicher Kraft noch immer die soziale Bewegung und trotzt unverdrossen allen Hindernissen." Nachlaß Lemme, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Bl. 0457 f.
Wilhelm Weitling
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politischen Erfahrung verdanken die deutsch-amerikanischen Arbeiter den Aufschwung der Bewegung Anfang der 50er Jahre, ihre ersten Organisationen 8 und ihr eigenes Presseorgan „Die Republik der Arbeiter" 9 . Weitlings praktische Projekte berücksichtigten die sozialökonomischen Bedingungen und demokratischen Verhältnisse in den amerikanischen Nordstaaten in der Zeit revolutionärer Ebbe und kamen der Mentalität der Arbeiter der Kleinproduktion entgegen, aus denen sich die deutsch-amerikanische Arbeiterbewegung jener Jahre rekrutierte. Sie spiegelten die anfänglichen Illusionen einiger Schichten des deutschen Emigrantenelements und dokumentieren Weitlings Reformkonzeption des Übergangs zum Kommunismus unter den Bedingungen einer bürgerlichen Republik. Sie zerstoben rasch genug in der amerikanischen Wirklichkeit und erwiesen sich als Utopie. 10 Der kräftige Aufschwung der Bewegung hielt nicht an; die Bewe8
9
10
Sorge überliefert: „Weitling war ein unermüdlicher, ernster, beredsamer, aber auch streitbarer und eigenwilliger Agitator. Kaum in New York zum zweiten Male angelangt, sammelte er seine alten Anhänger und gründete mit ihnen den Arbeiterbund' und die Monatsschrift ,Republik der Arbeiter', welche später (1851) in ein Wochenblatt verwandelt wurde. Besser als alle seine zahlreichen Schiliften ist dieses Blatt geeignet, von den Kräften, Fähigkeiten und Ansichten Weitlings Zeugniß abzulegen" (S. 233). Die Republik der Arbeiter, Redaktion und Verlag von Wilhelm Weitling, New York (1850—1855), Einl. zum Nachdruck von Gian Mario Bravo, Vaduz/Liechtenstein 1979 (im folg.: RdA). Zur Bedeutung der RdA für die Arbeiterbewegung „in allen Teilen der Union" vgl. Huch, S. 42 f. Weitling organisierte 1850 bis 1855 die deutschamerikanische Arbeiterbewegung als „Arbeiterverbrüderung" nach dem Muster der ersten deutschen überregionalen Arbeiterorganisation von 1848 (RdA, Juni 1850, S. 82 ff., Februar 1851, S. 22). Allerdings erklärt er als „das Wichtigste" die Organisation der Arbeiter als eine selbständige „einzige politische Partei, die Partei der Arbeiter", als „alte Garde der arbeitenden Klassen" und als „Lehrbataillon ihrer Befreiung" (RdA, November 1850, S. 174; Januar 1850, S. 14; Februar 1851, S. 22). Die Organisation nennt sich zunächst „Verbrüderung", ab November 1851 „Arbeiterbund". Sie bezweckt Propaganda, Mitgliederwerbung, Anlage von Unterstützungskassen für Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitsbeschaffung. Darüber hinaus erstrebte Weitling die Einrichtung einer Arbeiter-Produkten-Tauschbank nach Owenschem Muster auf Kleinaktienbasis, die durch Ausgabe eines Arbeitsgeldes (in den USA stand die Emission von Banknoten jedem Unternehmen frei; vgl. RdA, 14.10.1854, S. 341) den Bund in den Stand setzen sollte, durch Engros-Einkauf den Zwischenhandelsprofit auszuschalten und den Produktenaustausch zwischen den Produzenten zum Selbstkostenpreis zu bewerkstelligen. Die Überschüsse sollten dem Ankauf von Land, bundeseigenen Unternehmen und der Einrichtung von Kolonien dienen, die sich nach und nach zu Arbeiterstädten ausweiten sollten. Dergestalt sollte die „Verbrüderung als ein Anfang zu einem offiziell anerkannten Staat dm Staat . . . heranwachsen ..., bis die ganze Menschheit eine wohlgeordnete Gesellschaft ist" (RdA, Juni 1850, S. 82 bis 85). Nicht alles scheiterte von dieser Utopie der „Republik der Arbeiter". Der Arbeiterbund konnte sich in seiner Blütezeit in allen größeren Städten der USA auf etwa 20 Bundesgemeinden mit ungefähr 500, bei seiner Neugründung am 1. 5.1852 auf 300 zuverlässige Mitglieder stützen, wurde jedoch 1854 in die Auflösung der kommunistischen Kolonie Communia gerissen, die sich dem Bund angeschlossen hatte. Auch die Unterstützungskassen funktionierten; doch die von Weitling als ökonomisches Rückgrat des Bundes erstrebte Arbeitertauschbank, die der Bewegung
7 Jahrbuch 38
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Seidel-Höppner
gung ging nach einem Jahr schon zurück, verlief in anderer Richtung; aber sie versiegte nie mehr ganz und gar und bildete ein ähnliches Kaderreservoir der modernen Arbeiterbewegung 11 wie Weitlings Vereinsgründungen in Europa. Weitlings Zeitschrift verdankt ihr mehr als vierjähriges Überleben eher der Zähigkeit ihres Redakteurs als bleibendem Einfluß. 12 Wir jedoch können im folgenden auf diese Hochzeit seines Wirkens in den U S A nur soweit eingehen, als es unsere vorliegende Problematik berührt. Weitlings Aufzeichnungen führen uns hauptsächlich in seine dem Rückgang der Bewegung 13 und dem Untergang der Zeitschrift folgende letzte Lebensperiode vom Herbst 1855 bis Januar 1871, von der wir im allgemeinen viel weniger wissen als von der Zeit vor 1844, obschon sie von den Historikern durchaus nicht gänzlich ignoriert wurde. 14 Einen ersten Einblick in Weitlings astronominach und nach auch politische Macht verschaffen sollte (RdA, Mai 1850, S. 70), konnte nicht verwirklicht werden, teils weil es den Mitgliedern an dem nötigen Bargeld fehlte, teils weil viele Mitglieder nach einem selbständigen Unternehmen trachteten. 11 Sorge, S. 232—236; Hillquit, Morris, Geschichte des Sozialismus in den Vereinigten Staaten, Stuttgart 1906, S. 151 ff.; Schlüter, Hermann, Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika, Stuttgart 1907, S. 69-88; Wittke, S. 138-146, 188 bis 204. 12 Bravo, Gian Mario, Wilhelm Weitling. Die Republik der Arbeiter und die Polemik gegen Marx (1850—1855). Einl. zum Nachdr. der Republik der Arbeiter, S. IX bis XXXVII; Cazden, Robert E , A Social History of the german book trade in America to the Civil War, Columbia 1984, S. 635. 13 „Die Zeit unmittelbar nach dem Kongreß in Philadelphia war der Höhepunkt der Macht und des Einflusses Weitlings in seiner öffentlichen Laufbahn; ihr folgte eine Periode raschen Niedergangs." Hillquit, S. 154. „Nach einigen Jahren angestrengter Propaganda unter den deutschen Arbeitern der Vereinigten Staaten zog er sich zurück, grollend über das ihm entgegengetragene Mißtrauen und bitter getäuscht in seinen Erwartungen." Sorge, S. 233. 14 Erste Angaben in dem Artikel von N. N., Wilhelm Weitling und sein System der Harmonie und Freiheit, in: Die Zukunft, 1878, Nr. 19, S. 583-594; Nr. 20, S. 600-615. Der Interpretation in diesem Aufsatz widerspricht Weitlings alter Kampfgefährte Petersen, Niels Lorenz, Plaudereien aus der Vergangenheit, in: Vorwärts, 4.10.1878 (Abdr. bei Knatz, Lothar, Utopie und Wissenschaft im frühen deutschen Sozialismus. Theoriebildung und Wissenschaftsbegriff bei Wilhelm Weitling, Bern/Frankfurt a. M./New York 1984, S. 236-240; vgl. dazu ders., Die Weitling-Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie 1871—1914, ¡in: Wissenschaftsforschung, Bremen 1982, S. 20—27); ferner Kaier, Emil, Wilhelm Weitling. Seine Agitation und Lehre im geschichtlichen Zusammenhange dargestellt, Hottingen/Zürich 1887. Nachdr. Sozialdemokratische Bibliothek Bd. 1, ZA der DDR, Leipzig 1971. Beide Studien stützen sich auf Briefe Weitlings, die erste auf den Brief an Heinrich August Friedrich Schilling vom 22.7.1869; Kaier auf den Brief Weitlings an Niels Lorenz Petersen vom 26. 2.1856. Authentisches Material findet sich in der Artikelserie von Sorge, Friedrich Adolph, Die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten, in: Neue Zeit 1890/91, Bd. 1, S. 706ff., Bd. 2, S. 193 ff., 292 ff.; 1891/92, Bd. 1, S. 65 ff., 110 ff., 172«, 206 ff, 388 f f , Bd. 2, S. 197 ff, 239 ff, 268 ff, 324 f f , 453 f f , 495 ff. Ihr folgen Hillquit und Huch. Mehr über die letzte Lebensetappe bietet die Arbeit Schlüters. Seine materialreiche Studie kann sich auf Angaben von Familienangehörigen und auf Kenntnis der Republik der Arbeiter stützen. Doch er bedient sich vielfach un-
Wilhelm Weitling
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sehe Studien dieser Jahre verdankt die Forschung den Textausgaben Ernst Barnikols. 15 Sie wurden in allerjüngster Zeit ergänzt durch Funde von Lothar Knatz und Hans-Arthur Marsiske. 16 Eine Vorstellung von Weitlings sozialpolitischen Projekten, Kämpfen und publizistischen Anstrengungen dieser Jahre vermittelt der von Gian Maria Bravo besorgte Nachdruck der Republik der Arbeiter. 17 Das meiste über Weitlings Leben und Wirken, über seine Beschäftigung und seine Verbindungen, über seine Kämpfe und Sorgen erfahren wir aus der Arbeit von Carl Wittke 18 , der namentlich von Weitlings f ü n f t e m Sohn Terijon viel über sein Familienleben erfuhr, der seinen Nachlaß durchsah und dabei die vorliegenden Aufzeichnungen bereits flüchtig benutzte. 19 Das Dokument enthält darüber hinaus eine Reihe unbekannter Auskünfte über Weitlings Kindheit, über seinen Vater, seine Großeltern und über seine von Kind auf eng mit religiösen Vorstellungen verflochtene Gefühlsbildung, die höchst karge frühere Mitteilungen dazu ergänzen. 20 Zwar hat kein Weitlingbiograph verschwiegen, in welch drückenden Verhältnissen Weitling seine siebenköpfige Familie zurücklassen mußte. 21 Doch erst dieses Schriftstück enthüllt das ganze Ausmaß der Existenzsorgen, das seine letzten Lebensjahre zunehmend verdüsterte. Im Jahre 1854 erlaubte sich der 46jährige endlich, eine Familie zu gründen. Er heiratete die 22jährige Dorothea Carolina Luisa Tödt aus Wittenburg (Mecklenburg-Schwerin), die zwei Jahre zuvor mit Eltern und Verwandten nach den USA gekommen war. 22 Weitling vermerkt die Geburt von vier seiner fünf Söhne, die ihm Dorothea in vierzehn Jahren gebar. Er nannte sie sämtlich nach Männern, die ihm viel bedeuteten. Sein am 7. November 1855 geborener Sohn erhielt den Namen eines chinesischen Sozialreformers, den die
K
16
17 18 19 20
21 22
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historischer Maßstäbe, die durchgängig von einem Entwicklungsstand der Arbeiterbewegung ausgehen, der für die 50er Jahre noch nicht gilt. Anders als Sorge fragt er niemals nach objektiven Gründen für Weitlings Schwächen und dem sozialen Rückhalt seiner Bewegung. Siehe auch den Nachlaß Schlüters im IISG Nr. 132—133. Weitling, Wilhelm, Theorie des Weltsystems. Erstausg. von Ernst Barnikol, Kiel 1931; ders., Der bewegende Urstoff in seinen kosmo-elektro-magnetischen Wirkungen. Ein Bild des Weltalls von Wilhelm Weitling, hrsg. von Ernst Barnikol, Kiel 1931; vgl. auch Barnikol, Ernst, Weitling der Gefangene und seine Gerechtigkeit, Kiel 1929, S. 47-52, 277 f. Knatz/Marsiske, S. 62-91, bargen den Weitling-Nachlaß aus der New Yorker Public Library, darunter auch die vorliegenden Aufzeichnungen. Vgl. die Beschreibung des Dokuments S. 88. Lothar Knatz veröffentlichte neues Material aus dieser Zeit, darunter Weitlings Einleitung zur „Mechanik des Himmels" und seinen Briefwechsel mit dem Sekretär des Smithsonian-Instituts in Washington, Joseph Henry, aus den Jahren 1856-1866. Siehe Knatz, Utopie und Wissenschaft, S. 146—161. Die Arbeit analysiert erstmals die Genesis der astronomischen Auffassungen Weitlings im Zusammenhang mit seinen erkenntnis- und sozialtheoretischen Positionen (S. 241 bis 253). Gleichzeitig erschien die Monographie von Cazden. Vgl. Anm. 9. Wittke, S. 276-316. Ebenda, S. 1-4, 279-282, 286 f., 300, 305, 311 f. Siehe Weitling, Wilhelm, Gerechtigkeit. Ein Studium in 500 Tagen, hrsg. von Ernst Barnikol, Kiel 1929, S. 18 ff.; vgl. auch RdA, 3. 6. 1854, S. 181. Vgl. Schlüter, S. 125; Wittke, S. 311. Wittke, S. 278 f.
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zeitgenössische Presse als Sozialisten feierte: Wan-gan-schi. 23 Den zweiten, am 18. Juni 1858 geborenen Sohn nannte er nach demjenigen, der zeitlebens richtungweisend für sein sozialpolitisches Denken blieb: Gracchus Babeuf. 24 Der am 7. Februar 1862 geborene dritte Sohn hörte auf den Namen des von Weitling hochverehrten dänischen Astronomen Tycho Brahe.25 Die Geburt seines vierten Sohnes Charles Frederick, am 7. Januar 1864, verschweigt das Büchlein. 20 Sie geriet vermutlich in den Schatten der Aufregung, den der gefürchtete Betrug um ein eingereichtes Knopflochmaschinenpatent über die Familie warf. Die Herstellung des eingereichten Musters hatte viel Zeit und Mühe gekostet und die Familie obendrein in Schulden gestürzt, 27 und dies zu einer Zeit, da Weitling, sei es wegen des Machtantritts der Republikaner, sei es wegen mangelnder Subordination, seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Dem fünften Sohn, der am 6. Juli 1866 das Licht einer bereits von grimmiger Existenznot verdunkelten Welt erblickte, gab Weitling den Namen seines Vaters, Terijon.28 Als Weitlings einzige Tochter Johanna Carolina Henriette am 25. Oktober 1868 zur Welt kam, hatte der 60jährige keine drei Jahre mehr zu leben; und er fühlte das. Die Heimarbeit ernährte die Familie nicht mehr. Die Löhne sanken. Die Preise stiegen. Die Schulden nahmen überhand. Weitling prozessierte aussichtslos
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Wanganschi (1021—1086) war Konfuzianer und kaiserlicher Statthalter und leitete 1069 Land- und Steuerreformen ein, um den Bauernaufständen Einhalt zu gebieten und die chinesische Feudalgesellschaft ökonomisch und politisch zu stabilisieren. Vgl. TJSkov, A. M., Utopiceskaja mysl' v stranach Vostoka: tradicii i sovremennost', Moskva 1982, S. 101 ff. Wanganschi war Gegenstand eines anonymen Artikels „Chinese Socialism" in Chambers Journal, 11. 8.1855, S. 93—95. Der Aufsatz schöpfte aus dem Buch von M. Hue, L'empire chinoise faisant suite à l'ouvragé* intitulé souvenirs d'un voyage dans la Tartarie et le Thibet, 2 Bde., Paris 18542. Hue, als Missionar in China gewesen, behandelt Wanganschi als le chef du parti socialiste und sprach von seiner école socialiste au XI e siècle (Bd. 2, S. 46, 69 ff.). Der Aufsatz in Chambers Journal vertiefte diese Tendenz und behandelte Wanganschi als Vorläufer der führenden Vertreter des modernen utopischen Sozialismus in Europa. Babeuf François Noël (1760—1797), als Parteiführer der plebejischen Bewegung am Ausgang der Großen Französischen Revolution hingerichtet, nannte sich, in Erinnerung an die römischen Landreformer, Gracchus. 23 Tycho Brahe, 1546—1601, dänischer Astronom, einer der größten beobachtenden Forscher der Neuzeit, lehnte die kopernikanische Lehre ab, weil die ihm verfügbaren Instrumente keine parallaktische Bewegung der Fixsterne bestätigten; er modifizierte aufgrund seiner Beobachtungen zugleich das ptolemäische Weltbild: schrieb den Planeten Bewegung um die Sonne zu, beharrte jedoch auf der Hypothese von der Erde als Mittelpunkt der Sonnenbewegung, einer Hypothese, der Weitling folgt. 20 Knatz und Marsiske beziehen die Namenswahl Charles Frederick auf Charles Marx und Frederick Engels (S. 88) ; es ist jedoch nicht auszuschließen, daß Weitling damit seinen Freund, den Tabakhändler Charles F. Tag ehren wollte, der ihm großzügig 2 000 $ für die Konstruktion seiner Knopflochmaschine vorgeschossen hatte. Ch. F. Tag unterstützte die Republik der Arbeiter von Februar 1853 bis April 1855 mit Annoncen. 27 Vgl. Schlüter, S. 125 f.; Wittke, S. 305 ff. 28 Vgl. Weitling, Gerechtigkeit, S. 19.
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gegen die mächtige Firma Singer, die ihn um seine Patente betrog. 29 Allein der Gewinn des Prozesses konnte der Familie aus Sorgen und Schulden helfen. Chronische Geldnot verwehrte ihm, die technischen Modelle f ü r neue Erfindungen anfertigen zu lassen. Beklemmende Existenzangst und Krankheit ließen vermutlich kaum Freude am letzten Neuankömmling aufkommen. Deshalb vielleicht blieb sein Töchterchen ebenfalls unerwähnt. Gleichwohl spricht die Atmosphäre, die uns aus Weitlings Zeilen entgegenweht, f ü r harmonisches Einvernehmen mit seiner Frau, namentlich in Erziehungsfragen. Augenscheinlich bekundet Weitling als Vater die gleiche nachdenkliche, umsichtige und ehrlich selbstkritische Einstellung, die wir bei ihm als politischem Propagandisten beobachten. Er kümmert sich um die physische und geistige Entwicklung seiner Kinder, gibt Anregungen, respektiert jedoch Desinteresse oder berechtigten Einspruch, und man begreift, warum Freunde wie Simon Schmidt, Niels Petersen, Heinrich Schilling oder Heinrich Arends ihm über Meinungsverschiedenheiten und Kritik hinweg ein Leben lang ihre Zuneigung bewahrten. Er zeigt sich imstande, sich wider eigene Erfahrung besserem Wissen zu beugen. So in der weltanschaulichen Erziehung seiner Kinder. Obschon selber religiös erzogen und obgleich er dieser Form der Gefühlsbildung und Moralerziehung noch im Alter großen Wert beimißt, wachsen seine Kinder als Freidenker heran. Seinen Zeilen entnimmt man, daß er bei seinen Entscheidungen die erfragte oder mutmaßliche Meinung von Frau und Freunden durchaus in Rechnung stellt, auch wenn er letzten Endes immer nur das tut, was er selber schließlich f ü r richtig hält, möglicher Anfeindungen durchaus gewärtig, wie seine Notiz vom 21. Oktober 1858 belegt (vgl. Weitling-Text, S. 126). In der Kindererziehung jedenfalls blieben Liebe und Sorgfalt im Verein mit diesen Charaktereigenschaften nicht fruchtlos. Sein ältester Sohn wurde Präsident der American Hard Rubber Company und des Poppenha!usen Institut of Learning und veröffentlichte einige wissenschaftliche Aufsätze. Der f ü n f t e Sohn Terijon befaßte sich mit Architektur. Seine Tochter arbeitete als Lehrerin in New York. 30 Überhaupt schien Weitling, nach Sorges Zeugnis, „im persönlichen Umgang ein liebenswürdiger Mensch, der gern an Vergnügungen mannigfacher Art Theil nahm". 31 Stiger, der ihn im September 1861 bei seiner Rückkehr nach Europa besucht hatte, bescheinigt ihm „Talent und treffendes Herz". 32 Gleichwohl bekundete er auch in den USA jene gelegentlichen Heimsuchungen von Selbstherrlichkeit, die die Schweizer und Londoner Genossen schon in den 40er Jahren an ihm beobachteten und die seine Stellung auch in der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung auf die Dauer belasteten. 33 23
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Zum Rechtsstreit zwischen Weitling und J. M. Singer siehe Schlüter, S. 125 f.; Wittke, S. 306 ff. Vgl. Wittke, S. 280 f. Sorge, S. 233; Schlüter (S. 123) bestätigt das. Stiger an Caroline Louise Weitling, 26. 2.1871, IML/ZPA, NL 149/21, Bl. 19. Johannes Schröder berichtet am 16.9.1852 aus Nauvoo: „Weitling ist jetzt in der Kolonie Kommunia. Er hat in den größern Städten einen Arbeiterbund errichtet. Dieser steht mit der Kolonie in Verbindung. Weitling ist in letzter Zeit jedoch gewaltig arrogant geworden, was nicht von ihm ausgeht, gilt nichts . . . Bei den gebildeteren Arbeitern schadet er sich dadurch." Nachlaß Lemme, Bl. 0443. Schon im September 1842 schrieb August Becker an Weitling: „In Bern und Genf
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Weitlings Aufzeichnungen liefern Aufschlüsse über seine Tätigkeit und die materielle Lage seiner Familie. Seit 1855 arbeitete er als Registrator deutscher Emigranten im New Yorker Hafen-Einwanderungsbüro in Castle Garden für $ 450 jährlich.34 Doch Weitling war nicht der Mann, den Rüge im Herbst 1858 abfällig schildert.35 Zum himmelschreienden Flüchtlingselend kam das gespannte Verhältnis zu seinem Vorgesetzten. 30 In seinen Notizen kommentiert Weitling seinen Konflikt mit dem General-Agenten Murray, der am 11. Juni 1862 mit seiner Entlassung endet. Weitlings Eintragungen lassen erkennen, daß es seit der über die Familie hereingebrochenen Erwerbslosigkeit unaufhaltsam bergab ging. Vergeblich suchte Weitling der materiellen Lage der Seinen durch technische Verbesserungen der Nähmaschine aufzuhelfen. Sieben Patente wurden im Verlaufe von sieben Jahren auf dem New Yorker Patentamt registriert. 37 Weitlings Erfindungen in der Schneiderbranche waren auch unter deutschen Emigranten gefragt. 38 Doch zu dieser Zeit lief sein aussichtsarmer Kampf gegen die mächtige Nähist man unzufrieden mit Deinem herrischen Wesen, mit dem Air des kommunistischen Papstes, das Du Dir zu geben suchst." Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, hrsg. von Herwig Förder, Martin Hundt, Jefim Kandel, Sofia Lewiowa (im folg.: BdK), Bd. 1, Berlin 1970, S. 142. Vgl. auch den Brief des Kommunistischen Korrespondenz-Komitees in London vom 6.6.1846 an Karl Marx in Brüssel, ebenda, S. 348. 31 Vgl. Kaier, S. 74; Schlüter, S. 125; Wittke, S. 286 f. 33 Arnold Rüge kommentiert Weitlings Zwang zum Broterwerb auf eine Weise, die die Polizeiakten gleich einem Dessert servieren: „Weitling, der gefürchtete Communist, sitzt jetzt, nachdem er die von ihm gegründete Colonie ,Communia' in den Grund geritten, ganz gemütlich in Castle-Garden und legt mit Amtsmiene den Ankömmlingen die interessante Frage vor: wieviel Geld sie mitbringen. Nennt einer eine recht hohe Summe, so werden telegraphische Zeichen ausgetauscht mit Joseph Fickler, dem korpulenten Wirth des Shakespeare-Hotels." Vossische Zeitung, 13.10. 1858. ZStAP, Acta des königlichen Polizei-Präsidiums zu Berlin betr. den Schneidergesellen Wilhelm Weitling aus Magdeburg. Rep. 30 C, Tit 94 Lit. W. Nr. 380, Bl. 6; StAD, Mdl No 299 nn. Wochenberichte März 1859, Bl. 49 b. 36 Vgl. Wittke, S. 287. 37 Die Patente sind datiert auf den 29.10.1861, 18.2.1862, 17.3.1863; den 10.5.1864, 21.12.1865, 3.1.1865 und den 24.12.1867. Vgl. Knatz/Marsiske, S. 79; Schlüter, S. 125 f. 38 Der deutsche Schneider Georg Magin schickte Weitling am 3. 8.1863 folgenden Brief: „Lieber Weitling Vorigen Monat schrieb ich an Dich, und fragtet,] ob Du mir eine KnopflöcherMaschine verkaufen willst. Was ist die Ursache[,] daß ich keine Antwort erhalte? Jetzt geht eine weitere Stohnarbeit in Cinoinnati sehr gut, und die Knopflöcherhands sind verkauft. Vielleicht gefällt Dir das nicht, daß ich geborgen haben will. Meine Nähmaschine hatte ich auf sechs Monate geborgt, und war im Standet,] in vier Monate zu bezahlen, was ich auch that, denn ich erhalte fünf prozent scontsf,] wenn Du kein Geschäft mit mir machen willst, so schreibe mir die Ursache warum. Auf jeden Fall schreibe mir Antwort. Mein Gruß Georg Magin" IISG. Kleine Korrespondenz.
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maschinenfirma Singer bereits auch Hochtouren. J. M. Singer, Actina and Co American Bottonholle hatte seine Erfindung besichtigen und entschädigungslos nachfertigen lassen. 39 Das vorliegende Dokument bezeugt, daß Weitlings Erfindung von seiner Frau angeregt wurde. Es überliefert uns en detail die Schwierigkeiten, die sich dem mittellosen Erfinder in der Welt des großen Kapitals entgegentürmen, noch dazu in den USA, wo jeder Beamte wie seine Stellung käuflich war. Es verdeutlicht, daß Weitling sich schon im Herbst 1868 keine Illusionen mehr über den Ausgang der Sache erlaubte, bevor er um Weihnachten 1869 endgültig das Scheitern aller seiner Mühen registrieren muß. Theoretisch hatte er die Problematik des mittellosen Erfinders zwar schon drei J a h r zehnte zuvor treffend verallgemeinert. 40 Der Bitterkeit eigener Auslieferung an die Skrupellosigkeit der Großen hat das sicher nichts genommen. 41 Die Aufnahme von Schneiderheimarbeit mit Frau und Schwägerin Johanna im Juni 1865 vermochte Hunger und drohender Obdachlosigkeit n u r einige Jahre vorzubeugen. Im Oktober 1868 erarbeiten die Drei im Shop-System ein monatliches Defizit von $ 20; und Weitling erwägt in größter Pein, sich abermals um Arbeit in Castle Garden zu bemühen. Auch in den USA ist der verlagskapitalistische Weg der Kapitalakkumulation mit dem Blut und den Tränen von Millionen wehrloser Kleinproduzenten getränkt. Im Jahre 1865 lagen die Reallöhne um ein Drittel unter denen des Jahres 1860. Frauen verdienten während des Krieges n u r halb so viel wie die Männer. Tausende Kinder arbeiteten, anstatt zur Schule zu gehen. 43 Auch hierüber liefert Weitlings Buch Aufschluß, ebenso wie über die Integrationsprobleme mittelloser proletarischer Emigranten, von denen ein beträchtlicher Teil aus der ländlichen und gewerblichen Kleinproduktion kam. Weitlings Tod und die daraufhin aktivierte Solidarität seiner Klassengenossen bewahrte seine Familie vor dem Allerschlimmsten; denn er selbst hinterließ den Seinen keine nennenswerten Existenzmittel. 43 Das Dokument widerlegt jene „Pathologisierung Weitlings" 44 , von der selbst 19
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Vgl. Wittke, S. 305 ff.; ferner Weitlings Briefentwurf an Ottendorf vom 3.8.1863, den Weitling auf der Rückseite des Briefes von Magin entwarf. IISG. Kleine Korrespondenz. Nach einer Kopie veröffentlicht bei Barnikol, Weitling der Gefangene, S. 277 f. 1 83 8 heißt es: „Auch ist der Unbemittelte, wenn er seine Entdeckung oder Erfindung gemacht hat, genötigt, sich wegen Mangel der nötigen Mittel zur Ausführung mit dem Geldmann zu verständigen, welcher sich dann ohne andern Anteil, als den des bargeleihten Geldes zu haben, den größten Teil des Gewinns dafür ausbedingt." Weitling, Wilhelm, Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte (Paris 1838). Zit. nach Kowalski, Werner, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin 1962, S. 233. Am 22. 7.1869 schreibt er an Schilling: „Mit meinen Patenten bin ich noch immer der Betrogene. Wer hier Geld hat, kann anderen gegenüber, welche sehr viel haben, ohne ebensoviel Geld nicht zu seinem Rechte kommen." Schlüter, S. 126. Der Butterpreis stieg um das Fünffache seit 1861; Kartoffeln kosteten das Sechsfache, Mehl mehr als das Zweieinhalbfache. Vgl. Foner, Philip S./Schultz, Reinhard, Das andere Amerika, Berlin (West) 1983, S. 88; Sartorius Frhr. v. Waltershausen, A„ Die nordamerikanischen Gewerkschaften unter dem Einfluss der fortschreitenden Productionstechnik, Berlin 1886, S. 18 ff. Der Vorbote, 1871, Nr. 2, S. 31. Knatz/Marsiske, S. 65.
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seriöse Literatur sich nicht frei zu halten wußte. Oft genug erscheint uns das Phantombild eines alternden Weitling, der „geistig mehr oder minder gestört", von einem „ins Krankhafte" gesteigerten Selbstbewußtsein besessen bzw. ein „gebrochener, verarmter, geistig und körperlich kranker Mann" gewesen sei.4a Gewiß sind die Grenzen zwischen dem psychisch Normalen und Abnormen gelegentlich fließend. Doch belegen Weitlings letzte Eintragungen, daß solcherart Entgleisen der Interpretation in die Psychiatrie in jüngster Zeit mit Recht energisch entgegengetreten wurde. Insgesamt spricht aus den vorliegenden Zeilen wie auch aus anderen Dokumenten dieser Jahre ein geistig klarer, energischer, vitaler, um seine vielköpfige Familie besorgter und trotz alldem vielseitig reger Mann. Nach seinen Aufzeichnungen zu urteilen, ließ sein Gesundheitszustand erst gegen Ende der 60er Jahre zu wünschen übrig/' 6 Wir wollen damit nicht bagatellisieren, daß die Rückkehr des 60jährigen zur anstrengenden, ungesunden Schneiderei, die überhandnehmenden Existenzsorgen, die. Kette von Enttäuschungen und Mißerfolgen und die Erfahrung eigener Ohnmacht im Kampf gegen den Betrug um sein Knopflochmaschinenpatent ihn auf die Dauer physisch und psychisch zermürben mußten. In der Tat bezeugen die letzten Notizen, daß das alles nicht spurlos an ihm vorübergegangen war und ihn an die äußerste Grenze seiner sonst nie versiegenden Zuversicht gebracht hatte. In einem Brief an seinen alten Freund Schilling vom 22. Juli 1869 heißt es resignierend in bezug auf die erfolglose Suche nach einem Verleger f ü r seine Astronomie: „Mir würde es gelingen, hätte ich nicht eine starke Familie und n u r allein f ü r mich zu sorgen. Ich habe schon Schwereres durchgesetzt." Er fügt hinzu, daß er „gegen Erwartung wieder genesen" sei.47 In seinen vorletzten Notizen schwelt Todesahnung. Und sein Gefühl trog ihn nicht. Sein Sohn Terijon berichtet im Jahre 1946 von einer Entzündung am Fuß, die Weitling 1868 heimsuchte und ihn an den Rand des Grabes brachte. 48 Der 62jährige starb, ohne seine Familie gesichert zu wissen, ohne seinen Prozeß gegen Singer gewonSo N. N., S. 585; Kaier, S. 75; Hillquit, S. 155; Schlüter, S. 121; Joho, Wolf gang, Wilhelm Weitling. Der Ideengehalt seiner Schriften, entwickelt aus den geschichtlichen Zusammenhängen, Wertheim 1932, S. 124, verfolgt die Hypothese einer seit 1843 zunehmenden geistigen Störung, vgl. auch S. 113, 116 f., 119, 121, 123. Von „pathologischer Selbstüberschätzung" spricht auch Moritz, Wolfram, v., Wilhelm Weitling, religiöse Problematik und literarische Form, Frankfurt a. M. 1981, S. 79. Der These von Joho und Moritz von Weitling als einem „Paranoiden" folgt auch Haefelin, Jürg, Wilhelm Weitling. Biographie und Theorie. Der Zürcher Kommunistenprozeß von 1843, Bern 1986, S. 132. Gegen solche Version wendet sich früh Petersen. Zit. nach Knatz, S. 237. 46 Dies wird auch von Zeitgenossen bestätigt: Josef Leopold Stiger, Herausgeber der Zeitschrift „Kommunist" in Cleveland, schrieb Weitlings Witwe am 26. 2.1871 erstaunt: „Aber was hat ihm gefehlt, er scheint mir eine gute Constitution [gehabt] zu haben und er lebte auch mäßig?" IML/ZPA, NL 149/21, Bl. 19. " Schlüter, S. 126. 43 Weitlings Sohn Terijon berichtet auf Wittkes Fragen über den Gesundheitszustand seines Vaters in den letzten beiden Lebensjahren: „It is not recalled that either mother or aunt Johanna ever told of any illness suffered by fathers except concerning his great trouble with his foot, which extended over the last two years of his l i f e . . . That we know of fathers foot trouble is that in 1868 he stumbled over an ice-formation in the yard of his home, and suffered a severe toe injury. It was
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nen, ohne seine Manuskripte über Astronomie gedruckt zu sehen; und was das Schmerzlichste: ohne seine Verdienste um die Arbeiterbewegung gewürdigt zu finden. Das alles muß seinem heftigen Ausbruch von Bitterkeit im Schatten des Todes gutgeschrieben werden. Weitlings Aufzeichnungen bestätigen seine politische Inaktivität in den letzten fünfzehn Lebensjahren. Gewöhnlich erklärt die Geschichtsschreibung dies ausschließlich aus seiner Enttäuschung über das Scheitern seiner utopischen Tauschbankprojekte und den Zwist mit den Mitgliedern im Arbeiterbund und seiner Kolonie „Communia" in Iowa. 49 Das mag für die Zeit von 1853 bis 1855 gelten; doch nicht ohne weiteres für die Folgejahre. Im weiteren spielen der Zwang zum Brotverdienst, die Gründung eines Hausstands und die über die rasch wachsende Familie hereinbrechenden Existenzsorgen eine gravierende Rolle. Rücksicht auf die Familie hinderte ihn vermutlich auch 1861 an der Rückkehr nach Deutschland, die die Amnestie Teilnehmern der Revolution von 1848/49 eröffnet hatte. Sie hinderte ihn erst recht 1868, dem Ruf seiner Genossen zu folgen und seine politische Agitation in Deutschland wieder aufzunehmen. 50 Es war kein Vorwand, wenn er im Februar 1868 seine Wahl in das Exekutivkomitee der ein Jahr zuvor gebildeten Sozialen Partei auch unter Hinweis auf seine schwierigen Verhältnisse ablehnte. 01 1868 wurde das sechste Kind erwartet, und drei Erattended by a physician, but become worse, and another physician was called in, who found gangrene had set in. He blamed the first doctor for bad practice. Now the toe had to be amputed, which was done at home. So father was long in capacitaled, (always at home, as he was not taken to any hospital). Once in the note-book we are told of a laborious walk out doors noth his foot trouble. As mother told us father was a sick man for two years, and the end came January 25th 1871 in an apoplectic stroke." Terijon Weitlings Antwort auf Wittkes Brief vom 15.7.1946, IML/ZPA, NL 149/3, Bl. 22-23. Die New York Times vom 27.1.1871, S. 5, Sp. 1, schreibt: „At 8 (?) o'clock on Wednesday morning he was struck with paralysis, and died at 7 o'clock in the evening." 'i9 „Inzwischen riefen Weitlings Vorgehen und sein selbstbewußtes Benehmen den Widerstand vieler hervorragender Mitglieder des Bundes hervor; nach einem kurzen, aber heftigen Kampfe zog sich Weitling, ärgerlich und enttäuscht, vom öffentlichen Leben zurück." Hillquit, S. 155; vgl. auch Sorge, S. 233; Schlüter, S. 123 f.; Foner, Philip S., History of the labor movement in the United States, New York 1947, S. 230. 50 Wittke, S. 289. 51 1867 hatte sich in New York aus noch aktiven Mitgliedern des Kommunistenklubs, Lassalleanern, Anhängern des Weitlingschen und des Amerikanischen Arbeiterbundes, die sich im Winter 1866/67 zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zusammengeschlossen hatten, die Soziale Partei gebildet, die Weitling ins Exekutivkomitee berief. Weitling schrieb darauf: New York, 12. Februar 1868. Da meine Verhältnisse mir nicht gestatten, an Ihren Verhandlungen teilzunehmen, so bitte ich Sie, meinen Platz durch Ergänzungswahl auszufüllen. Überhaupt spricht meine dreißigjährige Erfahrung dafür, daß mit dem Einzwängen von Mitteln und Zwecken einer erhabenen Sache in parlamentarischen Formenkram nicht allein nichts erreicht, sondern der Sache nur geschadet wird. Ergebenst Wm. Weitling." (Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere, Stuttgart 1921, S. 4 f.)
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wachsene hielten eine achtköpfige Familie mühselig mit Westen-shop-Arbeit über Wasser. Unbefriedigend erscheint uns daher, wenn die Ursache für Weitlings Ablehnung seiner Wahl ins Exekutivkomitee allein aus verletzter Rechthaberei erklärt wird. 52 Überdies erlaubt Weitlings Notiz (S. 41) die Annahme, daß er über die deutsche Arbeiterbewegung in den USA auf dem laufenden blieb. Die Nominierung für seine Wahl ins Exekutivkomitee der Sozialen Partei galt schwerlich einem Gleichgültigen. Auch seine Antwort vom 12. Februar 1868 verrät Detailkenntnis und Gespür für die politische Achillesferse des Lassalleanismus, der die politische Linie der entstehenden Partei wesentlich prägte. Die Kritik an den Prinzipien der Partei rekurriert auf 30jährige Erfahrung mit dem bürgerlichen Parlamentarismus, dem amerikanischen einbegriffen, der sich als Allheilmittel für die Emanzipation des Proletariats nicht bewährt hatte. 53 Zahlreiche Zeitungsausschnitte aus deutsch- und englischsprachigen Blättern in seinem Nachlaß belegen gleichfalls sein waches politisches Interesse. 54 Zu kurz kommt oft genug die, von Neuenglandstaaten abgesehen, relativ spät einsetzende industrielle Entwicklung der USA, 55 die die Lebensdauer vormarxistischer Formen des Sozialismus verlängerte. Außer acht bleiben gewöhnlich auch die kleinbürgerliche Mentalität vieler deutsch-amerikanischer Arbeiter 56 52
Vgl. Schlüter, S. 125. Vgl. Weitlings Brief vom 12. 2. 1868 (Anm. 51), ferner RdA, 1853. S. 35. Insgesamt verstärkte sich seine Skepsis gegen den bürgerlichen Parlamentarismus angesichts der Ämterjagdpraktiken in den USA. Gleichwohl orientierte Weitling anfänglich seinen Befreiungsbund in den USA wie in Deutschland 1848/49 auf die Nutzung des allgemeinen Wahlrechts für den Emanzipationskampf der Arbeiter. (Vgl. Seidel, Höppner/Rokitjanski.) Obschon durch die Revolutionserfahrung ernüchtert (vgl. Weitling, Garantien, S. 318, 347), orientierten die von ihm initiierten Beschlüsse des Arbeiterkongresses in Philadelphia vom Oktober 1850 die Arbeiter auf Kampf gegen den Nativismus, auf sofortige Teilnahme der deutschen Einwanderer am politischen Leben der USA und auf Bildung von Wahlkomitees, die sich u. a. um das Bürgerrecht der Emigranten kümmern sollten. (Vgl. RdA, November 1850, S. 171; Schlüter, S. 84 f.) Im übrigen legt er das Hauptgewicht auf die Konstitution der „Parthei der Arbeiter, die ihre ganze Politik im Interesse der Arbeit verfolgt . . . und nur in diesem Interesse sich geltend macht" (RdA, Januar 1850, S. 5) und dafür kämpft, die Republik des Geldsacks durch „die Republik der Arbeiter" zu ersetzen (ebenda, S. 1). 1853 verneint Weitling direkt das bürgerliche Repräsentativsystem als Mittel, „die Arbeiterinteressen an die Spitze der Regierung zu bringen". (RdA, 29. 1. 1853, S. 35), Am 22. 7.1869 schreibt er an Schilling: „Bewahre die Menschheit der Himmel vor solchen Republiken des Geldsacks." Die Zukunft, 1878, S. 585. •r' Knatz/Marsiske, S. 87. 3 '"' Amerika ist „heute so ziemlich auf derselben Entwicklungsstufe angekommen, worauf die englische 1844 stand", schreibt Engels 1886. Engels, Friedrich, Anhang zur amerikanischen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse in England", in: MEW, Bd. 21, S. 253. Vgl. auch Sorge, Briefe aus Nordamerika, in: Neue Zeit, 1890/91. 55 Die Mehrzahl der Einwanderer bestand aus Bauern, Kleingewerbetreibenden und Intellektuellen. Sie sah sich konfrontiert mit einer einheimischen Bevölkerung, die ihrerseits dank der Möglichkeit billigen Danderwerbs und der Masse einwandernder Arbeitskräfte ihre Existenz nicht in der Lohnarbeit fristete, sondern versuchte, selbständiger Farmer, Händler oder Arbeitgeber zu werden. Vgl. Engels, Anhang zur amer. Ausg., S. 253. Karl Folien berichtet aus eigener Anschauung: „Es sind sehr viele Deutsche hier . . . Viele arbeiten sich bald zu achtbaren Bürgern empor, 53
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und die Flaute der Bewegung in der zweiten Hälfte der 50er Jahre. 57 Auch Weydemeyers organisatorischen und publizistischen Anstrengungen war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Er berichtet: „Im allgemeinen ist das Feld außerordentlich ungünstig hier in Amerika für proletarische Propaganda; die Arbeiter sind angehende Bourgeois und fühlen sich ,als solche bis eine hereinbrechende Krisis sie auf den .wahren Standpunkt' zurückschleudert; aber dann fühlen sie sich ebenso ratlos in der Not und leihen den ärgsten Schreiern und Projektemachern am willigsten das Ohr. Ich habe mich während meines Aufenthalts in New York vergebens abgemüht, eine permanente Organisation zustande zu bringen; meine letzte Hoffnung hatte ich auf die Krisis gesetzt, aber der Winter von 1854 überzeugte mich, daß die Zeit der Prosperität mindestens nicht ungünstiger für den Zweck war, als die Zeit der Not."58 Weitling steht 1854 gleichfalls vor den Trümmern seiner mühselig aufgebauten Bewegung und schreibt resigniert: „Solch ein trauriges Leben habe ich nirgends in Deutschland zu führen brauchen, als hier Tausende geduldig führen müssen. Und was das Traurigste ist, ohne Hoffnung auf Revolution müssen sie es führen. Wenn man einmal so unglücklich sein muß, dann lieber in Paris, der großen Revolutionsstadt so unglücklich sein, in Paris, wo Elend und Reichtum sich in Blusen berühren, wo niemand so arm werden kann, daß ihm auch noch die Hoffnung genommen werden könnte, einst im Kampfe gegen seine Bedrücker zu sterben. Es wendet sich einem das Herz im Leibe herum . . . Und doch — was taten hier die Arbeiter für die Besserstellung ihrer Lage? Was taten sie in guten Zeiten? Was tun diejenigen jetzt dafür, welche nicht so tief gesunken sind."59 Zwar gelang es Albrecht Komp im Herbst 1857 inmitten der erneut ausbrechenden Wirtschaftskrise, die die deutsch-amerikanischen brotlosen Arbeiter um so härter traf, als ihnen jegliche öffentliche Unterstützung versagt blieb, mit ehemaligen Mitgliedern des Bundes der Kommunisten und Anhängern der Marxschen Lehre in New York einen Kommunistenklub zu bilden.60 Dieser Klub aber trat nur ein einziges Mal öffentlich hervor und konnte sich selbst in seiner Blütezeit nur auf 50 Mitglieder stützen, die vorwiegend aus den Mittelschichten kamen. Weydemeyer wie Komp veranschlagten die Neigung der meisten Mit-
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und die meisten sind wohlhabend . . . Die deutschen Handwerker und Handelsleute, welche einwandern, kommen meistens ziemlich gut fort" (Land ohne Nachtigall. Deutsche Emigranten in Amerika 1777-1886, hrsg. von Rolf Weber, Berlin 1981, S. 51 f.). Emilie Schröder schreibt Ende 1857 aus Nauvoo an ihren Bruder Wilhelm Lemme in Hamburg angesichts der Wirtschaftskrise: „Doch wer weiß, wozu es gut ist, solche Zustände machen Kommunisten, war es doch beinah', als sollte der Kommunismus ganz aus der Mode kommen." Nachlaß Lemme, Bl. 0379. Joseph Weydemeyer in Milwaukee an Karl Marx in London, 28.2.1858, in: BdK, Bd. 3, Berlin 1984, S. 346. Vgl. den Brief von Albrecht Komp in New York an Karl Marx vom 15. 6.1858, ebenda, S. 347. Nicht günstiger lautet der Bescheid von Wilhelm Rothacker an Marx und Engels über die Propagandamöglichkeiten in Amerika. Vgl. Donner, Ingrid, Unbekannte Beiträge von Marx und Engels in der „NewYorker Staats-Zeitung" im Jahre 1850, in: BzG, 1981, 3, S. 382. Zit. nach Schlüter, S. 124. Siehe Brief von Friedrich Kamm in New York an Karl Marx in London, 19.12.1857, in: BdK, Bd. 3, S. 343 f.
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glieder zum Theoretisieren und zu erbaulichem Phrasengeklingel höher als ihre revolutionäre Potenz. Gleichwohl befaßte sich die Gesellschaft mit politökonomischen Fragen und suchte Kontakt sowohl zu ikarischen Kommunisten in Nauvoo wie zu deutsch-amerikanischen Kommunisten, zu Karl Marx in London wie zu Vertretern der kommunistischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent. Sie mühte sich, wenn auch mit mäßigem Erfolg, um Propagierung ihrer Grundsätze und sorgte im Juni 1868 f ü r den Anschluß einer deutschen Sprachgruppe an die Internationale. 01 In den Jahren 1861 bis 1865 lähmte der Bürgerkrieg die sozialistische und Arbeiterbewegung, deren beste Vertreter in den Reihen der Unionsarmee kämpften. Zudem lenkte der Krieg von den sozialen Problemen der Arbeiter ab, bot Unternehmern und Regierung willkommenen Vorwand, die Rechte der Arbeiter weiter zu beschneiden und ihre Forderungen hinter diejenigen der öffentlichen Sicherheit zurückzustellen. Erst 1867 erholte sich die Bewegung allmählich von diesem Aderlaß und der erzwungenen Lethargie. 62 Die meisten Gewerkschaften waren bereits der Wirtschaftskrise von 1857 zum Opfer gefallen. Bei Kriegsausbruch arbeiteten nurmehr vier nationale gewerkschaftliche Berufsverbände. 63 Indessen beförderte erst der unersättliche Armeebedarf während der Kriegsjahre die Expansion der Rüstungsindustrie und mit ihr das Wachstum des maschinellen Fabriksystems. Nach Kriegsende vertiefte sich rapide die soziale Kluft zwischen einer neureichen Bourgeoisie skrupelloser Kriegsgewinnler und einer unablässig wachsenden Masse von Industrieproletariern. Zugleich begünstigte die Konzentration der Industrie das Entstehen der modernen Arbeiterbewegung und schuf die materiellen Kampfbedingungen lebensfähiger Gewerkschaftsorganisationen. 64 Es gehört zur Tragödie Weitlings, wenn auch zur Dialektik des Geschichtsverlaufs, daß die Voraussetzung jener starken, unabhängigen Arbeiterbewegung, f ü r die er lebtags so energisch gekämpft hatte, dem massenhaften Ruin der Kleinproduktion entwächst und Millionen Frühproletarier pauperisiert und zermalmt. Es wuchs längst Gras auf Weitlings Grab auf dem Greenwood Cemetery, als der Klassenkampf in seinen modernen For6
' Zu den führenden Kräften des Klubs gehörten außer Albrecht Komp Friedrich Kamm, Fritz Jakobi und Friedrich Adolph Sorge. Zu Statuten, politischer Position und propagandistischer Aktivität des Klubs siehe Obermann, Karl, Joseph Weydemeyer. Ein Lebensbild, Berlin 1968, S. 345 ff., 351, 368, 371; Hillquit, S. 158 f.; Sorge berichtet: „Seine Haupttat war eine imposante Feier der Junischlacht, die am 23. Juni 1858 unter zahlreicher Beteiligung der radikalen Emigrationselemente deutscher, französischer und englischer Zunge abgehalten wurde" (S. 240). Siehe ferner BdK, Bd. 3, S. 338—350; Rumjanceva, N. S., Kommunisticeskij klub v N'ju Jorke (1857—1867) Protokoly nemeckogo kommunisticeskogo kluba v N'ju Jorke (1857—1867), Marks i nekotorye voprosy mezdunarodnogo rabocego dvizenija XIX veka. Stat'i i dokumenty, Moskva 1970, S. 339—397. 62 „Tatsächlich hatte der Krieg die Reihen der jungen sozialistischen Organisationen so gelichtet, daß ihre Tätigkeit lahmgelegt war. Erst vom Jahre 1867 an begann sich die Bewegung zu erholen", schreibt Hillquit, S. 160; vgl. auch Foner, History, S. 297 bis 320. M FonerjSchultz, S. 88. 64 Ebenda, S. 83, 88; Hillquit, S. 170.
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men „seinen Riesenschatten" über das kapitalistische System der USA warf und den Arbeitermassen zu Bewußtsein brachte, „daß sie eine neue, besondere Klasse in der amerikanischen Gesellschaft bildeten". Dies schrieb Friedrich Engels im Jahre 1887.® Weitling teilte das Los seiner Klassengenossen bis zur Neige seines Lebens. Als die Bewegung sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu regen begann, rang er mit Millionen Erwerbslosen um das nackte Leben seiner neunköpfigen Familie. Er war alt und siech, als sich im Dezember 1869 erste Fäden der deutschen Arbeiterorganisationen zur Internationale knüpften und sein Freund Friedrich Adolph Sorge im Januar 1870 zum Sekretär der ersten Sektion der Internationale gewählt wurde. 00 Dennoch blieb Weitling sicherlich auch in seinen letzten Lebensjahren über den Fortgang der Arbeiterbewegung auf dem laufenden. Er lebte in New York, dem Zentrum der deutschen wie amerikanischen Arbeiterbewegung. Schon in den 50er Jahren belegt seine Zeitschrift, wie lebhaft er gewöhnlich jedwede Regung des deutschen wie amerikanischen Proletariats verfolgte. Überdies pflegte er in all diesen Jahren Kontakt zu Akteuren der bürgerlich-demokratischen und kommunistischen Bewegung, so zum ehemaligen Herausgeber der „Mannheimer Abendzeitung" Joseph Fickler, zu Joseph Leopold Stiger, 67 zu alten Kampfgenossen der Pariser und Schweizer Zeit wie Heinrich Arends 68 und Simon Schmidt 69 , zu August Willich70 und Friedrich Adolph Sorge, der mit beiden Beinen in sämtlichen deutsch-amerikanischen Arbeiterorganisationen stand. Darüber hinaus bezeugen seine Aufzeichnungen und andere Dokumente Verbindungen zu zahlreichen Arbeitern verschiedener Gewerbe, namentlich zu Schneidern, von denen einige ihm über die schlimmsten Geldschwierigkeiten hinweghalfen. 71 Auch sein Briefwechsel verweist auf intakte Fäden zu Kampfgefährten der deutsch-amerikanischen und europäischen Arbeiterbewegung. 72 Das alles widerlegt die Behauptung: Weitling „wollte nichts mehr von den
Engels, Friedrich, Die Arbeiterbewegung in Amerika, in: MEW, Bd. 21, S. 336 ff. Pervyj Internacional, cast' 1; 1864-1870, Moskva 1964, S. 554-566,. 366 ff.; Hillquit, S. 161-185. 67 Vgl. Brief Stigers an Caroline Louise Weitling, 26. 2.1871, IML/ZPA, NL 149/21, Bl. 18-21. ss Zu den freundschaftlichen Beziehungen zwischen Weitling und Arends siehe Terijon Weitling an Carl Wittke, 15. 7.1946, ebenda, NL 149/3, Bl. 17-18. r9 ' Vgl. RdA, Febr. 1850, S. 23; Aug. 1850, S. 125 f.; Dez. 1850, S. 184 f.; 26.4. 1851, S. 16; 19. 7. 1851, S. 108 f.; Sep. 1851, S. 180; 31. 7.1852, S. 244; 14. 8.1852, S. 262; 25. 12.1852, S. 416; 24. 4.1852, S. 136; 21. 8. 1852, S. 269; 8. 1. 1853, S. 6; 29.1. 1853, S. 37; 2. 7. 1853, S. 213; 16. 7. 1853, S. 229; 16.12.1854, S. 362. 70 Vgl. ebenda, 7.6.1851, S. 62; 3.1.1852, S. 4; 22.11.1851, S. 250; 27.3.1852, S. 103 f.; 15. 5. 1852, S. 154; 22. 5. 1852, S. 161 f.; 5. 6. 1852, S. 180 f.; 10. 4. 1852, S. 113; 21. 5. 1853, S. 165; 4. 6.1853, S. 181 (Meldung der A n k u n f t W.s): 16. 7.1853, S. 228 (Meldung der Abreise W.s); 7.1. 1854; 29. 4. 1854, S. 142. 71 Zu ihnen gehört u. a. die in seinen Aufzeichnungen (S. 133) erwähnte Firma Müller and Brother, die die Familie ab 1865 vor dem Schlimmsten bewahrte und in der Folge auch Weitlings Witwe Arbeit und Brot gab. Siehe Terijon Weitling. •Seine freundschaftliche Beziehung zu dem deutschen Emigranten Karl J. Müller bestätigt auch der Nachruf in der N e w York Times, 27.1.1871, S. 5, Sp. 1. 72 Siehe Knatz/Marsiske, S. 71 ff. 66
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Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter wissen, weil sie seinen Ratschlägen nicht gefolgt waren". 73 Dem widerspricht auch die Mitteilung seines Sohnes Terijon über Weitlings Aktivität im New Yorker Schneider-Verein. 74 Die Historiker haben dies, hierin Schlüter folgend, gänzlich ignoriert. 75 Nur Friedrich Adolph Sorge, der Weitling von der gemeinsamen Arbeit im Allgemeinen Arbeiterbund kannte, ihn auch nach 1855 besuchte und ihm, ungeachtet theoretischer Differenzen, seine Hochachtung bewahrte, schildert Weitlings Auftreten und Resonanz in der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung: „W. trieb sein Werk mit großem Ernst, und eine Art heiligen Feuers glühte in ihm, wenn er seine Ideen entwickelte, ein Feuer, das ihn im Lichte eines Apostels, wenn nicht gar eines Messias, erscheinen ließ und bei Tausenden von Arbeitern Begeisterung und Hingebung entfachte . . . Seine Ehrlichkeit war über jeden Zweifel erhaben trotz aller nach dem Zusammenbruch seiner Unternehmungen gegen ihn geschleuderten Verdächtigungen und Verleumdungen." 76 Allerdings warnte Weitling vor Überschätzung des gewerkschaftlichen Kampfes als Allheilmittel der Emanzipation des Proletariats. Wie die Waffe des modernen Industriearbeiters gegen den Lohndruck und die Ausbeutung des Unternehmers der Streik — so ist die Waffe des Kleingewerbetreibenden gegen den Druck des Großhändlers und Verlegers die Association. Insofern bleibt auch Weitlings Haltung zur Rolle des Streiks und des gewerkschaftlichen Kampfes f ü r die Emanzipation des Proletariats als Klasse ambivalent. Er verfolgt sorgenvoll die großen Lohnunterschiede und den Gruppenegoismus einzelner Gewerke und verweist auf die Schranken von unbekümmert um das Allgemeininteresse der Arbeiterklasse isoliert geführter Kämpfe einzelner Gewerke, bejaht jedoch vorbehaltlos den Generalstreik. 77 Er übersieht das Sozialrevolutionäre Element, die immanent politische Potenz spontan geführter Lohnkämpfe; aber er bejaht ihre organisierte Form und gehört Anfang der 50er Jahre zu den Geburtshelfern der deutsch-amerikanischen Gewerbevereine, der Vorform der Gewerkschaftsbewe-
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Schlüter, S. 125. Auch unter den Initiatoren der regulären Gewerkvereine, die sich 1858 zu bilden begannen, waren deutsche „Tischler New Yorks, die schon beim Weitlingschen Arbeiterbund im Herbst 1850 mit 946 Mann betheiligt gewesen waren", berichtet Sorge (Neue Zeit 1890/91, Bd. 2, S. 240). Nach Schlüter war Weitling in den USA ein strikter Gegner des Streiks und des Klassenkampfes „in allen seinen Formen". (S. 88 f.) „Wie gegen die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, so wandte sich Weitling auch gegen die politische Organisation." S. 95. Die Neue Zeit, 1890-1891, Bd. 2, S. 233. Möglicherweise verdankt Weitling die Nominierung als Mitglied des Exekutivkomitees der Sozialen Partei der Initiative von Friedrich Adolph Sorge; denn seine Antwort befindet sich unter Sorges Papieren und wurde von diesem veröffentlicht. Vgl. Anm. 51. Anfang Dezember 1851 warnt Weitling auf einer Massenkundgebung der Arbeiter vor „unorganisierten Ausstandsversuchen". „Man hat doch tausendfach Beispiele, daß das Ausstehen nichts nützt, wenn es nicht nach einer vorhergegangenen Organisation, nicht allein in einer Stadt, sondern in allen Städten, nicht allein in einem Gewerbe, sondern in allen Gewerben, nicht allein mit Deutschen, sondern mit allen Arbeitern unternommen wird." RdA, 20.12.1851, S. 286.
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gung in den USA. 78 Im Statut seiner Arbeiterverbrüderung von 1850 ist der Streik als legitimes Widerstandsmittel programmatisch anerkannt. 79 Seine Zeitschrift verfolgt, registriert und analysiert aufmerksam die von deutschen, amerikanischen, englischen und französischen Arbeitern geführten Lohnkämpfe und ihre Resultate. 80 Sie rät, „die Ausstände zu einer festen Organisation zu benut7S
Weitling selbst berichtet über die Anfänge der deutsch-amerikanischen Gewerksbewegung: Die Bewegung begann „durch Organisation der Gewerbe. Zu den gemischten politischen Vereinen und Versammlungen hatte man alles Zutrauen verloren . . . Wir mußten also erst Anhaltspunkte schaffen, durch welche das Volk für die Sache zusammengehalten wurde. Und solche konnten nur durch ein neues Interesse geschaffen werden, durch das Interesse, das jeder Einzelne an den Spezialitäten und Lohnverhältnissen seines Gewerbes hatte. Wir bildeten also Gewerbe-Vereine und Gewerbekassen und schufen dadurch gleichsam verschanzte Lager, innerhalb welcher nun erst die Vorbereitungen getroffen werden konnten . . . für den Schneider-Ausstand [flössen] in kurzer Zeit $400 allein von andern Städten aus den Associationskräften". RdA, November 1850, S. 175. Seine diesbezüglichen Verdienste werden auch von der amerikanischen Historiographie der Arbeiterbewegung gewürdigt. „Weitling returned to the United States . . . and helped to centralize the various German labor organizations. Under his guidance the Central Comitee of the United Trades in New York was formed in April 1850." Foner, History, S. 228. In dieser Beziehung kommt auch Bravos Hinweis auf Weitling als „ersten Theoretiker und Führer des deutschen Syndikalismus" der Wahrheit sicher näher als Schlüters kurzschlüssige Bewertung. Vgl. Bravo, Gian Mario, Frühe Arbeiterbewegung und Wissenschaft. Mit besonderer Berücksichtigung Wilhelm Weitlings, in: Dialektik. Beiträge zu Philosophie und Wissenschaften. 3. Arbeiterbewegung und Wissenschaftsentwicklung, Köln 1981, S. 76. 79 Im Aufnahmebuch des Geschäftsbundes der ,Republik der Arbeiter' heißt es unter Wider standsmittel: „1. Ein schwarzes Buch in jeder Stadt für alle betrügerischen Advokaten, Kaufleute, Arbeitgeber und Arbeiter, so wie für Alle[,] welche sich den Zwecken der Association feindlich zeigen. 2. Allgemeine systematische und geheime Organisation des Ausstehens, ausgeführt auf Befehl der geheimen Centraiverwaltung, sobald das Interesse der Arbeit dieß erfordert und die Umstände dieß möglich machen." RdA, August 1850, S. 127. 30 RdA, April 1850, S. 64. Juni 1850 vermerkt mit Genugtuung das Gelingen des deutschen Tischlerstreiks, der Amerikaner und Franzosen mitriß und bereits vom Gedanken der „Vereinigung aller Arbeitskräfte" getragen war. Vgl. auch ebenda, September 1850, S. 137 ff. Am 26. 4.1851 berichtet die Zeitschrift auf S. 13 über den erfolgreichen Streik der Tischler in Louisville, in dem die Verbrüderung die Initiative ergriff und infolgedessen Auftrieb erhielt. Vgl. ferner ebenda, 15.5.1852, S. 154 (zur Niederlage des englischen Eisenarbeiterstreiks); RdA, 17. 7.1852, lobt den Solidaritätsstreik von 800 Mädchen zweier Dampffabriken in Lowell und den „großartigen Ausstand der Pariser Wagenfabrik-Ouvriers", betont jedoch Vereinigung des gesamten Geschäftszweigs als Bedingung des Siegs; RdA, 25.12.1852, S. 411, wendet sich gegen isolierte Lohnkämpfe einer Arbeiteraristokratie unter den New Yorker Schiffbauern, die sich um das Elend der übrigen Arbeiter nicht kümmern. Siehe ferner RdA 19.2.1853, S. 57; 12.3.1853, S. 84; 2.4.1853, S. 111; 9.4.1853, S. 114; 16.4.1853, S. 121; 30.4.1853, S. 138; 10.9.1853, S. 294 f.; 17.9.1853, S. 302 (Leopold Alberti qualifiziert hier die Forderungen des englischen Allgemeinen Arbeiterbundes nach dem 8-Stunden-Tag und Arbeitslosenunterstützung als „bloße Scheinmittel", die die Emanzipation der Arbeiter vom Lohn Verhältnis nicht gewährleisten. Vgl. auch 24. 9.1853).
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zen". 81 Trotz seiner erklärten Skepsis gegen isoliert geführte Lohnkämpfe und trotz der Erkenntnis, daß die Resultate selbst siegreicher Streiks in der Folge durch die Lohn-Preis-Spirale wieder zunichte würden, unterstützte Weitlings Arbeiterverbrüderung den Streik der amerikanischen und irischen Schneider vom Herbst 1850, an dem etwa 2 500 Deutsche beteiligt waren. 82 Dokumente aus seinem Nachlaß belegen überdies, daß Weitling ungeachtet zunehmender Vorbehalte auch in den 50er Jahren aktiv an einem Schneiderstreik in New York teilnahm.® Daß im Jahre 1868 nicht Desinteresse, sondern auch prinzipielle Vorbehalte ihn bewogen, 84 seine Kandidatur f ü r das Exekutivkomitee der Sozialen Partei auszuschlagen, d a f ü r spricht seine Teilnahme am Verbrüderungsfest der deutschen, französischen und tschechischen Sektionen der I. Internationale am 22. Januar 1871, auf dem die Teilnehmer ihre Ablehnung des Deutsch-Französischen Krieges und die internationalistische Haltung der Arbeiter bekundeten. Sorge berichtet, daß diesem Verbrüderungsfest „auch der alte Weitling mit sichtlichem Vergnügen und ausgesprochener Freude beiwohnte". 85 Gleiches bezeugt „Der Volksstaat": „Der alte Knabe Weitling war da und entzückt über den Verlauf. Unserer Freunde in Deutschland, besonders Bebel und Liebknecht, wurde in gebührenden Ehren gedacht." 86 Uber den Widerspruch zwischen Weitlings während der 60er Jahre geübten Zurückhaltung und seiner vorbehaltlosen Teilnahme an einer Kundgebung der fortschrittlichsten Kräfte der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung hat
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Siehe ebenda, 19. 3.1853, S. 93. Weitling griff tatkräftig ein, forderte Solidarität und übermittelte den Streikenden $ 400. Er verwies auf Versäumnisse bei der Führung und Organisation des Streiks, bedauerte Uneinigkeit, Konfusion und Wirrwarr in der Arbeit der Kommissionen, schlug vor, die Streikenden zu einer Klassenorganisation au organisieren, ein Lokal zu mieten, die Bedürftigen zu speisen, riet, eine Petition von Hunderttausenden an das Repräsentantenhaus zu richten, in der gefordert wird: Landreform, Heimstättengesetz, Übergabe von Staatsarbeiten an associierte Arbeiter und gesetzliche Sicherheit des Lohns für Arbeiter und Tagelöhner. Ebenda, September 1850, S. 137 ff.; Dez. 1850, S. 180; Februar 1851, S. 19; 17. 5.1851, S. 36 Anm. In seinem Notizbuch aus den Jahren 1850—1858 befindet sich ein von seiner Hand verfaßter Aufruf: To the master tailors „All the bosses tailors are requested to meet to day at 10 AM at Mr. Lievres Hall Hotel Shakespeare Corner Duane and Williams. The interest of the trade will be the object of the meeting. A Deputation of the Journeyman tailors now on strike will be present. Tailors be ordre of the committe at thirteen. W. Weitling." IML/ZPA, NL 149/2, Bl. 71. Vgl. Anm. 51 und 53. Sorge, Die Neue Zeit, 1890/91, Bd. 2, S. 393. Der Volksstaat, 25. 2.1871.
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sich die Weitling-Literatur bislang kommentarlos hinweggesetzt.87 Allein Kaier deutet an, daß die Tätigkeit der Internationale Weitlings Zustimmung fand. 88 Inzwischen hatte sich eben jener Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, dessen lassalleanische Taktik er noch 1868 mißbilligt hatte, und über den er sich noch in seinen Aufzeichnungen verächtlich ausläßt, zu einem politisch-ideologischen Zentrum der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung entwickelt und entfaltete namentlich Anfang der 70er Jahre beträchtliche internationalistische Aktivität im Kampf gegen chauvinistische Neigungen der Deutschamerikaner. 88 Allein das letztere genügte, um Weitling für die Bewegung zu erwärmen. Der New Yorker Korrespondent des „Volksstaat" bestätigt Weitling seine bis zuletzt unerschütterliche proletarische Grundhaltung und seine Anerkennung und Überzeugungstreue zu den Idealen der Internationale. 90 Auch Sorge, der mit Weitlings Auffassungen in den USA sehr gut vertraut war, bescheinigt ihm: „So viel aber auch an Weitlings Plänen auszusetzen ist, so viel Fehler und Schwächen man an ihm entdecken mag: Eines bleibt ihm und sichert ihm ein ehrendes Andenken: Sein proletarisches Auftreten und Bewußtsein, seine Zugehörigkeit zu der von ihm vertretenen Arbeiterklasse, sein Arbeiterstolz, der ihn verhinderte, je mit anderen Parteien zu paktieren." 91 Weitlings Aufzeichnungen liefern Aufschlüsse über seine astronomischen Studien und ihre Hauptetappen. Die letzte Notiz zur Astronomie am 7. Juni 1866 und sein letzter Brief an den Astronomen J. Henry vom August 1866 erlauben die Vermutung, daß in der Folgezeit die Intensität astronomischer Studien nachließ, obschon sein Bemühen um den Verlag seiner Arbeiten bis Ende der 60er Jahre anhielt. Die Notizen bestätigen, daß Weitling die Jahre der Flaute der Bewegung und des Aufschwungs der Naturwissenschaft gleich anderen Wortführern der sozialistischen Bewegung nutzte, um seine Sozialtheorie erkenntnistheoretisch und naturphilosophisch zu fundieren und einem universalwissenschaftlichen Weltbild einzuordnen.92 Gegen in der Literatur vorherrschende 87
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Siehe Kaier, S. 76; Schlüter, S. 127; Hillquit, S. 155; Joho, S. 124; Wittke, S. 314; Seidel-Höppner, Waltraud, Wilhelm Weitling, der erste deutsche Theoretiker und Agitator des Kommunismus, Berlin 1961, S. 75 f. Kaier (S. 76) schreibt: „Als die internationale Arbeiterassoziation' in Amerika Boden faßte, hielt sich zwar Weitling auch zurückgezogen, aber er sprach privatim seine Zustimmung zu ihrem Vorgehen aus." Kaier erfuhr dies möglicherweise von Sorge oder von einem Arbeiter, der mit Weitling verkehrte. Sorge berichtet: „Als der Krieg zwischen Preußen und Frankreich ausbrach, entfaltete der Verein große Thätigkeit in der Bekämpfung des Chauvinismus der Deutschamerikaner und sagte den Deutschen ihr Schicksal voraus: daß sie das napoleonische Kaiserreich erben würden, und nach der Schlacht bei Sedan agierte er lebhaft gegen die Fortsetzung des Krieges, gegen den Krieg überhaupt." Die Neue Zeit, 1891/92, Bd. 1, S. 392 f. Der Volksstaat, 1. 4.1871. Sorge, Die Neue Zeit, 1890/91, Bd. 2, S. 234. Weitling selbst schreibt schon im Frühjahr 1849: „Das menschliche Leben ist ein Teil des ewigen Universallebens, das uns in allen unsern Wahrnehmungen als letzte rätselhafte Ursache aller Dinge erscheint." Weitling, Garantien, S. 358. Erinnert sei auch an die von Moses Hess schon 1852 geäußerte Absicht, seine „Ansichten über die Geschichte der Menschheit naturwissenschaftlich zu begründen". Siehe Mönke, Wolfgang, Neue Quellen zur Hess-Forschung, Berlin 1964, S. 14. Man denke ferner
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Versuche, diese naturphilosophischen Studien als Marotte, als Überspanntheit, wenn nicht als Größenwahn zu behandeln, so doch als Flucht aus dem Klassenkampf zu verstehen, 93 erklärt jüngere Forschung diese Arbeiten überzeugend als Bemühen, „Natur, Gesellschaft und Mensch, inklusive seiner historisch . . . gewordenen Erkenntnismöglichkeiten", als Selbstbewegung der Materie und als Elemente einer Universalgeschichte aufzufassen. 94 Weitling selbst schreibt über den Sinn seiner Astronomie am 22. Juli 1869 an seinen alten Freund, den Leipziger Schneider Heinrich Schilling: „Die gesammte Geschichte der Menschheit weiß nichts Wichtigeres aufzuweisen. Der Mensch erkennt darin die Weltgesetze, welche seinen Wohnort bewegen, obwohl noch immer ohne zu wissen warum." 9 ' Auch für Weitlings späte naturphilosophische Bemühungen gilt sinngemäß, was von seinen frühen sozialtheoretischen Anstrengungen gesagt wird : Weitling hat „den Anspruch auf eine wissenschaftliche Theorie und Weltanschauung formuliert, dieses Programm aber nur als Utopie einlösen können". 96 Als erstes Resultat seiner erkenntnistheoretischen Anstrengungen läßt er 1856 jene Denk- und Sprachlehre drucken, die er 1843/44 als universal wissenschaftliches Projekt im Gefängnis konzipierte, 97 an der er 1845/46 in London und Brüssel und 1848/49 in Hamburg weitergearbeitet hatte. 98 Es handelt sich um
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an Auguste Blanquis kosmologische Abrundung seiner Sozialtheorie in L'Éternité par les Astres, Paris 1872; aber auch an Engels' Dialektik der Natur oder Lenins Empiriokritizismus. „Die Himmelsforschung . . . mag in dem letzten Jahrzehnt seine ,Ersatz-Religion' gebildet haben." „Als diese kommunistische Propagandaarbeit auch in Amerika 1854/55 gescheitert ist, widmet sich der Ratlose, angewidert von den Dingen dieser Erde, den Menschen wie ihren Einrichtungen, dem alten Himmelstraum." Barnikol, Theorie des Weltsystems, S. 13, 9. Gegen dergleichen Interpretation betont in jüngster Zeit begründet Sandkühler: „Naturtheorie ist keine Flucht aus unveränderbaren Verhältnissen. Ihr Motiv ist nicht Resignation: Im Begriff der Natur wird Veränderung, Entwicklung, antizipiert und begründet." Sandkühler, Hans Jörg, Geschichte, gesellschaftliche Bewegung und Erkenntnisprozeß, Frankfurt a. M. 1984, S. 216. Knatz, S. 145, 124. Knatz hat die Manuskripte der „Denk- und Sprachlehre" und der Astronomie Weitlings aufgefunden, als einheitlich geplantes großes Werk nachgewiesen und dessen Genesis und Funktion im Weitlingschen Theoriegebäude erstmals analysiert. Der Veröffentlichung dieser Schriften kann man mit Interesse entgegensehen. Die Zukunft, Berlin 1878, S. 585; vgl. auch Kaier, S. 75 f.; Schlüter, 126. Knatz, S. 215. „Der Kommunismus ist kein Glaube, sondern eine Wissenschaft; die Universalwissenschaft, deren Möglichkeit die Philosophen vorhersagten. Der Kommunismus ist die Wissenschaft, die Theorie und Praxis aller Wissenschaften zum Wohle der Gesellschaft in Harmonie zu bringen, alle Wissenschaften im Interesse der Gesellschaft zu leiten, also nicht wie heute im Interesse einiger Individuen. Der Kommunismus wird uns zeigen, warum es jetzt so viele Arme, Brotlose, Unglückliche und Verbrecher gibt." Weitling, Gerechtigkeit, S. 134 f. Angezeigt in einem „Brief Weitlings an einen Verleger" im Telegraph für Deutschland, Nr. 34, Februar 1847, S. 136; Abdruck bei Knatz, S. 235. Weitling, Wilhelm, Einladung zur Subscrdption für die „Allgemeine logische DENKund SPRACHLEHRE". Abdruck bei Barnikol, Weitling der Gefangene, S. 34-36;
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eine von der Ambivalenz des sozialpolitischen Vokabulars angeregte Untersuchung des Zusammenhangs von Denken und Sprache, die — noch in der Gefangenschaft des rationalistischen Aufklärungsdenkens — die Arbeiter durch eine universalwissenschaftliche Klassifikation der Begriffe mit einem Wahrheitsprüfsystem ausrüsten und gegen Konfusion wie Sophistik wappnen will." J ü n gere Forschung verweist mit Recht auf den materialistischen Ansatz der Arbeit, die Weitlings „Bedürfnis nach einem rationalen Weltbild und nach A u f k l ä r u n g über die Gesetze des Denkens und der Geschichte" dokumentiert. 1 0 0 Der m a t e rialistische Ansatz äußert sich sowohl in seiner Erklärung des Denkens aus Sinneswahrnehmungen 1 0 1 wie in seiner Klassifikation des Gpttes- und Religionsbegriffs. Er subsumiert Jehova, Allah, Gott, Satan usw. unter „menschliche Ebenbilder" und theologische Theorien unter „theoretisch praktizierte P h a n tasie". 102 Objektiv f ü h r t Weitlings Suche nach dem theoretischen Schlüssel der sozialen Revolution im Bereiche „der Begriffsverwirrungen" 1 0 3 hinter die von Marx und Engels eroberten historisch-materialistischen Positionen zurück und hinweg von den Klassendeterminanten der Ideologie. Subjektiv indessen entspricht der Ansatz, Vorurteile und I r r t ü m e r in der Konfusion der Sprache zu v e r m u t e n — obzwar noch dem alten Rationalismus v e r h a f t e t —, keiner Flucht aus dem wirklichen Klassenkampf, sondern dem, im Rahmen dieser Weltanschauung schlüssigen Bemühen um Eindeutigkeit des proletarischen Standpunkts. Die Ausarbeitung des Kapitels „Unorganische Körper" in seiner Klassifikation der Begriffe lenkt ihn auf die Unerläßlichkeit naturwissenschaftlicher Studien. Er vertieft sich mit der ihm eigenen Besessenheit in Fachliteratur der Chemie,
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siehe zur Genesis S. 33, 255; unter dem Titel ,Denk- und Sprachlehre' angekündigt in RdA, 25. 3.1854, S. 103; als im Druck befindlich angezeigt ebenda, Nr. 3, 1855, S. 23 unter dem Titel ,Allgemeine Denk- und Sprachlehre'. Schlüter (S. 127) erklärt das Manuskript als verbrannt; Barnikol (Weitling der Gefangene, S. 33, Theorie des Weltsystems, S. 13) folgt dieser Version. Anders Wittke, S. 294 ff., und Knatz, S. 127 H., der das Druckexemplar von 196 Seiten in Weitlings Nachlaß fand und es als mit der Astronomie zusammengehöriges Werk (bzw. deren ersten Teil) identifizierte. Ein Extrakt der Denk- und Sprachlehre bei Weitling, Klassifikation, S. 19 bis 49. Siehe ebenda, S. 16; ders., Gerechtigkeit, S. 90 f., 145, 157, 224; Barnikol, Weitling der Gefangene, S. 168. Knatz, S. 143. Das Gehirn bestimmt er als „organisch beseelte, bewegte und bewegende Bildergalerie" unserer Wahrnehmungen. Weitling, Klassifikation des Universums, S. 28; Wahrheit definiert er als „ein von Einem oder Mehreren abgegebenes Urtheil, welches ausdrückt, daß irgend eine, von Jemanden in Wort oder Schrift gegebene Mittheilung, dessen Sinnes- und Auffassungsdisposition ganz im Einklang mit den Originalen in der Wirklichkeit vorkommt." RdA, März 1854, S. 102. Moralische Eigenschaften und Beziehungen entziehen sich der Wahrheitsfindung, weil ihre Beurteilung subjektiven Zuneigungen und Interessen unterworfen ist. Weitling, Klassifikation des Universums, S. 43, 41 f. Religion definiert er 1849 als „Naturphilosophie oder Moral, wie immer wir diese Gefühlsbildungslehre nennen wollen". Ders., Garantien, S. 364. So schreibt er im Frühjahr 1849 (ebenda, S. 327).
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Physik und Astronomie.10'* Gegen die Newtonsche Himmelsmechanik, die der Annahme eines ersten Anstoßes der Bewegung bedarf, wendet sich Weitling dem Elektromagnetismus zu, der das moderne Weltbild zu bestimmen begann. Im elektromagnetischen UrstofI103 vermutet er jene materielle Kraft, die die Selbstbewegung der kosmischen Erscheinungen zu erklären erlaubt.100 In der Hypothese des Urstoffs und der NOCH offenen Fragen bleibt ein agnostisches Moment inbegriffen; das aber ist durchweg als NOCH nicht Erkanntes gefaßt; es hockt gleich Gott in den Löchern der Wissenschaft. Insgesamt dominiert ein Erkenntnisoptimismus. Im März 1859 unterbreitet er mit seiner „Theorie des Weltsystems" den Berliner und Wiener Akademien sowie der Smithsonian Institution in Washington eine zweite astronomische Studie,107 in der er das Kopernikanische wie das Ptolomäische Weltsystem für irrig erklärt und dem von Tycho Brahe zuneigt.108 Die experimentelle Ausstattung des Laienastronomen Weitling erlaubte sehr viel weniger als die des von ihm verehrten Brahe. Und so gelangte er — nicht achtend der warnenden Einlassung Henrys, des Sekretärs des SmithsonianInstituts, mit dem er zehn Jahre lang korrespondierte und der ihn rechtzeitig auf die Notwendigkeit, seine Hypothesen experimentell zu verifizieren, hinwies109 — im Laufe der 60er Jahre in seinem astronomischen Hauptwerk „Mechanik des Himmels" zur gänzlichen Leugnung des heliozentrischen Weltbilds und zur Rückkehr zum Ptolemäischen System.110 Fraglos ist Weitlings Suche nach 104
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Siehe An die Repräsentanten der Wissenschaften! New York, im Februar 1856, in: Ders., Der bewegende Urstoff (siehe Anm. 105), S. 7. Er nennt unter den ausgewerteten Arbeiten Autoren wie Humboldt, Poullet, J. A. Fladung, A. Smith, M. A. Stern, S. F. Wagner, J. W. Schmitz und P. O. Mitchel. Weitling wandte sich mit seinen Hypothesen an Alexander von Humboldt (im Archiv der Alexander-von-HumboldtForschungsstelle nicht nachweisbar; wir danken Herrn Dr. Fiedler), Chevalier, l'Institut de France, an The royal Institute of London (jeweils mit übersetzten Auszügen), an Airy in Greenwich, an die Akademien in Berlin, Wien, München, Petersburg, an Encke, Direktor der Sternwarte in Berlin, an die Akademien in Leipzig, Breslau und an Sir John Herschel. Siehe Brief Weitlings an Niels Lorenz Petersen am 26. 2.1856, zit. nach Kaier, S. 75; Schlüter, S. 121; Weitling, Wilhelm, Theorie des Weltsystems, hrsg. von Ernst Barnikol, Kiel 1931, S. 5 f. Ungekürzter Abdruck bei Knatz, S. 239 f. Wittke (S. 285) verweist auf den hohen Anteil astronomischer Literatur in Weitlings Privatbibliothek. So in seiner ersten astronomischen Arbeit: Weitling, Wilhelm, Der bewegende Urstoff. Von Barnikol als Manuskript wiederaufgefunden und irrtümlich 1931 als Erstausgabe veröffentlicht. Siehe Knatz, S. 261, 127 ff., 149 f., 230. „In diesem Urstoffe ist Attraktion und Repulsion, ist Strömung, Wärme, Licht und Macht, Bewegung und Leben." Weitling, Urstoff, S. 9. Ders., Theorie des Weltsystems. Ebenda, S. 14, 21; zu Brahe siehe Anm. 25. Siehe den Briefwechsel zwischen Wilhelm Weitling und Joseph Henry bei Knatz, S. 241. Zum Smithsonian Institute siehe RdA, 5. 6.1852, S. 179. Das Manuskript, 1861 Otto Wigand angeboten (Knatz, S. 160, 232), hat erst Knatz wieder aufgefunden (siehe Abdruck der Einleitung, S. 251—253). Bis dahin kannte die Forschung nur eine Inhaltsangabe der Mechanik des Himmels, die Schlüter (S. 122) nach Informationen von Terijon Weitling erwähnt und die Barnikol (Theorie des Weltsystems, S. 24) abdruckt. Terijon berichtet: „Das Manuskript über Astro-
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den kosmischen Gesetzen vom Bemühen um universalwissenschaftlichen Nachweis einer in Natur und Gesellschaft gleichermaßen geltenden Gesetzmäßigkeit diktiert. Zweifellos verrennt er sich und ahnt nicht einmal, WIE schlecht er technisch für diese anspruchsvolle Spezies ausgestattet ist, um im zeitgenössischen Diskussionsstand mitzuhalten. 111 Diese Ahnungslosigkeit mag eine der Quellen jener Selbstüberschätzung sein,112 die gar manchen Historiker krankhaft anmutet. Es scheint eher: dieses aus den astronomischen Studien gewonnene und schließlich überkompensierte Selbstvertrauen muß ihm über den Zusammenbruch seiner sozialpolitischen Unternehmungen hinweghelfen. Aus ihrem Erfolg erhofft er sich den nötigen inneren Schwung für einen erneuten Anlauf seiner sozialpolitischen Anstrengungen. 113 Bis an die Neige seiner Tage füllten Studien und Schreibtischarbeit seine Freizeit.11'1 Das ist — angesichts seiner großen materiellen Sorgen — nicht zu machen ohne jenen beträchtlichen Schuß Sendungsbewußtsein, das Weitling lebtags beseelte und das manche seiner Genossen früh als Zug zu Überheblichkeit und Rechthaberei empfanden. 115 Seine
nomie, welches mein Vater hinterließ, beschrieb ein System der Bewegung der himmlischen Körper, in welchem die Erde von Osten nach Westen in einem Kreise schwingt, und zugleich einen Polarlauf hat, der die Erde einmal jährlich abwechselnd nördlich und südlich der Bahnebene der Sonne bringt und wodurch die Erdbahn eine elliptische wird. Die Sonne schwingt in einem großen Kreise um die Erde, vom Westen nach Osten, vom welchen Kreise die Kreisbahn der Erde das Zentrum ist. Alle Beobachtungen, nach diesem System kalkuliert, stimmen genau mit dem jetzigen, nach dem Kopernikanischen System gemachten überein und vieles Unverständliche in dem letzteren wird durch dieses aufgeklärt." Vgl. ferner Wittke, S. 298-303; Knatz/Marsiske, S. 80-82. 111 Seine Modelle konstruierte er mit Kugeln, Drähten, Stiften, Kegeln, Pfählen, Ringen, Schnüren und Stecknadeln. Siehe Weitling, Urstoff S. 10 f.; Knatz, S. 155. 112 „Die Geschichte der Astronomie beweist, daß es nicht möglich ist, dergleichen Vorlagen in jedem Jahrtausend auch nur einmal zu erwarten." So schreibt er 1859 an Ehrenberg (Weitling, Theorie des Weltsystems, S. 14); „... meine Astronomie, das wertvollste Buch, das je in der Welt erschienen ist und erscheinen wird", heißt es im Brief an Schilling vom 22. 7.1869, ebenda, S. 12; Kaier, S. 75 f.; Schlüter, S. 126 f. H3 E r gesteht sich und seinen Freunden dies ein: „Wenn meiner SCHRIFT öffentliche Anerkennung würde, dann wächse mir der Mut noch einmal, die Kolonie dem Bunde zu retten zu versuchen. Aber. Aber! Wenn die Hoffnung nicht wäre!" An Petersen, 26.2.1856. Zit. nach Schlüter, S. 124; Weitling, Weltsystem, S. 1. Sein alter Freund Petersen widersetzt sich öffentlich der aus diesem Anlaß erfolgenden Pathologisierung Weitlings: „Ich glaube nicht, wie der Verfasser des Aufsatzes in der ,Zukunft' von Weitling glaubt, daß er in seinen letzten Lebensjahren geistig mehr oder weniger gestört gewesen sei. Ebensowenig 1869, als er den Brief an Schilling schrieb, wie 1856, als er den Brief an mich schrieb. Freilicht,] aus beiden leuchtet eine gewisse Selbstüberschätzung hervor, es mag aber wohl doch etwas anderes als eine fixe Idee sein, wenn Weitling mit solcher Ueberzeugung von seiner Entdeckung spricht wie im vorliegenden Briefe." Petersen, S. 236 ff. 114 So sein Sohn Terijon an Wittke: „But father's favorite recreation was desk-work and study, after his years of activity in labor matters". IML/ZPA, NL 149/3, Bl. 12. 115 Vgl. den Brief des Kommunistischen Korrespondenzkomitees in London an Karl Marx in Brüssel, in: BdK, Bd. 1, S. 348: „Daß Weitling glaubt, er habe die Gescheitheit mit Löffeln gefressen, ist leider nur zu wahr; er glaubt, daß er nur allein die
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Notizen lassen ahnen, daß ein Teil dieses überkompensierten Selbstbewußtseins auch jener Nichtachtung zuzuschreiben ist, mit der Zeitgenossen seine Verdienste um die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in den USA abtaten. 116 Daß jene Lexikaartikel über seine Person und diejenigen zu Marx,117 die Weitling in seinen Aufzeichnungen erwähnt und die ihn so heftig erbitterten, aus marxistischer Feder flössen, ist keineswegs erwiesen. Weitling war in diesem Augenblick jedenfalls davon überzeugt; und das vertiefte jäh die Schatten, die seit den Brüsseler Auseinandersetzungen im Frühjahr 1846118 sein anfänglich freundschaftliches Verhältnis zu Marx verdunkelten. Daß in der Folge der Ausschluß seiner Pariser Anhänger auf dem ersten Kongreß des Bundes der Kommunisten im Juni 1847119 und der von ihm vermutete Ausschluß seiner selbst 120 mit dem wachsenden Einfluß von Marx und Engels im Bund der Kommunisten einhergingen, hat seine eigene Einstellung zu beiden kaum begünstigt. Gleichwohl würdigte er in der Vorrede zur 3. Auflage seines Hauptwerks im Frühjahr 1849 den Beitrag von Marx und Engels zur kommunistischen Bewegung und
Wahrheit besitzt, daß er die Welt erlösen könne und das, was andere Leute geschrieben haben, dummes Zeug ist." August Becker schreibt: „... aber die Leidenschaft machte ihn kurz- und schiefsichtig, und der Beifall, der ihm von Berufs- und Standesgenossen gezollt wurde, machte ihn hochmütig und absprechend über Dinge, die er weder verstand noch verstehen konnte, z. B. über Kunst und Wissenschaft, ja bis zu einem gewissen Grade selbst impertinent." August Becker, Geschichte des religiösen und atheistischen Frühsozialismus. Erstausgabe von Ernst Barnikol, Kiel 1932, S. 44. Weitling selber schreibt an Petersen am 26. 2.1856: „Ja, aber eben weil es nicht das erste Mal ist, daß ich, ohne Wissenschaften studirt zu haben, bessere Früchte gesehen, als aus den studirten Wissenschaften, und ich so viel Verstand mir zu haben erlaube, als um wenigstens zu wissen, daß man mich IN DEN HAUPTSACHEN nicht widerlegen kann, darum wird man, WENN IMMER MÖGLICH, am liebsten ganz und gar schweigen." Knatz, S. 240. 1,6 Diese unverdiente Nichtachtung seiner Aktivität nach 1850 währt bis in die jüngste Zeit. Siehe Kauf hold, Einleitung zu Weitlings Garantien, 1955, S. XLV: „Seine Tätigkeit in Amerika ist für die dortige Arbeiterbewegung in keiner Weise fruchtbar gewesen." 117 Unsere Suche nach diesen Lexika befriedigt insgesamt nicht. Cazden (S. 49, 67, 81, 136, 144, 169) verweist auf mehrere Auflagen des Brockhaus-Conversations-Lexikons in den USA. Er erwähnt (S. 748) ein „Deutsch-Amerikanisches Conversationslexikon. Mit specieller Rücksicht auf das Bedürfniß der in Amerika lebenden Deutschen", New York 1869—1874. Dies letztere ist uns jedoch nicht zugänglich. Allerdings heißt es in Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 15, Leipzig 186811, S. 369 gleichfalls über Weitling, daß er, „mit dürftiger Bildung ausgestattet", in Nordamerika „kein Aufsehen mehr erregte und, noch ehe er starb, verschollen war." (Wir danken dem Karl-Marx-Haus, Trier, ferner Hans-Arthur Marsiske und Lothar Knatz für ihre Bemühungen in den USA.) ll " Vgl. BdK; Bd. 1, S. 301-308; MEGA2, III/2, S. 210, 870 ff. 119 Siehe BdK, Bd. 1, S. 478. Ihre teilweise Wiederaufnahme würde beschlossen in der Gemeindesitzung vom 8. 3.1848, in der Schapper zum Präsidenten und Marx zum Sekretär gewählt wurden. Siehe Protokoll der Sitzung des Kreises Paris des Bundes der Kommunisten (S. 721). 120 Vgl. Anm. 3.
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berief sich auf Marx' Kritik an Proudhon. 121 Er notierte sich Marx' Freundlichkeit anläßlich der letzten Begegnung beider im Herbst 1849 in London, bei der freilich auch alte Differenzen wieder aufbrachen. 122 Nach der Spaltung des Bundes der Kommunisten ergriff Weitling Partei für die Fraktion Willich/Schapper und machte seine Zeitschrift zum Forum der Polemik gegen Marx, Engels und ihre Anhänger ; einer Polemik, die sich nach der Ankunft Weydemeyers in New York, der seinerseits den Kampf gegen Weitlings Programm aufnahm, zuspitzte und unter dem Einfluß August Willichs weiter verschärfte. 123 Dennoch berief er sich in seiner Argumentation gegen die Landreformer auf „die Richtung von Karl Marx" und zählte Marx und Engels noch im Juni 1851 ausdrücklich, „obwohl mit den deutschen Arbeitern dort zerfallen, zu unserer Parthei"124. Und seine „Republik der Arbeiter" brachte im Oktober/November 1851 die ersten beiden Kapitel des Manifests der Kommunistischen Partei 125 und wurde damit zu einem der ersten „Verleger eines Marxschen Textes in Amerika"126. Die Zeitschrift brachte darüber hinaus, durch Cluß und Weydemeyer vermittelt, erstmals die deutsche Originalfassung der Marx-Freiligrath-Engels-Wolfschen Erklärung gegen die in der Londoner Times und Daily News gegen die Kölner Kommunisten und ihre Londoner Freunde veröffentlichten Verleumdungen 127 und stützte die eigenen Kommentare zum Kölner Kommunistenprozeß weitgehend auf das von Weydemeyer in der New Yorker Criminalzeitung veröffent131
Weitling, Garantien, S. 298, 296. Rokitjanski, Jakob/Worobjewa, Olga, Begegnungen Wilhelm Weitlings mit Karl Marx im Herbst 1849, in : Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 3, Berlin 1980, S. 313 f. ir - Siehe RdA, November 1850, S. 161 ff. Im Februar 1851 veröffentlichte er eine Pariser Korrespondenz, die sich äußerst feindselig gegen Marx, Engels und ihre Anhänger wandte, und am 7. 6. das von Schapper, Willich, Blanc, Barthélémy u. a. unterzeichnete „Programm der Gleichen" sowie am 23. und 30. 8. und am 6. 9.1851 die von der Londoner Willich-Schapper-Fraktion verfaßte Adresse „Die Centraibehörde des BdC an den Leitenden Kreis" vom Mai 1851, die die politische Linie von Marx, Engels und ihre Anhänger erbittert bekämpfte. Zur Geschichte dieser Kämpfe siehe Bravo, Gian Mario, Wilhelm Weitling, Die .Republik der Arbeiter' und die Polemik gegen Marx (1850-1855), in: Einleitung zu: Die Republik der Arbeiter, S. XXf£., bzw. ders., Weitling, e le polemiche con Marx in America. Studi in memoria di Mario Abrate. Università di Torino, 1986, S. 183 ff. Vgl. auch Forcer, History, S. 230. ,2i RdA, Januar 1850, S. 4; 21. 6.1851, S. 79. 125 Am 16. 2.1850 veröffentlichte die „New-Yorker Staats-Zeitung" bereits Ausschnitte aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei". Vgl. Donner, S. 375; Arzanova, E. N., Publikacija „Manifesta kommunisticeskoj partij" v ezenedel'nike „Republik der Arbeiter" (1851), in: Novye materialy o K. Markse i F. Engel'se i ob izdanijach ich proizvedenij, Sbornik, Moskva 19862, S. 172—176. 126 So Bravo in seiner Einleitung zu: Die Republik der Arbeiter, S. XXV. Bravo vermutet, daß der Abdruck (in den Nummern vom 11.10.1851, S. 205 f.; 18.10., S. 211 f.; 1.11., S. 228 f.; 8.11., S. 235 ff.) unter der Redaktion von Leon Rymarckiewicz erfolgte, möglicherweise auf Initiative von Dr. Eduard Ignatz Koch (S. XIX) und ohne Wissen, ja möglicherweise wider Willen Weitlings (S. XXII). Koch, Mitarbeiter der ,New Yorker Staats -Zeitung', hatte auf eigenen Wunsch von Marx zwanzig Exemplare des Manifests erhalten. Marx an Weydemeyer, 16. 10. 1851, in: MEGA2, III/4, S. 237. 127 RdA, 4.12.1852, S. 391. 122
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lichte Marxsche Material 128 . Die Berichtsserie schloß mit einer von Weitling verfaßten heftigen Polemik gegen Marx und seine Anhänger, die dokumentiert, daß die theoretischen und politischen Differenzen zwischen Marx/Engels und ihren Anhängern auf der einen und Weitling auf der anderen Seite von letzterem im Kern nie begriffen worden waren und notgedrungen persönlich aufgefaßt wurden. 129 Das machte den Bruch irreparabel. Auf diesen Resonanzboden fiel Weitlings Lektüre der erwähnten Lexikaartikel, die ihn faktisch schon für tot erklärten und deren Verfasser er im marxistischen Lager vermutete. 130 Der Schlag traf ihn an dem Punkt, der ihm zeitlebens der wichtigste war. Er traf ihn im allerschlimmsten Elend, da er hoffnungslos verschuldet; ohne Mittel, seine Patente realisieren zu können, ohne Aussicht, seinen Prozeß gegen Singer zu gewinnen, mit seiner neunköpfigen Familie von der Exmittierung bedroht, im Vorgefühl seines nahen Endes. Dies alles muß in Betracht gezogen werden, wenn man den erbitterten Zornesausbruch liest, mit dem er an der Neige seiner Tage Marx überschüttet. Zu Unrecht ! Denn es waren vor allen anderen Marxisten, namentlich Sorge, die in den U S A wie in Europa nach Weitlings Tode (25. Januar 1871) alles nur Mögliche taten, um Weitlings Verdienste um die entstehende Arbeiterbewegung und die kommunistische Theorie zu ehren und der äußerst bedrängten Familie zu helfen.
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Siehe ebenda, 20. und 27. 11., 4., 11., 18. und 25.12.1852, S. 369-372, 380-382, 388-391, 396-397, 403-406, 412-414. Vgl. hierzu Obermann, Weydemeyer, S. 281 f., 440, und Bravo, der die Dokumente verglich, Einl., S. XXV. Die Enthüllungen schickte Marx erst am 6. und 7.12.1852 an Adolph Cluß in Washington, der ihre Veröffentlichung in der Neu-England-Zeitung in Boston am 20. 4.1853 als Sonderdruck vermittelte. Siehe Andréas, Bert/Grandjonc, Jacqu.es/Pelger, Hans, Unbekanntes von Friedrich Engels und Karl Marx, Teil 1: 1840-1874, Trier 1986, S. 105 (Schriften aus dem KarlMarx-Haus, Nr. 33). Siehe Schlußbemerkung zum Kölner Kommunistenprozeß, in: RdA, 25.12.1852, S. 413 f. Vgl. Marx' Kommentar dazu in: MEW, Bd. 28, S. 209. Nachdem die RdA im April 1853 wohlwollend über zwei Artikel von Marx dn der New York Daily Tribune vom 18. und 21. 4.1853 (vgl. MEW, Bd. 9, S. 28-30, 36-38) berichtet, attackiert sie die „Marx'sche Parthei" nochmals in einer Rezension der Baseler Ausgabe der Marx'schen „Enthüllungen" in RdA, 15.10.1853, S. 332. Die weitere Polemik gegen die „Marxianer" im „Amerikanischen Bund" (RdA, 4. 6.1853, S. 177; 9. 7.1853, S. 223; 17.12.1853 und 7.1.1854) und gegen Weydemeyer im besonderen bestritt Leopold Alberti, den dies freilich nicht hinderte, Marx' England-Korrespondenzen für die New York Daily Tribune zu loben (RdA, 17.12.1853, S. 404 f.; 7.1.1854, S. 12 f.) und passagenweise zu übernehmen. Vgl. hierzu und zur Polemik von Eduard Wiss Bravo, Einl., S. XXVIII f. Die Argumentation mochte ihn an Weydemeyers Polemik in der Neu-EnglandZeitung u. a. erinnern, wo es hieß : „... die ,Republik der Arbeiter' gehört, wie Herr Weitling selbst, den antiquarischen Merkwürdigkeiten an, und hat daher nur für Alterthumsforscher noch einiges, wenn auch geringes Interesse." Zit. nach RdA, 9. 7.1853, S. 223. An Friedrich Engels schreibt Weydemeyer schon am 1.12.1851 : „Der große Weitling soll nach der Versicherung Einiger von ihnen zwar endlich todt bei ihnen sein; in jedem Falle hat er bei seinen Lebzeiten denn aber schon genug Schaden angerichtet, indem er sie auf der einen Seite ausgebeutet, auf der anderen in Assoziationen hineingehetzt hat, in welchen sie ihre besten Kräfte in vergeblichem Ringen mit dem Kapital vergeuden." MEGA2, III/4, S. 513.
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Ein erster Nachruf erschien in der New York Times. Er würdigt Weitling als „one of the original Organizers and leaders of the cooperative tradesunion movement". 131 Seine Kollegen und Genossen gründeten noch am Tage seiner Beerdigung, dem 30. J a n u a r 1871, ein Unterstützungskomitee und schickten dem Freund von Marx und Engels und Redakteur der Genfer Zeitschrift „Der Vorbote", Johann Philipp Becker, folgenden Aufruf 4 3 2 : „AUFRUF Wilhelm Weitling, der am 25. d. M. starb, wurde am Sonntag Nachmittag unter zahlreicher Betheiligung zu seiner letzten Ruhestätte begleitet. Nach der Beerdigung wurde eine Versammlung organisiert, um über Mittel und Wege zur Unterstützung der in äußerst bedrängten Verhältnissen befindlichen Familie des Verstorbenen, aus dessen Wittwe und sechs unmündigen Kindern bestehend, zu berathen. [...] Diese Versammlung erwählte ein Komitee, bestehend aus den Herren Peter C. Rödel, 14 Ost, 19 Straße. - Wilhelm B. Weber, 319, einhalb Ost, 9 Straße. — Philipp Koch, 753, 3 Avenue. — Hugo Hönak, 1 einhalb 2 Avenue. — Wesher, 531, 5 Straße. - Volte, 16 Forsgtnstreet [sie!], und F. A. Sorge, Hoboken. — Diesem Komitee wurde Vollmacht ertheilt, Alles, was zum Wohle der Familie geschehen kann, zu thun, und dasselbe ist bereit, Beiträge in Empfang zu nehmen. Eine Sammlung unter den Anwesenden ergab eine namhafte Summe, welche am selben Abend der Witwe Weitlings übergeben wurde. Die Hinterbliebenen eines Mannes, welcher, wie dies bei Weitling unstreitig der Fall war, in uneigennütziger Weise sein ganzes Leben an die Lösung des Problems setzte, die Lage der leidenden Menschheit zu verbessern, haben gewiß ein Anrecht auf die Unterstützung ihrer Mitmenschen. — Rasche Hilfe thut Alles. Möge deßhalb Jeder baldigst sein Schärflein an einen der genannten Namen gelangen lassen. Die Unterzeichneten, beauftragt, sich zu gleichem Zwecke an die in Amerika zerstreuten Freunde Weitlings zu wenden, ersuchen auswärtige Zeitungen, von diesem A u f r u f e Notiz zu nehmen. P. C. Rödel - Ph. Koch - W. B. Weber New-York, 30. Januar 1871. Briefe adressiere man an W. B. Weber, Nr. 319 einhalb, East, 9 Straße, NewYork." Dem Aufruf folgte eine redaktionelle Notiz: „Da Weitling sicher noch viele alte Freunde und Theilnehmer in der Schweiz hat, so erbietet sich die Redaktion des Vorbote ebenfalls Gaben zu übernehmen, um sie dessen Familie zu übermitteln." 133 Am 11. März 1871 veröffentlichte auch das Leipziger Organ der Eisenacher Partei „Der Volksstaat" folgenden Nachruf: 131
Wilhelm Weitling — An Inventar of Prominence. — A remarkable Career, in: New York Times, January 27, 1871, S. 5, Sp. 1. (Wir danken Hans-Arthur Marsiske, Hamburg.) 132 IISG. Nachlaß J. Ph. Becker, Bd. 2. 133 D e r Vorbote, Februar 1871, S. 31.
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„Während ich meine letzte Korrespondenz an den Volksstaat schrieb, am Abend des 25. Januar 1871, verschied von einem Schlagfluß getroffen, Wilhelm Weitling, geboren am 5. Oktober 1808. Vielleicht gestattet es der Raum dieser Blätter, später eine Übersicht über sein Leben und Wirken zu geben. Heute nur die eine schuldige Bemerkung, daß er überzeugungsgetreu ein revolutionärer Arbeiter bis an sein Ende geblieben und fern jedem Patriotismus dem und der Internationalen seine höchste Anerkennung zollte. Er hinterläßt eine Frau mit 6 unversorgten Kindern (das älteste 15 Jahre alt), zu deren Gunsten einige Gewerkvereine und hiesige Parteigenossen eine Sammlung veranstaltet haben." m Nicht minder als andere führende Mitglieder der I. Internationale in den USA und Europa würdigten Marx und Engels Werk und Wirken Weitlings. Vom 36. Stiftungsfest des Londoner Arbeiterbildungsvereins am 7. Februar 1876, an dem beide teilnahmen, berichtet eine Korrespondenz im „Volksstaat": „Genosse Friedrich Engels gedenkt dann zunächst eines treuen Vorkämpfers für Recht und Wahrheit, Wilhelm Weitling. Derselbe war eigentlich der erste, welcher die kommunistische Idee in Deutschland zu verbreiten suchte. Er wurde von der Schweiz an die preußische Regierung ausgeliefert, die ihn längere Zeit im Gefängnis hielt, ohne einen Grund dafür zu haben. Weitling sei in Amerika gestorben. Sein Buch ,Garantien der Harmonie und Freiheit' sei auf Anrathen seiner Freunde erschienen."135 Fast ein Jahrzehnt darauf, im Oktober 1885, erwähnte Engels Weitling nochmals in der Schrift „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten". Er schrieb darin: „Es ist hier nicht der Ort, den Weitlingschen Kommunismus zu kritisieren. Aber für seine Bedeutung als erste selbständige theoretische Regung des deutschen Proletariats unterschreibe ich noch heute Marx' Worte im Pariser ,Vorwärts!' von 1844.",36 In dieser Aussage zog Engels die theoretische Bilanz aus Weitlings Leben, das markant, kompliziert und tragisch war, geladen mit interessanten Ereignissen, mit schöpferischen Errungenschaften und Mißerfolgen, mit leidenschaftlidiem Kampf für das Interesse der Arbeiterklasse.
WILHELM WEITLING. AUFZEICHNUNGEN [1]* Dieses Buch kaufte ich in der Absicht [,] meinem Sohne137 ein Memorandum aller nur für ihn interessant scheinenden Ereignisse zu hinterlassen, und zwar aller ihn selbst betreffenden und in seiner Erinnerung leicht verwischlichen Ereignisse und Daten. Ich finde aber schon heute bei Anlage dieses Buches [,] daß * Die in Klammern gesetzten Ziffern sind die Seitenzahlen des Originals. Der Volksstaat, 1. 4.1871, S. 3". 133 Ebenda, 27. 2.1876; BdK, Bd. 3, S. 383. 136 Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd. 21, S. 209. 137 Gemeint ist Weitlings ältester Sohn Wanganschi, geb. am 7.11.1855. Wanganschi erhielt, vierzehnjährig, aufgrund einer Annonce, Arbeit in der Firma von Poppenhausen und Koenig. Er wurde später Präsident einer Bank, Vizepräsident der American Pequana Rubber Company und Präsident des Poppenhausen-Instituts für Bildung. Er interessierte sich für Astronomie und veröffentlichte einige astronomische Aufsätze. Siehe Wittke, S. 280. 134
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es für ihn wenigstens eben so interessant sein wird, wenn ich es überhaupt zum Memorandum Alles, mir augenblicklich interessant Scheinendem, mache, da ich ja doch nicht genau wissen kann[,] was für ihn später interessant sein, noch ob es nicht vielleicht Anderen von größerem Interesse sein dürfte. [2] Chambers Journal vom October 1855 enthält Seite 93 einen Artikel „Chinese Socialism"[,] worin ein Reformator geschildert wird[,] der meine ganze Bewunderung erregte.138 Wenn man den Verhältnissen der Zeit und der Örtlichkeiten so wie der Geschichte und nationalen Sitten(,) Rechnung trägt [,] so hat, so viel mir bekannt, die neuere Zeit keinen Reformers aufzuweisen [,] dessen Ansichten mit den meinigen mehr zusammenstimmen. Ich beschloß daher [,] die Geschichte dieses Reformators der künftigen Gedankenentwickelung meines Sohnes so nahe zu legen [,] daß es für ihn fast unmöglich würde [,] kein Interesse f ü r dieselbe zu haben. [3] Dieß glaubte ich am Besten dadurch zu erreichen [,] daß ich ihm den Namen dieses Reformators als Vornamen beilegte. Ich nannte ihn also Wang-gan-schi Weitling. Anfänglich kam dieser Vornahme uns, wie allen Bekannten, seiner schweren Aussprache wegen, sehr wunderlich vor. Nun aber sind ich und Frau so daran gewöhnt [,] daß wir darin nichts Sonderbares oder Unmögliches mehr finden. 1868 Oct 10* Der Junge ist nun nahezu 13 Jahre alt. Der Name ist unter seinen Gespielen bekannt geworden und hat[,] so viel ich weiß[,] keinen Anstoß erregt oder unangenehme Bemerkung veranlaßt. Manche Knaben haben ihn für den Familiennamen gehalten. Dec 21. 1869 So viel ich weiß[,] hat er bis heute von meinen Büchern nichts mit Vorliebe gelesen als den englischen Lexikon. Die Bibel habe ich ihm besonders vorgelegt. Er hat nur einmal darin gelesen und seit her (seit 2 Jahren) nicht wieder. [4] Wang-gan-[s]chi wurde geboren am 7tcn November 1855, Nachmittags um 3 Uhr im Hause Nr. 126 Allenstreet, in einer engen Kammer der obersten Frontwohnung, deren Kammerfenster nach der Kirche zuhinausging. Der Knabe war sehr klein [,] als er zur Welt kam. Sein Fleisch füllte auf seinen Lenden die Haut nicht aus, welche einige Runzeln machte. Doch erholte er sich in einigen Monaten. Um die Zeit seiner Geburt kam ich auf die Idee[,] daß die Weltkörper an electromagnetischen Strömen, welche durch ihre Axen gehen [,] durch die Räume schwingen, und Kometen nichts Anderes seien als [5] Kreuzungen dieser Ströme zur Zeit der Conzumtianen zweier schwingender Körper mit der Sonne.139 * Bei solchen in Sperrlinien wiedergegebenen Passagen handelt es sich um nachträgliche Eintragungen auf dem unteren Teil des Blattes. 138 Gemeint ist der anonyme Artikel „Chinese socialism", in: Chamber journal of populär literatur, science and art, 11. 8.1855, S. 93 ff. Siehe Einleitung, Anm. 23. 139 Die Hauptideen dieser Theorie entwickelte Weitling in seiner Schrift Der bewegende Urstoff in seinen kosmo-elektro-magnetischen Wirkungen; veröffentlicht im Februar 1856. Siehe Einleitung, Anm. 105.
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Bis heute habe ich diese Ideen verfolgt und erweitert, und so viel wenigstens muß ich meiner Bescheidenheit zugestehen, daß die alten Hypothesen der Attraction etc* weder diese Ideen wiederlegen, noch erweitern können [,] was sie erklären, und daß spätere wissenschaftliche Forschungen beweisen werden f,] daß sie den Kern der neuen Himmelkunde enthalten [,] welche binnen Kurzen sich nothwendig aus den Banden der Unvernunft und der Vorurtheile befreien und eine an Forschungen reiche Bahn brechen muß.140 [6] W[ilhel]m Weitling (d. i. der Schreiber dieses) ist geboren im Jahre 1808 am 5ten October Nachmittags 4 Uhr, in Magdeburg in Preußen. Der Vater war damals 23 oder** 22 Jahre alt und Kapitain in der französischen Artillerie. Er hieß Guilliaume Terijon oder Terigion***. Die Mutter hieß Christiane Weitling."'1 Mein Großvater war Maurer [,] meine Großmutter [,] die eine geborene Hahn****[,] Tochter eines Pfarrers in Klingenthal bei Gera. Sie erzählte mir oft mit Ruhm[,] daß dessen Bildniß hinter dem Altar der Kirche hänge. Sie wurde früh eine Waise und bei der alten Fürstin von Reuß-Greitz-Lobenstein (welche über 100 Jahre alt geworden) auf dem Schlosse zu Gera erzogen, wo sie [7] der Fürstin beim Ausgehen die Schleppe tragen mußte. Mein Großvater hielt um ihre Hand an, erhielt abschlägige Antwort da sie noch zu jung war und nahm aus Verzweiflung Kaiserliche Dienste unter die Kürassiere. Nach seinem Abschiede 9 Jahre später***** kam er wieder und heirathete die Großmutter. Er zog mit ihr nach Magdeburg. Er hatte mit ihr 2 Söhne und eine Tochter (meine Mutter). Die Söhne mußten beide Soldaten werden. Im Jahre 1812 zogen alle dreie, mein Vater und die beiden Onkelf,] mit der f r a n zösischen] Armee nach Rußland, wo sie alle blieben. Vor dem Abmarsch wies mein Vater meine Mutter an General Lefebre142 an, damit er ihr monatlich ein Gewisses auszahle. Dieser Lefebre starb bald darauf in Magdeburg, und nun begann die Belagerung [8] und für uns Elend und Armuth. Meine Großmutter verließ mit mir die belagerte Stadt und hielt sich in der Nähe auf und handelte mit Lampendochten, mit Taback und Zichorien. In Betreff meines Vaters (dessen ich mich persönlich nicht erinnere) war mir folgende Mittheilung der Tochter einer Frau Heldf,] die ihn genau kanntet,] sehr wohlthuend. „Ihr Vater war in Magdeburg allgemein bekannt. Er spielte mit im LiebhaberTheater. Man sah ihn oft am Arme eines Freundes singend durch die Straßen * Im Text durchgängig „ect". ** „damals 23 oder" — nachträglich *** „oder Terigion" — nachträglich **** „eine geborene Hahn" — nachträglich ***** „9 Jahre später" — nachträglich 140 Siehe dazu ders., An die Repräsentanten der Wissenschaft, Februar 1856, in: Der bewegende Urstoff, S. 7 f. 141 Weitlings Mutter Christiane Erdmuthe Friederike Weidling, geboren in Gera, war Haushälterin und heiratete 1821 den Schneider Johann Gottfried Behrend. Weitling sah seine bereits verwitwete Mutter im Juni 1844 wieder. Siehe ders., Gerechtigkeit S. 352 f. 142 Weitling meinte vermutlich den französischen General Charles Desnoettes Lefebvre (1773-1822), der am Krieg mit Preußen (1806-1808) teilgenommen hatte und dann in Spanien kämpfte.
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ziehen. Man nannte ihn nur den lustigen Wilhelm. Alles [,] was er ersparen konntef,] hat er [9] an ihre arme Mutter und Großältern* gegeben. Ich weiß[,] daß er einmal seinen Mantel und seine goldene Uhr hergegeben hat. Er wollte Sie nach Frankreich schicken und dort erziehen lassen [,] aber Ihre Mutter und Großmutter wollten es nicht zu geben."1''3 [10] New York den 21sten October 1858. Verwichenen 18,cn Juni Vormittags neun Uhr wurde mir ein zweiter Knabe geboren, welcher den Namen Grachus Babeuf Weitling führen soll.1'*4 — Grachus war ein Römer [,] welcher in der römischen** Republik eine gleiche Vertheilung der öffentlichen Ländereien zu Gunsten der Armen vertheidigte. Aehnliches vertheidigte Baboeuf vor der französischen Republik von 1797. Beide büßten mit dem Leben für ihr Wagniß. Beide bekämpften die vielköpfige Freiheitsfratze, die, unter dem Namen Republik, dem arbeitenden Volke die Nebelbilder der „freien Arbeit" und der freien Concurrenz, und dadurch die Herrschaft der Gutsbesitzer und Kapitalisten annehmlich machen, kurzum, den Mammon demokratisiren wollte. Beide wurden von Republikanern [11] verfolgt und getödtetf,] weil sie das Beste für Alle, ohne Ausnahme eines Einzigen wollten. Solche Männer sind Helden [,] denn sie kämpfen offen für ein Prinzip*** [,] einer gegen viele, nicht aber die Brutus, die Corday[,] die — kurzum alle[,] die den Tirannenmord — wie sie es nennen — befürworten [,] ohne etwas anders dadurch bezwecken zu wollen[,] als jener vielköpfigen Freiheitsfratze zum Siege zu verhelfen. — Grachus Babeuf Weitling war bei seiner Geburt viel fleischiger und fester als Wang[-]gan[-]schi. Dem letztern sieht man aber heute eben so wenig einen frühern Fleischmangel an. Zwei Daguerreotypes [,] welche mir die Mutter 145 zu meinem 50sten Geburtstage geschenkt [,] sprechen dies deutlich aus. Ich wünsche mir beide Kinder gar nicht besser. Geistig und physisch betrachtet kann ich mit beiden wohl zufrieden sein. Der größere hört jetzt meistens aufs Wort. Als er [12] nur erst einige Monate, 4 oder 6 Monate, alt war, bekam er schon dann und wann einen Klaps [,] wenn er sich eigensinnig geberdete. Und * Zuerst: „arme Aeltern" ** „römischen" — nachträglich *** „für ein Prinzip" — nachträglich li3 Mitte der 40er Jahre hielt Weitling erstmals diesbezügliche Erinnerungen fest und schrieb von sich: „Dieser hatte seinen Vater nie gekannt; er wußte von ihm nur, was seine Mutter, Großmutter und Doris ihm davon erzählten. Letztere sagte oft: ,Ich habe Deinen Vater gut gekannt, weil er immer mit Kapitän Guillaume ging, den seiner Lustigkeit wegen alle Magdeburger kannten. Beide waren Kapitäne von der Artillerie, beide spielten im Liebhaber-Theater mit. Dein Vater war ein guter Mensch, der, so lange er in Magdeburg war, alles, was er hatte, sein Geld, seine goldene Uhr und seine Kleider für Deine Mutter und ihre armen Eltern hergegeben hat.' Weitling, Gerechtigkeit, S. 19. w - Über diesen Sohn Weitlings ist weiter nichts bekannt, als daß man ihn später Bob nannte. Siehe Wittke, S. 281. 143 Gemeint ist Weitlings Frau Caroline Louise Tödt (geb. 19. 6.1832 in Wittenberg, Mecklenburg-Schwerin). Zusammen mit ihrer Familie kam sie 1852 nach den USA und arbeitete anfänglich als Schneiderin in Utica. 1854 heirateten sie und Weitling. Eines der hier erwähnten Daguerreotypes ebenda, S. 282 f.
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seit dieser Zeit haben ich und die Frau in Betreff der Bestrafung immer nur einen einzigen augenblicklich ausgeführten Willen gezeigt. Wenn das Eine mit dem Kinde zankt, zankt auch das Andere, wenn das Eine darauf schlägt [,] ist auch das Andre bereit [,] darauf zu schlagen. So haben wir sehr jung angefangen, angefangen zur Zeit[,] in der wir uns mit dem Kinde nicht anders verständlich machen konnten. Dafür aber haben wir heute, wo wir mit dem Kinde sprechen können, keine Noth mehr. Ich erinnere mich der Zeit nicht mehr[,] wo er von uns Schläge empfangen. Er macht mir durch sein gutes Betragen so viel Freude [,] daß sein Verlust ein [13] sehr großer für uns sein würde — sollte dieß je uns betreffen. — Aber das ist erst der Anfang. Ich weiß wohl[,] daß ich noch manches mit ihm durch zu machen haben werde, wenn ich's erlebe. Sein Betragen im Hause in unserer Mitte wäre soweit geregelt. Aber dann kommt die Zeit[,] wo er mit der Jugend New Yorks in Berührung kommen muß. Dann die Zeit[,] wo er etwas lernen [,] und endlich die Zeit[,] wo er seinen Geschlechtstrieb bekämpfen muß[,] wenn er ein kräftiger glücklicher Mensch werden soll*. Und das letztere ist das allerschwierigste und allernothwendigste. 146 Bei mir sind diese sämmtlichen Zwecke durch Religiosität erreicht worden. D. h. mein kindliches Gemüth wurde bis zu meinem 12ten Jahre so religiös ausgebildete,] daß es den spätem Mangel an Aufsicht nicht vermißte, daß es schon stark genug geworden [,] sich selbst durch paar Klippen zu leiten. Was soll ich nun da thun! Ich kenne nichts [,] was kräftiger und wohlthätiger auf [14] meine eigene Gefühls- und Geistesbildung gewirkt hat als die Religionslehren meiner Kindheit.147 Diese Ueberzeugung ist mir geblieben [,] obgleich mir der Glaube an die Wahrheiten der Religionslehrbücher [,] an die mit den Lehren verknüpften Wunder und Geschichten nicht geblieben ist. Was soll ich da thun? Noch weiß ichs nicht. Das aber weiß ich[,] daß in welche Schulen oder Kirchen die Knaben auch geschickt werden, welche Religion auch als Stütze für sie gewählt werden würde [,] wir beide — ich und meine Frau — werden darüber einig sein. Ich fürchte oder hoffe — noch weiß ich nicht was — das Resultat wird Staunen und Anfeindung unter meinen Freunden erregen. Und obenein frägt sichs sehr[,] ob dieselben Mittel bei den Kindern denselben Zweck erreichen werden als bei mir. Dec 21/69 Wanganschy ist ohne Religion recht gut geworden. Er lügt und stiehlt nicht [,] weil er dieß für . . . characterlos hält. [15] New York den 13ten Dec. 1860. Bei Aufschlagen dieses Buches kommt so etwas wie ein Gefühl des Vorwurfes über mich[,] daß ich so lange dem Buche keinen Beitrag geliefert. An Stoff hätte es doch wahrlich nicht gemangelt. Dieß mag mich indessen gewissermaßen auch * Zuerst: „muß" WS Weitling setzte sich bereits 1853 für sexuelle Aufklärung der Jugend ein, begann in seiner Zeitschrift mit diesbezüglichen Ratschlägen und empfahl entsprechende Schriften Hufelands. Vgl. RdA, 1.1.1853, S. 4. Weitling gehört hierin genauso zu den Pionieren wie in Fragen der Gleichberechtigung der Frau. 147 Zu seiner Kindheit siehe Weitling, Gerechtigkeit, S. 18—26.
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entschuldigen. Ich habe seither neben meinen Amtspflichten (als Registror in Castle Garden) 148 zwei wichtige Arbeiten verfolgt. In meiner astronomischen Theorie habe ich so wichtige Fortschritte gemacht und bin zu so erfreulichen Resultaten gekommen [,] daß mir Alles — was nicht unbedingt der Wohlfahrt meiner Familie nothwendig ist, Nebensache ist. So zwar[,] daß, als ich in der ersten Hälfte October eine 14 tägige Erlaubniß zur Reise aufs Land und auch freie Eisenbahnkarten erhielt, ich gar nicht abreisete, sondern diese 14 Tage hier blieb und meine [16] astronomischen Probleme durch Rechnungen prüfte. Außerdem war ich mit all' den Arbeiten überhäuft und den Schwierigkeiten umgeben [,] die man findet [,] wenn man glaubt [,] eine wichtige Erfindung gemacht zu haben und dafür ein Patent herausnehmen will, zu welchem Zweck eine complicirte Maschine nöthig ist[,] die man nicht selbst machen kann[,] sondern von Leuten machen lassen muß [,] welche das Ganze in allen seinen Theilen erst in ihren Geist vollständig aufnehmen müssen [,] ehe sie auch nur ein Theilchen davon richtig machen können. Am 10 tcn Dec. endlich war ich mit Allem fertig und habe das Modell nebst Beschreibung und Zeichnung (beides letztere selbst ausgefertigt) nach Washington [17] geschickt. Es ist dieß seit 5 Jahren das dritte Mal[,] daß ich einen* Versuch mache [,] auf eine Erfindung ein Patent zu bekommen. Diese Versuche kosten mir schon viel Geld. Ich bekam auf die beiden ersten Einsendungen kein Patent, weil beide Erfindungen nicht neu seien. Und doch ist Niemand fähig [,] die Arbeiten [,] die die Maschine liefert[,] ohne diese Maschine herzustellen[,] und sonst gibt es keine Maschine [,] welche solche Arbeiten macht. Ich bekam aus dem Grunde kein Patent [,] weil meine Maschine oder meine Erfindung [,] mit zwei Walzen mehrere verschiedene Muster facionirter Fälteleien in Seidenzeuge etc. zu pressen [,] im Princip der Bauart nichts Neues habe. Die Hufeisenmaschine enthalte dies schon. Die andere Erfindung war im Principe wirklich [18] schon da, und zwar vor 5 Jahren schon, obwohl der Unterschied zu meinen Gunsten so groß war[,] daß ich mich nicht wundere [,] daß heute nach 5 Jahren Niemand dieses Patent von Harrison zu kennen scheint, obwohl es höchst wichtig ist[,] mittels einer kleinen Vorrichtung von etwa einem Dollar Unkosten jede Nähmaschine so zu vervollkommen [,] daß man damit grade Linien und Figuren krummer Linien nähen kann[,] ohne Zeichnungen zu machen. Harrisons Erfindung bezweckt dasselbe, kostet aber gewiß zehnmal mehr Herstellung als meine. Meine dritte Erfindung [,] für welche ich am 10ten eine Petition um ein Patent eingesandt habe[,] bezweckt [,] [19] Knopflöcher auf Nähmaschinen zu machen.** Zeichnung und Beschreibung dießmal selbst gemacht. Bescheid bekommen [,] das Model müsse ein arbeitendes sein. Was nun? Noch einmal alle die Unruhen [,] Arbeiten und Geldkosten im noch größern Maßstabe durchmachen? Oder die Sache aufgeben und Alles daran Gesetzte verlieren? * „einen" — nachträglich ** ursprünglich: „machen zu können" 148 1855 bis Juni 1862 arbeitete Weitling im Hafeneinwanderungsbureau von New York als Registrator für Einwanderer aus England und Deutschland. Siehe Wittke, S. 286 f.
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[20] Eines Sonnabends im Jahre 1860, wenige Tage vor Wanganschys Geburtstag[,] stürmte es draußen sehr stark[,] als wir Abends am Fenster saßen. Wanganschi frug mich: Papa? Warum tobt denn der Sturm so fürchterlich? Ich: Unser himmlischer Großvater ist wahrscheinlich böse[,] weil die Menschen nicht artig sind. Wanganschi: Warum aber tobt denn der Wind so an unser Haus, wir sind doch nicht unartig? — Ich wußte nicht[,] was ich antworten solltet,] und verdeckte meine Verlegenheit mit einigen Küssen [,] die ich dem Jungen gab, bereuend [,] ihm überhaupt vom himmlischen Großvater gesprochen zu haben. [21] Diese kleine Scene in unserem Leben mag übrigens von bedeutender Tragweite in Wanganschis Erziehungsweise in Betreff der religiösen Scrupel werden. Was ich auf Seite 14 gesagt habe[,] ist dadurch näher zur Entscheidung gekommen. Es soll den Kindern Niemand irgendwelche religiöse Doctrin einpredigen, außer solcher, welche der Verstandes- und Vernunftsentwicklung des Jungen nicht widerspricht [,] und solche wird er gewiß mit Wärme aufnehmen. 149 Einst sprach ich mit meiner Frau über die Schwierigkeit [,] meine, Alles in der Geschichte der vergangenen und künftigen Menschheit überbietende astronomische Theorie(,) zu publiciren. Da sagte sie: Könntest Du nicht eine Knopflochmaschine erfinden. Ich schüttelte mit dem Kopf. Aber der Gedanke blieb mir[,] und 14 Tage darauf machte ich die erste Eingabe für das Patent, mehrere Jahre darauf die achte. Nun war ich bankerott. Singer, Amferican] Buttonhole Co. Braunsfeld etc. machten die Erfindung nach[,] und ich hatte Niemand[,] um einen Advocaten nehmen zu können.150 [22] Freitag Nachmittag um 5 Uhr den 7tcn Februar 1862 wurde Tycho Brahe Weitling, mein dritter Sohn geboren.151 Am ll t e " Juni 1862 wurde ich aus Castle Garden gewiesen, weil ich dem innern Menschen subordinationswidrig zwar[,] aber nicht mit Unrecht freien Lauf ließ gegen eine unverdiente und durch nichts zu vertheidigende Zumuthung des General Agenten, der mich zuweilen chicanirte (trat) [,] wie man zu sagen pflegt, da er Niemanden mit selbständigem Charakter leiden mag. 149
Dies belegt, daß Weitling bis ans Ende seiner Tage die Moralfunktion der Religion für unverzichtbar hielt. 1854 schrieb er: „Ohne solche religiöse Grundlage wüßte ich nicht, wie es möglich wäre, die Moral (gute Denkungsweise gegen Andere) so fest in die jungen Herzen zu pflanzen, daß dieselbe im Alter ihre guten Früchte trägt. Die Religion vertritt in dieser Erziehung die Stelle der Stütze eines jungen Baumes. Denke man sich diesen Baum mit einem Willen begabt, so kommt es später, wenn er mit Hülfe der Stütze ausgewachsen ist, und fest im Boden wurzelt, ganz auf ihn selbst an, ob er diese Stütze an seiner Seite behalten will oder nicht . . . Ich möchte keine Kinder (,) nach Art und Methode unserer Frei-Gemeindler erziehen lassen. Ein Kind, in dessen jungen Herzen kein Zartgefühl, kein Mitleid bei den Leiden Anderer, kein Gerechtigkeitsgefühl, keine Bescheidenheit und Freigebigkeit, kein Erbarmen und keine Entsagung sich entfaltete, wäre mir trotz aller Klugheit und allem Schulwissen, das es entwickelte, ein Gräuel." RdA, 3. 6.1854, S. 181. 150 Siehe dazu Schlüter, S. 125 f.; Wittke, S. 304 ff. ,r ! ' Uber diesen Sohn ist weiter nichts bekannt. Weitling nannte ihn nach dem berühmten dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546—1601), den Weitling hoch schätzte. Siehe Weitling, Theorie des Weltsystems, S. 14; ferner Einleitung, Anm. 25 und 98.
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Am 20sten August schickte ich mein Model und Substitut of Speciflcation and drawings nach Washingt(h)on. [23] 1864 Feb. 9 Ich habe seit Aug. 20 1862 Manches Interessante erlebt [,] das ich nachholen will[,] so weit es mir im Gedächtniß geblieben. Astronomie und Knopflochmaschine fesselten mich diese ganze Zeit hindurch. Der Ideengang in beiden war ein in seinen Resultaten höchst glücklicher zu nennen, doch mehr so der in der Astronomie [,] weil darin ich allein arbeiten konnte [,] während mir in der Mechanik die Aufgabe wurde [,] den Mechaniker in meinen Gedankengang geübt zu machen und sein Stolpern auf diesem Gange und seine Lehrzeit darin, und was er dabei verbrochen, nicht zu rechnen [,] aber doch zu bezahlen. Zunächst geschah Etwas[,] das mir zu glauben erlaubtet,] daß der Patentclerk im Nähmaschinenfach im Washington Patent Departement [24] die Absicht, habe[,] mich um meine letzte wohlverdiente Erfindung zu bringen. Ich hatte nämlich ein Model mit zwei Attachments eingesendet, eines [,] das meine Scheerenbewegung[,] und eines[,] das meine Threadholder — roller Bewegung repräsentirt, und eine Knopflochprobe beigelegt [,] die nicht besser zu wünschen war. Nun hatte ich aber nicht die Art und Weise verstanden [,] in welcher man angeht [,] wenn Einem die Speciflcation zurückgeschickt wird, um etwas daran zu verändern. In diesem Falle nummerirt man die Linien der betreffenden Pages und macht eine Nachschrift auf einem besondern Blattet,] in welcher man angibt[,] „daß man in pagina X line X einzuschalten wünscht, oder daß von Wort so und so pag. X und line X bis pag. X 2 und line X 2 Alles zu erasen [25] und an Stelle des Erasten folgendes zu setzen sei etc. Anstatt dieß so zu machen [,] hatte ich die von mir verheftenen und versiegelten Blätter auseinander genommen, das herausgenommen [,] was ich verändern wollte, es umgeschrieben und wieder verheften und versiegelt, das herausgenommene Blatt legte ich dann lose bei und schickte so das Ganze ab. So hatte ich es bereits mit meinen ersten Patenteingaben gemacht, und auf solches Verfahren mein vom 29. Oct. 1861 datirtes Patent bekommen. Dießmal aber wollte man nicht allein dieß nicht gelten lassen [,] sondern man schickte mir — wie gewöhnlich — die Sachen zurück, aber — was jeden Falls ungesetzlich war — man hatte meine versiegelte Speciflcation aufgerissen, einige Blätter [26] herausgerissen und zurückbehalten und begleitete diesen kühnen Streich mit etwa folgenden Worten: „We can not cancel what you desire unless you give us authority to cancel all of pages 5, 9,10 and all of page 11." Nun fügte sichs aber[,] daß page 11 von mir unverändert geblieben war und alle meine Claims enthielt. Ich schrieb ihm also: I can not cancel those pages without endangering all my rights and Claims therefore please send me back the shecks you kept back. Ich hatte vorher zwei Advokaten befragtf,] deren Aussagen dahin gingen[,] daß allerdings dieß ein ganz ungesetzliches Verfahren sei, sonst aber froh zu sein schienen* [,] daß ich nicht zum Einschreiten sie engagiren [27] wollte. * ursprünglich: „waren" 9 Jahrbuch 38
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Ich getraute mir nun nicht mehr[,] eine Feder anzurühren [,] und entschloß mich[,] selbst nach Washington zu reisen. Ich hatte mich mit Empfehlungen versehen [,] um den Clerk in Anklagestand zu versetzen [,] falls er nicht Order parire. (Er hatte nämlich auch das Attachement[,] was ich für das wichtigste hielt [,] von dem Model genommen und das unwichtige aufgesetzt). Diese Empfehlungen nutzten mir wenig. Ich ging daher zu einem Patent Agenten [,] und dieser (Gringner and Cohen) brachte die Sache in Ordnung. Licöre lieh mir dazu $ 100 am 7ten Merz[,] und $40 wurden mir davon bei der Abreise gestohlen, so kostete mir diese Washingtongeschichte meiner Unkenntniß, mehr aber noch der Versuch des Clerks wegen $ 200 mehr[,] als nöthig gewesen wäre. [28] Donnerstag den 7tcn Juni 1866. Seit einem Jahre erhält sich meine Frau und Schwägerin152 und beide uns alle durch Westenarbeit. Wir arbeiten für Brooks Brothers. Vorn . . .* Vetter. Wir machen fast nur weiße Westen. Diese sind bezahlt Männerwesten $ 1. Jünglingswesten $ 0,75. Knäbenwesten $ 0,62. Der gewöhnliche Verdienst ist $ 100 per Monat, wenn wir allein arbeiten, ohne Hülfe beim Nähen. Die Frauen machen etwa 8 KnabenwestenQ oder 6 Manneswesten oder 6 Jünglingswesten ohne Knopflöcher und Abbügeln in einem Tage. Wir zahlen für 2 Zimmer und 3 Kammern und 2 Dachzimmer monatlich $ 25. Stellen jetzt die Möbeln und nehmen für die Dachzimmer ein $ 10.50[,] bleibt uns $ 14.50 für ein Dienstmädchen 5.00 Schulgeld circa 1.87 Die Waschfrau 2.20 Seife für do** etc 27 $ 23.84 [29] Heute schulde ich noch an Ch. F. Tag153 „ Mich. Gross or Guentzer Linn and Painter Eggers and Heimerdinger in Louisville Rosenstein Eugene Licöre Bonifer
$ 2 000 » )) J)
» »
350*** 100*** 150 50 100 25***
Noble Anleihe Mortgage für Arbeit sehr noble Anleihe noble Anleihe noble Anleihe do baar*** bezahlt****
* Schwer zu entziffern; vermutlich „Vornmanns" ** dito *** Später gestrichen **** nachträgliche Änderung 152 Gemeint ist Johanna Tödt, Schwester von Weitlings Frau (um 1840—1929), betrieb mit ihrer Schwester eine Westenschneiderei, nahm sich nach dem Tode Weitlings und seiner Frau ihrer Kinder an. Siehe Wittke, S. 278 f. Gemeint ist Charles F. Tag, Tabakwarenhändler in New York und Freund Weitlings. Vgl. Einleitung, Anm. 26.
Wilhelm Weitling Ahrends 154 Cohen Patentagent H. Dreher Willich155 Lange Vergolder Coombs Roedel Meß Lehrer noble
72* $ „ 200 „ 105 „ 10 „ 35 „ 15 „ 10 8*
Richhoefer Kuhn Buchbinder Fickler156 (gestorben)** Schneider Müller157 Stoppelbeim (gestorben)** Frau Bonifer für Seide Lehr für Arbeit
2 „ -50 „ 100* „ 10* „ 25* 5* „ 24
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do bezahlt** für Arbeit gentleman noble »
do so baar baar drückt mich am meisten* bezahlt**
bezahlt** bezahlt** —
bezahlt**
$ 3 396.50 Siehe die letzten Seiten des Buches. [30] Heute den 7 Juni 66 bin ich bei der Vollendung meiner Maschinenzeichnung. Ich war nie so vollkommen überzeugt von der Superiorität meiner Maschine in jeder Beziehung über jede andere als seit diesen letzten Wochen. Ich halte es fast für unmöglichf,] daß ich*** durch fernere Improvements übertreffen kann[,] was ich jetzt in Zeichnung vor mir sehe. Ebenso vollkommen zufrieden bin ich mit meinen astronomischen Arbeiten, welche seit einigen Mpnaten ruhen. Der Plan zur Construction einer Mechanic Celeste [,] welche Theorie repräsentirt[,] ist mir vollkommen gelungen. Da stehe * Später gestrichen ** nachträglich *** ursprünglich „ich mich" ly ' Heinrich Arends, Arbeiter aus Riga, alter Freund und Anhänger Weitlings. Ende der 30er bis Anfang der 40er Jahre eines der führenden Mitglieder des Bundes der Gerechten in Paris. Siehe Weitlings Vorrede zur dritten Auflage der Garantien, S. 293. Arends emigrierte in der ersten Hälfte der 40er Jahre nach den USA und arbeitete in New York in einer Zigarettenmanufaktur, isi August Willich (1810—1878); einer der Initiatoren der Spaltung des Bundes vom September 1850; 1851/52 Korrespondent der RdA (vgl. Einleitung, Anm. 70). Willicii emigrierte im Mai 1853 nach den USA, war zeitweilig mit Weitling befreundet und nahm als General der Nordstaatenarmee am amerikanischen Bürgerkrieg teil. 1,6 Gemeint ist der deutsche Journalist Joseph Fickler (1808-1865); 1848/49 führend in der demokratischen Bewegung in Baden, Mitglied der Badischen provisorischen Regierung; emigrierte nach der Niederlage der Revolution nach den USA. 157 Gemeint ist Conrad J. Müller; war schon vor 1848 in den USA mit Weitling befreundet und kehrte mit ihm nach Ausbruch der Revolution nach Deutschland zurück; nahm an der Revolution teil und emigrierte nach ihrer Niederlage erneut in die USA. Siehe dazu New York Times, 27.1.1871. 9*
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ich nun in meinem 58sten Jahre mit zwei der wichtigsten Erfindungen des J a h r hunderts und der wichtigsten Entdeckung seit Gedenken der menschlichen Civilisation und kann nicht vorwärts[,] weil mirs an demjenigen fehlt[,] was hier jeder durchtriebene und im Schmutz des Geizes wühlende Krämer kastenvoll hat. [31] Ch. F. Tag hat mir zwar $ 2 000 geliehen, weigert sich aber[,] mehr zu leihen und will auch gar nicht sehen [,] was ich erfunden. Hat meine Maschinen also noch nicht gesehen. Guentzer will mich nächste Woche pfänden lassen. Eggers and Heimerdinger und alle Andern außer Rosenstein und Dreher können nichts mehr thun. Jene beiden aber wollen auch nichts mehr thun. Es kommt mir so vor[,] als glaube Jeder f ü r sich im Stillen [,] die Erfindung sei nicht praktisch, zahle sich nicht, oder dgl. Anders könnte ich mir das Verhalten meiner Creditoren nicht erklären. Dec 22/69. Neulich theilte mir der Nähmaschinist Sattler aus Essen mit[,] daß sich eine Comp, mit 30 000 Dollar gebildet [,] um an Singers Maschine per Attachment Knopflöcher zu machen.. Ich sah mir die Geschichte in 438 Broadway an und konnte meinen Augen kaum trauen. Was könnte ich in demselben Genre leisten [,] wenn ich die Mittel hatte. Jene Howard and Jackson attachment kann doch kein Schneider so brauchen. [32] Mein f ü n f t e r Sohn Terijon wurde geboren am 6tcn July 1866 Nachmittags 5 Uhr. 158 Ich nenne ihn Terijon oder Terigion zur Ehre meines Vaters. Oct 10 1868. Es sieht mal wieder sehr trübe aus in meinen Lebensverhältnissen. Ich bin vor Armuth fast* so characterlos geworden, wieder um einen Platz in Castle Garden anzuhalten. Die Westenschneiderei nährt uns nicht mehr, das steht fest. Die Rente ist um $ 3 gegen 1866 gestiegen. Siehe pag. 28. Wir bezahlen monatlich $ 28 und nehmen von den Dachzimmern ein $ 9[,] mithin bleiben uns $ 19 zu zahlen. Wir hatten diese Woche lauter Kundenarbeit, und verdienten Conrad Müller 3 Westen Herbeck 5 Westen Müller und Mercer Sachem 2 Westen
$ 6.75 9.25 1.50 3.50 $ 21.00159
[33] Wir verdienen also circa $ 12 per Monat weniger als vor zwei Jahren und hatten in Rente allein $ 5.50 mehr Ausgabe. Wir kämpfen also gegen ein Deficit von mindestens $ 20 per Monat. * Schwer zu entziffern; möglicherweise: „Armuthfasten" 153 Terijon Weitling interessierte sich später für Architektur. Er arbeitete zeitweilig in einer New Yorker Stahlflrma als Außenhandelsexperte für Brasilien. Siehe Witt?ce, S. 281. Er half Wittke bei dessen Ermittlungen zur Biographie Weitling. 159 Im IML/ZPA, NL 149/2, Bl. 156-157, befindet sich die Kopie einer von Weitling angefertigten Übersetzung der Seiten 32 und 33 ins Englische, deren Bestimmung nicht ersichtlich ist.
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Die Am[erican] Buttonhole Co. 483 Broadway macht meine patentete Guide nach Singer and die Ätna Co. mein Stickering Attachment. Die Hoffnung [,] gegen diese Firmen meinen Prozeß wegen infringements zu gewinnen [,] hält mich allein noch aufrecht[,] im Bewußtsein[,] am Ende noch die Mittel zu erhalten [,] meine Schulden bezahlen zu können. Alle Anstrengungen [,] einen Partner zu bekommen [,] waren vergeblich. Mit den erfundenen Attachements für Wheeler and Wilson Maschine kann ich nicht vorwärts kommen [,] da ich wegen Geldman-100 [34] gel das Patent in der Patentoffice ungelöst lassen muß. Dec 21 1869. Dieß Patent wird verloren gehen, da ich keine Hülfe bekomme. Macht nichts mehr, gehe ich doch selbst sehr bald verloren. Ich fühle es. Der Pulsschlag ist ein kranker. Ich glaube [,] das Uebel sitzt in der Gegend des Magens. Ich könnte noch eine Weile leben, wären wir nicht so arm. Wir müssen jetzt Shop Westen machen für 3 Schilling und Kundenarbeit für 14 Schillinge. Wir zahlen in New Jerusalem [,] Kanton Str.*[,] monatlich $26 Miethe für und mit** einer schmutzigen jüdischen Hausbewohnerschaft. Ein halbes oder ganzes Dutzend Schneider repräsentiren unsre grünen Wirthe. Nächsten ersten werden wir [35] nicht zahlen können und wahrscheinlich herausgesetzt werden müssen. Ich wolltet,] ich stürbe vorher. Im Falle meines Todes benachrichtigt man: Lange [,] Vergolder [,] Ecke Frankfurt und Williamstr. H. Ahrends Nr. 903 Broomstr. Die Schneider bei Müller and Br. P. Steffen Carpenter 5' Straße nahe Bowery. W[ilhel]m Hunt[,] Kaufmann[,] bei Steffen zu erfahren. H. Toaspernf,] United Pianomacher161 [,] Brooklyn.
* „Kanton Str." — nachträglich eingefügt und schwer zu entziffern ** „und mit" — nachträglich eingefügt lfi0 Nach Presseangaben suchte Singer Weitling mit einer einmaligen Abfindung von $ 500 zu entschädigen, um den Prozeß zu vermeiden. In einem Artikel „Zum Kampfe um Singers Millionen" in der „New Yorker Volkszeitung" vom 28. 3.1907 heißt es u. a.: „Singer brachte dje Weitling'sche Erfindung auf den Markt. Als Weitling nun Protest erhob u. mit gerichtlicher Klage drohte, erklärte sich Singer bereit!,] dem Erfinder fünf Hundert Dollars zu zahlen. Weitling weigerte sich, diese geringfügige Summe anzunehmen [,] und verlangte das zehnfache derselben, nämlich fünf Tausend Dollars. Die Sache zog sich hin[,] und Weitling starb darüber. Vorher aber hatte er seiner Frau noch das Versprechen abgenommen, nicht weniger als die von ihm verlangten fünf Tausend Dollars von Singer anzunehmen. Das zahlte Singer, trotz der eingeleiteten Verhandlungen[,] nicht. Die Witwe Weitling's konnte wegen Mangel an Mitteln eine Klage gegen , den reichen Nähmaschinen-Fabrikanten nicht durchführen!,] und sie mußte es geschehen lassen, daß der Fabrikant sich die Früchte der Geistesarbeit ihres Mannes zu Gemüthe führte." 101 H. Toaspern, ein Freund aus Weitlings letzten Lebensjahren. Siehe Terijon Weitlings Antwort auf Wittkes Brief vom 15. 7.1946, IML/ZPA, NL 149/3, Bl. 17.
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Dec. 22. Heute erhielt ich Nachricht [,] daß mein Schwiegervater 162 uns Fleisch geschickt; das erstemal wieder seit 4 Jahren. Sein Geiz oder seine Frau hielt uns bis her getrennt [,] und doch hatte ich ihm einst in der Noth mit $ 600 geholfen, ihm es überlassend [,] sie mir nach Belieben wieder zu erstatten. Er hat sie wieder bezahlt als Gold $ 2 stand, dazu hatte er das Recht, ich den Schaden. [36] Für irgend ein Lexicon-Conversations oder ephemeres empfehle ich zur Verification Folgendes. Wurde Karl Marx in Trier geboren? War sein Vater 163 ein jüdischer Advokat? Ging derselbe zur christlichen Religion über[,] um zur juristischen Praxis zugelassen zu werden und Fräulein v. Westphal[en] m heirathen zu können? 165 Dann füge man im Conversationslexikon bei: „Diesen Verhältnissen hauptsächlich ist die e i g e n t ü m l i c h e Verstandes [-]* und Herzensbildung des Karl Marx zuzuschreiben. Der Sohn solches Juden ist von Herzen und im Geheimen mehr Jude als ein andrer."166 [37] Einige neue Auflagen von Conversationslexikons sind mir zur Einsicht gekommen und haben mich empört, ich sage es frei heraus. 167 * Zuerst: „Richtung". Gemeint ist Christian Friedrich Tödt, von Beruf Schlosser mit Geschäft. Siehe Wittke, S. 278. 163 Heinrich Marx (1777—1838), Rechtsanwalt und Justizrat in Trier. 164 Jenny Marx (geb. von Westphalen; 1814—1881). Weitling lernte Jenny Marx Anfang 1846 in Brüssel kennen. Siehe MEW, Bd. 21, S. 213 f.; MEGÄ2,111/1, S. 518. 105 weitling irrt. Die Taufe erfolgte 1824, im Alter von sechs Jahren. Siehe Mehring, Franz, Karl Marx. Geschichte seines Lebens, Berlin 1974, S. 11, 13. 103 Man lasse sich von den vorliegenden antisemitischen Sentenzen, so unentschuldbar sie auch sind, nicht täuschen! Seiner Grundhaltung nach war Weitling ein entschiedener Gegner allen Rassismus. Schon Kaufhold fordert, bei ihm zwischen Antisemitismus und antisemitischen Phrasen zu unterscheiden, und bescheinigt ihm: „Weitling war kein Antisemit" (Kommentar zu Weitling, Garantien, S. 388). Weitlings .Republik der Arbeiter' dokumentiert dies eindringlicher als seine früheren Schriften. Er erklärt die Spezialisierung von Juden auf Handel und Wucher aus sozialen Ursachen: „So rächt sich das den Juden von unsern frühern Gesetzen widerfahrene Unrecht. Früher wurde ihnen nicht erlaubt [,] ein Handwerk oder Ackerbau zu treiben. Handel und Wucher aber waren damals verachtet. Der Jude also war genötigt!,] zu der verachtetsten Beschäftigung zu greifen." RdA, 13. 9.1851, S. 173. Weitling bekämpft durchgängig die politische Entrechtung der Juden in verschiedenen Staaten. RdA, 16. 8.1851, S. 137; 6.11.1852, S. 353; 1.1.1853, S. 1. Er wendet sich gegen die „jüdischen, katholischen und protestantischen Vorurteile", RdA, 25.12. 1852, S. 413 (vgl. auch Junge Generation, 1842, S. 207). Er zitiert Eugen Sue's „Ewigen Juden" als „Sinnbild des verachteten und gedrückten Proletariats" (RdA, Januar 1850, S. 12) und kritisiert Juden in der Regel in ihrer Eigenschaft als Bourgeois, als Ausbeuter und Gegner der Arbeiterbewegung (RdA, 9. 8.1851, S. 133; 17.1.1852, S. 20; 8.1.1853, S. 4; 20. 5.1854, S. 162 f.; 10. 6.1854, S. 189). Der vorliegende heftige Ausbruch ist aufgeladen mit Erbitterung über die ungerechtfertigte Bagatellisierung seiner historischen Verdienste um die Arbeiterbewegung, von üblen Erfahrungen mit der unheilvollen Rolle jüdischer Unternehmer im amerikanischen Textilgewerbe; schließlich von seinen Erlebnissen mit seinem jüdischen Hauseigentümer und vom Gedanken an die drohende Exmittierung seiner neunköpfigen Familie. 167 Weitling bezieht sich hier u. a. auf die Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Bd. 15, Leipzig 1868. 162
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Was verstehen die Buchhändler im Allgemeinen von Arbeiter, von Socialismus und Communismus? Sie haben kein Herz dafür, wollen aber etwas Verzügliches liefern und geben es in die Hände eines Juden [,] der sich einen Ruf als Nationalökonom zu sichern wußte, oder eines andern Unwissenden. Wozu dient der arbeitenden Menschheit solches ökonomische** Wissen? Es nutzt ihr gar nichts zu ihrer Befreiung und ist nur für den anderen Theil geschrieben [,] der daraus ganz andere Lehren zieht [,] als die[,] welche die gläubigen Arbeiter vermuthen. [38] Ich suche das Wort Communismus auf,168 und finde eine übergroße Menge von Citationen von allerlei gewesenen Dingen und Lehren [,] die man Kommunismus genannt hat, oder zu nennen beliebt***. Die Hauptsachen aber fehlen. Vom Kommunismus der Ehe, d. h.**** der einzelnen Familie, wie er seit undenklichen Zeiten in jeder Familie besteht, und vom Kommunismus aller solcher Familien, wie W. Weitling ihn, um zu überzeugen, in Theorie aufgestellt hat, besonders in seinem Werke „Garantien der Harmonie und Freiheit"!,] findet sich keine Spur in dieser absichtlich verhuntzten Er- [39] klärung des Wortes Kommunismus. 169 Keine Spur! Ich suche das Wort W. Weitling auf und finde „erhielt eine nothdürftige Bildung", etc. soll heißen: erhielt eine vielversprechende, in tiefster Armuth üppig wuchernde Gefühlsbildung. W. Weitling wird in diesem Conversationsberichte vom bezahlten Juden nach Amerika geführt(,) und hier mit der Bemerkung entlassen, „wo sein Name verschollen ist, noch ehe er gestorben["].'170 Das geht denn doch über alle Erwartung.
** „ökonomische" — nachträglich *** „oder zu nennen beliebt" — nachträglich **** „der Ehe, d. h." — nachträglich 168 Ebenda, Bd. 4, Leipzig 1865, S. 646 f£. 169 Gleich anderen englischen und französischen Arbeiterführern seiner Zeit demonstriert Weitling von Anbeginn seiner Agitation die Möglichkeit einer gütergemeinschaftlichen Organisation der Gesellschaft am Beispiel der häuslichen Familie und nannte sein Modell einer funktionierenden kommunistischen Gemeinschaftsordnung „Familienbund". Siehe Weitling, Menschheit, S. 224; ders., Garantien, S. 161, 164; BdK, Bd. 1, S. 216. 170 Der betreffende Artikel in der erwähnten Real-Encyclopädie, Bd. 15, S. 369, lautet: „Weitling (Wilh.), ein deutscher Communist, geb. 1808 zu Magdeburg, ging als Schneidergeselle, mit dürftiger Bildung ausgestattet, auf die Wanderschaft. In Paris trat er in communistische Verbindungen und empfing hier die Lehren, die er später auszubilden und zu verbreiten bemüht war. Er wandte sich von da in die Schweiz, wo er während einiger Jahre theils literarisch, theils zur Gründung und Ausdehnung communistischer Verbindungen unter deutschen Handwerkern sehr thätig war, bis er im Nov. 1843, als gerade der Druck seiner später zu Bern erschienenen Schrift ,Das Evangelium des armen Sünders' begonnen hatte, in Zürich verhaftet wurde. Die Untersuchung gegen W. gab Anlaß zu dem von Einseitigkeit und schiefer Auffassung keineswegs freien Berichte ,Die Communisten in der Schweiz nach den bei W. vorgefundenen Papieren' (Zür. 1849). Nach Beendigung des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens ward W. 1845 polizeilich über die Schweiz. Grenze geschafft. Er siedelte später nach Nordamerika über, wo er für seine Zwecke wieder thätig war, aber kein Aufsehen mehr erregte und, noch ehe er starb, verschollen war. Wie groß
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W. Weitling kommt gegen Ende von 1849 hier wieder an, findet hier die ganze revolutionäre Intelligenz brach liegend. Sie wollten Etwas, es war [40] nicht gelungen [,] und sie wußten weiter nichts. In sich selbst und allein fühlten sie sich keines neuen Versuchs fähig. Da lieh dem W. Jemand das Geld für die erste Nummer seiner „Republik der Arbeiter". Er lief selber herum, ein lebendiger Prospectus. In einigen Monaten war die ganze Stadt in Bewegung. Ueber 20 Gewerbe, englisch und deutsch hatten sich in einer Centralisation verbunden. Der Common Council der Stadt New York hatte ihnen den großen Saal im* Gebäude hinter City Hall überlassen, wo ihnen unter Kronenleuchtern und auf dickem Parkett** erlaubt war[,] gegen die Reichen zu donnern. [41] Und die hiesige „Arbeiter Union"?171 Ich habe neulich darüber genug Erfahrungen gesammelt. Die Mehrheit dieser ganzen Bande sind hochmüthige[,] aufgeblasene Schwarz Republikaner [,] welche freisinnig arbeiten [,] freundlich und unpartheiisch erscheinen möchten und die man nur durch die Presse vernichten kann. Sie selbst aber sind so klug[,] sich dazu die Waffen [,] die man „Eingesandt" nennt[,] sich nicht selbst in den Leib zu stoßen. Wenn sie merken[,] daß sie dem Geist der Eingesandt nicht widerstehen können [,] so nehmen sie dieselben nicht mehr auf, die Leser haben ja wenig Gelegenheit zu merken[,] daß es außerhalb Leute gibt, die auf die traurigen Versuche solcher Arbeiter Aufklärung nur ein Achselzucken zu entgegnen haben, da ihnen eine Besserung verwehrt wird. Die Dummen und Schlechten drängen die Besserunterrichteten [,] die Fähigem und Bessern so lange vom Platze als möglich. [42] Ende dieses Jahres wurde von Weitling nach Philadelphia ein Arbeiterkongreß berufen, zu welchen 20 Delegaten sich einfanden und deren Beschlüsse noch heute an die Spitze aller Vereinsbestrebungen gestellt werden könnten.172 Also wessen Agitation haben wir die erste Vereinigung von deutschen, irischen und englischen Arbeitern zu danken, von solcher Bedeutung [,] daß selbst der Common Council ihr den Saal dazu stellte? Weitlings Agitation. * Zuerst: „neben". ** In der Handschrift Carpet
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auch die doctrinären Verirrungen waren, in die W. mit den andern Genossen der communistischen Schule verfiel, so läßt sich doch nicht leugnen, daß er die ihm überlieferten Lehren mit eigentümlichem Geiste zu durchdringen und zu beleben wußte. Zu seinen Schriften, die in weiterem Kreise Aufsehen erregten, gehörten außer der schon genannten: .Garantien der Harmonie und Freiheit' (Vivis 1842) und ,Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte' (2. Aufl. Bern 1845)." Weitling meint hier vermutlich den deutschen Allgemeinen Arbeiterbund, der im Oktober 1865 entstand und die deutschen Arbeiter in New York vereinigte. Am 20. August 1867 entstand in Baltimore der amerikanische „Nationale Arbeiterbund", der amerikanische Arbeiter und ihre Gewerkschaften für den Kampf um den Achtstundentag vereinigte und dem Anfang 1869 der deutsche Allgemeine Arbeiterbund als Arbeiterbund No 5 der Stadt New York beitrat. Der Kongreß fand vom 22. bis 28.10.1850 statt. Siehe dazu Richtlinien des ersten deutschen Arbeiterkongresses, welcher am 22. Oktober 1850 in Philadelphia seine Sitzungen eröffnete und seine Arbeiten am 28. d. J. beendete, in: RdA, November 1850, S. 169 ff.; Hillquit, S. 152 ff.
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Wer hat den ersten hiesigen und überhaupt den ersten* Arbeiterkongreß berufen, für den $ 1 000 ausgesetzt wurde[n] und welcher über $ 600 kostete? W. Weitling. Und diese , beiden Punkte getraut man sich in deutschen Conversations-Lexicons zu verschweigen? Ist dieß nicht absichtliches, principienwidriges Todtschweigen? [43] Ich denke mir[,]es kommt von Erkältung, da ich oft Nachts aufstehen muß und dann meistens im Schweiß bin. Mein Augenlicht hat auch abgenommen. Ich kann nicht mehr gut ohne Brille lesen.173 * „und überhaupt den ersten" — nachträglich Unter Weitlings Text auf S. 43 steht folgende Notiz von unbekannter Hand geschrieben : „Charles Frederick Weitling was born January 7th 1864 between, 5 and 6 o clock at 107 Aven[ue] A. Caroline Johanna Henriette Weitling was [born] October 25th 1868 at 126 Norfolk St." (IML/ZPA, NL 149/2, Bl. 155).
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Harald Koth
Vorstellungen opportunistischer Kräfte in der deutschen Sozialdemokratie über den Weg zum Sozialismus (1898—1904)
Mit dem Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus, der sich um die Wende vom 19. zum 20. Jh. endgültig vollzog, wurde die erfolgreiche proletarische Revolution objektiv möglich.1 Der sozialistischen Bewegung war damit ein neues Kriterium jeglicher Tätigkeit entstanden.2 Das Zentrum der Parteiarbeit lag, wie schon im letzten Drittel des 19. Jh.,3 weiter in der Gewinnung und Schulung der Massen. Es galt aber, alle Fragen unter dem Gesichtspunkt der heranrückenden Revolution neu zu durchdenken. „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war um die Jahrhundertwende trotz der sich in ihr entwickelnden opportunistischen Strömung eine revolutionäre, gut organisierte Massenpartei mit einem marxistischen Programm und mit großem Einfluß in der internationalen Arbeiterbewegung."4 In ihr war das Bemühen, aus der sich verändernden Situation neue strategisch-taktische Schlußfolgerungen zu ziehen, relativ breit ausgeprägt.5 Die von August Bebel und Friedrich Engels Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre geäußerte Erwartung, das Jahr 1898 werde womöglich die sozialistische Revolution bringen,6 traf nicht ein. 1
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Vgl. Die internationale Arbeiterbewegung. Fragen der Geschichte und der Theorie, Bd. 3, Moskau 1982, S. 266. Vgl. Bartel, Horst/Laschitza, Annelies/Schmidt, Walter, Der Formierungsprozeß der Arbeiterklasse in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. Reform und Revolution im Ringen um die politisch-ideologische Konstituierung der Arbeiterklasse, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. 2, Berlin 1976, S. 641-662. Vgl. Herrmann, Ursula, Zum Wesen proletarischer Parteien im letzten Drittel des 19. Jh., in: BzG, 1977, 3, S. 369. Grundriß der deutschen Geschichte. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, Berlin 1979, S. 316. Vgl. Koth, Harald, Revolutionsauffassungen in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung 1898-1904/05, phil. Diss. B, Leipzig 1985 (MS). Vgl. Engels, Friedrich, [Über den Brüsseler Kongreß und die Lage in Europa], in: MEW, Bd. 22, S.243; Engels an Lafargue, 2.9.1891, ebenda, Bd. 38, S. 153; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 282f.; vgl. auch Schwab, Herbert, Gedanken zu Friedrich Engels' Voraussagen und Prognosen aus seinen letzten Jahren, in: BzG, 1987, 2, S. 233—242.
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Daraus erwuchsen vielfältige Überlegungen zur weiteren Ausgestaltung der sozialdemokratischen Politik, aus denen der revisionistische Vorstoß Eduard Bernsteins besonders hervortrat. Insofern verdeutlichten die Revisionisten zwar bestimmte Probleme und stellten sie provokativ heraus; sie förderten die Diskussion, aber sie verursachten sie nicht allein. Es ging den Revolutionären in den Auseinandersetzungen mit dem Revisionismus um die Verteidigung der angegriffenen Grundsätze des Marxismus sowie darum, die durch die eigene Analyse formulierten Fragen vorwärtsweisend zu beantworten. Sind in der marxistisch-leninistischen Historiographie Arbeiten zur sozialistischen Bewegung um die Jahrhundertwende schon nicht sehr zahlreich,7 so fehlen spezielle Studien über das Wirken der opportunistischen Kräfte nahezu gänzlich. Wie notwendig diese besonders auch zur Beantwortung der Frage sind, wieso die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie in einem relativ kurzen Zeitraum in eine reformistische Arbeiterpartei verwandelt werden konnte, unterstrich zum wiederholten Mal Horst Bartel.8 Er wies auch darauf hin, die unterschiedlichen Auffassungen der Opportunisten zu beachten. Die vorliegende Studie widmet sich diesem Problemkreis. Dabei werden die Auffassungen führender Vertreter der bürgerlichen Klassenlinie in der deutschen Sozialdemokratie an folgenden sechs Aufgabenstellungen bzw. Kriterien, die auf der Grundlage des Engelsschen Erbes 9 sowie der Konzeption Lenins10 erarbeitet wurden, gemessen: 1. Den Kernpunkt bildete die Frage der Hegemonie des Proletariats im demokratischen wie im sozialistischen Kampf. Die bestimmenden Fraktionen der Bourgeoisie waren nicht mehr nur konservativ, sondern direkt reaktionär geworden. Ohne führende Beteiligung der Arbeiterklasse war in den kapitalistischen Hauptländern keine grundlegende Umgestaltung mehr möglich.
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Vgl. Canis, Konrad, Der unmittelbare Übergang zum Imperialismus in Deutschland. Wandlungen in der Politik der herrschenden Klassen, in: ZfG, 1982, 10/11, S. 957. Vgl. Bartel, Horst, Zur Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jh., in: BzG, 1977, 2, S. 199 bis 218; ders., Marxismus und Opportunismus in der revolutionären deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jh. Theoretische Probleme und Forschungsfragen, in: ZfG, 1985, 12, S. 1067-1081. Vgl. Dlubek, Rolf /Merkel, Renate, Marx und Engels über die sozialistische und kommunistische Gesellschaft. Die Entwicklung der marxistischen Lehre von der kommunistischen Umgestaltung, Berlin 1981; DieckmannGötz, Die sozialistische Revolution. Theoriegeschichtlicher Abriß, Berlin 1985. Vgl. Die internationale Arbeiterbewegung. Fragen der Geschichte und der Theorie, Bd. 2, Moskau 1981, S. 652 ff.; Küttler, Wolf gang, Lenin über die Stellung des Proletariats in bürgerlich-demokratischen Revolutionen der Epoche des Imperialismus, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung, Lehrheft 5, Leipzig 1983, S. 30—46; ders., Proletariat und bürgerliche Revolution unter den Bedingungen des Imperialismus (Die Konzeption Lenins), in: Die proletarische Komponente in der bürgerlichen Revolution. Protokoll des IV. Internationalen Kolloquiums der Forschungsgruppe Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen des Interdisziplinären Zentrums für Vergleichende Revolutionsforschung (IZR) an der Karl-MarxUniversität Leipzig, Leipzig 1985, S. 106-137.
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2. Die proletarische Revolution w a r eine gesetzmäßige Bedingung des Übergangs zum Sozialismus. Das galt im weiten Sinn der Formationstransformation (soziale Revolution) wie im engen Sinn der politischen Machteroberung (politische Revolution). 11 Gerade weil nicht m e h r eine Ausbeuterklasse durch eine andere ersetzt werden sollte, m u ß t e das Erringen der zentralen politischen Machtpositionen zum ersten Akt der Revolution werden, der, wiederum bedingt durch den qualitativ neuen Charakter der Umwälzung, n u r als politische Revolution vor sich gehen konnte. Die Ziele der sozialen Revolution des Proletariats : Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung w a r e n n u r erreichbar, w e n n sich die Arbeiterklasse mittels einer politischen Revolution in den Besitz der politischen Macht setzte. 3. Die Vorstellungen über den Weg zur politischen Macht und deren Organisation als Diktatur des Proletariats h a r r t e n einer genaueren Bestimmung. Wichtig w a r zu erkennen, daß eiA Durchbrechen des Kreises der auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaftsformationen n u r durch die A n w e n d u n g revolutionärer, auch bewaffneter Gewalt zu erreichen w a r und daß das Proletariat den b ü r g e r lichen Staatsapparat zerbrechen mußte, u m seinen eigenen zu errichten. 4. Das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus, von Reform und Revolution galt es zu konkretisieren, wobei die Bedeutung der demokratischen Republik als Etappenziel beim Voranschreiten zum Sozialismus besonders zu berücksichtigen war. Die dem Kampf der Arbeiterklasse adäquaten Methoden und Waffen w a r e n noch nicht allseitig gesichtet, vor allem bezüglich des politischen Massenstreiks und bewaffneter Kampfaktionen lagen k a u m neuere E r f a h r u n g e n vor. Das Problem der revolutionären Situation, der Revolutionsherde bzw. -auslöser und der Weltrevolution stand zur weiteren Klärung, wobei das Verhältnis von Krieg u n d Revolution angesichts der vom Imperialismus ausgehenden Weltkriegsgefahr neu zu durchdenken w a r und verstärktes Engagement des Proletariats im Friedenskampf erforderte. 5. Näher m u ß t e sich dem subjektiven Faktor der historischen Entwicklung zugewandt werden. Dabei ging es u m „eine neue oder, besser gesagt, bisher n u r im Ansatz gelöste, aber noch nicht detailliert ausgeführte Aufgabenstellung". 1 2 Der Konzentrations- u n d Zentralisationsprozeß in der kapitalistischen Ökonomie bereitete wohl die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vor, er d u r f t e jedoch nicht im fatalistischen oder mechanisch-materialistischen Sinne fehlinterpretiert werden. Allein durch aktives und zu gegebener Zeit offensives Handeln der Volksmassen konnte der Kapitalismus ü b e r w u n d e n werden, w u r d e seine Ablösung möglich. 11
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Vgl. Lenin, W. I., Notizen eines Publizisten, in: Werke, Bd. 16, S. 201; Kalbe, Ernstgert, Aspekte einer vergleichenden Untersuchung des sozialistischen Revolutionszyklus, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung, Lehrheft 1, Leipzig 1982, S. 26-41; Kossok, Manfred, Vergleichende Analyse der bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit, ebenda, S. 7—25; ders./Markov, Walter, Zur Methodologie 'der vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit, in : Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500-1917, Berlin 1974, S. 1—28. Formationstheorie und Geschichte. Studien zur historischen Untersuchung von Gesellschaftsformationen im Werk von Marx, Engels und Lenin, Berlin 1978, S. 347.
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6. Friedrich Engels hatte 1895 herausgestellt: „Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Seele eintreten." 13 Das war nicht mehr vollständig durch die hergebrachten Methoden der Tätigkeit sozialdemokratischer Parteien zu lösen. Es ging darum, Agitation, Organisation und Kampf weniger als kausale — erst Aufklärung und Formierung, dann Aktion —, sondern mehr als Wechselbeziehung zu begreifen und die hohe Wertigkeit praktischer Kampferfahrungen für den Prozeß der Bewußtseinsbildung 14 stärker in das Kalkül zu ziehen. Zugleich stellte sich für die proletarische Vorhutorganisation die Aufgabe, den Massenkampf praktisch zu leiten bzw. führend in elementare Volksbewegungen einzugreifen, mit größerer Dringlichkeit. Es war für die führenden Funktionäre der deutschen Sozialdemokratie wichtig, diese Probleme weiter zu klären. Zugleich erwies sich das als außerordentlich kompliziert, da sich die Kampfbedingungen nicht sprunghaft änderten und sich die praktischen Aufgaben um die Jahrhundertwende zwar andersartig akzentuiert, aber noch nicht qualitativ neu stellten.
Eduard Bernstein Der in London am Pulsschlag des zwar parasitären, aber noch prosperierenden Weltkapitalismus wirkende Bernstein hatte schon 1893 erahnt, daß der Weg zur Revolution einen größeren Zeitabschnitt umfassen würde. 15 Er wandte sich verstärkt der Problemstellung zu, wie sich der proletarische Befreiungskampf weiter gestalten sollte. Als er am 29. Januar 1897 vor der Fabian Society einen Vortrag zum Thema „Was Marx wirklich lehrte" 16 hielt, wurde ihm bewußt, daß seine Antworten nicht zur Weiterentwicklung der Marxschen Theorie, sondern zu ihrem zumindest teilweisen Verwerfen führten. Die Revision des Marxismus, die Bernstein einleitete, war gefährlich, weil sie zwar grundsätzlich falsche, im Detail aber durchaus weiterführende Antworten auf heranreifende Fragen gab und die marxistisch geprägte Grundkonzeption der Partei in Frage stellte. Ansätze zur vollständigen Absage an die wissenschaftliche Theorie der Arbeiterklasse hatte Bernstein bereits in seiner Artikelserie „Probleme des Sozialismus" zu erkennen gegeben. Ein geschlossenes Bild seiner neuen Auffassungen ver-
" Engels, Friedrich, Einleitung [zu Karl Marx' „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" (1895)], in: MEW, Bd. 22, S. 523. K Vgl. Okun, Bernd, Marxistisch-leninistische Theorie und weltanschauliches Bewußtsein, in: DZfPh, 1983, 4, S. 416-427; Wittich, Dieter, Über soziale Erfahrung, Berlin 1983. 15 Vgl. Bernstein, Eduard, Die preußischen Landtagswahlen und die Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit, Stuttgart (im folg.: NZ), 1892/93, Bd. 2, S. 773 f. 16 Abgedruckt bei Hirsch, Helmut, Der „Fabier" Eduard Bernstein. Zur Entwicklungsgeschichte des evolutionären Sozialismus, Berlin (West)/Bonn—Bad Godesberg 1977, S. 121 ff.
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mittelte er konzeptionell in seiner Zuschrift an den Stuttgarter Parteitag und ausgearbeitet in seinen „Voraussetzungen des Sozialismus". 17 F ü r Bernstein w a r der Sozialismus nicht das Ziel des proletarischen Klassenkampfes, sondern die „große, alles umfassende K u l t u r f r a g e der vorgeschrittenen Länder", 1 8 die dem Proletariat als Erbe des Liberalismus zufalle. 19 Vor dieser Definition verschwand in der Tendenz das Problem der Hegemonie des Proletariats wie die Arbeiterklasse überhaupt, denn der selbstbewußte Bürger, v e r standen als Kulturmensch, nicht als Angehöriger einer Klasse, bringe den F o r t schritt voran. „Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesamt proletarisieren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgertum oder Bürgersein zu verallgemeinern." 2 0 In der Gegenwart sei jedoch klar, daß die bürgerlichen Klassen, w e n n auch ökonomisch wie moralisch noch „ziemlich gesund", 2 1 „überhaupt nicht m e h r revolutionär" auftraten, w ä h r e n d die Arbeiterklasse schon so stark wäre, daß sie „nach einer von ihr e r k ä m p f t e n siegreichen Erhebung" nicht in „kritisierender Opposition" v e r h a r r e n könne. Besonders in Deutschland w ä r e „am Tage nach einer Revolution eine andere als eine sozialdemokratische Regierung ein Ding der Unmöglichkeit". 22 Insofern präge das Proletariat die gegenwärtige Entwicklung, es hebe sich nicht erst in der kommunistischen Gesellschaftsformation, sondern tendenziell bereits jetzt als Klasse auf. Wenn Bernstein so die Grenzen zwischen bürgerlicher und proletarischer Bewegung verwischte und das Klassenwesen des Sozialismus auflöste, so beließ er dennoch f ü r die Gegenw a r t die Arbeiterklasse im Z e n t r u m aller Fortschrittskräfte. Nach Bernstein w a r die Marxsche Entwicklungsprognose in Ökonomie, Politik und Klassenentwicklung nicht n u r zeitlich verkürzt, sondern prinzipiell falsch. 23 Der Klassenkampf n ä h m e beständig mildere Formen an, die Voraussetzungen einer sofortigen und vollständigen proletarischen Machtergreifung seien nicht gegeben. Der Sozialismus könne also nicht durch einen Sprung, sondern n u r schrittweise verwirklicht werden. 24 Diesen Übergang bezeichnete Bernstein, damit die Revolution auch im weiten Sinne sachlich und verbal verwerfend, als „soziale Umgestaltung", 2 5 die er als „einen kontinuierlichen weltgeschichtlichen Werdeprozeß" 2 6 begriff. „Revolution", so definierte er, „wird hier und im folgenden ausschließlich in der politischen Bedeutung des Wortes gebraucht, als gleich-
17 ls 19 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Radczun, Günter, Zum Kampf Eduard Bernsteins gegen die marxistische Lehre vom Staat und von der proletarischen Revolution, in: BzG, 1966, 3, S. 446—460. Koigen, David, Die Kulturanschauung des Sozialismus. Ein Beitrag zum Wirklichkeitsidealismus. Mit einem Vorwort von Eduard Bernstein, Berlin 1903, S. X. Vgl. Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 129. Ebenda, S. 128. Vgl. auch ebenda, S. 144. Ebenda, S. 129. Ebenda, S. 34. Vgl. ebenda, S. V f. Vgl. ebenda, S. 102, 133 f., 165, 182 f. Ebenda, S. 87. Koigen, S. X.
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bedeutend mit Aufstand bzw. außergesetzlicher Gewalt."27 Solche Katastrophen würden zum Glück immer unwahrscheinlicher und seien auch gar nicht anzustreben, da „im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr f ü r dauernden Erfolg" liege.28 Das Voranschreiten vollziehe sich auf ökonomischem und politischem Gebiet, beides geschehe in engem Wechselspiel und nahezu parallel. 29 Damit verschwand die politische Machteroberung als Grundfrage der proletarischen Revolution. Überhaupt verbannte Bernstein revolutionäre Umwälzungen in vergangene, kulturlose Zeiten. Der Unterschied zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution bestehe nicht in der Ausbildung neuer Eigentumsverhältnisse in der alten Gesellschaft, das sei beiden gemeinsam, sondern lediglich darin, daß der Übergang zum Kapitalismus häufiger durch „politische Konvulsionen" unterbrochen gewesen wäre. 30 Bernstein hielt fest an der Vergesellschaftung der Produktionsmittel sowie an der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Beides könne nur schrittweise, graduell, entsprechend der ökonomischen Reife geschehen. Das sozialistische Eigentum ordnete er lediglich -als genossenschaftliches, nicht als gesamtgesellschaftliches ein.31 Zwischenschritte der politischen Machtergreifung stellten Koalitionen dar, sowohl die Beteiligung von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen 32 als auch die von bürgerlichen Vertretern an einem sozialistischen Kabinett. 33 Auf Bernsteins Wegweiser zum Sozialismus stand: „Erkämpfung der Demokratie f ü r die Arbeiterklasse", „Erweiterung der politischen und gewerblichen Rechte der deutschen Arbeiter". 34 Darum sollte unter Beibehaltung der existenten Rechtsinstitution Staat gerungen werden. Demokratie begriff er als klassenindifferente, „reine" Angelegenheit, als „Abwesenheit von Klassenherrschaft", als einen Gesellschaftszustand, in dem „keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesamtheit zusteht". 35 Die Diktatur des Proletariats sah er als überholt und nicht mehr zeitgemäß an.36 Die demokratische Republik, die in der Konzeption Bernsteins aufgrund des schrittweisen, kontinuierlichen Übergangs als Etappenziel zurücktrat, verschwand hinter dem Ausprägungsgrad dieser imaginären Demokratie, deren Form — Republik oder Monarchie — letztlich
Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 87. Ebenda, S. VII. 29 Vgl. ebenda, S. 30 f. 30 Ders., Klassenkampf-Dogma und Klassenkampf-Wirklichkeit, in: NZ, 1898/99, Bd. 2, S. 624 f. 51 Vgl. ders., Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, ebenda, 1897/98, Bd. 1, S. 555 f. ; ders., Kritisches Zwischenspiel, ebenda, S: 747 ; Vorwärts, Berlin, 8. 2.1898. 32 Vgl. Bernstein, Eduard, Paris und Mainz, in: Sozialistische Monatshefte, Berlin (im folgenden: SM), 1900, 11, S. 716. 33 Vgl. ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 34. 34 Ebenda, S. VII f. 15 Ebenda, S. 122. •1C Vgl. ebenda, S. 88, 127, 183. 27
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gleichgültig blieb.37 Die Sozialdemokratie müsse auf dem Weg der Reform planmäßig und mittels vielfältiger Kompromisse voranschreiten. Nur so könnten nachhaltige Erfolge erzielt werden, da die Reform der Revolution generell, besonders aber bei der „Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen" überlegen sei.38 Auf diese Weise könne die Arbeiterbewegung am besten Katastrophen vermeiden, aufgrund ihrer noch mangelnden Stärke sei sie jedoch nicht in der Lage, diese auszuschließen.39 In einem solchen Falle werde sie ihre Pflicht tun und nicht davon abstehen, „zu den äußersten Mitteln zu greifen"/'0 Bernstein betonte, daß er nicht die Möglichkeit von Katastrophen, ausgelöst durch die Herrschenden, bestreite, wohl aber die Anschauung, daß diese nahe bevorständen.41 Bernstein ging in seinen „Voraussetzungen" unter dem Punkt „Auswärtige Politik" auch kurz auf die Kriegsfrage ein. Er hob das Eintreten der Arbeiterklasse für den Frieden hervor, äußerte aber auch pazifistische Illusionen und trat für Vaterlandsverteidigung im bürgerlichen Sinne ein. „Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Heeres (gewachsener Arbeiteranteil — H. K.) und der völligen Ungewißheit über die moralische Wirkung der kleinkalibrigen Geschütze wird die Reichsregierung es sich zehnmal überlegen, ehe sie einen Krieg wagte, der die Sozialdemokratie zu entschiedenen Gegnern hat. Auch ohne den berühmten Generalstreik kann die Sozialdemokratie so ein sehr gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort für den Frieden sprechen ..." Im Konfliktfall trete sie für eine schiedsgerichtliche Lösung ein. „Aber nichts gebietet ihr, dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen."42 War es schon problematisch, in der Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Hauptmächten berechtigte „deutsche Interessen der Gegenwart" bedroht zu sehen, so zeigten Bernsteins Vorstellungen einer „sozialistischen" Kolonialpolitik43 schon deutlicher, wie weit gespannt er die „Wahrung deutscher Interessen" auffaßte. Praktisch hatte Bernstein zunächst wenig Neues vorzuschlagen. In der Politik betrachtete er das allgemeine Wahlrecht als den Kernpunkt und verlangte, die Sozialdemokratie sollte sich rückhaltlos, „auch in der Doktrin", auf diesen Boden stellen, „mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen", etwa einem Bündnis mit liberalen Kreisen.44 Neben der Propaganda in Wort 37
Vgl. ders., Sozialdemokratie und Imperialismus, in: SM, 1900, 5, S. 247; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 392; Das Neue Montagsblatt, Berlin, 5. 9.1904. 33 Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 182. 39 Vgl. ebenda, S. 164. 40 Ders., Kritisches Zwischenspiel, S. 749. 41 Vgl. Vorwärts, 13.10.1898; Bernstein, Eduard, Meine Stellung zur Resolution Bebels, in: NZ, 1899/1900, Bd. 2, S. 108. '•2 Ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 145 f. 43 Vgl. Hyrkkänen, Markku, Sozialistische Kolonialpolitik. Eduard Bernsteins Stellung zur Kolonialpolitik und zum Imperialismus 1882—1914, Helsinki 1986. 'A Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 127, 129, 139.
10 J a h r b u c h 38
146
Harald
Koth
und Schrift sei das Reichstagswahlrecht das wirksamste Kampfmittel der Arbeiterpartei, 45 wie es überhaupt alle „gesetzlichen Handhaben" auszunutzen gelte.46 Gewaltanwendung als planmäßige, durch die Gesetzgebung vollzogene, schloß er ein.47 Auf seine früheren Überlegungen bezüglich des politischen Massenstreiks48 deutete er nur beiläufig hin.49 Im ökonomischen Bereich verwies er auf stärkere Beachtung der Wirtschaftsgenossenschaften und der Gewerkschaften. Beide seien „das demokratische Element in der Industrie. Ihre Tendenz ist, den Absolutismus des Kapitalismus zu brechen und dem Arbeiter direkten Einfluß auf die Leitung der Industrie zu verschaffen."50 Im ganzen ging es Bernstein wohl um eine Akzentverschiebung bei der Begründung sozialdemokratischer Taktik, 51 kaum um neue Aktionsmethoden. 52 Als ihn im Frühsommer 1901 Julius Motteier nach den praktischen Konsequenzen seiner Darlegungen befragte, antwortete Bernstein: „Fortkämpfen wie bisher."53 Zunächst in allgemeiner Form, ohne sofortige praktische Nutzanwendung hatte Bernstein aber schon 1898/99 einige Ausgangspunkte bzw. Fragestellungen formuliert, die ihn ab 1902 zu weiterführenden taktischen Überlegungen kommen ließen. Bernstein unterstellte dem Marxismus mechanisch-materialistische Auffassungen. Solche bildeten auch, indem er die gesellschaftliche Entwicklung linear an den Reifegrad der Ökonomie band, einen Bestandteil seines Eklektizismus.54 Als er versuchte, anknüpfend an die Engelsschen Altersbriefe, 55 diese mehr eingebildeten als real vorhandenen Einseitigkeiten zu überwinden, landete er beim philosophischen Idealismus. So gewann er einen zwar falschen, aber für taktische Aufgabenstellungen nicht total untauglichen Denkansatz. Anfang Januar 1897, noch vor seinem Vortrag bei den Fabiern, hatte er geschrieben: „Wenn aber die Sozialdemokratie als Partei eine Aufgabe hat, so ist es die, den für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erforderten Zeitaufwand dadurch zu verkürzen, daß sie bewußtes, planmäßiges Handeln an die Stelle des blinden Wirkens rein mechanischer Kräfte setzen soll."56 1899 hieß es dann, hier objektive und subjektive Faktoren gleichsetzend: Die sozialistische Bewegung „ist, wie jeder weiß, eine doppelseitige: Eine solche der Dinge und eine solche der 45
Vgl. ebenda, S. 164. Ebenda, S. 87. " Vgl. ebenda, S. 183. 43 Vgl. (Seidel, Jutta) Internationale Stellung und internationale Beziehungen der deutschen Sozialdemokratie 1871-1895/96, Berlin 1982, S. 248 f.; Koth, Harald, Der subjektive Faktor in Theorie und Praxis bei Karl Kautsky und Eduard Bernstein (1890-1896), in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Bd. 16, Berlin 1984, S. 267 f. 49 Vgl. Vorwärts, 13.10.1898. 50 Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 121. 51 Vgl. ebenda, S. 141, 147, 150. 52 Vgl. Vorwärts, 6. 5.1899. Hier schlug Bernstein lediglich vor, als neues gewerkschaftliches Kampffeld gemischte, aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzte Lohnkomitees zu bilden. 53 Motteier an Grunwald, 3. 6.1901, in: IML/ZPA, NL 12/17. 54 Vgl. Tetzel, Manfred, Philosophie und Ökonomie oder Das Exempel Bernstein. Studie zur Geschichte des historischen Materialismus, Berlin 1984, S. 109 ff. 55 Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 4, 7. 56 Ders., Klassenkampf und Kompromiß, in: NZ, 1896/97, Bd. 1, S. 518. 46
Vorstellungen opportunistischer K r ä f t e
147
Menschen. Auf der einen Seite treiben Einrichtungen und Kräfte der gegebenen Gesellschaft durch die in ihrem Wesen liegende objektive Triebkraft selbst zu neuen Formen der Wirtschaft und der sozialen Ordnung, auf der anderen wirken und kämpfen Menschen unter dem Einfluß ihrer Klassenlage oder aus ideologischen Gründen für eine Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische."57 In diesem Sinne suchte er nach Methoden, um die .gewachsene Stärke der Sozialdemokratie in einen höheren, direkten Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung umzumünzen.58 Im Februar 1901 kehrte Bernstein aus dem Exil in das Deutsche Reich zurück. Einer seiner ersten öffentlichen Auftritte, eine Lektion am 17. Mai desselben Jahres im Sozialwissenschaftlichen Studentenverein in Berlin zum Thema „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?", machte ihm durch die beinahe allseitige Ablehnung, mit der seine Ausführungen aufgenommen wurden, deutlich, daß er seinen Platz in der deutschen Sozialdemokratie erst wieder finden mußte.59 Selbst Heinrich Braun befürchtete, daß durch diesen Vortrag, in dem Bernstein die Wissenschaftlichkeit des Marxismus geleugnet hatte, die Frage aufkomme, ob er unter diesen Umständen noch Sozialdemokrat sein könne.60 Die Resolution des Lübecker Parteitages, die ein Resultat dieser Vorgänge war, wies Bernsteins einseitige Kritik an der Partei zurück und forderte ihn auf, sich der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber mindestens ebenso kritisch zu verhalten. Bernstein enthielt sich beim Votieren der Stimme und erklärte, er werde der Resolution Achtung entgegenbringen.61 Dadurch wurde es ihm möglich, sich — mit knapper Mehrheit — in Breslau als Reichstagskandidat aufstellen zu lassen.62 Im März 1902 zog er als Abgeordneter in das Parlament des Deutschen Reiches ein. Von nun an erregte Bernstein in der deutschen Arbeiterpartei größeres Aufsehen nicht wegen theoretischer, sondern vielmehr wegen praktischer Vorstöße. Ende Mai 1902 sprach Bernstein in einer Volksversammlung des 1. Berliner Reichstagswahlkreises über die politischen Massenstreiks in Belgien sowie Schweden und das preußische Landtagswahlrecht. Mit einem ähnlichen Referat trat er um den 10. Juni im 4. Berliner Wahlkreis auf, in der Juniausgabe der Sozialistischen Monatshefte publizierte er einen entsprechenden Aufsatz. Damit •War eine kleine Sensation perfekt, die die Zeitgenossen nicht sofort zu deuten wußten. Der Begründer des Revisionismus, der die Konzeption eines friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus verfocht, erklärte sich für die mögliche Anwendung des politischen Massenstreiks als Kampfmittel zur Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts zum Landtag in Preußen bzw. als eventuelle Reaktion
57
Vorwärts, 3. 9.1899.
53
Vgl. ebenda, 13.10.1898.
59
Vgl. Fricke, Dieter, Zur Rückkehr Eduard Bernsteins in das Deutsche Reich 1901, in:
60
Vgl. Braun an Bernstein, 20. 5.1901, in: I M L / C P A , f. 204, op. 1, nr. 412.
61
Vgl. Protokoll
Z f G , 1974, 12, S. 1341 ff. über
die Verhandlungen
des Parteitages
der
Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands. Abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. September 1901, Berlin 1901, S. 187 f. 82
Vgl. höbe,
Paul,
Eduard Bernstein als Breslauer Abgeordneter, in: Hirsch,
„Fabier" Eduard Bernstein, S. 148 ff. 10'
Der
148
Harald Koth
der Arbeiterbewegung auf ein Attentat der Regierung zur Beseitigung des Reichstagswahlrechts. 0 " 1 Nun konnte viel gegen Bernsteins Ansichten eingewandt werden. 6 '' Er verstand den politischen Massenstreik als „eine potenzierte Form der politischen Demonstration", 6,> trennte ihn damit schematisch vom revolutionären Kampf, den es f ü r ihn ja gar nicht gab. Insofern betrachtete er den von A n f a n g an auf drei Tage begrenzten Massenausstand in Schweden (15. bis 17. Mai 1902) als m u s t e r gültig und hob den belgischen (14. bis 20. April 1902) deswegen lobend hervor, weil dieser abgebrochen wurde, als er in einen Straßenkampf hinüberzuwachsen drohte. Entsprechend seiner Grundkonzeption der sozialen Umwälzung w a r der Generalstreik f ü r ihn ein Mittel zur Eroberung der Demokratie, lehnte er es ab, ihn als Methode zum Überschreiten des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft auch n u r in Erwägung zu ziehen. Hinzu k a m noch, daß er trotz des Einsatzes von Militär gegen die Streikenden in Belgien mit dem „Kinderglauben" Schluß machen wollte, wonach die Regierungen immer und sofort auf das Volk schössen. Angesichts einer großen und allgemeinen Volksbewegung vergehe auch den Scharfmachern die Neigung zum Blutbad. Die opportunistische Kompromißpolitik der maßgeblichen Funktionäre der belgischen Arbeiterpartei fand in ihm einen lebhaften Verteidiger. Allerdings verdienen obige Auffassungen nicht n u r negative Wertungen. Bernstein griff offenbar seine Vorstellungen von 1893/94 in der Massenstreikund Landtagswahlrechtsproblematik wieder auf, diesmal freilich unter opportunistischem Vorzeichen, und verband sie miteinander. Erstens war damit ein neues außerparlamentarisches K a m p f m i t t e l gewonnen. Der Massenstreik „ist selbstverständlich kein Allheilmittel, könne aber eine wirksame Demonstrationswaffe sein, eine wirksamere, als alle Versammlungen und Reden es bisher gewesen wären!" 6 6 Zweitens erging sich Bernstein nicht n u r in theoretischen Erwägungen darüber, er bezog diese neue Methode in die in Deutschland anstehenden Aufgaben ein, u m deren Lösung weiter voranzutreiben. Drittens ü b e r wand er hier die verbreitete Vorstellung, m a n könne erst dann agieren, nachdem genügend agitiert und organisiert worden sei. Viertens h a t t e die Beschränkung des Massenstreiks auf den demokratischen Kampf die positive Kehrseite, daß dadurch eine Lücke, die etwa in Kautskys oder Parvus' Identifizierung von Massenausstand und Revolution klaffte, etwas verkleinert werden konnte. F ü n f tens schließlich ließ Bernstein trotz seiner Unwahrscheinlichkeitserklärung die Tür f ü r aus dem politischen Massenstreik erwachsende größere K ä m p f e noch ein Stück offen. Daß Bernstein bei allem weiter Opportunist blieb, d a f ü r b e d u r f t e es eigentlich keines neuerlichen Beweises. Er erbrachte ihn in den Besprechungen von K a u t s kys „Sozialer Revolution", diese als tendenziöses, unwissenschaftliches Mach-
63
Vgl. Vorwärts, 29.5. und 12.6.1902; Bernstein, Eduard, Der Kampf in Belgien und der politische Massenstreik, in: SM, 1902, 6, S. 413 ff. G '' Vgl. Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in Deutschland, Bd. 1, 2. Hbd., Berlin 1969, S. 363 f. Hier werden allein Einwendungen gebracht. 6 ' Bernstein, Der Kampf in Belgien und der politische Massenstreik, S. 415. 66 Vorwärts, 29. 5.1902.
Vorstellungen opportunistischer Kräfte
149
werk verwerfend. 6 7 Allerdings verteidigte er — und hier bewies er gewachsene taktische Geschicklichkeit — Kautsky gegen den in der bürgerlichen Presse erhobenen Vorwurf des Hoch- und Landesverrats. 68 Das Thema des preußischen Wahlrechtskampfes ließ Bernstein nicht mehr los. Bereits in der Rezension von Kautskys Revolutionsschrift hatte er weitere Überlegungen angekündigt. Er ging davon aus, daß Deutschland in den Auseinandersetzungen um den Zolltarif und das allgemeine Wahlrecht in Preußen einem „entscheidenden Wendepunkt" zusteure, an dem sich entscheide, ob die Entwicklung auf eine Katastrophe hinauslaufe oder nicht. Letztlich ließ er diese Frage offen, auch in den Folgeartikeln, in denen er die Verbindung von Wahlrechts- und zollpolitischen Kämpfen forderte, die gleichermaßen vorwiegend gegen die Junker gerichtet sein sollten. 69 Klar verwies er darauf, daß der Schwerpunkt des Ringens außerhalb des Parlaments und der bloßen Wahlagitation liegen müsse. 70 Den politischen Massenstreik erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht, der nächste Höhepunkt seien die Reichstagswahlen 1903. Nach dem 16. Juni, dem Wahltag, trat Bernstein mit einer konkreten Schlußfolgerung auf: Wahrnehmung der Vizepräsidentschaft im Reichstag. 71 Auf dem Dresdener Parteitag erhielt er d a f ü r eine gründliche Abfuhr. Aber seine Verteidigungsrede beinhaltete auch tragfähigere Positionen. Wie Parvus stellte er die Frage, was die Sozialdemokratie denn unternehmen wolle, wenn das allgemeine Wahlrecht angetastet werden sollte. Kautskys Empfehlung, sich rein defensiv zu verhalten, sei Opportunismus; Bebel sehe die Sache zu rosig. Auf die Frage, ob in einer solchen Situation reine Versammlungsproteste helfen könnten, antwortete Bernstein selbst: „Nein, dann muß man zu anderen Formen der Demonstration greifen, die eine wirksamere Sprache sprechen. Wir haben gar keinen Grund, von vornherein und absolut den politischen Streik zu verwerfen. Wir haben vielmehr alle Ursachen, ihn zu studieren." 72 1904 propagierte Bernstein diesen Gedanken weiter. 73 Für die internationale Diskussion ließ er sogar die Erwägung zu, daß der Massenstreik Vorspiel von Straßen- und Barrikadenkämpfen sein könnte, 74 f ü r Deutschland schloß er einen solchen Gang der Dinge allerdings aus. „Der Barrikadenkampf ist überlebt, unser einziges Mittel ist der politische Massenstreik." 75 In Bremen unterstützte 67
68 69
70 71
72 73
74
73
Vgl. Bernstein, Eduard, Die neueste Prognose der sozialen Revolution, in: SM, 1902, 8; Dokumente des Sozialismus, Bd. 1, Berlin, 1902, 11. Vgl. Vorwärts, 3. und 5. 8.1902. Vgl. Bernstein, Eduard, Der Kampf um die Zollpolitik im Reich und das Dreiklassenwahlsystem in Preußen, in: SM, 1902, 9, S. 660. Vgl. Vorwärts, 9. 9.1902. Vgl. Bernstein, Eduard, Was folgt aus dem Ergebnis der Reichstags wählen?, in: SM, 1903, 7, S. 478 ff. Protokoll..., Dresden, S. 394 f. Vgl. Vorwärts, 22.4.1904; Bernstein, Eduard, Vom Wert dels Parlamentarismus, in: SM, 1904, 6, S. 423 ff. Vgl. ders., Der internationale Kongreß in Amsterdam und die sozialistische Taktik, ebenda, 8, S. 594. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Bremen vom 18. bis 24. September 1904, Berlin 1904, S. 193. Vgl. Vorwärts, 15.11.1904.
150
Harald Koth
er den Antrag Karl Liebknechts, auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages den politischen Streik zu setzen. Es sei notwendig, sich über diese Frage klar zu werden und die deutschen Arbeiter damit vertraut zu machen, daß im Falle der Wahlrechtseinschränkung „stärkere Formen der Demonstration" gefragt wären. „Und wenn sie dann geschlagen werden, dann lieber mit Ehren unterliegen, als sich das Wahlrecht nehmen zu lassen ohne irgend einen Versuch des Widerstandes."76 Als im Dezember 1904 der erste Parteitag der preußischen Sozialdemokratie in Berlin zusammentrat, bildete das Landtagswahlrecht einen seiner Schwerpunkte. Bernstein war der Initiator eines Zusatzantrages zur Resolution Ledebours, der neben der Verschärfung einiger Formulierungen in seinem zweiten Absatz forderte, die Diskussion im preußischen Landtag über das Wahlrecht „in allen Großstädten und Industriezentren" zu beeinflussen durch „Massendemonstrationen größten Stils gegen die Klassenwahl". 77 Der Resolutionsentwurf hatte die Parteimitglieder lediglich zu unablässiger Agitation in Wort und Schrift aufgefordert. Die Diskussion zum zweiten Absatz des Bernsteinschen Amendements war heftig, um so mehr als bekannt war, daß im ursprünglichen Entwurf, der unter den Delegierten zirkuliert hatte, um unterstützende Unterschriften zu erlangen, nicht nur von Massen-, sondern von Straßendemonstrationen die Rede war. Bernstein hatte diese Veränderung auf Wunsch einiger Mitunterzeichner vorgenommen. Revolutionäre (Ledebour, Zubeil) wie Opportunisten (Adler — Kiel) bekämpften, Revolutionäre (Liebknecht, Hoffmann — Bielefeld) wie Opportunisten (Loebe) unterstützten den Zusatzantrag. Bernstein unterstrich, daß es darum gehe, eine kräftige Agitation einzuleiten, denn es könnten Situationen entstehen, „wo man Widerstand in irgendeiner Weise versuchen muß, auf die Gefahr hin, ja selbst mit dem Bewußtsein zu unterliegen. Auch Niederlagen bringen Volkssiege."78 Sehr groß sei das Risiko jedoch nicht, da es niemand wagen werde, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Karl Liebknecht hatte den ursprünglichen Entwurf mit unterzeichnet. Er fand ihn nicht gerade ideal, stimmte ihm jedoch ob seines Grundanliegens zu, „nämlich: es muß etwas geschehen, es darf nicht in der behaglichen und gemütlichen Form weiter gehen". Die Straßendemonstration sei „ein neuer Gedanke, der in unsere Bewegung hineingeworfen wird. Parteigenossen! Es ist ein glücklicher G e d a n k e ! . . . Unsere Partei ist gewissermaßen verrostet in ihrer Taktik." 79 In seinem Diskussionsbeitrag ging Liebknecht in zwei Punkten über Bernstein hinaus. Einmal berührte er kurz den Generalstreik, der hinter der Straßendemonstration stehen müsse. Zum anderen machte er es der Partei zur Pflicht, „eine größere revolutionäre Beweglichkeit in das V o l k " hineinzutragen und dazu eine Taktik der „unbegrenzten Möglichkeiten" zu entwickeln. Die Differenz zwischen Bernstein und Liebknecht war deutlich, sie wurde durch kommentierende Aufsätze noch krasser. Der Revisionist betrachtete Straßen-
75
Protokoll...
77
Protokoll
Bremen, S. 194.
über die Verhandlungen
des Parteitages
der Sozialdemokratischen
Partei
Preußens. Abgehalten zu Berlin vom 28. bis 31. Dezember 1904, Berlin 1905, S. 129. 73
Ebenda, S. 111.
79
Ebenda, S. 112 f.
Vorstellungen opportunistischer Kräfte
151
demonstration und politische Massenstreiks als „streng friedliche" Mittel, die das Proletariat als äußerste, schärfste Waffe parat haben müsse, um das allgemeine Wahlrecht als „wirksamsten Faktor" der „schrittweise durchzuführenden organischen Reform" zu sichern bzw. auszudehnen. Eine heftige Gegenattacke schloß er, anders als noch 1902, gänzlich aus, da der friedliche Charakter der proletarischen Aktion tiefe Widersprüche innerhalb der herrschenden Klassen über die wirkungsvollste Art der Reaktion hervorriefe. Lediglich einige Opfer und Schrammen, wie im ökonomischen Kampf alltäglich, werde es kosten.80 Für den Revolutionär, der hier keine weiteren Betrachtungen publizierte, war klar, daß mit dem Massenausstand nicht der Endpunkt zur Bewahrung bzw. zum weiteren Funktionieren einer reformistischen Strategie, sondern ein Ausgangsresp. Durchgangspunkt einer revolutionären Konzeption gewonnen werden sollte. Die Hoffnung des sich gerade zum Anarchosyndikalisten mausernden Robert Michels, das Zusammentreffen der extremen Rechten und der extremen Linken werde die Partei aus ihrer politischen Erstarrung lösen,81 entbehrte jeder Grundlage. Die Bewegung allein, ohne marxistische theoretische Grundlage, ohne ein präzises, den bürgerlichen Rahmen sprengendes Ziel, tat es nicht. Allerdings waren die Vorschläge Bernsteins geeignet, den demokratischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie zu befruchten, und hier waren Aktionsabkommen zwischen den sich grundsätzlich unterscheidenden, aber in Einzelfragen übereinstimmenden revolutionären und opportunistischen Kräften durchaus denkbar. Karl Liebknecht hatte das auf dem preußischen Parteitag beispielhaft demonstriert. Dennoch fand nur der erste Absatz des Bernsteinschen Zusatzantrages die Billigung der Delegierten, der zweite Teil, der die neuen Gedanken enthielt, wurde abgelehnt.82 Straßendemonstrationen, Massenstreiks und Vizepräsidentschaft waren nicht die einzigen Bereiche, in denen Bernstein die Tätigkeit der deutschen Arbeiterpartei zu bereichern suchte. Nach den Debatten im Reichstag um die Zollpolitik v/arf er das Problem auf, ob die parlamentarische Obstruktion nicht hätte angewandt werden können.83 Am armenischen wie mazedonischen Beispiel wollte er Stellungnahmen der Partei zur nationalen Frage anregen.84 Von den russischen Freiheitskämpfern gelte es, Begeisterung und Opfermut zu lernen.85 Bernstein wurde einer der Begründer der Arbeiterjugendbewegung in Berlin.86 Im Umfeld des Amsterdamer Kongresses erwog er eine internationale Aktion zugunsten des Freihandels. 87
80
31
82 83
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85 86 37
Vgl. Bernstein, Eduard, Ist der politische Streik in Deutschland möglich?, in: SM, 1905,1 ; ders., Nach dem Preußentag, ebenda, 2. Vgl. Michels, Robert, Le congrès des socialistes de Prusse à Berlin, in : Le Mouvement Socialiste, Paris, 1905, 149, S. 250. Vgl. Protokoll... Berlin, S. 119. Vgl. Bernstein, Eduard, Die Bilanz des Kampfes gegen den neuen Zolltarif, in: SM, 1903,1, S. 37. Vgl. ders., Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas, Berlin 1902, S. 39 f.; Vorwärts, 28. 2.1903. Vgl. Vorwärts, 7. 3.1903. Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung 1904—1945, Berlin 1973, S. 37. Vgl. Das Neue Montagsblatt, 15. 8.1904.
152
Harald Koth
Bernstein hatte erkannt, daß die sich beträchtlich ändernden Kampfbedingungen neue Fragen aufwarfen, und er bemühte sich um deren Beantwortung. Sein reformistisches Grundkonzept war ziemlich konsequent entwickelt, indem er zu dieser Zeit einkalkulierte, daß die Herrschenden der parlamentarischen Entwicklung nicht mit verschränkten Armen zuschauen würden. In der Tat ging die Berliner Politische Polizei Ende 1902 davon aus, daß die Parteitage der deutschen Sozialdemokratie von Lübeck und München sowie ihr kämpferisches Auftreten im Reichstag bewiesen hätten, daß mit einer „Mauserung" der Partei oder gar ihrem Zerfall nicht zu rechnen sei.88 Nach den Reichstagswahlen vom Juni 1903 wurde in offiziösen Kreisen vernehmbar darüber nachgedacht, ob es nicht zweckmäßig sei, das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen.89 Ein Reformist, der es ernst meinte, mußte im Deutschen Kaiserreich einplanen, daß er eines Tages in die Lage versetzt sein konnte, den Parlamentarismus mit außerparlamentarischen Mitteln verteidigen zu müssen. Bernstein rechnete mit diesem Fall, auch wenn er ihn für sehr unwahrscheinlich erklärte. Die strategische Linie des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus, die Bernstein verfolgte, war der deutschen Arbeiterbewegung schon bekannt. Seine taktischen Vorschläge aber waren, von opportunistischer Seite her vorgebracht, neu, weiterführend und nicht nur auf den parlamentarischen Rahmen bezogen. Auf diesem Gebiet degradierte das (theoretische) Haupt des Revisionismus die Arbeiterklasse nicht „zum kontemplativen, passiven Teilhaber der evolutionären Entwicklung"90, sondern entwickelte einen ausgesprochen reformistischen Aktivismus: Dem Bernsteinschen Revisionismus war von Anfang an eine praktische Seite eigen, die wenigstens zwischen 1902 und 1904 sogar das Übergewicht erlangen konnte. Bürgerliche Autoren setzten den Aktivismus der sich formierenden Linken gegenüber dem Bernsteins zurück, da nur letzterer eine den Realitäten entsprechende Politik vorgeschlagen habe.91 Sie negieren den grundlegenden Unter88 89
80 91
Vgl. StAP, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C Polizeipräsidium, Nr. 13091, Bl. 13. Durch die sozialdemokratische Presse ging im Spätsommer 1903 das Stichwort „Giesebrechterei". Ein Dr. Giesebrecht verschickte vornehmlich im Rheinland Rundsdireiben an ausgewählte Personen, ¡um Unterschriften mit dem Ziel zu sammeln, in der nächsten Reichstagssession anläßlich der Beratung der Diätenfrage eine Verschlechterung des allgemeinen Wahlrechts zu erlangen. Der Vorwärts veröffentlichte am 1. August im Leitartikel eines dieser Zirkulare. Am 20. Aügust wies er Verbindungen Giesebrechts bis in preußische Regierungskreise nach und stellte heraus, daß seine Enthüllungen, die offenbar auf vertraulichen Informationen beruhten, bislang noch nicht dementiert waren. Vgl. auch Fesser, Gerd, Von der „Zuchthausvorlage" zum Reichsvereinsgesetz. Staatsorgane, bürgerliche Parteien und Vereinsgesetzgebung im Deutschen Reich 1899-1906, in: JbG, Bd. 28, 1983, S. 107-132. Vgl. Tetzel, Philosophie und Ökonomie, S. 121. Vgl. Bernstein, Eduard, Texte zum Revisionismus, hrsg. von Horst Heimann, B o n n Bad Godesberg 1977, S. 54; Meyer, Thomas, Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Berlin (West)/Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 386. Weniger aufdringlich bei Groh, Dieter, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M./Berlin (West)/Wien 1973, S. 75; Steinberg, HansJosef, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem
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schied, daß Bernsteins Auffassung nicht geeignet war, die Grenzen des Kapitalismus zu überwinden, eben nur ein reformistischer und kein revolutionärer Aktivismus war. Mit ihm konnte höchstens auf dem ersten Teilstück des Weges zum Sozialismus zusammengearbeitet werden. Das Suchen nach deutschen Sozialisten, die den Bernsteinschen Intentionen folgten, blieb wenig ergiebig und ließ in allen Fällen offen, wie weit sie bereit waren, mit ihm zu gehen. Der Bernsteinschen Linie schienen Heinrich Braun 92 , Max Quark93 und Johannes Timm94 zu folgen. Namhafte Vertreter des Opportunismus in der internationalen sozialistischen Bewegung entfalteten einen vielleicht noch weiter gefaßten reformistischen Aktivismus, der im Parti socialiste français sowie im Parti ouvrier belge, personifiziert in Jean Jaurès und Émile Vandervelde, sogar klar dominierte. Vom Prinzip her stimmten beide hier mit Bernstein überein, von dem sie sich in der Theorie dadurch unterschieden, daß sie ausdrücklich am sozialistischen Endziel festhielten und den Revolutionsbegriff im weiten Sinne mit ihrem Konzept der „Revolution durch Evolution" weiter anwendeten.95 Der italienische Reformist Filippo Turati kann, was seine sachlichen Aktivitäten vorwiegend auf politischem Gebiet betrifft, hier gleichermaßen eingeordnet werden,96 auch wenn er, anders als Jaurès und Vandervelde und noch entschiedener als Bernstein, jeden Berührungspunkt zwischen den Konzeptionen der Evolution und der Revolution in Abrede stellte. Ein Mittelding gebe es nicht, die Partei müsse auswählen.97
Georg von Vollmar, Ignatz Auer, Eduard David „Wir wollen", so legte der Führer der bayrischen Sozialdemokratie Georg von Vollmar auf dem Stuttgarter Parteitag dar, „die Macht nicht durch künstliche Mittel, sondern durch innere Notwendigkeit gewinnen, die allein Unwiderstehlichkeit und sicheren Erfolg verbürgt, — dann, wenn vor allem die ökonomischen Bedingungen gegeben sind. Und wir wollen . . . die Macht dem Volke nicht ablisten noch abzwingen, sondern mit seinem eigenen Willen soll sie uns zufallen."98 1901 erläuterte er: „Denn das unaufhaltsame Aufsteigen der Arbeiterschaft, das
1)2 93 91 95 98
97
33
I. Weltkrieg, Berlin (West)/Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 106; Walther, Rudolf, „ . . . aber nach der Sündflut kommen wir und nur wir". „Zusammenbruchstheorie", Marxismus und politisches Defizit in der SPD 1890—1914, Frankfurt a. M./Berlin (West)/Wien 1981, S. 152, 216. Vgl. Die Neue Gesellschaft, Berlin, 1903, 1. Vgl. Volksstimme, Frankfurt a. M., 9. 9.1904. Vgl. Protokoll... Dresden, S. 362. Vgl. Koth, Revolutionsauffassungen, S. 159 ff., 174 ff. Vgl. Anickaja, T. V., Ital'janskij reformizm v nacale X X v., in: Problemy ital'janskoj istorii 1978, Moskau 1978, S. 118 f. Vgl. Turati, Filippo, Lehren und Folgen des Generalstreiks in Italien, in: SM, 1904, II, S. 868 f. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S. 106.
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unserer Zeit sein Gepräge gibt, vermag keine Gewalt zu hindern, und die Arbeiterklasse wird doch früher oder später in den Besitz der Macht gelangen."99 Durch das Gewinnen der Wählermehrheit, durch die Übernahme aller aus der politischen und parlamentarischen Lage sich ergebenden Verantwortlichkeiten und durch die positiv-gestaltende, reformierende Mitarbeit „an den großen nationalen Kulturaufgaben" erhalte die Sozialdemokratie den entscheidenden Anteil an der vollziehenden Gewalt.100 Das Problem eventuellen gewaltsamen Widerstandes der Regierung griff Vollmar nur unwillig auf, es sogleich mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit, den Gang der Entwicklung in Deutschland vorauszusehen, und in der Überzeugung für gegenstandslos erklärend, die Sozialdemokratie werde dann schon, wenn ein solcher Fall eintreten sollte, ihre Gewaltmittel finden.101 Als einzige konkrete Maßnahme hatte Vollmar die Wahrnehmung der Vizepräsidentschaft im Reichstag zu bieten. Wenn der Führer der bayrischen Sozialdemokraten Wert darauf legte zu unterstreichen, daß es ihm nie eingefallen sei, Bernstein zuzujubeln, sondern daß er sehr viel an dessen Anschauung auszusetzen habe,102 dann betraf das nicht die gemeinsame Grundposition des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus. Beide wichen im taktischen Vorgehen voneinander ab. Vollmar'lehnte den politischen Massenstreik generell ab ;103 er mißbilligte auch die Art, in der Bernstein die Vizepräsidentschaft zur Sprache gebracht hatte.104 Hinter beidem stand die unterschiedliche Auffassung über die Rolle der Gegenwartsarbeit: reformistischer Aktivismus einerseits, rein gesetzlicher Parlamentarismus andererseits. Letzteres galt am Anfang des 20. Jh. auch für Ignatz Auer.105 Der langjährige Sekretär des Parteivorstandes trat zwar relativ selten öffentlich auf, vermochte es jedoch durch seine Funktion, den Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie beträchtlich zu fördern. Er stimmte dem Revisionismus schon frühzeitig zu. Praktisch, so schrieb er Bernstein am 18. Februar 1898, sei er durch eigene Überlegungen schon lange zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt. Niemand in der Partei glaube mehr an den großen Kladderadatsch, alle seien für das Hineinwachsen in den Zukunftsstaat. Allerdings halte er es für die Partei für nicht opportun, alte und dadurch geheiligte Irrtümer öffentlich einzugestehen.106
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Vollmar, Georg von, Die Sozialpolitik in Deutschland und Frankreich. Ein Vortrag, Dresden 1901, S. 18. 100 Vgl. ders., Lehren und Folgen der letzten Reichstagswahlen, München 1903, S. 16 f., 24 f. 101 Vgl. ders., Die innerpolitischen Zustände des Deutschen Reiches und die Sozialdemokratie, München (1903), S. 19 f.; Arbeiter-Zeitung, Wien, 1.1.1905. 102 Ygi Protokoll ... Dresden, S. 340; Vollmar an Bernstein, 28.10.1899, zit. bei Schröder, Hans-Christoph, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem und der „Weltpolitik", Teil 1, Hannover 1968, S. 188. 103 vgl. Vollmar, Georg von, Reden und Schriften zur Reformpolitik, hrsg. von Willy Albrecht, Berlin (West)/Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 147 f. m Vgl. ders., Lehren und Folgen der letzten Reichstagswahlen, S. 17 f. 10 ' Vgl. Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 112 ff. 108 IML/CPA, f. 204, op. 1, nr. 141.
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Auer, dessen politischer Lebensweg nach wie vor ein offenes Forsctoungsproblem ist, trat f ü r den parlamentarischen Weg zum Sozialismus ein, den die deutsche Arbeiterpartei bereits erfolgreich beschreite. Ihre Wahlerfolge, so legte er selbstgefällig den Delegierten des Dresdener Parteitages dar, seien mustergültig f ü r die Sozialdemokratie der ganzen Welt. Bei der Behandlung von Kulturfragen habe die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bereits im Parlament die Führung übernommen — „und alles dies", hielt er den Revolutionären demagogisch entgegen, „soll nichts sein?" Eine Partei, die seit dem 16. Juni 1903 über mehr als drei Millionen Wähler verfüge, sei gesund. 107 Sie bedürfe auch keiner neuen Waffen. „Generalstreik ist Generalunsinn." 108 Zunächst hatte Auer Bernstein noch freundschaftlich geraten: „Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man." Zugleich hielt er dem Bernsteinschen Vorstoß entgegen: „Speziell seitens der maßgebenden Parteikreise so zu handeln, wie Du es verlangst, hieße einfach die Partei sprengen, jahrzehntelange Arbeit in den Wind streuen." 109 Da sich Bernstein nicht an diesen Hinweis hielt, trat ihm Auer 1903 auch öffentlich entgegen: Bernstein haue mit geradezu wunderbarer Tapprigkeit immer daneben. Unter seiner Führung wüchsen die Bäume des Revisionismus nicht in den Himmel. 110 Auf diese an Fatalismus grenzende Haltung Auers hatte schon Parvus aufmerksam gemacht: „ . . . was werden soll, das wird, und wie es wird, davon wissen wir sehr wenig. . . . Wir kommen schon zeitig genug an, wenn nicht viel zu früh. Rechnen wir mit den Verhältnissen, gehen wir nicht gewaltsam vor." 111 Zum wohl eifrigsten Verteidiger Bernsteins schwang sich 1898/99 Eduard David auf. Der führende hessische Sozialdemokrat und eifrige Propagandist des Opportunismus erklärte auf dem Hannoveraner Parteitag: „Ich gehöre zu denen, die Bernstein in seinen wesentlichen Anschauungen zustimmen. Ich habe den Mut, das zu sagen, auch nach dem Referate Bebels." 112 Besonders schätzte er an Bernsteins Bestreben, „eine höhere prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit" zu erreichen. Wie dieser stellte er die ökonomische und die politische Machteroberung relativ gleichwertig nebeneinander und betonte die gleichberechtigte Dreieinigkeit von Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften. 113 David widmete sich besonders der Agrarfrage. 1903 legte er das entsprechende Hauptwerk des Revisionismus vor.114 Das war sein Beitrag zur „Bereicherung" der reformisti107
Protokoll... Dresden, S. 366 ff. Geflügeltes Wort der Opportunisten in der deutschen Sozialdemokratie, das von Auer frühzeitig in der Auseinandersetzung mit anarchistischen Auffassungen geprägt worden war, jedoch linear auf den politischen Massenstreik übertragen wurde. m Auer an Bernstein, 13. 7.1899, in: Bernstein, Eduard, Ignatz Auer, Berlin 1907, S. 63. 110 vgl. Protokoll... Dresden, S. 366. 111 Parvus, Der Opportunismus in der Praxis. 4. Der Auersche Praktizismus, in: NZ, 1900/01, Bd. 2, S. 683. 112 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Hannover vom 9. bis 14. Oktober 1899, Berlin 1899, S. 127. Vgl. auch Protokoll... Stuttgart, S. 145. 113 Vgl. Protokoll... Hannover, S. 144. 114 Vgl. Müller, Eckhard, „Sozialismus und Landwirtschaft". Eduard David und der Agrarrevisionismus, in: JbG, Bd. 25,1982, S. 181-214.
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sehen Tätigkeit der Partei. Darüber hinaus maß er in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Gertrud dem Ausbau von Genossenschaften großen Wert bei.115 1904 wandte er sich in seiner dreiteiligen Artikelserie der „Eroberung der politischen Macht" speziell zu. David propagierte einen streng legalistischen, gewaltfreien parlamentarischen Weg. „Es gibt kein anderes und kein wirksameres Mittel gegen die Gewalt als die friedliche Revolutionierung der Köpfe, die Aufklärung und Gewinnung der entscheidenden Mehrheit des Volkes f ü r unsere Sache. . . . Aus unserer Minderheit eine ausschlaggebende Mehrheit zu machen, heißt auch den Kernpunkt der Frage naph der Eroberung der politischen Macht erledigen. . . . das Volk ist immer noch des Volkes schlimmster Feind; der Unverstand der Massen ist das einzig ernsthafte Hindernis auf der Bahn zur Ergreifung der politischen Macht." 116 Wenn die Herrschenden diese Entwicklung durch den Einsatz von Polizei und Armee abzubrechen suchten, „dann werden wir der Ungesetzlichkeit die Gesetzlichkeit entgegenstellen, der Gewalt mit Friedsamkeit begegnen". 117 Die Dortmunder Arbeiter-Zeitung kommentierte treffend: „Kann man die Selbstentmannung noch weiter treiben?" 118 Trotz seines Agrarbuches kann David wohl keine aktivistische Haltung zugesprochen werden. Er wandte sich eben nur diesem und dem bislang kaum erforschten Genossenschaftsgebiet zu, ging vorwiegend von einer durch den Parlamentarismus geprägten aufklärerischen Position aus und trat, anders als Bernstein, gegen jegliche Art von politischem Massenstreik und Gewaltanwendung seitens des Proletariats auf. Neben Vollmar, Auer und David, die eigentlich laufend im Gespräch waren, äußerten sich weitere Opportunisten der deutschen Sozialdemokratie zur Problematik des Weges zum Sozialismus. Ihre entsprechende Stellungnahmen erfolgten noch weniger systematisch, seltener und erlangten nicht mehr als den Rang einer Episode in der Diskussion der Partei. Schlaglichtartig wurden jedoch Grundpositionen sichtbar. Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Heine, der 1898 mit seiner „Kompensationspolitik" vorgeprellt war, hielt sich in der Folgezeit taktisch zurück. Er teilte voll den Standpunkt Vollmars und Auers bezüglich des friedlichen Hineinwachsens mittels des Parlamentarismus wie auch die Klagen über Bernsteins Ungeschicklichkeiten. 119 Den Gedanken, „daß man durch eine Revolution im Innern eines Staates die Gesellschaftsordnung umändern könnte", tat er als „Phantasterei" ab.120 Besonders wetterte er gegen den politischen Massenstreik, denn wer die gewaltsame Revolution vermeiden wolle, der dürfe auch den Generalstreik nicht propagieren oder anzuwenden versuchen. 121 115
Vgl. David an Bernstein, 19. 5.1899, in: IML/CPA, f. 204, op. 1, nr. 465. David, Eduard, Die Eroberung der politischen Macht, in: SM, 1904, 3, S. 204. 117 Ebenda, S. 206. 118 Zit. bei Müller, Eckhard, Zum politischen Wirken des Revisionisten Eduard David in der deutschen Sozialdemokratie, in: BzG, 1981, 4, S. 578. 119 Vgl. Heine an Loebe, 15. 6.1902, in: Kuczynski, Jürgen, Revisionisten unter sich, in: Die Weltbühne, Berlin 1984, 36, S. 1145; Protokoll... Stuttgart, S. 90, 130. ,2 ° Arbeiter-Zeitung, Wien, 22. 9.1902. )?1 Vgl. Vorwärts, 14.6.1902; Heine, Wolf gang, Die Bernstein-Frage und die politische Praxis der Sozialdemokratie, in: SM, 1899, 10, S. 489. 118
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Der badensische Sozialdemokrat Wilhelm Kolb stimmte Davids Ausführungen über die Eroberung der politischen Macht ausdrücklich zu.122 Weiterhin brachte er den praktischen Vorstoß der sozialdemokratischen Fraktion im Landtag Badens, die dem Landesbudget zugestimmt hatte, die Erwägungen über einen seiner Meinung nach möglichen sozialistischen Minister im Deutschen Reich123 und den Vorschlag, endlich die revolutionäre Theorie zugunsten der evolutionären Praxis fahrenzulassen, 124 in die Debatte ein. Aus den differierenden parlamentarischen Kräfteverhältnissen leitete er eine Absage an die proletarische Weltrevolution ab, denn es liege angesichts der unterschiedlich starken sozialdemokratischen Vertretungen klar auf der Hand, daß die Umwälzung nicht in allen Ländern zum gleichen Termin beginnen werde. 12 " Die hier geschilderten Positionen waren offenbar die am weitesten verbreiteten unter den deutschen Opportunisten. In diesem Sinne traten 1898, in einer Situation, von der Bruno Schoenlank meinte, daß noch nie so offen in Deutschland eine Verschlechterung des Reichstagswahlrechts gefordert worden wäre, Heinrich Peus und Carl Ulrich f ü r Ruhe und Ordnung in der Partei, f ü r ihr unbeirrtes Voranschreiten in bewährten Bahnen ein.126 Kurt Eisner verteidigte 1901 den Regierungseintritt Millerands als Grundlegung des parlamentarischen Weges zum Sozialismus bzw. zunächst zur politischen Macht.127 In den Sozialistischen Monatsheften begründete Anton Fendrich die Budgetzustimmung der badischen Landtagsfraktion mit der Ansicht, er glaube nicht an eine sprunghafte Entwicklung der Gesellschaft. 128 Der Leitartikel des Hamburger Echos vom 24. April 1902 sah die notwendige Umwälzung — anders als 1793, 1848 oder 1871 — kommen als mit gesetzlichen Mitteln zu verwirklichendes gemeinsames Vorhaben der verschiedenen Kräfte, die von den „modernen Ideen" geleitet werden. „Die Tatsache ist, daß wir nicht gegen den Willen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern n u r mit ihrer Zustimmung das durchsetzen können, was wir im Interesse der Arbeiter f ü r notwendig halten", das war der Leitspruch von A. Enders, dem Chefredakteur der Chemnitzer Volksstimme. 129 Karl Frohme ging aus von einem „Prozeß der Selbstvernichtung" des kapitalistischen Wirtschaftssystems, der erst zu durchlaufen sei, die Arbeiterklasse könne nicht eher als im Ergebnis dieser eisernen Entwicklung an die Macht gelangen. 130 Auf dem Amsterdamer Kongreß versuchte Robert Schmidt den „Weg des parlamentarischen Kampfes
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Vgl. Kolb, Wilhelm, Zur Frage des Generalstreiks, ebenda, 1904, 3, S. 210. Vgl. Protokoll... Dresden, S. 349. 124 Vgl. Kolb, Wilhelm, Theorie und Taktik, in: SM, 1903, 12, S. 902f£.; Vorwärts, 27.3. 1904. 12 > Vgl. Kolb, Theorie und Taktik, S. 908. 126 vgl. Protokoll... Stuttgart, S. 98,143 ff. 127 Vgl. Eisner, Kurt, Parlamentarismus und Ministerialismus, in: NZ, 1900/01, Bd. 2, S. 484 ff.; ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1919, S. 285 ff. 123 Vgl. Fendrich, Anton, Zur Frage der Budgetbewilligung, in: SM, 1901, 9, S. 659. 129 Arbeiter-Zeitung, Dortmund, 16.10.1903. 130 Vgl. Frohme, Karl, Monarchie oder Republik? Kulturgeschichtliche Streifzüge, Hamburg 1904, S. 321 f. 123
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wie der gewerkschaftlichen Organisation" als vorbildlich f ü r die internationale Arbeiterbewegung hinzustellen. 131 Für die hier genannten Opportunisten trifft zu: Sie stimmten mit Bernstein überein bezüglich des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus auf parlamentarischem Weg. Aber sie unterschieden sich von ihm, indem sie seinem reformistischen Aktivismus nicht folgten, sondern sich von den gegebenen parlamentarischen Möglichkeiten leiten ließen und diese als hinreichend f ü r die Entwicklung zum Sozialismus charakterisierten. Das hieß, sich weitgehend mit den gegebenen wahlrechtlichen Bestimmungen abzufinden, nur im parlamentarischen, gesetzlichen Rahmen vorzugehen, auch Gewalt mit Friedsamkeit beantworten zu wollen, dem breiten Bernsteinschen Forderungs- und Tätigkeitsspektrum lediglich Einzelvorschläge entgegensetzen zu können, die Wirksamkeit der Sozialdemokratie allein von Propaganda in Presse, Parlament und Versammlung zu erhoffen. Das war reformistischer Attentismus in Reinkultur. Bei aller reformistischer Begrenztheit entsprach Bernsteins Haltung doch in einem gewissen Grade den Erfordernissen der Praxis. So wurde es erklärlich, wenn im Umfeld des Dresdener Parteitages, obwohl die Tinte unter seiner Vizepräsidentschaftsepistel kaum getrocknet war, von einigen Regionalblättern, die das Problem des eventuellen Ausschlusses führender Opportunisten aus der Partei ventilierten, sein Name nicht genannt wurde. Hingegen kamen David, Heine, Vollmar, auch Dreesbach, Kolb und Auer in Vorschlag. 132 Was die internationale sozialistische Bewegung betrifft, kann wohl die These aufgestellt werden, daß die opportunistische Position eines Vollmar, Auer oder David im Vergleich zu der eines Jaurès oder Vandervelde relativ wenig verbreitet war. Sicher vertrat sie Alexandre Millerand. Er opponierte 1903 gegen Jaurès, indem er seinen „sozialistischen" Grundsatz reduzierte auf ein Bekenntnis zur gesetzlichen Reform. Streiks und erst recht Massenstreiks müßten im Interesse der Gesamtgesellschaft vermieden werden. 133 Nach der Niederlage des politischen Massenstreiks in den Niederlanden im April 1903 wurden in der holländischen Arbeiterbewegung die Stimmen von Henri von Kol und Willem Humbert Vliegen laut, die den Sozialismus allein als Konsequenz der ökonomischen Entwicklung deklarierten, die durch Eingriffe der Arbeiterbewegung nur gestört werden könne. 134 James Keir Hardie, der führende Funktionär der Independent Labour Party, erklärte es als die Aufgabe der Sozialisten, das Prinzip der Brüderlichkeit zu verbreiten, die öffentliche Meinung zu gewinnen. Auf diese Weise sollte die „Verantwortlichkeit der Staatslenkung" schrittweise übernommen werden. 135 Der einflußreiche Führer der österreichischen Sozialdemokratie, Vic131
Internationaler Sozialistenkongreß zu Amsterdam. 14. bis 20. August 1904, Berlin 1904, S. 27. 132 vgl. Protokoll... Dresden, S. 369. 133 Vgl. Millerand, Alexandre, Le socialisme réformiste français, Paris 1903, S. 121; A. Millerand über den französischen Reformsozialismus, in: Dokumente des Sozialismus, Bd. 3, Berlin 1903, S. 401 ff. 135 Vgl. Lagardelle, Hubert, La grève générale et le socialisme. Enquête internationale. Opinions et documents, Paris 1905, S. 110, 121 ; Vliegen, Willem Humbert, Der Generalstreik als politisches Kampfmittel, in: NZ, 1903/04, Bd. 1, S. 199. )25 Vgl. Keir Hardie's speeches and writings (from 1888 to 1915), hrsg. von Emrys Hughes, Glasgow o. J., S. 119 ff.
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tor Adler, der bezüglich seiner Gesamtposition zu dieser Zeit noch nicht zu den Reformisten gerechnet werden kann, schloß sich mit der der Arbeiterbewegung in der Habsburger Monarchie empfohlenen „Taktik des Zuwartens" 136 in dieser Frage den genannten Repräsentanten des Opportunismus an.
Paul Kampffmeyer und Raphael Friedeberg Der ehemalige „Junge" Kampffmeyer war schon 1895/96 im Sozialistischen Akademiker wiederholt mit der Ansicht hervorgetreten, f ü r die sozialistische Umwälzung sei nicht die Eroberung der politischen Macht, sondern die der ökonomischen entscheidend. Diesen Grundgedanken kultivierte er weiter. 137 Ermuntert durch Eduard Bernsteins Auftreten, schritt er im August 1898 zur expliziten „Kritik der Marxschen Entwicklungslehre" 138 und faßte im selben Jahr seine Auffassungen unter dem beziehungsreichen Titel „Mehr Macht! Kritische Streiflichter auf das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie" zusammen. Seinen Ausgangs- und Hauptkritikpunkt am Marxismus formulierte er in folgendem Passus: „Es ist also wohl möglich, daß sich die heutigen kapitalistischen Produktionsverhältnisse dank einer erheblichen Besserstellung der Arbeiterklasse wesentlich erweitern und ausdehnen. . . . Die Produktivkräfte selbst verlieren dank der durchgreifenden Sammlungs- und Ordnungstendenzen der heutigen Wirtschaft und dank ihrer wachsenden Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit ihren blindwütenden, verheerenden, epidemischen Charakter. . . . Nicht durch eine Zunahme unserer Ohnmacht, unserer Not und unseres Elends steigen wir zum Sozialismus aufwärts, sondern durch eine schrittweise Verbesserung und Hebung unserer Lage und durch eine Erweiterung und Ausdehnung unserer Machtverhältnisse." Die Macht des Proletariats sei vor allem eine ökonomische und eine soziale. Diese wachse durch die Entwicklung, besonders die Klassenpolarisierung, weiter, und es gelte f ü r die Arbeiterbewegung, gerade diese Seiten ihres Wirkens stärker auszuprägen, während der politische Kampf ruhigen Gewissens zurückgestellt werden könnte, da „die politischen Umwälzungen stets den ökonomischen und sozialen Revolutionen nachzufolgen, ja richtig gesagt, nachzuhinken pflegen". Der heutige Staat sei im Zusammenhang mit den „allgemein ausebnenden Tendenzen" in einer stetigen Demokratisierung begriffen. „Die staatliche Macht fällt also der Arbeiterklasse in die Hände, weil sie sich in wachsendem Maße zur Beherrscherin der wirtschaftlichen Gewalt macht." Der Staat brauche höchstens auf kommunalpolitischem Gebiet etwas beeinflußt zu werden. 139 136
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So Leopold Winarsky. Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich. Abgehalten zu Salzburg vom 26. bis 29. September 1904, Wien 1904, S. 111. Von April bis September 1898 erschien in jeder Ausgabe der Sozialistischen Monatshefte ein entsprechender Artikel Kampffmeyers. Kampffmeyer, Paul, Zur Kritik der Marxschen Entwicklungslehre, in: SM, 1898, 8, S. 345. Ders., Mehr Macht! Kritische Streiflichter auf das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1898, S. 11 ff.
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Als Kampffmeyer 1901 eine Überarbeitung von „Mehr Macht!" vorlegte, wurde er verschiedentlich noch deutlicher: Das kapitalistische Privateigentum mache eine Metamorphose durch, es gehe in Gemeinde- und Staatseigentum über; durch Gewerkschaften, Genossenschaften und kommunale Tätigkeit werde die Arbeiterklasse zu einem immer bedeutenderen Element der Staatsordnung; der Staat werde so genötigt, eine kapitalistische Hülle nach der anderen abzuwerfen und sich mehr und mehr den „großen sozialpolitischen Aufgaben des Erfurter Programms zuzuwenden".140 Revolutionen fänden höchstens auf „technisch-ökonomischem" Gebiet statt,141 der Sozialismus resultiere aus einer „unendlichen Reihe" wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen, die durch einen Generalstreik nicht befördert, höchstens gestört werden könnten. Bernstein hatte bei aller Aufwertung des ökonomischen Kampfes die Frage des Primats des politischen oder ökonomischen Klassenkampfes in den „Voraussetzungen" offengelassen. Beiläufig dankte er Kampffmeyer für empfangene Anregungen.1'*2 Er wandte sich schwerpunktmäßig klar dem politischen Gebiet zu. Beide hatten dreierlei gemein: den revisionistischen Ausgangspunkt einer weitgehend übereinstimmenden Kritik an der Marxschen Gesellschafts- und Revolutionskonzeption, der bei Bernstein aufgrund der marxistischen Vergangenheit allerdings schwerer wog; die Verneinung der Revolution im engen wie im weiten Sinne und ihren Aktivismus, der bei Kampffmeyer allerdings nicht nur reformistisch, sondern auch ökonomistisch beschränkt blieb. Letzteres führte dazu, daß Kampffmeyers Theorien in den Auseinandersetzungen der deutschen Sozialdemokratie kaum eine Rolle spielten. Der Vorwärts verbannte eine Besprechung Kautskys über „Wohin steuert die ökonomische und staatliche Entwicklung?" am 5. Mai 1901 in die 4. Beilage. Je eine Replik des Autors und des Rezensenten143 vermochten es auch nicht, eine Diskussion zu provozieren. Zu untersuchen bliebe, ob die Kampffmeyerschen Schriften in den Gewerkschaften ein Wirkungsfeld fanden, und ob seine Aufforderung zu umfassenderen, vielfältigeren Aktionen und breiteren Organisationen im ökonomischen und und sozialen Bereich praktische Resultate zeitigten. Ähnliche Meinungen vertraten zumindest zeitweise verschiedene Literaten und Funktionäre der deutschen Arbeiterbewegung: Leo Arons144, Georg Bernhard145, Adolph v. Elm146, Adele Gerhard147, Ladislaus Gumplowicz148, Heinrich Kauff-
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Ders., Wohin steuert die ökonomische und staatliche Entwicklung?, Berlin 1901, S. 54. Vgl. ders., Wandlungen in der Theorie und Taktik der Sozialdemokratie, München 1904, S. 19 f. 141 Vgl. ders., Der Generalstreik und die ökonomische Macht, in: SM, 1904, 11, S. 878. 142 Vgl. Bernstein, Klassenkampf-Dogma und Klassenkampf-Wirklichkeit, S. 625. 143 Vgl. Vorwärts, 26. und 29. 6.1901. m Vgl. ebenda, 27.1.1901. 145 Vgl. Bernhard, Georg, Marxismus und Klassenkampf, in: SM, 1898, 3, S. 103 ff. im vgl. Protokoll... Hannover, S. 189; Elm, Adolph v., Die Revisionisten an der Arbeit, in: SM, 1904, 1, S. 26ff. 147 Vgl. Gerhard, Adele, Einige Worte zur Genossenschaftsfrage, ebenda, 1897, 3, S. 138 ff. 143 Vgl. Gumplowicz, Ladislaus, Bernstein und der Sozialismus, ebenda, 1899, 4, S. 153 f£.
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mann 149 und Carl Legien150 sowie Conrad Schmidt151. Auch eine Broschüre von Emil Steinigans gehörte in diese Reihe152. Kauffmann und v. Elm hielten aber am Begriff „soziale Revolution" fest, diese sei bereits im Gange und vollziehe sich durch die Evolution. Der Generalstreik wurde von Gumplowicz und Steinigans nicht verworfen. Kampffmeyers Ruf nach mehr Macht erscholl im Verlag der Sozialistischen Monatshefte, als dessen Eigentümer 1898 Dr. med. Raphael Friedeberg zeichnete. Kampffmeyers Ansichten also mit einiger Sicherheit kennend und eventuell angeregt durch ausländische (anarcho-)syndikalistische Einflüsse, begann Friedeberg spätestens im Januar 1903 mit einer intensiven Propaganda des Generalstreiks, wobei er diesen als wichtigstes Kampfmittel des Proletariats verabsolutierte.153 Ausgehend von der Frage, was die Arbeiterbewegung tun könne, wenn das Reichstagswahlrecht angetastet werden sollte, wollte er dem Proletariat stärkeren „revolutionären Geist" vermitteln und die für seine Begriffe zu hohe Wertschätzung der Gesetzlichkeit überwinden. Er argumentierte: „In der Stellung des Proletariats sowie unserer Gegner habe sich in letzter Zeit viel geändert. Mit Rücksicht darauf seien andere als die bisherigen Kampfmittel geboten, und es sei Pflicht jedes Parteigenossen, der glaube, andere Wege zeigen zu können, mit seinen Ansichten in die Öffentlichkeit zu treten. . . . Das Feld der parlamentarischen Tätigkeit könne uns durch die Gegner entzogen werden, was der Wahlrechtsraub in Sachsen beweise. In der Produktion aber sei der Arbeiter unentbehrlich, deshalb komme das wirtschaftliche Gebiet als Feld für den proletarischen Befreiungskampf in erster Linie in Frage, und die Verweigerung der Arbeitskraft sei ein Kampfmittel von größter Bedeutung. . . . Opfer dürfe man nicht scheuen. Ohne Opfer kämen wir nicht in den Zukunftsstaat."15'1 Allerdings schüttete Friedeberg das Kind mit dem Bade aus. Seine Schlußfolgerung aus den geänderten Kampfbedingungen und seine Kritik an der Uberschätzung des Parlamentarismus gerieten zur Negation des politischen Kampfes überhaupt. Er landete auf anarchosyndikalistischen Positionen, die er zusammengefaßt in einer Resolution darlegte, der eine Versammlung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften am 3. August 1904 in Berlin zustimmte : „Geistige und sittliche Entwicklung der Einzelpersönlichkeit; selbständige Organisation der Konsumtion und, wenn möglich, der Produktion; Massenaktion mit voller Verantwortlichkeit jedes einzelnen — Streiks, Maifeier, Boykott — das sind die Vorbedingungen der endgültigen Befreiung des Proletariats. Diese Befreiung selbst, die Aufhebung der Klassenherrschaft, wird erfolgen durch den Generalstreik. Nicht durch eine Revolution, nicht im Wege des Blutvergießens 149 vgl. Kauffmann, Heinrich, Von unten aiuf!, ebenda, S. 177 ff. 130 Ygj Legien, Carl, Ziele und Mittel der deutschen Gewerkschaftsbewegung, ebenda, 1900, 3, S. 112 ff. Vgl. Vorwärts, 20. 2.1898. Vgl. Steinigans, Emil, Kautsky und die soziale Revolution. Eines Arbeiters Kritik der Kautskyschen Broschüre, Solingen 1903, S. 23. 153 V g l . vorwärts, 20.1., 19. 2., 18. und 20. 8.1903. 1 5 1 Ebenda, 15. 9.1904. 152
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und roher Gewalt, sondern durch ein ethisches Kampfmittel, durch die Verweigerung der Persönlichkeit, die, in weitem Umfange durchgeführt, das Proletariat aus der Produktion ausschaltet und dadurch die ökonomische Herrschaft der Kapitalistenklasse und ihr Instrument, den Staat, beseitigt."155 Daher sollten alle Kräfte des deutschen Proletariats auf den wirtschaftlichen Kampf sowie auf die Erziehung und Organisation in den Gewerkschaften konzentriert werden. Hier traf er sich wieder mit Kampffmeyer, letztlich dessen reformerischen ökonomischen Aktivismus teilend. Allerdings bestand ein nicht unwesentlicher Unterschied. Friedeberg orientierte auf ein Kampfmittel, dessen Anwendung den Bruch der bürgerlichen Gesetzlichkeit voraussetzte und insofern -jenen „gewissen lebendigen Zug" aufwies, den Lenin 1907 dem Herveismus zuerkannte.150 In diesem Sinne fragte Zubeil im August 1905: „Wo bleibe der Idealismus, der früher die ganze Arbeiterbewegung beherrschte? . . . Angesichts solcher Verflachungstendenzen könne man es den bisher als gute Genossen bekannten Lokalisten nicht verübeln, wenn sie glauben, die Partei nach links drängen zu müssen."157 Friedebergs Bestrebungen, einen Impuls zur Belebung des „revolutionären Geistes" der Arbeiterbewegung zu geben, mißlang letztlich, da er die anarchistischen Momente seines Eklektizismus weiter ausbaute. Im November 1906 beantragte die Generalversammlung des 3. Berliner Reichstagswahlkreises beim Parteivorstand ein Ausschlußverfa'hren gegen ihn. Das Schiedsgericht, dem u. a. Kautsky, Legien und Stadthagen angehörten, beschloß am 25. September 1907 den Parteiausschluß.158 Diese Art von Syndikalismus scheint in der internationalen Arbeiterbewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts selten vertreten worden zu sein. Sicher herrschte international Übereinstimmung bezüglich der Hauptmethode ökonomischer Kampf. Aber die ohnehin nicht zahlreichen Anhänger Kampffmeyers und Friedebergs koppelten sich für die Gegenwart von jeglicher action directe ab, einem besonders von der französischen syndikalistischen Bewegung159 propagierten Losungswort, das im revolutionär-gesetzesbrecherischen wie im reformistisch-gesetzlichen Sinne interpretiert werden konnte. Es wäre unlogisch anzunehmen, daß mit dem Ubergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus sich die bürgerliche Klassenlinie in der deutschen Arbeiterbewegung nicht weiter differenziert haben würde. Bislang wurde in der Literatur fast keine Unterscheidung ausgewiesen, höchstens die zwischen Revisionisten (mit theoretischem Anspruch) und praktisch orientierten Reformisten. Das war jedoch, so scheint es; nur der Auftakt zu einer tiefergreifenden Divergenz, bei der auf beiden Seiten Theorie und Praxis wieder, wenn 195
Ebenda, 5. 8.1904; Friedeberg, Raphael, Parlamentarismus und Generalstreik, Berlin o. J., S. 32. 158 Lenin, W. I., Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart, in: Werke, Bd. 13, S. 83. 157 vorwärts, 29. 8.1905. 158 Vgl. ebenda, 16.11.1906, 26. 9.1907. 159 Vgl. Hermes, Ina, Gegen Imperialismus und Krieg. Gewerkschaften in der II. Internationale 1889-1914, Köln 1979, S. 29 ff.
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auch mit verschiedener Akzentuierung, vereint wurden, nämlich die zwischen aktivistischem und attentistischem Opportunismus. 1. Auch die Opportunisten sahen in der Arbeiterklasse die Hauptkraft des gesellschaftlichen Fortschritts. Im Gegensatz zu den Revolutionären verringerten sie aber deren Rolle, indem sie den Reifegrad des Proletariats mechanisch an die noch nicht genügend entwickelten ökonomischen Verhältnisse banden, größeren Teilen der Bourgeoisie noch eine fortschrittstragende und mitunter sogar revolutionäre Potenz zuschrieben und den Sieg der Arbeiter abhängig machten von ihrem Bündnis mit den städtischen Mittelschichten, besonders der Intelligenz. 2. Die opportunistischen Kräfte in der deutschen Arbeiterpartei. negierten die proletarische Revolution letztlich im weiten wie im engen Sinn. Die meisten vermieden selbst den Revolutionsbegriff. Die wenigen, die ihn noch verwandten, gebrauchten ihn für eine ökonomisch-technische Umwälzung oder für eine langwierige Evolution zum Sozialismus. Die Opportunisten hielten fest an der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, dafür jedoch nur die entwickeltsten Produktionsbereiche für genügend reif haltend und meist nur genossenschaftliches Eigentum als Ziel formulierend. Die Syndikalisten um Kampffmeyer verstanden die Eroberung der politischen Macht des Proletariats als den durch die ökonomische Umgestaltung mehr oder weniger automatisch eintretenden Endpunkt der Umwälzung der Gesellschaft, während die anderen die politische Machtfrage schon in den Vordergrund rückten. Da sie die Entwicklung zum Sozialismus aber als einen schrittweisen, kontinuierlichen Prozeß begriffen, stellte das Erringen der zentralen politischen Macht mehr einen Durchgangs- als einen Ausgangspunkt dar. 3. Die politische Macht der Arbeiterklasse wollten sie in einem demokratischen Staat, der über den Klassen stand, realisieren durch eine sozialistische Mehrheit im Parlament. Diktatur des Proletariats wurde mit Anarchie gleichgesetzt und verworfen. Die Syndikalisten versuchten, durch die Entfaltung ökonomischer und sozialer Macht zur politischen zu gelangen. Die anderen gaben dem ausschließlich parlamentarischen Weg den Vorrang. Gewalt wurde bis auf wenige Ausnahmen, die die Gesetzgebung als solche definierte, abgelehnt. 4. Da Sozialismus und Demokratie als Entwicklungsrichtung identifiziert wurden, kam es zu keiner Unterscheidung zwischen demokratischem und sozialistischem Kampf, wodurch sich die demokratische Republik als Etappenziel erübrigte. Die Reform wunde verabsolutiert. Als notwendig erklärte Bündnisse sollten vorwiegend mit den städtischen Mittelschichten und Teilen des Bürgertums geschlossen werden. Die Bauernschaft wurde als Bündnispartner höchstens in ihrer Eigenschaft als Stimmenlieferant in Erwägung gezogen. Mit der Revolution verschwanden auch die revolutionäre Situation und die Weltrevolution als Problemstellung. Da mit dem Beschreiten des parlamentarischen bzw. syndikalistischen Weges bereits begonnen worden war bzw. jederzeit begonnen werden konnte, tauchte vereinzelt der Gedanke auf, daß die verschiedenen Länder zu unterschiedlichen Zeiten zum Sozialismus gelangen könnten. Von revisionistischer Seite wurden kaum Betrachtungen über die Vorgänge in Rußland und noch weniger Überlegungen zu möglichen Rückwirkungen der dort heranii'
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Harald
Koth
r e i f e n d e n Revolution auf Deutschland angestellt. Das Problem des revolution ä r e n Z e n t r u m s w u r d e sehr selten a u f g e w o r f e n u n d d a n n falsch b e a n t w o r tet. 160 5. Bei den O p p o r t u n i s t e n gab es die relativ g r ö ß t e n Differenzen bezüglich des Einflusses s u b j e k t i v e r F a k t o r e n auf die historische Entwicklung. Basierend auf einer diffusen theoretischen Grundlage, kristallisieren sich drei unterschiedliche S t a n d p u n k t e heraus. Die attentistisch orientierten Opportunisten sahen es als ihr Hauptziel an, i n n e r h a l b der gegebenen S t r u k t u r e n der Gesellschaft wie der proletarischen Organisation u n d (Wahl-)Aktion das Wachstum der sozialdemokratischen Wählerschaft weiter aufrechtzuerhalten, u m so u n t e r allen U m s t ä n den friedlich z u m Sozialismus zu gelangen. Letzteres wollte die syndikalistische Richtung, die in Deutschland schwach w a r u n d eine reformistische P r ä g u n g erhielt, auch. Friedebergs „ethischer" Generalstreik m u ß t e zwar u n t e r Bruch der bürgerlichen Gesetzlichkeit ablaufen, sollte aber Revolution u n d Blutvergießen v e r m e i d e n bzw. ausschließen. Die Syndikalisten wiesen jedoch einen aktivistischen Zug a u f : H i n w e n d u n g zur Gewerkschafts- u n d Genossenschaftsb e w e g u n g sowie zur Kommunalpolitik, Kritik an d e m Glauben an die Gesetzlichkeit. Gleichfalls friedlich wollten die aktivistischen Opportunisten in den Sozialismus hineinwachsen. Zu diesem Zweck u n t e r b r e i t e t e n sie verschiedene u n d auch weitergehende Vorschläge, u m die Z u s t ä n d e im Deutschen Reich (Landtagswahlrecht in P r e u ß e n , Reichstagswahlkreiseinteilung), in der Organisation (Gewerkschaften, Genossenschaften, J u g e n d b e w e g u n g ) u n d Tätigkeit (Straßendemonstrationen, politischer Massenstreik) der Sozialdemokratie zu r e f o r m i e r e n mit dem Ziel, die Entwicklung zum Sozialismus v o r a n z u t r e i b e n u n d zu beschleunigen. Auf die freilich nicht sehr wahrscheinliche b r u t a l e G e w a l t a n w e n d u n g seitens der Reaktion w ä r e mit allen Mitteln zu reagieren. 6. Bei der zum Teil sogar totalen V e r n e i n u n g außerparlamentarischer Massenaktionen v e r w u n d e r t es nicht, daß die Opportunisten sich nicht d e m Gegenstand z u w a n d t e n , i n w i e f e r n praktische K l a s s e n k a m p f e r f a h r u n g e n Bewußtsein u n d Organisation der Arbeiterklasse weiter auszuprägen i m s t a n d e w a r e n u n d welche V e r a n t w o r t u n g die P a r t e i d a f ü r t r u g bzw. welche H a l t u n g sie e l e m e n t a r e n K ä m p f e n d e r Massen gegenüber e i n n e h m e n sollte. Lediglich Bernstein wies auf mögliche positive bewußtseinsbildende W i r k u n g e n selbst erfolgloser Klassenauseinandersetzungen hin, w ä h r e n d Friedeberg die S t ä r k u n g des „revolutionär e n Geistes" z w a r forderte, dieselbe jedoch im traditionellen Verständnis zuvörderst e r w a r t e t e aus der agitatorischen, erzieherischen Tätigkeit, w o d u r c h der Generalstreik erst möglich werde. Die zwischen 1898 u n d 1904 wachsende Differenziertheit des O p p o r t u n i s m u s in der deutschen A r b e i t e r p a r t e i liefert einen A n s a t z p u n k t u n d Teilaspekt zur K l ä r u n g der Frage, wieso es ihm relativ schnell gelang, die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie in eine R e f o r m p a r t e i zu verwandeln. Die O p p o r t u 160
Kurt Eisner beispielsweise hielt „für die wichtigste Frage der Zukunft des Sozialismus die Bildung einer starken und einheitlichen französischen Sozialdemokratie". Dann würden die deutsche und französische Arbeiterbewegung unüberwindlich, ihr Einfluß auf die europäischen Verhältnisse unermeßlich. Eisner, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 306.
Vorstellungen opportunistischer Kräfte
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nisten stellten insgesamt ein Bild dar, das verwirren konnte, einmal durch die in Deutschland zwar außerordentlich seltene, aber immerhin noch zu registrierende weitere Verwendung des Begriffs der Revolution, zum anderen und vor allem durch den von einem Teil von ihnen propagierten reformistischen Aktivismus. Besonders Eduard Bernstein unterbreitete'— hier zum Teil weitergehend als Karl Kautsky und August Bebel — eine Reihe von Vorschlägen, die die zu dieser Zeit objektiv einzig mögliche praktische (Reform-)Politik der Partei zu bereichern vermochte. Insgesamt dominierten am Beginn des 20. Jh. die Revolutionäre in der deutschen Sozialdemokratie klar. Sie prägten das Gesicht und das internationale Ansehen der Partei. Am deutlichsten zeigten das die gegen die Opportunisten gerichteten Beschlüsse der Parteitage. Die Berliner Politische Polizei stellte, nachdem sie an Bernsteins revisionistisches Auftreten größere Hoffnungen geknüpft hatte, bald fest, daß diese auf Sand gebaut waren. An eine Verwandlung der Sozialdemokratie aus einer Revolutions- in eine Reformpartei sei, so hieß es in den Übersichten für die Jahre 1901 und 1902, vorläufig gar nicht zu denken.161 Die in der bürgerlichen Historiographie vielfältig deklinierte These, daß die deutsche Sozialdemokratie spätestens seit der Jahrhundertwende eine Partei der parlamentarischen Reform darstellte, entspricht nicht den Tatsachen. Allerdings erwuchs dem marxistischen Führungskern der Partei wie der revolutionären Mitgliedschaft die Aufgabe, den Revisionismus nicht nur zurückzuweisen, sondern diesen konsequent in politischer und organisatorischer Beziehung zu überwinden. Das schloß ein, eine vielfältigere, aktionsbetontere revolutionäre Tagespolitik zu entwickeln. 161
Vgl. StAP, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C Polizeipräsidium, Nr. 13090, Bl. 265, Nr. 13091, Bl. 13. Vgl. auch Nr. 13092, Bl. 17. Hier wunde anhand des Amsterdamer Kongresses der II. Internationale ein neuerlicher Sieg der Revolutionäre konstatiert.
Hans-Jürgen
Arendt
Die bürgerlichen Frauenorganisationen in der Weimarer Republik. Ein Überblick
Zu den Elementen des nichtstaatlichen Bereichs der bürgerlichen Klassenherrschaft 1 gehören auch die bürgerlichen Frauenorganisationen. Für die Zeit der Weimarer Republik sind ihre Rolle und Funktion bisher kaum untersucht worden. Nur wenige waren Gegenstand spezieller Studien der marxistisch-leninistischen Geschichtsforschung. Die bürgerliche „Frauenforschung" hat hauptsächlich frauenrechtlerisch orientierten Organisationen ihre Aufmerksamkeit gewidmet, wobei sie von feministischen Fragestellungen ausging bzw. ideengeschichtliche und organisationssoziologische Aspekte, vielfach isoliert von politischen Problemen, in den Vordergrund rückte.2 Beziehungen zwischen den bürgerlichen 1 2
Fricke, Dieter, Zur Geschichte der politischen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft. Methodologische Probleme, in: ZfG, 1986, 8, S. 684. Boedecker, Elisabeth, Marksteine der deutschen Frauenbewegung von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Neuanfang nach 1945, Hannover 1968; Bridenthal, Renate, „Professional" Housewifes. Stepsisters of the Women's Movement, in : When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany, ed. by Renate Bridenthal, Atina Grossmann, and Marion A. Kaplan, New York 1984, S. 153 ff. ; Evans, Richard J., The Feminist Movement in Germany 1894—1933, London/Beverly Hills 1976, S. 235 ff. (Sage Studies in Twentieth Century History, Bd. 6); GrevenAschoff, Barbara, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894—1933, Göttingen 1981, S. 159 ff. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, hrsg. von Helmut Berding u. a., Bd. 46); Kaplan, Marion A., The Jewish Feminist Movement in Germany. The Campaigns of the Jüdischer Frauenbund 1904—1938, Westport, Conn./ London 1979; dies., Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904—1938, Hamburg 1981; Kaufmann, Doris, Vom Vaterland zum Mutterland. Frauen im katholischen Milieu der Weimarer Republik, in: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Karin Hausen, München 1983 (Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 276); Koepcke, Cordula, Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Von den Anfängen bis 1945, Freiburg 1981, S. 131 ff. (Herderbücherei, Bd. 833) ; Loeper, Charlotte v., Die politische Erziehung in der Frauenbewegung, phil. Diss., Göttingen 1951 (MS); Nave-Herz, Rosemarie, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Hrsg.: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1982, S. 32ff.; Nowacki, Bernd, Der Bund für Mutterschutz 1905-1933, Husum 1983, S. 11 ff. (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, H. 48); Pauls, Maria, Die deutschen Frauenorganisationen. Eine Übersicht über den Bestand, die Ursprünge und die kulturellen Aufgaben, phil. Diss., Aachen 1966; Prokop, Ulrike, Die Sehnsucht nach Volkseinheit. Zum Konservatismus der bürgerlichen
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Hans-Jürgen
Arendt
Frauenorganisationen und dem imperialistischen Herrschaftssystem, seiner Frauenpolitik und seinen Bestrebungen nach politisch-ideologischem Einfluß auf die Volksmassen lagen außerhalb ihres Gesichtskreises. Gerade dieser Zusammenhang aber verdient unsere Aufmerksamkeit. Die bürgerlichen Frauenorganisationen waren in hohem Maße Träger, partiell auch Initiatoren der Frauenpolitik der imperialistischen deutschen Bourgeoisie in der Weimarer Republik. Sie vermittelten in ihrem Wirkungsbereich in großem Umfange den Kontakt zwischen deren Herrschaftssystem und der weiblichen Bevölkerung als einem wichtigen, in der neuen Epoche an politischer Bedeutung gewinnenden Teil der werktätigen Massen. Die Hauptfunktion der bürgerlichen Frauenorganisationen bestand darin, die Frauen breiter werktätiger Klassen und Schichten im Geiste bürgerlicher „Volksgemeinschafts"-Ideologie zu beeinflussen und in das Herrschaftssystem der Bourgeoisie zu integrieren. Dafür gab es nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und dem politisch-militärischen Zusammenbruch des Kaiserreiches gewichtige Gründe. Krieg und Revolution hatten auch auf das Bewußtsein der weiblichen Bevölkerung einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt und insgesamt ihre Politisierung sowie die Hinwendung breiter Schichten der Frauen zu progressiven, demokratischen Ideen gefördert. Der Prozeß der Frauenemanzipation war im Vergleich zu den Jahren vor 1914 wesentlich vorangeschritten, bedingt vor allem durch die massenhafte Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsprozeß während des Krieges. Die Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 hatten — wie Clara Zetkin 1920 feststellte — „die Einstellung der Frau zu Familie, Mann und Gesellschaft revolutioniert oder die alte Auffassung wenigstens bereits ins Wanken gebracht . . . Die Frau ist dem Mann, ist der Familie gegenüber selbständiger, selbstbewußter, selbstvertrauender, freier und fordernder geworden, als sie es vorher war." 3 Die Novemberrevolution 1918/19 hatte das aktive und passive Wahlrecht und weitere demokratische Rechte für die Frauen erkämpft, die in der Weimarer Verfassung verankert waren, darunter nicht zuletzt der Grundsatz der formellen Gleichberechtigung der Geschlechter, der allerdings in vollem Umfange weder im geltenden bürgerlichen Recht noch in der gesellschaftlichen Praxis verwirklicht wurde. Von großer Bedeutung war, daß mit der Kommunistischen Partei Deutschlands wieder eine revolutionäre Arbeiterpartei mit einem konsequent demokratischen und sozialistischen Programm der Befreiung der Frau existierte
3
Frauenbewegung vor 1933, in: Die Überwindung der Sprachlosigkeit, hrsg. Von Gabriele Dietze, Darmstadt/Neuwied 1979, S. 176ff.; Schenk, Herrad, Die feministische Herausforderung. 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland, München 1980, S. 57 ff. (Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 213); Weiland, Daniela, Geschichte der Frauenemanzipation in Deutschland und Österreich. Biographien, Programme, Organisationen, Düsseldorf 1983 (Hermes-Handlexikon); vgl. dazu auch Arendt, HansJürgen, Frauenfrage und Frauenbewegung in Deutschland 1871 bis 1945. Bürgerliche und sozialreformistische Publikationen seit Anfang der siebziger Jahre, in: ZfG, 1984, 2, S. 141 ff. Zetkin, Clara, Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung, hrsg. von Katja Haferkorn und Heinz Karl, Leipzig 1974, S. 433 f. (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 549.)
Bürgerliche Frauenorganisationen
169
und zunehmenden Einfluß auf Teile der werktätigen Frauen, vor allem auf das weibliche Proletariat, ausübte. Forderungen im Sinne der Gleichberechtigung der Frau vertraten auch kleinbürgerlich-demokratische Kräfte sowie die Sozialdemokratie, insbesondere die sozialdemokratische Frauenbewegung. Seit den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 sah sich die deutsche Bourgeoisie in jeder Reichstags-, Landtags- und Kommunal wähl mit dem Wahlverhalten der weiblichen Wählerschaft konfrontiert. Die Frau hatte, wie Clara Zetkin schon am Vorabend der Nationalversammlungswahlen feststellte, „einen Kurswert auf dem politischen Markt erhalten". 4 Aus all dem ergaben sich für die Frauenpolitik der imperialistischen Bourgeoisie Konsequenzen, die in der Zielstellung kulminierten: verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, den Prozeß der politischen Bewußtseinsbildung bei den Frauen in Bahnen zu lenken, die für das imperialistische Herrschaftssystem ungefährlich waren, womöglich sogar breite Schichten der weiblichen Bevölkerung für dessen Stabilisierung mobil zu machen und insgesamt — auch mit Hilfe von Frauen selbst — weiteren Fortschritten der Frauenemanzipation den Weg zu verlegen. Erreicht wurden diese Ziele — historisch vorübergehend — durch die Errichtung der faschistischen Diktatur 1933. Bis dahin erfüllten neben einer Reihe anderer Faktoren auch die zahlreichen bürgerlichen Frauenorganisationen die Funktion, Frauen aller werktätigen Klassen und Schichten massenhaft unter bourgeoiser Führung zu organisieren, sie im Sinne bürgerlicher Ideologie und Politik in differenzierter Weise — wie es dem parlamentarischen System imperialistischer Herrschaft entsprach — zu beeinflussen und antiimperialistisch-demokratischen Bestrebungen in der Frauenbewegung entgegenzuwirken, insbesondere ein Bündnis mit den revolutionären Kräften zu verhindern. Die meisten bürgerlichen Frauenorganisationen erfüllten diese Funktion, allerdings in widerspruchsvoller Weise, wirkte doch auch in ihnen der für alle bürgerlichen Massenorganisationen typische Widerspruch zwischen Klassencharakter und Massenbasis, der ihre Fähigkeit, reaktionäre Zielstellungen im Sinne ihres klassenmäßigen Auftrags zu verfolgen, einschränkte. Hinzu kam, daß ein Teil der Organisationen direkt eine frauenrechtlerische Vergangenheit besaß, mithin progressive Traditionen nicht gänzlich verleugnen konnte und auf die Interessen breiter Schichten der Mitglieder Rücksicht nehmen mußte. In der Phase intensivierter Bestrebungen nach dem Abbau demokratischer Volksrechte und auch der Frauenrechte in den Jahren 1929 bis 1933 verloren daher gerade diese Organisationen, die im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) ihre Dachorganisation besaßen, für die imperialistische Reaktion an Interesse. Sie wurden 1933/34 im Rahmen des faschistischen „Gleichschaltungsprozesses" beseitigt bzw. lösten sich selbst auf. Ein Teil der bürgerlichen Frauenorganisationen der Weimarer Republik war im 19. Jh. entstanden bzw. hatte bereits im Kaiserreich existiert, darunter der BDF mit den meisten ihm angeschlossenen Einzelorganisationen, der konservative Deutsche Frauenbund sowie der größte ¿Teil der konfessionellen Frauen-
Dies., Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2: Auswahl aus den Jahren 1918 bis 1923, Berlin 1960, S. 70.
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Hans-Jürgen Arendt
verbände. Diese Organisationen hatten 1914 zur aktiven Unterstützung des imperialistischen Krieges den Nationalen Frauendienst geschaffen und in diesem eng zusammengewirkt. Im Rahmen des Nationalen Frauendienstes h a t t e n sich auch mehr oder weniger enge Beziehungen zum Staatsapparat entwickelt, besonders im Bereich der Wohlfahrts- und Krankenpflege, der Truppenbetreuung u n d anderer Arbeitsgebiete der sogenannten Heimatfront, namentlich auch bei der Werbung von F r a u e n f ü r die Kriegswirtschaft. Der vor 1914 von reaktionären K r ä f t e n (besonders im Lager der konservativen Parteien) dem bürgerlichen Frauenrechtlertum gegenüber erhobene pauschale Vorwurf „nationaler Unzuverlässigkeit", der „Staats- und Volksfremdheit" hatte sich damit als gegenstandslos erwiesen. Nahezu alle bürgerlichen Frauenorganisationen h a t t e n geradezu ihre Eignung f ü r weitere Unterstützung der imperialistischen Politik offenbart, als Mobilisierungs- und Integrationsfaktoren unter der weiblichen Bevölkerung. Das w a r auch in der Novemberrevolution und besonders im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Nationalversammlungswahlen deutlich geworden. Sie f a n d e n gerade dabei die besondere A u f m e r k s a m k e i t der bürgerlichen Parteien im Ringen u m die weibliche Wählerschaft. 5 Es entwickelte sich u n t e r dem Einfluß des n u n existierenden Frauenwahlrechts ein qualitativ neuartiges Verhältnis zu den bürgerlichen Frauenorganisationen. Diese betrachteten sich fortan bis zu einem gewissen Grade als Vortrupps der bürgerlichen Parteien. So schrieb 1930 Constanze von Schwerin, eine Funktionärin des BDF und des Reichsverbandes landwirtschaftlicher Hausfrauenvereine: „Ehe ü b e r h a u p t diese oder jene bürgerliche Partei nachhaltig werbend an die F r a u e n h e r a n t r e t e n kann, sollten neutrale Verbände und eigentlich auch die Frauenausschüsse der Parteien versuchen, die staatsbürgerlichen Kenntnisse der F r a u e n zu erweitern." Gegenwärtig bestehe der Zustand, „daß eine siebzehnjährige sozialistische Arbeiterin im Streit der politischen Meinungen sich einer fast doppelt so alten Fürsorgerin aus dem bürgerlichen Lager erheblich überlegen zeigt". 6 Die Wahlergebnisse vom J a n u a r 1919 und auch bei den folgenden Reichstagswahlen bis 1932 sind schwer vorstellbar ohne die m e h r oder weniger deutliche Parteinahme der F ü h r u n g e n der großen bürgerlichen Frauenorganisationen zugunsten der bürgerlichen Parteien. So votierten der Deutsche F r a u e n b u n d und die evangelischen F r a u e n v e r b ä n d e überwiegend f ü r die Deutschnationale u n d f ü r die Deutsche Volkspartei, die katholischen Frauenverbände f ü r die Zentrumspartei. F ü h r e r i n n e n des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (Deutscher Staatsbürgerinnenverband), die bis 1918 der Fortschrittlichen Volkspartei angehört hatten, w a r e n bestrebt, die Organisation in d e n Dienst des Wahlkampfes f ü r die Deutsche Demokratische Partei zu stellen, zugleich aber offiziell d e n Eindruck parteipolitischer Neutralität aufrechtzuerhalten. Die bürgerlichen Parteien b e m ü h t e n sich vor allem in den J a h r e n 1918 bis 1920 um enge Beziehungen zu den Frauenorganisationen. Sie schufen — nicht zuletzt
3
6
Kuhlbrodt, Peter, Die Wahlen zur Nationalversammlung 1919 und das Ringen der bürgerlichen Parteien um die Gewinnung der Frauen, in: Mitteilungsblatt der Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau" (im folg.: Mitteilungsblatt), Leipzig 1982, 3, S. 40 ff. Die Frau, 1930, 1, S. 48.
Bürgerliche Frauenorganisationen
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Tabelle 1 Wahlverhalten von Frauen bei den Reichstagswahlen in ausgewählten Großstädten 1928 und 19307 Von 100 abgegebenen Stimmen entfielen Frauenstimmen auf die Parteien KPD
SPD
DDP
DVP
Zentrum
DNVP
NSDAP
1928 1930
1. in Groß-Berlin 52,9 46,9 53,1 53,2 46,9 54,1
58,8 61,0
63,1 63,6
54,7 58,8
45,1 51,5
1928 1930
2. in Frankfurt a. M. 41,0 48,0 48,7 43,4 50,1 51,4
51,3 54,6
61,8 62,7
53,5 56,4
42,1 47,7
1928 1930
3. in Köln 35,4 40,1 38,8 46,2
43,5 48,9
47,4 53,7
60,8 63,7
45,3 *
35,8 43,8
1928 1930
4. in Leipzig 45,4 52,9 45,3 53,9
52,6 50,6
55,7 59,2
58,5 59,6
59,0 61,2
46,1 50,7
* Da die DNVP in Köln weniger als 2 Prozent aller abgegebenen Stimmen erzielt hatte, liegen keine Angaben vor. zu diesem Zweck — frauenpolitische Leitungsorgane 8 und sorgten auch dafür, daß in ihren Reichs- und Landtagsfraktionen einzelne weibliche Abgeordnete wirkten, die als Expertinnen für Frauenfragen eng mit den großen bürgerlichen Frauenorganisationen zusammenarbeiteten bzw. sogar in diesen Vorstandsposten innehatten. Zahlreiche Frauenorganisationen wurden dadurch geradezu auf parteipolitische Linien gebracht und faktisch in Hilfsorganisationen bürgerlicher Parteien umgewandelt, obgleich sie offiziell ihre „Überparteilichkeit" betonten. Die Tatsache, daß Führerinnen bürgerlicher Frauenorganisationen Parlamentssitze innehatten und vor allem zu frauen- und familienpolitischen Problemen im Namen ihrer Parteien Stellungnahmen im Parlament abgaben, 9 7
8
8
Vgl. Bäumer, Gertrud, Die Frau im deutschen Staat, Berlin 1932, S. 46 (Fachschriften zur Politik und staatsbürgerlichen Erziehung, hrsg. von Ernst von Hippel). Reichsfrauenausschüsse wurden 1919 beim Parteivorstand der DDP und 1920/21 auch bei den Leitungen der DVP und der DNVP gebildet. Beim Generalsekretariat der Zentrumspartei entstand 1921 ein Dezernat für Frauenfragen, aus dem 1922 der Reichsfrauenbeirat der Partei hervorging. Das Amt für Frauenfragen bei der Reichsleitung der NSDAP wurde 1931 geschaffen. Alle diese Organe wurden von Frauen geleitet, die gleichzeitig an der Spitze von Frauenorganisationen standen. Das gilt besonders für Gertrud Bäumer (DDP) und Marie-Elisabeth Lüders (DDP), die beide dem Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine angehörten — Gertrud Bäumer leitete außerdem das Frauenreferat des Redchsinnenministeriums —; Paula Müller-Otfried (DNVP), die den Deutsch-Evangelischen Frauenbund und den Deutschen Frauenbund leitete; Hedwig Dransfeld (Zentrum), die bis zu ihrem Tode
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Hans-Jürgen
Arendt
erweckte bei den Mitgliedern der Organisationen zum Teil die Illusion, daß der formelle Gleichberechtigungsgrundsatz in der Republik tatsächlich verwirklicht würde und Fraueneinfluß in der Staatspolitik aktiv zur Geltung käme. Diese Illusion wurde besonders von jenen Frauenorganisationen genährt, die sich mit der Republik mehr oder weniger identifizierten. Auch die bürgerlichen Parteien bemühten sich bei Wahlkämpfen, diesen Eindruck entstehen zu lassen, wobei zu berücksichtigen ist, daß in ihren Reihen die Frage der parlamentarischen Mitarbeit der Frau auch nach Einführung des Frauenwahlrechts kontrovers diskutiert wurde, namentlich in der Zentrumspartei 10 und in der Deutschnationalen Volkspartei. Die NSDAP lehnte es generell ab, weibliche Kandidaten aufzustellen, und billigte weiblichen Mitgliedern auch keine Führungspositionen in der Partei zu.11 Zur Frage der politischen Mitarbeit der Frauen in Parteien, Parlamenten und staatlichen Funktionen gab es auch bei den bürgerlichen Frauenorganisationen selbst unterschiedliche Standpunkte und Vorbehalte, besonders bei den klerikalen und konservativen Frauenverbänden. Ende 1932 existierten in Deutschland nicht weniger als 238 verschiedene bürgerliche Frauenorganisationen, 12 die in ihrer Gesamtheit etwa fünf Millionen Mitglieder umfaßten. Es waren „allgemeine" Frauenorganisationen mit zum Teil frauenrechtlerischer und auch sozial-karitativer Orientierung sowie politische Ziele verfolgende und konfessionell orientierte Hausfrauen- und Frauenberufsorganisationen, letztere mit partiell gewerkschaftsähnlichen Zielsetzungen. Zusammengeschlossen waren die meisten von ihnen in sechs Dachorganisationen: im Bund Deutscher Frauenvereine (gegründet 1894), im Deutschen Frauenbund (1909), in der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands (1918), im Zentralverband katholischer Frauen- und Müttervereine Deutschlands (1928), in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Frauenberufsverbände (1924) und im Deutschen Akademikerinnenbund (1926). Manche Frauenverbände gehörten mehreren Dachorganisationen an, auch internationalen. Die bedeutendste und zugleich in sich am meisten differenzierte Dachorganisation war der BDF, die Gesamtorganisation der großbürgerlich geführten
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1925 an der Spitze des Katholischen Deutschen Frauenbundes stand, sowie Helene Weber, ihre Nachfolgerin, die zugleich den Verein katholischer deutscher Sozialbeamtinnen leitete. Alle 23 weiblichen Abgeordneten, die 1919 bis 1933 den Reichstagsfraktionen von DDP, DVP und DNVP angehörten, waren Führerinnen bzw. Vorstandsmitglieder in bürgerlichen Frauenorganisationen. Auch die Frauen in der Fraktion des Zentrums kamen fast vollständig aus den katholischen Frauenverbänden. Vgl. dazu Morsey, Rudolf, Die deutsche Zentrumspartei 1917 bis 1923, Düsseldorf 1966, S. 91, 140, 273 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 32); Meier, Peter, Zur Stellung des „Zentrums" zur politischen Rolle der Frau und zum Frauenwahlrecht, in: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, 1968, 23, S. 117 ff. Diesen Beschluß faßte die 1. Gerieralmitgliederversammlung der NSDAP am 29. 7.1921 in München. Vgl. Führer befiehl ... Selbstzeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP, hrsg. von Albrecht Tyrell, Düsseldorf 1969, S. 31. Frauenrecht, 8.12.1932.
Bürgerliche Frauenorganisationen
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F r a u e n b e w e g u n g . Sie u m f a ß t e 1928 insgesamt 77 Teilorganisationen mit e t w a einer Million Mitgliedern. 1 3 Darunter b e f a n d sich auch der A l l g e m e i n e Deutsche Frauenverein, die 1865 gegründete, älteste Organisation der deutschen bürgerlichen F r a u e n b e w e g u n g , v o n der die Initiative zur Gründung des B D F ausgeg a n g e n war und die sich n u n Deutscher Staatsbürgerinnenverband nannte. N e b e n den regionalen V e r b ä n d e n der „allgemeinen" bürgerlichen F r a u e n b e w e g u n g w a r e n d e m B D F vor allem Frauenberufsorganisationen angeschlossen, darunter als bedeutendste der 1890 gegründete A l l g e m e i n e Deutsche Lehrerinn e n v e r e i n (ADLV) 1 4 s o w i e mit d e m 1904 g e g r ü n d e t e n Jüdischen F r a u e n b u n d (JFB) 1 5 und d e m Verband altkatholischer Frauenvereine Deutschlands auch z w e i konfessionelle Organisationen. Als größte Organisationen gehörten d e m B D F an: der Reichsverband Deutscher H a u s f r a u e n v e r e i n e (RDH) u n d der Reichsverband landwirtschaftlicher H a u s f r a u e n v e r e i n e (RVLH) 16 .
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Zahn-Harnack, Agnes v., Die Frauenbewegung. Geschichte, Probleme, Ziele, Berlin 1928, S. 20. — Zum BDF vgl. Bradter, Hiltrud, Bund deutscher Frauen vereine (BdF) 1894—1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen u n d kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789—1945), hrsg. von Dieter Fricke u. a., Bd. 1, Leipzig 1983, S. 289ff.; dies., Die Haltung f ü h r e n d e r Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung zu imperialistischer und faschistischer Kriegspolitik, in: Mitteilungsblatt, 1985, 3, S. 89ff.; Sauer, Else, Die Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung von der Gründung des Bundes deutscher Frauenvereine 1894 bis zum ersten Weltkrieg, phil. Diss., Leipzig 1969 (MS); Evans, S. 37 ff.; Greven-Aschoff, S. 70 ff. Der ADLV vereinigte in 12 Fachverbänden 1926 etwa 35 000, 1933 etwa 40 000 Lehrerinnen und andere Pädagoginnen. Er w u r d e bis 1921 von Helene Lange (DDP) und danach bis zu seiner Selbstauflösung 1933 von Emmy Beckmann (DDP) geleitet. I m Vordergrund seiner Bestrebungen stand das Auftreten gegen Abbau- u n d Einschränkungsmaßnahmen gegenüber Frauen im Lehrerberuf und die Abwehr m ä n n licher Konkurrenz vor allem im Mädchenschulwesen. Politisch stand er auf Positionen eines „gemäßigten" bürgerlichen Nationalismus. Er beteiligte sich u. a. an Aktivitäten des Arbeitsausschusses gegen die Kriegsschuldlüge und pflegte i m Zeichen des „großdeutschen Gedankens" auch Beziehungen zu „Schwestervereinen" in Österreich, der Schweiz, Lettland, Siebenbürgen und Böhmen. — Vgl. Meyn von Westenholz, Elisabeth, Der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein in der Geschichte der deutschen Mädchenbildung, Berlin 1936, S. 170 ff. Dem J F B gehörten 1928 etwa 50 000 Mitglieder an. Die Organisation, die von der aus einer wohlhabenden KaufmannsfamiMe stammenden Bertha Pappenheim geleitet wurde, hatte sich im BDF immer wieder mit antisemitischen Vorurteilen auseinanderzusetzen. Sie wirkte deshalb auch weniger in der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung als in der jüdischen Gemeinde, wobei sie die im deutschen Judent u m vorherrschende Tendenz zur Assimilation unterstützte und den Zionismus ablehnte. Der J F B unterschätzte die faschistische Gefahr. Nach 1933 versuchte er, jüdischen Frauen moralische Unterstützung f ü r das Überleben in Hitlerdeutschland zu geben, ohne zum antifaschistischen Widerstand aufzurufen. Er wurde wie alle jüdischen Organisationen von der Gestapo überwacht und unmittelbar nach der „Kristallnacht" im November 1938 verboten. — Vgl. die Arbeiten von Kaplan, Marion A., Anm. 2. Evans, S. 251.
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Hans-Jürgen Arendt
Tabelle 2 Aufbau des Bundes Deutscher Frauenvereine
Der BDF, der die deutsche bürgerliche Frauenbewegung auch im Internationalen F r a u e n b u n d (IFB) 17 vertrat, sah in den J a h r e n der Weimarer Republik seine hauptsächliche Aufgabe darin, die Frauen an das bürgerliche politische Leben h e r a n z u f ü h r e n sowie auf Staat und bürgerliche Parteien dahin gehend Einfluß auszuüben, daß sie die Einbeziehung der F r a u e n in ihre politische Tätigkeit förderten. Formell ein überparteiliches Vereinskonglomerat, standen f ü h r e n d e Vertreterinnen des BDF vor allem der D D P nahe. Marianne Weber (die Ehef r a u des bekannten Sozialwissenschaftlers Max Weber), die Vorsitzende des BDF 1919 bis 1924, ihre Nachfolgerinnen Marie Baum (1924 bis 1927) und Agnes von Zahn-Harnack (1931 bis 1933) gehörten der D D P bzw. der Deutschen Staatspartei an, ebenso Gertrud Bäumer, die eigentliche geistige F ü h r e r i n des Bundes. Einfluß im BDF besaßen jedoch auch andere bürgerliche Parteien bis hin zur DNVP. Daraus sowie aus der vielschichtigen sozialen Zusammensetzung der Organisationen ergaben sich widerspruchvolle Verhaltensweisen der BDFF ü h r u n g in zahlreichen innen- und außenpolitischen Fragen. Im wesentlichen repräsentierte die Organisation die wendig-parlamentarische Linie der bour-
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Zum IFB (ICW — International Council of Women), gegründet 1888, vgl. Hurwitz, Edith F., The International Sisterhood, in: Becoming Visible. Women in European History, ed. by Renate Bridenthal/Claudia Koonz, Boston 1977, S. 325 ff.; Zahn-Harnack, S. 366 ff.
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Tabelle 3 Der Engere Vorstand des BDF 1919-1921 und 1931/3218 1919-1921 Marianne Weber (DDP), Vorsitzende; Alice Salomon, stellv. Vorsitzende; Gertrud Bäumer (DDP), stellv. Vorsitzende; Alice Bensheimer, korrespond. Schriftführerin; Marie Baum (DDP), Protokoll. Schriftführerin; Elisabeth Altmann-Gottheiner (DDP), Schatzmeisterin; Luise Kiesselbach (DDP), Beisitzerin; Marie-Elisabeth Lüders (DDP), Beisitzerin; Emma Ender (DVP). 1931/32 Agnes von Zahn-Harnack (Deutsche Staatspartei), Vorsitzende; Gertrud Bäumer (Deutsche Staatspartei), stellv. Vorsitzende; Else Kolshorn, stellv. Vorsitzende; Emmy Beckmann (Deutsche Staatspartei); Magnus von Hausen (DVP); Else Ulich-Beil (DVP); Anna von Gierke (DNVP); Käthe von Herwarth (DNVP); Maria Jecker (DNVP); Gräfin Margarete von Keyserlingk (DNVP).
geoisen Politik, b e j a h t e die Republik, in der sie ihre gemäßigten frauenrechtlerischen Zielvorstellungen weitgehend realisiert sah, und orientierte sich außenpolitisch an einem Nationalismus, der wesentlich der regierungsoffiziellen Linie folgte, extreme Positionen vermied u n d scheinbar sogar pazifistische Einflüsse reflektierte. Das erregte in den deutschnationalen Kreisen, die vor allem im Reichsverband Deutscher Hausfrauenvereine und im Reichsverband l a n d w i r t schaftlicher Hausfrauenvereine großen Einfluß ausübten, immer wieder Mißt r a u e n bzw. den Verdacht „nationaler Unzuverlässigkeit" und setzte der B D F seit 1931 auch immer stärker Angriffen der faschistischen K r ä f t e aus. Der BDF, der sich als offizieller Repräsentant der „deutschen Frauenbewegung" und als Fortsetzer der liberalen, gemäßigt frauenrechtlerischen Traditionen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung des 19. J h . betrachtete, besaß eine eindeutig proimperialistische Grundorientierung in allen entscheidenden innenund außenpolitischen Fragen. Die F r a u e n f r a g e faßten seine f ü h r e n d e n Repräsentantinnen als „Kulturidee" auf. Dabei w u r d e der Gedanke der menschlichen Gleichheit und der umfassenden Gleichberechtigung beider Geschlechter i n ' d e r Gesellschaft durch die imaginäre geschlechterpsychologische Auffassung von der „Andersartigkeit der F r a u " ersetzt. Die F r a u sollte auf Grund ihrer Eigenart das Wesen und Schaffen des Mannes harmonisch ergänzen und zur Bereicherung der K u l t u r der bürgerlichen Gesellschaft beitragen. 1 9 So beschränkte sich der BDF bereits vor 1914 wesentlich auf Bildungsforderungen und Bemühungen u m die Erweiterung der Chancen bürgerlicher und kleinbürgerlicher F r a u e n im beruflichen Leben. Seit 1918/19 t r a t — bedingt vor allem durch die Existenz des Frauenwahlrechts — stärker die Idee der „staatsbürgerlichen Erziehung" der F r a u e n in d e n Vordergrund, v e r b u n d e n mit dem Bestreben, den bürgerlichen Parteien eine stabile und umfassende weibliche Wählerschaft sichern zu helfen. Zugleich verstand sich der BDF als staatsbürgerlicher Integrationsfaktor im 13 ,3
Vgl. Greven-Aschoff, S. 298 f. Bäumer, Gertrud, Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart, Wiesbaden 1904, S. 23.
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Sinne der nationalistischen „Volksgemeinschafts"-Idee. Er wollte — wie es in seinem im September 1919 von der Hamburger Generalversammlung des Bundes beschlossenen Programm hieß — „die Frauen sammeln im Geiste einheitlicher, aufbauender Arbeit, im Glauben an die Kraft unseres Volkes zu neuem Aufstieg". Er propagierte die Förderung des „inneren Friedens" sowie die „Überwindung sozialer, konfessioneller und politischer Gegensätze durch Opferbereitschaft, Gemeinsinn und ein starkes, einheitliches Volksbewußtsein". 20 Damit knüpfte der B D F an die imperialistische Grundidee des maßgeblich von ihm 1914 geschaffenen Nationalen Frauendienstes an. Die proimperialistische politische Grundorientierung und die Vorstellung vom Wesen der Frauenfrage, die von den kämpferischen, demokratischen Ideen der frühen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen weit entfernt waren, schränkten wesentlich auch die Fähigkeiten des BDF ein, Fraueninteressen zu vertreten. Zwar unterstützte er in Wort und Schrift progressive Bestrebungen zur Reform des Familienrechts im Sinne des Gleichberechtigungsprinzips, auch Reformen auf dem Gebiet des Wohlfahrtswesens und des Arbeitsschutzes der Frauen, aber seine Führerinnen tendierten in Entscheidungssituationen stets zu den entsprechenden Konzeptionen der bürgerlichen Parteien. So wies Gertrud Bäumer als Reichstagsabgeordnete und „Frauenexpertin" der DDP gemeinsam mit Vertretern anderer bürgerlicher Parteien immer wieder die in Anträgen der KPD entwickelten Vorstellungen für eine demokratische Umgestaltung des Mutterund Kinderschutzes zurück. 21 Im Mai 1932 begründete sie die Stimmenthaltung ihrer Fraktion zu einem Gesetzentwurf, der das in Artikel 128 der Weimarer Verfassung gesicherte Recht verheirateter Reichsbeamtinnen auf Berufstätigkeit einschränkte. 22 Der Vorstand des B D F hatte sich bereits im April 1930 in einer Erklärung zu „Frauenarbeit und Wirtschaftskrise" auf Positionen der bürgerlichen „Doppelverdiener"-Theorie begeben. 23 Es zeigte sich die prinzipielle Unvereinbarkeit der Aufgabe, die Lebensinteressen der werktätigen Frauen zu vertreten und gleichzeitig das monopolkapitalistische System in seiner Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik zu unterstützen. Die Hilflosigkeit und Kompromißbereitschaft, mit der die Repräsentantinnen des B D F dem Abbau gerade der Frauenrechte in den Jahren der Weltwirtschaftskrise gegenüberstanden, veranlaßte Käte Duncker 1932 zu der Feststellung, daß „der verfallende Kapitalismus die bürgerliche Frauenbewegung . . . wieder mit leeren Händen dastehen [läßt];- es geht ihr wie dem Köhler im Rübezahlmärchen: er glaubte, Gold zu haben,-und fand anderen Tags nur dürres Laub". 24
Quellen zur Geschichte der Frauenbewegung, hrsg. von Emmy Beckmann und Elisabeth Kardel, Frankfurt a. M./Berlin [West]/Bonn 1955, S. 37 f. 21 Charakteristisch dafür war ihr Auftreten in der Beratung des Gesetzentwurfs der KPD zum Schutze für Mutter und Kind (vom 30. 6.1928) im Reichstag am 28. 2.1929. Vgl. Verhandlungen des Reichstages, IV. Wahlperiode 1928, Bd. 424, Berlin 1929, Sp. 1324 f. Siehe dazu auch Arendt, Hans-Jürgen, Zum Kampf der Reichstagsfraktion der KPD für den Schutz von Mutter und Kind 1921-1929, in: Mitteilungsblatt, 1985, 2, S. 24 ff. 22 Verhandlungen des Reichstages, V. Wahlperiode 1930, Bd. 446, Berlin 1932, Sp. 2681. 23 Die Frau, 1931, 7, S. 385. 2'' Der Weg der Frau, 1932, 6, S. 8. 20
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In Hinblick auf seine Rolle im politischen Leben und auf seinen Masseneinfluß verlor der BDF in der Weimarer Republik, besonders in den Jahren nach 1928 immer mehr an Bedeutung. Es zeigte sich unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise die starke Heterogenität der sozialen Interessen innerhalb des Bundes. Die vermeintliche „Einheit der Frauenbewegung" erwies sich auch angesichts der unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen, die die Vertreterinnen der einzelnen bürgerlichen Parteien in politischen Fragen vertraten — vor allem angesichts der Gegensätze zwischen Vertreterinnen der DNVP und der DDP bzw. der Deutschen Staatspartei —, als eine Fiktion. 1932 schieden zwei große Mitgliedsorganisationen des BDF, der RDH und der RLHV, aus dem BDF aus. Beide Organisationen betrachteten sich als Teil der „nationalen Opposition" gegen die Weimarer Republik, waren politisch vor allem an der DNVP orientiert und auch bereits faschistisch unterwandert. 23 Sie mißbilligten das Bekenntnis zu Abrüstung und Verständigung mit den Westmächten, das der Vorstand des BDF im Zusammenhang mit der Genfer Abrüstungskonferenz 1932 abgegeben hatte. 26 Ihre Haltung entsprach ausgeprägt großbürgerlich-junkerlichen Interessen, die u. a. in der Zusammensetzung der Mitglieder beider Organisationen
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Der RDH entstand 1915 im Zusammenhang mit Bestrebungen der imperialistischen Kräfte zur Organisierung der Kriegsernährungswirtschaft. Ernährungspolitische Propaganda, Einflußnahme auf die Preisgestaltung von Lebensmitteln und sogenannte hauswirtschaftliche Schulungsarbedt gehörten zu den Tätigkeitsgebieten der Organisationen, ebenso die Vermittlung von Hausangestellten, das Eintreten für ein haiuswirtschaftliches Ausbildungsjähr der Mädchen und die Werbung für den Hausfrauen „beruf". Der Verband propagierte das bürgerliche Leitbild der Frau im eigenen Haushalt oder im sogenannten häuslichen Dienst. Bereits 1921 verfügte er über 198 Vereine mit etwa 200 000 Mitgliedern. Vorsitzende waren bis 1922 Martha Voß-Zietz, von 1922 bis 1926 Anna Gerhardt und ab 1927 Maria Jecker. Die deutschnationale Berliner Unternehmerin Hedwig Heyl (die Tochter Eduard Crüsemanns, des ersten Direktors des Norddeutschen Lloyd) war Ehrenvorsitzende des Verbandes und zugleich des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft. Zum RDH vgl. Bridenthal, S. 153ff.; 20 Jahre Reichsgemeinschaft deutscher Hausfrauen e. V. 1915 bis 1935. Ein Rückblick auf die Tätigkeit der Reichsgemeinschaft Reichsverband Deutscher Hausfrauenvereine (RDH) in 20 Arbeits jähren, Aachen 1935. Der RLHV wurde 1916 gegründet. Vorläufer waren die seit 1898 in Preußen entstandenen junkerlich-großbäuerlich geführten landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine. Der Verband bemühte sich um die Organisierung vor allem der Groß- und Mittelbäuerinnen. 1933 umfaßte er 25 Landes- und Provinzialverbände mit insgesamt 2 458 Kreis- und Ortsvereinen, in denen etwa 90 000 Mitglieder organisiert waren. Der Verband wurde 1934 in den faschistischen Reichsnährstand eingegliedert. Vgl. Breuer, Lore, Frauenhandbuch, Koblenz 1974, S. 212 f. Offiziell gaben die Hausfrauenverbände für ihren Austritt aus dem BDF organisatorische und finanzielle Gründe an (vgl. Nachrichtenblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1932, S. 52). Gertrud Bäumer erkannte aber, daß der eigentliche Grund für das Ausscheiden die Haltung des BDF-Vorstandes in der Abrüstungsfrage sei (vgl. Die Frau, 1931/32, S. 596). Dagegen hatten die Hausfrauen verbände bereits seit 1931 opponiert, standen sie doch auf der Position der faschistischen und militaristischen Kräfte, die das „Recht auf Deutschlands Wehreinheit" betonten und Abrüstungsbestrebungen, die Deutschland einschlössen, bekämpften. J a h r b u c h 38
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deutlich zum Ausdruck kam, trugen diese doch bis zu einem gewissen Grade den Charakter von Arbeitgeberorganisationen: Organisationen von Frauen, die Dienstpersonal beschäftigten und schon von daher an einer Politik der „starken Hand" interessiert waren. Die aus dem RDH 1934 hervorgegangene faschistische Reichsgemeinschaft Deutscher Hausfrauen unterstützte die Hitlerregierung insbesondere bei ihren Plänen und Praktiken zur Einführung des sogenannten hauswirtschaftlichen Jahres bzw. Pflichtjahres. 27 Die führenden Funktionärinnen des BDF-Vorstandes, auch jene, die der Staatspartei angehörten, wichen vor den Angriffen der deutsch-nationalen Kreise im Bund und auch vor denen der Nazipartei gegen die „alte Frauenbewegung" zurück. Sie versuchten, deren Vorwürfe durch eigene Kompromißbereitschaft zu parieren, betonten ihre Übereinstimmung in grundlegenden „nationalen Fragen" und beschränkten sich auf eine verhaltene, wenn auch in der Sache unvermeidliche Kritik am faschistischen Antifeminismus. Ende 1932 gab Gertrud Bäumer der Hoffnung Ausdruck, daß der Nationalsozialismus von der „einfachen Verneinung" zu „positiven Vorschlägen und Zielen" übergehe. „Wie oft muß noch auseinandergesetzt werden", so schrieb sie, „daß ihrem Wesen nach die Frauenbewegung ihre positiven Aufgaben genau ebenso innerhalb einer konservativen wie einer liberalen oder sozialistischen Staatspolitik findet. Es handelt sich in jedem Fall darum, die Mitwirkung der Frauen sinngemäß einzubauen."28 Das war faktisch die Vorwegnahme ihrer Erklärung vom April 1933, wonach es „im letzten Grunde vollkommen gleichgültig" sei, „wie der Staat beschaffen ist, in dem heute die Einordnung der Frau besteht: ob es ein parlamentarischer, ein demokratischer, ein faschistischer Staat ist". 29 Am 15. Mai 1933 löste sich auf Beschluß seines Gesamtvorstandes der BDF auf. Die bürgerliche Frauenbewegung hatte vor dem Faschismus kapituliert.30 Ihre führenden Vertreterinnen zogen sich ins Privatleben zurück, einige wurden zur Emigration gezwungen — unter ihnen 1937 Alice Salomon, die Begründerin der ersten deutschen Ausbildungseinrichtung für soziale Frauenberufe und seit 1932 stellvertretende Vorsitzende des IFB. Es kann angesichts dieser Entwicklung nicht übersehen werden, daß auch im BDF antifaschistisches Potential vorhanden war. Viele seiner Mitglieder, gerade diejenigen, die in der „alten Frauenbewegung" konsequent im frauenrechtlerischen Sinne tätig gewesen waren und mit oft großem persönlichem Engagement manchen Reform-Fortschritt mitbewirkt hatten, waren politisch-ideologisch viel zu sensibel, als daß sie den zutiefst reaktionären, frauenfeindlichen Grundzug des Faschismus nicht sahen. Sie mochten es als eine Genugtuung empfinden, daß der BDF die Selbstauflösung der nazistischen „Gleichschaltung" vorzog, aber auch als eine tiefe Enttäuschung, daß maßgebliche Führerinnen — allen voran Gertrud Bäumer — die progressiven Traditionen der deutschen bürgerlichen
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20 Jahre Reichsgemeinschaft deutscher Hausfrauen, S. 20 f. Die Frau, 1932/33, 3, S. 165 und 167. Ebenda, 7, S. 385. Vgl. dazu Arendt, Hans Jürgen, Die „Gleichschaltung" der bürgerlichen Frauenorganisationen in Deutschland 1933/34, in: ZfG, 1979, 7, S. 615 ff.
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Frauenbewegung mißachteten und sogar bereit waren, an der Etablierung des Naziregimes mitzuwirken. Für die politische Entwicklung im Lager der bürgerlichen Frauenbewegung und der Frauenorganisationen überhaupt war in der Weimarer Republik charakteristisch, daß immer mehr Frauen aus dem Bürgertum und Kleinbürgertum nationalistischer und faschistischer Ideologie zum Opfer fielen. Während die Zahl der Mitglieder in den liiberal-frauenrechtlerisch orientierten Verbänden des BDF sank,31 verfügten jene Frauenorganisationen über wachsenden Masseneinfluß, die keinerlei frauenrechtlerische Bestrebungen verfolgten, aber vorgaben, die Frau wieder zu ihrer „eigentlichen Aufgäbe" in Familie und Gesellschaft zu führen, Frauenorganisationen, die der Frauenemanzipation ablehnend gegenüberstanden oder ihr sogar den Kampf ansagten. In diesen Verbänden sammelte sich der überwiegende Teil der organisierten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauen in den Jahren der Weimarer Republik, namentlich auch Frauen aus der jüngeren Generation. Zunächst zu nennen sind hier die Frauenorganisationen, die sich um die beiden christlichen Kirchen gruppierten und die in der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands bzw. im Zentralverband katholischer Frauenund Müttervereine Deutschlands ihre Dachorganisationen besaßen. Die führende Rolle als Kaderorganisationen spielten dabei der Deutsch-Evangelische Frauenbund (DEFB)32 bzw. der Katholische Deutsche Frauenbund (KDF)r\ Die 14 evan31
So verfügte z. B. der dem BDF und dem Deutschen Akademikerinnenbund angeschlossene Verein „Frauenbildung — Frauenstudium" (gegründet 1890) 1919 über etwa 4 000 Mitglieder, 1931 nur noch über 893 (vgl. Evans, S. 238). Der BDF insgesamt dürfte zur Zeit seiner Selbstauflösung im Mai 1933 nur noch etwa 450 000 Mitglieder umfaßt haben. 33 Der DEFB wurde 1899 gegründet, um — wie die Deutsch-evangelische Frauenzeitung vom März 1925 freimütig schrieb — „die Frauen der rechtsgerichteten, entschieden evangelischen Kreise mobil zu machen". Von 1908 'bis 1918 gehörte der DEFB dem BDF an, wo er die Rolle einer konservativen Oppositionsgruppierung spielte, die in wesentlichen frauenpolitischen Fragen vom offiziellen Programm des Bundes abwich. 1918 schied der DEFB aus dem BDF aus, weil er die Bemühungen linksliberaler Kreise des Bundes um das Frauenwahlrecht mißbilligte. 1926 vereinigte die Organisation in 174 Ortsgruppen und 110 angeschlossenen Vereinen etwa 200 000 Mitglieder. Geleitet wurde sie von Paula Mueller-Otfried (DNVP), die 1912 auch zu den Mitbegründerinnen der Vereinigung konservativer Frauen gehört hatte. Im Juni 1933 erklärte der leitende Ausschuß des DEFB auf seiner Tagung in Naumburg, daß er sich „freudig hinter die nationale Regierung" stelle, um mitzubauen „am neuen Reich" (Die Frau, 1932/33, 11, S. 699). Im Rahmen des 1933 geschaffenen Frauenwerkes der Deutschen Evangelischen Kirche schloß sich der DEFB dem faschistischen Deutschen Frauen werk an. Vgl. Zahn-Harnack, S. 21 ff.; Kaufmann, S. 265 ff.; Arendt, Die „Gleichschaltung", S. 623 ff. 33 Der KDF entstand in Anknüpfung an die Tätigkeit zahlreicher bereits im 19. Jh. entstandener katholischer Frauen- und Müttervereine 1903. Seine Tätigkeit war von Anfang an eng verbunden mit der katholischen Kirche und der Zentrumspartei. Der KDF umfaßte 1930 etwa 210 000 Mitglieder, die sich vor allem in den katholischen Diözesen Bayerns, des Rheinlandes, Westfalens und Oberschlesiens konzentrierten. Sie entstammten vor allem den städtischen Mittelschichten, Beamten- und intellektuellen Kreisen sowie der Mittel- und Großbauernschaft. Geleitet wurde die Orga-
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gelischen Frauenorganisationen umfaßten 1933 etwa zwei Millionen Mitglieder.3'' In den 19 katholischen Frauenvereinigungen waren 1931 etwa 1,5 Millionen Mitglieder vereinigt. 35 Daneben existierte der Zentralverband der katholischen Jungfrauenvereinigungen Deutschlands, dem Verbände in allen katholischen Diözesen angehörten, die insgesamt 780 000 Mädchen und junge Frauen vereinigten. 36 Die konfessionellen Frauenorganisationen — sie bildeten die zahlenmäßig größte Gruppierung unter den bürgerlichen Frauenorganisationen der Weimarer Republik — befanden sich unter klerikaler Führung, vertraten ihren Mitgliedern und
nisation bis 1925 von Hedwig Dransfeld (Zentrum) und danach von Helene Weber (ebenfalls Reichstagsabgeordnete der Zentrumspartei sowie Ministerialrätin im preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt), seit 1929 von Gerta Krabbel. Der 1933/34 von der NS-Frauenschaft unternommene Versuch, den KDF und andere katholische Frauenorganisationen dem faschistischen Deutschen Frauenwerk anzuschließen, scheiterte an weltanschaulichen Gegensätzen sowie der ablehnenden Haltung vieler Mitglieder gegenüber dem Naziregime, insbesondere seiner Kirchenpolitik. Vgl. Zahn-Harnack, S. 23 f.; Hesse, Renate/Feustel, Martina, Zur Frauenpolitik der Deutschen Zentrumspartei und zur Rolle der katholischen Frauenorganisationen in Deutschland 1918 bis 1923, Diplomarbeit, Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin" Leipzig 1980, Bl. 16 ff. (MS); Frankenberg, Cordula/Misch, Ina, Zur Frauenpolitik der Deutschen Zentrumspartei und zur Rolle der klerikalen Frauenorganisationen in Deutschland 1929 bis 1932, Diplomarbeit, Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin" Leipzig 1980, Bl. 16 ff. (MS);) Lion, Hilde, Zur Soziologie der Frauenbewegung. Die sozialistische und die katholische Frauenbewegung, Berlin 1926, S. 121 ff. (Schriftenreihe der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit in Berlin); Fünfundzwanzig Jahre Katholischer Deutscher Frauenbund, Hrsg.: Katholischer Deutscher Frauenbund, Köln 1928; Kaufmann, S. 202 ff.; Arendt, Die „Gleichschaltung", S. 624. r * Vgl. dazu Tabelle 1. Neben dem Zentral verband existierten weitere, von katholischen Jugendfunktionärinnen geführte Verbände der katholischen weiblichen Jugend : der Süddeutsche Verband katholischer weiblicher Jugendvereine (1932: 25 000 Mitglieder), der Heliandbund (eine Organisation für Schülerinnen höherer Schulen; 1932: 3 400 Mitglieder), der Jugendbund des Katholischen Deutschen Frauenbundes (1932: 8 000 Mitglieder) und die Franziskanische Jugend (eine Ordens-Jugendorganisation, der 1932 neben 675 Jungen 1 450 Mädchen angehörten). Vgl. Fischer, Josepha, Die Mädchen in den deutschen Jugendverbänden. Stand, Ziele und Aufgaben, Leipzig 1933, S. 8 f. 33 Veeh, Margarete, Ausbreitung und ideologische Begründung der deutschen Frauenbewegung in der Gegenwart, phil. Diss., Heidelberg 1933, S. 47. Vgl. dazu auch Tabelle 1. % Der Verband vereinigte 1915 zunächst die Diözesenverbände Paderborn, Münster und Köln der marianischen Jungfrauenkongregationen, die bereits im 19. Jh. entstanden waren. In der Folgezeit schlössen sich dem Zentralverband weitere Verbände an. Die Mitglieder waren in Pfarrvereinen, Bezirksverbänden (auf Dekanatsbasis) und Diözesenverbänden straff organisiert. An der Spitze des Zentralverbandes stand Generalpräses Monsignore Hermann Kiens. Nach der Machtergreifung des Faschismus wurden die katholischen Jungfrauenvereinigungen — wie auch andere katholische Verbände — immer mehr in den innerkirchlichen Wirkungsraum zurückgedrängt. Im Juli 1939 besetzte die Gestapo das Bundeshaus des Zentralverbandes in Köln und beschlagnahmte sein Vermögen.
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der Öffentlichkeit gegenüber ein konservatives Leitbild von der Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft, das vor allem theologisch begründet wurde, und gingen in ihren frauen- und familienpolitischen Vorstellungen, auch ihren Auffassungen zu anderen Fragen von konservativen Positionen aus. Sie gehörten zur Massenbasis jener politischen Kräfte, die dem Prinzip der Gleichberechtigung" der Frau und jeder weiteren Reform im Sinne demokratischer Ausgestaltung der Frauenrechte ablehnend gegenüberstanden. Offiziell ohne parteipolitische Orientierung, unterstützten sie in Wahlkämpfen die katholische Zentrumspartei bzw. die Deutsche und die Deutschnationale Volkspartei. Die konfessionellen Frauenorganisationen übten im Gegensatz zu den Verbänden des BDF auch auf proletarische Frauen erheblichen Einfluß aus, auf Landarbeiterinnen und Hausgehilfinnen, auf proletarische Hausfrauen, Heimarbeiterinnen und auch auf Industriearbeiterinnen. Das galt prinzipiell für all diese Organisationen, besonders aber die speziellen evangelischen und katholischen Arbeiterinnenvereine, die katholisch orientierten christlichen Gewerkschaften und die konfessionellen Hausgehilfinnenorganisationen. In dem 1908 gegründeten Gesamtverband evangelischer Arbeiterinnenvereine waren schätzungsweise etwa 50 000 Arbeiterinnen vereinigt,37 in den drei Verbänden katholischer Arbeiterinnenvereine 35 000.38 Dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften gehörten 1919 160 000 Frauen an, 1931 allerdings nur noch 94 400.39 In diesem Rückgang spiegelte sich die Massenarbeitslosigkeit wäihrend der Weltwirtschaftskrise ebenso wider wie die patriarchalische Grundhaltung und die mangelnde Vertretung der Arbeiterinneninteressen durch die Führer der christlichen Gewerkschaften, standen diese doch auf Positionen der „Doppelverdiener"Theorie. Die konfessionellen Frauen-, auch die Arbeiterinnenorganisationen beteiligten sich während der Weltwirtschaftskrise an der Diffamierung berufstätiger verheirateter Frauen und gehörten zu den Stützen der Notverordnungspolitik der Präsidialregierungen. 40 Sie sahen ihren Auftrag darin, dem Prozeß der Hinwendung vieler Arbeiterinnen zu proletarischen Organisationen aktiv entgegenzuwirken. Der Einfluß, den die evangelischen und katholischen Frauenorganisationen gerade auf Teile des weiblichen Proletariats ausübten, resultierte vor allem aus konfessionellen Bindungen, die vielen Frauen und Mädchen durch religiöse Er37
Zu den evangelischen Arbeiterinnenvereinen vgl. Achenbach, Hermann, Die konfessionelle Arbeitervereinsbewegung unter besonderer Berücksichtigung ihrer sozialen und sozialpolitischen Problematik, phil. Diss., Gießen/Siegen 1935, S. 32. (In der gesamten Literatur zu den evangelischen Arbeitervereinen, auch im Beitrag von Dieter Fricke im Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 3, 1985, S. 14 ff., werden keine Mitgliederzahlen der Arbeiterinnenvereine genannt). 3S Fricke, Dieter/Gottwald, Herbert, Katholische Arbeitervereine (KA) 1881—1945, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 3, 1985, S. 196 f. 33 Schneider, Michael, Die christlichen Gewerkschaften 1894—1933, Bonn 1982, S. 453 (Politik und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 10). 'l0 So forderte am 2. 2.1930 das Organ des Verbandes katholischer Vereine erwerbstätiger Frauen und Mädchen „Frauenarbeit": „Allen unseren Mitgliedern, die in Betriebsräten tätig sind, erwächst die Pflicht, bei Kundgebungen auf die Entlassung der möglichen Doppelverdiener zu dringen." Es sei unbegreiflich, „daß der Staat hier noch nicht eingegriffen hat".
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Ziehung und kirchlichen Einfluß vermittelt worden war. Hinzu kam gezielte, vielfach mit karitativer Tätigkeit verbundene Werbetätigkeit der konfessionellen Verbände unter Arbeiterinnen und anderen proletarischen Frauen, verstanden sich diese Organisationen doch — indem sie von konfessionellen Auffassungen zur sozialen Frage ausgingen — im volksmissionarischen Sinne als Glieder einei; kirchlichen Laienbewegung bzw. eines Laienapostolats. Papst Pius XII. bezeichnete die Tätigkeit des Zentralverbandes katholischer Frauen- und Müttervereine, der 1928 im Zusammenhang mit der Proklamation der Katholischen Aktion entstanden war, sogar als „das weitreichendste und wirksamste Apostolat, um der allgemeinen Vermassung unserer Zeit entgegenzuwirken", 41 wobei der Begriff der „Vermassung" nur eine Umschreibung für demokratische und revolutionäre Tendenzen unter den werktätigen Massen war. Ähnlich verstanden die evangelischen Frauenverbände ihre missionarische Aufgabe. „Die einzig mögliche Gegenwehr gegen den Ansturm der kommunistischen Gedanken", schrieb 1931 das Organ des Gesamtverbandes evangelischer Arbeiterinnenvereine, „ist eine feste Verwurzelung in einem auf die Bibel gegründeten Glauben an Gott, ist die Gewißheit, daß unser Leben einen tieferen Sinn hat als wirtschaftliche Verhältnisse.'"'2 Gerade in den Frauen und Müttern erblickten die klerikalen Kräfte jene große sozialdemographische Gruppe der Bevölkerung, die sich durch Beharrung im Althergebrachten sowie durch eine spezifische Beziehung zu den tradierten christlichen Werten in Familie und Gesellschaft auszeichnete und die es — ihrer Auffassung nach — darin zu bestärken galt. Diese Zielsetzung war in den katholischen Frauen- und Mädchenorganisationen aufs engste mit dem Marienkult verbunden. Tabelle 4 Weibliche Mitglieder in Parteien und Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung 1927 und 1931i3
Kommunistische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Internationale Arbeiterhilfe Rote Hilfe Deutschlands Roter Frauen- und Mädchenbund Kampfbund gegen den Faschismus Sozialistische Arbeiterjugend
41
42 43
1927
1931
16 200 181 500 680 500 24 000 39 100 25 000
37 000 230 300 618 000 71 500 141 000
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Zit. nach Spael, Wilhelm, Das katholische Deutschland im 20. Jahrhundert. Seine Pionier- und Krisenzeiten 1890-1945, Würzburg 1964, S. 104. Deutsche Arbeiterin, 1931, 2, S. 12. Vgl. Arendt, Hans-Jürgen, Zum Anteil der Frauen in den Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung, in: Mitteilungsblatt, 1978, 1, S. 19 ff.; Kuczynski, Jürgen, Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiterin in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Berlin 1965, S. 251 (Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, T. 1, Bd. 18); Fischer, S. 13.
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Die Leiterinnen der konfessionellen Frauen- und Mädchenorganisationen arbeiteten eng mit den Geistlichen zusammen, vielfach lag die Führung direkt in deren bzw. in den Händen von Ordensschwestern und Mitarbeiterinnen des kirchlichen Dienstes. In gewissem Unterschied zu den Verbänden der bürgerlichen Frauenbewegung, die der BDF vereinigte und die ihre organisatorische Arbeit vorwiegend auf der Ebene ihrer Vorstände leisteten, die Mehrzahl der Mitglieder aber kaum einbezogen, besaßen die konfessionellen Organisationen — bedingt vor allem durch ihre Beziehungen zu den kirchlichen Gemeinden — ein reges innerorganisatorisches Leben. Es schloß die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen ein, Frauenleseabende, volkskünstlerische Betätigung, Reisen und Fahrten, nicht zuletzt eine rege karitative Tätigkeit, die auch auf nicht konfessionell gebundene Bevölkerungskreise ausstrahlte. Das Wohlfahrtswesen der beiden Kirchen, das seinerseits einen wesentlichen Teil der gesamten Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik darstellte, stützte sich in erheblichem Maße auf die Wirksamkeit klerikaler Frauenorganisationen. 44 Hierzu zählte auch die sogenannte Fabrikpflege, die von den Unternehmern geförderte ideologische und sozialfürsorgerische Arbeit in den Betrieben, die sich seit ihren Anfängen im Weltkrieg vor allem in den Jahren der relativen Stabilisierung des Kapitalismus stärker entwickelte. 45 Ihr Ziel umriß 1931 Berta Stehle, eine Funktionärin des KDF, auf dessen Generalversammlung in Breslau mit den Worten: Es sei nicht in erster Linie Aufgabe der Betriebspflege, entstandene Schädigungen zu heilen, „sondern durch Mitarbeit an der Betriebsführung Arbeitskraft, Arbeitsfreude und Interesse des Arbeiters am Betriebe und an einer guten Produktion zu erhalten und zu wecken". 46 Die Organisationen des BDF und auch die konfessionellen Frauen- und Mädchenorganisationen waren zum überwiegenden Teil schon im Kaiserreich entstanden, hauptsächlich im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion der Frauenfrage, gewerkschaftlichen und berufsorganisatorischen Bestrebungen sowie den Bemühungen reaktionärer Kräfte um die Gewinnung einer Massenbasis gegen 44
So schuf z. B. die Evangelische Frauenhilfe von 1922 bis 1930 1 270 Stadt- und Kreiswohlfahrtsdienste bzw. kirchliche Jugend- und Wohlfahrtsämter. Die Organisation unterhielt zehn Mütterheime, in denen 1932 Mütter 400 000 Ferientage verbrachten, außerdem 35 weitere Erholungsstätten. Etwa 90 Prozent der Fürsorgeanstalten Deutschlands befanden sich 1928 in den Händen konfessioneller Verbände oder direkt der Kirchen. In größerem Umfange entwickelten sich in den Jahren der Weimarer Republik auch die konfessionellen Kindergärten. Vgl. Die Frau, 1932/33, 11, S. 696; Arbeiterwohlfahrt, 1928, 10, S. 300; Gerhardt, Martin, Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Centraiausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, 2. Teil: Hüter und Mehrer des Erbes, Gütersloh 1948, S. 282 f. ''3 1925 gab es in 116 Betrieben — es waren durchweg Großbetriebe — 110 Fabrikpflegerinnen. Vgl. Schmidt-Kehl, Ludwig, Die deutsche Fabrikpflegerin, Berlin 1926, S. 7. — Zur historischen Entwicklung der betrieblichen Sozialarbeit seit 1914 in Deutschland und besonders zur sogenannten Fabrikpflege vgl. Sachse, Carola, Hausarbeit im Betrieb, Betriebliche Sozialarbeit unter dem Nationalsozialismus, in: Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, hrsg. von Carola Sachse u. a., Opladen 1982, S. 209 ff. 16 Frauenwacht, 1932, 3, S. 7.
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die Arbeiterbewegung. Die Entstehung zählreicher Frauenorganisationen besonders seit der Jahrhundertwende war ein spezifischer Reflex der Massenpolitik der imperialistischen Bourgeoisie, ihres Strebens nach Organisierung und Mobilisierung möglichst großer Teile der Volksmassen im Interesse der Systemstabilisierung. Zugleich reflektierte dieser Prozeß demokratische Organisationsbestrebungen unter den Frauen in ihrem Bemühen um Gleichberechtigung und verantwortliche Mitwirkung im öffentlichen Leben, um aktive Wahrnehmung ihrer Lebensinteressen. Selbst die konfessionellen Organisationen konnten sich gewissen Zugeständnissen an den Gedanken der Gleichberechtigung der Frau nicht entziehen, zumal angesichts der Errungenschaften der Novemberrevolution und der Gründung der Weimarer Republik, die in ihrer Verfassung das Gleichberechtigungsprinzip verankert hatte.47 In den 20er Jahren entstanden jedoch auch Frauenorganisationen, die extrem reaktionäre Positionen vertraten, in allen innen- und außenpolitischen Fragen die Konzeptionen der abenteuerlich-militaristischen Fraktion des deutschen Monopolkapitals bzw. der faschistischen Kräfte, die zunehmenden Einfluß gewannen, teilten und direkt Frontstellung auch gegen die Errungenschaften der Frauenemanzipation bezogen. Sie knüpften dabei an die antisemitisch-antifeministischen Konzepte an, die konservative Kräfte schon vor dem Krieg im Kampf gegen die proletarische und die bürgerliche Frauenbewegung sowie gegen das Prinzip der Gleichberechtigung der Frau überhaupt entwickelt hatten, 48 auch an die Tätigkeit solcher Organisationen wie der Vaterländischen Frauenvereine, der Frauenvereine des Alldeutschen Verbandes, des Flottenbundes Deutscher Frauen und der kolonialen Frauenvereine, des 1909 von konservativen Kräften gegründeten Deutschen Frauenbundes (DFB) sowie der Vereinigung konservativer Frauen, die 1913 entstanden war.49 Diese Organisationen hatten vorbe47
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So forderte der KDF bereits in den politischen Leitsätzen, die er auf seiner Tagung in Köln am 22.11.1918 beschloß, u. a.: „Aktives und passives Frauenwahlrecht im Reich, in den Bundesstaaten und in der Gemeinde. Vermehrte Mitarbeit der Frauen in der Verwaltung, auch an leitenden Stellen, insbesondere soweit die Interessenvertretung der Frau, der Familie, der Kinder und Jugendlichen in Betracht kommt. Eingliederung der weiblichen Kraft in alle Gebiete des Gemeinschaftslebens entsprechend ihren Anlagen und den beruflichen Voraussetzungen der einzelnen." (Vgl. Die christliche Frau, 1918, 11/12, S. 180). Vgl. dazu Sauer, Bl. 176 f£.; Arendt, Hans-Jürgen, Über eine besondere Komponente des Kampfes der reaktionären bürgerlichen Kräfte gegen die Emanzipation der Frau in Deutschland vor 1945, in: Wissenschaftliche Studien der Pädagogischen Hochschule „Clara Zetkin" Leipzig, 1973, 3, S. 78 ff. Einzelne dieser Organisationen gehörten vor 1918 auch dem BDF an, unter ihnen der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft und der DFB. Gemeinsam mit dem DEFB bildeten diese Verbände eine rechtsgerichtete Oppositionsgruppierung im BDF, die vor allem den linksliberal orientierten Stimmrechtsverbänden ihre Wirksamkeit und ihren Einfluß im BDF erschwerte. Der DFB war selbst eine Dachorganisation. In der Zeit der Weimarer Republik gehörten ihm u. a. an: der Flottenbund Deutscher Frauen, der Deutsche Jungmädchendienst, die Mädchengruppen der Bismarckjugend, der Baltische Frauenbund, der RDH, der Verband der Postbeamtinnen, der,Deutsche Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See und der Landesverband preußischer Volksschullehrerinnen (vgl. Deutsche Frau, 1923, 7-, S. 69).
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haltlos das monarchische System und den Militarismus unterstützt und gemeinsam mit anderen nationalistischen Verbänden die aggressive imperialistische „Weltmacht'-Politik propagiert. Während des ersten Weltkrieges gehörten sie zu den eifrigsten Befürwortern des imperialistischen Kriegszielprogramms und einer entsprechenden Durchhaltepolitik im Innern. Konterrevolutionäre und militärische Sammlungsbestrebungen brachten nach der Gründung der Weimarer Republik neben zahlreichen Wehrverbänden, Jugendverbänden usw. auch Frauenorganisationen hervor, darunter in München den Bund sozialer Frauen (1919), den Deutschen Frauendienst (1920), den Ring nationaler Frauen (1920), den Bund Deutscher Offiziersfrauen von 1914 (1920), die Ordensgemeinschaft Jungdeutscher Schwesternschaften (1921), den Frauenbund zur Wahrung der deutschen Ehre für unsere Kinder (1921), den Bund Deutscher Studentinnen (1921), den Deutschen Frauenkampfbund gegen die Entartung (1923), den Bund Königin Luise (1923), den Stahlhelm-Frauenbund (1928) und den Deutschen Frauenluftschutzdienst (1931). Gemeinsam mit dem Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, den Frauengruppen des Bundes der Auslandsdeutschen, des Deutschen Schutzbundes50 sowie anderer revanchistischer und militaristischer Organisationen bildeten diese Frauenverbände einen extrem-reaktionären Block, der zugleich ein Teil dessen war, was sich in der Weimarer Republik als „nationale Opposition" bezeichnete. Diese Frauenorganisationen unterstützten aktiv die militaristischen und faschistischen Kräfte, beteiligten sich an der Hetzpropaganda gegen die sozialistische Sowjetunion, die deutsche Arbeiterbewegung und die demokratischen Errungenschaften der Novemberrevolution. In der Außenpolitik unterstützten sie das „großdeutsche" Revancheprogramm der aggressivsten imperialistischen Kräfte, beteiligten sich an der nationalistischen Propaganda gegen den Versailler Vertrag, propagierten kolonialistische Ideen und lehnten Abrüstungsbestrebungen sowie Verständigungsbemühungen gegenüber den Westmächten ab. Ein Propagandathema, dem sie vor allem in den Jahren 1919 bis 1923 große Aufmerksamkeit widmeten und das sie emotional ausschlachteten, war die „Schwarze Schmach am deutschen Rhein", die angeblich massenhaften Übergriffe französischer Kolonialtruppen gegenüber deutschen Frauen und Mädchen im linksrheinischen Besatzungsgebiet.51 In Hinblick auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft propagierten die rechtsorientierten Frauenorganisationen — in weitgehender Übereinstimmung mit den konfessionellen — großenteils konservative Leitbilder und Unterordnung unter „männliche Führung". Die Jungdeutschen Schwesternschaften folgten z. B. dem von Arthur Mahraun, dem Führer des Jungdeutschen Ordens, verkündeten Grundsatz: „Die jungdeutsche Frau wird nur dann ihrer großen Aufgabe gerecht, wenn sie die alte Auffassung vom Kampf um das Recht der Frau völlig 50
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Dem Deutschen Schutzbund, dem 1919 gegründeten Kartell der sogenannten grenzund auslandsdeutschen Verbände, gehörten u. a. 15 Frauenorganisationen an, hauptsächlich deutschnational orientierte, bezeichnenderweise aber auch der BDF und der KDF (vgl. Fensch, Dorothea, Deutscher Schutzbund (DtSB) 1919—1936; in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2,1984, S. 292 f. Vgl. dazu Lebzelter, Gisela, Die „Schwarze Schmach". Vorurteile - Propaganda Mythos, in: GG 1985, 1, S. 37 ff.
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leugnet."52 Damit waren die Ideen der Frauenemanzipation gemeint, von denen sich die Frauen distanzieren sollten. In völliger Übereinstimmung mit faschistischen Vorstellungen erklärte das Nachrichtenblatt des Jungdeutschland-Bundes und des Deutschen Jungmädchendienstes: „Die Frau hat Hüterin des Blutes zu sein! . . . Die Bewahrung germanisch-nordischen Erbgutes, die Möglichkeit der Aufnordung eines Volkes, das rechtzeitig seines rassischen Niederganges bewußt wird, sind damit in erster Linie der Frau anvertraut. 1153 Für die rechtsorientierten Frauenverbände gab es gar keine Frauenfrage in der bürgerlichen Gesellschaft bzw. sie sahen in ihr ein Problem der Bevölkerungspolitik, ein Problem, bei dem es um „rassische Hochzucht" und die Divisionsstärken des Revanchekrieges ging. Sie verwiesen den Platz der Frau primär auf den familiären Wirkungskreis. Es war aber nicht nur die Ideologie „Zurück an den heimischen Herd", die die sogenannten völkischen Frauenverbände (in weitgehender Übereinstimmung mit den konfessionellen) propagierten. Sie forderten zugleich aktivistisches Eintreten von Frauen und Mädchen für die „nationale Sache", vielseitige Unterstützung der militaristischen Wehrverbände und Opferbereitschaft im kommenden Kriege. In diesem Zusammenhang organisierten sie Sanitätsdienste, beteiligten sich damit an Übungen und Aufmärschen der Wehrverbände, auch an Luftschutz- und Gasschutzübungen, veranstalteten sogenannte Grenzlandtreffen und unterstützten 1931/32 die Pläne und Praktiken zur Schaffung eines weiblichen Arbeitsdienstes.54 In ihren Bundesorganen, in Traktaten und Flugblättern verbreiteten sie nationalistische und revanchistische Ideologie.5" Charakteristisch für ihre staatspolitischen Zukunftsvorstellungen waren die Sympathien für das faschistische Italien. Im Mai 1930 traten z. B. 31 Führerinnen des Bundes Königin Luise (BKL) eine Studienreise in das „lateinische Preußen" an, wo sie mit faschistischen Frauenführerinnen Gespräche führten und auch von Mussolini empfangen wurden. 50 Etwa zur selben Zeit begannen sich immer enger 52 51
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Zit. nach Veeh, S. 59. Nachrichtenblatt des Jungdeutschland-Bundes und des Deutschen Jungmädchendienstes, 1932, 2, S. 5. Vgl. dazu Arendt, Hans-Jürgen, Pläne und Praktiken des weiblichen Arbeitsdienstes in der Geschichte des deutschen Imperialismus vor dem zweiten Weltkrieg, in: Mitteilungsblatt, 1980, 3, S. 27 ff. Ein typisches Beispiel dafür stellen die Ratschläge dar, die das Organ des Bundes Königin Luise für das Märchenerzählen der Mütter veröffentlichte. Es hieß darin: „Laß Dornröschen weiter hundert Jahre schlafen, wecke Schneewittchen nicht auf in seinem gläsernen Sarg, laß keine Taler vom Himmel fallen, sondern erzähle den lauschenden Buben und Mädchen die ,Märchen', die einmal wahr gewesen sind, die Märchen, die du noch miterleben durftest in goldenen Sonnentagen. ,Es war einmal ein großes herrliches Reich, das viele Kolonien besaß . . . Es war einmal ein wunderbares, unbesiegbares Heer . . . Es war einmal eine große stolze Flotte, die ihre heilige Fahne schwarz-weiß-rot hinaustrug auf die fernsten Weltmeere, deutschen Ruhm verkündend . . . ,Siehst du, wie die Augen deines Kindes leuchten, wie die Bäckchen glühen? Hast du deine Aufgabe ganz erfaßt, du deutsche Frau, du Mutter von heute?" (Der alte Dessauer, 1926, 12, S. 9). Vgl. Hadeln, Charlotte v., Deutsche Frauen studieren den Faschismus und werden von Mussolini empfangen, Halle 1933.
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werdende Beziehungen zwischen dem Bund und der Nazibewegung zu entwickeln. Die Selbstauflösung des BKL im Frühjahr 1934 und die Aufforderung der Bundesführung an die Mitglieder, der NS-Frauenschaft beizutreten, waren nur die logische Konsequenz der Entwicklung dieser Organisation, die 1932 etwa 100 000 Mitglieder umfaßte, 57 von der deutschnationalen Offizierswitwe Charlotte von Hadeln geführt wurde und deren offizielle Protektorin die Kronprinzessin Cäcilie war, die ihrerseits zugleich den niederschlesischen Provinzialverband der Rot-Kreuz-Frauenvereine leitete. Die auch in anderen Gebieten Deutschlands vielfach von Damen aus dem Hochadel geleiteten Vaterländischen Frauenvereine vom Roten Kreuz — sie umfaßten 1933 etwa 750 000 Mitglieder58 — standen den konservativen und „völkischen" Frauenverbänden sehr nahe, wenngleich sie offiziell parteipolitische Neutralität zu wahren wußten und auch enge Beziehungen zum Staatsapparat der Weimarer Republik besaßen. Eine gewisse Sonderstellung im Lager der konservativen und „völkischen" Frauenverbände nahm der 1923 gegründete Deutsche Frauenkampfbund gegen die Entartung ein, ein Ableger des konfessionell-nationalistischen „Neuland"Bundes. Beide Organisationen hatten ihre Zentrale in Eisenach und wurden von der Seminarlehrerin Guida Diehl geleitet, die lange Zeit im Deutsch-Evangelischen Frauenbund und im Evangelischen Verband zur Pflege der weiblichen Jugend gewirkt hatte. Der von ihr gegründete Frauenkampfbund — er soll nach Guida Diehls Angaben schon kurze Zeit nach seiner Gründung 200 000 Mitglieder umfaßt haben59 — trat vordergründig als „Bewegung zur Erneuerung der Sittlichkeit" auf, richtete aber in seiner Propaganda zugleich heftige Angriffe auf die Weimarer Republik und die demokratischen Errungenschaften. Er wandte sich auch gegen die beiden Kirchen, denen er den Vorwurf machte, sie würden sich dem Weimarer System anpassen. Dagegen brachte der Bund der Nazibewegung Sympathien entgegen. In der SA erblickte Guida Diehl eine Kraft, die den Sittlichkeitsbestrebungen des „Neuland"- und des Frauenkampfbundes mit Gewalt nachhalf.60 Der Bund unterstützte die Politik der 1930 in Thüringen eingesetzten, faschistisch geführten Landesregierung, und Wilhelm Frick vermittelte Guida Diehl den Kontakt zu Hitler, der sie seinerseits beauftragte, ihre Auffassungen vor den Gauleiterinnen der NS-Frauenschaft darzulegen.01 Guida Diehl, die der DNVP angehört hatte, wurde 1930 Mitglied der 57
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Unsere deutsche Frau. Wochenschrift des Königin-Luise-Bundes, Landesverband Braunschweig, 12. 4.1932. — Zum BKL vgl. Wasner, Brigitte, Der „Bund Königin Luise". Ein Beitrag zur Geschichte der Beeinflussung der Frauen im Sinne des Imperialismus und Militarismus, Staatsexamensarbeit, Pädagogische Hochschule Potsdam 1967 (MS). Blätter des deutschen Roten Kreuzes, 1934, 5, S. 205. — Die seit 1866 entstandenen Rot-Kreuz-Frauenvereine, 1871 vereinigt zum Verband der deutschen Landesfrauenvereine vom Roten Kreuz, wurden 1916 bis 1934 von Selma Gräfin von der Groeben geleitet, seit 1921 zugleich stellvertretende Präsidentin des DRK. Sie gehörte lange Zeit auch dem Vorstand des DEFB an und hatte 1913 die Vereinigung konservativer Frauen mitbegründet {Sauer, Bl. 179). ZStAP, Reichsministerium des Innern, Nr. 26019, Bl. 2. Diehl, Guida, Christ sein heißt Kämpfer sein. Die Führung meines Lebens, Gießen 1959, S. 235. Ebenda.
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NSDAP, geriet aber bald mit der Parteiführung einerseits wegen Religions-, andererseits wegen frauenpolitischer Fragen in Konflikt. Der von ihr gegründete Frauenkampfbund vertrat — ebenso wie sie — nämlich partiell feministische Auffassungen. So forderte Guida Diehl 1932 die Gleichberechtigung der Frau im „nationalsozialistischen Staat" und das „Recht der Selbstverwaltung ihrer ureigensten Fraueninteressen". 62 Sie kritisierte in diesem Zusammenhang die frauenemanzipationsfeindlichen Äußerungen des NS-Parteiideologen Alfred Rosenberg in dessen ,¡Mythus des 20. Jahrhunderts". Schon 1928 hatte der Frauenkampfbund in seinen Forderungen für eine „Frauen-Erneuerungsar'beit" nicht nur die „Reinigung des Theaters" und das „Verbot der Nacht-Tanzdielen" gefordert, sondern auch die Schaffung gesonderter weiblicher Gemeinderäte und Parlamente, sogenannter Frauenkammern, sowie generell die stärkere Heranziehung der Frauen zu Führungsaufgaben. 63 Ähnliche Auffassungen vertraten andere Faschistinnen bzw. Vertreterinnen der sogenannten ,völkischen Frauenbewegung', so die Deutschnationale Käthe Schirrmacher, die Schriftstellerin Sophie Rogge-Börner und Mathilde Ludendorff, die politisierende Ehefrau des Ex-Generals.64 In der Konzeption, den Frauen größere politische Verantwortung zu übertragen, widerspiegelten sich einerseits Einflüsse der bürgerlich-frauenrechtlerischen Bewegung (aus der nicht wenige „völkische" Frauenführerinnen hervorgegangen waren), andererseits die Erfährungen des Weltkrieges und die Ansichten, die vor allem führende Militärkreise zur Rolle der Fraü im kommenden „totalen Krieg" vertraten. Mit den Weltkriegserfahrungen argumentierten 1933/34 auch die Führerinnen des aufgelösten BDF bei ihrem Versuch, Ansprüche der bürgerlichen Frauenbewegung auf einen Platz im „Dritten Reich" geltend zu machen. Es entsprach durchaus auch den Auffassungen Gertrud Bäumers, Agnes von Zahn-Harnacks und anderer Frauen des BDF-Vorstandes, wenn Vertreterinnen „nationaler Frauenbünde" im April 1933 eine Eingabe an Hitler richteten, in der sie sich gegen die Entlassung von Frauen aus Staatsämtern wandten und „ergebenst" baten, „bei Neubesetzung von Ämtern, die soziale, erzieherische und kulturelle Belange betreffen, die für diese Arbeit in geeigneter Weise vorgebildeten Frauen aus
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Dies., Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus, Eisenach 1932, S. 72. „Zusammenfassung der praktischen Forderungen einer Frauen-Erneuerungsarbeit" des Deutschen Frauenkampfbundes bei: Dies., Deutscher Frauenwille, Gotha 1928, S. 194 f. Rogge-Börner, Sophie, Die völkische Frau und die Politik. Vorgetragen auf der 1. Ordenstagung des Deutschen Frauenordens am 31. Mai 1924, Berlin 1924; dies., An geweihten Brunnen. Die deutsche Frauenbewegung im Lichte des Rassegedankens, Weimar 1928; dies., Zurück zum Mutterrecht. Studie zu Prof. Ernst Bergmanns „Erkenntnisgeist und Muttergeist", Leipzig 1932; Ludendorff, Mathilde, Das Weib und seine Bestimmung. Ein Beitrag zur Psychologie der Frau und zur Neuorientierung ihrer Pflichten, Leipzig 1927, bes. S. 176 ff. Sprachrohr dieser Kräfte war das von Sophie Rogge-Börner herausgegebene Organ „Die Deutsche Kämpferin", das bis 1937 erschien. Vgl. dazu auch Wittrock, Christine, Das Frauenbild in faschistischen Texten und seine Vorläufer in der bürgerlichen Frauenbewegung der zwanziger Jahre, philolog. Diss., Frankfurt a. M. 1982, S. 115 ff.
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nationalen Kreisen einzusetzen".65 Die schwarz-braunen Feministinnen, die ihre Auffassungen von Überlieferungen über die Stellung der Frau im altnordischen Recht ableiteten, erlangten 1932/33 auch in der NS-Frauenschaft einigen Einfluß, wurden aber bald zum Schweigen gebracht, da ihre Linie jener Frauenpolitik widersprach, die der faschistische Staat und die Reichsleitung der NSDAP verfolgten. Die Nazipartei hatte lange Zeit gar keine besonderen Bemühungen unternommen, um Frauen zu organisieren. Ihre programmatischen Vorstellungen auf dem Gebiet der Frauenpolitik bewegten sich ganz auf der Linie jener konservativvölkischen Ideologie, die in der Frauenemanzipation und im Einfluß der Frauen auf die Politik ein Symptom sozialen und kulturellen Verfalls erblickte. Alfred Rosenberg und Walter Darre brachten diesen Gedanken 1930 in Büchern zum Ausdruck, die in der Nazipartei als „weltanschauliche Bekenntnisschriften" galten.60 In ihrem Bestreben, Masseneinfluß zu erlangen, konnten die Führer der Nazibewegung auf die Dauer aber nicht an der Tatsache vorübergehen, daß die Frauen mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Deutschen bildeten. Auch hatten schon die ersten Kundgebungen der NSDAP in München offenbart, daß die faschistische Propaganda bei einem nicht geringen Teil bourgeoiser und kleinbürgerlicher Frauen Resonanz fand. 67 Eine mit der Nazipartei eng verbundene Frauenorganisation entstand im September 1923. Es war der Deutsche Frauenorden (DFO), der von Elsbeth Zander, die vorher im Bismarck-Bund und im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund gewirkt hatte, geführt wurde. Elsbeth Zander wurde 1926 Mitglied der NSDAP und besaß besonders zu deren Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser enge Beziehungen. Der DFO wurde 1926 auf dem Weimarer Reichsparteitag der NSDAP von Hitler offiziell anerkannt und 1928 als Deutscher Frauenorden — Rotes Hakenkreuz Gliederung der Partei. Er besaß zu dieser Zeit nur etwa 300 Mitglieder, die sich hauptsächlich in Berlin konzentrierten. 68 Daneben bestanden Frauengruppen der Nazipartei bzw. entsprechende Frauen-Arbeitsgemeinschaften in verschiedenen Orten.® 65
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Gersdorff, Ursula v., Frauen im Kriegsdienst 1914—1945, Stuttgart 1969, S. 279 f. (Dok. 104) (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 11). Eine ähnliche Eingabe richteten Sophie Rogge-Börner, Irmgard Reichenau und andere Frauen aus dem konservativen und faschistischen Lager an Hitler (vgl. Deutsche Frauen an Adolf Hitler, hrsg. von Irmgard Reichenau, Leipzig 1933). Rosenberg, Alfred, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930, S. 456, 474 f., 483; Darre, Walter, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 149 f., 170 f. Im Herbst 1923, zur Zeit des faschistischen Putsches in München, befanden sich unter den Mitgliedern der NSDAP 4,4 Prozent Frauen, in den Großstädten sogar 9,8 Prozent (vgl. Kater, Michael H., Zur Soziographie der frühen NSDAP, in: Viertel jahreshefte für Zeitgeschichte, 1971, 2, S. 151). Siehe dazu auch ders., Frauen in der NSBewegung, ebenda, 1983, S. 202 ff.; Arendt, Hans-Jürgen, Zur Frauenpolitik der NSDAP vor 1933, in: Mitteilungsblatt, 1982, 3, S. 59ff. Neuber, Gerhard, Faschismus in Berlin. Entwicklung und Wirken der NSDAP und ihrer Organisationen in der Reichshauptstadt 1920—1934, phil. Diss. A, Berlin 1976, Bl. 66. Kater, Frauen in der NS-Bewegung, S. 210 ff.
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Sie führten im Vergleich zu anderen Gliederungen und Verbänden der NSDAP bis 1929 nur ein Schattendasein. Die frauenemanzipationsfeindliche, selbst die eigenen weiblichen Anhänger geringschätzende Ideologie und die Konzeptionslosigkeit der Partei auf frauenpolitischem Gebiet setzten der „nationalsozialistischen Frauenarbeit" enge Grenzen. Diese Grenzen wurden jedoch 1931/32 überschritten. Die Naziführer — vor allem Strasser und Goebbels — begannen den weiblichen Wählern besonders nach den Reichstagswahlen vom September 1930 größere Bedeutung beizumessen, nicht zuletzt der praktischen Mitarbeit von Frauen und Mädchen in den Ortsgruppen der Nazipartei, bei der Werbung für die NS-Verbände, bei Sanitätsdiensten für die faschistischen Terrororganisationen usw. Im Zusammenhang damit entstand in der Reichsleitung der NSDAP der Plan, eine faschistische Massenorganisation der Frauen zu schaffen. Der DFO, der im November 1930 erst 5 000 Mitglieder umfaßte, 70 vollzog im Juli ^931 seine Auflösung, und am 1. Oktober 1931 wurde die Nationalsozialistische Frauenschaft gegründet. Sie war der NSDAP-Reichsleitung direkt unterstellt und wurde weiterhin von Elsbeth Zander — die jetzt zugleich an der Spitze der neugegründeten Abteilung „Frauenarbeit" der Hauptabteilung III der Reichsleitung stand — geleitet. Die Gau-, Kreis- und Ortsgruppenleiterinnen der NS-Frauenschaft wurden von den zuständigen politischen Leitern der NSDAP eingesetzt und abberufen. Damit war die Nazi-Frauenschaft die einzige Frauenorganisation in Deutschland, deren Funktionärinnen von Männern ernannt wurden. Als Arbeitsgebiete waren ihr die „soziale Hilfstätigkeit" für die SA und SS, „geistig-kulturelle und pädagogische Erziehungsaufgaben" sowie die „national-wirtschaftliche Schulung der deutschen Hausfrau" übertragen. 71 Die NS-Frauenschaft erfaßte außer den ehemaligen Mitgliedern des Frauenordens und der verschiedenen lokalen Frauen-Zusammenschlüsse der NSDAP alle weiblichen Mitglieder der Partei sowie — zumindest in der Zielsetzung — auch die Frauen und Töchter der männlichen Parteimitglieder. Vor allem auf örtlicher Ebene arbeitete sie im Zeichen der antikommunistischen und antidemokratischen Ziele der Harzburger Front teilweise eng, zugleich aber rivalisierend, mit anderen völkisch-nationalistischen Frauengruppen zusammen, auf der Grundlage der Ideologie der „Deutschen Christen" zum Teil auch mit evangelischen Frauenverbänden. In ihrer Massenwirksamkeit profitierte sie u. a. davon, daß in der Frauenfrage 1932 der konzeptionelle Klärungsprozeß in der Nazipartei voranschritt und sich eine „moderne", d. h. demagogisch wirksamere Auffassung dazu durchsetzte,72 die auch auf die berufstätige Frau, die Arbeiterin, die weibliche Angestellte Ausstrahlungskraft zu erlangen vermochte. In den Grundsätzen der NS-Frauenschaft, die im März 1932 in München verkündet wurden, hieß es: „Wir erkennen den großen Verwandlungsprozeß des Frauenlebens der letzten 50 Jähre an, die das Maschinenzeitalter mit sich brachte, und 70 71
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ZStAP, Reichsministerium des Innern, Nr. 26125, Bl. 23. Völkischer Beobachter (München), 17.11.1931. - Zur NS-Frauenschaft vgl. auch Stephenson, Jill, The Nazi Organisation of Women, London/Totowa, New Jersey, 1981, S. 50 ff. Darüber hatte Ende März 1932 u. a. eine Verständigung zwischen Hitler und Goebbels stattgefunden (vgl. Goebbels, Joseph, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern, München 1939, S. 72).
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bejahen die Ausbildung und Eingliederung aller Frauenkräfte zum Besten der Nation, soweit sie nicht in Ehe, Familie und Mutterschaft ihren nächstliegenden Dienst am Volksganzen leisten können." Staatsbürgerin des kommenden dritten Reiches sei jede Frau, „die ihre ganze Löbenskraft als Ehefrau und Mutter oder als berufstätige Volksgenossin f ü r Volk und Vaterland einsetzt". 73 1932 erlangte die NS-Frauenschaft besonders unter kleinbürgerlichen Frauen sichtlichen Einfluß. Sie lief vor allem anderen „völkischen" Frauengruppen den Rang ab, gewann durch betontes Bekenntnis zum „positiven Christentum" und durch Unterstützung der deutschchristlichen Bewegung bei den Wahlen in der evangelisch-lutherischen Kirche auch Frauen aus den konfessionellen Organisationen f ü r sich und erlangte auch Einfluß unter berufstätigen Frauen, vor allem weiblichen Angestellten, Lehrerinnen und anderen Beamtinnen, auch unter Hausangestellten, Landarbeiterinnen und Bäuerinnen. Gering blieb hingegen ihr Einfluß unter dem weiblichen Industrieproletariat, auf das 1931/32 neben der Sozialdemokratie vor allem die kommunistische Frauenbewegung wachsenden Einfluß ausübte. 74 Unabhängig davon war es den herrschenden imperialistischen Kreisen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gelungen, eine Massenorganisation von Frauen — die NS-Frauenschaft umfaßte nach eigenen Angäben im Mai 1933 etwa 800 000 Mitglieder 75 — zu schaffen, die selbst gegen elementare Lebensinteressen der werktätigen Frauen sowie das Prinzip der Gleichberechtigung der Frau Frontstellung bezog, die faktisch die Frauendiskriminierung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und die sich auch skrupellos und offen zum faschistischen Terror bekannte, 76 den sie durch Sanitätsdienste f ü r SA und SS unterstützte. Ihrer Führung ordneten sich 1933/34 alle bürgerlichen Frauenorganisationen in Deutschland unter, soweit sie nicht verboten wurden oder ihre Auflösung vollzogen.
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Völkischer Beobachter (München), 29. 3.1932. Vgl. dazu Arendt, Hans-Jürgen, Der Kampf der Kommunistischen Partei Deutschlands um die Einbeziehung der werktätigen Frauen in die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung in der Periode der Weltwirtschaftskrise (1929 bis 1932), phil. Diss. A, Leipzig 1970, Bl. 153 ff. (MS.); ders., Zur Frage des Masseneinflusses der kommunistischen Bewegung unter den proletarischen Frauen in Deutschland 1919 bis 1933, in: V. Clara-Zetkin-Kolloquium der Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau", Leipzig, 30.11.1977 (Referate und Diskussionsbeiträge), Leipzig 1978, S. 105 f. Vgl. auch Tabelle 4. Informationsdienst der NS-Frauenschaft, 1933, 15, S. 85. Im Zusammenhang mit der bestialischen Ermordung des mit der KPD sympathisierenden polnischen Landarbeiters Pietczuch in Potempa (Oberschlesien) erhob Elsbeth Zander im Namen der NS-Frauenschaft am 10. 8.1932 in einem Telegramm an Reichskanzler von Papen „feierlichen Protest", nachdem ein Sondergericht die fünf an der Mordtat beteiligten SA- und SS-Leute zum Tode verurteilt hatte. Das Organ der NS-Frauenschaft ging in einem Leitartikel so weit, die Tat heuchlerisch zu bedauern, gleichzeitig aber im Tone rassistischer Überheblichkeit zu fragen: „Aber ist Leben gleich Leben, Tat gleich Tat?" (NS-Frauenwarte, 1932, 6, S. 121). Aus den Reihen der NS-Frauenschaft gingen 1933 die ersten weiblichen Aufseher in Frauenkonzentrationslagern hervor. Die von ihr 1932/33 aufgebaute SchwesternOrganisation beteiligte sich wenige Jahre später an der „Euthanasie"-Aktion und am Kinderraub in den von Hitlerdeutschland okkupierten Ländern.
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Der Einfluß, den die großbürgerlich geführten frauenrechtlerischen, konfessionellen, konservativen und faschistisch geführten Frauenorganisationen auf breite Schichten der Frauen ausübten, macht deutlich, welch komplizierter Situation sich die progressiven Kräfte in der bürgerlichen Frauenbewegung der Weimarer Republik gegenübersahen, insbesondere jene pazifistischen, frauenrechtlerischen Organisationen, die sich gleichfalls um Einfluß besonders unter den kleinbürgerlichen Frauen bemühten. Das waren besonders der Deutsche Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) sowie der Deutsche Bund für Mutterschutz (DBM). Diese Organisationen nahmen im Lager der bürgerlichen Frauenverbände der Weimarer Republik insofern eine Sonderstellung ein, als sie antiimperialistisch-demokratische Konzeptionen vertraten und die progressiven Traditionen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts fortführten. Sie befanden sich damit von vornherein im Konflikt mit nahezu allen anderen bürgerlichen Frauenorganisationen, wurden jedoch in der Arbeiterbewegung, auch und gerade von der kommunistischen Frauenbewegung als Bündnispartner im antiimperialistischen Kampf betrachtet. Unter Bezug auf die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit schrieb Clara Zetkin 1928: „Aus ehrlichem Pazifismus, heißer Freiheitsliebe und in vorurteilsloser Anerkennung des frauenbefreienden Werkes der russischen Revolution beben ihre besten Führerinnen nicht vor dem Nahen des Umsturzes der bürgerlichen Gesellschaftsordnung durch das revolutionär kämpfende Proletariat und seine Diktatur." 77 Der Deutsche Zweig der I F F F ging aus dem linken Flügel der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung hervor, der sich am Vorabend des ersten Weltkrieges im Zeichen bürgerlich-demokratischer, radikal-feministischer und pazifistischer Ideen herausbildete und — vor allem im Rahmen von Verbänden, die für das Frauenstimmrecht eintraten — gegen die proimperialistischen Tendenzen im BDF opponierte.78 Vertreterinnen des linken Flügels gehörten zu den Initiatorinnen eines internationalen Kongresses von Pazifistinnen, der im April/Mai 1915 in Den Haag tagte und unter dessen Teilnehmerinnen sich auch 28 deutsche Frauen bef anden. Sie bildeten nach dem Haager Kongreß den Deutschen Frauenausschuß für dauernden Frieden, 79 der als einzige nichtproletarische Frauenorganisation in Deutschland offen gegen den imperialistischen Krieg auftrat. Aus ihm sowie dem sich auflösenden Deutschen Frauenstimmrechtsbund ging im Juni 1919 der Deutsche Zweig der I F F F hervor. Geführt wurde er durch Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die beide schon vor 1914 gemeinsam mit Minna Cauer und Helene Stöcker auf dem linken Flügel der bürger-
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Zetkin, Clara, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1958, S. 210. Sauer, Bl. 49 ff. Völkerversöhnende Frauenarbeit während des Weltkrieges, Juli 1914 bis November 1918, München 1920, S. 19; Heymann, Lida Gustava/Augspurg, Anita, Erlebtes — Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden, hrsg. von Margit Twellmann, Meisenheim a. Glan 1972, S. 129ff.; Quidde, Ludwig, Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914—1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hrsg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat, Boppard a. Rh. 1979, S. 75 ff.
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liehen Frauenbewegung gewirkt und 1915 den Frauenausschuß für dauernden Frieden begründet hatten. Der Verfasser hat die Entwicklung des Deutschen Zweiges der IFFF an anderer Stelle bereits dargestellt.80 Die Organisation, die 1919 über 40 und 1928 über 80 lokale Arbeitsgemeinschaften mit einigen tausend Mitgliedern insgesamt verfügte, wirkte an der Seite der anderen kleinbürgerlich-pazifistischen Organisationen der Weimarer Republik sowie international im Rahmen der gleichnamigen, noch heute existierenden Dachorganisation.81 Sie engagierte sich nicht nur konsequent für die Rechte der Frau, sondern nahm auch zu anderen innenund außenpolitischen Fragen im antiimperialistischen Sinne Stellung. Sie trat der Antisowjethetze entgegen, unterstützte Solidaritätsaktionen der revolutionären Arbeiterbewegung, verurteilte militaristische, revanchistische und kolonialistische Bestrebungen der herrschenden imperialistischen Kreise und trat konsequent auch der faschistischen Gefahr entgegen, wobei sie insbesondere den Zusammenhang zwischen der Errichtung einer faschistischen Diktatur und der drohenden Gefahr eines neuen Weltkrieges erkannte. Ihre Auffassungen zu all diesen Fragen waren jedoch durch weitgehende Verkennung der sozialen und ökonomischen Ursachen beeinträchtigt, durch die Ablehnung der Idee des Klassenkampfes und Schlußfolgerungen pazifistischer Art. Es entsprach ihrem ideologischen Naturell, wenn sie zeitweilig großes Vertrauen in den Völkerbund, den Dawes-Plan, den Locarno-Pakt sowie andere Verträge und Institutionen der imperialistischen Mächte setzte.82 Doch sie unterstützte auch die RapalloPolitik und warnte vor imperialistischen Interventionsplänen gegenüber der Sowjetunion. Von sowjetischen Vorschlägen zur Friedenssicherung ausgehend, beteiligte sich der Deutsche Zweig 1931/32 mit großer Aktivität an der von der internationalen Organisation der IFFF initiierten Weltabrüstungsaktion, einer Unterschriftensammlung, die in Vorbereitung der Genfer Abrüstungskonferenz des Völkerbundes durchgeführt wurde. Die IFFF verband — im Gegensatz zu anderen bürgerlichen Frauenorganisationen, von denen sich einige ebenfalls daran beteiligten (hauptsächlich aus dem BDF) — das Ziel der Kampagne nicht mit der Vorstellung von einer „Gleichberechtigung aller Staaten" auf dem Rüstungssektor, hinter der sich vor allem die Aufrüstungspläne des deutschen Imperialismus verbargen. 83 Im Zeichen der Losung „Hitler bedeutet Krieg!" 80
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Arendt, Hans-Jürgen, Der Deutsche Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit 1915—1933, in: WZ der Pädagogischen Hochschule „Clara Zetkin" Leipzig, 1981, 1, S. 53 ff.; ders., Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit — Deutscher Zweig (IFFF-DZ) 1915-1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 3, 1985, S. 130 ff. Bussey, Gertrude/Tims, Margaret, Women's International League for Peace and Freedom 1915—1965. A record of flfty year's work, London 1965. So schrieb Lida Gustava Heymann 1926 euphorisch: „Völkerbund — Paneuropa — Abrüstungs- und Wirtschaftskonferenzen — Schiedsgericht — Locarno — es sind alles Etappen auf dem Weg zum Ziel. Gesinnung gestaltet sich neu, es ist alles in Fluß, es geht vorwärts und aufwärts" (Völkerversöhnende Frauenarbeit, IV. Teil, 1926 [Juli 1923—Dezember 1925], S. 4). Der Unterschriftensammlung lagen zwei verschiedene Texte von Abrüstungsresolutionen zugrunde. Für den Originaltext der internationalen Organisation der IFFF, der in Übereinstimmung mit den sowjetischen Vorschlägen die totale Abrüstung
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führte die IFFF im Münchner Hofbräukeller im Januar 1933 eine ihrer letzten Kundgebungen durch.84 Werlige Wochen später wurde sie von den Faschisten verboten. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann setzten ihren antifaschistischen Kampf im Exil fort. Zum linken Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zählte auch der 1905 gegründete DBM, der ebenfalls während des Weltkrieges in der bürgerlichen Friedensbewegung gewirkt hatte. Er wurde seit 1909 von Helene Stöcker geführt. Der DBM umfaßte in dieser Zeit etwa 4 000 Mitglieder,85 auch in der Weimarer Republik bewegte sich die Mitgliederzahl zwischen 3 500 und 4 000. Ähnlich dem Deutschen Zweig der IFFF trat er konsequent für die Rechte der Frau ein, unterstützte vor allem sexualreformerische und progressive familienpolitische Bestrebungen und schloß sich im Zusammenhang damit 1927 der von der KPD ins Löben gerufenen Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen (ARSO) an. So wie er die Bemühungen der KPD für einen umfassenden Mutter- und Kinderschutz und für die Abschaffung des Paragraphen 218 StGB, des berüchtigten Abtreibungsparagraphen, unterstützte, so brachte er auch der Frauen- und Familienpolitik der Sowjetunion Sympathie entgegen. Helene Stöcker besaß enge persönliche Beziehungen zu Clara Zetkin und nahm 1927 an einem internationalen Frauentreffen teil, das aus Anlaß des 10. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Moskau stattfand. 86 Der DBM propagierte den Gedanken der Abrüstung und teilte pazifistische Auffassungen zur Frage der Friedenssicherung. Seit 1922 gehörte er dem Deutschen Friedenskartell an, der Dachorganisation der pazifistischen Vereinigungen in der Weimarer Republik.87 Die Bestrebungen des DBM wurden ähnlich denen der IDFF erbittert von reaktionären Kräften bekämpft, namentlich von der Nazipartei, dem Deutschen Frauenkampfbund und anderen „völkischen" Frauenorganisationen, aber auch klerikalen Kräften, die dem Bund und seiner Vorsitzenden Helene Stöcker „familienzersetzende bolschewistische Tendenzen" unterstellten und in deren konsequentem Eintreten für die Rechte der Frau geradezu eine Perversion des Gedankens der Frauenemanzipation sahen.88 Wesentlich die Hetze der Reaktion erschwerte es den kleinbürgerlich-demokratischen Frauenorganisationen, breiteren Masseneinfluß zu gewinnen. Auch dem Bund für Mutterschutz wurde im Frühjahr 1933 jede weitere Tätigkeit unmöglich gemacht.
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forderte, sammelte der Deutsche Zweig. Für einen Text, der diese Forderung vermied und der vom Britischen Zweig der IFFF verbreitet wurde, sammelten u. a. Organisationen des BDF und andere bürgerliche Frauenverbände. Vgl. Heymann/ Augspurg, S. 252. Hochmuth, Ursula/Meyer, Gertrud, Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933-1945, Frankfurt a. M. 1969, S. 237. Die neue Generation, 1909, 6, S. 247. — Zum DBM vgl. Rantzsch, Petra, Deutscher Bund für Mutterschutz (DBM) 1905-1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2, 1984, S. 52ff.; dies., Helene Stöcker (1869-1943). Zwischen Pazifismus und Revolution, Berlin 1984, S. 55 ff. (Schriften der LDPD, H. 29); Nowacki, S. 11 ff. Rantzsch, Helene Stöcker, S. 145 f. Die neue Generation, 1922, 9/10, S. 389. Diehl, Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus, S. 52.
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Im Frühjahr 1931 entstand eine weitere, auf kleinbürgerlich-demokratischen Positionen stehende Frauenorganisation : die deutsche Sektion des Weltfriedensbundes der Mütter und Erzieherinnen, einer 1929 von französischen Pazifistinnen begründeten internationalen Organisation (Ligue Internationale des Mères et des Educatrices pour la paix). Ihre Tätigkeit ist bisher nicht untersucht. Den Gründungsaufruf der deutschen Sektion hatte ein in politischer Hinsicht sehr heterogen zusammengesetzter Kreis unterzeichnet : neben Anita Augspurg (IFFF) auch Gertrud Bäumer, Emmy Beckmann und Marie-Elisabeth Lüders (alle DDP bzw. BDF), Toni Sender und Gertrud Hanna (SPD), Anna Siemsen (SAP), Käthe Kollwitz und auch Anna von Gierke (DNVP, DEFB). Geleitet wurde die deutsche Sektion von Constanze von Hallgarten, einem führenden Mitglied der IFFF in München und Mutter des bekannten linksliberalen Historikers G. F. W. Hallgarten. Nach ihren Erinnerungen gelang es der Organisation, innerhalb von 18 Monaten 23 Ortsgruppen mit insgesamt etwa 10 000 Mitgliedern ins Leben zu rufen. 80 Sekretär des Vorstandes war die 1970 in der DDR verstorbene Schauspielerin Elsbeth Bruck, die während des ersten Weltkrieges bereits im Bund Neues Vaterland führend tätig gewesen war.90 Wie der Uberblick zeigt, dominierten unter den Frauenorganisationen der Weimarer Republik jene, die mehr oder weniger offen reaktionäre Bestrebungen verfolgten und die als Träger imperialistischer Ideologie unter den Frauen wirkten. Damit ist zugleich die vielfach erörterte Frage nach ihrer Bündnisfähigkeit für die revolutionären Kräfte prinzipiell beantwortet. Im einzelnen freilich ergaben sich vor allem bei den frauenrechtlerisch und christlich-karitativ orientierten Organisationen durchaus Anknüpfungspunkte bündnispolitischer Art, soweit es um die Weiterentwicklung der Rechtsstellung der Frau ging, um Reformen auch auf anderen Gebieten, den Kampf gegen akute soziale Not, auch die Auseinandersetzung mit dem großbourgeoisen Antihumanismus und mit frauenfeindlichen Tendenzen, die besonders ab 1930 in der Innenpolitik der herrschenden imperialistischen Kreise immer stärker hervortraten. Nicht zuletzt forderten die sozialen Grundinteressen der Millionen Mitglieder der bürgerlichen Frauenverbände bei den Kommunisten bündnispolitisches Engagement heraus. Doch konnte sich die KPD angesichts des Antikommunismus, der bei den Führungen der Organisationen vorherrschte, hierbei schwerlich auf eine politisch-organisatorische Zusammenarbeit oder gar gemeinsame Aktionen orientieren, wenn wir von den Verbänden der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung absehen. Nur wenige der bürgerlichen Frauenorganisationen können überhaupt der Frauenbewegung zugeordnet werden, wenn darunter — wie allgemein üblich — eine Bewegung verstanden wird, die zumindest partiell für Rechte und Lebens-
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Hallgarten, Constanze v., Als Pazifistin in Deutschland, Stuttgart 1956, S. 10 ff. Nach biographischen Informationen, die Elsbeth Bruck 1968 dem Verf. übermittelte. Vgl. auch den Nachruf des ZK der SED für Elsbeth Bruck, in: Neues Deutschland, 21. 2.1970.
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interessen der Frauen eintritt. 91 Die meisten Organisationen wirkten jedoch in entgegengesetzte Richtung. Ein Teil von ihnen verhielt sich kompromißbereit gegenüber der faschistischen Reaktion, einige — aus dem konservativ-,,völkischen" Lager — müssen direkt als Wegbereiterinnen der faschistischen Diktatur unter den deutschen Frauen betrachtet werden. Als Mobilisierungs- und Integrationsfaktoren unter der weiblichen Bevölkerung fuhren sie unter den Bedingungen des bürgerlich-parlamentarischen Staates fort, jene imperialistische Politik zu unterstützen, die die meisten von ihnen schon im Rahmen des Nationalen Frauendienstes während des ersten Weltkrieges unterstützt hatten und die nun auf die Stabilisierung des imperialistischen Systems sowie die langfristige Vorbereitung eines Revanchekrieges gerichtet war. Insgesamt verkörpern die bürgerlichen Frauenorganisationen in der Weimarer Republik eine komplizierte und widerspruchsvolle Erscheinung. Besonders die partiell frauenrechtlerisch orientierten Verbände und ein Teil der Frauenberufsorganisationen artikulierten bis zu einem gewissen Grade auch soziale und politische Interessen der Mitglieder, förderten teilweise ihre demokratische Bewußtseinsbildung und trugen zur Verbreitung des Gedankens der Gleichberechtigung der Frau bei. Nicht übersehen werden kann generell die Tatsache, daß ein Teil der Frauenorganisationen neben reaktionärem Gedankengut auch humanistische Denk- und Verhaltensweisen förderte, vielfach im Zeichen konfessioneller Anschauungen und karitativer Tätigkeit. Teilweise verkörperten auch die bürgerlichen Frauenorganisationen antifaschistisches Potential, wie vor allem die Entwicklung in den konfessionellen Verbänden nach 1933 zeigt,92 auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann. Aus dem Lager der katholischen und evangelischen Frauenorganisationen gingen nicht nur Frauen hervor, die der Nazibarbarei mit Ablehnung begegneten, sondern die auch Widerstand gegen das Regime leisteten und mit zu seinen Opfern gehörten. Als nach der Befreiung vom Faschismus die Antifaschistischen Frauenausschüsse entstanden, aus denen der Demokratische Frauenbund Deutschlands hervorging, befanden sich unter ihren Mitgliedern neben den Frauen der beiden Arbeiterparteien auch Frauen aus den 1933/34 aufgelösten oder verbotenen bürgerlichen Frauenorganisationen der Weimarer Republik. 91
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Sauer, Bl. 15 £. Clara Zetkin bezeichnet es als charakteristisches Merkmal der bürgerlichen Frauenbewegung, daß sie „ihr Eintreten für die Emanzipation der Frauen auf den Kampf gegen die Vorrechte, die Macht des Mannes in Familie, Staat und Gesellschaft" beschränkt (Zetkin, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, S. 204). Arendt, Die „Gleichschaltung", S. 623f.; Böhme, Marlies/Hackebeil, Ilona, Die klerikalen Frauenorganisationen und der Hitlerfaschismus 1933—1939. Darstellung und Chronik, Diplomarbeit, Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin" Leipzig 1980, Bl. 33 ff. (MS) Ein Bild von den Auseinandersetzungen zwischen den konfessionellen Frauen- und Mädchenorganisationen und dem Naziregime vermitteln u. a. die Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933—1945, bearb. von Bernhard Stasiewski, Bd. 1—5, Mainz 1968—1983 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern), sowie die Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934—1944, bearb. von Heinz Boberach, Mainz 1971 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 12).
Anhang
Dachverbände der bürgerlichen Frauenorganisationen und deren Mitgliedsorganisationen in der Weimarer Republik
I.
Bund Deutscher Frauenvereine, gegründet 18941 (1928: 1 200 000 Mitglieder)
1. Deutscher Staatsbürgerinnen-Verband (Allgemeiner Deutscher Frauenverein) (1922: 3 000 Mitglieder) 2. Allgemeiner Deutscher Hausbeamtinnenverein 3. Allgemeiner deutscher Hebammenverband 4. Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands 5. Bund deutscher Künstlerinnen 6. Bund für angewandte und freie Bewegung 7. Deutscher Frauenbund für alkoholfreie Kultur (1932: 28 000 Mitglieder) 3. Deutscher Fröbelverband 9. Deutscher Verband der Hauspflege 10. Deutscher Verband der Sozialbeamtinnen (1920:1 800 Mitglieder) II. Deutscher Verein gegen den Alkoholismus 12. Bund für Frauen und Jugendschutz 13. Frauenarbeitsgemeinschaft im Reichsverein der hauptamtlichen Lehrerschaft deutscher Berufsschulen 14. Frauengruppe des Gewerkschaftsbundes der Angestellten (1929: 65 000 Mitglieder) 15. Genossenschaft für Frauenheimstätten 16. Jüdischer Frauenbund (1928: 50 000 Mitglieder) 17. Kartell deutscher Frauenklubs 18. Rechtsschutzverband 19. Reichsbund technischer Assistentinnen (1931: 2 300 Mitglieder) 20. Reichsfrauenausschuß des Reichsbundes der Beamten und Angestellten Deutschlands 21. Reichsverband der Innungen für das Damenschneiderei-Gewerbe 22. Reichsverband deutscher Hausfrauenvereine (1931: 200 000 Mitglieder) 23. Reichsverband landwirtschaftlicher Hausfrauenvereine (1931: 90 000 Mitglieder) 24. Reifensteiner Verband für wirtschaftliche Frauenschulen auf dem Lande 25. Verband altkatholischer Frauenvereine Deutschlands (1921: 21 000 Mitglieder) 26. Verband der deutschen Reichs-, Post- und Telegraphenbeamtinnen 27. Verband der Reichsbahnbeamtinnen 28. Verband Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur 1
In der Übersicht sind nur die angeschlossenen Reichsverbände angeführt. Der BDF verfügte 1928 über insgesamt 77 Mitgliedsverbände, darunter die Landesverbände des Deutschen Staatsbürgerinnenverbandes und Spezialorganisationen der anderen Mitgliedsverbände.
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29. Verband Frauenbildung, Frauenstudium (1931: 893 Mitglieder) 30. Verband der Strafvollzugsbeamtinnen 31. Reichsverband der Beamtinnen und Fachlehrerinnen in Haus, Garten und Landwirtschaft 32. Allgemeiner deutscher Lehrerinnen verein (1928: 37 000 Mitglieder) (12 Reichsverbände2) 33. Bund deutscher Ärztinnen 34. Deutscher Juristinnenverein 35. Hochschuldozentinnen-Verband 36. Vereinigung der Nationalökonominnen Deutschlands 37. Verband der Studentinnenvereine Deutschlands (1931: 700 Mitglieder)
II.
Deutscher Akademikerinnenbund, gegründet 1926
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Allgemeiner deutscher Lehrerinnenverein (1928: 37 000 Mitglieder) Bund deutscher Ärztinnen Deutscher Juristinnenverein Hochschuldozentinnen-Verband Vereinigung der Nationalökonominnen Deutschlands Verband der Studentinnenvereine Deutschlands (1931: 700 Mitglieder)
III.
Arbeitsgemeinschaft deutscher Frauenberufs-Verbände, gegründet 1924
1. Frauensekretariat des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften (1929:126 000 Mitglieder) 2. Frauenausschuß des Deutschen Gewerkschaftsbundes 3. Gesamtverband evangelischer Arbeiterinnenvereine Deutschlands (1925: 89 000 Mitglieder) 4. Gewerkverein der Heimarbeiterinnen (1916: 15 000 Mitglieder) 5. Reichsverband weiblicher Hausangestellter Deutschlands 6. Verband katholischer kaufmännischer Gehilfinnen und Beamtinnen (1922: 8 000 Mitglieder) 7. Verband der evangelischen Wohlfahrtspflegerinnen Deutschlands 8. Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten (1931: 92 400 Mitglieder) 9. Verein deutscher evangelischer Lehrerinnen 10. Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (1932: 20 000 Mitglieder) 11. Verein katholischer Sozialbeamtinnen (1922: 1 000 Mitglieder)
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Das waren folgende: Reichsverband akademisch gebildeter Lehrerinnen (Deutscher Philologinnen-Verband); Verband seminaristisch gebildeter Lehrerinnen an höheren Schulen; Reichsverband deutscher Mittelschullehrerinnen; Reichsverband der Lehrerinnen an beruflichen Schulen; Reichs verband deutscher Volksschullehrerinnen; ReichsVerband der Lehrerinnen für Nadelarbeit, Leibesübungen und Hauswirtschaft; Reichsverband deutscher Musikschullehrerinnen; Reichs verband akademisch gebildeter Schulmusiklehrerinnen; Reichsverband akademisch gebildeter Zeichenlehererinnen; Fach verband der Privat- und Hauslehrerinnen; Berufsorganisation der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen; Vereinigung der Dozentinnen an sozial-pädagogischen Lehranstalten.
Anhang IV.
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Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands, gegründet 1918 (1932: 2 Millionen Mitglieder)
1. Deutsch-evangelischer Frauenbund (1926: 200 000 Mitglieder) 2. Evangelischer Verband für die weibliche Jugend Deutschlands (1932: 213 300 Mitglieder) 3. Gesamtverband Evangelischer Arbeiterinnenvereine Deutschlands (1928: 100 700 Mitglieder) 4. Verband der evangelischen Wohlfahrtspflegerinnen Deutschlands 5. Verein deutscher evangelischer Lehrerinnen 6. Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser 7. Deutscher Nationalverein der Freundinnen junger Mädchen (1929: 8 900 Mitglieder) 8. Evangelischer Diakonieverein 9. Verband kirchlich-sozialer Frauengruppen 10. Verband Evangelische deutsche Bahnhofsmission 11. Verband evangelischer Religionslehrerinnen 12. Neulandverband (1932: 5 000 Mitglieder) 13. Deutsch-evangelischer Verband sozialer Jugendgruppen (1932:1 200 Mitglieder) 3 14. Berufs Vertretung der evangelischen Hausgehilfinnen Deutschlands (1930: 11 200 Mitglieder)
V.
Zentralverband katholischer Frauen- und Müttervereine, gegründet 1928 (1932: 1,5 Millionen Mitglieder)
1. Katholischer Deutscher Frauenbund (1928: 250 000 Mitglieder) 2. Verband süddeutscher katholischer Arbeiterinnen (1927: 20 100 Mitglieder) 3. Verband katholischer deutscher Arbeiterinnen Westdeutschlands (1927: 4 500 Mitglieder) 4. Verband katholischer Vereine erwerbstätiger Frauen und Mädchen Deutschlands (1927: 10 000 Mitglieder) 5. Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (1932: 20 000 Mitglieder) 6. Verband katholischer deutscher Studentinnenvereine (1920: 800 Mitglieder) 7. Hildegardisverein zur Unterstützung katholischer studierender Frauen (1920: 3 600 Mitglieder) 8. Verband katholischer deutscher Philologinnen (1932: 720 Mitglieder) 9. Verein katholischer Hausbeamtinnen Deutschlands (1922: 350 Mitglieder) 10. Verein katholischer deutscher Sozialbeamtinnen (1922:1 000 Mitglieder) 11. Katholischer Verband der weiblichen kaufmännischen Angestellten und Beamtinnen (1922:11 000 Mitglieder) 12. Verein katholischer deutscher Krankenschwestern (1930: 600 Mitglieder) 13. Reichsverband katholischer kaufmännischer Gehilfinnen und Beamtinnen (1922: 8 000 Mitglieder) 14. Berufsverband katholischer Fürsorgerinnen 15. Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1922: 2 000 Mitglieder)
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Daneben existierten weitere, im Bund deutscher Jugendvereine zusammengeschlossene evangelische Mädchenorganisationen, die 1932 insgesamt etwa 10 500 Mitglieder vereinigten.
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Anhang
16. Deutscher Nationalverband der katholischen Mädchenschutzvereine (1922: 5 000 Mitglieder) 17. Berufsverband der katholischen Hausgehilfinnen Deutschlands (1920: 10 000 Mitglieder) 18. Verein der katholischen weiblichen Pfarrhausangestellten (1922: 372 Mitglieder) 19. Verband der katholischen Hausangestellten und Dienstmädchen (1922: 8 000 Mitglieder) VI. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Deutscher Frauenbund, gegründet 1909 Flottenbund Deutscher Frauen Deutscher Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See Baltischer Frauenbund Deutscher Jungmädchendienst Mädchengruppen der Bismarckjugend Reichsverband deutscher Hausfrauenvereine (1931: 200 000 Mitglieder) Verband der Postbeamtinnen Landesverband preußischer Volksschullehrerinnen
VII. 1. 2. 3. 4.
Ring nationaler Frauen, gegründet 1920
Flottenbund Deutscher Frauen (1919: 129 000 Mitglieder) Hausbesitzerinnen-Verein zu Berlin ¡Deutscher Frauenorden Darmstadt Verein Deutscher Hausfrauen
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Grundzüge der Gewerkschaftspolitik der KPD von August 1921 bis Ende 19221
Die Entwicklung der Gewerkschaftspolitik der KPD war eingebunden in die der Gesamtstrategie der Partei. Sie war aufs engste mit der Ausarbeitung einer umfassenden Massenpolitik, der Einheitsfrontpolitik sowie mit den Vorstellungen und Erfahrungen zum Zusammenhang von ökonomischem und politischem Kampf verknüpft. In der Ausarbeitung der Gewerkschaftspolitik der KPD nahm die Zeit von August 1921 bis Ende 1922 einen wichtigen Platz ein.2 1
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Der Beitrag ist der überarbeitete Teil einer im Juli 1986 an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED verteidigten Dissertation A zum Thema „Die Entwicklung der Gewerkschaftskonzeption der Kommunistischen Internationale unter Berücksichtigung der Gewerkschaftsarbeit der KPD von 1919 bis 1922". Zur Gewerkschaftspolitik der KPD vgl. Bednarek, Horst, Die Gewerkschaftspolitik der KPD — fester Bestandteil ihres Kampfes um die antifaschistische Einheits- und Volksfront (1935 bis August 1939), Berlin 1969; Deutschland, Heinz, Vertrauensmann seiner Klasse — Herbert Warnke: Eine biographische Skizze, Berlin 1982; Krusch, Hans-Joachim, Der Kampf der Bergarbeiter und anderer Werktätiger unter Führung der KPD im Zwickaju-Oelsnitzer Steinkohlenrevier in der Zeit von 1922 bis zum Sturz der Cuno-Regierung, phil. Diss., Berlin 1964; Polzin, Hans, Der Kampf der KPD für eine marxistisch-leninistische Gewerkschaftspolitik von Mitte 1928 bis zum XII. Parteitag, phil. Diss., Berlin 1962; Raase, Werner, Ernst Thälmanns revolutionäre Gewerkschaftspolitik, Berlin 1954; ders., Der Kampf um revolutionäre Betriebsräte in den Jahren 1919—1920, dargestellt vor allem an den Kämpfen im Industriegebiet Halle—Merseburg, phil. Diss., Berlin 1960; Schwaab, Dagmar, Die Geschichte des Verbandes der ausgeschlossenen Bauarbeiter Deutschlands — ein Beitrag zur Entwicklung des Kampfes der Kommunistischen Partei Deutschlands um die Gewerkschaftseinheit als eines wichtigen Bestandteils der Aktionseinheit der Arbeiterklasse in den ersten Jahren der Weimarer Republik, phil. Diss., Leipzig 1964; Rentsch, Helga, Der Kampf der revolutionären Kräfte in den freien Gewerkschaften um einheitliche Aktionen der Arbeiterklasse gegen das Monopolkapital seit dem Offenen Brief der VKPD bis zum 11. Gewerkschaftskongreß des ADGB im Juni 1922, phil. Diss., Leipzig 1969; Thoms, Günter, Der Kampf der marxistischen Kräfte in der KPD für die Durchsetzung marxistisch-leninistischer Prinzipien in der Gewerkschaftsfrage — Januar bis Oktober 1919, phil. Diss., Berlin 1970; Weber, Stefan, Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung 1919—1923, Berlin 1982; Geschichte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin 1982; Adibekov, Grant M., Geschichte der RGI. Kurzer Abriß, Berlin 1971; ders., Profintern. Politika kommunistov v profsojusnom dvizenij, Moskva 1981.
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Der Jenaer Parteitag der KPD und die Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre (August 1921) Vom 22. bis 26. August 1921 tagte in Jena der 7. Parteitag der KPD, auf dem die Gewinnung der werktätigen Massen im Kampf für die Tagesinteressen und damit die Gewerkschaftspolitik der KPD eine zentrale Frage bildete. Ausgangspunkt dafür war die schöpferische Anwendung der vom III. Kongreß der Kommunistischen Internationale (KI) im Juni/Juli 1921 begründeten Massenpolitik — der internationale Kongreß der Kommunisten hatte unter dem Motto „Heran an die Massen" gestanden. Die gewerkschaftspolitischen Überlegungen auf dem Jenaer Parteitag der KPD wurden ebenfalls durch die Beschlüsse des Gründungskongresses der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) im Juli 1921 beeinflußt. 3 Sowohl im Bericht von Fritz Heckert über den III. Kongreß der KI als auch in dem von Ernst Meyer vorgetragenen politischen Bericht der Zentrale wurde deutlich, daß sich die KPD in allen Grundfragen auf den Boden der Kongreßbeschlüsse stellte. In der „Resolution zu den Beschlüssen des III. Weltkongresses der KI" wurden die Kritik an der Offensivtheorie und die Orientierung auf eine breite Massenpolitik als richtig anerkannt. Folgende Aufgaben wurden formuliert: exakte Analyse der jeweiligen Situation, engste Verbindung der Partei mit den Massen, Mobilisierung der Werktätigen für Ziele, die für jeden verständlich sind. Es heißt dort: „In der Führung der Kämpfe gegen die Erhöhung des Brotpreises, Abwälzung ungeheurer Steuerlasten auf das Proletariat, Steigerung der Lebensmittelpreise, Herabsetzung der Reallöhne hat die KPD die verantwortungsvolle Pflicht, die Initiative zu ergreifen." 4 Im „Manifest an die Werktätigen in Stadt und Land" des Jenaer Parteitages wurden zwölf politische und wirtschaftliche Forderungen aufgestellt, für die die Zentrale unverzüglich aktiv werden sollte.5 Für solche wie die nach allgemeinen Lohnerhöhungen, nach einer die unteren Einkommens- und Vermögensstufen schonenden Besteuerung sowie nach Verbesserung der Lage der Kurzarbeiter und Arbeitslosen mußten vor allem die gewerkschaftlich organisierten Arbeitermassen mobilisiert werden. Die Punkte, die die Frage der Kurzarbeiter und Arbeitslosen betrafen, nahmen direkten Bezug auf Forderungen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) vom Februar 1921.® In einer Reihe weiterer Beschlüsse wurde das Programm für die Realisierung wichtiger Tages-
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Vgl. Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921, Berlin 1922, S. 408. Vgl. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 7, 1. Halbbd., Februar 1919-Dezember 1921, Berlin 1966, S. 535. Vgl. ebenda, S. 539 f. Außerdem vgl. Beschluß zur Einleitung einer Kampagne für die Forderungen des Manifestes, ebenda, S. 541 f. Vgl. Schreiben des Vorstandes des ADGB vom 26. Februar 1921 an die Reichsregierung mit zehn Forderungen zur Minderung der Not der Arbeitslosen, ebenda, S. 438 bis 440.
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interessen der Werktätigen konkretisiert.7 Es ist hervorzuheben, daß der Jenaer Parteitag wie bereits der Vereinigungsparteitag von KPD und USPD (Linke) im Dezember 1920 eine „Resolution zur Erwerbslosenfrage" verabschiedet hat.8 Für die KPD war die Arbeitslosenfrage — im Unterschied zur SPD — ein zentrales Thema der Diskussion und nahm von einem frühen Zeitpunkt an einen wichtigen Platz in ihrer Arbeit ein.9 Für die wirksame Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse zur Gewinnung der Massen gewann die Gewerkschaftspolitik zunehmend an Bedeutung. Die Ausgestaltung der Gewerkschaftspolitik erfolgte in direkter Anknüpfung an den III. Kongreß der KI und an den Gründungskongreß der RGI. Dem Parteitag lag ein Bericht der Reichsgewerkschaftszentrale (RGZ) vor. Jacob Walcher, deren Leiter, referierte über die Tätigkeit der Kommunisten in den Gewerkschaften im ersten Halbjahr 1921 und über künftige Aufgaben.10 Beides sowie die „Richtlinien für die Gewerkschaftsarbeit der KPD"11 bildeten die Grundlage für die Diskussion über die Gewerkschaftspolitik der KPD. Die RGZ war vom Vereinigungsparteitag der KPD und der USPD (Linke) im Dezember 1920 zu dem Zweck eingesetzt worden, daß ihre sieben Mitglieder (Heinrich Brandler, Paul Eckert, Fritz Heckert, Heinrich Malzahn, Richard Müller, Jacob Walcher und Fritz Wolff) die Gewerkschaftsarbeit im" Land koordinieren und anleiten sollten. Trotz der kurzen Zeitspanne, die seit dem Vereinigungsparteitag vergangen war, konnten die Mitglieder der RGZ auf einige wichtige Arbeitsergebnisse hinweisen. Die RGZ hatte umfangreiches Propagandamaterial (Rundschreiben und Flugblätter) versandt, ein Handbuch für kommunistische Gewerkschafter12 war vorbereitet worden. Vor allem aber war es gelungen, das Blatt „Der Kommunistische Gewerkschafter. Wochenzeitung für die Tätigkeit der Kommunisten in den Gewerkschaften und Betriebsräten"13 herauszugeben. Redakteur der Zeitung war von April 1921 bis November 1923 Walcher.14 Mit Stolz konnte im RGZ-Bericht darauf verwiesen werden, daß die
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Vgl. Resolution zu den Steuer- und Wirtschaftskämpfen, ebenda, S. 542—550; Resolution zu den Wirtschaftskämpfen der Beamtenschaft, ebenda, S. 550f.; Resolution zur Erwerbslosenfrage, ebenda, S. 557 f.; Resolution gegen die Entlassung mitarbeitender Familienangehöriger, ebenda, S. 558—560. Vgl. Resolution zur Arbeitslosenfrage des Vereinigungsparteitages der USPD (Linke) und der KPD vom 4. bis 7. Dezember 1920 in Berlin, ebenda, S. 386—388. Vgl. ausführlich Schock, Eva Cornelia, Arbeitslosigkeit und Rationalisierung. Die Lage der Arbeiter und die kommunistische Gewerkschaftspolitik 1920—1928, Frankfurt a. M./New York 1977, S. 33 ff. Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 351-360. Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 552—557. Leider ist es nicht gelungen, dieses angekündigte, mitunter auch als „Jahrbuch für kommunistische Gewerkschafter" bezeichnete Buch aufzufinden. Die Nr. 1 der Zeitung erschien am 18.1.1921. Sie wurde zunächst wöchentlich, ab 29. 7.1922 nur noch 14tägig herausgegeben. Vgl. Walcher, Jacob, Unsere Gewerkschaftsarbeit von Beginn bis 1924. IML/ZPA, NL 87/5.
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Auflagenhöhe des Blattes von Juni bis August 1921 von 12 000 auf 45 00015 gestiegen war. Zugleich wurde aber aufgezeigt, daß in Deutschland täglich Gewerkschaftsblätter (gemeint waren das Korrespondenzblatt des ADGB und die zahlreichen Zeitungen der einzelnen Verbände) mit einer Gesamtauflagenhöhe von 8 Millionen erschienen. Insgesamt hatte sich die Tätigkeit der RGZ als kompliziert erwiesen; das wird bereits deutlich, wenn man ihre personelle Entwicklung bis August 1921 betrachtet. Brandler und Heckert waren stark durch ihre Arbeit in der Parteizentrale in Anspruch genommen; Brandler schied im Februar 1921, als er Parteivorsitzender wurde, aus der RGZ aus. Heckert war ab April 1921 in Moskau an der Vorbereitung des III. KI- und des Gründungskongresses der Roten Gewerkschaftsinternationale beteiligt. Richard Müller und Fritz Wolff gerieten mit den übrigen Mitgliedern der RGZ und der Parteiführung nach der Märzaktion in Konflikt und wurden ihres Amtes enthoben. Schließlich übernahm Walcher, bis dahin Gewerkschaftsredakteur der „Roten Fahne", im April 1921 die Leitung der RGZ. Gleichzeitig mit ihm kam Wilhelm Hauth von der „Roten Fahne" zur RGZ.16 Im RGZ-Bericht wurde kritisch vermerkt, daß in den ersten Wochen nach Veröffentlichung des „Offenen Briefes" im Januar 1921 innerhalb der Partei Widerstände gegen diese Politik überwunden werden mußten. Als die RGZ z. B. darauf orientierte, die zehn Forderungen des ADGB zur Minderung der Not der Arbeitslosen vom Februar 1921 zu unterstützen, fand das nicht überall ein ausreichendes Echo. Sowohl der RGZ-Bericht als auch Walcher in seinem Referat verwiesen darauf, daß der Prozeß der Ausdehnung des kommunistischen Einflusses in den Gewerkschaften durch die Märzkämpfe unterbrochen worden war. Die Gewerkschaftsarbeit war infolge der Kämpfe in einigen Verbänden stellenweise zum Erliegen gekommen.17 Am Schluß des RGZ-Berichtes wurde mit Hinweis auf den III. KI-Kongreß betont, daß die hier und da wiederbelebten Spekulationen einiger Parteimitglieder, daß die Zerstörung der Gewerkschaften doch günstiger sei als ihre Eroberung, gegenstandslos geworden seien. Als wichtigstes Anliegen der Gewerkschaftsarbeit der Kommunisten wurde die Lebensfrage für das Proletariat gestellt: „Wie einigen wir das Proletariat zum Kampf gegen das Unternehmertum, wie fassen wir die ganze proletarische Klasse zusammen gegen die Kaste der Ausbeuter und Unterdrücker?"18 An den Beginn seines Referates „Unsere Tätigkeit in den Gewerkschaften" stellte Walcher das Zitat aus den Thesen des III. KI-Kongresses über die Kommunistische Internationale und die Rote Gewerkschafts-Internationale, daß der beste Maßstab für die Stärke jeder kommunistischen Partei ihr Einfluß auf die 13
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Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 30. Walcher gab auf der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre am 27./28. 8.1921 (IML/ZPA, I 2/708/1) für die Zeit von Juni bis August eine Steigerung von 33 000 auf 52 000 Exemplare an. Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 28 f. Vgl. ebenda, S. 34 f. und 286. Ebenda, S. 35.
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Arbeitermassen in den Gewerkschaften ist. Er hob damit die zentrale Bedeutung der Gewerkschaftsarbeit f ü r die Massenpolitik der KPD hervor. Walcher zeigte, daß die KPD künftig an die Ergebnisse der acht zurückliegenden Monate anknüpfen kann. Er zog im wesentlichen eine positive Bilanz: in vielen Orten waren Gewerkschaftsfraktionen entstanden, und die Kommunisten konnten ihren Einfluß ausbauen. Walcher schätzte ein, daß der Zuwachs an kommunistischem Einfluß in den Gewerkschaften — gemessen am Apparat des ADGB — groß war. Aber zugleich betonte er, daß dieser Einfluß, gemessen an den wirtschaftlichen Verhältnissen und an der untauglichen Politik der Gewerkschaftsführer, noch zu gering sei.19 Das war f ü r Walcher der Ausgangspunkt f ü r seine Überlegungen über die künftigen Schwerpunkte der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit. Dieser Teil seines Referats illustrierte wichtige Punkte der „Richtlinien f ü r die Gewerkschaftsarbeit der KPD". In den Richtlinien wurden in Anlehnung an die Beschlüsse des III. KI- und des I. RGI-Kongresses sowie auf der Basis der politischen Grundlinie, die der Jenaer Parteitag beschloß, Aufgaben kommunistischer Gewerkschaftsarbeit festgelegt. Folgende fünf Probleme wurden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: 1. Zur Arbeit in den Gewerkschaften. Die Richtlinien forderten von allen Parteimitgliedern, „sich gewerkschaftlich zu organisieren und in ihren Organisationen im Sinne der kommunistischen Grundsätze zu wirken". 20 Erstmalig in Gewerkschaftsthesen der KPD wurde rigoros erklärt: „Parteimitglieder, die f ü r den Austritt aus den Gewerkschaften Propaganda machen, verstoßen gegen grundlegende Parteibeschlüsse und sind aus der Partei auszuschließen." 21 Damit wurde dem Anliegen, eine aktive Gewerkschaftsarbeit aller Parteimitglieder durchzusetzen, mehr Nachdruck verliehen, als das in den Gewerkschaftsleitsätzen des Vereinigungsparteitages vom Dezember 1920 der Fall war. 22 2. Zum Verhältnis zwischen Gewerkschaftsfraktion und Partei. Unmißverständlich wurde in den Richtlinien des Parteitages betont: „Die kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen unterstehen in ihrer ganzen Tätigkeit den Parteiorganen. Diese haben jederzeit das Recht und die Pflicht, die Tätigkeit der Fraktionen zu kontrollieren, bestimmte Anweisungen zu geben, Beschlüsse aufzuheben oder zu korrigieren, nötigenfalls Funktionäre abzuberufen und unter Umständen selbständig Fraktionsversammlungen zu veranstalten. Jede Fraktion ist als Ganzes genauso streng an die Parteidisziplin gebunden wie jedes einzelne Parteimitglied." 23 Um die Unterordnung kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre unter die Gesamtpartei, der Reichsgewerkschaftszentrale unter die Zentrale der KPD, deutlicher als bisher zum Ausdruck zu bringen, wurde die
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Vgl. ebenda, S. 351 f. Richtlinien für die Gewerkschaftsarbeit der KPD, in: Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 553. Ebenda. Vgl. Leitsätze für die Tätigkeit der Kommunisten in den Gewerkschaften. Angenommen vom Vereinigungsparteitag der KPD und der USPD (Linke) zur VKPD, Dezember 1920, ebenda, S. 389-396. Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 552 f.
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„Reichsgewerkschaftszentrale" umbenannt in „Gewerkschaftsabteilung der KPD". 2 4 In den Leitsätzen des Vereinigungsparteitages zur Gewerkschaftsfrage vom Dezember 1920 wurde lediglich festgelegt, daß der Gewerkschaftskommission — der späteren RGZ — die Leitung der Gewerkschaftsfraktionen obliegen sollte. Das hatte offenbar zu einer gewissen oder zeitweiligen Verselbständigung der RGZ gegenüber der Zentrale der KPD geführt. Walcher ging zwar in seinem Referat auf dem Jenaer Parteitag auf die Frage nicht weiter ein, schrieb aber in seinem Manuskript „Unsere Gewerkschaftsarbeit von Beginn bis 1924", daß in den Auseinandersetzungen mit Paul Levi auch diese Frage eine Rolle gespielt hätte und es deshalb nötig sei, daß der Jenaer Parteitag das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsfraktion und Partei kläre. 25 3. Zum Verhältnis der Kommunisten zur übrigen Gewerkschaftsopposition. In den Richtlinien wurde darauf verwiesen, daß in einer ganzen Reihe von Gewerkschaftsverbänden außer der kommunistischen eine mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Opposition existierte. Die Kommunisten wurden darauf orientiert, mit dieser zusammenzuarbeiten. Die kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen seien verpflichtet, unter sich zu allen gewerkschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen und ihre Taktik festzulegen. Darüber hinaus aber wurde die Aufgabe formuliert, „bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit den nicht zur Kommunistischen Partei gehörenden oppositionellen Elementen Sitzungen und Versammlungen abzuhalten, um bei wichtigen Anlässen ein gemeinsames und geschlossenes Auftreten zu ermöglichen. Das kommt besonders bei Differenzen im Betrieb, in den Gewerkschaften, bei den Lohnbewegungen, bei der Wahl von Betriebsräten, Mitgliedern in die O.rtsverwaltung, bei der Zusammensetzung des Kartells, des Kartellvorstandes, der Delegierten zu Generalversammlungen und internationalen Kongressen in Betracht." 2 6 Dieser Gedanke fand deutlich auch in Walchers Referat Niederschlag. Er forderte das Zusammengehen von Kommunisten und Parteilosen in allen wichtigen Fragen. Dabei wies er auf erste positive Erfahrungen hin, die in den zurückliegenden Monaten in Hamburg, Bremen und Mecklenburg gesammelt worden waren. Bereits in den Gewerkschaftsleitsätzen des Vereinigungsparteitages war fixiert worden, daß sich die kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen nicht abkapseln, sondern wirksam unter den nichtkommunistischen Klassengenossen wirken sollen.27 Die deutlich artikulierte Forderung nach Zusammenwirken der Kommunisten mit der übrigen, personell wechselnden Gewerkschaftsopposition ist ein Ergebnis der Erfahrungen, auf die die KPD und andere Parteien auf dem III. KI- und auf dem I. RGI-Kongreß hingewiesen haben. Die Betonung dieses Aspektes hing mit dem sich entwickelnden Verständnis für die Erfordernisse einer breiten Einheitsfrontpolitik zusammen. Ein Vorankommen bei der Realisierung der Einheitsfrontpolitik war nur denkbar, wenn alle Möglichkeiten genutzt wurden, auf gewerkschaftlicher Ebene eine breite Front im Kampf gegen das Kapital zu formieren. '' Vgl. ebenda, S. 553. Vgl. Walcher, Unsere Gewerkschaftsarbeit. 26 Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 553 f. 27 Vgl. ebenda, S. 396. 2
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4. Zur Frage' der Ausgeschlossenen. Seit Entwicklung einer revolutionären Opposition in den Gewerkschaften bediente sich die Gewerkschaftsbürokratie der Praxis, die revolutionären Vertreter aus den Organisationen auszuschließen. 1920/21 fand diese Methode zunehmend breitere Anwendung. In Deutschland war es Anfang 1921 zu den ersten Massenausschlüssen, z. B. zu Ausschlüssen ganzer Ortsgruppen aus dem deutschen Bauarbeiterverband gekommen. 28 Die Kommunisten standen vor der Frage: Was geschieht mit den Einzelmitgliedern, Ortsgruppen oder auch Verbänden, die aus den Gewerkschaften ausgeschlossen wurden, und wie kann man der Ausschlußpraxis wirksam begegnen? In den Richtlinien des Jenaer Parteitages heißt es dazu: „Wo trotz aller Bemühungen unserer Genossen, den organisatorischen Streitfragen aus dem Wege zu gehen und die Einigkeit aufrechtzuerhalten, ein Hauptvorstand durch diktatorische Maßnahmen ganze Ortsgruppen ausschließt, haben die Ausgeschlossenen klar und deutlich zu erklären, daß sie sich nach wie vor als zugehörig zur Gesamtorganisation betrachten und entschlossen sind, die Organisation in der bisherigen Weise weiterzuleiten." 29 Sie sollten enge Verbindung mit den kommunistischen Fraktionen der zugehörigen gewerkschaftlichen Organisationen halten. Die betroffenen Ortsgruppen oder Einzelmitglieder sollten auf jeden Fall an die Kontrollinstanzen der Gewerkschaften und wenn nötig an den Verbandstag appellieren, um ihre Wiederaufnahme durchzusetzen. Wichtig sei es, die Gewaltakte der Hauptvorstände den Arbeitern des ganzen Reiches bekannt zu machen, um so Kräfte für die Wiederaufnahme zu mobilisieren.30 Walcher hielt eine gesonderte Organisation für Ausgeschlossene nicht für erforderlich, da die bisherigen Verbindungen der Ausgeschlossenen mit den Fraktionen ausreichend seien und sich die Zahl der Ausgeschlossenen in Deutschland noch in Grenzen halte. 31 Eine wichtige Möglichkeit, Ausschlüsse zu begrenzen, sah Walcher in der propagandistischen Nutzung und Massenmobilisierung gegen solche Entscheidungen von Gewerkschaftsleitungen. Die Entscheidung des Jenaer Parteitages entsprang der Parteilinie, in den Gewerkschaften zu arbeiten und die Einheit der Gewerkschaften zu bewahren, sie entsprach den Erfordernissen dieser Zeit. Allerdings zeigte sich schon bald, daß es immer komplizierter wurde, gegen die Ausschlußpraxis der Gewerkschaften anzukämpfen. Das Problem spielte 1922 wiederholt eine Rolle. 5. Zu Organisationsfragen. Die Richtlinien zur Gewerkschaftsarbeit enthielten 15 detaillierte Punkte, die den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen regelten. 32 Der Aufbau der Fraktionen in den Gewerkschaften folgte der Struktur der Gewerkschaften. Auf der untersten Ebene sollten die örtlichen Fraktionen gebildet werden. Diese örtlichen Betriebs- und Gewerkschaftsfraktionen waren bezirksweise, nach 15 Industriegruppen gegliedert, zusammenzufassen. Die zentrale Leitung der gesamten oppositionellen Gewerkschaftsarbeit der KPD oblag der Gewerkschaftsabteilung der Zentrale. 28 29 30 31
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Vgl. Schwaab, S. 77-87. Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 554 f. Vgl. ebenda, S. 555. Vgl. Bericht über die Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Partei Deutschlands, S. 257 f. Vgl. Dokumente und Materialien, Bd. 7,1. Halbbd., S. 555—557.
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Weiter wurde festgelegt, daß die Gewerkschaftsabteilung aus vier Mitgliedern bestehen sollte, die von der Zentrale der KPD festzulegen waren. Schließlich wurden auch die Reichskonferenzen kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre als feste Einrichtung in den Richtlinien verankert. Sie sollten in der Regel im Anschluß an jeden Parteitag stattfinden. Die Zentrale setzte nach dem Jenaer Parteitag Wilhelm Hauth, Heinrich Malzahn, Paul Neumann und Jacob Walcher als Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung ein. Auf dem Jenaer Parteitag wurde auf eine aktive Massenarbeit orientiert. Die rasche und wirksame Realisierung dieser politischen Orientierung hing — und das wurde von den führenden Genossen zum großen Teil erkannt — in hohem Maße davon ab, die Gewerkschaftsarbeit auf verschiedenen Ebenen voranzubringen. Dazu trug entscheidend die Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre bei, die gleich im Anschluß an den Parteitag # am 27./28. August 1921 stattfand. Sie wurde entsprechend den Festlegungen des Jenaer Parteitages von der Gewerkschaftsabteilung im Auftrag der Zentrale einberufen. Teilnehmer der Reichskonferenz waren Vertreter der Zentrale, der Gewerkschaftsabteilung, die verantwortlichen Leiter der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit der Bezirke, die Industriegruppenleiter und gewählte Vertreter der Bezirksfraktionen. 33 Die Reichskonferenz hatte die Aufgabe, die erforderlichen Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus der Gesamtpolitik der Partei für die Gewerkschaftsarbeit ergaben, und Festlegungen zu treffen. Zugleich bot diese Konferenz, auf der Gewerkschaftsfunktionäre aus ganz Deutschland zusammenkamen, die Möglichkeit, sich über Fortschritte sowie über vielfältige Schwierigkeiten und Probleme der Gewerkschaftsarbeit auszutauschen. Am Samstag, dem 27. August 1921, eröffnete Walcher im Gewerkschaftshaus zu Jena die Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre. Außer ca. 160 kommunistischen Gewerkschaftsfunktionären des ADGB nahmen einige Delegierte der Freien Arbeiter-Union (Gelsenkirchen), des Freien Landarbeiterverbandes und des Hand- und Kopfarbeiterverbandes an den Verhandlungen teil.34 Auf der Reichskonferenz spielte die Information über den Jenaer Parteitag und über den Gründungskongreß der RGI eine wichtige Rolle. Vier Referate standen auf der Tagesordnung: 1. Bericht über den RGI-Kongreß und die Arbeit in den Gewerkschaften (F. Heckert); 2. Tätigkeitsbericht der RGZ und die nächsten Aufgaben (J. Walcher); 3. Bericht über die Lage in Sowjetrußland und
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Vgl. ebenda, S. 557. In Deutschland wirkten verschiedene anarchosyndikalistische oder zum Anarchosyndikalismus tendierende Arbeiterunionen wie die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), die Freie Arbeiter-Union (Gelsenkirchen), die Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands und die Allgemeine Arbeiter-Union Einheitsorganisation. Vgl. ausführlich Bock, Hans Manfred, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Meisenheim a. Glan 1969 (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Bd. 13).
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die proletarische Hilfsaktion (H. Malzahn); 4. Referat über die Aufgaben in den nächsten Lohnkämpfen (H. Malzahn).33 Heckert gab einen ausführlichen Überblick über die Situation in der internationalen Gewerkschaftsbewegung und berichtete über den Gründungskongreß der RGI. Er ging auf das Aktionsprogramm der RGI gegen Arbeitslosigkeit, für Lohnerhöhungen und für Produktionskontrolle ein. Die Kommunisten, so hob Heckert hervor, müßten nun zielgerichtet und energisch in den Gewerkschaften wirken, um deren Kampf gegen die Offensive des Kapitals zu aktivieren. Mit Hinblick auf die Vertreter verschiedener Unionen, die an der Gewerkschaftskonferenz teilnahmen, erörterte Heckert deren Stellungnähme auf dem RGIKongreß gegen die Arbeit in den reformistisch geführten Gewerkschaften. Er richtete an die anwesenden Unionsvertreter den Appell, diese Position zu überprüfen.36 Hier wurde das Bestreben Heckerts deutlich, die Unionen für ein Zusammenwirken mit der kommunistischen Gewerkschaftsopposition zu gewinnen, was der Orientierung des I. RGI^Kongresses entsprach. Bereits in den Organisationsthesen des RGI-Gründungskongresses wurde gefordert, das Zusammenwirken der kommunistischen Gewerkschaftsopposition mit den Unionen zu organisieren.37 Selbstverständlich setzte eine solche Zusammenarbeit voraus, daß die Unionen die Arbeit der Kommunisten in den großen, reformistisch geführten Gewerkschaften, die vom RGI-Kongreß für alle Länder zum Prinzip erhoben worden war, anerkannten und jede Propaganda für die Zerstörung der Gewerkschaften aufgaben. Wichtige Orientierungen enthielten die Referate von Walcher und Malzahn, die im folgenden näher untersucht werden sollen. Walcher sprach in der Nachmittagssitzung des 27. August zu den Delegierten wesentlich ausführlicher als schon auf dem Jenaer Parteitag über die Tätigkeit der RGZ und über künftige Aufgaben. Von besonderem Interesse waren seine Ausführungen über den Einfluß der Kommunisten in den Gewerkschaften und über inhaltliche Fragen der weiteren Arbeit. Er betonte, daß trotz erster Schritte in Richtung einer systematischen Gewerkschaftsarbeit nach dem Vereinigungsparteitag (Dezember 1920) der Einfluß der Kommunisten in den Gewerkschaften entschieden zu gering sei. Das habe sich im Sommer 1921 auf den Verbandstagen der Textilarbeiter, Holzarbeiter und Bergarbeiter gezeigt, wo die Kommunisten nur in geringem Maße vertreten gewesen seien. Einschränkend sagte Walcher, daß die Zahl kommunistischer Delegierter allein kein zuverlässiger Gradmesser für ihren Einfluß in den Gewerkschaften sei, z. B. deshalb nicht, weil das Wahlreglement in verschiedenen Verbänden die Kommunisten benachteilige.38 Anschaulich verdeutlichte er, daß das Problem bei den Delegiertenwahlen zu Verbandstagen darin bestehe, daß die Kommunisten stärker sein müssen als SPD und USPD zusammen, wenn sie ihre Delegierten durchbringen 35
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Vgl. Protokoll der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre am 27./28. August 1921 in Jena, IML/ZPA, I 2/708/1. Vgl. ebenda. Vgl. Resolution über die Organisationsfrage, in: Resolutionen und Aufrufe des Ersten Internationalen Kongresses der Roten Fach- und Industrieverbände. 3. bis 19. Juli 1921, Moskau 1921, S. 65. Vgl. Walcher, Referat auf der Reichskonferenz.
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wollen. Und das sei in der Regel eben nicht der Fall, „und niemand kann überrascht sein, wenn diese Tatsache durch die Zusammensetzung der Verbandstagungen ihre Bestätigung findet".39 Walcher warnte hier vor Enttäuschungen und vor allzu großen Erwartungen, denn dauerhafte und deutlich spürbare Erfolge seien nur bei einer kontinuierlichen und systematischen Arbeit in den Gewerkschaften möglich. Als unzulänglich schätzte Walcher die Vorbereitung von Verbandstagen ein und forderte die Gewerkschaftsfunktionäre auf, der zuständigen Bezirksleitung der K P D rechtzeitig die gewählten kommunistischen Delegierten zu melden. Es sei nötig, diese Delegierten schon vorher zusammenzufassen, um eine gemeinsame Taktik festzulegen. Außerdem müsse man versuchen, ein koordiniertes Vorgehen auch mit den übrigen oppositionellen Kräften zu erreichen. Hier gelte es, stärker als bisher positive Erfahrungen, wie die der Genossen in Vorbereitung auf den Verbandstag der Holzarbeiter in Hamburg, zu nutzen. Dort war es bereits gelungen, eine oppositionelle Fraktion aufzubauen, die außer den Kommunisten auch oppositionelle sozialdemokratische Delegierte umfaßte. Walcher bezeichnete es überhaupt als einen Mangel in der Gewerkschaftsarbeit, daß die Kommunisten es noch nicht ausreichend verstanden, mit der übrigen Opposition in Kontakt zu gelangen und eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu organisieren. Er knüpfte hier an seine bereits auf dem Jenaer Parteitag geäußerten Gedanken an, führte sie auf der Reichskonferenz aber wesentlich detaillierter aus. Für ihn war es eine vorrangige Aufgabe, die gesamte Opposition innerhalb des A D G B zusammenzuführen. Es ging ihm in erster Linie um die oppositionellen Kräfte der SPD, der U S P D und der Parteilosen, die unzufrieden damit waren, daß die Gewerkschaften keine kämpferische Politik zur Sicherung von Lohn und Brot führten. Diese Kräfte^ zu gewinnen und um die kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen zu scharen — darin sah Walcher das Wesen kommunistischen Wirkens in den Gewerkschaften. Zu diesem Zweck schlug er vor, „interfraktionelle parteilose Konferenzen" einzuberufen, auf denen sich alle oppositionellen K r ä f t e über Lohnfragen und die die gesamte Arbeiterschaft interessierenden Kämpfe austauschen konnten, um schließlich ihr gemeinsames Vorgehen zu koordinieren. 40 Kein anderer Funktionär hat auf dem Parteitag oder auf der Reichskonferenz so beharrlich immer wieder auf diesen wichtigen Gesichtspunkt hingewiesen. Mit seinen Vorschlägen machte Walcher den Versuch, für die Einheitsfrontpolitik im gewerkschaftlichen Bereich eine konkrete Form zu finden. Das war ein Schritt zur Umsetzung und Weiterentwicklung der Politik des III. KI-Kongresses. Den Inhalt kommunistischer Gewerkschaftsarbeit faßte Walcher treffend in den Worten zusammen: „Wir müssen uns in den Gewerkschaften um die kleinen und kleinsten Dinge im Betrieb und allerwärts kümmern, wir müssen versuchen, die Gewerkschaften zu dem zu zwingen, wofür sie wirklich da sind, nämlich, sich der Interessen der Proletarier gegenüber dem Unternehmertum, gegenüber der ganzen bürgerlichen Gesellschaft anzunehmen.'" 11 Walcher knüpfte damit direkt an die entsprechenden Formulierungen in den Materialien des III. KI33 Ebenda. 'i0 Vgl. ebenda. Ebenda.
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Kongresses über das Wesen der Gewerkschaftsarbeit an und betonte nochmals, daß die Kommunisten durch ihr Wirken in den Gewerkschaften erreichen wollten, daß diese Organisationen gegenüber dem Kapital und dem kapitalistischen Staat eine selbständige Politik betreiben. Mit diesem Ziel schlössen sie sich in den Gewerkschaften zu Fraktionen zusammen und versuchten darüber hinaus, eine breite gewerkschaftliche Opposition zusammenzuführen. Ein besonderer Stellenwert kam auf der Reichskonferenz im August 1921 den bevorstehenden Lohnkämpfen zu. In der Nachmittagssitzung der Gewerkschaftskonferenz am 27. August ist auf Antrag der Hamburger Delegierten beschlossen worden, ein Referat über die Taktik in den Lohnkämpfen zusätzlich in das Programm aufzunehmen/'2 Zu diesem Thema sprach Malzahn. Als der Referent am folgenden Tag an das Rednerpult trat, stellte er drei Fragen an den Beginn seiner Ausführungen: Welchen Konflikten geht das deutsche Proletariat entgegen? Welche Taktik verfolgen die Unternehmer, um die Ausbeutung zu verstärken? Welche Haltung nimmt die Gewerkschaftsbürokratie ein, und was haben die Kommunisten infolgedessen zu tun? 43 Malzahn legte dar, daß die Unternehmer verstärkt bemüht sein werden, die Kosten, die sich aus den Reparationszahlungen ergaben, auf die Werktätigen abzuwälzen/''* Deshalb standen den deutschen Werktätigen neue Steuern direkter und indirekter Art bevor, desgleichen eine neue Teuerungswelle (Erhöhung der Brotpreise und Mieten). Die Unternehmer, die sich bereits seit einiger Zeit in der Offensive befinden, betonte Malzahn, werden noch stärker als bisher zu Reallohnabbau und Arbeitszeitverlängerung übergehen. Sie werden bemüht sein, die Kampfkraft der Arbeiter zu schwächen, indem sie die Streikkämpfe von Betrieb zu Betrieb niederkämpfen.45 Malzahn zeigte auf, daß die Lage der Gewerkschaften kompliziert war, denn die Streikkassen seien durch die Inflation belastet, und daraus erkläre sich z. T. ihr Bestreben, Streikkämpfe zu verhindern. Vor allem aber beruhe dieses Zurückweichen auf der Arbeitsgemeinschaftspolitik rechter Gewerkschaftsführer. Er illustrierte das mit dem Hinweis auf die Haltung von ADGB-Vertretern, die sich verpflichtet hatten, zur Erfüllung der Reparationsforderungen beizutragen. Die Mittel für diese Zahlungen sollten — so die Gewerkschaften — erarbeitet und nicht durch Belastung des Kapitals beschafft werden. Malzahn zog daraus die Schlußfolgerung, daß der ADGB also, entgegen den offiziellen Verlautbarungen, bestrebt sein müsse, Streikkämpfe zu verhindern. Anhand jüngster Erfahrungen (Metallarbeiterstreik in Berlin) schilderte der Redner die Taktik des ADGB, die Kämpfe bei geringfügigen Zugeständnissen der Unternehmer abzuwürgen. Die Gewerkschaften nähmen sich der Forderungen der Arbeiter an, stellten sich an ihre Spitze und würgten die Streiks im geeigneten Moment ab. Eine kleine Gruppe von Funktionären beschließe bei solchen Gelegenheiten über die Annahme der Unternehmerzugeständnisse, und ohne diese Forderungen in Arbeiterkreisen zu Vgl. ebenda. " Vgl. Malzahn, Heinrich, Referat auf der Reichskonferenz, ebenda. v< Malzahn bezog sich auf die zweite Konferenz der Alliierten in London vom 29. 4. bis 5. 5.1921, auf der die Gesamtsumme der deutschen Reparationen auf 132 Mrd. Goldmark festgelegt worden war. Vgl. GdA, Chronik, Teil 2, S. 110. 45 Vgl. Malzahn, Referat auf der Reichskonferenz. 52
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diskutieren, lasse man dann die Entscheidung der Funktionäre durch Urabstimmung bestätigen. Dieser „Überrumpelungstaktik", so forderte Malzahn, müssen die Kommunisten in den Gewerkschaften entgegenwirken/'® Die Aufgabe der kommunistischen Gewerkschafter in den Wirtschaftskämpfen bestehe darin, sehr aktiv und mit Geschick wirksam zu werden. Die Kommunisten müßten sich zu Sachwaltern der Arbeiterinteressen machen und dürften keinesfalls Mißtrauen erzeugen, daß hier „kommunistische Sonderinteressen" verfolgt werden. H. Malzahn riet, die Forderungen nach Lohnerhöhungen genau abzuwägen und den Verhältnissen anzupassen. Das bedeute, keine übertriebenen oder schematischen Forderungen (d. h. solche, die stereotyp die der Gewerkschaften um das Dreifache übersteigen) zu stellen. Die Forderungen müssen ungefähr der Teuerungsrate entsprechen. Mitunter, so schlug Malzahn vor, sei es angebracht, Forderungen der Gewerkschaften aufzugreifen und dafür sofort die Arbeiter zu mobilisieren. Malzahn riet auch eindringlich dazu, stets die Statuten der Gewerkschaften zu beachten und sich nicht zu aussichtslosen Kämpfen hinreißen zu lassen, die dann zur massiven Hetze gegen die Kommunisten genutzt werden können. Wenn es nicht gelinge, die Verbandsbürokratie im Sinne der Arbeiterforderungen voranzutreiben, dann — so schlug Malzahn vor — sollten Betriebsrätekonferenzen in den Bezirken und schließlich ein landesweiter Betriebsrätekongreß ins Auge gefaßt werden. Damit griff er einen Vorschlag auf, der hin und wieder schon auf dem Jenaer Parteitag und vereinzelt auch bereits im „Kommunistischen Gewerkschafter" im Juli/August aufgetaucht war. Alles in allem stünden komplizierte Aufgaben vor den kommunistischen Gewerkschaftern. Die Parteipresse, forderte Malzahn, müsse darauf eingestellt werden und umfassend über die Lage der Arbeiterklasse und über verschiedene Streikkämpfe informieren. H. Malzahn stellte albschließend konkrete Fragen zur Diskussion: Wie können wir die verschiedenen K ä m p f e miteinander verbinden? In welchen Betrieben greifen wir zuerst an? W i e sind die K ä m p f e über den ganzen Bezirk oder die ganze Industriegruppe auszudehnen?47 In der Diskussion stimmten die Redner mit mehr oder weniger Nachdruck dem Referat zu und legten — was f ü r die weitere Arbeit bedeutsam war — Erfahrungen in ihren Bezirken oder Industriegruppen dar.48 Die Gewerkschaftslinie, die vom Jenaer Parteitag festgelegt worden -war, bestimmte die Gewerkschaftspolitik der K P D bis zu ihrem 8. Parteitag (Januar 1923) und darüber hinaus. Sie entsprach dem verstärkten Bemühen der K P D , die Werktätigen zur Verteidigung ihrer sozialen und demokratischen Rechte zu sammeln, sie an entscheidende K ä m p f e zur Brechung der Macht des Monopolkapitals heranzuführen. Die Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre Ende August 1921 war ein wichtiger Schritt zur Realisierung der vom Parteitag beschlossenen Gewerkschaftspolitik, indem hier Antwort auf Fragen der inhaltlichen Gestaltung der Gewerkschaftsarbeit der Kommunisten gegeben wurde und hinsichtlich der bevorstehenden Lohnkämpfe eine erste Orientierung erfolgte. 46 47 48
Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. Walcher, Jacob, Schlußwort zur Diskussion auf der Reichskonferenz, ebenda.
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Zu den Auseinandersetzungen über die Gewerkschaftspolitik in der Führung der K P D Ende 1921 Nach dem Jenaer Parteitag, ab September 1921, war die Politik der KPD immer stärker dadurch bestimmt, die Einheitsfront im Kampf um die Tagesinteressen und zum Schutz der demokratischen Errungenschaften der Weimarer Republik zu schaffen. Die allgemeine Entwicklung 1921/22 fand in der Gewerkschaftspolitik eine deutliche Widerspiegelung. Diese entsprach den Erfordernissen, die sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands ergaben. Bereits im Sommer 1919 war eine wirtschaftliche Belebung eingetreten, die in eine Inflationskonjunktur überging. Die Produktion stieg bis 1922 im Unterschied zu anderen kapitalistischen Staaten, die 1920/21 eine Überproduktionskrise durchliefen, an. Die günstige wirtschaftliche Entwicklung verhalf dem deutschen Monopolkapital zur ökonomischen wie politischen Offensive. Die Inflation, die sich seit 1921 und besonders seit Mitte 1922 beschleunigte, ermöglichte dem deutschen Monopolkapital eine enorme Bereicherung und bewirkte einen starken Rückgang der Reallöhne.49 Die Lebenslage der Werktätigen verschlechterte sich 1921/22 kontinuierlich. Reallohnsenkung, wachsende Teuerung und zunehmender Steuerdruck waren begleitet von Gesetzentwürfen zur faktischen Aufhebung des Achtstundentages, zur Einschränkung des Streikrechts und der Rechte der Gewerkschaften. Die kommunistische Presse kennzeichnete die Politik des Monopolkapitals treffend mit dem Begriff „Stinnesierung". Zunehmend wurde auch die politische Reaktion spürbar (Ermordung von Matthias Erzberger im August 1921 und von Walter Rathenau im Juni 1922). In dieser Situation schlug der Görlitzer Parteitag der SPD (18. bis 24. September 1921) eine Koalition mit bürgerlichen Parteien, einschließlich mit der Deutschen Volkspartei (DVP), der Partei Stinnes' und der deutschen Schwerindustrie vor.50 Vor diesem Hintergrund präzisierte die KPD in den Monaten nach dem Jenaer Parteitag ihre Vorstellungen zur Steuerfrage und zur Sachwerterfassung. Es reiften die Auffassungen von der Arbeiterregierung als einer Alternative zur bürgerlichen Koalitionsregierung bzw. zur Koalition der SPD mit bürgerlichen Parteien. Die Weiterentwicklung der gesamten Einheitsfrontkonzeption vollzog sich in der Partei in einem komplizierten Ringen um den richtigen Weg, wobei der KPD eine bedeutende Unterstützung durch die KI erwuchs. Diese Entwicklung 1921/22 ist von marxistisch-leninistischen Historikern in den letzten 20 Jahren gründlich untersucht und ausführlich dargestellt worden.51 ',9 Vgl. Mottek, Hans/Becker, Walter/Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3, Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1977, S. 235-246; Nußbaum, Manfred, Staat und Wirtschaft in Deutschland während der Weimarer Republik, Berlin 1978, S. 28-47. 50 Vgl. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 1917—1945. Von e. Autorenkoll. unter Ltg. von Heinz Niemann, Berlin 1982, S. 102-107, bes. S. 106 f. 51 Vgl. Reisberg, Arnold, An den Quellen der Einheitsfrontpolitik. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921—1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W. I. Lenins und der Komintern für die KPD, Berlin 1971, S. 231—316; Ernst Thälmann. Eine Biographie, Berlin 1982, S. 109-154; ChortScanski, Gunter/
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Das Ringen um den richtigen Weg ist im Zusammenhang mit der allmählichen Aneignung und Durchsetzung des Marxismus-Leninismus in der KPD zu sehen. Der Erkenntnisprozeß war von ,linken' und rechten Abweichungen begleitet. Ultralinke Auffassungen waren auf dem Jenaer Parteitag durchaus spürbar gewesen, wenn sich auch Vertreter wie Ruth Fischer und Arkadi Maslow auf dem Parteitag selbst zurückgehalten hatten. Doch unmittelbar danach versuchten sie wiederholt, die Bedeutung des III. KI-Kongresses und des Jenaer Parteitages zu verfälschen und die Einheitsfrontpolitik als opportunistisch zu diffamieren. Zugleich gab es gefährliche Vorstöße rechter Kräfte um Ernst Reuter (Friesland) gegen die Partei, die die Einheitsfrontvorstellungen im opportunistischen Sinne auslegten. Im September 1921 hatten einige aus der KPD Ausgeschlossene (Paul Levi, Curt Geyer, Bernhard Düwell, Ernst Däumig u. a.) die Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG), eine opportunistische Gruppierung, gebildet. In den folgenden Wochen sammelten sich um Reuter oppositionelle Kräfte, die in der KPD im Sinne der KAG wirkten. Die Angriffe waren auf die Existenz einer selbständigen Kommunistischen Partei gerichtet. An ihrer Stelle sollte eine „Sozialrevolutionäre Partei" geschaffen werden, die alle in Opposition zur reformistischen Politik stehenden Kräfte aufnehmen sollte. Der Vorstoß galt somit der wichtigsten Voraussetzung f ü r die Einheitsfront — einer starken, geschlossenen revolutionären Partei. Reuter wandte sich in scharfer Form gegen die vom II. Kongreß der KI (1920) beschlossenen 21 Aufnahmebedingungen, gegen die revolutionären Grundsätze der KI und gegen die Politik der KPR (B).52 Am 19. November 1921 fand in der Zentrale bei Anwesenheit von Wilhelm Pieck und Fritz Heckert eine Aussprache über die Gewerkschaftspolitik statt. Drei der vier Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung, Malzahn, Neumann und Hauth, hatten an der Richtigkeit der Fra'ktionsarbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften und an der Existenzberechtigung der RGI gezweifelt. 53 Die Differenzen konnten jedoch beigelegt werden, und die drei Genossen setzten ihre Arbeit in der Gewerkschaftsabteilung fort. 54 Als am 25. November 1921 der sozialdemokratische „Vorwärts" 55 einigen Mit-
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54 55
Veber, Stefan (Günter Hortschanski, Stefan Weber): Snacenie III. kongressa kommunisticeskogo internacionala dl ja ukreplenija OKPG, in: Tretij kongress kominterna, S. 280—314; diess., Bor'ba kommunisticeskoj partii Germanii za edinyj rabocij front (1922—1923 gg.), in: Cetvertyj kongress kominterna. Razrabotka kongressom strategii i taktiki kommunisticeskogo dvizenija v novych uslovijach. Politika edinogo fronta, Moskva 1980, S. 297—336; Jahn, Gisela/Köpstein, Horst, Zur Einheitsfrontpolitik der Kommunistischen Internationale, in: Studien zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 1974, S. 134—149. Vgl. Reisberg, S. 277-293. Vgl. Die Rote Fahne, 2.12.1921; Leder, S., Ist die RGI für Deutschland keine organisatorische Frage?, in: Der Kommunistische Gewerkschafter (Der KG), 7.1.1922, S. 7 f. Vgl. Reisberg, S. 281. Die SPD veröffentlichte im „Vorwärts" Materialien über angeblich terroristische Handlungen von Mitgliedern der KPD-Zentrale im März 1921. Der Veröffentlichung folgte eine Hetzkampagne gegen die KPD und gegen die sich entwickelnde Einheitsfront. Die Materialien waren in der KPD-Führung bekannt und bereits im Mai 1921 diskutiert worden. Ebenda, S. 277 ff.
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gliedern der Zentrale eine angeblich terroristische Politik im März 1921 anlastete, nutzte Reuter die Situation aus und ging zum Generalangriff auf die K P D über. Er forderte u n t e r Androhung seines eigenen Rücktritts das Ausscheiden der betreffenden Mitglieder der Zentrale und ihre Ersetzung durch solche, die der KAG näherstanden. I m m e r offener zog er die Grundsätze der KPD, d e r KI und der Arbeit des Exekutivkomitees der EKKI in Zweifel. Als die Zentrale seine Forderungen zurückwies, bemühte sich Reuter u m Bundesgenossen, die er unter Gewerkschaftsfunktionären der Partei auch fand. 56 Geschickt k n ü p f t e er dabei an die Auseinandersetzungen über G r u n d f r a g e n der Gewerkschaftspolitik an, die kurz zuvor in der Gewerkschaftsäbteilung ausgetragen worden waren. 67 Nach der Vorwärts-Veröffentlichung gelang es ihm, Malzahn, Neumann und H a u t h f ü r sich zu gewinnen. In der Sitzung der Zentrale am 30. November drohte er, daß diese Gewerkschaftsfunktionäre ihre Arbeit in der Gewerkschaftsabteilung niederlegen, wenn die beschuldigten Mitglieder der Zentrale nicht zurückträten. Hinter den Angriffen von Reuter steckte — wie die Zentrale A n f a n g Dezember 1921 erkannte — die Absicht der KAG, die K P D in der Frage der Stellung zur KI, zum EKKI und zur RGI zu spalten. 58 Insgesamt gelang es Reuter weder u n t e r den Partei- noch unter den Gewerkschaftsfunktionären, eine bedeutende Anhängerschaft zu gewinnen. In einer so zugespitzten Form kamen die Differenzen n u r in d e r Zentrale, nicht im ganzen Lande zum Vorschein. 58 Reuter, Malzahn, H a u t h u. a. w u r d e n im Dezember 1921 und J a n u a r 1922 ihrer Funktion enthoben. Die Zentralausschußtagung vom 22./23. J a n u a r 1922 schloß die gen a n n t e n Genossen sowie einige ihrer Anhänger aus der K P D aus. 60 Ein wichtiger Tagesordnungspunkt der Zentralausschußtagung war die Gewerkschaftspolitik der Partei, zu der eine Resolution angenommen wurde. 6 1 F. Heckert trat am 23. J a n u a r mit einem Referat auf, in dem er die Gewerkschaftsresolution begründete. Er ging von der Frage aus, ob eine K o r r e k t u r der Gewerkschaftspolitik der Kommunisten — wie sie einige ehemalige Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung vorgeschlagen hatten — erforderlich sei. Zunächst polemisierte er gegen diejenigen, die eine solche Veränderung der Gewerkschaftspolitik mit der Stabilisierung des Kapitalismus begründeten. 6 2 In der Resolution zur parteipolitischen Lage w u r d e darauf verwiesen, daß die Kommunisten aus der Einsicht in die politische und wirtschaftliche Festigung des Kapitalismus entsprechende Schlußfolgerungen f ü r ihre Taktik ziehen, ohne sich wie die G r u p p e 38 57
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Vgl. ebenda, S. 280 ff. Die Protokolle der Sitzungen der Gewerkschaftsabteilung dieser Zeit liegen leider nicht vor. Deshalb ist es schwer, alle umstrittenen Probleme detailliert zu rekonstruieren. Vgl. Reisberg, S. 284 ff. Vgl. ebenda. Reuter arbeitete in der Reichsleitung der KAG mit dem von ihm einst bekämpften Levi zusammen. Die KAG trat im März 1922 in die USPD ein und kehrte wenig später mit in die SPD zurück. Vgl. ebenda, S. 292 f. Resolution über die Gewerkschaftsfrage, in: Dokumente und Materialien, Bd. 7, 2. Halbbd., Januar 1922-Dezember 1923, Berlin 1966, S. 22-24. Vgl. Heckert, Fritz, Referat auf der Sitzung des Zentralausschusses der KPD am 22./23. Januar 1922. Protokoll der Zentralausschußsitzung, IML/ZPA, I 2/1/12.
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um Reuter vom Kommunismus überhaupt loszusagen. 63 Das war sowohl auf dem III. KI-Kongreß und dem I. RGI-Kongreß als auch auf dem Jenaer Parteitag geschehen. Die konkrete Ausgestaltung der entsprechenden Gewerkschaftspolitik war auf der Gewerkschaftskonferenz nach dem Parteitag erfolgt. Hintergrund für die Forderung nach Veränderung der Gewerkschaftspolitik war also nicht das Bestreben, sich an objektive Veränderungen der Klassenkampfbedingungen anzupassen. Heckert betonte des weiteren, daß die Festigung des Kapitalismus, dessen Stabilität für ihn noch fragwürdig sei, jedenfalls mit einer ständigen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werktätigen einherging (wachsende Arbeitslosigkeit in vielen Ländern, Reallohnsenkungen, Preissteigerungen usw.). Der massive Angriff des Kapitals auf die Arbeiterklasse war, wie Heckert ausführte, durch die Arbeitsgemeinschaftspolitik erleichtert worden. Er charakterisierte diese Arbeitsgemeinschaftspolitik des ADGB und des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) im folgenden ausführlich, um zu verdeutlichen, wie absurd das Bestreben der oppositionellen Kräfte war, sich dieser Politik anzupassen. Im Zentrum des Referats von Heckert standen die beiden Hauptangriffspunkte der ehemaligen Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung: die Existenzberechtigung der RGI und die Fraktionsarbeit der Kommunisten. Er schilderte den internationalen Charakter der Kapitaloffensive und legte dar, daß die RGI aus zwei Grundüberlegungen heraus entstanden ist: einmal, weil die Verbesserung der Lebensbedingungen unter den Nachkriegsbedingungen nur möglich gewesen sei bei einem Bruch mit der Arbeitsgemeinschaftspolitik. Zum anderen erfordere das geschlossene Vorgehen der internationalen Bourgeoisie, den gewerkschaftlichen Kampf international zu koordinieren. Heckert betonte, daß in keinem Land eine Spaltung der Gewerkschaftsbewegung durch die RGI erfolgt sei. Er verwies darauf, daß z. B. in Frankreich die RGI alles versucht hatte, die Gefahr der Spaltung der Confédération Générale du Travail (CGT) einzudämmen. 64 Sie trete sogar in den Ländern, wo verschiedene Gewerkschaftsorganisationen — wie in den USA — existierten, für ihre Verschmelzung ein. In der Gewerkschaftsresolution der Zentralausschußtagung hieß es, daß die Kommunisten mit noch größerer Energie als bisher wirksam werden müssen „für die Durchsetzung einer der Arbeiterklasse nutzenden Gewerkschaftspolitik, die herbeizuführen ist durch die Einheitlichkeit der Gewerkschaftsbewegung, Zusammenfassung der Berufsorganisationen zu Industrieverbänden, einheitliche Kampfführung, wirkliche internationale Verbindung zur gegenseitigen Unterstützung und Stärkung im Kampfe". 6 5 Heckert betonte, daß es dem Kampf für die Gewerkschaftseinheit nicht widerspreche, die Prinzipien des IGB, insbesondere seine Arbeitsgemeinschaftspolitik, zu kritisieren. 60 Die Beschlüsse des II. Kongresses der KI im August 1920 und des Vereinigungsparteitages von KPD und USPD (Linken) im Dezember 1920 wurden von rechten Gewerkschaftsführern als Begründung für die verstärkte Ausschlußpraxis
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Vgl. Resolution zur parteipolitischen Lage, in: Dokumente und Materialien, Bd. 7, 2. Halbbd., S. 19. Vgl. Heckert, Referat. Resolution zur Gewerkschaftsfrage, S. 23. Vgl. Heckert, Referat.
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gegenüber kommunistischen Gewerkschaftsmitgliedern ausgenutzt. Aus diesem Grund begannen einige Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung der KPD-Zentrale die Richtigkeit zu bezweifeln, in den Gewerkschaften kommunistische Fraktionen zu schaffen. Die Fraktionsbildung ist bis heute ein wichtiges Argument rechter sozialdemokratischer Historiker wie Freya Eisner, mit dem der zerstörerische und gewerkschaftsschädigende Charakter kommunistischer Gewerkschaftspolitik bewiesen werden soll.67 Heckert verteidigte die kommunistische Fraktionsarbeit auf der Zentralausschußtagung im Januar 1922 mit zwei Argumenten. Energisch bestritt er, daß sich dadurch in irgendeinem Land eine Gewerkschaftsspaltung vollzogen habe. Die Ausschlüsse revolutionärer Gewerkschafter aus den Verbänden gehörten in Deutschland und in anderen Ländern bereits zur Praxis der Gewerkschaftsführer, bevor die Kommunisten begonnen hatten, sich in den Gewerkschaften zusammenzuschließen. Heckert meinte sogar, daß durch die Fraktionsarbeit z. T. die Abwanderung derjenigen, die mit der Gewerkschaftspolitik des ADGB unzufrieden waren, verhindert werden konnte.68 Die Kommunisten hätten in den Verbänden gegen alle Austrittsbestrebungen energisch angekämpft. Wenn es 1921, wie im Deutschen Landarbeiterverband, dennoch zu Mitgliederverlusten von fast 50 Prozent gekommen sei, dann sei das ausschließlich ein Ergebnis der Politik der Verbandsleitung gewesen.09 Der kommunistische Gewerkschaftsfunktionär Paul Böttcher warf noch den Hinweis in die Debatte, daß auch die SPD in einigen Gewerkschaften Fraktionen bildete, um ihre Interessen durchzusetzen.70 In der KPD hatte sich wie in der gesamten kommunistischen Bewegung nach komplizierten Auseinandersetzungen die Position herausgebildet, in den reformistisch geführten Verbänden zu arbeiten und nicht „eigene", kommunistische Gewerkschaften zu schaffen. Damit hat sie die weitere Aufspaltung der Gewerkschaftsbewegung verhindert. Die Partei hat nach Möglichkeiten gesucht, in den Gewerkschaften ihre legitimen Interessen als revolutionäre Massenpartei geltend zu machen und die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, um so eine linke Alternativposition zur Arbeitsgemeinschaftspolitik rechter Gewerkschaftsführer durchsetzen zu können. Die Fraktionsbildung wurde also in den 20er Jahren als Methode genutzt, innerhalb der Gewerkschaften die Auseinandersetzung über verschiedene Auffassungen zur Gewerkschaftsstrategie zu führen. Führende kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre wie Walcher hatten bereits 1921 darauf hingewiesen, daß es nicht darum ging, die KPD-Mitglieder abzukapseln, sondern daß es darauf ankam, die kommunistischen Gewerkschafter als Kern einer weit umfassenderen Gewerkschaftsopposition zu verstehen. Die Fraktionsbildung war eine zeitbedingte Methode, von der sich die Kommunisten in dem Maße gelöst haben, wie in der Arbeiterbewegung die Vorstellungen zur Überwindung der Rich-
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Vgl. Eisner, Freya, Das Verhältnis der KPD zu den Gewerkschaften in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. o. J., S. 97 ff. Vgl. Heckert, Referat. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda.
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tungsgewerkschaften 71 reiften und die Schaffung von Einheitsgewerkschaften Gestalt annahm, in denen Vertreter verschiedener Strömungen der Arbeiterbewegung Wirkungsmöglichkeiten hatten. Nach dem Referat von Heckert auf der Zentralausschußtagung sprach als erster Diskussionsredner Hauth, der als Vertreter derjenigen auftrat, die aus der Gewerkschaftsabteilung ausgeschlossen worden waren. Seinen Hauptangriff richtete er gegen die RGI. Er gab ihr die Hauptschuld an der Gefahr der Gewerkschaftsspaltung in Italien, Norwegen und Frankreich, womit er der historischen Wahrheit nicht gerecht wurde. Er warf der RGI vor, in ihrem Publikationsorgan („Die Rote GewerkschaftsInternationale") eine Propaganda zu betreiben, die von den Gegnern als Beweis für Spaltungsabsichten ausgenutzt wurde.72 Seiner Meinung nach hätte die RGI auf die revolutionäre Gewerkschaftsopposition einwirken müssen, nicht die organisatorische Frage in den Vordergrund zu stellen. Er meinte damit offenbar die Frage „Moskau oder Amsterdam?", 73 die von den Kommunisten in die Gewerkschaften hineingetragen worden war. Diese Frage in der Auseinandersetzung mit der reformistischen Gewerkschaftsarbeit so stark in den Vordergrund zu stellen, war sicher keine geschickte Taktik der RGI. Die Vertreter der Opposition griffen damit ein Problem auf, das in der KPD bereits während des Jenaer Parteitages und der Gewerkschaftskonferenz im August 1921 eine Rolle gespielt hatte.74 Hauth stand mit seiner Meinung in der Diskussion allein. Nach ihm sprachen noch fünf Genossen, die ihre Übereinstimmung mit dem Referat bekundeten und für die Fortsetzung der Gewerkschaftspolitik der KPD eintraten. Mit Erfolg bat Heckert in seinem Schlußwort zur Diskussion alle Genossen, die gefährlichen Auffassungen von Hauth zurückzuweisen, weil sich dahinter die Absichten von Levi und Reuter verbargen, die KPD zu liquidieren und auf eine eigenständige kommunistische Politik zu verzichten.7"' Die Zentralausschußtagung billigte am 23. Januar 1921 die Resolution zur Gewerkschaftsfrage und beschloß, die in Jena festgelegte Gewerkschaftspolitik, die auf den Orientierungen des III. KI- und des I. RGI-Kongresses beruhte, fortzusetzen. Gegner dieser Politik in der Gewerkschaftsabteilung wie Malzahn und Hauth wurden aus der KPD ausgeschlossen. In der Resolution zur Gewerkschaftsfrage wurde die Linie bekräftigt, die die KPD in den zurückliegenden Monaten verfolgt hatte: „Aus der Erkenntnis, daß 71
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Die Gewerkschaftsbewegung war in Deutschland wie in anderen Ländern in Gewerkschaften verschiedener politischer Richtungen zersplittert. Es gab neben den großen, reformistisch geführten, traditionell mit der Sozialdemokratie verbundenen Gewerkschaften oder anarchosyndikalistischen Organisationen christliche, liberale und bürgerliche Verbände. Diese Zersplitterung in Richtungsgewerkschaften existierte bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und blieb für die Zwischenkriegszeit bestimmend. Vgl. Heckert, Referat. Moskau und Amsterdam waren die Tagungsorte des I. Kongresses der RGI (1921) und des IGB (1919). Der IGB wurde deshalb auch Amsterdamer Internationale genannt. Vgl. Bericht der Verhandlungen des 2. (7.) Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 31. Vgl. Heckert, Referat.
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die Gewerkschaften n u r dann brauchbare Organe im A b w e h r - und Angriffskampf der Arbeiter gegen den Kapitalismus sein können, wenn sie einheitlich und geschlossen sind, wirkten die kommunistischen Fraktionen mit aller K r a f t allen Spaltungs- und Austrittsbewegungen entgegen. Diese Arbeit w a r von einem doppelten Erfolg: Sie erhöhte die Zähl der revolutionären Elemente in den Gewerkschaften, machte sie klarer und zielbewußter, und sie verhinderte andererseits den mit größten Anstrengungen unternommenen Plan der Gewerkschaftsbürokratie, die Kommunisten durch Ausstoßen aus den Verbänden von den Arbeitermassen zu trennen. Daß der Erfolg dieser Arbeit der Kommunisten und RGI noch nicht zu greifbaren Ergebnissen f ü h r t e , liegt begründet in der Jugend dieser Bewegung und in der Wucht, mit der die allgemeine Krise in den wechselndsten Formen auf der Arbeiterklasse lastet." 76 Zur Einschätzung der Meinungsverschiedenheiten sind zwei Faktoren zu beachten : 1. Bei der Formulierung und Ausgestaltung der Einheitsfrontpolitik im Herbst 1921 traten „rechte" Auffassungen hervor. Vertreter solcher Auffassungen verstanden unter konsequenter Einheitsfrontpolitik die kritiklose U n t e r w e r f u n g der Kommunisten unter rechte F ü h r e r der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, den Verzicht auf jede Eigenständigkeit. Das fand seinen Ausdruck in den Forderungen von Reuter und seinen Anhängern. Da bei der Realisierung der Einheitsfrontpolitik die Gewerkschaften einen zentralen Platz einnahmen, ist es nicht verwunderlich, w e n n die opportunistischen Angriffe auf die k o m m u nistische Partei auch im gewerkschaftlichen Bereich eine Entsprechung fanden. Das äußerte sich darin, den Verzicht auf den Kampf gegen die Arbeitsgemeinschaftspolitik, den Verzicht auf eine systematische Fraktionsarbeit der K o m m u nisten in d e n Gewerkschaften und die Auflösung der RGI zu fordern. 2. Die Differenzen über die kommunistische Gewerkschaftspolitik wiesen auf komplizierte und auf ungelöste Fragen hin. Die Wirkung der RGI m u ß t e auf Grund ihrer sehr heterogenen Zusammensetzung und ihrer ungewöhnlichen S t r u k t u r von Land zu Land verschieden sein. Es ist ein Unterschied, ob K o m munisten in einer revolutionär-syndikalistischen Organisation wirkten, die als Ganzes Mitglied der RGI war, oder ob Kommunisten — wie in Deutschland — in einer Gewerkschaft wirkten, die Millionenmassen hinter sich hatte und die dem IGB angehörte. Eine schwierige Frage in der Gewerkschaftsarbeit war und blieb auch 1922 die des Verhältnisses zu den Arbeiterunionen, die Mitglied der RGI waren. Es gab also in der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit ungelöste Fragen und Unzulänglichkeiten, an die in den Auseinandersetzungen im Herbst 1921 a n g e k n ü p f t werden konnte. Es ist bedauerlich, daß es Reuter gelungen war, so e r f a h r e n e Gewerkschaftsfunktionäre wie Malzahn, der wertvolle Ideen in die kommunistische Gewerkschaftsarbeit eingebracht hatte, f ü r seine parteifeindlichen Ziele auszunutzen. Heckert h a t t e auf der Zentralausschußtagung vorgeschlagen, zum 30./31. J a n u a r 1922 eine Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre einzu-
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Resolution zur Gewerkschaftsfrage,
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berufen, um einige praktische Fragen zu klären. 77 Diese Reichskonferenz fand zum vorgeschlagenen Zeitpunkt in Berlin statt.78 Auf der Tagesordnung standen vier Referate: 1. Die wirtschaftliche Lage und die Arbeit in den Gewerkschaften (Heckert); 2. die Taktik in den Abwehrkämpfen gegen die Angriffe des Unternehmertums (August Enderle); 3. die Aufgaben der RGI (Enderle); 4. die Arbeit in den Industriegruppen und Bezirken (Enderle).79 Soweit das aus den Presseberichten zu ersehen ist, wurde die Reichskonferenz genutzt, um nach den Auseinandersetzungen zu Fragen der weiteren Gewerkschaftspolitik den Standpunkt der Zentrale darzulegen. In einem zweistündigen Referat gab Heckert eine ausführliche Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung in der Welt. Heckert forderte die Kommunisten auf, in den Gewerkschaften für eine kämpferische Taktik einzutreten, die geeignet ist, der Verschlechterung der Lebenslage der Werktätigen entgegenzuwirken. Besonders in Vorbereitung der bevorstehenden Verbandstage und des ADGB-Kongresses im Sommer 1922 seien die kommunistischen Aktivitäten in den Gewerkschaften zu steigern. Enderle erläuterte ausführlich verschiedene neue Formen der Unternehmeroffensive. Er machte insbesondere auf verschiedene Gesetzentwürfe aufmerksam, die tendenziell alle darauf gerichtet seien, nun auch mit Hilfe des Staates die Lage der Arbeiter weiter zu verschlechtern. Die Aufgalbe der Kommunisten bestehe darin, ihre Klassengenossen über alle diese Vorgänge aufzuklären und alle Bestrebungen der Gewerkschaftsführer, vor den Unternehmern zurückzuweichen, zu entlarven. Vor allem durch zielsicheres Handeln und praktische Vorschläge müßten die Kommunisten überall versuchen, den Widerstand der Arbeiterklasse zu organisieren. Als besonders wichtig hob Enderle hervor, in den Betrieben für die Einheitsfront zu wirken, die als einzige eine Gewähr biete, die verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten. Ernst Melcher argumentierte gegen die zwar im Land nur vereinzelt, aber in der Gewerkschaftsabteilung massiv formulierten Forderungen nach Liquidierung der RGI. In der Diskussion haben sich bis auf eine Ausnahme alle Redner für die RGI ausgesprochen. Einmütig stellten sich die Konferenzteilnehmer auf den Boden der Gewerkschaftsresolution der Zentralausschußtagung vom 22./23. Januar und bekräftigten damit zugleich die Absicht, an der vom Jenaer Parteitag beschlossenen Gewerkschaftspolitik festzuhalten. 80 Die KI leistete in den Monaten nach ihrem III. Kongreß einen wichtigen Beitrag zur Präzisierung der Vorstellungen zur Einheitsfront in den kommunistischen Parteien. Im Dezember 1921 nahm das EKKI die „Leitsätze über die Einheitsfront der Arbeiter und über das Verhältnis zu den Arbeiter, die der II., der II1/2. und der Amsterdamer Internationale angehören, sowie zu den Arbeitern in den 77 7S
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Vgl. Heckert, Referat. Von dieser Reichskonferenz existiert leider kein Protokoll. Berichte über die Gewerkschaftskonferenz vgl. Der KG, 4. 2.1922, S. 47 f.; Die Rote Fahne, Morgenausgabe, 2. 2.1922. Vgl. Der KG, 4. 2.1922, S. 47. Vgl. ebenda und Die Rote Fahne, Morgenausgabe, 2. 2.1922.
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anarchosyndikalistischen Organisationen" an.81 Das EKKI knüpfte damit an Überlegungen auf dem III. Kongreß der KI und an die Erfahrungen kommunistischer Parteien in den folgenden Monaten an. Die Leitsätze konstatierten einen elementaren Drang nach einheitlichen Aktionen gegen die systematische Offensive des Kapitals. Als wichtigste Bedingung wurde die unbedingte Selbständigkeit der kommunistischen Parteien vor, nach und auch während der Aktionen bei der Darlegung ihrer Auffassungen bezeichnet. In den Punkten 9 bis 16 der Leitsätze wurden für einzelne Länder wichtige Aufgaben bei der Realisierung der Einheitsfront formuliert. Hier wurde wiederholt darauf verwiesen, daß die Einheit der Gewerkschaftsbewegung in zunehmendem Maße durch eine reformistische Politik gefährdet werde. Einheitsfront bedeute nicht Unterordnung unter die Politik der Klassenzusammenarbeit, sondern Aktionseinheit für unmittelbare Ziele der Arbeiterklasse. Deshalb bedürfe die Realisierung der Einheitsfrontpolitik starker, geschlossener und ideologisch klarer kommunistischer Parteien.82 Nach Beratungen der Exekutive der KI und der RGI im Dezember 1921 wurde am 1. Januar 1922 ein Aufruf „Für die Einheitsfront des Proletariats"83 verabschiedet, in dem die Zusammenfassung aller Kräfte des internationalen Proletariats, die Schaffung einer einheitlichen Front aller Arbeiterparteien für die dringenden Bedürfnisse des Proletariats gefordert wurde. Ausgehend von der Tatsache, daß in keinem Land die Maasen zum Kampf um die Macht bereit seien, hieß es dort: „So sammelt euch wenigstens zum Kampf um das nackte Leben, zum Kampf um ein Stück Brot, zum Kampf um den Frieden. Sammelt euch zu diesem Kampf in einer Streikfront, sammelt euch als proletarische Klasse gegen die Klasse der Ausbeuter und Verwüster der Welt. Reißt die Schranken nieder, die zwischen euch aufgerichtet worden sind, stellt euch in die Reihe, ob Kommunist, ob Sozialdemokrat, ob Anarchist, ob Syndikalist, zum Kampf gegen die Not der Stunde."84 Der Zusammenschluß der Arbeiterparteien zur Abwehr der Kapitaloffensive sollte in "der Werkstatt, im Versammlungssaal, im Betrieb vorbereitet werden, weil die sozialdemokratischen Führer nur so genötigt sein würden, die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien zu brechen.85 Daraus ist ersichtlich, welches Gewicht KI und RGI dem Wirken der Kommunisten in den Betrieben, in den Gewerkschaften beimaßen. Leitsätze und Aufruf zur Einheitsfront von KI und RGI, die im Januar 1922 durch die kommunistische Presse gingen, waren für die KPD eine wichtige Unterstützung und trugen zur raschen Klärung auch der Auseinandersetzungen zur Gewerkschaftspolitik bei. Die Kräfte in der Partei, die die Einheitsfront als Konsequenz der systematischen Massenpolitik der Partei verstanden und als einzige Möglichkeit des Reagierens auf die umfassende Kapitaloffensive, wurden gestärkt. Opportunistische Auffassungen zur Einheitsfrontpolitik, die .auf eine 81
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Veröffentlicht in: Die Kommunistische Internationale (Die KI), 1922, S. 57-66. Über die Entstehung der Leitsätze vgl. Reisberg, S. 331—340. Vgl. Die KI, 1922, S. 63 ff. Veröffentlicht in: Die Rote Gewerkschafts-Internationale (Die RG-I) 15.1.1922, S. 71 bis 74. Ebenda, S. 73. Vgl. ebenda, S. 74.
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Liquidierung der kommunistischen Partei und der KI hinausliefen, wurden zurückgedrängt ebenso wie die ultralinker K r ä f t e , die die Einheitsfrontpolitik f ü r opportunistisch hielten.
Grundzüge und Ergebnisse der Gewerkschaftspolitik der KPD 1921/22 Man k a n n einschätzen, daß die Auseinandersetzungen zur Gewerkschaftspolitik Ende 1921 im wesentlichen auf die Gewerkschaftsabteilung und die Zentrale der K P D beschränkt blieben. Die Gewerkschaftsarbeit im Reich n a h m nach dem Jenaer Parteitag bis Ende 1922 einen kontinuierlichen Verlauf. Die Hauptthese rechtssozialdemokratischer Historiker der BRD zur Gewerkschaftsarbeit der K P D lautet, daß die Partei immer n u r ein formales Verhältnis zu den Gewerkschaften entwickelt und diese lediglich als Instrument betrachtet habe, um parteiegoistische Interessen durchzusetzen. Freya Eisner z. B. identifizierte sich mit der Meinung, daß die Kommunisten alle Gewerkschaftsfragen ausschließlich unter parteipolitischen Gesichtspunkten abhandelten und die Gewerkschaftsarbeit sabotierten. 80 H e r m a n n Weber bemühte in einem Artikel über historische Aspekte kommunistischer Gewerkschaftspolitik das Leninsche Bild von den Gewerkschaften als „Transmissionsriemen" der Partei zu den Massen. 87 In einer jüngeren Arbeit behauptete er, das Verhältnis der K P D zu den Gewerkschaften sei von „Monopol- und Absolutheitsanspruch" geprägt gewesen: sie habe vor allem versucht, Mitglieder und Funktionäre dieser Arbeiterorganisation f ü r ihre kommunistischen Ziele zu gewinnen. 8 8 Diese Hauptthese korrespondiert mit den Vorwürfen, das Wirken der K o m m u nisten sei gewerkschaftsschädigend gewesen. Hinter diesen Versuchen steckt das Bestreben, den gegenwärtigen gewerkschaftlichen Kampf der Kommunisten in der BRD aus der Geschichte heraus zu diskreditieren. In der BRD haben in den letzten J a h r e n rechte K r ä f t e wiederholt Anstrengungen unternommen, aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), in dem sozialdemokratische, christliche und kommunistische Gewerkschafter organisiert sind, die Kommunisten herauszulösen. Das ist zuletzt in d e r Diskussion u m die Präambel des neuen DGBGrundsatzprogramms (1981) deutlich geworden, in der historische Traditionslinien der BRD-Einheitsgewerkschaft dargestellt w e r d e n : die sozialdemokratische und die christliche Richtung f a n d e n Erwähnung, die kommunistische dagegen nicht. Das hat wissenschaftlichen und politischen Meinungsstreit ausgelöst. Die BRD-Historiker F r a n k Deppe und Witich Roßmann verwiesen in einem Sammelbandartikel von 1984 darauf, d a ß diejenigen, wie z. B. H e r m a n n Weber, die den Beitrag der Kommunisten zur heutigen Einheitsgewerkschaft leugnen, dies mit B e r u f u n g auf eine angeblich zerstörerische Gewerkschafts-
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Vgl. Eisner, S. 60. Vgl. Weber, Hermann, Kommunisten und Gewerkschaften in Deutschland — zu einigen historischen Aspekten kommunistischer Gewerkschaftspolitik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Köln, 1978, 8, S. 509. Vgl. ders., Kommunismus in Deutschland 1918—1945, Darmstadt 1983, S. 87 (Erträge der Forschung, Bd. 198).
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Politik der Kommunisten in der 'Weimarer Republik tun. 89 Selbstverständlich h a t t e n die Kommunisten in den 20er J a h r e n das Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse, insbesondere die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter f ü r i h r e Ideen zu gewinnen. Dieses Ziel haben sie stets mit großer Offenheit dargelegt. 90 Das war aber n u r zu erreichen — und diese Erkenntnis h a t t e sich in der kommunistischen Bewegung 1920/21 immer stärker durchgesetzt —, wenn die Kommunisten sich, ausgehend von der Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen, f ü r die ökonomischen und politischen Tagesinteressen der Werktätigen engagierten. Dieses Engagement soll an einigen Grundzügen k o m munistischer Gewerkschaftsarbeit demonstriert wer'den, u m zu zeigen, d a ß die obige rechtssozialdemokratische Hauptthese nicht haltbar ist. 91 1. Deutlich w a r das Bemühen, in den Gewerkschaften durch das aktive Handeln der Kommunisten die Überzeugung auszuprägen, daß der weiteren Verschlechterung der Lebenslage n u r durch einheitliches Handeln der Werktätigen Einhalt geboten w e r d e n kann. Bereits in der Zeit zwischen III. KI-Kongreß und Jenaer Parteitag w u r d e die Notwendigkeit der Aktionseinheit stärker hervorgehoben. Diese Erkenntnisprozesse w u r d e n von der Redaktion des Kommunistischen Gewerkschafters („KG") bewußt gefördert. Wiederholt w u r d e auf einen elementaren Drang in der Arbeiterklasse nach einheitlichen Aktionen gegen die sich verstärkende Unternehmeroffensive hingewiesen. Beständig griff die Zeitung die täglichen Nöte auf und forderte geschlossene, kraftvolle proletarische Abwehraktionen. 9 2 Seit Juli/August 1921 standen neue Steuervorlagen der Regierung Wirth, Preissteigerungen (insbesondere die Brotpreiserhöhung), Reallohnabbau, die Arbeitslosenfrage und die Bedrohung des Achtstundentages im Mittelpunkt des Interesses. Der „KG" informierte ausführlich über Lohnkämpfe. „Der Kampf u m das Brot hat begonnen", 9 3 heißt es in einer A u g u s t n u m m e r der Zeitung, und dieser Kampf „kann n u r erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Arbeiter zu einer geschlossenen, kraftvollen proletarischen Abwehraktion zusammenzufassen". 9 '' Im September/Oktober 1921 w a r e n m e h r e r e Artikel drei Gesetzentwürfen der Regierung Wirth zur Arbeitszeit, zum Streikrecht und zu gewerkschaftlichen
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Vgl. Deppe, Frank/Roßmann, Witich, Kommunistische Gewerkschaftspolitik in der Weimarer Republik, in: Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Erich Matthias und Klaus Schönhoven, Bonn 1984, S. 709 f£. Winkler brachte seine Verwunderung über die Offenheit zum Ausdruck, mit der die Kommunisten ihr Programm dargelegt haben. Vgl. Winkler, Heinrich August, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin [West]/Bonn 1984, S. 507. Vgl. Geschichte des FDGB, S. 96-111. Vgl. Der KG, 6. 8.1921, S. 255 und 253 f.; 13. 8.1921, S. 261 f. und 277 f. Ebenda, 6. 8.1921, S. 255. Uber Preissteigerungen vgl. ebenda, S. 253 f.; über Lohnbewegungen vgl. 20. 8.1921, S. 269 f. Ebenda, 6. 8.1921, S. 255.
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Rechten gewidmet.95 Die Entwürfe sahen eine gesetzliche Handhabe für die Einführung eines Arbeitstages von zehn und mehr Stunden, für einen Arbeitszwang und Streikverbot in sogenannten gemeinnützigen Betrieben sowie für die Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte vor. Mit der Publizierung der wichtigsten Bestimmungen der Entwürfe wollte der „KG" der Arbeiterschaft Gelegenheit geben, sofort in allen Betrieben und Gewerkschaftsversammlungen zu der bestehenden ungeheuren Gefahr Stellung zu nehmen.96 Die Entwürfe wurden als Bestandteil des „Kriegsplans" der Bourgeoisie und der Stinnesierung bezeichnet.97 Nur die Geschlossenheit der Arbeiterklasse könne diese Gesetze verhindern, die die weitere Abwälzung aller Lasten des verlorenen Krieges und der Reparationen auf die Schultern der Arbeiterklasse bedeuteten. In den folgenden Monaten wurde häufig über Angriffe auf den Achtstundentag berichtet, wie z. B. im November 1921 in den Leunawerken, bei Mannesmann, in der AugustThyssen-Hütte usw.98 Im ersten Halbjahr 1922 setzte sich der „KG" wiederholt mit der Haltung von führenden Vertretern des ADGB und der SPD auseinander, die offensichtlich bereit waren, den Achtstundentag für die Koalition mit der Bourgeoisie zu opfern. Es ist zu beachten, daß der obenerwähnte Gesetzentwurf zur Arbeitszeit von einer Regierung stammte, der auch Vertreter des ADGB angehörten. Der „KG" dokumentierte die widersprüchliche Haltung des ADGB und der SPD zu diesem Problem. So verwies die Zeitung z. B. auf einen Appell des ADGB und des Allgemeinen Angestelltenverbandes (AfA-Bund) zur Maifeier 1922, in dem zur Verteidigung des Achtstundentages aufgerufen wurde. Zugleich unternahmen „verantwortungsvolle" Sachverständige wie Kaliski und Adolf Cohen den Versuch, die Beseitigung dieser wichtigen Errungenschaft der Werktätigen zu begründen. 99 Einen wichtigen Platz nahmen in der Berichterstattung des „KG" die Lohnbewegungen in Deutschland 1922 ein, besonders die beiden großen Streiks der Eisenbahner (1. bis 7. Februar 1922) und der Metallarbeiter (Ende Februar bis Ende Mai 1922) für Lohnerhöhungen und Sicherung des Achtstundentages.100 Die KPD war die einzige Partei, die die Eisenbahner in diesem ersten bedeutenden Beamtenstreik in Deutschland unterstützte. Die RGI wandte sich mit einem Aufruf an die deutschen Eisenbahner, in gemeinsamer Front mit den übrigen Werktätigen für eine Arbeiterregierung zu kämpfen, die gewillt und imstande ist, die Lasten der Reparationen von den Schultern des Proletariats zu nehmen.101 Auch in einer Reihe weiterer Streiks waren die Kommunisten mobilisierend aufgetreten, was eine große Bedeutung für die Stärkung ihrer Position in den
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Es handelt sich um folgende Entwürfe: „Gesetzentwurf über die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter", „Gesetzentwurf über die Arbeitskämpfe und Verrufserklärungen", „Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufs vereine". Der KG, 17. 9.1921, S. 103. Weitere Kommentare vgl. Beilage des KG zum 24.9.1921, S. 1—4 una oiä i. Vgl. Der KG, 22.10.1921, S. 353 f. Vgl. ebenda, 12.11.1921, S. 282 f. Vgl. ebenda, 1. 4.1922, S. 121 f. Vgl. ebenda, 7.1.1922, S. 1-3; 18. 2.1922, S. 54 f. und 57; 11. 3.1922, S. 89 f.; 3. 6.1922, S. 209-211. Zu den Streiks vgl. GdA, Chronik, Teil 2, S. 124-126. Vgl. Aufruf der RGI an die deutschen Eisenbahner, in: Der KG, 18.2.1922, S. 57.
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Betrieben und Gewerkschaften hatte. Hier war bereits die Wirkung der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre vom August 1921 spürbar, auf der Walcher und andere gefordert hatten, eine geschickte, den jeweiligen Umständen angepaßte Taktik in den Streikkämpfen anzuwenden. Heckert hatte sich auf der Zentralratstagung vom Januar 1922 für ein differenziertes Herangehen an die sogenannten wilden Streiks ausgesprochen: „Es kann sein, daß wir uns ihnen entgegenstellen müssen, wenn wir erkennen, daß der Keim des Todes beim Ausbruch der Bewegung schon gegeben ist, und es kann sein, daß wir uns mit unserer moralischen und organisatorischen Kraft hinter eine solche Bewegung stellen müssen." 102 Es wurden also keine allgemeinen Rezepte für Streikkämpfe aufgestellt, sondern die Verantwortung für die einzuschlagende Taktik lag bei den Gewerkschaftsfunktionären in den betreffenden Betrieben oder Industriegruppen. Insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahres 1922 verstärkten die Kommunisten ihre Bemühungen um einheitliche Aktionen der Arbeiterklasse. Das hing mit der deutlichen Verschlechterung der Lebenslage der Werktätigen, mit der beschleunigten Entwicklung der Inflation, einer hohen Teuerungsrate und sinkenden Reallöhnen zusammen. Zunehmend entwickelte sich mit der Bewegung der Kontrollausschüsse und Betriebsräte eine wichtige organisatorische Form der Einheitsfront. Der „KG" berichtete im September 1922 über das Treffen von 188 Betriebsräten aus ganz Deutschland am 17. September in Berlin. 103 Damit begann die zielgerichtete Vorbereitung eines Reichsbetriebsrätekongresses. Der ADGB wurde — wie sich bald zeigte vergeblich — aufgefordert, die Bewegung und den Plan für einen solchen landesweiten Kongreß zu unterstützen. Im Herbst hielt der „KG" seine Leser über die Betriebsrätebewegung, die den energischen Kampf gegen die Unternehmeroffensive, gegen Inflation und Verelendung zum Ziel hatte, auf dem laufenden. 104 2. Deutlich profilierte die KPD 1921/22 ihre Vorstellungen zum Inhalt der Gewerkschaftsarbeit der Kommunisten. Hier lassen sich mehrere Schwerpunkte erkennen. Die KPD ging davon aus, daß der ADGB die größte und mächtigste Massenorganisation in Deutschland war. Im Oktober 1921 informierte die Zeitung ausführlich über die Entwicklung der Mitgliederstärke des ADGB 1920 und konstatierte gegenüber 1919 einen Anstieg der Mitgliederzahlen. 103 Ausgehend davon formulierte der „KG" die Frage, „wozu dieser gewaltige Machtapparat heute benutzt wird. Es ist die Frage, um deren Klärung wir Kommunisten in den Gewerkschaften wirken." 100 In derselben Nummer des „KG" wurde die Aussage des Sekretärs des IGB, Ede Fimmen, zitiert, daß die Gewerkschaften heute 102
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Heckert, Fritz, Schlußwort zur Diskussion der Gewerkschaftsfrage auf der Zentralausschußtagung der KPD am 22./23.1. 1922, IML/ZPA, I 2/1/12. Vgl. Der KG, 23. 9.1922, S. 319 f. Vgl. ebenda, 4.11.1922, S. 3531; 7.10.1922, S. 332 f. Der Reichskongreß der revolutionären Betriebsräte fand in Berlin vom 23. bis 25.11.1922 statt. Vgl. GdA, Chronik, Teil 2, S. 136. Der KG, 29.10.1921, S. 326. In der GdA, Chronik, Teil 2, S. 103, wird die MitgliederStärke des ADGB für 1920 mit 8 632 057 angegeben. Der KG, 29.10.1921, S. 326. J a h r b u c h 38
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mächtig genug seien, um Kriege zu verhindern. Wenn das stimmt, so fragte die Zeitung, warum können sie dann nicht verhindern, daß der Arbeiterklasse eine Errungenschaft nach der anderen genommen wird?107 Dieser offensichtliche Widerspruch müsse den Mitgliedern des ADGB bewußt gemacht werden. Hier lag ein wichtiger Orientierungspunkt für das Wirken der Kommunisten in den Gewerkschaften: den Widerspruch zwischen Stärke und Einsatz dieser Kraft für die Interessen der Werktätigen, den Widerspruch zwischen offiziellen Verlautbarungen und tatsächlicher Mobilisierung zu zeigen. Am 15. November 1921 hatten die Vorstände des ADGB und des AfA-Bundes zehn Forderungen an die Reichsregierung und den Reichstag gerichtet. Die wichtigsten waren die nach Beteiligung des Reiches an den Sachwerten, nach Sozialisierung des Kohlebergbaus, gegen die Steuerhinterziehung der Unternehmer und nach Kontrolle über die Monopole.108 Die KPD erklärte sofort ihre Bereitschaft, für dieses Programm zu kämpfen. Bereits am 19. November 1921 gab der „KG" die zehn Forderungen bekannt und verlangte, „keine Gewerkschaftsversammlung, keine Betriebsversammlung darf von Stunde an vorübergehen, wo nicht die Mittel und Wege zur Durchführung der Gewerkschaftsforderungen besprochen werden".109 Die Berichterstattung des „KG" war in den folgenden Monaten darauf gerichtet, dazu beizutragen, die Massen in den Gewerkschaften zu mobilisieren, um so die Gewerkschaften zum Kampf für ihre Forderungen zu zwingen. Im Dezember 1921 dokumentierte die Zeitung die landesweite Zustimmung zu den zehn Forderungen in der Gewerkschaftspresse (z. B. die „Metallarbeiter-Zeitung", „Deutscher Eisenbahner", „Der Textilarbeiter" u. a.)110. Demgegenüber stellte sich bald heraus, daß der ADGB eine Massenmobilisierung für die Durchsetzung seiner Forderungen vermied. Drei Wochen nach Verabschiedung des Dokuments verwies der „KG" darauf, daß die Gewerkschaften es ablehnen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Stimmen in den Gewerkschaften, die forderten, einen Reichsbetriebsrätekongreß einzuberufen, wurden von den Kommunisten unterstützt. Einen solchen Kongreß mit Vertretern aller Arbeiterparteien und Gewerkschaften hielt die KPD für ein geeignetes Mittel, den zehn Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die kommunistischen Gewerkschafter wurden darauf orientiert, bei allen sich bietenden Gelegenheiten für das Zustandekommen eines Betriebsrätekongresses einzutreten.111 Alle Aktivitäten scheiterten jedoch an der ablehnenden Haltung der Führer von SPD und Gewerkschaften. Einen Betriebsrätekongreß zwecks Mobilisierung für die zehn Forderungen der Gewerkschaften gegen deren Willen zu organisieren, war zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgversprechend. Deshalb wurde dieses Ziel von den Kommunisten nicht weiter verfolgt.
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Vgl. ebenda, S. 368. Vgl. Zehn Forderungen der Vorstände des ADGB und des AfA-Bundes vom 15. November 1921 an die Reichsregierung und den Reichstag zur Neuordnung der Steuerpolitik, in: Dokumente und Materialien, Bd. 7,1. Halbbd., S. 613 f. Der KG, 19.11.1921, S. 393. Vgl. ebenda, 3.12.1921, S. 415 f. Vgl. ebenda, 10.12.1921, S. 425 f.; 17.12.1921, S. 437 f.
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Nach Einberufung des 11. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands zum 19. bis 24. Juni 1922 begann im März des Jahres in der kommunistischen Gewerkschaftszeitung eine intensive Vorbereitung auf den Kongreß. 112 Das Ziel bestand darin, eine breite Opposition aus kommunistischen, sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern zu formieren. Folgende Probleme wurden im „KG" in den Vordergrund gerückt: Kampf gegen die Fortsetzung der Arbeitsgemeinschaftspolitik und für eine klassenkämpferische Politik zur Zurückdrängung der Angriffe der Unternehmer auf die Lebenslage der Werktätigen (für Sicherung des Achtstundentages, für Lohnerhöhungen entsprechend der Geldentwertung) sowie für die Umstrukturierung der Gewerkschaften nach Industrieverbänden. 113 Die Gewerkschaftsabteilung der KPD rief Ende April 1922 dazu auf, solche Delegierte zu wählen, die auf dem Kongreß den Gedanken des Klassenkampfes vertreten würden. 114 Auf dem Leipziger ADGB-Kongreß im Juni 1922 waren von 692 Delegierten 90 Kommunisten. 115 Das Verhältnis zwischen kommunistischen und anderen Gewerkschaftsdelegierten entsprach nach Auffassung des „KG" nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Das hing mit den sehr unterschiedlichen Verfahren zur Wahl der Kongreßdelegierten zusammen. 110 Die Ergebnisse des 11. Kongresses wurden aber im wesentlichen positiv eingeschätzt. 117 Die Arbeitsgemeinschaftspolitik und die Organisationsfrage waren auf dem Kongreß sehr umstrittene Probleme. Starke Kräfte sprachen sich für das Organisationsprinzip „ein Betrieb — eine Gewerkschaft" aus, um so die Aufsplitterung in verschiedene Berufsverbände in einem Betrieb zu beseitigen. Außerdem sollten dadurch die Frauen und die stark gewachsene Zahl der ungelernten Arbeiter erfaßt werden. Mit Stimmenmehrheit beschloß der Kongreß die Neuorganisation der Gewerkschaften nach Industrieverbänden. 118 Wenn es auch in den folgenden Jahren in einigen Industriezweigen zur Bildung von Industrieverbänden kam, so verschleppte der Vorstand des ADGB den organisatorischen Umbau. Ebenfalls starke oppositionelle Kräfte traten für die Beendigung der Arbeitsgemeinschaftspolitik auf und setzten mit knapper Mehrheit einen Beschluß über den Austritt aus der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) durch. 119 Aber auch dieser Beschluß wurde vom Vorstand des ADGB bis 1924 verzögert. 120 Zudem zeigte sich, daß der Austritt aus der ZAG noch nicht den Bruch mit der arbeitsgemeinschaftlichen Praxis bedeutete. Die Arbeitsgemeinschaftspolitik wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt. Wenn man diese Ergebnisse mit den Beschlüssen des 10. Gewerkschaftskongresses 1919 vergleicht — damals wurde z. B. mehrheitlich der Unterzeichnung des Abkommens über die ZAG vom 15. November 1918 zugestimmt—, fällt auf, daß sich innerhalb des ADGB eine bemerkenswerte
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Vgl. ebenda, 4. 3.1922, S. 77 f.; 18. 3.1922, S. 96 f.; 25. 3.1922, S. 109 f. Vgl. ebenda, 29. 4.1922, S. 161; 17. 6.1922, S. 228 f. und 230-232; 18. 3.1922, S. 96 f. Vgl. ebenda, 29. 4.1922, S. 161. GdA, Chronik, Teil 2, S. 129. Vgl. Der KG, 17. 6.1922, S. 218; 1. 7.1922, S. 249; 29. 7.1922, S. 272. Vgl. ebenda, 1. 7.1922, S. 249-252. Vgl. ebenda, S. 252. Ebenda, S. 251. Vgl. Geschichte des FDGB, S. 109 f.
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Opposition gegen die Politik des Vorstandes gebildet hatte. Sie u m f a ß t e einen weitaus größeren Kreis als n u r die kommunistischen Gewerkschaftsmitglieder. Die Kommunisten als K e r n einer umfassenden Opposition — das w a r ein wichtiges Ergebnis des Wirkens der Kommunisten in den Gewerkschaften, und das w a r zugleich eine günstige Konstellation, u m in den folgenden Monaten weiter im Sinne einer Mobilisierung d e r Gewerkschaften z u wirken. 3. Sehr entschieden b e k ä m p f t e die K P D gewerkschaftsfeindliche Stimmungen in der Arbeiterbewegung. Als der ADGB im Herbst 1921 Beitragserhöhungen ankündigte, kam es u n t e r den kommunistischen und anderen linken Gewerkschaftsmitgliedern zu Diskussionen über dieses Vorhaben. Walcher befaßte sich in einem Zeitungsartikel im November 1921 ausführlich mit dieser Debatte. Die Gegner d e r Beitragserhöhung begründeten ihre Haltung mit drei A r g u m e n t e n : 1. Der Kassenbestand einer Gewerkschaft sei kein ausschlaggebender Faktor f ü r die F ü h r u n g sowie f ü r den Erfolg von gewerkschaftlichen K ä m p f e n ; eine Beitragserhöhung würde eine kämpferische Gewerkschaftspolitik nicht fördern. J. Walcher .dagegen verwies darauf, daß auch eine Ablehnung der Beitragserhöhung keinesfalls revolutionierend auf die Gewerkschaftspolitik wirken w ü r d e und daß dieses Argument schon deshalb nicht überzeugend sei. 2. Es w u r d e bemängelt, daß die Gewerkschaften sehr viel Geld f ü r Unterstützungszwecke, also gar nicht f ü r Streik- u. a. K ä m p f e ausgaben. Walcher meinte, das sei zwar ein Mangel, der jedoch auf keinen Fall durch die Verweigerung höherer Beiträge behoben werden könne. Vielmehr sei es nötig, das Reich, die Gemeinden usw. zu zwingen, z. B. f ü r Arbeitslose zu sorgen. Nur so würden gewerkschaftliche Gelder f ü r andere Zwecke frei. 3. Die antikommunistische Haltung vieler Verbandsleitungen w u r d e als Grund f ü r die Ablehnung von Beitragserhöhungen ins Feld geführt. Für Walcher erhob sich dazu die Frage, w a r u m die Kommunisten d a n n ü b e r h a u p t Beiträge zahlten. I m m e r wieder, betonte er, w a r e n in der Geschichte der Gewerkschaftsentwicklung Beitragserhöhungen nötig und w u r d e n auch realisiert, denn n u r so konnten und können sich die Gewerkschaftsorganisationen gegen die erstarkenden Unternehmerorganisationen behaupten. Walcher sprach sich energisch gegen die Ablehnung der Beitragserhöhung durch Kommunisten aus, weil dadurch antigewerkschaftliche Stimmungen verstärkt würden, was keinesfalls in der Absicht d e r Kommunisten liegen könne. 121 Im Verlauf des J a h r e s 1922 verstärkten sich gewerkschaftsfeindliche S t i m m u n gen. Sie w a r e n Ausdruck einer wachsenden Enttäuschung über die Politik des ADGB, d e r nicht zu verhindern vermochte, daß sich die Lebenslage immer weiter, seit Sommer 1922 sogar in extremer Weise, verschlechterte. Die schneller fortschreitende Inflation, das Absinken des Reallohnniveaus und steigende Arbeitslosigkeit bewirkten Zweifel am Sinn des gewerkschaftlichen Kampfes. Allerdings wirkte sich die Entwicklung erst 1923 auf die Mitgliederzahlen des ADGB aus. Ende 1922 zählte der ADGB 7 821 558 Mitglieder, Ende 1923 5 808 612.122 121 122
Vgl. Walcher, Jacob, Für oder gegen Beitragserhöhung?, in: Der KG, 5.11.1921, S. 370 f. GdA, Chronik, Teil 2, S. 138 und 158.
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Den beginnenden gewerkschaftsfeindlichen Stimmungen, die 1922 zutage t r a ten, wirkte die K P D energisch entgegen. In zahlreichen Artikeln im „KG" w u r d e darauf verwiesen, daß Passivität und Austritt aus den Gewerkschaften die K a m p f k r a f t der Arbeiterklasse schwächt. In der Gewerkschaftsresolution der Zentralausschußtagung vom 14./15. Mai 1922 betonte die Zentrale nachdrücklich, „daß eine Propaganda f ü r den Austritt aus d e n Gewerkschaften mit der Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei unvereinbar ist". 123 Sie verpflichtete die Parteiorganisationen, solche Genossen, die beharrlich gegen die Grundsätze der Gewerkschaftsarbeit verstoßen, aus d e r Partei zu entfernen. Walcher verwies in seinem Referat auf der Konferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktion ä r e am 7./8. Oktober 1922 auf den unterschiedlichen Organisationsgrad der Arbeiter in Berliner Betrieben. In einigen Betrieben seien 95 bis 100 Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert, in anderen n u r 60 Prozent. Er forderte die Kommunisten auf, auch u m das Vertrauen der Unorganisierten zu ringen und f ü r zahlenmäßig starke Gewerkschaften einzutreten. 124 Eine komplizierte Frage w a r f ü r die Kommunisten im behandelten Zeitraum das Verhältnis zur Freien Arbeiter-Union (Gelsenkirchen), zur Allgemeinen Arbeiter-Union und zum H a n d - und Kopfarbeiterverband. 1 2 5 Auf dem I. RGIKongreß w a r e n die Delegierten der Unionen gegen die Kongreßbeschlüsse a u f getreten. Wie die „Rote Gewerkschafts-Internationale" berichtete, lehnten sie die Arbeit in den sogenannten alten Verbänden (d. h. vor allem im ADGB) ab und traten f ü r deren Zerstörung auf. 120 In einem Aufruf des Exekutivbüros des Zentralrats der RGI an die Arbeiter der Unionen w u r d e dargelegt, daß die Unionen in Deutschland n u r unter zwei Bedingungen eine revolutionäre Rolle spielen k ö n n t e n : w e n n sich die verschiedenen Unionen vereinen und mit der revolutionären Gewerkschaftsopposition im ADGB und AfA-Bund zusammenwirken. 127 Auf dem Reichskongreß der FAU (Gelsenkirchen), des Freien LandarbeiterVerbandes und des H a n d - und Kopfarbeiter-Verbandes in Halle (4. bis 9. Sept e m b e r 1921) erfolgte eine Vereinigung dieser Verbände zur „Union der Handund Kopfarbeiter". Der neue Verband zählte nach eigenen Angaben u n g e f ä h r 168 000128 Mitglieder. Von seiten der K P D n a h m e n Walcher und Heckert am Kongreß teil. Die Mehrheit der Kongreßteilnehmer bekannte sich zu den Beschlüssen des RGI-Kongresses, wenn auch f ü h r e n d e Vertreter f ü r die Z e r t r ü m m e r u n g der Gewerkschaften plädierten. Nach einem Vorschlag von Heckert
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Dokumente und Materialien, Bd. 7, 1. Halbbd., S. 67. Vgl. Protokoll der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre am 7./8. Oktober 1922. IML/ZPA, I 2/708/2. Zu den verschiedenen Unionen und deren Geschichte vgl. Bock (Anm. 34). Das Verhältnis der KPD zu den verschiedenen Arbeiterunionen muß von marxistisch-leninistischer Seite noch systematisch aufgearbeitet werden. In der vorliegenden Arbeit konnten lediglich die Beziehungen der KPD zu der im Herbst 1921 entstandenen Union der Hand- und Kopfarbeiter berücksichtigt werden. Vgl. Die RG-I, 30. 8.1921, S. 41-44. Vgl. ebenda, S. 42. Bock, S. 183; GdA, Chronik, Teil 2, S. 117, gibt 131 000 Mitglieder an.
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erfolgte zwischen der KPD und der Union der Hand- und Kopfarbeiter eine Einigung über folgende Hauptpunkte: 1. Anerkennung der Beschlüsse des RGI-Kongresses und eine Umstellung der gesamten Propagandaarbeit der Union, um in Zukunft die kommunistische Gewerkschaftspolitik zur Eroberung der Gewerkschaften nicht zu gefährden; 2. wenn eine einheitliche Gewerkschaftsorganisation (gemeint ist die Einheit von Union und ADGB) nicht möglich ist, so sollen Vertreter der Union und der kommunistischen Gewerkschaftsfraktion in einem gemeinsamen Arbeitsausschuß zusammenwirken; 3. erst wenn alle Versuche scheitern, die Ausgeschlossenen in die Gewerkschaften zurückzuführen, soll der Anschluß an die Union erwogen werden. 123 Diese Vereinbarung trug Kompromißcharakter. Aus Äußerungen von Heckert geht hervor, daß die KPD versucht hatte, die Union dazu zu veranlassen, ihre Mitglieder (Bergarbeiter, Metallarbeiter, Landarbeiter, Angestellte) in den ADGB oder AfA-Bund zurückzuführen, sich also selbst aufzulösen. Solche Vorstellungen sind aber von den Unionisten und auch vom Vollzugsbüro der RGI als nicht realisierbar zurückgewiesen worden. 130 Heckert selbst hat später auf der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschaftsfunktionäre im Oktober 1922 auf die doch beachtlichen Mitgliederzahlen der Union und die starke Erbitterung ihrer Mitglieder über die Politik der Gewerkschaften verwiesen, die eine Auflösung der Union unmöglich mache.131 Unter diesen Umständen war die KPD bestrebt, die negativen Auswirkungen der Union auf die Gewerkschaftsarbeit der Kommunisten abzubauen. Das Zugeständnis der Union, auf die Propagierung der Zerstörung der Gewerkschaften zu verzichten, entsprach diesem Ziel. Die Formulierung unter Punkt 3 über den eventuellen Anschluß der Ausgeschlossenen an die Union war von seiten der KPD ein Zugeständnis, zumindest ließ die Formulierung eine entsprechende Auslegung zu. Nun wird unter Punkt 3 die Möglichkeit des Anschlusses eingeschränkt, aber auf diese Formulierung stützte sich die Union in den folgenden Monaten wiederholt, wenn sie von der KPD eine entsprechende Handhabung in der Praxis verlangte. Die Unionsforderung nach Anschluß der aus den Gewerkschaften Ausgeschlossenen an ihre Organisation wurde zur Quelle eines beständigen Streits zwischen KPD und Union. S. A. Losowski räumte der Union gegenüber in einem Brief vom September 1922 ein, daß die Ausgeschlossenen auch anderer Industriegruppen der Union angeschlossen werden können, „wenn sie sonst der Zersplitterung und Isolierung verfallen". 132 Als 1921 mehrere tausend Chemnitzer Bauarbeiter aus dem Bauarbeiterverband ausgeschlossen worden waren, hat die KPD darauf gedrungen, entsprechend den Richtlinien des Jenaer Parteitages zu verfahren. Die ausgeschlossenen Bauarbeiter betrachteten sich als nach wie vor zugehörig zur Organisation und bemühten sich bei
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Vgl. Der KG, 1.10.1921, S. 319 f. 130 v g l Heckert, Fritz, Der Arbeitsausschuß der Gewerkschaftsopposition, in: RG-I, 25.11.1921, S. 25 f. 131 Vgl. IML/ZPA, I 2/708/2. 133 Die RG-I, 10.1922, S. 691.
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den zuständigen Instanzen um Wiederaufnahme. Erst als sie — wie Heckert im Oktober 1922 berichtete — vom zuständigen Verbandstag im Sommer 1922 „mit F u ß t r i t t e n bedacht" worden waren, stimmte die K P D der G r ü n d u n g des Verbandes ausgeschlossener Bauarbeiter im August 1922 zu.133 Dessen erstes Ziel bestand darin, mit aller K r a f t f ü r die Wiedereingliederung in den Bauarbeiterverband zu kämpfen. 1 3 4 Der Anschluß ausgeschlossener Gewerkschafter an die Union w u r d e nicht zur Gepflogenheit d e r KPD. Der unter P u n k t 2 erwähnte Arbeitsausschuß d e r Gewerkschaftsopposition wurde, wie Heckert in der „Roten Gewerkschafts-Internationale" berichtete, am 29. August 1921, unmittelbar nach Abschluß der Gewerkschaftskonferenz, gegründet. Der Ausschuß sollte aus Vertretern der revolutionären Gewerkschaftsopposition, der Union und ausgeschlossener Ortsgruppen bestehen. Wichtigste Aufgaben des Arbeitsausschusses sollten sein: die gegenseitige Unterstützung aller zur Gewerkschaftsopposition inner- und außerhalb des ADGB gehörenden Kräfte, die gemeinsame Einflußnahme auf die K ä m p f e im Sinne des Aktionsprogramms der RGI und die Propagierung der Grundsätze der RGI. 135 Es ist anzunehmen, daß der Arbeitsausschuß schon sehr bald scheiterte, weil sich 1922 die Beziehungen zwischen K P D und Union stark zuspitzten. Das Bekenntnis der Union der Hand- und Kopfarbeiter im September 1921 zu den Beschlüssen der RGI w a r ein wesentliches Zugeständnis an die KPD. In d e r Folgezeit setzten sich jedoch anarchosyndikalistische Tendenzen in der Union immer wieder durch. So n a h m die Union ihre Propaganda f ü r den Austritt aus den Gewerkschaften 1922 wieder auf, was das Verhältnis zur K P D stark belastete. Die K P D verwies immer wieder« darauf, daß die Union mit dieser Praxis eindeutig gegen Beschlüsse des RGI-Gründungskongresses verstoße, nach denen die Union keinesfalls die kommunistische Arbeit in den Gewerkschaften beeinträchtigen dürfe. Die komplizierte Entwicklung der Beziehungen zwischen Union und K P D w u r d e in einer Reihe von Artikeln im „KG" und in der „RGI", die der Berichterstattung über den 2. Kongreß der H a n d - und Kopfarbeiter vom 1. bis 5. Oktober 1922 in Essen dienten, dokumentiert. 1 3 " S. A. Losowski formulierte in seinem Brief vom 21. September 1922 an den 2. Unionskongreß folgende kritische Punkte 137 . Er wies Auffassungen von Vertretern der Union zurück, wonach der Kampf um die Erhöhung des Lebensniveaus, gegen Teuerung und Ausbeutung opportunistisch sei. Ein solches Herangehen werde die Union zur Sekte u m f u n k tionieren. Die F ü h r u n g dieser Teilkämpfe erfordere eine entsprechende Organisation, vor allem die Schaffung von Streikfonds. Weiter sprach sich Losowski d a f ü r aus, daß die Union sich auf die Erfassung der Bergarbeiter konzentrieren möge und nicht danach streben sollte, in anderen Industriezweigen Einfluß zu erringen oder auszubauen. 138 Die K P D kritisierte ebenfalls die ungenügende
133
135 136 1?7 138
Vgl. IML/ZPA, I 2/708/2. Vgl. Schwaab, S. 111. Vgl. Heckert, Der Arbeitsausschuß der Gewerkschaftsopposition, S. 24—26. Vgl. Der KG, 9.9.1922, S. 308f.; 21.10.1922, S. 345; Die RG-I, 10.1922, S. 690-694; 11.1922, S. 739—741. Vgl. ebenda, 10.1922, S. 690-694. Ursprünglich waren in der FAU (Gelsenkirchen) nur Bergarbeiter organisiert. Dieser Industriezweig blieb auch das Haupteinzugsgebiet. Auf dem Vereinigungskongreß
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Zentralisierung und Organisation der Union, die zu niedrigen Beiträge und das Fehlen von Streikfonds, ihre Mitgliederwerbung auf Kosten des ADGB und ihr Bestreben, neue Berufssektionen zu gründen. 139 K P D und RGI w a r e n bestrebt, den Einflußbereich der Union auf den Bergbau zu reduzieren. Bei aller Kritik an der Union wurde aber auch das Bemühen von K P D und RGI .deutlich, anarchosyndikalistische Auffassungen zurückzudrängen, Einfluß in der Union zu gewinnen und einen vollständigen Bruch zwischen Union und K P D oder RGI zu verhindern. Die Möglichkeit eines solchen Bruchs deutete sich 1922 an, denn u m diese Zeit verstärkten sich die Bemühungen, eine syndikalistische Internationale zu schaffen. Das und den Anschluß der Union an eine solche Internationale wollte die RGI verhindern. Heckert berichtete auf der Reichskonferenz kommunistischer Gewerkschafter am 7./8. Oktober 1922 in Berlin darüber, daß er selbst und Heinrich Brandler an der 2. Unionskonferenz teilgenommen hatten. 140 Sein Bericht w a r voller Optimismus über die Möglichkeit, die Differenzen zwischen K P D und Union beizulegen. Er verwies darauf, daß seine und Brandlers Reden mit Beifall von der Mehrheit der Delegierten aufgenommen worden seien und daß m a n hoffen könne, daß die Union der Partei weiter entgegenkomme. Heckert sah auf G r u n d der Beschlüsse des 2. Unionskongresses die Möglichkeit einer reibungslosen Zusammenarbeit. 1 4 1 Er hatte erneut seine Zustimmung zu den RGI-Beschlüssen gegeben, und es w a r e n Fortschritte hinsichtlich des Organisationsaufbaus sowie der Behandlung der Tageskämpfe zu verzeichnen. Die Teilnehmer der Reichskonferenz n a h m e n zur Unionsfrage eine Erklärung an, in der es heißt: Die Union hat mit ihrem Bekenntnis zur RGI-Taktik einen Schritt nach vorn getan, die Beschlüsse bieten eine gute Grundlage zur Zusammenarbeit zwischen Union und übriger Gewerkschaftsopposition in den Arbeitsausschüssen, jeder Kampf gegen die Union ist als „unkommunistisch" abzulehnen, die Kommunisten werden in der Union fraktionell arbeiten. 142 Die K P D verstärkte in der Folgezeit ihre Arbeit auch in der Union, um ihren Einfluß auf die dort organisierten Massen zu erhalten und auszubauen. 143 Die Bemühungen der K P D auf gewerkschaftlichem Gebiet 1921/22 zeugten von der Fähigkeit, die politische Konzeption des III. KI-Kongresses u n d des I. RGIKongresses umzusetzen. In einer Reihe von Fragen — so z. B. zur Zusammenf ü h r u n g einer umfassenden Gewerkschaftsopposition, zu den Ausgeschlossenen, zur Zusammenarbeit mit der Union der H a n d - und Kopfarbeiter — w a r e n die deutschen Kommunisten erfolgreich u m eine flexible Politik bemüht. Die Entwicklung zeugte von dem eigenständigen Beitrag, den die K P D in die Gewerk-
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zur Union der Hand- und Kopfarbeiter (September 1921) wurde aber bereits auf beträchtlichen Zulauf aus der Metallindustrie verwiesen; außerdem kamen Landarbeiter und Kommunal- und Staatsarbeiter dazu. Vgl. Bock, S. 183 f. Vgl. Der KG, 9. 9.1922, S. 309. Vgl. IML/ZPA, I 2/708/2. Vgl. ebenda. Vgl. Der KG, 31.10.1922, S. 345. Der X. Parteitag der KPD (12.-17. 7.1925) beschloß die Rückführung aller gewerkschaftlichen Sonderorganisationen in den ADGB oder AfA-Bund, um dort revolutionäre Arbeit zu leisten.
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schaftspolitik der internationalen kommunistischen Bewegung eingebracht hat. Als sich die kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre am 7./8. Oktober 1922 in Berlin zu ihrer 3. Reichskonferenz seit dem Jenaer Parteitag zusammenfanden, nahmen Heckert und Walcher eine kritische Einschätzung des erreichten Niveaus vor. Walcher hatte recht, wenn er betonte, daß der Einfluß der Kommunisten in den Gewerkschaften, gemessen an der außerordentlich massiven Offensive des Monopolkapitals auf politischem und ökonomischem Gebiet, noch zu gering war.144 Dennoch konnten die deutschen Kommunisten Ende 1922 auf eine erfolgreiche Entwicklung der Gewerkschaftspolitik als einen wichtigen Teil ihrer Massenpolitik zurückblicken. Unter Anleitung der Gewerkschaftsabteilung der Zentrale waren Fortschritte beim systematischen Aufbau von Gewerkschaftsfräktionen im ganzen Land erreicht worden. Anfang 1923 registrierte die KPD 997 Gewerkschaftsfraktionen in den Bezirken. Die meisten waren in Thüringen (103), Rheinland-Süd (86) und Nordbayern (77) konzentriert. Die Verteilung nach Venbänden ergibt, daß sich die kommunistischen Fraktionen hauptsächlich bei den Metallarbeitern (177), Bergarbeitern (113) und Bauarbeitern (105) befanden. 145 Die Kommunisten hatten durch ihre systematische Arbeit in den Gewerkschaften in relativ kurzer Zeit einen beachtlichen Einfluß erlangt. Eine Untersuchung der KPD in den Bezirken Hagen, Essen, Hamburg, Königsberg, Berlin und Stuttgart ergab, daß SPD und USPD zusammen 124 000 Stimmen und die KPD 65 000 Stimmen bei Gewerkschaftswahlen erhielten. 146 Im F r ü h j a h r brachten die Wahlen zu den Ortsverwaltungen der Gewerkschaften und zu den Betriebsräten starken Stimmenzuwachs f ü r die Kommunisten. In ca. 60 Ortsverwaltungen des ADGB, vor allem im Deutschen Metallarbeiterverband, erreichten sie die Mehrheit (Essen, Eplingen, Opladen, Singen, Stuttgart u. a.).147 In vielen Betrieben erhöhte sich die Zahl der Kommunisten in den Betriebsräten. 148 In mehreren Großbetrieben gewann die KPD 1922 in Betriebsräten die Mehrheit, wie z. B. in den Continental-Werken Hannover, in den Bergmann-Elektrizitätswerken Berlin, in den Akkumulatorenwerken Berlin, bei Hansa-Lloyd Bremen, bei Lorenz Berlin-Tempelhof, in den Groß- und Mittelbetrieben von Chemnitz. Im Siemenskonzern erhielt die KPD 40 Prozent der Stimmen f ü r den Betriebsrat gegenüber 25 Prozent im Jahre 1921.149 Der systematische Aufbau und die Arbeit der Gewerkschaftsfraktion hat entscheidend dazu beigetragen, daß die revolutionäre Opposition in den Gewerkschaftsverbänden insgesamt an Einfluß gewann. Das Auftreten der kommunistischen Fraktionen auf dem ADGB-Kongreß im Juni 1922 sowie auf den Verbandstagen der Bauarbeiter, der Staatsund Gemeindearbeiter, der Eisenbahner, der Fabrikarbeiter, der Transportarbeiter u. a..war 1922 geschlossener als im Vorjahr. Vor jedem Verbandstag 144
Vgl. IML/ZPA, I 2/708/2. Bericht der Zentrale an den 3. (8.) Parteitag der KPD vom 28. Januar bis 1. Februar 1923 in Leipzig, o. O. 1923, S. 75. 148 Enderle, August/Schreiner, Heinrich/Waicher, Jacob/Weckerle, Eduard, Das rote Gewerkschaftsbuch, Berlin 1932, S. 130. 147 Vgl. ebenda, S. 76. 148 Vgl. GdA, Chronik, Teil 2. S. 127. IM vgl. Der KG, 8. 4.1922, S. 133. 145
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fanden Zusammenkünfte der kommunistischen Delegierten statt, wodurch ein einheitliches Auftreten möglich wurde. 150 Eine kritische Einschätzung mußte die Gewerkschaftsabteilung Anfang 1923 zum Vertrieb des „KG" vornehmen. Ein Vergleich der durch die Bezirke vertriebenen Exemplare vom 1. Januar 1923 gegenüber dem 1. Januar 1922 ergab einen Rückgang jener 40 000 Exemplare um die Hälfte. 151 So bedauerlich ein solcher Rückgang war, hatte er seine Ursache sicherlich in der sehr schlechten wirtschaftlichen Lage derjenigen, die die Zeitung kaufen sollten. Angesichts der erfolgreichen Bilanz kommunistischer Gewerkschaftsarbeit erscheint es selbstverständlich, wenn die Teilnehmer der Gewerkschaftskonferenz vom 7./8. Oktober 1922 f ü r die Fortsetzung dieser bewährten Gewerkschaftspolitik plädierten. Am Ende ihres Berichts an den 8. Parteitag der KPD im Januar 1923 schlug die Gewerkschaftsabteilung ebenfalls vor, die bisherige Politik fortzuführen. „Je entschiedener wir an der eingeschlagenen Richtung unserer Gewerkschaftsarbeit festhalten und je intensiver wir in allen Verbänden, Gewerkschaften, Betrieben und Orten arbeiten, um so größer werden unsere Erfolge sein."152 Die KPD widmete der Gewerkschaftsarbeit 1921/22 große Aufmerksamkeit und investierte auf diesem Gebiet viel Kraft. Sie brachte wichtige Erfahrungen in die internationale Gewerkschaftsbewegung ein und trug zur Weiterentwicklung der gewerkschaftspolitischen Vorstellungen der kommunistischen Parteien bei. Insgesamt war die KPD erfolgreich um eine konstruktive Politik in den Gewerkschaften bemüht. Diese Tatsache wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß sich die weitere Entwicklung der Gewerkschaftskonzeption und ihre Umsetzung in den Jahren der relativen Stabilisierung des Kapitalismus und der Weltwirtschaftskrise als kompliziert erwies und nicht frei von Rückschlägen war. Die KPD war bestrebt, durch ihr Wirken in den Gewerkschaften eine linke Alternativposition zur reformistischen Integrationskonzeption durchzusetzen, und stand damit in der Traditionslinie linker Kräfte der Sozialdemokratie, die bereits in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg reformistische Gewerkschaftspolitik bekämpft hatten. tr.o v g j . Bericht der Zentrale an den 3. (8.) Parteitag der KPD, S. 72. 131 132
Ebenda, S. 74. Ebenda, S. 76.
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Die Sozialistische Partei SFIO und ihre Stellung im politischen System des französischen Imperialismus (1921-1932/33)
Der 18. Nationalkongreß des „Parti Socialiste, Section française de l'Internationale ouvrière" (SFIO) in Tours beschloß am 29. Dezember 1920 mit 3 208 gegen 1 022 Mandaten den Anschluß an die Kommunistische Internationale (Komintern). Dieses Ereignis stellte die Geburtsstunde der Französischen Kommunistischen Partei (FKP) dar. 1 Der Kongreß von Tours spiegelte in markanter Weise die weltverändernde Rolle der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wider und war ein wichtiger Schritt bei der Herausbildung der internationalen kommunistischen Bewegung. Das praktische Wirken W. I. Lenins und der Partei der Bolschewiki bewies immer mehr Arbeitern in aller Welt, wie der Marxismus unter den Bedingungen des Imperialismus und der proletarischen Revolution erfolgreich anzuwenden ist. Die Revolutionierung breiter Massen am Ende des ersten Weltkrieges und im Gefolge der Oktoberrevolution ermöglichte und erforderte die internationale Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung, was mit der Gründung der Komintern im März 1919 geschah. Diese K r ä f t e standen schon während des Krieges in harter Auseinandersetzung mit den reformistischen Führern der 1914 zusammengebrochenen II. Internationale, die diese wiederzubeleben suchten und mit allen Mitteln revolutionäre Aktionen der Arbeiterklasse zur Beendigung des Krieges und zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft, wie es die Beschlüsse der II. Internationale von 1907 in Stuttgart, 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel vorsahen, bekämpften. In der revolutionären Situation der Jahre 1919/20 standen vor den Arbeiterparteien entscheidende Fragen: Revolution oder Konterrevolution, Diktatur des Proletariats oder bürgerliche Demokratie, Anschluß an die Komintern oder die wiederbelebte II. Internationale. Das galt auch f ü r die SFIO. Ihre Führung hatte sich zunächst im ersten Weltkrieg in der „Union sacrée" mit dem französischen Imperialismus verbunden, 1
Den Namen FKP nahm sie jedoch erst am 1.1.1922 an. — Zur Entstehung der FKP und zum Kongreß von Tours siehe die marxistischen Arbeiten von Frévïlle, Jean, La nuit finit a Tours, Paris 1970; Le Congrès de Tours (18e Congrès national du Parti socialiste) — Texte intégral —. Préface, annotations et annexes realisées par Jean Charles, Jacques Girault, Jean-Louis Robert, Danielle Tartakowsky et Claude Willard, Paris 1980; Cernucha, Z. V., Stanovlenie Francuzskoj Kommunisticeskoj Partii, Moskau 1976.
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dann hatte die sozialpazifistische, zentristische Richtung die Oberhand gewonnen. Die Massen jedoch forderten die konsequente Abrechnung mit den „Kriegssozialisten" und wandten sich in großen Streikaktionen gegen die reaktionäre Politik des siegreichen französischen Imperialismus, der 'die Kosten des Krieges auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen suchte und als Gendarm der Konterrevolution in Europa, insbesondere gegen die junge Sowjetmacht auftrat. Im F r ü h j a h r und Sommer 1920 gewannen innerhalb der SFIO die Befürworter einer revolutionären Politik sichtbar an Boden. Neben der USPD und der britischen Independent Labour Party (ILP) entschied sich auch die SFIO, und zwar im Februar 1920 auf ihrem 17. Nationalkongreß in Strasbourg, mit Mehrheit f ü r den Austritt aus der II. Internationale und die Aufnahme von Verhandlungen mit der Komintern. Nach ihrer Rückkehr vom II. Kongreß der Komintern, der am 6. August 1920 die „Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale" angenommen hatte, führten die Abgesandten der SFIO, Marcel Cachin und Oscar-Ludovic Frossard, eine breite Versammlungskampagne im ganzen Land durch, in der sie über die Revolution in Rußland sprachen und den Beitritt zur Komintern vertraten. Gegen den Beitritt, über den der Kongreß von Tours laut Beschluß der Parteif ü h r u n g vom August 1920 entscheiden sollte, formierte sich jedoch auch eine Opposition. Sie bestand aus einer größeren, .zentristischen Gruppierung um Paul Faure und Jean Longuet, dem „Comité pour la reconstruction de l'Internationale". Sie versah die Zustimmung zur „Rekonstruktion" mit soviel Vorbehalten, die faktisch einer Ablehnung der 21 Aufnahmebedingungen der Komintern gleichkamen. Daneben stand die kleinere Gruppe des „Comité de resistance socialiste" mit Pierre Renaudel und Leon Blum, die mit prinzipiellen, reformistischen Einwänden gegen die marxistisch-leninistische Auffassung von der revolutionären Kampfpartei des Proletariats den Beitritt zur Komintern offen ablehnten. Diese Opposition stützte sich auf die in der III. Republik zu Ämtern und Mandaten Gelangten, vom Bürgermeister und Gemeinderat bis zum Kammerdeputierten, auf Teile der Parteibürokratie und kleinbürgerliche Mitgliederschichten. Mit dem Appell zum Verbleib im „alten Haus" der sozialistischen Partei und ihrer revolutionären Phraseologie vermochten sie einen Teil der traditionsbewußten sozialistischen Arbeiter zu beeinflussen. Die mit ihren Anträgen auf dem Kongreß von Tours gescheiterten und unterlegenen „reconstructeurs" und „résistants" akzeptierten die Mehrheitsbeschlüsse nicht, verließen den Kongreß und beschlossen am 30. Dezember 1920, die Sozialistische Partei SFIO weiterzuführen. Durch Akklamation wurde Faure zum Generalsekretär bestimmt und aus 15 „reconstructeurs" und 9 „résistants" eine neue „Comission administratif permanente" (CAP), das Leitungsorgan der Partei, gebildet. „Le Populaire" wurde zum Zentralorgan der Partei erklärt. 2 Zentristen und Reformisten der am 30. Dezember 1920 konstituierten Partei einte die Ablehnung des Leninismus, des von W. I. Lenin f ü r die Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution weiterentwickelten Marxismus, und opportunistische Grundpositionen des von ihnen beschworenen „fran-
3
Vgl. Parti Socialiste S.F.I.O. 19. Congrès National. 29, 30, 31 Octobre-1« Novembre 1921, Rapports, Paris 1921, S. 10 ff.
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zösischen Sozialismus". 3 Indem sie sich gegen die von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution geprägte weltrevolutionäre Entwicklung stellte, w u r d e die SFIO ihrem Wesen nach zu einer im Rahmen des Kapitalismus handelnden reformistischen Partei 4 — unbeschadet ihrer revolutionären Programmatik und an Klassenkampftraditionen festhaltender proletarischer Mitgliederschichten. Die Existenz einer revolutionären marxistischen K a m p f p a r t e i , zu der sich die F K P nach Überwindung mancher Kinderkrankheiten 5 entwickelte, w u r d e zu einer entscheidenden Wirkungsbedingung f ü r die reformistische SFIO. Antikommunistische Verleumdungen, die die F K P als a r t f r e m d e Abspaltung vom „französischen Sozialismus" hinzustellen suchten und bis heute in der bürgerlichen und reformistischen Literatur zu finden sind, 6 vermochten eine Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: die F K P war aus dem revolutionären Strom in der französischen Arbeiterbewegung hervorgegangen, sie verkörperte die revolutionären Traditionen der Pariser Kommune, der von Jules Guesde gegründeten marxistischen Französischen Arbeiterpartei (POF) u n d des von J e a n J a u r è s g e f ü h r t e n Antikriegskampfes. Die F K P machte der SFIO ihren Arbeiteranhang streitig. Die von ihr initiierten Massenbewegungen gegen die soziale Reaktion, gegen die Hegemonial- und Kolonialpolitik des französischen Imperialismus machten es der SFIO immer schwerer, sich mit ihrer rein parlamentarischen Opposition und ihrer Bereitschaft zu Kompromissen mit bürgerlichen Parteien als die Vertreterin d e r Volksinteressen in Szene zu setzen. 7
1.
Rekonstruktion und Organisation des „alten Hauses"
Eine organisatorische Konsequenz der Entscheidungen der Nationalkongresse von Strasbourg und Tours im J a h r e 1920 auf internationaler Ebene war, daß die von der Mehrheit abgespaltene SFIO mit n e u n anderen zentristischen Parteien 3
Vgl. dazu Glasneck, Johannes, Die Entstehung und Entwicklung der französischen Sozialistischen Partei S.F.I.O. bis 1920 und die Rolle des Opportunismus, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, 14, Halle 1987. '' Vgl. Blume, Daniel (u. a.), Histoire du réformisme en France depuis 1920, Bd. 1, Paris 1976. — Tony Judt (La reconstruction du Parti Socialiste 1921-1926, Paris 1976, S. 10 f., 13) sucht dagegen die SFIO wegen der in ihr dominierenden Zentristen als revolutionäre Partei darzustellen. 3 Vgl. Die internationale Arbeiterbewegung, Bd. 4, Moskau 1983, S. 604. G Lefranc, Georges, Le Mouvement socialiste sous la Troisième République (1875—1940), Paris 1963; Ligou, Daniel, Histoire du Socialisme en France (1871—1961), Paris 1962; Geschichte des Sozialismus. Von 1875 bis 1918, hrsg. von Jacques Droz, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1975; Kriegel, Annie, Aux Origines du Communisme Français 1914—1920, Bd. 1 und 2, Paris/Den Haag 1964; Le Congrès de Tours (décembre 1920). Naissance du Parti Communiste Français, hrsg. von Annie Kriegel, o. O. 1964. Vgl. auch Labi, Maurice, La grande division des travailleurs. Première scission de la C.G.T. (1914 bis 1921), Paris 1964. 7 Von bürgerlichen Darstellungen, die diesen Eindruck zu erwecken suchen und detailliert die Periode von 1921 bis 1932/33 behandeln, sind neben Judt zu nennen Ziebura, Gilbert, Léon Blum. Theorie und Praxis einer sozialistischen Politik, Bd. 1: 1872 bis 1934, Berlin (West) 1963; Gombin, Richard, Les socialistes et la guerre. La S.F.I.O. et la politique étrangère française entre lex deux guerres mondiales, Paris 1970.
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auf dem Wiener Kongreß vom 22. bis 27. Februar 1921 die „Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien" (II 1/2. Internationale) gründete, wobei Longuet als einer der Vorsitzenden dieses Treffens fungierte und auch dem Exekutivkomitee dieser „Wiener Arbeitsgemeinschaft" angehörte. Die Beschlüsse des Gründungskongresses widerspiegelten die tiefe Solidarität der Arbeitermassen für Sowjetrußland und ihre gemeinsamen Klasseninteressen im Kampf gegen den Kapitalismus. Doch die vom Kongreß aufgestellte zentristische Forderung nach Wiederherstellung einer Internationale in der Tradition der II. Internationale war in der neuen historischen Situation nach 1917 gleichbedeutend mit der Option für den Opportunismus und das imperialistische System, das er verteidigte. Andererseits sahen zahlreiche zentristische Politiker in der Trennung von den Rechtsopportunisten nur eine zeitweilige taktische Maßnahme in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus.8 Dies zeigte sich insbesondere im Zusammenhang mit den Reaktionen der Wiener Arbeitsgemeinschaft und der II. (Londoner) Internationale auf die Einheitsfrontpolitik des III. Kongresses der Komintern (Juni/Juli 1921) und in ihrem Verhalten während und nach der Exekutivkonferenz der drei Internationalen, also der Wiener, der Londoner und der Kommunistischen Internationale, im April 1922. Die gemeinsame Ablehnung der Einheitsfrontpolitik der Komintern und das beiderseitige Interesse an der Konsolidierung der imperialistischen Nachkriegsordnung führten seit Mitte 1922 zu einer verstärkten Annäherung und Zusammenarbeit der zentristischen und reformistischen Internationale. An diesem Prozeß, der in der Gründung der „Sozialistischen Arbeiter-Internationale" (SAI) auf dem Kongreß in Hamburg vom 21. bis 25. Mai 1923 gipfelte, nahm auch die SFIO teil. In den Leitungsgremien der SAI, dem Büro und der Exekutive, wurde die SFIO von Blum, Alexandre Bracke, Longuet und Renaudel vertreten. Die Zukunft der am 30. Dezember 1920 gebildeten Rumpf-SFIO erschien zunächst wenig verheißungsvoll. Von den rund 180 000 Mitgliedern waren ihr ein Jahr später nach eigenen Angaben lediglich 50 496 verblieben9, nur in 24 der 84 französischen Departements bestanden im Februar 1921 Föderationen der SFIO. Das Zentralorgan „Le Populaire", das nicht über eine Tagesauflage von 10 000 Stück hinauskam, stand am Rande des finanziellen Zusammenbruchs und konnte nur durch Zuschüsse der belgischen, dänischen, niederländischen und schwedischen sozialdemokratischen Parteien bis zum Juni 1924 über Wasser gehalten werden — dann erschien es bis Dezember 1926 als Halbmonatsschrift.10 War es so, daß die SFIO zu einer unbedeutenden Sekte würde, wie es Generalsekretär Faure als Menetekel des öfteren beschwor? Drei Jahre später sah das Bild in vieler Hinsicht bereits anders aus. Die Mitgliederzahl war 1924 bereits wieder auf 72 659 gestiegen, womit die SFIO mit der FKP gleichzog. Föderationen bestanden wieder in 78 Departements. Partei8
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i0
Vgl. Geschichte der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (1923—1940), von einem Autorenkoll. unter Ltg. von W. Kowalski, Berlin 1985, S. 24. Parti Socialiste S.F.I.O. 24« Congrès National, 17—20 Avril 1927, Lyon. Rapports, Paris 1927, S. 44 (im folg.: 24« Congrès National); vgl. auch Ziebura, S. 51. Vgl. Parti Socialiste S.F.I.O. 20' Congrès National, 3 - 6 Févr. 1923, Lille. Rapports, Paris 1923, S. 24f.; Parti Socialiste S.F.I.O. 27' Congrès National, 8—11 Juin 1930, Bordeaux. Rapports, Paris 1930, S. 95 ff.
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führung, Parlamentsgruppe und Mitgliedschaft zeigten angesichts der bevorstehenden Wahl ein geschlossenes und einheitliches Bild. Voller Genugtuung berichtete Faure dem 21. Nationalkongreß, der Januar/Februar 1924 in Marseille tagte: „Die Sozialistische Partei und der Sozialismus in Frankreich sind jetzt gerettet." 11 Das zahlenmäßige Voranschreiten der SFIO ging nach den Wahlen weiter. Zu diesen Wahlen hatten sich die Sozialisten mit den Radikal-Sozialisten (Parti radical et radical-socialiste), der traditionellen Vertretung der republikanischen Klein- und Mittelbourgeoisie, zu einem „Linkskartell" zusammengeschlossen und über den reaktionären „Bloc national" einen Wahlsieg errungen. Ein Jahr darauf verfügte die SFIO über 111 276 Mitglieder. Das Wachstum verlangsamte sich dann zwar und wurde zeitweilig rückläufig. Doch 1932 hatte die SFIO 137 684 Mitglieder,12 womit sie die FKP überflügelt hatte. Für das wachsende politische Gewicht der SFIO zeugen die erzielten Ergebnisse bei den Parlamentswahlen: 1924 erhielten ihre Kandidaten 8,15 Prozent der Wählerstimmen, 1928 17,68 und 1932 20,05 Prozent.13 Die Ursachen dieser erfolgreichen „Rekonstruktion" sind vielfältiger Natur. Es war vornehmlich die objektive politische und ökonomische Entwicklung, die das Wachstum der reformistischen Arbeiterbewegung begünstigte. 1920/21 zeigten sich in den kapitalistischen Ländern deutliche, mit der Weltwirtschaftskrise und der folgenden Depression zusammenhängende Tendenzen eines allgemeinen Gegenangriffs der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse und eines allgemeinen Abflauens der revolutionären Kämpfe. Viele von den sich nach 1920 häufenden Streikniederlagen enttäuschte französische Arbeiter setzten nun ihre Hoffnung auf das Programm sozialer und wirtschaftlicher Reformen, das die SFIO im Bündnis mit den kleinbürgerlichen Radikal-Sozialisten in parlamentarischer Aktion durchzusetzen suchte. Die von 1924 bis 1929 andauernde Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus wirkte in derselben Richtung und brachte allgemein einen wachsenden Einfluß des Reformismus und eine Stärkung der Positionen der Parteien der SAI. Ein durchschnittliches jährliches Wachstum der Industrieproduktion von 5 Prozent, die Stabilisierung des Francs 1926 und die darauffolgende Periode der Rationalisierung der Produktion nährten Auffassungen, in Zusammenarbeit mit einem prosperierenden Kapitalismus die Lage der Werktätigen ständig verbessern zu können. Zu diesen außerhalb der Partei selbst liegenden Faktoren, die ihre Entwicklung förderten, gehört auch „die lange Kur der Opposition der SFIO gegenüber den Regierungen des Bloc national". 14 Der reaktionäre und nationalistische Kurs Raymond Poincares, dem sich auch viele Radikal-Sozialisten angeschlossen hatten, bewahrte die Führungskräfte der Partei gerade in den für sie schwierigsten Jahren 1921 bis 1924 davor, ihrem Hang zum parlamentarischen Taktieren nachzugeben.
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14
Parti Socialiste S.F.I.O. 21' Congrès National, 30-31 Janv. - l « - 2 - 3 Févr. 1924, Marseille. Rapports, Paris 1924, S. 3. Vgl. Ziebura, S. 510. Vgl. Salyéev, S. S., Francuzskaja Socialisticeskaja Partija v period mezdu dvumja mirovymi vojnami 1921—1940 gg., Moskau 1973, S. 41. Willard, Claude, Socialisme, et Communisme Français, Paris 1967, S. 111.
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Für den Wiederaufbau der SFIO auf reformistischer Grundlage bestand 1921 eine weitere günstige Voraussetzung: die Tatsache, daß neben den 55 Kammerdeputierten die überwiegende Mehrzahl der Gewählten in den Departements-, Arrondissements- und Gemeinderäten, die Bürgermeister sowie die Föderationssekretäre, d. h. der eigentliche opportunistische Kern der alten SFIO, im „alten Haus" verblieben waren. Der 19. Nationalkongreß der SFIO, der im Oktober 1921 in Paris tagte, verwies auf 60 Generalräte, 60 Arrondissementsräte, 1 300 Munizipalräte und 79 Bürgermeister. 15 Der Einfluß dieser Kader wirkte sich dahin gehend aus, daß z. B. fünf der sechs Provinzzeitungen bei der SFIO verblieben, daß in vielen Orten die Rathäuser zu Stützpunkten f ü r den Wiederaufbau von SFIO-Sektionen wurden. 16 Im Unterschied zur Zeit vor 1914 wurde die Confédération Générale du Travail (CGT), aus der 1921/22 die revolutionäre Minderheit hinausgedrängt worden war, bis 1935 zu einem wichtigen Rekrutierungsfeld f ü r 'die Sozialistische Partei. Beide Organisationen rückten nun, auf gemeinsamer reformistischer Grundlage, enger zusammen, was sich allein schon in der Tatsache zeigte, daß die meisten Gewerkschaftsführer gleichzeitig Mitglieder der SFIO waren. So gehörten 1932 von den 40 Mitgliedern der Verwaltungskommission der CGT 28 der SFIO an.17 Die eigenen Filialorganisationen der SFIO wie die „Confédération Nationale des Jeunesses socialistes", die „Fédération Nationale des Étudiants socialistes" und die „Groupe des Femmes du Parti Socialiste" vermochten dagegen keinen Masseneinfluß zu erzielen. 18 Der schwierige Prozeß der Entwicklung der auf dem Nationalkongreß von Tours entstandenen Kommunistischen Partei zu einer Partei neuen Typus, der nicht frei von sektiererischen Fehlern verlief, stellte eine weitere Quelle f ü r den Mitgliederzuwachs der SFIO dar. Auf der Woge des Enthusiasmus f ü r die Oktoberrevolution und die Komintern waren auch opportunistische Elemente in die junge Kommunistische Partei gelangt, die die Beschlüsse von Tours nur deshalb gebilligt hatten, weil sie glaubten, damit ihre Positionen in der Partei zu erhalten. Ideologisch vertraten sie weiterhin einen reformistisch verzerrten Marxismus bzw. den „revolutionären Syndikalismus". Im Laufe des Jahres 1922 erkannte die Mehrheit der FKP die Ablehnung der Einheitsfrontpolitik durch die französische Delegation auf der I. Erweiterten Tagung des Exekutivkomitees der Komintern im Februar 1922 als sektiererischen Fehler und setzte sich, gestützt auf die Beschlüsse der Komintern, mit der opportunistischen Strömung in der Partei auseinander. Die Opportunisten sahen sich gezwungen, seit Ende 1922 die FKP zu verlassen, um entweder wieder direkt als „verlorene Söhne" ins „alte Haus" zurückzukehren 19 oder dazu eine Zwischenstation zu benutzen. 15 16 17 18
19
Vgl. Judt, La reconstruction, S. 37. Vgl. Histoire du réformisme en France depuis 1920, Bd. 1, Paris 1976, S. 50. Vgl. ebenda, S. 87 (nach Polizeiberichten). Auf den Nationalkongressen in Clermont-Ferrand (Mai 1926) und Toulouse (Mai 1928) wurde ausdrücklich zur Unterstützung dieser Organisationen aufgerufen (vgl. 24« Congrès National, S. 10; 26' Congrès National, 9—12 Juin 1929, Nancy. Rapports, Paris 1929, S. 7). Vgl. Histoire du réformisme, S. 51, zur Entwicklung der FKP vgl. Histoire du Parti Communiste Français (Manuel), Paris 1964, S. 114ff.; Bourderon, Roger (u. a.), Le P.C.F. étapes et problèmes. 1920-1972, Paris 1981, insbes. S. 41 ff.
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Eine solche stellte die „Union Socialiste-Communiste" dar, die sich im April 1923 gebildet hatte, der sich auch Frossard zeitweilig anschloß, ehe er im Juni 1924 wieder den Weg zur SFIO fand. 20 Als wichtiges Problem erweist sich die Frage nach dem sozialen Inhalt der erfolgten „Rekonstruktion". Übereinstimmend stellten bürgerliche und marxistische Autoren eine soziale Gewichtsverlagerung innerhalb der SFIO von der Arbeiterklasse weg hin zur Intelligenz, zu kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten fest. 21 Das wird sowohl f ü r die Mitgliedschaft als auch f ü r die Wählerschaft angegeben. Korrespondierend damit wird auf die geographische Umschichtung verwiesen, so z. B. Gilbert Ziebura : Das Schwergewicht der Wählerschaft der SFIO „verlagerte sich deutlich nach dem ländlichen Südfrankreich, vor allem in die mittelmeerischen Departements, wo die Partei in die traditionellen Bastionen der Radikal-Sozialisten einbrach, während sie Teile der Arbeiterschaft in den industriellen Gebieten an die Kommunisten verlor". 22 Diese Einschätzung beruht auf dem Wahlergebnis von 1928, das die Quittung f ü r die verfehlte Politik der Linksblock-Regierungen von 1924 bis 1926 darstellte und von François Goguel in seiner französischen Wahl-Geographie analysiert wurde. 23 Während zahlreiche Autoren diese Ergebnisse einfach auf die Mitgliedschaft der Partei übertragen, stellen Eugen Varga, Claude Willard und Ziebura fest, daß die SFIO keinerlei Unterlagen hinterlassen hat, aus denen sich Hinweise auf die Sozialstruktur der Partei ergeben, und daß exakte wissenschaftliche Studien fehlen, um die angedeutete Veränderung auch in der Zusammensetzung der Partei zu stützen. 34 Ziebura unternahm es jedoch, durch die Herstellung von Relationen zwischen der Bevölkerungsstatistik und der Stärke der Föderationen, in den einzelnen Departements Annäherungswerte zu ermitteln. Danach verfügte die SFIO in den 24 Departements mit 30 bis 60 Prozent Industriearbeiteranteil über 15 relativ starke Föderationen, die 56 470, d. h. 43,1 Prozent der 131 000 Parteimitglieder im Jahre 1931 umfaßten. Die naheliegende Schlußfolgerung, daß die Mehrheit der Parteimitglieder dieser Föderationen in der Industrie beschäftigt sein mußte, relativiert Ziebura damit, daß es sich hierbei 20
21
22 23
24
Frossard verließ 1935 die SFIO, da sie ihm noch zu „links" war, und landete schließlich während des zweiten Weltkriegs im Lager der Kollaboranten. — Die „Union Socialiste — Communiste" vereinigte sich 1930 mit einer weiteren linken Gruppierung zum „Parti d ' U n i t é Prolétarienne" (PUP), der später in der Volksfrontbewegung mitarbeitete, sich 1937 aber auflöste und dessen Mitglieder sich wieder der SFIO anschlössen. Vgl. Die sozialdemokratischen Parteien. Ihre Rolle in der internationalen Arbeiterbewegung der Gegenwart, hrsg. von Eugen Varga, Hamburg 1926, S. 92 f.; Histoire du réformisme, S. 48; Audry, Colette, Léon Blum ou la politique du juste, Paris 1955, S. 68; Droz, Jacques, Le Socialisme Démocratique. 1864—1960, Paris 1966, S. 233; Greene, Nathanael, Crisis and décliné The French, Socialist Party in the Populär Front Era, Ithaca 1969, S. 4; Hamon, Léo, Die sozialistischen Parteien vor der Macht (II.), in: Neue Gesellschaft, 1981, 5, S. 447; Lefranc, S. 278. Ziebura, S. 388. Vgl. Goguel, François, Géographie des élections françaises de 1870 ä 1951, in: Cahiers de la Fondation nationale des sciences politiques, Paris 1951, 27, S. 70 fï. Vgl. Varga, S. 93; Willard, Socialisme, S. 114; Ziebura, S. 241 fï.
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vornehmlich um Facharbeiter, aber auch um „untere und mittlere Industriekader" gehandelt habe. Damit wurde auch die bereits 1926 von Varga veröffentlichte Analyse bestätigt, der die Mitgliedschaft der SFIO in den Industriezentren detailliert darstellte und vor allem auf die Rolle der Gemeinde- und Gewerkschaftsbürokratie hinwies. Aus der Mitgliederbewegung der einzelnen Föderationen konnte Ziebura den Schluß ziehen, daß es der SFIO nicht gelang, in den ausschließlich landwirtschaftlichen Departements Mittel- und Südfrankreichs neue Mitglieder zu gewinnen, wohl aber in den Departements Süd- und Südwestfrankreichs, in denen sich Landwirtschaft mit lokalisierter Klein- oder Mittelindustrie mischte. 19 Föderationen in diesen Departements umfaßten insgesamt 39 700 Mitglieder, d. h. 30,3 Prozent der Gesamtmitgliederzahl. Hier überwogen das städtische und ländliche Kleinbürgertum, gemischt mit Landarbeitern und Kleinbauern. Untersuchungen im lokalen Maßstab, z. B. für Marseille, bestätigten diese Ergebnisse.25 Diese Annäherungswerte lassen folgende Schlußfolgerungen über die soziale Zusammensetzung der SFIO und deren Entwicklungstrends zu: 1. Im Vergleich mit der Zeit nach 1945 besaß die SFIO in den 20er und 30er Jahren eine wesentlich solidere Arbeiterbasis, die aber im Schwinden begriffen war, da sich die Arbeiter in den Industriezentren des Pariser Beckens und Nordfrankreichs der FKP zuwandten. Varga sah in den weiterhin mit der SFIO verbundenen Arbeitern „die Arbeitergeneration, die bereits bei Kriegsausbruch sozialistisch war, die zwar heute leidet, aber doch nicht die Kraft findet, die überlieferten sozialistischen Bahnen zu verlassen. Sie sind zai sehr persönlich mit dem Apparat der Sozialistischen Partei verbunden, als daß sie den Kampf gegen die Partei wagen würden."26 2. Das Schwergewicht der Parteiorganisation verlagerte sich tatsächlich aus dem industriellen Norden und Osten des Landes in das mehr kleinbürgerlich-bäuerlich bestimmte Mittel- und Südfrankreich. Die SFIO ersetzte hier faktisch die früher vorherrschende Radikal-Sozialistische Partei. Die kleinbürgerlich-republikanischen Traditionen, auf die sich die Partei bei diesem zunehmenden mittelständischen Anhang stützen konnte, wirkten mit, den Boden für den Revisionismus in der Ideologie und den Reformismus in der praktischen Politik zu ebnen. Die SFIO als eine weiterhin in der Arbeiterklasse verankerte Partei mit zunehmendem Einfluß in den mit der Politik der Monopole unzufriedenen Mittelschichten bedeutete für den französischen Imperialismus einen wesentlichen Stabilisierungsfaktor. Sie neutralisierte diese potentiellen antimonopolistischen 25
26
Vgl. Judt, R. Tony, Class Composition and Social Structure of Socialist Parties after the First World War: France's Case, in: L'Internazionale Operaia e Socilista tra le due guerre, a cura di Enzo Collotti, Mailand 1985, S. 293. — Judt kommt, wenn auch mit anderen Zahlenangaben, faktisch zu denselben Ergebnissen wie Ziebura, lehnt aber, auf Grund seiner These vom „revolutionären" Charakter der SFIO, die Schlußfolgerung ab, die SFIO habe in Süd- und Mittelfrankreich den Platz der Radikalen eingenommen (S. 299). Varga, S. 99.
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Elemente, indem sie sie von der Revolution weg zur Unterstützung bürgerlicher Regierungen bzw. zur „konstruktiven" Opposition und Reformpolitik im Rahmen des parlamentarischen Systems führte. Der Nationalrat vom 13. Februar 1921 bekräftigte die 1905 beschlossenen Organisationsprinzipien der SFIO, die den Sektionen und Föderationen, aber auch der Parlamentsgruppe erhebliche Selbständigkeit zubilligten und in denen das Prinzip der proportionalen Vertretung der Tendenzen auf allen Stufen und in allen Gremien herrschte. Die schwierige Situation nach dem Nationalkongreß von Tours, als die Restpartei um ihre Legitimation ringen mußte, veranlaßte die Repräsentanten der unterschiedlichen politischen Tendenzen innerhalb der SFIO, zunächst ihre Sonderinteressen hinter die Demonstration der Einheit der Partei zurückzustellen. Obwohl zwischen 1921 und 1933 einige führende Politiker die SFIO verließen und sich bürgerlichen Parteien bzw. Fraktionen anschlössen, zeigte das Leitungsgremium der Partei, die CAP, eine bemerkenswerte Stabilität. Über die Hälfte ihrer 30 Mitglieder gehörte ihm ohne Unterbrechung an. Diese personelle Homogenität beruhte darauf, daß immer wieder dieselben Führer der Tendenzen in die CAP entsandt wurden und sich dort als deren Vertreter fühlten. Faure als Generalsekretär, den Georges Lefranc überschwenglich als das „Herz der Partei" 27 bezeichnete, beherrschte mit Unterstützung seines Stellvertreters — bis 1924 Hubert Rouger und dann bis 1940 Jean-Baptiste Severac — den eigentlichen Parteiapparat, indem er schriftlich ebenso wie durch häufige Besuche den Kontakt zu den Föderationen und Sektionen hielt. Für die Masse der Funktionäre und Mitglieder repräsentierte er die SFIO und galt als unbestrittene Autorität in Organisationsfragen. Blum dagegen, der „Kopf der Partei", repräsentierte als politischer Direktor des „Populaire" und vor allem als Sekretär bzw. späterer Vorsitzender der Parlamentsgruppe die SFIO nach außen, im nationalen und internationalen Rahmen. So bildete sich zwischen beiden eine Art Arbeitsteilung heraus, bei der Blum, der erst 1927 in die CAP gewählt wurde, sich Faure zunächst unterordnete und mit seiner Fähigkeit zur Formulierung von Kompromißresolutionen wesentlich zur Stabilität der Führungsmannschaft beitrug. Das Bild der Einheit, das die Partei zunächst demonstrierte, zerbrach an der Frage der Unterstützung für die Regierungen des Linkskartells 1924—1926 bzw. an der von diesem Zeitpunkt an unaufhörlich geführten Auseinandersetzung über die Regierungsbeteiligung. Bei dieser ebenso wie bei Auseinandersetzungen sekundären Charakters ging es letztlich um die für eine reformistische Partei lebenswichtige Frage: Wieweit kann die Integration in das bürgerlich-parlamentarische System vorangetrieben werden, ohne daß die Partei ihre Spezifik als Arbeiterpartei — und damit ihre Existenzgrundlage — verliert? Die Risse, die das mühsam wiedererrichtete „alte Haus" zeigte, tauchten bald 27
16«
Lefranc, S. 243. — Judt würdigt Faure als den zu Unrecht „Vergessenen des französischen Sozialismus" — von der Literatur „vergessen" wegen seiner Kapitulation vor dem Hitlerfaschismus und dem Vichy-Regime 1940 — und stellt ihn bewußt dem seiner Meinung nach in dieser Periode zu hoch bewerteten Blum gegenüber (Judt, L a reconstruction, S. 200 f.). — Ist die Apologie der Person Faures auch zurückzuweisen, so ist seine Bedeutung für die Entwicklung der inneren Organisation der SFIO unbestreitbar.
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an allen Ecken auf. Gaben 1924 noch 62 Prozent aller Föderationen (Departements-Organisationen der SFIO) ihre Stimmen auf den jährlichen Nationalkongressen und den dazwischen stattfindenden Nationalratssitzungen der Partei noch einheitlich ab, so waren es 1926 nur noch 12 Prozent. Die erste größere Verletzjung der Disziplin in der Parlamentsfraktion wurde auf dem außerordentlichen Nationalkongreß im Juni 1924 angeprangert.28 Von da an hörten die Klagen des Generalsekretärs über das Nachlassen der Disziplin und das mangelhafte Zusammenhalten in der Partei und die Forderungen der Föderationen nach einheitlicher Stimmabgabe der Parlamentsfraktion und stärkerer Propagandaarbeit der Deputierten nicht mehr auf. Es erwies sich, daß die CAP nicht in der Lage war, ein einheitliches Abstimmungsverhalten durchzusetzen, auch häuften sich die Fälle, daß sich bestimmte Föderationen nicht an die Beschlüsse der CAP hielten. Hinzu kamen die direkten Auseinandersetzungen CAP — Fraktion anläßlich der zahlreichen Regierungskrisen, da in der CAP die Gegner einer Regierungsbeteiligung überwogen, in der Fraktion dagegen eine stärkere Neigung zur parlamentarischen Unterstützung der von Radikal-Sozialisten geführten Regierungen bestand. Da die Fraktion nur die Kontrolle durch den Nationalrat akzeptierte, nicht aber die der CAP, standen sich zeitweilig divergierende Beschlüsse öffentlich gegenüber. Die Beibehaltung der alten Organisationsstruktur förderte die Desintegration der SFIO; ihre eigentliche Ursache jedoch waren die durch die Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie hervorgerufenen Auseinandersetzungen. Seit 1926 traten die verschiedenen Gruppierungen in der SFIO mit eigenen Resolutionsentwürfen, Aktionen und z. T. auch Zeitschriften deutlich hervor und sollten nun bis zum zweiten Weltkrieg die innerparteilichen Auseinandersetzungen bis hin zu Abspaltungen bestimmen. Dabei waren die Grenzen zwischen den Strömungen in personeller Hinsicht durchaus fließend. Die bedeutendsten dieser Gruppierungen waren : 1. Die Linke, repräsentiert vor allem durch Jean Zyromski, später auch durch Marceau Pivert, gruppierte sich seit 1927 vor allem um die Zeitschrift „La Bataille Socialiste" und um die Föderation Seine. Sie vertrat 25 bis 30 Prozent der Mitgliedschaft und setzte sich für die Bewahrung des proletarischen Klassencharakters der Partei ein, orientierte vorrangig auf Massenbewegungen und gegen parlamentarische Bündnisse mit bürgerlichen Parteien. 2. Das Zentrum, geführt von Faure und Blum, das stets auf den Nationalkongressen und Nationalratstagungen die absolute Mehrheit darstellte. Mit der Linken in der Beibehaltung der marxistischen Parteidoktrin übereinstimmend, stellte das Zentrum die parlamentarische Aktion zur Durchsetzung von Reformen an die erste Stelle, war zu Bündnissen und zur Regierungsübernahme bereit, aber nur bei Wahrung des vorherrschenden Einflusses der SFIO und Erhaltung ihres spezifischen Charakters. 3. Die Rechte, vertreten vor allem durch Renaudel und seine Zeitschrift „La Vie Socialiste", durch Joseph Paul-Boncour und durch die späteren „Neosozialisten" 28
Vgl. Parti Socialiste S.F.I.O. 22« Congrès National, 8, 9, 10, 11 et 12 Fevrier 1925, Grenoble. Rapports, Paris 1925, S. 158; Judt, Le reconstruction, S. 148.
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Marcel Deat und Adrien Marquet, h a t t e ihre stärksten Stützen im mittleren und südwestlichen Frankreich. F ü r ein enges und ständiges Bündnis mit d e n Radikal-Sozialisten, auch in der Regierung, eintretend, bekannte sich die Rechte offen zu einem evolutionären Weg zum Sozialismus in Gestalt von konstruktiver Mitarbeit am bürgerlich-parlamentarischen Staat.
2.
Parteidoktrin, Revisionismus und Antikommunismus
Die Gegner des Anschlusses an die Komintern h a t t e n mit ihrer Haltung auf dem Nationalkongreß von Tours auch die Erkenntnisse und E r f a h r u n g e n der Bolschewiki, die schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus u n t e r den Bedingungen des Imperialismus durch W. I. Lenin, zurückgewiesen. Sie verschlossen sich damit der revolutionären Machteroberung zur Errichtung des Sozialismus wie auch d e r strategisch-taktischen Konzeption des antiimperialistischen Kampfes. Zu Beginn des J a h r e s 1921 entschied die SFIO-Führung, neben der alten Organisationsform auch die bisher gültige Parteidoktrin beizubehalten. Das vom Nationalrat der SFIO am 13. Februar 1921 verabschiedete „Manifest an die Arbeiter Frankreichs" brachte zum Ausdruck, daß die Partei „kein neues P r o g r a m m und keine neuen Doktrinen" anzubieten habe, sondern sich auf die Dokumente stütze, die sie zwischen d e r Einheitsdeklaration vom 13. J a n u a r 1905 und dem Aktionsprogramm von 1919 angenommen hatte. Diese Position w u r d e bis 1940 beibehalten, ausdrücklich z. B. im Bericht an den 21. Nationalkongreß 1924 bestätigt und von F a u r e im Bericht an den 28. Nationalkongreß 1931 gegen Revisionsversuche verteidigt. 29 Damit schien am ehesten der Zusammenhalt der heterogenen K r ä f t e in der geschwächten Partei gewährleistet zu sein, zumal die vorherrschenden opportunistischen K r ä f t e bereits d a r a n gewöhnt waren, unabhängig von revolutionären P r o g r a m m p u n k t e n reformistisch zu handeln. Vor allem aber ging es ihnen darum, wie bereits auf dem Nationalkongreß von Tours, mit der B e r u f u n g auf die Einheitscharta von 1905 den Vorwurf des Reformismus seitens der Komintern-Anhänger, der ihrem Masseneinfluß schweren Schaden zufügte, zurückzuweisen. Die offizielle Parteilinie bestand demnach darin, ständig den Anspruch zu wiederholen, daß die SFIO eine „revolutionäre" Partei sei und im Geiste von J a u r è s und Guesde auf die Transformation der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft hinarbeite. Diese würde entweder als legale Machtübergabe unter Druck des allgemeinen Wahlrechts oder durch eine gewaltsame Bewegung des organisierten Proletariats vor sich gehen. Die Sozialisten strebten einen Sieg in Ruhe und methodischer Organisation an, da sie „die Partei der menschlichen Brüderlichkeit" seien. 30 Der sterile, unmarxistische Geist, der die Formeln der SFIO von Klassenkampf und Revolution beherrschte, zeigte sich auch im „Manifest an die Arbeiter Frankreichs" selbst. Darin hieß es: „Wir 29
30
Vgl. 19e Congrès National, S. 55; 21' Congrès National, S. 21 f.; Parti Socialiste. S.F.I.O. 28' Congrès National, 24-27 Mai 1931, Tours. Rapports, Paris 1931, S. 7. Le Programme du Parti Socialiste. Pour les Election Législatives de Mai 1928, Paris 1928, S. 5.
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lehnen es ab, dem stürmischen Lauf der Ereignisse zu folgen, die aus dem Krieg entstanden, oder den Konsequenzen von Revolutionen, die in verschiedenen Ländern ausbrachen und nicht unsere Taktiken und Kampfmittel anwandten." 31 Wie die Partei auf die Oktoberrevolution und 'die damit erfolgte erste siegreiche sozialistische Revolution und die Errichtung der Arbeiter-und-Bauern-Macht letztlich nur negativ zu reagieren vermochte, so reichte ihr ideologisches Rüstzeug in keiner Weise aus, auf die Entwicklung des revolutionären Weltprozesses und der allgemeinen Krise des Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit theoretisch tragfähige Antworten zu geben. Zwar ist zu unterstreichen, daß es in der SFIO im behandelten Zeitraum wenig theoretische Diskussionen gab, doch forderte die offensichtliche Diskrepanz zwischen den revolutionären Propagandathesen und der reformistischen Praxis förmlich zu Versuchen heraus, diese Diskrepanz zu überwinden. Dies geschah von verschiedenen Standpunkten aus: Blum, der zum eigentlichen „Theoretiker" der SFIO wurde, versuchte, die alten Formeln wie Klassenkampf, Revolution, Machteroberung, Diktatur des Proletariats beizubehalten und mit neuem Inhalt zu füllen, auf diese Weise wichtige Vorarbeit zur Herausbildung des Konzepts vom „demokratischen Sozialismus" im internationalen Maßstab leistend. Viele seiner Gedankengänge flössen in die meist von ihm formulierten Resolutionen der Nationalkongresse ein. Blum als „marxistischen Sozialisten" oder als Rekonstrukteur der Doktrin der SFIO auf der Basis des „orthodoxen Marxismus" zu bezeichnen32, bedeutet, das Wesen seiner theoretischen Aussagen zu verkennen. Blum lernte den Marxismus in der Form kennen, wie ihn Jaurès aufgefaßt hatte. Wie dieser begründete auch Blum den Sozialismus idealistisch und klassenindifferent als allgemein-menschliches Erfordernis, das durch die von Marx entdeckten ökonomischen Gesetze lediglich seine Unvermeidlichkeit erhält.33 Für Blum war die Revolution nicht mehr Ergebnis des Klassenkampfes, sondern sie sollte in weiterer historischer Perspektive aus einer Fülle von Voraussetzungen und Reifeprozessen hervorgehen. Damit würde es aber nach Blum zwischen Revolution und Reform sowie dem Begriff der Evolution weitgehende Übereinstimmung geben.34 Somit ließ sich weiter mit dem Begriff „Revolution" arbeiten, ohne revolutionär handeln zu müssen; das Versagen der französischen ebenso wie anderer sozialistischer Parteien Westeuropas angesichts der revolutionären Möglichkeiten in der Zeit der Nachkriegskrise schien gerechtfertigt. Den von weiten Kreisen in der SFIO im Gefolge der antisowjetischen Polemiken Karl Kautskys abgelehnten Begriff der „Diktatur des Proletariats" gebrauchte Blum zwar noch, entleerte ihn aber seines marxistischen Gehalts. Er sah in der „Diktatur des Proletariats", die sowieso nur für Ausnahmefälle gelten sollte, eine kurzzeitige „Vakanz der Legalität", ausgeübt „im Interesse der gesamten
31
19« Congrès National, S. 56. •u Audry, S. 73, bzw. Drachkovitch, Milorad M., De Karl Marx à Léon Blum. La crise de la socialdémocratie, Genf 1954, S. 99 f. 33 Blum, Léon, Jean Jaurès, Paris 1945, S. 14 f., 39. 34 Ebenda, S. 34; ders., Bolchewisme et Socialisme, Paris 1927, S. 4f., 11 f.; ders., Radicalisme et Socialisme, Paris 1936, S. 19.
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Menschheit". Gedanken, die auch in das Wahlprogramm der SFIO von 1928 Eingang fanden. 3 5 Die politische Entwicklung zu Beginn der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus veranlaßte Blum, seinen Revolutionsbegriff durch seine Theorie von der „Ausübung" und „Eroberung" d e r Macht zu konkretisieren. Zahlreiche sozialdemokratische Parteien ü b e r n a h m e n neue Regierungsverantwortung bzw. beteiligten sich an bürgerlichen Regierungen — voran gingen die Labour Party, die dänischen und schwedischen Sozialdemokraten, die 1924 Minderheitsregierungen bildeten. Die Regierungsübernahme im parlamentarischen System wurde zur Hauptebene der Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie und nicht m e h r als prinzipielle, sondern n u r noch als taktische Frage betrachtet. 3 6 Die SFIO hatte sich im J u n i 1924 nach dem Sieg des Linkskartells f ü r die parlamentarische „Unterstützung" der Regierung des Radikal-Sozialisten Edouard Herriot entschieden. Seitdem jedoch n a h m e n die Auseinandersetzungen in der Partei zu, da eine stärker werdende Fraktion auf die direkte „Beteiligung" an der Regierung drängte, die Mehrheit, besonders konsequent die Linke, sie m i t dem Hinweis auf den „Millerandismus" verwarf. In seiner Rede auf dem außerordentlichen Nationalkongreß der SFIO am 10. J a n u a r 1926 im Saale Bellevilloise in Paris 37 bemühte sich Blum um einen praktikablen Ausweg aus diesen Auseinandersetzungen, indem er die bisher in der Partei herrschende Doktrin — Nichtbeteiligung an bürgerlichen Regierungen, ausgenommen außergewöhnliche Umstände — erläuterte: Die „Eroberung der Macht" mit revolutionärem Ziel, Bedingung und Prolog der sozialen Revolution, habe nichts gemein mit der „Ausübung der Macht" im R a h m e n des kapitalistischen Regimes, die sich ergeben könne, wenn die Sozialistische Partei im Parlament sehr stark geworden sei bzw. die Mehrheit errungen habe. Ausdrücklich verwies er dabei auf das Beispiel der britischen Labour Party, der dänischen und schwedischen Sozialdemokratie. Im Falle der „Ausübung d e r Macht" müsse sich die Partei strikt an die Spielregeln des bürgerlichen Parlamentarismus halten, könne sie zwar versuchen, ein Maximum an sozialer Gerechtigkeit, soweit es mit den Institutionen des bürgerlichen Staates vereinbar ist, durchzusetzen, d ü r f e aber nicht diese Institutionen antasten, sondern die sozialistischen Minister müßten „legal und loyal" im Rahmen dieser Institutionen handeln. Blum bezeichnete es d i r e k t als „Betrug . . . von unserer Anwesenheit in der Regierung zu profitieren, u m die Ausübung der Macht in die Eroberung der Macht umzuwandeln". 3 8 Mit der Formel von der „Ausübung der Macht" konnten sich die Verfechter der Regierungsbeteiligung u m Renaudel solidarisieren, während die Formel von d e r „Eroberung der Macht" von der Linken um Zyromski als Bestätigung ihrer Auffassungen angesehen wurde. 35
36 37 33
Ders., Radicalisme, S. 21 ; Le Programme du P.S. 1928, S. 6 f. - Siehe zur Interpretation von Blums Diktaturbegriff Glasneck, Johannes, Léon Blum und der 18. Nationalkongreß der Sozialistischen Partei (SFIO) von Tours 1920, in: ZfG, 1984, 10, S. 862 f. Vgl. Geschichte der SAI, S. 55 ff. Vgl. zu Folgendem Blum, Bolchevisme, S. 7 ff. Zit. nach Audry, S. 77.
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Seine theoretische Konstruktion wurde von Blum selbst in unterschiedlicher Weise politisch angewandt. Zum einen erlaubte sie ihm, den Verfechtern des Millerandismus die Nachteile einer „Ausübung" der Macht darzustellen, die nur unerfüllbare Hoffnungen wecke und nur dann zu übernehmen sei, wenn die Partei die entsprechende Stärke habe, die Richtung der Politik zu bestimmen. Zum anderen wurde durch die strikte und undialektische Trennung zwischen Ausübung und Eroberung der Macht und das Fehlen jedes Hinweises, wie man denn an letztere herankommen soll, wiederum der antirevolutionäre Inhalt von Blums „Revolutions"-Konzept sichtbar. Jede tatsächlich zustande kommende Regierung der SFIO — bzw. einer anderen sozialdemokratischen Partei — war damit faktisch gerechtfertigt, wenn sie den Rahmen des Kapitalismus nicht überschritt. Blum selbst handelte als Regierungschef nach dieser Theorie, als er am 21. Juni 1937 und am 8. April 1938 vor dem Druck des Senats und der hinter ihm stehenden Reaktion zurücktrat und nicht an die Massen appellierte. Blum versah die SFIO mit theoretischen Argumenten, die sie benötigte, um einerseits die Angebote der Kommunisten zur Aktionseinheit zurückzuweisen und andererseits gegenüber den kleinbürgerlichen Radikal-Sozialisten, mit denen sie in mannigfacher Weise zusammenwirkte, ihre Identität zu wahren. In umfangreichen Artikelserien, die dann auch in Broschürenform zusammengefaßt wurden, 39 setzte sich Blum von Januar bis März 1927, als der „Populaire" wieder als Tageszeitung erschien, mit dem Kommunismus und „Radikalismus" auseinander. Dieselben grundsätzlichen Argumente gegen den Kommunismus verwendend wie auf dem Nationalkongreß von Tours, war f ü r Blum die Einheit der Arbeiterklasse nur denkbar als „Rückkehr" der Kommunisten in die SFIO und Anerkennung ihrer angeblich „grundlegenden Irrtümer". 4 0 Die Unterscheidung zu den kleinbürgerlichen Radikal-Sozialisten blieb im wesentlichen auf die Aussage beschränkt, diese wollten die bestehende Gesellschaft nur durch Reformen verbessern, die Sozialisten sie a'ber durch die „soziale Revolution" in eine neue transformieren. Das Gemeinsame überwog jedoch, wenn Blum feststellte, die Forderungen der Radikal-Sozialisten, die das Erbe von 1789 darstellten, seien in der sozialistischen Doktrin enthalten, sie f ü h r e diese nur konsequent zu Ende. Auf dem Gebiet der Verteidigung der demokratischen Freiheiten, sozialer Reformen und einer Politik des Friedens könne die SFIO die Radikal-Sozialisten unterstützen. 41 In der Resolution des 24. Nationalkongresses der SFIO von Lyon im April 1927 „Die Beziehungen der Sozialistischen Partei mit anderen Parteien" fanden Blums Gedanken ihren parteioffiziellen Niederschlag. Allerdings fiel dabei die Kritik an den Radikal-Sozialisten und die theoretische Distanzierung von ihnen wesentlich deutlicher aus.42 Die von Zyromski geführten Linken vermochten keine eigene theoretische Konzeption hervorzubringen und beriefen sich wie das Zentrum auf die offizielle Parteidoktrin. Sie artikulierten jedoch Kritiken proletarischer Mitgliederkreise 39 40 41 42
Siehe Anm. 34. Blum, Bolchevisme, S. II; vgl. auch S. 1 ff., 5 ff. Vgl. ders., Radicalisme, S. 17, 22 f. Vgl. Parti Socialiste, S.F.I.O. 25' Congrès National, 26-30 Mai 1928, Toulouse. Rapports, Paris 1928, S. 5 ff.
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wegen der „ Ab Schwächung des umfassenden Klassenkonzepts"/' 3 Die Auseinandersetzung mit der zur Klassenkollaboration bereiten und nur Opportunitätsgründen folgenden Politik der Parteiführung veranlaßte Zyromski, bestimmte theoretische Positionen eindeutig revolutionär zu fassen. So betrachtete er den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie, sah er in der Diktatur des Proletariats eine in jedem Falle notwendige Etappe der revolutionären Entwicklung, wandte er sich gegen die strenge Trennung von „Ausübung " und „Eroberung" der Macht. 44 Von größter Bedeutung war jedoch seine Forderung, die Entfaltung des Massenkampfes zur Hauptrichtung der Tätigkeit der Partei zu machen. Im Unterschied zu Faure, der sich ebenfalls als „Guesdist" bezeichnete, begnügten sich Zyromski und seine Anhänger nicht damit, revolutionäre Formeln des Begründers der POF zu wiederholen, sondern suchten sie, aus ihnen politisches Handeln abzuleiten. Der Druck der Linken trug wesentlich dazu bei, daß sich die Partei der Regierungsbeteiligung enthielt und daß sie stets gegen das Militärbudget der bürgerlichen Regierungen stimmte. Sie war es auch, die ausgehend von ihrer steten Betonung der Einheit in der Zielsetzung von Sozialisten und Kommunisten zum Bahnbrecher der Einheitsfrontbewegung innerhalb der SFIO werden sollte.45 Auf seiten des rechten Parteiflügels ließen sich, zunächst vereinzelt, dann immer stärker Stimmen dahin gehend vernehmen, dem Klassenkampf- und Revolutionskonzept auch offen abzuschwören, sich ohne Wenn und Aber dem bürgerlich-parlamentarischen System zu verschreiben bzw. die neuen Entwicklungsetappen des Kapitalismus als Beweis für die notwendige „Revision" der Parteidoktrin aufzufassen. Paul-Boncour, einer der frühesten Repräsentanten dieser Richtung, äußerte rückblickend: Die SFIO stand nach dem Nationalkongreß von Tours vor der Notwendigkeit, „sich entschlossen in die Demokratie und die Nation zu integrieren. Das war in meinen Augen ein Vorteil, von dem man hätte besser Nutzen ziehen können." 46 Von der theoretischen Sterilität der SFIO, an der auch die Blumschen BegrifEskonstruktionen nichts änderten, insbesondere von ihrem völligen Negieren der Leninschen Imperialismus-Theorie profitierten jüngere Intellektuelle, die die Parteidoktrin einer Revision unterzogen. Wurden ihre Thesen auch nie offiziell anerkannt, so wurde ihnen doch auch kaum widersprochen, so daß die Partei auf Grund der zahlreichen Publikationen dieser Kreise auch ideologisch den Eindruck einer reformistischen Partei zu machen begann. Hinzu kam, daß verschiedene dieser Arbeiten aus dem engsten Mitarbeiterkreis von Blum selbst hervorgingen, so die von Jules Moch, Georges Monnet, Charles Spinasse. Revisionistische Beiträge steuerten vor allem Marcel Deat, Mitherausgeber von „La Vie Socialiste" und seit 1928 Verwaltungssekretär der sozialistischen Parlamentsfraktion, und Barthélémy Montagnon bei. Der Jurist André Philip machte
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Bataille Socialiste, 10. 6.1927. Vgl. Salycev, S. 93 ff. Zur Würdigung Zyromskis vgl. Merchav, Peretz, Linkssozialismus in Europa zwischen den Weltkriegen, Wien 1979, S. 73 f., 84. Paul-Boncour, Joseph, Entre deux guerres, Bd. 2, Paris 1945, S. 67.
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die Parteiöffentlichkeit mit Henri de Mans Werk „Au delà du Marxisme" („Jenseits des Marxismus") bekannt. 47 Galt in weiten Kreisen der SFIO der historische Materialismus nach wie vor als Methode jeder gesellschaftlichen Analyse, so stellte ihn z. B. Philip in Frage, indem er behauptete, der Marxismus habe den Sozialismus lediglich als ökonomische Doktrin aufgefaßt, er sei jedoch vor allem ein moralisches Ideal. Sein Buch über de Man widmete er seinen Freunden „der Föderation christlicher Studenten, die mich gelehrt haben, die Frage des sozialen Problems als eine Frage des Bewußtseins zu stellen".48 Damit beginnt ein Prozeß sichtbar zu werden, in dem der Sozialismus aus einer zu erkämpfenden Gesellschaftsordnung in ein System ethischer Werte verwandelt wird. Während die Kommunisten den forcierten Monopolisierungsprozeß und die damit verbundene Rationalisierung in der Periode der relativen Stabilisierung vom Standpunkt der Leninschen Imperialismustheorie beurteilten und die Arbeiterklasse zum Kampf gegen den Versuch des Kapitals, seinen Produktionsapparat auf Kosten der Werktätigen zu modernisieren, aufriefen/' 9 reihten sich französische Sozialisten in den Chor derer ein, die darin, wie vor allem Rudolf Hilferding, den Anbruch der Periode des „organisierten Kapitalismus" erblickten, der mittels der Politik der „Wirtschaftsdemokratie" das Hineinwachsen in den Sozialismus ohne Revolution ermögliche.50 Staatsmonopolistische Wirtschaftsregulierungen und die zeitweilige Verbesserung der Lebenslage bestimmter Schichten der Arbeiterklasse ließen sie zu der Schlußfolgerung kommen : das Ende des Klassenantagonismus sei gekommen, an dessen Stelle die Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit in Form der „democratie industrielle" und der „démocratie financière" treten werde.51 Mit Bewunderung betrachteten Moch, Montagnon und Philip, ebenso die CGT-Führung das „amerikanische Beispiel", schwärmten vom „Volkskapitalismus" in den USA. Moch forderte die sozialdemokratischen Parteien auf, ihre Doktrinen zu revidieren, um den neuen Formen, die der Kapitalismus von morgen annehmen werde, Rechnung zu tragen. 52 Die in verschiedenen Ländern sichtbar werdenden Tendenzen, mit staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismen Auswege aus der Krise zu suchen, bestärkten offensichtlich Vertreter des rechten Parteiflügels der SFIO in ihren Aktivitäten zur Revision der Parteidoktrin. Deat, der sich bereits in den 20er Jahren von der rationalistischen Tradition der französischen Linken ab- und
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Siehe Deat, Marcel, Perspectives Socialistes, Paris 1930; Moch, Jules, Socialisme et rationalisation, Bruxelles 1927; Montagnon, Barthélémy, Grandeur et Servitude socialistes, Paris 1929 ; Philip, André, Henri de Man et la crise doctrinale du socialisme, Paris 1928. — Vgl. auch die umfassende marxistische Analyse der Ideologie der SFIO durch Salycev, die auch ihre philosophischen und ökonomischen Aspekte umfaßt (S. 162 ff.). Philip, Geleitwort u. S. 49. Vgl. Histoire du P.C.F., S. 195. Vgl. Geschichte der SAI, S. 88 ff. Montagnon, S. 51; Moch, S. 132 f.; Philip, S. 36, 41 f. Vgl. Moch, S. 139 f.
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dem Neo-Idealismus und Irrationalismus zugewandt hatte, 53 folgte den Spuren von de Man.54 In seinen 1930 erschienenen „Perspectives Sozialistes" ersetzte er die historische Mission der Arbeiterklasse durch die Sammlung aller antikapitalistischer Klassen und Schichten. In einem 3-Stufen-Plan sah er vor, daß dieser „Antikapitalismus" mit Hilfe der staatlichen Macht den Kapitalismus von dieser verdrängt und seinen Profit beschneidet, die kapitalistische Wirtschaft rationalisiert und organisiert, im nationalen wie im europäischen Maßstab, und sie schließlich so einsetzt, daß sie sich als „sozial nützlich" erweist. Nicht das Eigentum, sondern seine Macht und der Profit seien das Entscheidende. Wesentliche Elemente der Doktrin der SFIO wurden durch Deats „Perspektiven" in Frage gestellt. An die Stelle der Vergesellschaftung der Produktionsmittel trat ihre Kontrolle, an die Stelle der sozialistischen Bewegung und ihrer Revolution die Ausnutzung der Macht des bürgerlichen Staates, an die Stelle der Arbeiterklasse als Triebkraft des Sozialismus traten die antikapitalistischen Mittelschichten. Praktische Folgerung aus diesem Konzept Deats war es zunächst, unbedingt und unter allen Umständen nach der Regierungsbeteiligung zu streben. Während Albert Thomas sein Werk enthusiastisch begrüßte, wurde es vom Sekretär der Föderation Nord, Jean-Baptiste Lebas, mit stillschweigender Billigung durch Faure, Blum und Auriol scharf als Neo-Sozialismus der Deklassierten angegriffen. M Was sich dann bis 1933 am äußersten rechten Flügel der Partei, vertreten von Deat, Montagnon und Adrien Marquet, als Neo-Sozialismus entwickelte, war ein von faschistischen Vorbildern beeinflußtes Konzept der Krisenbewältigung — „Ordnung, Autorität, Nation" waren seine Schlagworte. Es war letztlich unvereinbar mit den Wertevorstellungen der SFIO und signalisierte die Gefahr einer Kapitulation vor dem zunehmenden internationalen Druck des Faschismus unter rechten opportunistischen Kräften. Nach längeren Auseinandersetzungen wurden die „Neos" am 5. November 1933 aus der Partei ausgeschlossen. Wesentlicher Bestandteil der parteioffiziellen Ideologie und Politik waren Antikommunismus und Antisowjetismus. Der von den Gegnern der Komintern vor und während des Nationalkongresses von Tours eingeschlagene Kurs wurde weitergeführt, präzisiert und in bestimmten Perioden intensiviert. Es war vor allem die in den verschiedensten Variationen wiederholte Behauptung vom nichtsozialistischen Charakter der Oktoberrevolution, der Sowjetmacht und ihrer Politik, womit die Illegitimität des Kommunismus bewiesen werden und die eigene Existenz als die der wahren sozialistischen Arbeiterpartei gerechtfertigt werden sollte. Der Generalsekretär der SFIO, Faure, wurde zum erklärten und unermüdlichen Feind der Kommunisten und der Sowjetunion, der im Kommunismus ein Import aus einem barbarischen Land sah und in den Führern der F K P einfach „die Agenten Moskaus in Frankreich". 56 Blieb die intensive antikommunistische und antisowjetische Beeinflussung, mit der sich die SFIO naht^ Vgl. Grassman, S., L'évolution de Marcel Déat, in: Revue d'histoire de la deuxième guerre mondiale, No. 97, Jan. 1975, S. 9 f. 54 Vgl. Deat, S. 9 ff. 55 Vgl. Lebas, Jean, Le socialisme, but et moyen, suivi de la réfutation d' un néosocialisme, Lille 1931; Lefranc, S. 291. 36 Faure, Paul, La Scission socialiste en France et dans l'Internationale, Paris 1921, S. 4.
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los in die der bürgerlichen Medien einfügte, auch nicht ohne Wirkung auf die Mitgliedschaft, so gelang es doch zu keiner Zeit, den Gedanken der proletarischen Solidarität, der Interessenübereinstimmung mit den kommunistischen Klassenbrüdern auszurotten. Selbst in der dunkelsten Zeit der Beziehungen zwischen SFIO und FKP blieb der Gedanke der proletarischen Einheitsfront als Alternative zum „Kartell" mit bürgerlichen Parteien in der Parteilinken erhalten. Zyromskis Eintreten für das Zurückziehen des sozialistischen Kandidaten zugunsten von Maurice Thorez bei einer Nachwahl 1930 sei als Beispiel für diese Haltung genannt. Sie kostete ihn allerdings seine Funktion als Sekretär der Föderation Seine. Gegen die Offensive des Kapitals und angesichts der verschärften Klassenkämpfe in den kapitalistischen Ländern hatte die Komintern 1921 zur Herstellung der proletarischen Einheitsfront aufgerufen. Ihre „Leitsätze über die Einheitsfront" vom 18. Dezember 1921 sprachen sich für Übereinkommen mit den Parteien der II. Internationale und der Wiener Arbeitsgemeinschaft auf nationaler und internationaler Ebene aus. Die maßgebenden Kräfte in der SFIOFührung betrachteten die Initiativen der Kommunisten zur Herstellung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse als gefährlich für den inneren Zusammenhalt der sich restaurierenden Partei. Zur Abwehr der Einheitsfrontlosung beriefen sie sich auf die „unité organique", die die SFIO stets und immer anstrebe, und die die Kommunisten einfach dadurch wiederherstellen könnten, indem sie ins „alte Haus" zurückkehrten. Als die FKP57 am 6. November 1922 der SFIO eine gemeinsame Aktion für eine totale Amnestie der 1919/20 verurteilten Arbeiter und Soldaten und am 30. November ein gemeinsames Vorgehen zur Erfüllung der Tagesforderungen der Werktätigen vorschlug, wobei es am 23. November auch zu einem Treffen von Delegationen beider Parteien kam, war die Reaktion der CAP der SFIO negativ. Obwohl die FKP die Sozialisten an ihren Anspruch, eine proletarische Partei, eine Partei des Klassenkampfes zu sein, erinnerte und Garantien „gegen unlautere Manöver" gab, blieb die CAP in ihrer Ablehnung vom 6. Dezember 1922 dabei, die FKP als Spalterin der Arbeiterklasse zu bezeichnen.58 Während 'die französischen und deutschen Kommunisten gemeinsam die Werktätigen gegen das imperialistische Komplott der Ruhrbesetzung mobilisierten, appellierte die SFIO an den Völkerbund und lehnte die Vorschläge der Komintern und der FKP für die Einheitsfront gegen die Ruhrbesetzung ab. Den von der FKP bei einem Treffen von Delegationen beider Parteien am 28. Juni 1923 gemachten Vorschlag, die SFIO möge sich dem von FKP, CGTU und anderen Organisationen gebildeten Aktionskomitee gegen den Faschismus und die erneute Kriegsgefahr anschließen, wies die CAP am 18. Juli zurück. Ebenso verfuhr die SFIO-Führung mit den Vorschlägen der FKP, für die Parlamentswahlen 1924 und 1928 einen „Arbeiter-und-Bauern-Block" auf der Basis eines gemeinsamen Minimalprogramms zu bilden.59
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Die Losung der Einheitsfront war zunächst von der Führung der FKP abgelehnt worden, setzte sich aber im Herbst 1922 durch. Vgl. 20« Congrès National, S. 49 ff. Vgl. Histoire du P.C.F., S. 138, 148 ff., 202; 21« Congrès National, S. 36 ff.
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Bereits auf dem 20. Nationalkongreß hatte die SFIO eine Grundsatzentscheidung gegen die Einheitsfront im Februar 1922 gefällt, die bis 1934 gültig sein sollte.60 Die große Anziehungskraft, die der antikoloniale Kampf der FKP 1925 auf den Sozialisten nahestehende Arbeiter und Intellektuelle ausübte, ließ die SFIO ihre Ablehnung der Einheitsfront noch verstärken. Sie beschloß auf dem 23. Nationalkongreß vom Mai 1926 in Clermont-Ferrand das Verbot, sich individuell oder kollektiv den von Kommunisten inspirierten Organisationen, Komitees, Gruppierungen und Ligen anzuschließen. An dieses Verbot mußte Faure in einem Zirkular vom 26. Januar 1933 an die Föderationssekretäre erinnern, da trotz der ablehnenden Stellungnahme des Sekretariats der SAI und der CAP der SFIO zahlreiche Mitglieder an dem überparteilichen Antikriegskongreß in Amsterdam (27.-29. August 1932) teilgenommen hatten. Die CAP hatte ihnen bereits am 7. September 1932 Sanktionen angedroht, sollten sie an dem vom Amsterdamer Kongreß gebildeten permanenten Komitee mitarbeiten. 61 Um der wachsenden Resonanz der Einheitsfrontidee entgegenzuwirken und die FKP mit ihrem zahlenmäßigen Übergewicht zu erdrücken, .griff die SFIO am 29. Oktober 1932 einen Vorschlag des unbedeutenden „Parti d' Unité Prolétarienne" (PUP) zur Wiederherstellung der organisatorischen Einheit der Arbeiterbewegung auf. Da die Führung der SFIO nicht bereit war, auf die von der FKP verlangte Klärung der ideologischen Grundpositionen, die für die Schaffung der Einheitspartei notwendig war, einzugehen, mußte dieser in seiner politischen Zweckbestimmung durchsichtige Vorstoß scheitern.62 Er war aber ein Zeichen dafür, daß die mit der Krise gewachsene Gefahr der Reaktion und eines neuen Krieges zu einer Abschwächung des Antikommunismus führte, der ursprünglich als ideologische Stütze der reformistischen SFIO wirken sollte. Ein wesentlich positiveres Anzeichen dafür, als es die Aktion für die organisatorische Einheit darstellte, war der Vorstoß der' Föderation Seine auf dem Nationalrat vom 6. November 1932. Sie beantragte, der nächste Nationalkongreß möge die Frage der Einberufung eines internationalen Kongresses behandeln, an dem SAI, Komintern, Internationaler Gewerkschaftsbund (IGB) und Rote Gewerkschafts-Internationale (RGI) teilnehmen sollten.63 Die Föderation handelte damit im Gleichklang mit den Bemühungen der ILP und anderer linker Kräfte in der SAI. Die Führer der SFIO nutzten bestimmte theoretische Unzulänglichkeiten und politische Fehler der Kommunisten als Vorwand zur Ablehnung der proletarischen Einheitsfront, der sie aus grundsätzlicher Opposition gegen die proletarische Revolution und proletarische Massenaktionen feindlich gegenüberstanden.64 Solche Vorwände waren die unheilvolle Formulierung des Linkssektierers Albert Treint, man werde sich den reformistischen Chefs alternierend nähern
Ebenda, S. 34 f. «1 Parti Socialiste S.F.l.O. 30« Congrès National, 14-17 Juillet 1933, Paris. Rapports, Paris 1933, S. 65 ff. 62 Vgl. ebenda, S. 73ff.; Koller, Heinz, Frankreich zwischen Faschismus und Demokratie (1932-1934), Berlin 1978, S. 80 f. - Zur PUP siehe Anm. 20. 03 Vgl. 30. Congrès National, S. 20. 64 Siehe dazu vor allem Histoire du P.C.F., S. 125 ff., 174 ff., 215 ff., und Histoire du réformisme, S. 61.
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und wieder von ihnen entfernen, „wie sich die Hand beim Rupfen des Geflügels nähert und entfernt",63 und die falsche Sozialfaschiismus-These der Komintern. Ebensowenig wie der Antikommunismus hielt der Antisowjetismus der SFIO den Prüfungen der Zeit stand. Zunächst setzten die Parteiagitatoren die Argumentation der Minderheit vom Nationalkongreß in Tours fort, die Revolution in Rußland habe unter unreifen Bedingungen stattgefunden, sei nur eine politische gewesen, und was dort entstanden sei, sei kein Sozialismus. Die CAP rief zur Hilfe für die Hungernden in Sowjetrußland auf, und Longuet gab — die tatsächlichen Ursachen der Hungersnot negierend — dazu die diffamierende Begründung, man dürfe die Massen nicht für die verhängnisvollen Fehler der bolschewistischen Führer büßen lassen. Die SFIO protestierte gegen Prozesse, mit denen sich die junge Sowjetmacht gegen konterrevolutionäre Anschläge zur Wehr setzen mußte.60 In der „Neuen ökonomischen Politik" und in der Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen zu kapitalistischen Ländern, die man in demagogischer Weise als prinzipienlose Konzessionen gegenüber dem internationalen Kapitalismus verdächtigte, sahen die führenden Kräfte der SFIO die Bestätigung ihrer Theorie, daß die Oktoberrevolution Rußland nicht den Sozialismus gebracht habe. Als jedoch mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Planung und Industrialisierung die grundlegende Umgestaltung des Landes begann und diese eine mobilisierende Wirkung auch auf die sozialdemokratischen Werktätigen in der von der Krise erfaßten kapitalistischen Welt ausübte, intensivierte die SFIO ihre antisowjetische Propaganda mittels der von Kautsky entlehnten TotalitarismusDoktrin. In einem „Appell an die Werktätigen Frankreichs", beschlossen vom Nationalrat der SFIO am 19. Oktober 1930, hieß es: „Die Doktrin des russischen Bolschewismus, des italienischen Faschismus und des deutschen Rassismus haben trotz ihrer Unterschiede eine Ideologie des Krieges gemeinsam, die angesichts der ökonomischen Krise, verschuldet durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Probleme der Produktion und des Austausches zu lösen, und angesichts der Spaltung der Arbeiterklasse eine permanente Gefahr für den Frieden mit sich bringt."67 Während Otto Bauer im wahrscheinlichen Gelingen des ersten sowjetischen Fünfjahrplanes „wesentliche Elemente einer sozialistischen Gesellschaftsordnung verwirklicht"68 sah und deswegen von Kautsky und anderen sozialdemokratischen Führern heftig angegriffen wurde, blieb es für Blum beim nichtsozialistischen Charakter der sowjetischen Gesellschaft. Seit 1929 führte Blums enger Vertrauter und außenpolitischer Redakteur im „Populaire", der ExilMenschewik Oreste Rosenfeld, eine Kampagne gegen den ersten sowjetischen Fünfjahrplan.69 Dagegen erhoben sich bald Proteste seitens des linken Partei-
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20« Congrès National, S. 55, vgl. auch Histoire du P.C.F., S. 126. - Treint wurde 1928 aus der Partei ausgeschlossen und trat später der SFIO bei. Vgl. 19« Congrès National, S. 69; 20« Congrès National, S. 43; Le Populaire, 31. 7.1921. Parti Socialiste, S.F.I.O. 28« Congrès National, 24—27 Mai 1931, Tours. Rapports, Paris 1931, S. 18. Zit. nach Geschichte der SAI, S. 161. Parti Socialiste S.F.I.O. 26« Congrès National, Tenu à Nancy les 9, 10, 11 et 12 Juin 1929. Compte rendu sténographique, Paris 1929, S. 85. - Vgl. auch Blums Vorwort zu
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flügels. Auch bürgerliche Schriftsteller wiesen die Verleumdungen und Unterstellungen Rosenfelds zurück. Montagnon und Philip forderten ihn zu mehr Ernsthaftigkeit auf bei der Analyse des Phänomens der Industrialisierung eines bisher rückständigen Agrarlandes, die Auswirkungen für die gesamte Weltwirtschaft haben werde. Die Kritiken waren derart massiv, daß sich Blum auf dem 28. Nationalkongreß der SFIO vom Mai 1931 in Tours mit seiner gesamten Autorität vor Rosenfeld stellen mußte.70 Blum wiederholte seine Behauptung, daß es sich in der Sowjetunion um keine sozialistische Ordnung handele und „der Sozialismus" deswegen nicht zu leiden habe — weder vom Mißlingen noch vom Erfolg dieses sowjetischen Experiments. Die sowjetische Planwirtschaft bezeichnete Blum als Art neuen Kapitalismus ohne individuellen Profit, deren Industrialisierung durch Ausbeutung und Arbeitszwang mittels eines terroristischen Regimes erreicht werde. Wie die SAI insgesamt, so wollte auch Blum die Veränderung der inneren Verhältnisse in der Sowjetunion in „sozialdemokratischer" Richtung nicht durch eine militärische ausländische Intervention bewerkstelligt sehen, sondern erhoffte sich größere Aussichten dafür von möglichst engen diplomatischen und ökonomischen Beziehungen zwischen den kapitalistischen Ländern und der UdSSR. Die genannte Artikelserie mußte noch vor dem Februar 1934 abgebrochen werden, da sie, wie Blum resigniert feststellte, von zahlreichen Mitgliedern abgelehnt wurde. Die Wahrheit über das grandiose Aufbauwerk in der Sowjetunion, das so deutlich mit der Krise des Kapitalismus kontrastierte, brach sich trotz der Mühen antisowjetischer Publizisten Bahn. Die unermüdliche Aufklärungsarbeit der französischen Kommunisten hatte daran erheblichen Anteil.
3.
Zwischen „konstruktiver" Opposition und Regierungsbeteiligung
Die bürgerliche und sozialreformistische Literatur erweckt den Eindruck, als habe die SFIO durch ihre Ablehnung der Regierungsbeteiligung in der gesamten Periode von 1921 bis 1936 die Rolle einer echten Oppositionspartei gespielt und sich damit dem allgemeinen Trend in der internationalen Sozialdemokratie, für die die Regierungsübernahme im bürgerlichen Staat zu einer bloßen Frage der Taktik und tagespolitischer Entscheidungen geworden war, entgegengestellt.71 Indem die Regierungsbeteiligung zum Haupt- bzw. einzigen Kriterium für die Beurteilung der Stellung einer sozialdemokratischen Partei gegenüber
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den gesammèlten Artikeln Rosenfelds: Rosenfeld, Oreste, Le plan quinquennal. Examen critique, Paris 1931. Im Populaire vom 24.2.1931 kündigte Blum eine erneute Artikelserie seines Mitarbeiters an. Diese Ankündigung enthält die wesentlichen Elemente seiner damaligen Einschätzung der Sowjetunion. Vgl. zu folgendem 28' Congrès National. Compte rendu sténographique, S. 80 ff. ; vgl. Ziebura, S. 321. Siehe besonders Judt, La reconstruction, S. 167 ff., und Ziebura, S. 332 f. - Zum Problem der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung aus marxistischer Sicht vgl. Kircheisen, Inge, Die Sozialistische Arbeiter-Internationale und das Problem des Ministerialismus bis Ende der Periode der relativen Stabilisierung, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, 1981, 6, S. 24 ff.
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dem kapitalistischen Regime gemacht wind und die parteiinternen Diskussionen darum in den Vordergrund gerückt wenden, gerät die tatsächlich voranschreitende Integration der Partei in das politische Herrschaftssystem des französischen Imperialismus fast in Vergessenheit. Diese läßt sich in der Zielsetzung, dem Inhalt und der Form der parlamentarischen Aktion der Partei nachweisen. Die SFIO setzte die vom Aktionsprogramm von 1919 vorgezeichnete Linie der Festigung der kapitalistischen Ordnung durch eine innenpolitische Reformpolitik und eine Außenpolitik zum Ausgleich der interimperialistischen Widersprüche in die Praxis um. Die CAP bezeichnete es 1924 als Ziel der Partei, „die ökonomische und soziale Demokratie [zu] organisieren, um damit unsere noch so unvollkommene politische Demokratie zu vervollkommnen". 72 Die Partei zeigte sich stets bestrebt, darauf hinzuweisen, daß sie eine „positive Aktion" durchführe, d. h. „demokratisch" orientierte Regierungen unterstütze 73 bzw. gegenüber reaktionären Regierungen eine „konstruktive Opposition" betreibe. 74 Die Identifikation der Parteimehrheit mit dem bürgerlich-parlamentarischen System war total. Renaudel zeigte sich 1929 „überzeugt, daß die Aktion der Sozialistischen Partei . . . nicht außerhalb der Demokratie selbst durchgeführt werden kann, die sich auf die Kräfte stützt, die das allgemeine Wahlrecht bestimmt und präzisiert". 75 Entsprechend diesem bourgeoisen Selbstverständnis von Demokratie akzeptierten auch die Vertreter der Großbourgeoisie die parlamentarische Tätigkeit der SFIO. Poincaré bescheinigte in einer Rede am 25. März 1928 ausdrücklich die „loyale Opposition" der SFIO und brachte wiederholt seine Wertschätzung Blums zum Ausdruck. 76 Das innenpolitische Reformprogramm, das die SFIO in der Wahlagitation 1924, 1928 und 1932 propagierte und zur Grundlage f ü r Vereinbarungen mit den kleinbürgerlichen Radikal-Sozialisten machte, besaß trotz spezifischer Forderungen, die sich aus der unterschiedlichen Situation dieser Wahljahre ergaben, eine Reihe von Grundzügen. 77 1. Auf politischem Gebiet forderte die SFIO das Verhältniswahlrecht, das Frauenstimmrecht, die Abschaffung des Senats, die Verkürzung der Militärdienstpflicht, die Beibehaltung der Trennung von Staat und Kirche und ein weltliches, einheitliches, auf allen Stufen kostenfreies Erziehungssystem sowie eine allgemeine Amnestie f ü r politische Gefangene. Dieses Programm zielte auf den Ausbau des bürgerlich-parlamentarischen Systems und die Uberwindung der autoritären Zentralisation, um damit den Einfluß der politischen Reaktion 71 73 74
75 76 77
21. Congrès National, S. 12. Näheres dazu siehe S. 259 ff. Vgl. 19. Congrès National, S. 93; 24. Congrès National, S. 7 f.; 27. Congrès National, S. 134, 138 f.; Histoire du P.C.F., S. 208. 26. Congrès National. Compte réndu sténographique, S.. 404. Vgl. Ziebura, S. 373, 385. Vgl. zu Folgendem 20. Congrès National, S. 19 f.; 22. Congrès National, S. 20 ff.; 30. Congrès National, S. 11 f.; Le Programme du P.S. 1928, S. 10 ff.; Bourgin, Georges/ Carrère, Jean/Guerin, André, Manuel des partis politiques en France, Paris 1928, S. 182 ff. ; Judt, La reconstruction, S. 98 ff. ; Weill, Georges, Die Sozialistische Partei (Parti Socialiste) in Frankreich 1920—1928, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Leipzig, 1929, 1, S. 73 ff., 81 f. ; Willard, Socialisme, S. 115 f.
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zurückzudrängen. Die SFIO folgte hiermit traditionellen Forderungen der kleinbürgerlich-demokratischen Opposition. 2. Auf wirtschaftlichem Gebiet unterstützte die SFIO das Nationalisierungsprog r a m m der CGT, forderte vornehmlich die Verstaatlichung des Transportwesens und der Treibstoffherstellung, des Bergbaus, der metallurgischen Großunternehmen, der Wasserkraftwerke, der Großbanken und Versicherungsiunternehmen. 1932 reduzierte die SFIO in ihrem Bündnisangebot an die Radikal-Sozialisten die Nationalisierungsforderung jedoch entscheidend. Die verstaatlichten Betriebe sollten von Komitees geleitet werden, zu gleichen Teilen aus P r o d u zenten, Konsumenten und Regierungsvertretern zusammengesetzt, in den Privatbetrieben sollten Arbeiterkontrollen wirksam werden. Um Kleinbauern und Pächter gegen Spekulationen und Absatzschwierigkeiten zu schützen, setzte sich die SFIO f ü r die Bildung von Genossenschaften ein und entwickelte den Gedanken der Errichtung von „öffentlichen Ämtern f ü r Düngemittel und Getreide" mit der Befugnis, den M a r k t durch Preiskontrolle zu organisieren, Düngemittel, Maschinen und Kredite zur V e r f ü g u n g zu stellen. Entsprachen die agrarpolitischen Vorschläge tatsächlich den drängenden Tagesproblemen der werktätigen Landbevölkerung, so stellte das Nationalisierungsprogramm — zumal wenn m a n es in die „Ausübung der Macht" einordnet — eine Konzeption zur „technischen Reorganisation des Kapitalismus" dar. 78 3. Auf finanzpolitischem Gebiet, das ihre parlamentarische Tätigkeit am stärksten in Anspruch nahm, t r a t die SFIO f ü r die Realisierung der deutschen Reparationsverpflichtungen, aber, in Form von Naturallieferungen, ein und machte die Bezahlung der interalliierten Schulden von dieser Realisierung abhängig. Um die Kriegsfolgen zu beseitigen, den Franc zu stabilisieren und schließlich die Krise zu bekämpfen, b e f ü r w o r t e t e die SFIO „eine Steuerreform, die das Maxim u m der Lasten von den erworbenen Vermögen und den großen Einkommen tragen läßt". 7 9 In verschiedenen Formen schlug sie eine Kapital- oder Vermögensgabe, die progressive Vermögenssteuer bei gleichzeitiger steuerlicher Entlastung der niedrigen Einkommen vor. Hinzu k a m e n Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, gegen die Kapitalflucht ins Ausland, zum Schutz der S p a r einlagen. Die SFIO t r a t f ü r die Einschränkung des Militärbudgets, aber gegen Kürzungen auf den Gebieten Sozialwesen, Erziehung und Landwirtschaft ein. Die Parlamentsfraktion der SFIO w a n d t e sich in der Zeit der Krise zwar gegen die Deflationspolitik verschiedener Regierungen, mit denen diese die Lasten auf die Werktätigen abwälzten, betrieb aber diese Opposition äußerst gemäßigt und bezog die Massen außerhalb des Parlaments nicht in die Kampagne ein. 80 4. Auf sozialpolitischem Gebiet stand im Vordergrund des sozialistischen Forderungskataloges die volle Durchsetzung des Achtstundentages, der mit Beginn der Weltwirtschaftskrise die Forderung nach der 40-Stunden-Woche ohne Lohnminderung hinzugefügt wurde. Die SFIO f o r d e r t e das Recht der Gewerkschaf7S
Margairaz, Michel, A propos du Réformisme. Le Parti Socialiste S.F.I.O. face à 1' économie et à la société (1930—1939), in: Cahiers d'histoire de 1' Institut Maurice Thorez, Paris, 1975, 11, S. 13. 7:1 20' Congrès National, S. 19. 80 Vgl. Margairaz, A propos du Réformisme, S. 14. 17 J a h r b u c h 38
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ten zum Abschluß von Kollektivverträgen und zur Organisation auch der Beamten, die Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems — auch für die Beschäftigten in der Landwirtschaft — und vor allem eine zureichende Arbeitslosenversicherung. Verdeutlichen verschiedene politische und wirtschaftliche Programmpunkte die Absicht, das bestehende System zu stabilisieren bzw. .anpassungsfähiger an die sich verändernden Klassenkampfverhältnisse zu machen, ähnelten alle die Forderungen, die Interessen der Werktätigen artikulierten, sehr stark den unmittelbaren Kampfzielen der FKP.81 Es entsprach der Grundposition der reformistischen SFIO, die in der Bejahung der bürgerlich-parlamentarischen Staatsordnung bestand, daß sich ihre Repräsentanten in den Bürgermeistereien, in den Gemeinde-, Kantonal- und Departementsräten sowie im Parlament, in seinen Ausschüssen und in Regierungskommissionen als Teil dieser Ordnung verstanden. Innerhalb der SFIO gab es jedoch auch das immer stärker werdende Bestreben, die Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie bis zu Bündnissen mit der Partei der Radikal-Sozialisten und zum Eintritt in die Regierung zu führen. Zunächst schienen solche Absichten, die bereits im Frühjahr 1921 von Fernand Bouisson, Paul-Boncour und Varenne vertreten wurden, wenig erfolgversprechend zu sein. Scheinbar eindeutig hatte der Nationalrat der SFIO am 13. Februar 1921 erklärt: „Weder der Linksblock noch der Ministerialismus, gleichermaßen durch unsere Doktrinen und die Erfahrung verworfen, finden in unseren Reihen die mindeste Erfolgschance." Noch im Dezember 1922 erinnerte die CAP an diesen und frühere Beschlüsse: Die SFIO „verwirft jede politische Allianz, jedes Wahlbündnis mit anderen Parteien, die keine andere Konsequenz haben können, als ihren Charakter, ihre Doktrin und ihre Kampfkraft zu schwächen".82 Bald zeigte es sich, daß diese scheinbar so intransigente Position nur den Zweck gehabt hatte, diejenigen Föderationen bei der Stange zu halten, die sich auf dem Nationalkongreß von Tours für das „alte Haus" in der Erwartung ausgesprochen hatten, daß die SFIO weiterhin eine Partei des Klassenkampfes sein werde. In dem Maße, wie sich die Partei konsolidierte, keine Änderung des Mehrheitslisten-Wahlsystems auf Departementsebene mehr zu erwarten und unter den Radikal-Sozialisten eine Abwendung vom „Bloc national" zu verzeichnen war, gewann der Gedanke des „Linkskartells", der Wahlallianz mit den RadikalSozialisten zu den 1924 bevorstehenden Parlamentswahlen an Boden. Gleichzeitig damit stellte sich auch die Frage der Regierungsbeteiligung. Es verwundert deshalb nicht, daß die SFIO auch in dieser, zunächst so eindeutig beantworteten Frage zu schwanken begann. Sie suchte zunächst bei der SAI Hilfe. Am 13. Mai 1923 forderte der Nationalrat der SFIO von dem nach Hamburg einberufenen Gründungskongreß, „daß in die Tagesordnung des ersten Kongresses der wiederhergestellten Internationale das Problem der möglichen Machtausübung durch Sozialisten im kapitalistischen Regime aufgenommen wird".83 Auch später seitens der SFIO wiederholte Forderungen dieser Art konnten die SAI 81 82 33
Vgl. Histoire du P.C.F., S. 147. 19e Congrès National, S. 58; 20' Congrès National, S. 61. 21' Congrès National, S. 44.
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nicht veranlassen, diese Problematik zu behandeln, da eine Reihe Mitgliedsparteien von vornherein erklärte, keinerlei die Parteien bindende Beschlüsse in dieser Frage anerkennen zu wollen.8'' Nach heftigen Diskussionen beschloß der 21. Nationalkongreß der SFIO, vom 30. Januar bis 3. Februar 1924 in Marseille, gemeinsame Wahllisten mit den Radikal-Sozialisten aufzustellen, um den reaktionären „Bloc national" zu schlagen, ohne aber eine Regierungsbeteiligung ins Auge zu fassen. Die Hinwendung zur Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie wurde durch die Ablehnung des kommunistischen Angebots eines „Arbeiter-und-Bauern-Blocks" unterstrichen.815 Nach dem Beschluß des Nationalkongresses hatte jede Föderation ihren speziellen Fall der CAP vorzulegen, wonach entschieden wurde, wie in dem entsprechenden Wahlbezirk vorzugehen sei. Das Ergebnis sah so aus, daß 55 Föderationen mit den Radikal-Sozialisten gemeinsame Listen aufstellten, 17 Föderationen reine SFIO-Listen. 86 Am Wahlerfolg vom 11. Mai 1924 waren die Listen des Linkskartells mit 2 644 769, die reinen SFIO-Listen mit 749 674 Wählerstimmen beteiligt. 87 Der außerordentliche Nationalkongreß der SFIO am 1. und 2. Juni 1924 beschloß, die nach dem Wahlsieg des Linkskartells von Herriot beabsichtigte Regierungsbildung zu unterstützen und die Reformpolitik der Regierung parlamentarisch mitzutragen, wozu der Nationalkongreß die Parlamentsfraktion der Verpflichtung enthob, in jedem Fall gegen das gesamte Budget zu stimmen. Der Vorschlag der F K P zu einer gemeinsamen Front im Parlament wurde wiederum zurückgewiesen. 88 Die sowohl im Zentrum der Partei wie auch besonders in ihrem linken Flügel und dem proletarischen Teil ihrer Mitgliedschaft bestehende Abneigung gegen den „Ministerialismus" und die Berücksichtigung der Anziehungskraft der konsequent proletarisch-revolutionären Politik der F K P ließ die Parteiführung von der ihr angebotenen Beteiligung an der Regierung Herriot Abstand nehmen. Nach einem Treffen der Delegationen beider Parteien am 2. Juni 1924 und einem Schreiben von Herriot begründete Blum die Ablehnung damit, daß die SFIO ihre Wähler vor einer möglichen Enttäuschung bewahren wolle. Dieselbe Absage erhielt Herriot bei seinem zweiten, erfolglosen Versuch einer Regierungsbildung am 18. Juli 1926. 89 Die nun begonnene Politik der „Unterstützung" der Regierungen des Linkskartells wurde neben der Herriots auch den Regierungen von Paul Painlevé und Aristide Briand — wenn auch in eingeschränktem Maße — bis zum Frühjahr 1926 zuteil. Sie stellte für die SFIO eine gefährliche Gratwanderung dar. Einerseits wurde es im Laufe der Zeit immer schwieriger, die Unterstützung plausibel zu machen, da Herriot und seine Nachfolger insbesondere in der Finanzpolitik, d. h. der Kapitalabgabe, vor der Macht des Großkapitals zurückwichen, nur 84 83 36 87 88 £a
17*
Vgl. Kircheisen, Inge, S. 55; Geschichte der SAI, S. 55 ff. Vgl. 22« Congrès National, S. 7 ff.; Judt, La reconstruction, S. 178. Vgl. 22« Congrès National, S. 12. Ziebura, S. 339. Vgl. 22« Congrès National, S. 28 ff. ; Kircheisen, Inge, S. 52 ff. Vgl. Herriot, Edouard, Jadis. D'une guerre a l'autre. 1914-1936, Paris 1952, S. 135 f., 248 f.
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einen geringen Teil des Reformprogramms des Linkskartells verwirklichten und blutige Kolonialkriege in Marokko und Syrien führten. Seit dem Sommer 1925 war deshalb nur noch von „bedingter Unterstützung" die Rede.90 Andererseits stand die SFIO wegen ihres Verzichts auf den Massenkampf als Druckmittel gegen die Bourgeoisie, wegen der Unterordnung der Interessen der Arbeiterklasse unter die einer bürgerlichen Regierung und wegen des Abgehens von ihren eigenen Prinzipien unter scharfer Kritik seitens der FKP, einer Kritik, die auch in der Partei selbst mit Zunahme des Mißerfolgs der LinkskartellRegierungen anwuchs. Blum war sich dieser prekären Situation voll bewußt, als er die Stellung der SFIO-Fraktion subtil definierte: „Wir unterstützen die Regierung, aber ohne jede Zusammenarbeit und ohne jede regelmäßige Abstimmung mit ihr. Wir haben in der Majorität Platz genommen, aber ohne jedes Abkommen, ohne jeden beständigen Vertrag."91 Die Schwierigkeiten der Regierungen des Linkskartells lieferten dem rechten Flügel in der Partei Argumente, um auf den Eintritt der SFIO in die Regierung zu drängen: Nur eine Regierungsbeteiligung durch die SFIO könne den Sturz der Linksregierungen und die Wiederherstellung einer reaktionär geführten Parlamentsmehrheit verhindern. Nach dem Sturz Painlevés sprach sich die Parlamentsfraktion am 24. November 1925 für die Regierungsübernahme durch die SFIO, auch in Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien, aus. Mit 13 gegen 11 Stimmen verwarf die CAP am folgenden Tag diese Stellungnahme. Der vom rechten Parteiflügel daraufhin geforderte außerordentliche Nationalkongreß fand am 10. und 11. Januar 1926 in Paris statt. Inzwischen waren die Befürworter der Regierungsbeteiligung, die vornehmlich die Mehrheit der kleinbürgerlich-republikanisch gesinnten Föderationen aus dem Süden und Südwesten hinter sich wußten, zu einer Macht in der Partei geworden. Auf dem außerordentlichen Nationalkongreß im August 1925 waren sie noch mit 559 gegen 2 110 Mandaten unterlegen, im Januar 1926 vereinigten sie bereits 1 331 Mandate auf ihre Resolution.92 Die Resolution Faure obsiegte jedoch mit 1 766 Mandaten. Sie legte die Partei auf die Ablehnung der Teilnahme an einer von einer anderen Partei gebildeten Regierung fest, außergewöhnliche Umstände ausgenommen. Sie würde bereit sein, die Regierung allein zu bilden, unterstützt von den Gruppen der Linken, bzw. würde an einer Regierung teilnehmen, in der ihre Vertreter eine solche Autorität und die Mehrheit besäßen, um ihre Politik durchsetzen zu können.93 Blum, der diese Resolution befürwortete, hatte mit seinen Ausführungen über die „Ausübung der Macht" klargemacht, in welchem Rahmen eine unter diesen Bedingungen zustande gekommene Regierung handeln würde. Der Beschluß vom Januar 1926 stellte eine grundsätzliche Bereitschaftserklärung dar, im bürgerlich-parlamentarischen System auch Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wie andere Parteien der SAI verwies die SFIO dieses Problem in den Bereich der Taktik. 'M Vgl. Parti Socialiste. S.F.I.O. 23' Congrès National, 23, 24, 25 et 26 Mai 1926, Clermont - Ferrand. Rapports, Paris 1926, S. 20 f. 91 22' Congrès National, S. 101. 92 Vgl. Paul-Boncour, S. 93; 23« Congrès National, S. 20 f., 28 ff. 93 Ebenda, S. 30.
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Die Vertreter des Zentrums in der SFIO begründeten ihre vorsichtig taktierende Haltung zur Regierungsbeteiligung neben dem stereotypen Verweis auf die „Doktrin" mit dem Argument, bei einer zu engen Verbindung mit den RadikalSozialisten laufe die Partei Gefahr, ihre Identität zu verlieren, andererseits stehe man in einer Konkurrenzsituation zu einer relativ starken kommunistischen Partei. Im Unterschied dazu hatte die Ablehnung der Regierungsbeteiligung wie der „Unterstützung" seitens der Parteilinken prinzipiellen Charakter. „Dieser Kartellpolitik", sagte Zyromski auf dem 24. Nationalkongreß der SFIO 1927 in Lyon, „stellen wir im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft eine Politik des unabdingbaren Druckes entgegen, der von der Arbeiterklasse allein ausgeht . . . Durch selbständigen Druck der Arbeiterklasse erreicht man mehr, als wenn man sich mit den bürgerlichen Parteien verbündet." 94 Nach dem 23. Juli 1926 stand die Frage der „Unterstützung" wie der Regierungsbeteiligung zunächst nicht mehr zur Debatte, da Poincaré wieder an die Regierung gelangt war und sich auch Radikal-Sozialisten an seinen Kabinetten der „Nationalen Union" beteiligten. Doch auch in der Zeit der „konstruktiven Opposition" ging die intensive Zusammenarbeit der SFIO mit bürgerlichen Parteien und ihren Regierungen auf anderen Ebenen weiter. Deputierte der SFIO wirkten als Vorsitzende bzw. Berichterstatter von Parlamentsausschüssen, am 11. Januar 1927 wurde erstmalig ein Sozialist, Fernand Bouisson, zum Kammerpräsidenten gewählt und behielt dieses Amt bis 1936.95 Plädierten Renaudel und die Rechte für die „Freiheit" der Deputierten bei der Übernahme solcher Funktionen und für Gespräche mit bürgerlichen Parteien, so forderte die Gruppe „Bataille Socialiste" mehr Disziplin und Zurückhaltung. Besondere Streitpunkte in der Partei waren die Fälle Varenne und Paul-Boncour. Während Alexandre Varenne wegen der Übernahme der Funktion des Generalgouverneurs von Indochina 1925 bis 1928 nur zeitweilig die Partei verlassen mußte, nahm Joseph Paul-Boncour seinen Posten als ständiger Völkerbundsdelegierter Frankreichs seit 1924 und auch unter den Regierungen Poincaré—Briand wahr, bis ihn die Partei 1930 schließlich doch abberufen mußte, woraufhin er die SFIO verließ.96 Die Befürworter der Regierungsbeteiligung in der SFIO wurden wieder aktiv, nachdem am 28. Juni 1928 in Deutschland die Regierung der „Großen Koalition" unter Hermann Müller (SPD) gebildet worden war und sich die Radikal-Sozialisten auf ihrem Kongreß im November 1928 von der „Nationalen Union" Poincarés lossagten und seine Regierung verließen. Gestärkt durch die Wahlen von 1928 regierten Poincaré und sein Nachfolger Briand auch mit einer Kombination aus Parteien der Rechten und der Mitte weiter, allerdings mit einer unsicher gewordenen Unterstützung seitens der Radikal-Sozialisten. Nach dem Sturz Briands am 22. Oktober 1929 geschah im Lager der SFIO ähnliches wie im Herbst 1925: Der mit der Regierungsneubildung beauftragte Radikalsozialist Edouard Daladier bot den Sozialisten die Beteiligung an seinem Kabinett an. Gegen den Widerspruch Blums akzeptierte die Fraktion diesen Vorschlag mit 94
95 911
Parti Socialiste. S.F.I.O. 24« Congrès National, 17—20 Avril 1927, Lyon. Compte rendu sténographique, Paris 1927, S. 281. Er verließ allerdings 1934 die SFIO. Vgl. 23« Congrès National, S. 5, 19, 31; 24« Congrès National, S. 8 f., 57, 63; 26« Congrès National. Compte rendu sténographique, S. 398 ff.; 30« Congrès National, S. 3 f.
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36 gegen 12 Stimmen, der Nationalrat wandte sich am 29. Oktober mit der knappen Mehrheit von 1 590 zu 1 451 Mandaten dagegen. Der Kampf zwischen „Partizipationisten" und ihren Gegnern ging unvermindert weiter. Der von Renaudel erzwungene außerordentliche Nationalkongreß am 25. und 26. Januar 1930 bestätigte jedoch den Beschluß vom Januar 1926 und lehnte für die weitere Dauer der Legislaturperiode die Teilnahme an einer Regierung der RadikalSozialisten ab.97 Er offenbarte jedoch derart verhärtete Fronten in der Frage des Ministerialismus, daß Friedrich Adler, der Sekretär der SAI, mahnende Worte an die Minderheit richtete. Eine Regierungsbeteiligung könne nur dann erfolgreich sein, wenn die große Mehrheit der Parteimitglieder davon überzeugt sei. Grundsätzlich sah Adler Koalitionsregierungen und die Beteiligung daran von Parteien der SAI als logische Konsequenz des parlamentarischen Systems an. Die Beteiligung bringe einerseits Gefahren für eine sozialdemokratische Partei mit sich, andererseits dürfe sie nicht das parlamentarische Getriebe blockieren, da dies nur der Reaktion nutzen würde.98 Die lautstark geführten Diskussionen um die Beteiligung an der Regierung täuschten darüber hinweg, daß die Parlamentsfraktion weiterhin alles in ihren Kräften Liegende tat, um das „Kartell" mit den Radikal-Sozialisten am Leben zu erhalten, ihr Abschwenken zu Koalitionen mit den Parteien der Rechten zu verhindern. Die SFIO-Abgeordneten stimmten deshalb für die sehr kurzlebigen Versuche der Radikal-Sozialisten zur Regierungsbildung, so am 21. Februar 1930 für das Kabinett Camille Chautemps und am 13. Dezember für die Regierung des noch weiter rechts stehenden Radikalsozialisten Théodore Steeg. Diese Versuche, mit rein parlamentarischen Mitteln und fragwürdigen Ministerkombinationen das Voranschreiten der Reaktion aufzuhalten, scheiterten. Die reaktionäre Parlamentsmehrheit um André Tardieu und Pierre Laval stabilisierte sich, und ihre Regierungen wandten in zunehmendem Maße militärische Gewaltmittel an, um die mit der Weltwirtschaftskrise einhergehenden Streiks und Demonstrationen niederzuschlagen. Ohne ein förmliches Abkommen unterstützten sich SFIO und ein Teil der Radikal-Sozialisten sowie andere Linksgruppen bei den Parlamentswahlen von 1928 und 1932 dergestalt, daß sie im 2. Wahlgang zugunsten des jeweils besser plazierten den eigenen Kandidaten unter dem Motto der „republikanischen Disziplin" zurückzogen. Nach den Wahlen vom 1./8. Mai 1932, die den Parteien der Mitte und der Rechten Stimmenverluste, den Radikal-Sozialisten und der SFIO aber Gewinne brachten, mußte sich der 29. Nationalkongreß der SFIO, vom 29. Mai bis 1. Juni 1932 im Saal des Gymnasiums d'Huyghens in Paris tagend, wiederum mit der Haltung zur Regierung, diesmal wieder mit einer von Herriot zu bildenden, befassen. Unbedingt in dieses Kabinett einzutreten war die Losung des von Renaudel, Salomon Grumbach und Varenne vertretenen rechten Flügels, während Blum unter Berücksichtigung der Meinung der Parteibasis und des linken Flügels diese Beteiligung an Bedingungen knüpfen wollte. Blum vermochte als Ausweg aus den Auseinandersetzungen einen Katalog von 67
Vgl. 27« Congrès National, S. 5, 21 ff. Vgl. Adler, Friedrich, Die französischen Sozialisten und die Regierungsbeteiligung, in: Internationale Information für Pressezwecke, hrsg. vom Sekretariat der SAI, Nr. 7, 4. 2.1930, S. 59, 62 ff.
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„Bedingungen" zu formulieren, die sich zumeist aus pazifistischen und demokratischen Forderungen des Wahlprogramms der Radikal-Sozialisten, garniert mit Programmpunkten der SFIO, zusammensetzten. Mit diesem Dokument, „Cahiers d'Huyghens" genannt, trat die SFIO an die Partei der Radikal-Sozialisten heran. Dieses Angebot sah folgendermaßen aus : 1. Organisation des Friedens durch Schiedsgerichtsbarkeit und Verminderung der militärischen Ausgaben auf das Niveau von 1928 ; 2. Verbot des Waffenhandels ; 3. Budgetgleichgewicht, jedoch nicht mit Hilfe einer Deflationspolitik; 4. Schutz der Spareinlagen und Kontrolle der Banken ; 5. Schaffung von öff entlichen Ämtern für Düngemittel und Getreide ; 6. Nationalisierung der Eisenbahn; 7. Schaffung eines allgemeinen staatlichen Versichenungssystems ; 8. Einführung der 40-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Lohn ; f). allgemeine politische Amnestie.99 Doch Herriot war nicht gewillt, sich in dieser Weise festzulegen, da er gerade dem Finanzkapital zuliebe die Krise mit einer Deflationspolitik bekämpfen wollte, die auf Kosten der Werktätigen, zunächst der Gehälter und Renten gehen sollte.100 Um Herriot zur Annahme der bescheidenen „Cahiers d'Huyghens" zu zwingen, hätte es der geeinten Kraft der Arbeiterklasse bedurft, die die SFIO durch ihre Ablehnung der proletarischen Einheitsfront, wie sie die FKP immer wieder vorschlug, nicht zustande kommen ließ. Gerade die Parlamentsfraktion der SFIO, deren Hälfte ihre Mandate der „republikanischen Disziplin" der Radikal-Sozialisten verdankte, ließ sich eher von dieser Partei ins Schlepptau nehmen, als konsequent für ihre Forderungen zu kämpfen. So votierte die SFIO-Fraktion am 7. Juni 1932 für die Investitur und am 22. Dezember für die der Regierung Paul-Boncour.101 Die „Partizipationisten", die in der Parlamentsfraktion die Mehrheit bildeten, hatten sich nur widerstrebend dem Forderungskatalog von Huyghens angeschlossen. Anstatt ihn konsequent zu vertreten, waren sie eher bereit, ihn aufzugeben, sobald sich eine Möglichkeit bot, sich einer Regierungsmehrheit anzuschließen. Nur als Regierungspartei, als fest mit den bürgerlichen Parteien verbundene Kraft konnte ihrer Meinung nach die SFIO an der Bewältigung der Krise und der wachsenden internationalen Spannungen mitwirken. Dieser prnzipienlose Opportunismus brachte die Partei in die Gefahr, völlig von ihren proletarischen Wurzeln getrennt zu werden. Formierten sich einerseits die rechten Kräfte in der SFIO zum entscheidenden Schlag gegen das vorsichtig taktierende Zentrum, so wuchs andererseits der Einfluß und die Entschlossenheit der Linkskräfte, sich diesem Kurs im Schlepptau der Bourgeoisie zu widersetzen. Die seit 1931 auch in Frankreich voll einsetzende Wirtschaftskrise traf die Arbeiter und Angestellten besonders schwer, 9!l 103 101
Vgl. 30« Congrès National, S. 11 f. Herriot, S. 301. Vgl. auch Reynaud, Paul, Mémoires, Paris 1960, S. 341. Vgl. 30« Congrès National, S. 166. — Die SFIO stimmte jedoch gegen Herriots Budget und gegen solche sozialreaktionären Gesetze wie die 15prozentige Mieterhöhung im Juni 1932 und gegen die 5prozentige Steuererhöhung Paul-Boncours vom 28.1.1933.
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deren Lohnsumme 1932 nur noch 86,6 Prozent des Standes von 1930 ausmachte, während die Zahl der Arbeitslosen von 453 000 1931 auf 1,5 Millionen 1932 anstieg.102 Bauern, Handwerker ¡und kleine Kaufleute wurden ebenfalls von der Krise betroffen. Die Erbitterung über die volksfeindliche „Krisenfoewältigung" der Monopole und ihrer Interessenvertreter in Parlament und Regierung machte auch vor der werktätigen Basis der SFIO nicht halt, artikulierte sich in der Partei in einem zunehmenden Drängen auf eine konsequent proletarische Politik und die Herstellung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse. Das fand seinen Ausdruck in der Teilnahme zahlreicher Sozialisten am Antifaschistischen Arbeiterkongreß im Pariser Saal Pleyel im Juni 1933 und in der spontanen Bildung der Aktionseinheit beim antifaschistischen Generalstreik am 12. Februar 1934, wodurch der Weg zum Einheitsfrontabkommen zwischen FKP und SFIO eröffnet wurde.
4.
Ansätze einer alternativen Außenpolitik des Friedens, der Sicherheit und der Abrüstung
Mit der auf dem 18. Nationalkongreß der SFIO 1920 in Tours getroffenen Entscheidung der rechten und zentristischen Führer gegen den Anschluß an die Komintern hatten sie sich auch grundsätzlich gegen die revolutionäre, schon in der Vorkriegssozialdemokratie dominierende Idee des Kampfes zum Sturz der kapitalistischen Ordnung und damit der endgültigen Beseitigung der sozialen und politischen Wurzeln des Krieges ausgesprochen. Die Komintern machte sich Lenins Konzeption eines demokratischen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen zu eigen und sah in der jungen Sowjetmacht den entscheidenden Friedensfaktor, den das Weltproletariat mit allen Mitteln zu verteidigen verpflichtet war. Die Komintern rief zum Kampf gegen die imperialistische Nachkriegsordnung auf, da sie in ihr das Hauptinstrument im Kampf gegen die Sowjetmacht, zur Abwürgung des aus dem ersten Weltkrieg hervorgegangenen revolutionären Aufschwungs und zur Stabilisierung des imperialistischen Systems sah, einer Ordnung, die gleichzeitig den Keim zu neuen, noch furchtbareren Kriegen in sich trug. Die Komintern unterstützte nationale Befreiungsbewegungen und -kriege der kolonial unterdrückten Völker, da diese Bewegungen die Hauptverbündeten des Proletariats auf internationaler Ebene waren, den Aktionsradius des Imperialismus einengten und Voraussetzungen schufen, daß die bisher politisch entmündigte Mehrheit der Weltbevölkerung als aktiver Faktor die Weltgeschichte mitbestimmen konnte. Die SFIO trat mit dem Anspruch auf, das Vermächtnis Jaurès' erfüllen, seinen Kampf gegen Militarismus, Rüstungspolitiik und Krieg, für Abrüstung, Sicherheit und Erhaltung des Friedens weiterführen zu wollen. Sie war dazu motiviert durch die Tradition, durch ihre soziale Basis in den werktätigen Schichten, durch ihre Reformpolitik, die keine übermäßigen Rüstungslasten vertrug, und durch das Bestreben, die im Proletariat populäre Antikriegspropaganda nicht allein
102
Koller, S. 21, 24.
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den kommunistischen Parteien zu überlassen. Sie wirkte mit an dem Versuch der S A I , eine „reformistische Friedenspolitik" zu entwickeln.103 Das Erbe, auf das sich die SFIO in Auseinandersetzung mit der Komintern berief und das in ihren außenpolitischen Konzeptionen und Aktionen weiterwirkte, war jedoch von vornherein zwiespältig. Sozialchauvinisten und "Pazifisten aus der Zeit des ersten Weltkrieges hatten sich in der Führung der neuen Partei zusammengefunden, ohne daß die einen oder die anderen das Übergewicht erlangt hätten. Verfechter der Vaterlandisverteidigung standen neben „integralen" Pazifisten und solchen, die beides für vereinbar hielten. Es gab keine Distanzierung vom „Kriegssozialismus" der Jahre 1914 bis 1918 — andererseits war jedoch der Wille der Partei'basis, durch eine gerechte Fried ensordniung einen solchen Krieg nicht noch einmal zuzulassen, unüberhörbar und auch in den Führungsgremien der Partei existent. Aus der Resultante dieser K r ä f t e innerhalb der Partei und ihrer grundsätzlichen Stellungnahme in der internationalen Klassenauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus ergab sich eine Politik in außenpolitischen Fragen, die eine liberale Variante zu der von den bürgerlichen Rechtskräften verfochtenen Expansions- und Hegemonialpolitik darstellte. Die proimperialistische Politik der SFIO orientierte auf Ausgleich, Verständigung und Friedenssicherung zwischen den imperialistischen Staaten und berührte sich damit mit der Politik der bürgerlichen Mitte, verkörpert vor allem in Aristide Briand. Bereits 1922 hatte Lenin konstatiert: „Es gibt schließlich im Lager aller bürgerlichen Länder eine Strömung, die man als pazifistisch bezeichnen könnte und zu der auch die ganze II. und die zweieinhalbte Internationale gerechnet werden müssen."104 Die imperialistische Friedensordnung stellte mit ihren einzelnen Elementen, den Pariser Vorortverträgen, dem Völkerbund und den Regelungen der Wiedergutmachungs- und Schuldenprobleme den Rahmen dar, in dem sich die außenpolitischen Aktionen der SFIO vollzogen. Da der Versailler Vertrag ein Vertrag kapitalistischer Regierungen sei und nicht der Völker, hatte der Nationalrat der SFIO am 13. Juli 1919 beschlossen, die Parlamentsfraktion solle gegen seine Ratifizierung stimmen. Diese Abstimmung fiel jedoch durchaus nicht einheitlich aus. 49 Abgeordnete lehnten den Vertrag ab, zwei stimmten dafür, und 33 enthielten sich der Stimme.105 Wenn Blum später schrieb, „weder der internationale noch der französische Sozialismus haben die Friedensverträge jemals in Bausch und Bogen abgelehnt", 106 so kam er der Wahrheit wesentlich näher als bürgerliche Historiker, die wie Richard Gombin von einer „prinzipiellen Opposition" in den Nachkriegs jähren sprechen.107 Nach Ansicht der SFIO, die Blum in seiner vielbeachteten Rede auf dem Hamburger Gründungskongreß der S A I im Mai
103
Zur Rolle der S F I O innerhalb der S A I siehe Kircheisen,
Peter,
Die Sozialistische
Arbeiter-Internationale und der Versuch einer reformistischen Friedenspolitik, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie, 3/1 und 3/2, 1979. m
Lenin, W. I., Werke, Bd. 33, S. 250.
105 Vgl. Gombin,
Richard,
Les socialistes
et la guerre. L a
S.F.I.O. et la
étrangère française entre les deux guerres mondiales, Paris 1970, S. 13. 106
Blum, Léon, Ohne Abrüstung kein Friede, Berlin 1931, S. 25.
107
Gombin, S. 98. — In ähnlicher Weise auch Judt, L a reconstruction, S. 114.
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1923 umfassend darlegte, 108 entsprach der Vertrag von Versailles nicht den an ihn gesetzten Erwartungen. Sein Grundfehler bestände darin, daß er Elemente des Wilsonseihen „modernen Idealismus", den die SFIO ja so enthusiastisch begrüßt hatte, und der traditionellen europäischen Gewaltpolitik, der Ersetzung der Hegemonie einer Großmacht durch die der anderen, vereint habe. Die SFIO feierte die erstmalige Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Nationen in einen völkerrechtlichen Vertrag, die Beseitigung jahrhundertealten Unrechts durch die Schaffung z. B. neuer Staaten, beklagte aber gleichzeitig, daß neue Ungerechtigkeiten geschaffen worden sind. Die Partei verurteilte den Zwang, mit dem der Vertrag Deutschland auferlegt worden sei, vertrat aber andererseits das Recht Frankreichs auf Reparationen. In der offiziellen Parteimeinung suchte man, auch mit Rücksicht auf die internationalen Verbindungen der Partei, die Frage der Kriegsschuld Deutschlands zu umgehen, und leitete die deutsche Verpflichtung zur Reparationszahlung nicht daraus ab, sondern aus der juristischen Verpflichtung zur Wiedergutmachung angerichteten Schadens. In der Partei gab es jedoch auch lautstarke Stimmen, die in den chauvinistischen Chor derer einstimmten, die Deutschland angeblich wegen seiner Verantwortung für den Ausbruch des Krieges, in Wirklichkeit aber zur Befestigung der französischen Hegemoniestellung in Europa zur Kasse bitten wollten. 109 Neben den Reparationen und dem Internationalen Arbeitsamt stellte der Völkerbund das von der SFIO-Mehrheit am positivsten beurteilte Element der Nachkriegsordnung dar. Hatten Faure und Longuet zunächst noch Vorbehalte, da er ihnen als Instrument der Entente-Mächte erschien, unterstützten und verteidigten Paul-Boncour, Renaudel und Sembat ihn von vornherein rückhaltlos. Die Gruppe „Bataille socialiste" war später der Meinung, daß nicht der Völkerbund, sondern nur die SAI die Rolle des Friedensstifters übernehmen könne. Der Völkerbund entspreche nicht dem „sozialistischen Ideal", sondern sei lediglich ein Kampffeld, das es für die Propaganda der Arbeiterklasse zu nutzen gelte. Angesichts der erbitterten Klassenkämpfe in Deutschland im Jahre 1923 und der Linksentwicklung in der deutschen Sozialdemokratie legte sich Blum auf dem Hamburger SAI-Kongreß noch Zurückhaltung auf und meinte, die politischen Tatsachen machten „aus dem Völkerbund keinen Bund der Völker, sondern eine Vereinigung der Regierungen". 110 Prinzipiell betrachtete er Wilsons Gedanken des Völkerbundes als eine „unendlich hohe und große Idee", mit der sich die SFIO schließlich auch identifiziert hatte. Gerade deshalb setzte die SFIO auf einen erweiterten, demokratisierten, mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteten Völkerbund, der die Friedensverträge revidieren, Abrüstung, Zusammenarbeit und Sicherheit garantieren konnte, die größten Hoffnungen. Insbesondere nach 1924 glaubte die SFIO durch die vom Völkerbund und von Sicher-
los vgl
zu
Folgendem Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses
in Hamburg vom 21. bis 25. Mai 1923, Berlin 1923, S. 61 ff. tos vgl. Histoire du reformisme, Bd. 1, S. 55. — Die faktenmäßige Grundlage für die marxistische Interpretation in diesem Teil des Werkes stellt vor allem Gombin dar. 110 Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in Hamburg, S. 63.
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heitsverträgen garantierte „obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit" bald ans Ziel gelangt zu sein. Um den Völkerbund auf eine solide Grundlage zu stellen und gleichzeitig die Reparationszahlungen zugunsten Frankreichs zu sichern, entwickelten Vincent Auriol und Blum einen Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas, der neben zahlreichen illusionären Elementen doch deutliche Hinweise zur Charakterisierung der Gesamtpolitik der SFIO enthält. Der Nationalrat der SFIO erklärte am 13. Februar 1921 den Vertrag von Versailles für „unfähig, Europa aus dem ökonomischen und politischen Chaos, hervorgerufen diurch den Krieg, herauszuführen und Frankreich in die Lage zu versetzen, seine legitimen Forderungen nach Reparationen zu realisieren".111 Gegenüber der aktuellen internationalen Krise könne nur eine „ökonomische internationale Solidarität" Abhilfe schaffen. Am 15. März 1921 legte Auriol in der Kammer Grundzüge eines Plans zur „internationalen Kooperation der Regierungen, der wirtschaftlichen und Arbeiterorganisationen" vor,112 der im April von USPD und ILP übernommen und dann im Februar 1922 auf der Frankfurter Fünfländerkonferenz von Parteien der II. Internationale und der Wiener Arbeitsgemeinschaft Diskussionsgrundlage für das Reparationsprogramm der reformistischen Internationalen wurde. 1 ' 3 Der „Plan Auriol"114 enthielt Vorstellungen zur Harmonisierung und Planung des Weltmarkts mittels „internationaler Organismen für Wiederaufbau und Kredit", die die vorhandenen Rohstoffe, Fertigwaren und Kapitalien so lenken sollten, daß sie öffentlichen und nicht Interessen der Privatwirtschaft dienen würden. Die diesen Organismen angehörenden Staaten und Banken hatten durch langfristige Kredite den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete zu ermöglichen; Deutschland sollte seine Reparationen durch Vermittlung dieser Organe bezahlen. Neben der „Internationalisierung" der Reparationsfrage sollte mit dem „Plan Auriol" die Währung stabilisiert werden, wobei große Hoffnungen auf die finanzielle Unterstützung seitens der USA gesetzt wurden. Von den Krediten sollten nur die Staaten profitieren, „die die Abrüstung, einen Zusammenschluß für den Weltfrieden durch die Organisation der kollektiven Sicherheit und Schiedsgerichtsbarkeit akzeptierten und die Arbeits- und Lohnbedingungen respektierten, wie sie durch das Internationale Arbeitsamt festgesetzt wurden".115 Mit „kollektiver Sicherheit" war hier lediglich das Konzept eines innerimperialistischen Ausgleichs gemeint. Es beruhte auf der Illusion, daß die Einführung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen in den Völkerbundspakt und die nach dem Kriege allgemeine moralische Verurteilung eines Angriffskrieges die 114
19' Congrès National, S. 59 f. Ebenda, S. 103. U3 Vgl. 20« Congrès National, S. 9 ff. — Zum Aspekt der Reparationspolitik der SFIO, wie sie sich auf der Ebene der SAI darstellte, vgl. Schober, Frank, Der internationale Reformismus und die Reparationsfrage (1914—1932), phil. Diss. A, Halle 1984, S. 75 ff., 90 ff. w ' Siehe zu Folgendem den Text des Planes in Auriol, Vincent, Hier demain, Paris 1945, S. 268 ff. 115 Ebenda, S. 272. 1:2
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kapitalistischen Regierungen von jeder Aggressionspolitik zurückhalten würden. Der proimperialistische Charakter dieses Konzepts zeigte sich besonders deutlich in zwei wesentlichen Punkten: Einmal wiurde das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nicht a/uf die Kolonien angewandt. Wurde der Kolonialismus zwar als Ausdruck des Imperialismus angesehen und Mißbräuche der Kolonialverwaltung angeprangert, so stellte sich die Mehrheit der SFIO doch hinter das angebliche Recht Frankreichs, kraft seiner „zivilisatorischen Mission" weiterhin Vormund der unterentwickelten Kolonialvölker zu bleiben.116 Zum anderen bezogen sich die Rezepte der SFIO zur Stabilisierung des Friedens nur auf Mittelund Westeuropa. Sie lehnte zwar, wie offiziell auch die SAI, eine militärische Intervention gegen die UdSSR ab und trat für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit ihr ein. Sie trug aber durch die lautstark propagierte Ablehnung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihrer Verteidigungswürdigkeit — „totalitäre" Diktaturen gefährdeten den Frieden, meinte Blum — sowie durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetmacht, wie z. B. bei der Errichtung der Arbeiter-und-Bauernmacht in Georgien und dem Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre, zur Destabilisierung des Friedens und der Sicherheit in Osteuropa bei. Aus den Deutschland im Versailler Vertrag auferlegten Rüstungsbeschränkungen leitete die SFIO die Verpflichtung der übrigen Großmächte zur Abrüstung ab, die sie später, beginnend mit der Zeit der relativen Stabilisierung des Kapitalismus, als Voraussetzung für die Gewährleistung der Sicherheit betrachtete. Frankreich sollte als ersten Schritt seiner Armee einen rein defensiven Charakter geben und die Militändienstzeit auf acht Monate beschränken. „Ohne Abrüstung gibt es keinen sicheren und dauernden Frieden, keine festbegründete Sicherheit", schrieb Blum 1931.117 Es entsprach seiner idealistischen Betrachtungsweise, daß er die bis dahin nicht erfolgte Abrüstung auf „Mißtrauen" und „Argwohn" zwischen den Staaten zurückführte und die Sicherung des Friedens durch „die Kundgebung eines mannhaften Willens" für möglich hielt.118 Die Notwendigkeit der Mdbilisierung und Vereinigung aller Kräfte der Arbeiterund demokratischen Bewegung gegen den friedensbedrohenden Imperialismus und zur Verteidigung der Sowjetunion widersprach seinen antikommunistischen Ressentiments. Auch unterschätzte er die Gefährlichkeit nach wie vor bestehender imperialistischer Aggressionspolitik, die er als „nicht bloß verfemt, sondern abgetan" bezeichnete.110 Trotzdem war die von weiten Kreisen der SFIO und ihrer Anhängerschaft vertretene antiimperialistische Friedens- und Abrüstungspolitik, mochte sie auch mit keinen revolutionären Zielen verbunden sein, ein Beweis für das Vorhandensein eines breiten Friedenspotentials in der reformistischen Arbeiterbewegung. In der Zeit der Regierungen des „Bloc national" betrachtete sich die SFIO als parlamentarische Opposition, da sie insbesondere in der Politik Poincares keine Stärkung, sondern eine Schwächung der internationalen Position Frankreichs 1W
117 118 110
Vgl. Histoire du rejormisme, Bd. 1, S. 72 ff.; Judt, La reconstruction, S. 128 f.; Ziebura, S. 353. Blum, Ohne Abrüstung, S. 94. Vgl. ebenda, S. 9. Ebenda, S. 92.
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erblickte. Die von Poincaré verfolgte Politik der Einschüchterung und der Gewalt w u r d e in einer Erklärung der Parlamentsfraktion der SFIO vom 23. Mai 1922 „als die größte Gefahr f ü r den Wiederaufbau Frankreichs wie f ü r die moralische und materielle Wiederherstellung Europas" bezeichnet. Blum selbst n a n n t e Poincaré das Symbol einer nationalistischen Politik. 120 Tatsächlich lief der Kurs Poincarés, die Hegemonie des französischen Imperialismus über Europa auch mit militärischer Gewalt sicherzustellen, der Politik der SFIO zur interimperialistischen Verständigung entgegen. Die SFIO w a n d t e sich vor allem gegen das angestrebte System von F r e u n d schafts- und Beistandspakten. Die französischen Imperialisten wollten damit, gestützt auf ihre überlegene Militärmacht, die durch die Friedensordnung geschaffenen Verhältnisse und die eigene Hegemonie gegenüber den besiegten Mittelmächten und in Rivalität zu Großbritannien aufrechterhalten. Gleichzeitig sollte dieses Bündnissystem, so wie es Georges Clemenceau schon im Herbst 1919 verkündet hatte, als „Cordon sanitaire" gegenüber Sowjetrußland dienen, dieses nach dem Mißlingen der militärischen Intervention politisch isolieren und wirtschaftlich in die Knie zwingen. Das galt z. B. f ü r die Bündnisverträge mit Polen vom 19. F e b r u a r 1921 und der Tschechoslowakei vom 25. J a n u a r 1924 sowie f ü r den unter französischer Ägide stehenden Block der „Kleinen Entente" (Jugoslawien, Rumänien und Tschechoslowakei). Im einzelnen kritisierte die SFIO vor allem das Prinzip der Zweiseitigkeit bei diesen Verträgen und ihre Unbrauchbarkeit f ü r Abrüstungsibemühungen. Sie modifizierte ihre Ablehnung auch dahin gehend, daß sie sie dann akzeptierte, w e n n sie defensiven Charakter trügen und dem Völkerbundspakt entsprächen; dabei zog sie jedoch mehrseitige Sicherheits- und Garantiepakte im R a h m e n des Völkerbundes vor. Die Politik der Sanktionen, mit denen die Regierungen des „Bloc national" 1921/22 die deutschen Reparationszahlungen erzwingen wollten, lehnte die SFIO ab, da sie „die Parteien des Militarismus und der Revanche" in Deutschland f ö r d e r n und Frankreich in eine „unangenehme Lage vor der Welt" bringen würde. 121 Diese Politik bezeichnete Blum als gefährlich und unwirksam, da sie gerade die K r ä f t e in Deutschland schwächte, die, wie z. B. die Regierung Joseph Wirth, zum Entgegenkommen bereit waren. Statt dessen setzte sich die SFIO f ü r das von deutscher Seite geforderte Moratorium u n d andere Erleichterungen ein, u m Deutschland zahlungsfähig und zahlungswillig zu machen. 122 Die Opposition der SFIO gegenüber der Außenpolitik der Regierung Poincaré trug jedoch nicht den prinzipiellen Charakter des K a m p f e s der Komintern und der F K P gegen die friedensbedrohenden Akte des Imperialismus. Die SFIO urteilte vom S t a n d p u n k t der f ü r Frankreich zweckmäßigsten Mittel und Methoden. Das zeigte sich auch auf dem Höhepunkt d e r Auseinandersetzung mit der Regierung Poincaré nach der französisch-ibelgischen Okkupation des Ruhrgebietes.123 Die SFIO verurteilte diese Politik, weil sie gerade dem erstrebten Zweck, 120 121 122 Uï
20* Congrès National, S. 78 f. 19i Congrès National, S. 101; 20' Congrès National, S. 76. VgJ. Ziebura, S. 299 f. Vgl. allgemein dazu und zur Haltung von Komintern und SAI Schober, S. 102 ff., bes. S. 117 ff.
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die Reparationslieferungen zu sichern, entgegenlaufe. Die SFIO argumentierte, daß sich Frankreich damit von seinen Alliierten isoliert und mit der Meinung der Weltöffentlichkeit gebrochen habe, daß das Unternehmen auch finanziell und ökonomisch nichts gebracht habe außer Kosten, neuen Steuern und Anleihen. Neue Quellen ökonomischer und politischer Unruhen seien in Buropa geschaffen worden, die internationale Lösungen aufhielten, insbesondere eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland. Das Ruhrabenteuer habe die Zahlungskapazität Deutschlands nur vermindert.124 „Durch seine Haltung wird die Regierung des M. Poincaré zum Komplizen aller reaktionären Kräfte Deutschlands", erklärte die CAP am 10. Oktober 1923.125 Diesen markigen Worten stand jedoch die Haltung der Parlamentsfraktion entgegen, als die Kosten der Ruhrokkupation zur Debatte standen. 63 Abgeordnete, auch Blum, enthielten sich der Stimme. 39 votierten dafür.126 Die SFIO, zu dieser Zeit bereits mit der Rekonstruktion der reformistischen Internationale, der SAI, beschäftigt, lehnte das Angebot der Komintern, vereint die Kräfte der Arbeiterklasse gegen die deutschen und französischen Imperialisten zu mobilisieren, ab. Wie die anderen Parteien der Wiener Arbeitsgemeinschaft und der II. Internationale verwarf sie auch den Generalstreik gegen die Ruhnbesetzung. Statt dessen wandte sie sich von ihrem 20. Nationalkongreß — 3. bis 6. Februar in Lille — an den Völkerbund mit der Forderung, endgültig die Höhe der deutschen Reparationszahlungen festzulegen, die interalliierten Schulden zu annullieren, die ökonomische Rekonstruktion Europas, der deutschen Finanzen und der Währung in Angriff zu nehmen. Danach sollten die besetzten Gebiete geräumt werden.127 Am 15. März 1923 wurde dieses Schreiben auch dem USA-Botschafter überreicht. Die erwartete Reaktion des Völkerbundsrates blieb jedoch aus. In dieser Haltung zur Ruhrokkupation und den als Ausweg gezeigten Maßnahmen zeigte sich bereits eine Politik, die die Partei zur Befürwortung des am 9. April 1924 veröffentlichten Dawes-Plan führen sollte. Mochte die Haltung der SFIO auch im wohlverstandenen Interesse des französischen Imperialismus liegen, so sahen die reaktionären Kreise der Bourgeoisie in ihr eine zu gemäßigte, ja verräterische Haltung gegenüber dem deutschen Rivalen. Als Blum am 11. Januar 1923 in der Kammer gegen den Einmarsch ins Ruhrgebiet protestierte, ging seine Rede in einem von der Reaktion ausgelösten Tumult unter. Chauvinistische und antisemitische Anwürfe prasselten von den Bänken der Rechten auf Blum nieder: „Hier gibt es nur Platz für Franzosen! . . . Nach Jerusalem! . . . Sie stehen an der Seite Deutschlands! . . . Der protestierende Jude ! . . . Gegen die Interessen Frankreichs ! . . . Im Namen der jüdischen Internationale!"128 Im Scheitern der Politik Poincarés, die zum Zerfall des „Bloc national" und zum Sieg des Linkskartells bei den Parlamentswahlen am 11. Mai 1924 führte, sah 12
'' Vgl. 21c Congrès National, S. 28, 43, 90, 94; 22' Congrès National, S. 21. Ebenda, S. 54. 126 Ebenda, S. 158. 127 Vgl. 21« Congrès National, S. 28 ff. Unterzeichnet war der Brief auch von den am Kongreß von Lille teilnehmenden belgischen, britischen, deutschen und italienischen Gastdelegierten. 128 Zit. nach Ziebura, S. 303 f. 125
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die SFIO eine Bestätigung der von ihr verfolgten Linie. Blum, der wie Longuet stets Befürworter eines engen Zusammengehens mit Großbritannien war, betrachtete es als Teilerfolg seiner Auffassungen, daß die Regierung Herriot auf der Londoner Konferenz vom 16. Juli bis 16. August 1924 das Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit akzeptierte und zu praktischen und friedlichen Lösungen des Reparationsproblems durch die Annahme des Dawes-Plans gelangte.129 Die Regierungen des Linkskartells versuchten, durch eine Verständigung mit Deutschland Frankreichs Stellung wieder zu stärken und das imperialistische System in Europa durch ein Netz von mehrseitigen Sicherheits- und Garantieverträgen zu stabilisieren — sowohl gegen mögliche innere soziale Unruhen als auch zur Abwehr des sowjetischen Beispiels. Die französischen Kommunisten verwiesen darauf, daß eine solche Politik der weiteren Ausplünderung des deutschen Volkes und von Vereinbarungen zwischen den Imperialisten Frankreich weder die finanzielle Stabilität noch die Sicherung seiner Grenzen bringen würde. Dazu sei eine unabhängige Politik, begründet auf eine wirkliche Verständigung zwischen dem französischen und deutschen Volk und auf ein französisch-sowjetisches Bündnis, erforderlich. Die SFIO dagegen gab der Außenpolitik der Linkskartell-Regierungen ihre volle, zeitweilig sogar enthusiastische Zustimmung. Auf dem außerordentlichen Nationalkongreß der SFIO zur Vorbereitung der Wahlen im Dezember 1927 erklärte Auriol, die internationale Verständigung, die die Partei 1919 bis 1924 vorgeschlagen habe, sei nun auf dem Wege der Realisierung.130 Er folgte damit der allgemeinen Auffassung der SAI, die auf ihrem Kongreß in Marseille 1925 mit dem Anspruch aufgetreten war, daß die Stabilisierung der Nachkriegsverhältnisse auch ihr Werk sei und beweise, wie sich ihre reformistische Konzeption im politischen Leben durchzusetzen beginne.131 Neben dem Dawes-Plan, dem am 16. Oktober 1926 unterzeichneten Locarnopakt, der am 8. September 1926 erfolgten Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund fand vor allem der am 27. August 1928 unterzeichnete Briand-Kellog-Pakt zur Ächtung des Krieges als Mittel der Politik und Lösung internationaler Streitfälle sowie zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten die Zustimmung und Unterstützung seitens der SFIO. Da die Partei in der deutschfranzösischen Annäherung den Schlüssel für ein befriedetes Europa sah, forderte sie seit 1926 die vorzeitige Räumung des Rheinlands und die Rückgabe des Saargebietes an Deutschland, ohne erst die für 1935 vorgesehene Volksabstimmung abzuwarten. Als Höhepunkt der sogenannten Ära des Pazifismus wurden von den französischen Sozialisten ebenso wie von der SAI das auf Initiative von Herriot und dem Premier der ersten Labourregierung, Ramsay Mac Donald, zustande gekommene und am 2. Oktober 1924 von der Völkerbundsversammlung angenommene Genfer „Protokoll über die friedliche Beilegung internationaler Streitfälle" begrüßt. Die Vereinbarung trat nicht in Kraft, da es die britische konservative Regierung, die im November 1924 Mac Donald ablöste, nicht unterzeichnete, doch die Parteien der SAI fühlten sich weiterhin dem im Genfer Protokoll ausgedrückten Ideal „Schiedsverfahren, Sicherheit, Abrüstung" als l 2 a 22« Congrès National, S. 127. Mo vgl. Weill, S. 81. 131 Vgl. Geschichte der SAI, S. 62.
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Grundlage für eine dauerhafte Friedensordnung verpflichtet.132 Insbesondere war es Blum, der gestützt von der Mehrheit in der SFIO sich bemühte, die noch in einigen Parteien der SAI vorhandene Skepsis gegenüber dem die Regelungen von Versailles festschreibenden Genfer Protokoll und dem Locarno-Pakt zu zerstreuen. Die relative Entspannung in den internationalen Beziehungen ließ die SFIO zu der, jeder marxistischen Analyse widersprechenden Ansicht gelangen, der Kapitalismus habe sich zum Frieden bekehrt. Eine solche Auffassung verhinderte die Beteiligung von Sozialisten an Aktionen gegen die nach wie vor drohende Kriegsgefahr, wie sie insbesondere von den antisowjetischen Provokationen französischer Reaktionäre ausging. Die SFIO unterstützte die Hauptlinien der französischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur unter Herriot und den anderen Regierungen des Linkskartells, sondern auch, nachdem am 23. Juli 1926 Poincaré wiederum, diesmal als Chef einer Regierung der „Union national", von der Kammer bestätigt wurde. Die von der SFIO-Mehrheit gebilligte Tätigkeit von Paul-Boncour als französischer Völkenbundsdelegierter in Genf bis 1930 war ein wichtiges Indiz für die weitergehende außenpolitische Unterstützung. 133 Von Paul-Boncour verfaßt und in die Kammer eingebracht wurde ion März 1927 auch das Gesetz über die „Organisation der Nation im Kriege" („Lex Paul-Boncour"), das die vollständige Militarisierung des öffentlichen Lebens im Kriegsfall vorsah. Es wurde von der SFIO-Fraktion einstimmig als notwendige Maßnahme der Landesverteidigung — bei starkem Widerstand von der Partei-Linken und heftiger Kritik in der internationalen Sozialdemokratie — angenommen. Der Nationalrat der SFIO begründete am 31. Oktober 1926 seine Zustimmung zur französischen Außen- und Sicherheitspolitik damit, „daß sich der Wille zum Frieden in Frankreich so stark durch den republikanischen und sozialistischen Sieg vom 11. Mai 1924 eingeprägt hat und daß der Zusammenbruch der Politik des Mißtrauens, des Drucks und der Gewalt, wie sie zuvor verfolgt worden war, so grundsätzlicher Art war, daß die Rückkehr derjenigen an die Macht, die diese Politik vor 1924 praktiziert hatten, jedoch nicht genügte, die Richtlinien zu ändern, aus denen die Konferenz von Locamo, der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und das Treffen von Thoiry hervorgegangen waren".13/' Repräsentant der Politik, Frankreichs Hegemonie in Europa durch den Ausgleich zwischen den imperialistischen Mächten und eine flexible Haltung gegenüber der UdSSR zu befestigen, war Aristide Briand, der unter den verschiedensten Regierungen vom 17. April 1925 bis 12. Januar 1932 als französischer Außenminister tätig war. Auch Briand setzte mit den Freundschafts- und Bündnisverträgen mit Rumänien und Jugoslawien vom 10. Juni 1926 bzw. 11. November 1927 die hegemonial und antisowjetisch motivierte Allianzpoliti'k fort. Deswegen wurde er auch des öfteren von der SFIO gerügt. Grundsätzlich aber stand sie doch hinter seiner Politik und charakterisierte ihn als Mann der Linken in einem Kabinett der Rechten. Sie erblickte ebenso wie die gesamte liberale bürgerliche Presse in Briand den Architekten eines befriedeten und vereinten Europas. Doch die Illusionen des bürgerlichen Pazifismus, dem sich die SFIO so bereitlr2
m
Vgl. Kircheisen, Peter, 3/1, S. 16 ff. 26« Congrès National, S. 12. 24' Congrès National, S. 19.
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willig angeschlossen hatte, stießen sich schon bald an den harten Realitäten. Auch in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus — in F r a n k reich gekennzeichnet durch" Poincarés Franc-Stabilisierung — arrangierten sich die internationalen Finanz- und Währungsbeziehungen zwischen den imperialistischen Mächten nicht nach den Wünschen der SFIO, sondern unterlagen nach wie vor den Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz. Der wachsende Druck des USA-Finanzkapitals äußerte sich nicht nur in den zum Nachteil Frankreichs von der Regierung des Kartells 1924 unter Zurückweisung der Vorschläge der SFIO f ü r ein Zahlungsmoratorium abgeschlossenen Schuldenabkommen mit den USA und Großbritannien. 135 Bei der Vonbereitunig des Young-Plans, den die SFIO schließlich ebenso wie die genannten Schuldenabkommen akzeptierte, 136 kritisierte sie jedoch die faktische Kopplung der deutschen Reparationsleistungen und der interalliierten Schulden, wodurch ein Teil der deutschen Reparationszahlungen nicht zur Wiedergutmachung der materiellen Schäden Frankreichs, sondern zur Bezahlung der Kriegskosten verwendet werden würde. 137 Die Unterordnung der SFIO unter den außenpolitischen Kurs der linken und mittleren Fraktion der französischen Bourgeoisie kam noch deutlicher in der Haltung der Partei zur französischen Kolonialpolitik und zum nationalen Befreiungskampf der kolonialunterdrückten Völker zum Ausdruck. 138 Die von der zentristischen Mehrheit bestimmte und bereits charakterisierte Haltung sah im französischen Kolonialreich ein durch die zivilisatorische Überlegenheit F r a n k reichs und wirtschaftliche Notwendigkeit legitimiertes Faktum. Die Rechte, von Renaudels Fraktion und „überseeischen" Föderationen vertreten, verteidigte mit Intransigenz das Prinzip des Kolonialismus und brachte aus ihren Reihen mit Varenne den von 1925 bis 1928 amtierenden Generalgouverneur von Indochina hervor. Die Parteilinke betrachtete zwar die Kolonien als Ausbeutungsobjekt des Großkapitals, lehnte die wirtschaftliche Notwendigkeit des Kolonialbesitzes aib und bejahte das Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker. Aber auch sie vertrat das Prinzip der zivilisatorischen Mission der Mutterländer und fürchtete den Nationalismus der Kolonialvölker. Eine kohärente Politik gegenüber dem Problem des Kolonialismus und der nationalen Befreiung bfesaß die SFIO nicht. Bis auf den Krieg gegen die Rifkabylen 1925/26 wurde nur selten dazu in der Partei diskutiert. Die zentrale Idee bestand darin, die Kolonialvölker durch eine langsame Assimilation an die Zivilisation zur Selbstverwaltung und Selbstbestimmung zu führen. Abgelehnt dagegen und mit tiefer Feindseligkeit verfolgt wurde der nationale Befreiungskampf der Völker. Die SFIO sah darin eine reaktionäre Bewegung nationalistischen Charakters, die den Keim zum Weltkrieg in sich trage und letztlich das Werkzeug des internationalen Kommunismus darstelle. Die Partei lehnte die „reine und einfache Auf135 136
137
138
Vgl. Gombin, S. 72 f. Zur Ratifikation des Young-Plans durch die SFIO-Fraktion in Kammer und Senat vgl. die Berichte der Parlamentsgruppe in 27e Congrès National, S. 151 f.; 28e Congrès National, S. 140. Vgl. die Ausführungen Blums auf dem 26. Nationalkongreß der SFIO im Juni 1929 (26« Congrès National. Compte rendu sténographique, S. 130) ; Ziebura, S. 309. Vgl. hierzu die marxistische Analyse von Jean Charles in Histoire du réformisme, Bd. 1, S. 71 ff.
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gäbe der Kolonien" mit dem Argument ab, dadurch würde der Frieden noch mehr bedroht.139 Es waren die von der SFIO gestützten Regierungen des Linkskartells, die ab Mai 1925 den blutigen Unterdrückungsfeldzug gegen die am 19. September 1921 in Marokko proklamierte unabhängige Rifrepublik verschärften, der zu deren Kapitulation am 27. Mai 1926 führte, und die antikoloniale Erhebung des syrischen Volkes, die im Juli 1925 begonnen hatte, niederschlugen. Während die Komintern eine breite internationale Kampagne der Solidarität mit dem antiimperialistischen Kampf des marokkanischen und syrischen Volkes führte, mobilisierte die FKP breite Arbeitermassen in Frankreich zu außerparlamentarischen Aktionen gegen den Kolonialkrieg der Regierung. Sie forderte, die französischen Truppen aus Marokko abzuziehen, und richtete an die Soldaten den Aufruf, sich mit den marokkanischen Freiheitskämpfern zu verbrüdern. Auch zahlreiche Sektionen und auch Föderationen der SFIO verlangten das Ende des Krieges in Marokko und forderten von der Parlamentsfraktion die Ablehnung der Kredite für den Rifkrieg. Die Einheitsfrontpolitik der FKP machte 1925 sichtbare Fortschritte.140 Doch die marxistisch-leninistische Idee der antiimperialistischen Solidarität des Proletariats der Metropolen mit den Kolonialvölkern war der überwiegenden Mehrheit der SFIO, auch wenn sich viele gegen den Kolonialkrieg aussprachen, fremd. Rassistische und chauvinistische Ressentiments herrschten vor. Die Parlamentsfraktion sprach sich zwar für den Frieden in Marokko aus, aber gegen eine Ablehnung der Kredite für die Kriegführung, da dies zur Räumung Marokkos und zu einem Massaker unter den europäischen Siedlern führen würde. Angesichts einer FKP-Interpellation in der Kammer am 16. Juni 1925 enthielten sich 84 SFIO-Abgeordnete der Stimme, 17 stimmten für die Regierung und zwei mit der FKP.141 In einer einstimmig angenommenen Resolution des außerordentlichen Nationalkongresses vom 15. bis 18. August 1925 verleumdete die SFIO die FKP, sie vollziehe „die auswärtige Politik des Bolschewismus", und ihre Aufforderung zum Fraternisieren und Desertieren an die Soldaten sei eine „demagogische Aufreizung". „Die Sozialistische Partei", so hieß es in der Resolution, „erklärt sich als Gegner der Räumung Marokkos, die gefährlichere internationale Komplikationen hervorrufen würde als der Status quo."142 Ihre proimperialistische Haltung ließ die SFIO-Führung trotz aller wohlmeinenden Worte über die Entwicklung der Eingeborenen unter humanen Bedingungen in der Praxis zum Verfechter des zum Untergang verurteilten Kolonialsystems werden und maßgeblich die Haltung der SAI bestimmen. Von der faktischen Unterstützung des Krieges in Marokko 1925 führt eine Linie bis zu der unheilvollen Forcierung des Algerienkrieges und zur Suezaggression von 1956 durch die Regierung des SFIO-Generalsekretärs Guy Mollet. Die Periode der Weltwirtschaftskrise mit ihrer Zuspitzung aller imperialistischen Widersprüche, der heraufziehenden Gefahr eines neuen Krieges, der Gefahr der Vernichtung der parlamentarischen Demokratie in Mitteleuropa durch 139 140 141 142
Le Programme du P.S. 1928, S. 59. Vgl. Histoire du P.C.F., S. 158 ff. Vgl. Judt, La reconstruction, S. 131; Ziebura, S. 354. 23» Congrès National, S. 22.
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den Faschismus zerschlug die von der SFIO an die Diplomatie des Pazifismus g e k n ü p f t e n Erwartungen. In einem „Appell an die Arbeiter Frankreichs" bek r ä f t i g t e d e r Nationalrat der SFIO jedoch am 19. Oktober 1930 die systematische Fortsetzung d e r Politik zur Realisierung der Grundprinzipien des Genfer Protokolls von 1924: schnellste Rüstungsbegrenzung mit dem Endziel eines durch A b r ü s t u n g gesicherten Friedens. Wie bisher blieb es bei Appellen an den Völkerbund, die imperialistischen Regierungen und bei „eigenen" Friedenskampagnen. Eine Massenbewegung gegen den Krieg, die alle Arbeiterorganisationen und demokratischen K r ä f t e umfaßte, w u r d e von der SFIO wie von den anderen Mitgliedsparteien der SAI nach K r ä f t e n behindert, wie ihr Teilnahmeverbot am Amsterdamer Antikriegskongreß von 1932 bewies. Die drohenden G e f a h r e n der verschärften internationalen Situation waren dem Nationalrat der SFIO durchaus b e w u ß t : „Gegen den Erfolg dieses Friedenswerkes (d. h. der Verwirklichung des Genfer Protokolls — J. G.) erhöben sich f u r c h t b a r e Hindernisse: die Vorherrschaft des Faschismus in einem Teil Europas, die durch nationalistische Ideologien ständig wiederbelebten Gegensätze, die wirtschaftliche Unsicherheit, hervorgerufen durch die kapitalistischen Methoden, die zur Existenz einer Armee von 15 Millionen arbeitslosen Männern und F r a u e n führten." 1 4 3 Als Hauptmittel, diesen G e f a h r e n zu begegnen, h a t t e die SFIO im Gefolge der SAI seit 1928 auf eine Beschleunigung der Verhandlungen in der Abrüstungskommission des Völkerbundes gedrängt. Von November 1930 bis F e b r u a r 1931 schrieb Blum dazu 36 Artikel, die als Broschüre unter dem Titel „Ohne Abrüstung kein Frieden" zusammengefaßt u n d auch ins Deutsche übersetzt w u r den. Das Problem der Abrüstung n a h m in Blums Gedankenwelt einen zentralen Platz ein. Vieles davon h a t auch heute Gültigkeit. Blum erkannte, daß es nicht möglich sei, ohne die aktive und ständige Mitwirkung der Arbeiterorganisationen die Regierungen zu Rüstungsreduzierungen zu veranlassen. „Von dem Willen und dem Entschluß der Arbeiterschaft hängt also unter Umständen das Schicksal des Friedens und der Zivilisation ab. Wenn die Organisation der Arbeiterklasse mächtig genug ist, ihren Friedenswillen durchzusetzen, dann ist der Friede gerettet." 144 Diese Erkenntnis konnte jedoch solange nicht in der Praxis Früchte tragen, als Blum das Zusammenwirken mit der revolutionären Arbeiterbewegung ablehnte. Bei A n e r k e n n u n g d e r Erfolge der „pazifistischen Diplomatie" kritisierte sie Blum jedoch, weil sie sich zu einseitig mit dem Problem der Gewährleistung der Sicherheit durch ein System von Verträgen beschäftigt habe. Er wandte sich gegen die Ansicht d e r französischen Regierung, daß mehr Sicherheit n u r durch m e h r Rüstung zu erlangen sei: „In einer rüstenden Welt k a n n . . . die Gefahr des Krieges nicht verschwinden." 1 4 5 Auch in Polemik eu Ansichten Paul-Boncours meinte er, Frankreich habe n u n Sicherheit genug, u m abrüsten zu können. Um der Arbeit der Abrüstungskommission voranzuhelfen, sei eine entschlossene Initiative Frankreichs notwendig. Es solle einseitig abrüsten und w ü r d e damit soviel moralisches Prestige gewinnen, d a ß es u n a n g r e i f b a r würde.
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28' Congrès National, S. 19. Blum, Ohne Abrüstung, S. 84. Ebenda, S. 52.
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In Verkennung der weltpolitischen Situation hielt Blum noch längere Zeit an dieser Illusion fest. Die Partei teilte jedoch seine weitgehenden Vorschläge nicht. Auf dem 28. Nationalkongreß vom Mai 1931 in Tours sprach sich die SFIO für eine wirksame Herabsetzung der Rüstungen aus, die die Gleichheit der Staaten in der Abrüstung herstellen sollte, wobei Frankreich beispielgebend vorangehen sollte. Der Kongreß suchte auch, gegen den Rat Blums, die Haltung der Partei im Kriegsfall über die „Lex Paul-Boncour" hinaus zu definieren. Vertreter des Prinzips der Landesverteidigung, der Priorität der Sicherheit vor der Abrüstung, angeführt von Renaudel, standen dem Pazifismus des Zentrums und der Linken gegenüber. Die Resolution der Mehrheit bekannte sich zwar zum Prinzip der Landesverteidigung, machte den Abgeordneten der Partei aber die Ablehnung aller Militärkredite bürgerlicher Regierungen zur Pflicht und enthielt noch weitere Einschränkungen,146 so daß das Problem weiterhin ungelöst blieb. Die von der SFIO mit großen Hoffnungen begleitete Genfer Abrüstungskonferenz, die am 2. Februar 1932 begann, führte jedoch nicht zu den erwarteten französischen Initiativen. Blum lehnte sowohl den Tardieu-Plan als auch den der ursprünglich von der SFIO unterstützten Regierung Herriot ab, da sie nicht zur Abrüstung, sondern unter dem Deckmantel der „Gleichberechtigung" zur Wiederaufrüstung Deutschlands führen würden. In einer Rede in der Abgeordnetenkammer erklärte er am 28. Oktober 1932, die Herstellung der Rüstungsgleichheit könne nicht in der 'Wiederbewaffnung Deutschlands, sondern nur in der allgemeinen Abrüstung bestehen.1'*7 Der zunehmende Faschisierungsprozeß in Deutschland, der auch die Sicherheitsinteressen Frankreichs bedrohte, ließ Erfolge in der Abrüstung immer unwahrscheinlicher werden. Die in der Totalitarismus-Doktrin begründete sozialdemokratische Behauptung von der Friedensgefährdung durch faschistische und bolschewistische Diktaturen148 verlor auch in den eigenen Reihen immer mehr an Glaubwürdigkeit angesichts der Entwicklung izu Beginn der 30er Jahre. Eine konkrete Bedrohung des Friedens konnte Blum, trotz seiner antisowjetischen Vorbehalte, letztlich nur von der Seite des Faschismus und faschistischer Diktaturen erkennen. Bis 1933 hielt er dabei den italienischen Faschismus für wesentlich gefährlicher als den deutschen, sah er in ihim das Zentrum einer „Internationale des Faschismus, deren Fortschritte die größte Bedrohung des Friedens darstellen".149 Durch Schwäche und Duldung der „Demokratien des Westens" sei der Faschismus groß geworden, doch in diesen „Demokratien" sah er auch den Damm, der die faschistische Flut aufhalten kannte. Mit dieser relativ klaren Erkenntnis der faschistischen Gefahr seitens Italiens und seiner Satelliten im Donauraum kontrastiert die Unterschätzung des deutschen Faschismus. Wie die gesamte progressive Weltöffentlichkeit war auch die SFIO durch den Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 aufgeschreckt worden. Doch Blum verbreitete 146
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Vgl. den Bericht über die Sozialistische Partei SFIO in Vierter Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. Wien, 25. Juli bis 1. August 1931. Berichte und Verhandlungen, 1. Teil, Zürich 1932, S. 255 f.; Ziebura, S. 325 f. 30' Congrès National, S. 191. Vgl. auch Le Populaire, 20.11.1932. Blum, Ohne Abrüstung, S. 85, 87. Ebenda, S. 11.
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wie andere sozialdemokratische 'Führer einen k a u m noch zu überbietenden Zweckoptimismus: Elend und Verzweiflung seien d e r Nährboden f ü r Hitler gewesen, diese Ursachen w ü r d e n aber durch die heilende Wirkung d e r Zeit v e r gehen ! Der „tragikomische F ü h r e r der Nationalsozialisten" habe d e n Höhepunkt seiner Bahn bereits überschritten. 1 5 0 Diese fatalen Fehleinschätzungen setzten sich bis ins J a h r 1932 fort, als Blum in der Wiederwahl Hindenburgs den Sieg d e r Republik über d e n Nationalsozialismus feierte, die Regierung P a p e n als Schranke gegen Hitlers Regierungsantritt verstand und nach d e r Wahlniederlage d e r Nazipartei am 6. Novemiber 1932 den Weg zur Macht f ü r Hitler endgültig f ü r versperrt hielt. Die „legale" Form der Machtübertragung an die d e u t schen Faschisten durch das Monopolkapital am 30. J a n u a r 1933 interpretierte Blum a m 9. F e b r u a r im „Populaire" folgendermaßen: 1932 wollte Hitler Diktator werden, n u n ist er lediglich Chef einer Koalitionsregierung geworden. 101 Sehr bald m u ß t e er seinen I r r t u m begreifen. Blums Beurteilungen der Chancen d e r iNazipartei in Deutschland stützten sich allgemein auf die Uberschätzung d e r A b w e h r k r a f t der parlamentarischen Demokratie gegenüber dem Faschismus, d a er deren gemeinsame imperialistische Wurzel nicht erkannte, und speziell auf d e n festen Glauben, daß die SPD stark genug sei, d e m Faschismus den Weg zu verlegen. So lobte er z. B. die SPDReichstagsfraktion f ü r i h r e Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning, die es diesem ermöglichte, „mit Hitler und seinen Banden zu brechen". 152 Die SFIO unterstützte die vom Wiener SAI-Kongreß (23. J u l i - 1 . August 1931) vorgeschlagene „großzügige internationale Kreditaktion", u m den Zusammenbruch d e r deutschen Volkswirtschaft, die Gefahr eines Zusammenbruchs d e r deutschen Demokratie und des Sieges einer nationalistischen Diktatur in Deutschland zu verhindern. 1 5 3 Blum wünschte sich d a f ü r in seiner Rede auf dem Wiener Kongreß die Beteiligung und Initiative Frankreichs, da dies bestimmte Teile des deutschen Volkes überzeugen würde, daß m a n sein Heil nicht auf dem Wege des nationalistischen Hasses, sondern n u r auf dem des Vertrauens und d e r Zusammenarbeit aller Völker suchen könne. 154 Wenige Wochen, nachdem diese Worte gesprochen worden waren, zerbrach endgültig die sozialdemokratische Illusion, sozusagen durch eine Internationalisierung der parlamentarischen Demokratie mittels Völkerbund und Schiedsgerichtsbarkeit unter Beibehaltung der kapitalistischen Gesellschaftsform den Frieden sichern u n d organisieren zu können. Am 18. September 1931 begann J a p a n die Aggression gegen Nordostchina. Der offene Kampf d e r imperialistischen Mächte um die Aufteilung d e r Welt h a t t e erneut begonnen; d e r Völkerbund vermochte weder den Aggressor zu zügeln noch ihn ü b e r h a u p t als solchen zu benennen. Die imperialistische Nachkriegsoidnung, auf die sich die SFIO trotz Kritiken im einzelnen besonders seit 1924 gestützt hatte, begann auch in Europa zu wanken. Die „Kleine Entente" verlor durch die Hinwendung Jugoslawiens u n d Rumäniens zu Italien u n d zu faschistischen Herrschaftsmethoden 130 151 152 153 155
Ebenda, S. 15 f. Vgl. Le Populaire, 3. 8.1932; Ziebura, S. 324. Blum, Ohne Abrüstung, S. 13. Vgl. Vierter Kongreß der S.A.I., 2. Teil, Zürich 1932, S. 872 f. Ebenda, S. 700.
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an Wert. Das deutsch-österreichische Zollvereinsprojekt vom März 1931 lehnte die SFIO trotz ihrer prinzipiellen Befürwortung des „Anschlusses" als politisch unopportun, verfrüht und abenteuerlich ab, da es der Befriedigung von Forderungen deutscher Nationalisten diente.155 In der französischen Bourgeoisie gewann die Erkenntnis an Boden, daß angesichts der Schwächung der internationalen Positionen Frankreichs und der zunehmenden Bedrohung seiner Sicherheit durch ein dem Faschismus zutreibendes Deutschland ein neues Verhältnis zur UdSSR angestrebt werden müßte. Kündigte sich ein solcher Wandel, allerdings überschattet von antisowjetischen Kampagnen der Reaktion und der in Paris residierenden weißgardistischen Emigrantenzentralen, schon seit 1931 an, wurde er schließlich von der Regierung Herriot seit September 1932 vollzogen. Am 29. November 1932 wurde der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Frankreich unterzeichnet. Die gewachsene internationale Autorität des Sowjetstaates, die beeindruckende Wucht der Antikriegsbewegung, die sich auf dem Amsterdamer Kongreß im August 1932 dokumentiert hatte, sowie die realistischen Überlegungen von Teilen der französischen Bourgeoisie hatten ihn möglich gemacht. Die SFIO 'begrüßte den französisch-sowjetischen Nichtangriffspakt, hatte sie doch gerade auf dem Höhepunkt antisowjetischer Boykott- und Interventionsdrohungen seitens Großbritanniens und reaktionärer Kreise in Frankreich 1927/128 für die Aufrechterhaltung der Beziehungen zur UdSSR und ihren Eintritt in den Völkerbund plädiert und die Bildung von antisowjetischen Mächtegruppierungen verurteilt. Die SFIO war jedoch noch nicht bereit, in dem französisch-sowjetischen Nichtangriffspakt die Perspektive eines koordinierten sowjetisch-französischen Vorgehens gegen einen deutschen Angriff zu sehen. Bis März 1935 blieb die Mehrheit der Partei bei ihrer Haltung, daß weder wachsende militärische Stärke noch gegenseitige Beistandspakte den Frieden sicherer machen könnten.150 Erst die offene Aufkündigung der militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages durch Hitlerdeutschland am 16. März 1935 führte zum Umdenken in der SFIO und zur Zustimmung der Parteimehrheit zum sowjetisch-französischen Beistandsvertrag vom 2. Mai 1935. 1932 gerieten nicht nur die Abrüstungsbemühungen in die Sackgasse und erhielt Deutschland die Gleichberechtigung in der Rüstung zugesprochen. Dieses Jahr brachte auch das vorzeitige Ende der Reparationszahlungen, dieses von der SFIO stets als wesentlich betrachteten Elements des Versailler Vertrages. Die SFIO stimmte wegen der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland dem Hoover-Moratorium vom 20. Juni 1931 zu. Doch die Enttäuschung in den Reihen der SFIO wuchs in dem Maße, wie sich herausstellte, daß Deutschland durch Festsetzung der Endsumme von 3 Mrd. RM auf der Lausanner Konferenz im Juni/Juli 1932 einen Schuldennachlaß erhalten hatte, Frankreich aber nach wie vor seine Kriegsschulden an die USA zahlen sollte. Die Parlamentsfraktion der SFIO stimmte deshalb am 15. Dezember 1932 gemeinsam mit den Parteien der Rechten gegen die zur Zahlung 'bereite Regierung Herriot und führte mit ihren Sturz herbei.
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Vgl. Gombin, S. 127. ' Vgl. ebenda, S. 191.
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Die SFIO begründete ihre Ablehnung nicht wie die F K P mit der Tatsache, daß Herriot entschlossen war, die reichlich 19 Mill. Dollar wiederum aus Steuergeldern herauszupressen, und damit die Wallstreet auf Kosten der Werktätigen befriedigen wollte. Sie verwies statt dessen darauf, daß eine Zustimmung zur Zahlung die nationalistische 'Reaktion ermutigt hätte. Mit dem dadurch erfolgten Zwang f ü r Frankreich, wieder stärker auf deutsche Reparationen zu dringen, wären ¡die Spannungen in Europa entschieden verstärkt worden. 1 '' 7 Am Vorabend der Errichtung der faschistischen Diktatur im imperialistischen Deutschland, womit auch in Europa ein Herd des Krieges und eine ernste Gefahr f ü r die Sicherheit und nationale Integrität Frankreichs entstand, mußten die hochfliegenden Hoffnungen, mit denen Blum und die Mehrheit .der ISFIO die auf den Völkerbund gegründete Politik des Ausgleichs zwischen Frankreich und Deutschland, der Schiedsgerichtsbarkeit, der Abrüstung begleitet hatten, begraben werden. Die gefährliche Illusion vom' friedliebenden Kapitalismus zerstob. Die 1920 entstandene reformistische SFIO unterschied sich von den sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, die nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Gründung der Komintern die Mehrheit ihrer Mtiglieder und Anhänger behielten. Die Führung der SFIO w a r bis weit in die zweite Hälfte der 20er J a h r e mit der Wiedererrichtung der Partei und ihres Masseneinflusses beschäftigt. Die Tatsache, d a ß das gelang, beweist, daß auch in Frankreich objektive, mit der Entwicklung des Imperialismus zusammenhängende Bedingungen f ü r die Verbreitung des Reformismus bestanden. Dabei unterlag das Mitgliederund Wählerpotential der Partei erheblichen Wandlungen. Zwar behielt sie feste Positionen in bestimmten Arbeiterzentren, so vor allem im Norden des Landes, doch vollzog sich die eigentliche Dynamik ihrer Entwicklung in den kleinbürgerlich-bäuerlichen Departements der Mitte und des Südens. Das heterogene ideologische Erbe, das die Partei antrat, bestand aus dem Marxismus in der Interpretation von Guesde und verschiedenen nichtmarxistischen Strömungen des „französischen Sozialismus". Im Unterschied zu anderen sozialdemokratischen Parteien gerade West- und Nordeuropas behielt die SFIO ihre revolutionäre Programmatik bei, sie erstarrte jedoch zu leeren, von der praktischen Politik weit entfernten Formeln und konnte nicht die notwendige Imperialismusanalyse und die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen f ü r das Herankommen an die sozialistische Revolution ersetzen. Es wurden insbesondere von Blum Versuche unternommen, die Parteidoktrin im Sinne eines „demokratischen Sozialismus" weiterzuentwickeln. Lagen die Wurzeln f ü r das Hineinwachsen der Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat und damit f ü r den Opportunismus auch vor 1920, so wurde die SFIO erst in den 20er Jahren zu einer in das bürgerlich-parlamentarische System der III. Republik integrierten Partei. Sie begriff sich als eigentliche Bewahrerin dieses Systems gegen die Angriffe der Reaktion wie auch gegen die Politik der Kommunisten, die mittels einer revolutionären Massenbewegung die Herrschaft der Bourgeoisie durch die der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten zu ersetzen suchten.
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Vgl. Koller, S. 86; Gombin, S. 84.
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Die SFIO sah im liberalen Flügel der Bourgeoisie den geeigneten Bündnispartner, mit dessen Hilfe sie politische, wirtschaftliche und soziale Reformen anstrebte, die das parlamentarische System ausbauen und den Anteil der Werktätigen an den von ihnen geschaffenen Werten erhöhen sollten. Die Kompromißbereitschaft dieses liberalen Flügels gegenüber den rechten Parteien ließ dieses Konzept der SFIO jedoch immer wieder scheitern. Im Unterschiede zur Mehrzahl der anderen sozialdemokratischen Parteien dieser Zeit vermied sie den Eintritt in bürgerliche Koalitionsregierungen, was zu schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen führte. Die im wesentlichen vom bürgerlichen Pazifismus geprägten außenpolitischen Zielstellungen der SFIO orientierten sich an der Aufrechterhaltung der nach dem ersten Weltkrieg errungenen Vormachtstellung des französischen Imperialismus in Europa und seines Kolonialbesitzes. Mittels supranationaler Gremien und in einem Ausgleich der imperialistischen Gegensätze glaubte die SFiO zu kollektiver Sicherheit, Abrüstung und damit zur Gewährleistung des Friedens zu gelangen. Die friedenserhaltende Kraft der geeinten Arbeiter- und demokratischen Bewegung wurde nur verbal anerkannt, die Sowjetunion als Friedensfaktor in dieser Periode überhaupt nicht gesehen. Mit der Unterordnung unter den außenpolitischen Kurs des französischen Imperialismus — wenn auch seiner liberalen Vertreter — erhielt das auch und gerade in der SFIO vorhandene starke Friedenspotential wenig Möglichkeiten der Entfaltung. Neben der proimperialistischen wirkte innerhalb der SFIO auch eine proletarische Klassenlinie, die sich in dem Maße verstärkte, wie die reformistischen Konzepte an den harten Realitäten der Krise des Kapitalismus scheiterten, die rechten Kräfte durch ihr prinzipienloses Drängen nach Ministerposten an Einfluß verloren, die Anziehungskraft von Massenbewegungen gegen Krieg und Faschismus sowie die Autorität der Sowjetunion durch die erfolgreiche Errichtung des Sozialismus wuchsen. Im Unterschied zu anderen sozialdemokratischen Parteien besaß der an den Arbeiterinteressen orientierte Flügel in der Partei eine solche Stärke, daß er schließlich die Wendung der Partei zum zeitweiligen Eingehen auf die Einheits- und Volksfrontpolitik der Kommunisten stimulierte. Die innere Zersplitterung der Partei, die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre begann, verbunden mit dem Einfluß des Opportunismus und Antikommunismus, machte jedoch schließlich die Partei als Ganzes unfähig, eine erfolgreiche Politik zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie und der nationalen Interessen Frankreichs gegen den Angriff des Faschismus von innen und außen zu entwickeln.
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Deutsche Emigration in Österreich 1933—1938
In der Geschichtsliteratur fand .bislang — nach der jetzigen Kenntnis — das deutsche Exil in Österreich keine und sei es auch nur überblicksartige Darstellung, sieht man von der mehr episodischen Betrachtung auf zwei Dutzend Seiten in der Arbeit Evelyn Lacinas über die deutschsprachige Emigration in verschiedenen Ländern ab.1 Bei seinen folgenden Ausführungen stützt sich der Verfasser auf Erinnerungen von Exilanten, auf die zeitgenössische Presse österreichischer Arbeiterparteien und -Organisationen, auf Materialien in Wiener Archiven, namentlich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, auf biographische Handbücher, wenige spezielle Beiträge in Sammelbänden sowie Darstellungen einzelner Berufsgruppen deutscher Emigranten in mehreren Staaten, so Schauspieler bzw. Filmschauspieler, und auf Abhandlungen über bestimmte Zeitschriften. Von einigen der in diesem Beitrag genannten Personen ist dem Autor nur bekannt, daß sie nach Österreich emigrierten, ohne daß er etwas über ihre berufliche Betätigung und ihr politisches Engagement dort auszusagen vermag. Überhaupt ist das von ihm behandelte Thema noch ein weithin offenes Forschungsfeld, so daß abschließend nur eine vorläufige verallgemeinernde Zusammenfassung versucht werden kann. Nach Angaben des Hohen Kommissars des Völkerbundes für die Flüchtlinge aus Deutschland, des Amerikaners James MacDonald, befanden sich Mitte Juni 1935 von insgesamt 25 700 in ganz Europa gezählten [deutschen Emigranten — das Völkerbundkomitee für internationale Emigrantenhilfe nannte für 1936 insgesamt 80 000 bis 100 000 Flüchtlinge aus Deutschland - 900 in Österreich, 3 sicherlich eine zu niedrig angesetzte Ziffer, da sie zahlreiche illegal Eingewanderte nicht erfaßte. Dieser Staat stand damit — der Statistik des Hohen Kommissars zufolge — Mitte 1935 an achter Stelle jener Länder, .die deutsche Emigranten nach der Errichtung der faschistischen Diktatur als Zuflucht gewählt hatten. Aus der Aufstellung des Hohen Kommissars geht hervor, daß bei den 900 diejenigen 1
2
Lacina, Evelyn, Emigration 1933—1945. Sozial-historische Darstellung der deutschsprachigen Emigration und einiger ihrer Asylländer aufgrund ausgewählter zeitgenössischer Selbstzeugnisse, Stuttgart 1982, S. 195 ff. Franck, Wolf, Führer durch die deutsche Emigration, Paris 1935, S. 33; Schiller, Dieter/Pech, Karlheinz/Herrmann, Regine/Hahn, Manfred, Exil in Frankreich, Leipzig 1981, S. 59.
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nicht erfaßt waren, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen und nach 1933 aus Deutschland in ihre Heimat repatriierten, darunter auch zahlreiche Österreicher, die längere Zeit in Deutschland, vor allem in Berlin, gelebt und gearbeitet hatten. So mancher dieser Österreicher — ob nun mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft — betrachtete sich als Emigrant. Im folgenden wird bei der Nennung von Namen darauf verwiesen, ob die Betreffenden gebürtige Österreicher waren, ohne im einzelnen nachweisen zu können, welche Staatsbürgerschaft sie 1933 besaßen. Prozentzahlen über die politische und soziale Zusammensetzung der deutschen Emigration in diesem Land zu nennen, ist nicht möglich. Es kann angenommen werden, daß sich der Großteil aus sogenannten Unpolitischen zusammensetzte, die aus rassischen und religiösen Gründen aus Deutschland geflüchtet waren. Jedoch läßt sich feststellen, daß der Anteil von Mitgliedern der KPD und der SPD sowie diesen Parteien nahestehender Intellektueller sehr gering war und sich nach den Februarkämpfen 1934 noch weiter verminderte, da die meisten nun diesen Staat verließen, wenn sie ihn nicht bereits zuvor wegen der Bedingungen unter dem diktatorischen Regime des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß aus 'der Christlichsozialen Partei lediglich als Durchgangsstadium betrachtet hatten. Auch ein Teil der bürgerlichen deutschen Exilanten, überwiegend Angehörige der Intelligenz, oftmals Juden, ging nach einiger Zeit in andere Staaten. Vermutlich die Mehrheit von ihnen verließ Österreich erst angesichts oder unmittelbar nach der Annexion durch Hitlerdeutschland im März 1938. Verständlicherweise ist mehr über die Tätigkeit von bürgerlichen Politikern, Journalisten und Kulturschaffenden überliefert als von Angehörigen der Arbeiterparteien, die als Kommunisten übeihaupt nicht, als Sozialdemokraten nur bis zum Februar 1934 in der Öffentlichkeit wirken konnten. Denn die KPÖ war seit Mai 1933 illegal, die SPÖ wurde nach dem Februar 1934 und der unter ihrer Führung stehende Republikanische Schutzbund bereits im März 1933 verboten.
1.
Mitglieder der KPD und der SPD sowie mit ihnen verbundene Angehörige der Intelligenz
1.1.
Kommunisten und ihnen nahestehende Intellektuelle
Die Zahl der nach oder über Österreich emigrierenden Kommunisten war verschwindend gering, weil sich die Emigrantenüberwachung der Behörden des Dollfuß-Regimes vornehmlich auf sie richtete und die illegale KPÖ nur geringe Möglichkeiten der Hilfe besaß. Der zumeist kurze Aufenthalt einiger deutscher Kommunisten — man kann sie nicht im eigentlichen Sinne als Emigranten in Österreich bezeichnen — zur Erfüllung bestimmter Aufträge erfolgte überwiegend ebenso illegal wieder Grenzübergang. Als ein Beispiel dafür sei Jan Koplowitz angeführt, der 1933 aus Breslau in die CÖR exiliert war und 1936 in Prag von Funktionären der KPD die Aufgabe erhielt, Kontakt zu einem Mitglied der KPÖ in Wien aufzunehmen. Nach Überschreiten der österreichischen Grenze zu Herbstbeginn 1936 geriet Koplowitz in ein Manöver der Heimwehr und wurde festgenommen, dann wegen unerlaubten Grenzübergangs zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Danach schob man ihn heimlich wieder in die CSR ab. Koplo-
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witz, der unbedingt seinen Auftrag erfüllen wollte, stellte sich freiwillig der Bahnhofswache im tschechischen Grenzort in der Hoffnung, er würde wieder nach Österreich zurückgeschickt. „Ich gestand", erinnert er sich, „daß ich als deutscher Emigrant aus der CSR ausgewiesen worden sei, daß mich die Österreicher nun wieder über die Grenze ,gestellt' hätten. Mit Krokodilstränen im Auge behauptete ich, mein Gewissen erlaube mir nicht, die Gesetze der CSR zu brechen und verbotenes Asyl im Lande zu suchen. Eben deshalb hätte ich mich freiwillig bei ihnen gemeldet." 3 Nachdem auf dem Grenzbahnhof die Fahrgäste des internationalen Zuges nach Wien kontrolliert worden waren, brachte die Bahnhofswache Koplowitz unauffällig in den Zug. So gelangte er in die österreichische Hauptstadt. Zunächst fand er seinen Kontaktmann nicht. Nachdem er zufällig den Schauspieler Karl Paryla getroffen hatte — beide kannten sich aus Breslau, als Paryla dort auftrat und Koplowitz als Theaterkritiker für die hier erscheinende •„Arbeiter-Zeitung für Schlesien und Oberschlesien" schrieb —, half ihm dieser, jenen österreichischen Kommunisten zu treffen, den er suchte. Über den genauen Inhalt seines Auftrages äußert sich Koplowitz in seinen Memoiren nicht. Aus ihnen kann man jedoch entnehmen, daß er offenbar österreichische Kommunisten bei der illegalen Herstellung von Flugblättern unterstützte. Als die Gefahr seiner Verhaftung drohte, rieten ihm diese Wiener Antifaschisten, wieder in die CSR zurückzukehren. Weihnachten 1936 brach Koplowitz auf. An der österreichischen Grenze wurde er abermals festgenommen, am nächsten Morgen jedoch heimlich abgeschoben mit dem ausdrücklichen Hinweis, das Gebäude der tschechischen Grenzkontrolle zu umgehen. Den Weg dazu beschrieb ihm ein österreichischer Grenzbeamter sehr detailliert. 4 Johannes R. Becher, in den letzten Wochen vor der Hitlerregierung Feuilletonredakteur des Zentralorgans der KPD „Die Rote Fahne" in Berlin, der im April 1933 Deutschland verlassen hatte, hielt sich eine Zeitlang in Österreich auf. Im Verlauf einer Reise durch verschiedene europäische Länder von Anfang Juli bis Ende September 1933, die er in seiner Funktion als Mitglied des Sekretariats der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS) unternahm, um die Sammlung und Zusammenarbeit aller antifaschistischen Schriftsteller sowie einen Kongreß, der dann im Juni 1935 in Paris stattfand, vorzubereiten, war er auch in Wien. Er veranlaßte Johannes Wertheim, sich für die Überwindung der Stagnation in der Arbeit des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Österreichs einzusetzen. Mit dem emigrierten deutschen Schriftsteller Oskar Maria Graf führte Becher mehrere Gespräche, „und wir verabredeten, daß er versuchen solle, um sich herum einen Kreis von Schriftstellern zu bilden, einerseits um die Mitarbeiter an den,Neuen Deutschen Blättern' zu organisieren, andererseits um mit ihnen einen Kern zu bilden, der auch in Österreich antifaschistische Kräfte in der Literatur sammeln solle. Durch Vermittlung von Oskar Maria Graf hatte ich eine längere Aussprache mit dem Leiter des Arbeiterbildungsinstituts (gemeint ist die Zentralstelle für das Bildungswesen — K. M.) der SPÖ, Luitpold Stern. Er versprach, sich für die ,Neuen Deutschen Blätter' und für die Einheitsfrontbil-
4
Koplowitz, Jan, Geschichten aus dem Ölpapier, Halle (Saale) 1972, S. 169.
Ebenda, S. 175 ff.
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dung innerhalb seiner Organisation, dem Bund (gemeint ist die Vereinigung — K. M.) sozialistischer Schriftsteller Österreichs, einzusetzen."5 Graf gehörte mit Wieland Herzfelde, Jan Petersen und Anna Seghers der Redaktion der von September 1933 bis August 1935 in Prag herausgegebenen Zeitung „Neue Deutsche Blätter. Monatsschrift für Literatur und Kritik" an.6 In seinem Reisebericht vermerkte Becher, daß der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Österreichs beinahe nicht in Erscheinung treten konnte und daß im Schutzverband Deutscher Schriftsteller Österreichs sowie im PEN-Klub dieses Landes Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Schriftstellern, die sich Dollfuß anschließen wollten, sowie Mitgliedern der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller stattfinden würden. Angesichts dieser Situation halte er, Becher, „die Konzeption der Sammlung von Schriftstellern um Oskar Maria Graf als zentrale (Figur für das augenblicklich einzig mögliche, besonders da Oskar Maria Graf bekannt ist und gerade bei den Schriftstellern, die der SPÖ angehören, ziemliches Ansehen genießt".7 Entsprechend einem Vorschlag Grafs suchte Becher den aus Deutschland emigrierten bürgerlichen Schriftsteller Alexander Moritz Frey in Salzburg auf. Dieser „versprach nicht nur, an den ,Neuen Deutschen Blättern', sondern auch an der internationalen Literatur' (in Moskau herausgegebene Zeitschrift der IVRS, deren Redakteur für die deutsche Ausgabe Becher war — K. M.) mitzuarbeiten, sich an dem Antikriegspreisausschreiben (zu diesem Literaturwettbewerb hatte die IVRS im Januar 1933 aufgerufen — K. M.) zu beteiligen und sich auch für die Gewinnung und die Heranziehung anderer Schriftsteller zur Verfügung zu stellen". Becher fügte in seinem Bericht hinzu: „Der Versuch, sich mit Stefan Zweig und Carl Zuckmayer in Verbindung zu setzen, schlug fehl."8 Auf seiner Rückreise von Paris über verschiedene europäische Städte nach Moskau traf Becher in Wien erneut mit Graf zusammen. Er fand ihn „in einer begeisterten Arbeitsstimmung". Graf, so heißt es in Bechers Bericht, war es bereits gelungen, „eine kleine Gruppe von Schriftstellern mit sich in Verbindung zu bringen".9 Bruno Dubber, Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands in Hamburg, ging im Herbst 1934 nach Österreich. .Im Auftrag der Kommunistischen Jugendinternationale unterstützte er den Kampf der dortigen Jugendorganisation. Nach der Annexion hielt sich Dubber einige Tage in Prag auf, um mit exilierten führenden Vertretern der KPÖ den Widerstand gegen die Naziherrschaft zu erörtern. Wieder in Wien, suchte er nach inzwischen erfolgten Verhaftungen neue Leitungen des Jugendverbandes zu schaffen. Er nahm auch Verbindung zu sozialdemokratischen und katholischen Gruppen auf. In von ihm 5
Becher, Johannes R., Bericht über die Tätigkeit während meiner Reise vom 5. Juli bis 27. September 1933, in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, Berlin/Weimar 1967, S. 572 f. 6 Lexikon sozialistischer deutscher Schriftsteller. Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen, Leipzig 1964, S. 374. — Angaben, die dem Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 1972, Bd. 1 u. 2, entnommen wurden, werden nicht gesondert ausgewiesen. 7 Becher, S. 573. 8 Ebenda, S. 574. ! > Ebenda, S. 582.
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ausgearbeiteten Richtlinien für alle Leitungen des KJVÖ heißt es: „Um die Unabhängigkeit Österreichs, das Selbstbestimmungsrecht des österreichischen Volkes und die Demokratie wiedererobern zu können, ist es notwendig, alle gegen die Fremdherrschaft gerichteten Kräfte des Landes, alle gutgesinnten Österreicher in der Unabhängigkeitsfront zu sammeln. Wir müssen die gesamte sozialistisch, kommunistisch und freiheitlich gesinnte Arbeiterjugend in einem vereinigten Arbeiterjugendverband einigen. Ein solcher Jugendverband wird dem Freiheitskampf der österreichischen Jugend neue Schwungkraft verleihen und imstande sein, alle Vorsichtigen und Schwankenden zu mobilisieren."10 Im Herbst 1938 verhaftete die Gestapo Dubber und 43 seiner Kampfgefährten. Bruno Dubber, der im Gefängnis illegal Schriften verfaßte und sie unter Häftlingen verbreitete, wurde im Frühjahr 1944 durch eine Injektion ermordet. 11 Die Schriftstellerin Hermynia zur Mühlen, eine gebürtige Wienerin, die seit 1919 in Deutschland lebte, mehrere Romane und zahlreiche Märchen veröffentlichte, sich der KPD angeschlossen und u. a. auch für „Die Rote Fahne" sowie „Die Welt am Abend" geschrieben hatte, kehrte 1933 in die österreichische Hauptstadt zurück. Sie schloß sich der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller an und brachte 1938 ihren den Widerstandskampf in Deutschland behandelnden Roman „Unsere Töchter, die Nazinnen" heraus. Nach der Annexion emigrierte sie in die CSR.12 Für kurze Zeit hielten sich Bertolt Brecht und Hanns Eisler in Österreich auf. Brecht war im März 1933 für vier Wochen in Wien, wo er den schon vor ihm exilierten Eisler traf. 13 1.2.
Sozialdemokraten und ihnen nahestehende Intellektuelle
Arthur Crispien, einer der Vorsitzenden der SPD, ging Anfang März 1933 von München, wohin er sich aus Berlin zurückgezogen hatte, wie vor ihm im Februar Wilhelm Dittmann, Sekretär des Vorstandes, über Österreich in die Schweiz. Otto Wels, ebenfalls einer der Parteivorsitzenden, war Anfang März 1933 einige Tage in Salzburg, um dann nach Berlin zurückzukehren, am 23. März im Reichstag seine Rede zum Ermächtigungsgesetz zu halten und darauf über Saarbrücken nach Prag zu emigrieren.14 Diese sozialdemokratischen Funktionäre wurden infolge ihres kurzen Verweilens in Österreich politisch nicht aktiv. Wilhelm Hoegner, Vorsitzender der SPD 10
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Steiner, Herbert, Bruno Dubber, in: Aus der Vergangenheit der KPÖ. Aufzeichnungen und Erinnerungen zur Geschichte der Partei, Wien 1961, S. 107. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (im folg.: DÖW), Wien, Nr. 1364,1577; Steiner, S. 112 f. International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933—1945, Vol. 2: The Arts, Sciences and Literature, München/New York/London/Paris 1983, S. 1286; Becher, S. 573; Lexikon sozialistischer deutscher Schriftsteller, S. 365 f. Taylor, John Rüssel, Fremde im Paradies. Emigranten in Hollywood 1933-1950, Berlin (West) 1984, S. 56; International Biographical Dictionary, S. 148, 252. Lacina, S. 198; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, München/New York/London/ Paris 1980, S. 118.
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in Bayern, hingegen arbeitete nach seiner Flucht im Juli 1933 eine Zeitlang im Sekretariat der SPÖ in Innsbruck, ehe er Ende Februar 1934 nach Zürich weiteremigrierte. 15 Waldemar von Knoeringen, Funktionär der SAJ in München, kam im März 1933 in dieses Alpenland, zunächst nach Tirol, dann nach Wien. Als Leiter eines Grenzsekretariats des nach Prag emigrierten Vorstands der 'SPD begab er sich nach dem Februar 1934 nach Neuern in der CSR. Der Ende 1932 angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nach Wien exilierte sozialdemokratische Schriftsteller Leo Lania, der Beiträge für „Die Weltbühne" und „Das Tage-Buch" verfaßt sowie mit Erwin Piscator, Fritz Kortner und Max Reinhardt zusammengearbeitet hatte, veröffentlichte im Februar 1933 im Zentralorgan der SPÖ den Artikel „Hitler und Mussolini". In ihm erklärte er: „Die Einheitsfront der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien ist die Forderung des Tages. Von ihrer Verwirklichung hängt Sieg oder Niederlage nicht nur des deutschen Sozialismus, nicht nur der deutschen Republik ab, das Schicksal Europas hängt an der Frage, ob es in letzter Stunde gelingt, die Millionenmassen der deutschen Arbeiterschaft, dieses beste, disziplinierteste und — falls richtig geführt — im Kampf unüberwindliche Heer 'des Fortschrittes in einer geschlossenen Front gegen die Reaktion aufmarschieren zu lassen." Lania sprach sich dafür aus, daß die Führungen beider Parteien einen MinimalAktionsplan für die nächsten Wochen vereinbarten. Die Fehler der Vergangenheit müßten durch „das tätige Handeln gesühnt" werden. 16 Im 1. Wiener Bezirk referierte er am 3. März im Saal der gastgewerblichen Arbeiter über das Thema „Wie lange Hitler?". Gleich nach seinen ersten Sätzen unterbrachen ihn österreichische Nazis mit Pfui-Rufen. Sie wurden hinausgeworfen. Daraufhin erklärte Lania, er werde sich durch nichts und niemanden stören lassen, „das zu sagen, was notwendig sei". In seiner Rede verurteilte er u. a. den Reichstagsbrand als eines „der schändlichsten Manöver". In Deutschland würden auf Grund von Denunziationen wahllos „die geistigen Leute ohne Unterschied der Parteistellung" verhaftet. Sozialdemokraten, Kommunisten und Bürgerliche müßten Mut beweisen. Heinrich und Thomas Mann hätten da ein leuchtendes Beispiel gegeben. Für die Faschisten sei jeder, der gegen sie auftrete, „marxistisch". Das sei genau „so blöd" wie das Verhalten der Kommunisten, die alles, was ihnen nicht entspreche, als „faschistisch" abtun würden. 17 Dieser „Seitenhieb" stand ganz im Gegensatz zu seiner wenige Tage zuvor im Artikel in der „Arbeiter-Zeitung" bekundeten Erkenntnis von der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns der deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten. Noch 1933 ging Lania nach Paris. Der im Juli 1933 exilierte Reichstagsabgeordnete der SPD Josef Felder, seit 1932 Ortsvorsitzender seiner Partei in Augsburg, sprach bis zum Februar 1934 mehrmals im Wiener Bezirk Döbling sowie in anderen Stadtteilen vor österreichischen Sozialdemokraten. Er wies darauf hin, daß die deutschen Sozialdemokraten im Januar 1933 auf die Aufforderung ihrer Führung zum entschiedenen Vorgehen gegen die Hitlerregierung gewartet hätten. Diese sei aber nicht erfolgt Der Bezirkssekretär der SPÖ in Döbling, Karl Mark, zog — wie er in seinen 15 16 17
Lacina, S. 205, 485; Biographisches Handbuch, S. 306. Arbeiter-Zeitung, Wien, 27.2.1933. Ebenda, 3. 3.1933; 4. 3.1933.
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Erinnerungen schreibt — daraus für die österreichischen Arbeiter den Schluß: „Widerstand leisten auf jeden Fall, auch wenn er .aussichtslos ist. Und uns war klar, daß er im Februar (1934 — K. M.) aussichtslos ist (wegen ungenügender Vorbereitungen — K. M.). Aber wir haben trotzdem allen unseren Leuten gesagt, es muß Widerstand geleistet werden." 18 Felder übersiedelte im Februar 1934 in die CSR. An den Februarkämpfen 1934 beteiligte sich der schon 1932 als Arbeitsloser nach Österreich gekommene Sozialdemokrat Adolf Frenzel aus Duisburg.19 Er hatte sich zuvor in der österreichischen sozialdemokratischen Arbeiterjugendbewegung, namentlich im 11. Wiener Bezirk Simmering, betätigt. Zweimal schon war er von der Polizei des austrofaschistischen Dollfuß-Regimes verhaftet worden. Frenzel bezog mit Angehörigen des Republikanischen Schutzbundes in diesem Bezirk während der Kämpfe Stellung am Geiselberg und half dann mit, die Krankenkassenhäuser gegen Polizei- und Militäreinheiten zu verteidigen.20 Nach der Niederlage emigrierte er in die GSR, wo er Bekanntschaft mit Otto Bauer und Julius Deutsch machte, um nach einigen Monaten mit etwa 300 .Schutzbündlern in die Sowjetunion zu fahren und sich 1936 den Internationalen Brigaden in Spanien anzuschließen.21 Der Sozialdemokrat Hans Wilhelm von Zwehl, zuletzt freischaffender Journalist in Berlin, der u. a. für „Die Weltbühne", das „Berliner Tageblatt" und „Die Welt am Abend" geschrieben hatte, befand sich bis Mitte März 1933 in „Schutzhaft". Im Juli emigrierte er über Paris nach (Saarbrücken, wo er sich im Kampf um den Status quo des Saarlandes engagierte, und dann, 1935, nach Österreich. Hier arbeitete er für das „Neue Wiener Tageblatt" und „Die Stunde". Kurz vor der Annexion übersiedelte er nach Paris.22 Der Berliner Musiker Rolf Jacoby exilierte 1933 nach Wien und beteiligte sich eine Zeitlang an der bildungspolitischen Arbeit der SPÖ.23 Im Februar 1933 fuhr Oskar Maria Graf auf Einladung der sozialdemokratischen Zentralstelle für das Bildungswesen nach Österreich, um aus eigenen Werken, u. a. aus dem 1927 erschienenen autobiographischen Buch „Wir sind Gefangene", zu lesen, am 25. Februar in St. Pölten, seit dem nächsten Tag in verschiedenen Wiener Bezirken, am 8. März in Gloggnitz, am folgenden Tag in Bruck an der Mur.2'' Im SPÖ-Organ „Arbeiter-Zeitung" veröffentlichte er am 12. Mai 1933, zwei Tage nach der offiziellen Verbrennung von Werken den Nazis nicht genehmer Autoren in Berlin und anderen deutschen Städten, seinen bekannten Aufruf „Verbrennt mich!", in dem er dagegen protestierte, daß das Hitlerregime seine Bücher — mit 18
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Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Bd. 1: Arbeiterbewegung, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Institut für Wissenschaft und Kunst, Zusammenstellung u. Redaktion Siglinde Bolbecher (u. a.), Wien 1985, S. 66. DÖW, Film 95. Vgl. Reisberg, Arnold, Februar 1934. Hintergründe und Folgen, Wien 1974, S. 22 ff. Brief A. Frenzeis, im Besitz von Herbert Exenberger, Wien. Biographisches Handbuch, S. 851 f. Lacina, S. 489. Arbeiter-Zeitung, Wien, 19. 2.1933; 2. 3.1933.
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einer Ausnahme: „Wir sind Gefangene" — nicht auf die Indexliste gesetzt hatte, sondern sie sogar noch empfahl und sich bemühte, ihn zu einem „Exponenten des .neuen' deutschen Geistes" zu deklarieren. Daraufhin wurden Grafs Arbeiten auf einer Sonderveranstaltung der Münchener Universität nachträglich dem Scheiterhaufen übergeben und er selbst — wie viele andere zuvor und danach — im Juni 1933 aus Deutschland ausgebürgert. 25 Auf einem vom sozialdemokratischen Arbeiterkulturbund „Vorwärts" am 11. Juni im 13. Wiener Bezirk veranstalteten Frühsommerfest las Graf wiederum aus seinen Werken. Außer ihm trat eine sowjetische Tanz- und Balalaikagruppe auf. Eintrittskarten hatten u. a. die „Bücherquelle Julius Deutsch" und der Bund der Freunde der Sowjetunion verkauft. 26 Am 20. September 1933 sprach Graf auf einer vom „österreichischen Hilfskomitee für die Angeklagten im Reichstagsbrandprozeß" einberufenen öffentlichen Versammlung im 17. Wiener Bezirk, in der Gastwirtschaft Stahlener, Jörgerstraße 22. Nach dem Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" Ludwig Wagner, der darauf hinwies, daß sich dieser Prozeß nicht nur gegen die deutschen Kommunisten, sondern gegen die gesamte deutsche Arbeiterklasse richte, erklärte Graf laut eines an den österreichischen Bundeskanzler gerichteten Berichts der Polizeidirektion in Wien vom 24. September: „Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten habe sich das friedliebende Deutschland zum Schrecken der ganzen Kulturwelt in einen Hexenkessel schrankenloser Barbarei verwandelt." Alle freiheitlich Gesinnten seien Freiwild der SA. Jedoch führe die Arbeiterschaft einen „gigantischen Kampf". Als Graf Hitler einen Tyrannen nannte, wurde er von dem die Veranstaltung überwachenden Polizeibeamten „ermahnt". Der Redner brachte den Reichstagsbrand mit der kurz danach stattfindenden Reichstagswahl in Zusammenhang und erklärte, daß es kein Zufall gewesen sei, daß sich alle Naziführer zum Zeitpunkt des Brandes in Berlin — und nicht etwa auf Wahlredentournee — befanden. Mit der.nach dem Brand erlassenen Notverordnung habe eine „wahre Verhaftungsjagd eingesetzt".27 Die tatsächlichen Ursachen des Brandes würden in London von einem Gremium von Juristen aus verschiedenen Ländern untersucht. Graf referierte noch mehrmals über die Hintergründe des Reichstagsbrandes und vermochte es offenbar, seine Zuhörer mitzureißen. Der österreichische Sozialdemokrat Alfred Billmaier, damals Betriebsrat im Wiener Krankenhaus Lainz, erinnert sich: „Er hat also so richtig nach unseren Herzen und, ich möchte sagen, nach unserem Mund gesprochen. Er war ja ein Redner, der sich sehr, sehr volkstümlich ausgedrückt hat. Er hat natürlicherweise unsere Begeisterung noch und noch angefacht." 28 25
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Mammach, Klaus, Widerstand 1933—1939. Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung im Inland und in der Emigration, Berlin 1984, S. 222. Plakat-Kopie, im Besitz von Herbert Exenberger, Wien. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien, Bundeskanzleramt, Inneres, Polizei-Direktion Wien, Berichte, Karton 32. ,, Exenberger, Herbert, Der Reichstagsbrandprozess — Echo in der österreichischen Sozialdemokratie, in: Bulgarisches Forschungsinstitut in Österreich, Mitteilungen, Wien 1984, Bd. 1: 50. Jahrestag des Reichstagsbrandprozesses und dessen Bedeutung für die Internationale Antifaschistische Bewegung. Forschungsgespräch am 27. Juni 1984, S. 27.
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An den Verlauf einer Versammlung im Antonius-Saal des Restaurants Weigl im 12. Wiener Bezirk Meidling am 24. November 1933, auf der Graf ebenfalls redete, erinnerte sich der österreichische Kommunist Friedrich Vogl: „Schon beim Referat des Schriftstellers Graf drohte Dr. Heger (der überwachende Polizeibeamte — K. M.), sobald die Namen Hitler und Göring genannt wurden, mit der Auflösung. Als am Schluß der Versammlung, nach meinem Appell .Freiheit für Dimitroff, Freiheit für Deutschland, Freiheit für Österreich' die Versammelten aufstanden und die Internationale sangen, drohte Doktor Heger, die Polizei einmarschieren zu lassen. Aber er konnte durch die dichte Menge nicht durch, sein Versuch, durch die Tür hinter dem Rednerpodium ins Freie zu gelangen, mißlang ebenfalls, weil wir die Tür abgesperrt und den Schlüssel abgezogen hatten." 2 9 Der Reinertrag dieser und ähnlicher Veranstaltungen wurde dem „österreichischen Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge" zugeführt. Wie Wieland Herzfelde, der aus der tschechoslowakischen Hauptstadt kam, sprach auch Graf im Januar 1934 in Wien vor der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller über die Arbeit der Verleger in Hitlerdeutschland. Er verwies darauf, daß die Nazis, obwohl sie ihn nun zu den „geistigen Landesverrätern" zählten, auf die Verlagsrechte für seine Arbeiten bestünden und die Vorräte an „verfemter Literatur" im Ausland verkaufen würden, um Devisen zu erhalten. Anfang Februar 1934 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden (Obmannstellvertreter) dieser Vereinigung gewählt. 30 Als die österreichische Regierung während der Februarkämpfe 1934 einen alten Abschubparagraphen wieder in Kraft setzte, verließ Graf mit seiner Lebensgefährtin Mirjam Sachs Wien, um nicht eventuell nach Deutschland ausgewiesen zu werden. Einem Freund schrieb e r : „Wir sind aus Wien weg am Freitag, der Kampf war so ziemlich zu Ende, nur ganz vereinzelt schössen noch Todesmutige aus Verstecken. Wir packten also unsere Koffer, packten unsere Körbe und Kisten übersendungsbereit und fuhren nachts nach Pressburg (Bratislava), dort stießen wir schon auf dem Parteisekretariat auf eine Menge Schutzbündler, die über die Grenze geflohen waren. Wir sahen alte Wiener Bekannte, Schutzbündler, Parteifunktionäre, die unverantwortlich feig geflüchtet waren. Die Haare konnten einem zu Berge stehen: Die Proleten kämpften, die ganz Oberen versagten nicht nur im Kampf, sie kämpften überhaupt nicht, sie trieben ein ganzes Jahr lang eine Politik des Selbstmordes." 31 Im April 1934 protestierte Graf, daß von ihm vor dem Februar der Verlagsanstalt „Vorwärts" in Wien eingereichte Arbeiten nun veröffentlicht werden sollten. „Ich bin nicht gesonnen, auch nur eine einzige Zeile von mir in den geraubten Arbeiterblättern, die nunmehr auf Regierungsbefehl getarnt den schmählichsten Arbeiterfang zu betreiben haben, erscheinen zu lassen." Er fügte hinzu: „Keiner meiner augenblicklich brutal unterdrückten, standhaften Genossen in Wien und Österreich soll darüber im unklaren bleiben, daß ein revo-
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Ebenda, S. 28. Arbeiter-Zeitung, Wien, 10.1.1934; 10. 2.1934. Bollenbeck, Georg, Oskar Maria Graf mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 100.
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lutionärer Schriftsteller, wie ich es einer bin, den Klerikofaschismus ebenso bekämpft wie die Hitlerherrschaft in Deutschland."32 Gerhart Herrmann Mostar, der in der Weimarer Republik im Zentralorgan der SPD „Vorwärts" publiziert hatte, konnte mit Hilfe von Arbeitern der Druckerei dieses Blattes seinen Karl-Marx-Roman „Der schwarze Ritter" im März 1933 illegal herstellen und den Abonnenten der Zeitung zustellen lassen. Im selben Jahr noch emigrierte er nach Österreich. Er schrieb u. a. für die „Arbeiter-Zeitung" und den „Wiener Tag", ebenso satirische Texte für das Wiener Kabarett „Der liebe Augustin". Für dessen Programm „Seifenblasen" im Dezember 1935 verfaßte er den Text des Liedes „Die Legende vom namenlosen Soldaten", das den Massenmord im ersten Weltkrieg anklagte. Vorgetragen wurde es von dem 1933 aus Deutschland zurückgekehrten Herbert Berghof. Mostars Feder entstammte auch für das August-Programm 1936 'die „Waldlegende", die die Verfolgung und Drangsalierung der Juden zum Inhalt hatte sowie deren Lebenswillen ausdrückte. 1938 ging er nach Jugoslawien.33
2.
Bürgerliche Politiker, Journalisten, Kulturschaffende und Wissenschaftler
2.1.
Politiker und Journalisten
Hellmut von Gerlach, Vorsitzender der Deutschen Liga für Menschenrechte und Mitglied der Reichsbannerführung, dem am 7. Februar 1933 von den Nazibehörden der Reisepaß entzogen worden war, verließ unmittelbar nach der Reichstagswahl am 5. März Berlin, um in München Constanze Hallgarten, eine bürgerliche Pazifistin, aufzusuchen. Diese vermittelte ihn an Bekannte nahe der bayerisch-tirolischen Grenze. „Die Frau des Hauses, die nichts von mir wußte, vertraute ihren Münchner Freunden; es lohnte, mich herauszuhauen. Ihr Mann wußte gar nichts. Natürlich trug ich einen falschen Namen. Ich trat als Käufer von Diamanten auf. Die Materie kannte ich von früher, es ging ganz gut. Zwei Tage lang besichtigte ich die Schleiferei und das Lager, machte fachkundige Bemerkungen; für Montag kündigte ich meinen Abschluß an. Sonntags wollten wir fahren (über die Grenze nach Österreich — K. M.). Eine Autotour hinüber klang ganz unverfänglich. Mußte nur schönes Wetter sein. Ich schickte alle verfügbaren Stoßseufzer zum Himmel. Die Dame war umsichtig. Der Grenzwächter kennt mich, sagte sie mir, aber ich nehme auf alle Fälle einen Haufen junger Mädel mit. Der Wagen muß voll sein, wenn einer ohne Paß durchschlüpfen soll. Also Sonntag früh: strahlendes Wetter! Gott sei dank! Ich werde gebeten, links neben der Dame zu sitzen. Bin ja Diamantenkäufer, also Ehrengast. Schön. Uns gegenüber kommen drei hübsche Mädchen zu sitzen, alles in dicken Mänteln,
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Arbeiter-Zeitung, Wien, 30. 4.1934. DÖW, Nr. 9303, 9304; International Biographical Dictionary, S. 836; Horak, JanChristopher, Fluchtpunkt Hollywood. Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933, Münster 1984, S. 55.
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denn es war sonnig, aber kalt. Vorn 'beim Chauffeur ein junger Mann, angeblich Bräutigam von einer der drei Schönen. Schauspieler. Also los. Nach kurzer Fahrt: Halt. Grenze. Ich lehne mich tief zurück, seh' -mir die Landschaft an, ganz ohne Interesse. Der Beamte, .alter Mann, etwas brummig, grüßt die Dame, sieht flüchtig ihren Paß an und die Pässe der drei Mädchen. Dann fragt er, weil er rechts vom Wagen steht, den Herrn rechts vom Chauffeur. Der Schauspieler zeigt seinen Paß. Der Mann stutzt: Ihr Paß ist seit 2 Wochen abgelaufen, sagt er auf Bayrisch. Der Schauspieler, ehrlich erschrocken, sieht nach: Wirklich abgelaufen! Entschuldigen Sie! Aber Herr — ! sagt die Dame. Wir fahren doch bloß über den Nachmittag mal rüber! Wir haben aber neue Vorschriften, seit vorgestern, sagt der Beamte ernst. Sollen besonders scharf aufpassen in diesen Tagen. Darauf mischt sich die holde Weiblichkeit hinein. Chor der Mädchen: Ach, verderben Sie uns doch nicht 'den Ausflug. Sehen Sie, das ist seine Braut! Er wird ja gleich morgen den Paß erneuern lassen! Jetzt wird der Beamte weich: der Ton klingt aufrichtig, er ist es auch, das junge Volk ahnungslos, daß ein fliehender Mann ohne Paß bei ihnen sitzt. Und jetzt? Mit der Bewegung, wie einer macht, der eine verbotene Amtshandlung so recht wider Willen tut, macht er ein unwirsches Zeichen, der Chauffeur drückt, gibt Gas — und in 5 Sekunden sind wir drüben gewesen! Durch den Zwischenfall mit dem Schauspieler hatte der Mann vergessen, mich nach meinem Paß zu fragen. Unter der Decke habe ich dann der Dame die Hände gedrückt." 34 Gerlach begab sich nach Wien, von dort durch die Schweiz nach Paris. Nachdem Hubertus Prinz zu Löwenstein im Februar 1933 in Vorbereitung der Reichstagswahl auf verschiedenen Versammlungen der Zentrumspartei gesprochen und die SA Mitte März bei ihm eine Haussuchung durchgeführt hatte, verließ er Ende April — nach Hinweis eines Polizeihauptmanns auf seine bevorstehende Festnahme — Deutschland. In Tirol hatte er ein kleines Schloß gepachtet. Auf zwei Reisen nach Großbritannien noch im selben Jahr informierte er in Artikeln für britische Zeitungen die Öffentlichkeit über die Lage in Deutschland und referierte über die von der Naziherrschaft ausgehende Gefahr einer Aggression, zunächst gegen Österreich, dann gegen andere Staaten. Eng mit ihm zusammen arbeitete Volkmar von Zühlsdorf?, stellvertretender Leiter der einst von Löwenstein gegründeten Reichsbanner-Jugendorganisation „Vortrupp Schwarz-Rot-Gold", der im Mai 1933 nach Tirol geflohen war. Im Dezember 1933 erörterte Löwenstein in Wien mit Julius Deutsch und Otto Bauer von der SPÖ sowie mit dem Leiter des Wiener Christlichsozialen Arbeitervereins, Leopold Kunschak, wie der Austrofaschismus bekämpft werden könne. Während der Februarkämpfe 1934 — Löwenstein war erneut in London — initiierte er ein an Dollfuß gerichtetes Telegramm, in dem 60 Mitglieder des Ober- und des Unterhauses gegen die Ermordung von Arbeitern protestierten. Eine Zeitlang trat Löwenstein 1934 im Saargebiet für dessen Status quo ein. Hier traf er auch mit dem Sozialdemokraten Max Braun sowie mit dem Zentrumspolitiker Johannes Hoffmann zusammen. In Saarbrücken gründete Löwenstein die Wochenzeitung „Das Reich", deren Chefredakteur Rudolf Olden war 34
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Gerlach, Hellmut v., Von Rechts nach Links, hrsg. von Emil Ludwig, Zürich 1937, S. 271 f.; vgl. auch Greuner, Ruth, Wandlung eines Aufrechten. Lebensbild von Hellmut von Gerlach, Berlin 1965, S 227.
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und die von Anfang Dezember 1934 bis Anfang Januar 1935 erschien. Nach Vorträgen 1935 in den USA veröffentlichte Löwenstein im „Wiener Tag" sieben Artikel über seine Reiseeindrücke in diesem Land, u. a. auch über die Umtriebe deutscher Nazis in den Vereinigten Staaten. 1936 siedelte er nach Großbritannien über.35 Der konservative, monarchistisch gesinnte Hitlergegner Dietrich von Hildebrand, Philosophieprofessor an der Münchener Universität und Mitglied des Generalvorstandes des Katholischen Akademikerverbandes, war auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im Juni 1933 in den Ruhestand versetzt worden. Er emigrierte im September nach Österreich. Dort nahm er im Januar 1934 eine Lehrtätigkeit an der Universität Salzburg auf, dann wurde er an die Universität Wien berufen. Auf seine Initiative erschien seit Ende 1933 in der österreichischen Hauptstadt, die Dollfuß genehme Wochenschrift „Der Christliche Ständestaat", an der Hildebrand maßgeblich mitarbeitete. Ein weiterer konservativer, ebenfalls monarchistisch orientierter katholischer deutscher Emigrant, Klaus Dohm, Verwandter Hildebrands und Journalist, im Frühjahr 1933 nach Wien emigriert, leitete die Redaktion.36 Die Zeitschrift unterrichtete über die Lage in Deutschland und trat für die Beseitigung des Hitlerregimes ein. Sie wandte sich gegen jedweden Kompromiß zwischen Katholizismus und Faschismus, zwischen Österreich und Deutschland und befaßte sich auch mit der Situation in diesem Alpenland. Sie unterstützte das Programm von Dollfuß, das auf die Errichtung eines autoritären Ständestaates zielte. Dohrn, der Verbindung zu Otto von Habsburg aufnahm, stand auch mit Ernst Karl Winter in Verbindung. Dieser, Mitglied der Christlichsozialen Partei und dann Mitarbeiter des „Christlichen Ständestaates", war 1934 von Dollfuß beauftragt worden, die österreichische Arbeiterschaft in das Regime zu integrieren. Die von Winter gegründete „österreichische Arbeiter-Aktion" wurde jedoch im Juni 1935 verboten, und er selbst geriet zunehmend in Widerspruch zum Regime. Winter trat gegen das Abkommen mit Deutschland vom 11. Juli 1936 auf und setzte sich für eine „soziale Monarchie" ein, die das Vordringen der österreichischen Nazis verhindern sollte. Auch Joseph Roth, ein österreichischer Schriftsteller, der zeitweilig in Deutschland gelebt hatte und 1933 nach Paris übergesiedelt war, schrieb von 1935 bis 1938 für den „Christlichen Ständestaat", ebenso für „Das Neue Tage-Buch", das „Pariser Tageblatt" sowie die „Pariser Tageszeitung". Er engagierte sich ebenfalls für Otto von Habsburg.37 Nach der Tagung des „Lutetia"-Kreises deutscher emigrierter Hitlergegner unterschiedlicher politischer Orientierung am 2. Februar 1936 in Paris erhob Dohrn in einem Artikel im „Christlichen Ständestaat" Bedenken gegen eine Zusammenarbeit von exilierten Katholiken und Kommunisten in einer Volksfront. Als Vorbedingung nannte er die Einigung auf derf föderalistischen Aufbau 33
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Löwenstein, Hubertus Prinz zu, Abenteurer der Freiheit. Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M./Berlin (West)/Wien 1983, S. 99 ff. Ebneth, Rudolf, Die österreichische Wochenschrift „Der Christliche Ständestaat". Deutsche Emigration in Österreich 1933-1938, Mainz 1976, S. 35 ff. Biographisches Handbuch, S. 823; International Biographical Dictionary, S. 995.
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des künftigen Deutschlands und dessen Einfügung in einen europäischen Staatenbund. Der Beitrag Dohms richtete sich in seiner Grundaussage gegen die Volksfrontbemühungen der KPD. In der folgenden Zeit wandte sich der „Christliche Ständestaat" immer offener gegen eine gemeinsame politische Aktion von Katholiken und Kommunisten gegen das Naziregime in Deutschland. D o h m und einige ihm Gleichgesinnte bemühten sich, eine konservative katholische Exilorganisation zu bilden und darüber hinaus Kontakt zu anderen Gruppen nichtkommunistischer deutscher Emigranten zu knüpfen, um ein „Gegengewicht" zu den Volksfrontbestrebungen zu schaffen. Mitte 1936 gründeten sie in Wien den „Ring deutscher Jungkatholiken", der sich f ü r die Bekämpfung der Nazis wie der Kommunisten und f ü r eine „Dritte Front" aussprach. Vertreter des „Rings" nahmen in Prag zur „Volkssozialistischen Bewegung", einer von dem sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch beeinflußten Vereinigung rechter Sozialdemokraten, und zur „Schwarzen Front" des gegen Hitler opponierenden ehemaligen NSDAP-Funktionärs Otto Strasser Verbindung auf. 38 In einem im Januar 1937, anläßlich des vierten Jahrestages der Errichtung der faschistischen Diktatur, in Prag und Wien veröffentlichten Aufruf dieser drei und einiger weiterer Gruppen deutscher Emigranten wurde erklärt, daß das Hitlerregime seine sozialen Versprechungen nicht eingelöst und sich die Kriegsgefahr in Europa vergrößert habe, daß es erforderlich sei, die Naziherrschaft 'in Deutschland zu stürzen und dazu — unter Ausschluß der Kommunisten — eine „Deutsche Front gegen das Hitlersystem" zu schaffen. 38 Am 30. März 1937 fand auf Veranlassung des „Ringes deutscher Jungkatholiken" in Wien ein Treffen statt, das zur Zusammenfassung des deutschen katholischen Exils in einem „Christlichen Reichsbund f ü r deutsche Freiheit" führen sollte.40 Diese Bestrebungen scheiterten jedoch ebenso wie jene zur Bildung einer „Deutschen Front", weil ein Nazispitzel in der Redaktion des „Christlichen Ständestaates" interne Unterlagen entwendete, die über den deutschen Gesandten, Franz von Papen, Himmler zugestellt und in der NSDAP-Presse in Deutschland im April 1937 veröffentlicht wurden, außerdem die österreichischen Überwachungsorgane ihre Tätigkeit verstärkten, die Zwistigkeiten in den verschiedenen Emigrantengruppen, der „Volkssozialistischen Bewegung", der „Schwarzen Front" und der katholischen Gruppe in Wien, wuchsen und zudem der Vatikan — nach der Publikation in der deutschen Presse — Druck auf katholische deutsche Exilanten in Österreich ausübte. Hildebrand hielt sich bei allen diesen Bemühungen zurück. Wegen der positiven Stellung, die die österreichische Regierung unter dem Kanzler Kurt von Schuschnigg, der nach der Ermordung Dollfuß' im Juli 1934 während eines Naziputsches in Wien an dessen Stelle getreten war, zu Deutschland einnahm, ,und wegen der Kritik aus katholischen Kreisen Österreichs, die Zeitschrift bedeute wegen ihrer Angriffe gegen .das Hitlerregime eine Gefahr f ü r die Kirche, schied Hildebrand
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Ebneth, S. 197 ff. Ebenda, S. 203. Ebenda, S. 205.
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im April 1937 aus der Redaktion des „Christlichen Ständestaates" aus. Beim „Anschluß" flohen er und auch Dohm in die CSR.41 Für Theodor Wolff, bis 1933 Chefredakteur des „Berliner Tageblattes", und seinen Stellvertreter, Rudolf Olden, der auch als Verteidiger in politischen Prozessen gewirkt hatte, war Österreich nur Zwischenstation auf ihrem Emigrationsweg. Bruno Heilig hingegen, gebürtiger Österreicher und seit 1928 Journalist in Berlin, arbeitete seit 1933 in Wien für Zeitungen wie „Der Morgen" und „Der Wiener Tag". Nach der Annexion wurde er festgenommen und in das KZ Dachau, dann nach Buchenwald gebracht. 1939 freigelassen, emigrierte er nach Großbritannien. Der Journalist Paul Erich Marcus (er schrieb unter den Initialen PEM) floh im April 1933 über Prag nach Wien. Hier publizierte er „Pem's Privat-Berichte". 1935 emigrierte er weiter nach London.42
2.2.
Schriftsteller und Verleger
Walter Mehring, der 1933, einen Tag vor dem Reichstagsbrand, nach Paris ins Exil ging, da ihm die Verhaftung 'drohte, hielt sich zeitweilig in Wien auf, und zwar als Korrespondent für „Das Neue Tage-Buch". Sein Roman „Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler" erschien 1935 in der österreichischen Hauptstadt. Das Werk wurde nach einer Intervention Papens von der Bundesregierung beschlagnahmt. Mehring schrieb in Wien auch für den „Christlichen Ständestaat" (unter dem Pseudonym Glossator) und für „Die neue Weltbühne" (Prag). 1938 ging er über die Schweiz nach Paris.43 Hans José Rehfisch, der in der Weimarer Republik mit Erwin Piscator zusammengearbeitet hatte, exilierte 1933 nach kurzer Haft nach Wien. Hier verfaßte er u. a. das Schauspiel „Doktor Semmelweis" (1934). 1938 übersiedelte er nach Großbritannien. Wilhelm Speyer, Mitglied des PEN-Klubs, verließ im Februar 1933 Berlin und fand einen neuen Wohnsitz in Parsch bei Salzburg. Seine dort geschriebenen Romane und Erzählungen wurden in Amsterdam verlegt. Im Mai 1938 ging Speyer nach Frankreich/' 4 Der Dramatiker Carl Zuckmayer, der mit seiner österreichischen Frau seit 1926 ein Anwesen in Henndorf bei Salzburg besaß, verließ im März 1933 Berlin. 1936, schreibt er in seinen Erinnerungen, war er kurz wieder dort. Er „wollte diese falschen Jakobiner einer auf Hartspiritus aufgekochten Revolution' noch aus der Nähe sehen".45 Zuckmayer kümmerte sich in der österreichischen Hauptstadt, in der er schließlich neben Henndorf eine Wohnung hatte, um die Aufführung seiner Schauspiele. Er schrieb die in Wien veröffentlichten Romane „Salware oder die Magdalena von Bozen" (1936) und „Ein Sommer in Österreich" (1937) sowie Filmdrehbücher für Alexander Korda. Nach der Annexion begab er sich
« Ebenda, S. 40 ff., 206 ff. 42 Biographisches Handbuch, S. 834, 539, 287 f.; International Biographical Dictionary, S. 778. 43 Serke, Jürgen, Die verbrannten Dichter. Berichte, Texte, Bilder einer Zeit, Wein44 heim/Basel 1977, S. 107 ff. International Biographical Dictionary, S. 948,1100. 43 Zuckmayer, Carl, Als wär's ein Stüde von mir, Frankfurt a. M./Hamburg 1971, S. 40.
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in die Schweiz. Seine Familie sollte zunächst nach Berlin zurückkehren, „wo ja", — nach einer schwer zu begreifenden Bemerkung in seinen Memoiren — „im Gegensatz zu Wien, geordnete Verhältnisse herrschten und wo unsere Freunde, vor allem Peter Suhrkamp, (Heinz) Hilpert, (Gustaf) Gründgens, bereitstanden, sich ihrer anzunehmen". 46 Sie folgte ihm jedoch in die Schweiz. Im März 1933 floh angesichts drohender Verhaftung Alexander Moritz Frey, der f ü r die „Frankfurter Zeitung", das „Berliner Tageblatt" sowie die „Vossische Zeitung" gearbeitet hatte und Mitbegründer des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) in der bayerischen Metropole gewesen war, aus München nach Salzburg. Von 1933 bis 1935 verfaßte er Beiträge f ü r die „Neuen Deutschen Blätter", die „Internationale Literatur" sowie f ü r „Die Sammlung", eine von Klaus Mann in Amsterdam herausgegebene literarische Monatsschrift. 1938 begab sich Frey in die Schweiz. Größere Arbeiten publizierte er offenbar in den 30er Jahren nicht. Denn im Mai 1946 teilte er aus Basel dem Wiener Stadtrat f ü r Kultur, Viktor Matejka, mit, er habe von 1944 bis 1946 in der Schweiz vier Bücher veröffentlicht, vorher jedoch keine.47 Bruno Frank, der Ende der 20er Jahre von der deutschen Rechtspresse wegen seiner „Politischen Novelle", die auf die wachsende faschistische Gefahr hinwies, angegriffen worden und der mit Thomas Mann und Lion Feuchtwanger befreundet war, exilierte 1933 in die Schweiz. Von dort aus engagierte er sich f ü r die „Deutsche Freiheitsbibliothek" in Paris. Von 1935 bis 1937 lebte er in der Nähe von Salzburg, um dann in die USA überzusiedeln. Sein Roman „Der Reisepaß", 1937 bei Qüerido in Amsterdam erschienen, verarbeitete z. T. eigene Erfahrungen während der Emigration/ 18 Der Berliner Schriftsteller und Theaterregisseur Rudolf Frank, der bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur u. a. pazifistische Hörspiele f ü r den Rundfunk verfaßt und danach insgeheim f ü r einen Theaterverlag als Lektor gearbeitet hatte, emigrierte nach kurzer „Schutzhaft" 1935 im Dezember 1936 nach Wien. Hier durfte er nur in seinem eigentlichen Beruf als Bühnenkünstler Arbeit suchen, fand aber lange Zeit keine. Kurz vor der Annexion wurde er Direktor eines Theaters. 49 Die Autorin von Kurzgeschichten sowie eines Romans und Feuilletonjournalistin verschiedener Tageszeitungen Elisabeth Castonier exilierte 1934 in die österreichische Hauptstadt. Hier schrieb sie f ü r Zeitungen deutscher Emigranten in anderen Ländern, so f ü r das „Pariser Tageblatt". 1936/37 war sie u. a. f ü r das „Wiener Tageblatt" Sonderkorrespondentin in Französisch-Marokko. 50 — Für Arnold Zweig war Wien nur eine der Zwischenstationen auf seinem Fluch'tweg nach Palästina, wo er im Dezember 1933 anlangte. Der gebürtige Österreicher Alfred Polgar, seit 1925 Theaterkritiker in Berlin und Autor der „Weltbühne", des „Tage-Buchs" und des „Berliner Tageblatts", floh 1933 in das Alpenland, wo er f ü r Exilzeitungen arbeitete, so f ü r „Die neue 16 47 43 49 58
Ebenda, S. 68. DÖW, Nr. 18861/46. International Biographical Dictionary, S. 316 f. Ebenda, S. 319; Lacina, S. 489. Focke, Harald/Strocka, Monika, Alltag der Gleichgeschalteten. Wie die Nazis Kirche, Kultur, Justiz und Presse braun färbten, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 44 ff.
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Weltbühne" (Prag) und unter dem Pseudonym Archibald Douglas für „Das Neue Tage-Buch" (Paris). 1938 ging er über die Schweiz nach Frankreich. In seinem Brief vom 16. November 1938 aus Paris an den Sohn des österreichischen Dramatikers und Erzählers Arthur Schnitzler, Heinrich, bis 1932 Schauspieler am Staatstheater Berlin, dann bis zur Annexion Regisseur und Schauspieler am Deutschen Volkstheater in Wien, danach in die USA emigriert, heißt es: „War die Bevölkerung bisher zur Hälfte antisemitisch, so ist sie jetzt zur anderen Hälfte betont judenfeindlich. Ob man hier wird bleiben können, erscheint mehr als fraglich, aber mehr als gewiß ist, daß es keinen anderen Fleck europäischer Erde gibt, wo unsereins sonst hin könnte. Und Amerika liegt, selbst wenn es zugänglich wäre, viele hundert Dollar weit weg."51 Richard Arnold Bermann, geborener Österreicher, der seit Anfang der 30er Jahre als Schriftsteller in Berlin wohnte und für das „Berliner Tageblatt" ebenso wie für Wiener Zeitungen schrieb, bereiste zu Beginn des Jahres 1933 Libyen, um dann nicht mehr nach Berlin, sondern nach Wien zurückzukehren. Hier veröffentlichte er u. a. eine Novelle und ein Essay. Nach der Annexion versuchte er vergeblich, in die CSR zu gelangen. Als er wieder in (der österreichischen Hauptstadt eintraf, wurde er festgenommen. Da die Gestapo nach einem Arnold Höllriegel fahndete und nicht wußte, daß das Bermanns Pseudonym war, konnten Freunde seine Freilassung und Emigration in die USA bewerkstelligen.52 Der gebürtige Wiener Carl Rößler, seit 1900 Schriftsteller in München, ging 1933 in die österreichische Hauptstadt, 1938 nach Großbritannien.53 Aus Berlin, wo er sich seit 1931 aufhielt, kam der österreichische Romancier und Theaterkritiker Robert Musil 1933 nach Wien. Er nahm am Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß ,zur Verteidigung der Kultur vom 21. bis 25. Juni 1935 in Paris teil und sprach dort.54 Er veröffentlichte 1936 'Essays .unter dem Titel „Nachlaß zu Lebzeiten". 1938 emigrierte Musil nach Zürich. Ödön von Horväth, geboren in Österreich-Ungarn, lebte seit 1924 in Berlin, arbeitete hier für den Ullstein-Verlag und ging 1933 über Salzburg nach'Wien. Im April 1934 kam er in die deutsche Hauptstadt zurück. Er beklagte sich am 18. Juni jenes Jahres schriftlich beim „Neuen Bühnenverlag", der diesen Brief an den Reichsdramaturgen, Rainer Schlösser, weiterleitete, daß Heinz Hilpert vom „Völkischen Beobachter", dem Zentralblatt der NSDAP, attackiert worden sei, weil dieser beabsichtigte, als Intendant des Deutschen Theaters in der nächsten Spielzeit ein Schauspiel von ihm aufzuführen. Horväth verwies in seinem Schreiben darauf, daß er in der Weimarer Republik antikommunistische Stücke verfaßt habe und deswegen von Erwin Piscator und Bertolt Brecht kritisiert worden sei. Er fühle sich als „Mitglied des mächtigen deutschen Kulturkreises" 61 53 53 54
DÖW, Nr. 15948/40. Lacina, S. 201 f., 487; International Biographical Dictionary, S. 95. International Biographical Dictionary, p. 975. Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz, Einl. und Anhang von Wolfgang Klein, Berlin 1982, S. 51 ff.; Schiller, Dieter, Standortbestimmungen in der deutschen Exilliteratur um die Mitte der dreißiger Jahre, in: Verteidigung der Kultur. Der Internationale Schriftstellerkongreß Paris 1935 und die antifaschistische Literatur 1935-1939, Berlin 1986, S. 14 ff.
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und habe sich im Ausland an keinerlei Protesten gegen die deutsche Regierung beteiligt. Es würde ihn schmerzlich berühren, wenn man ihm untersage, „am Wiederaufbau Deutschlands mitzuarbeiten". Sein Brief nutzte ihm nichts, seine Stücke wurden nicht mehr aufgeführt. Eine kurze Zeit .arbeitete er für den Film. Da seine Enttäuschung über die Entwicklung .in Deutschland wuchs, verließ er es endgültig, begab sich über Zürich nach Wien, darauf nach Henndorf bei Salzburg. In Österreich schrieb er einige Schauspiele, meist Komödien. 1938 floh er über verschiedene Länder nach Paris, wo er am 1. Juni tödlich verunglückte. 55 Der gebürtige Ungar Alexander Roda Roda, der iin den 20er Jahren in Berlin tätig war, dem SDS sowie dem PEN-Klub angehörte und Beiträge u. a. für „Die Weltbühne" verfaßte, wandte sich 1933 nach Österreich. Hier schrieb er auch den Roman „Die Panduren". 1938 übersiedelte er in die Schweiz. Der Schriftsteller und Verleger Paul Anton Roubiczek, der Artikel u. a. im „Berliner Börsen-Courier" und im „Tage-Buch" publiziert hatte, emigrierte 1933 nach Paris, um Mitte der 30er Jahre — nach beruflichen Mißerfolgen — nach Wien überzusiedeln. Hier arbeitete er in Verlagen, so als Direktor des „Zeitbild"Verlages. 1938 floh er nach Prag, 1939 nach Großbritannien. 56 Gottfried Bermann-Fischeir, nach dem Tod Samuel Fischers im Oktober 1934 alleiniger Geschäftsführer des S. Fischer Verlages, erwirkte im März 1935 die Zustimmung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, daß er 60 Prozent der Verlagsanteile verkaufen, die vom Regime unerwünschten Autoren im Ausland edieren und ein Lager mit deren Werken — etwa 780 000 Exemplaren — außerhalb Deutschlands anlegen konnte. Nachdem er den in Deutschland verbleibenden Verlagsanteil veräußert hatte, übersiedelte Rermann-Fischer 1936 nach Wien und etablierte dort im Sommer jenes Jahres den nach ihm benannten Verlag. „Buchhaltung und Honorarabrechnung", schreibt er in seinen Erinnerungen, „waren in zuverlässigen und erfahrenen Händen; die Theaterabteilung übernahm Dr. Konrad Maril, der mir aus Berlin gefolgt war; das Lektorat übertrug ich meinem Freund Dr. Viktor Zuckerkandl, bis dahin Musikkritiker an der Vossischen Zeitung, einem eminenten Literaturkenner. Für die Leitung der Buchherstellung fand sich ein erfahrener Spezialist, der bis dahin Direktor einer Wiener Druckerei gewesen war, Dr. Justinian Frisch, der mir mit seinen umfassenden Kenntnissen auf technischem und kaufmännischem Gebiet von großer Hilfe war."37 Der Verlag hatte die Rechte der bisher in Berlin verlegten Werke u. a. folgende^ Autoren übernommen: Richard Beer-Hofmann, Alfred Döblin, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Hollitscher, Alfred Kerr, Harry Graf Kessler, Annette Kolb, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, George Bernard Shaw, Jakob Wassermann und Carl Zuckmayer. Im Herbst 1936 wurde die neue Produktion — sie umfaßte 53
56 57
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Lacina, S. 488; International Biographical Dictionary, S. 542; Wardetzky, Jutta, Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Studien und Dokumente, Berlin 1983, S. 104, 277 ff. International Biographical Dictionary, S. 974, 999. Bermann-Fischer, Gottfried, Bedroht — Bewahrt. Der Weg eines Verlegers, Frankfurt a. M./Hamburg 1971, S. 106. Ebenda, S. 93 ff.
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zehn Titel — ausgeliefert, und zwar durch die Wiener Firma Rudolf Lechner & Sohn, Seilerstätte 5. 29 Titel erschienen 1937. In jenem Jahr entstand auch die Schriftenreihe „Ausblicke". Am 13. März 1938 floh Bermann-Fischer mit seiner Familie nach Italien.58
2.3.
Schauspieler, Filmschaffende und Komponisten
Einer der bedeutendsten Schauspieler Deutschlands, Albert Bassermann, exilierte 1933 über Prag nach Wien. In diesem Jahr und in den folgenden Jahren unternahm er Tourneen durch Österreich, die Schweiz und die CSR, oft zusammen mit Ernst Deutsch und Tilla Durieux sowie mit Alexander Moissi, der nach 1933 nicht mehr wie zuvor in deutschen Theatern auftrat. Sie gastierten auch an Bühnen kleinerer österreichischer Städte. Das Angebot einer Gastrolle in Leipzig lehnte Bassermann 1934 ab. Nach Filmarbeiten in Paris übersiedelte er 1939 in die USA. Ernst Deutsch, in den 20er Jahren Schauspieler in Berlin, 1931/32 am Burgtheater in Wien, war im April 1933 nach Prag emigriert. Tilla Durieux, eine gebürtige Wienerin, die von 1927 bis 1933 an verschiedenen Berliner Theatern spielte, ging nach der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland in die Schweiz. Von 1936 bis 1938 war sie als Lehrkraft am (Mozarteum in Salzburg tätig.59 Der aus Baden bei Wien stammende Max Reinhardt, seit Jahrzehnten im Theaterleben der deutschen Hauptstadt profilbestimmend und Intendant des Deutschen Theaters, verließ im März 1933 Berlin und nahm seinen Wohnsitz in Salzburg, wo er seit 1918 Schloß Leopoldskron besaß und wo er die von ihm begründeten Salzburger Festspiele fortführte. Zu mehreren Theateraufführungen begab ersieh in die USA, wohin er endgültig 1937 übersiedelte.60 Fritz Kortner, in Wien geboren, spielte 1932 am Komödienhaus in Berlin. Angesichts des zunehmenden Boykotts durch die Nazis ging er noch im selben Jahr in die Schweiz. Nach erheblichen Stimmenverlusten der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 kam er erneut für kurze Zeit zu Theater- und Filmarbeiten nach Berlin. 1933 kehrte er in die österreichische Hauptstadt zurück, wo er jedoch kein Engagement fand. Gastspiele führten ihn u. a. nach Prag. 1934 ließ er sich in Großbritannien nieder. Willy Trenk-Trebitsch, gebürtiger Österreicher, vor 1933 Schauspieler an verschiedenen Berliner Theatern, erfolgreich .u. a. in Bertolt Brechts und Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony", begab sich 1933 nach Wien. Wegen geringer Engagementsmöglichkeiten ,am Theater arbeitete er vor allem für den Rundfunk. Er rief die Sendung „Stimme zum Tag" ins Leben. Auch im „Kabarett der Komiker" trat er auf. Dieses in Berlin bekannteste politischliterarische Kabarett hatte sein Besitzer, Kurt Robitschek, nach seiner Emigration in Wien wiedereröffnet, jedoch mit wenig Erfolg. Robitschek, der in der deutschen Hauptstadt auch antinazistische Programme aufgeführt und 1931 sowie im folgenden Jahr Wohltätigkeitsveranstaltungen für arbeitslose Künstler, die „Nacht der Prominenten", initiiert hatte, war eine Zeitlang Direktor der 69 60
Lacina, S. 207, 486; International Biographical Dictionary, S. 57, 211 f., 230. Lacina, S. 201, 487; International Biographical Dictionary, S. 956 f.
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„Kammerspiele" in Wien. Im Januar 1936 emigrierte er weiter nach Frankreich. Am Wiener „Kabarett ider Komiker" wirkte auch Curt Bois, ein Berliner Schauspieler, der 1933 exiliert war. Er komponierte außerdem für Trude Kolmann und begleitete sie am Klavier. 1934 wandte ersieh nach New York. Die Kolmann, Schauspielerin und Direktorin in verschiedenen Berliner Kabaretts, u. a. in Friedrich Hollaenders „Tingel Tangel", war ebenfalls nach Wien exiliert. Hier trat sie u. a. im Kabarett „Der sechste Himmel" auf, um 1938 über Paris nach London zu gehen. Mit ihr arbeitete der deutsche Chansonsänger und Autor Max Colpet, einst Mitbegründer von Werner Fincks politisch^satirischem Kabarett „Die Katakombe" in Berlin. Colpet war 1933 nach Paris emigriert, als ihn die Gestapo wegen einer antinazistischen Parodie suchte, und 1935 nach Wien gekommen. Hier schrieb er Filmmanuskripte und 1937 das Musical „Pam-Pam" für (das Theater an der Wien. 1938 begab er sich erneut nach Paris. Mit Trude Kolmann trat ebenso der Schauspieler und Kabarettist Paul Morgan auf, gebürtiger Wiener, der seit 1918 an Berliner Bühnen gespielt hatte und 1933 über Zürich nach Wien gelangt war. Er schrieb auch Texte für den Operettenkomponisten Ralph Benatzky. Im Mänz 1938 verhaftete die Gestapo Morgan, ließ ihn in das KZ Dachau, dann nach Buchenwald bringen, wo er im Dezember jenes Jahres an einer Lungenentzündung starb. 61 Die in Wien geborenen Schauspieler Maria Donath und Hermann Blass gingen 1933 aus Berlin in die österreichische Hauptstadt. Maria Donath hatte, da mit einem jüdischen Schauspieler verheiratet, unter den Nazis kein Engagement mehr erhalten. Blass übernahm in seiner Heimatstadt Rollen in den Filmen „Ball im Savoy" und „Bretter, die die Welt bedeuten". Nur kurze Zeit war Max Ophüls in Österreich; er emigrierte noch 1933 weiter nach Frankreich. Der deutsche Schauspieler Felix Bressart filmte nach 1933 auch einige Zeit in Wien und übersiedelte 1938 in die USA. Leo Rauss, gebürtiger Österreicher, während der Weimarer Republik Schauspieler am Deutschen Theater sowie am Lessing-Theater und an der Volksbühne in Berlin, kam 1933 aus der deutschen in die österreichische Hauptstadt. Als Jude fand er zunächst keine Arbeit in seinem Beruf. Er zog in die Umgebung von Salzburg, lernte den lokalen Dialekt und färbte seine Haare blond. Auf Empfehlung Max Reinhardts bereitete er sich 1936 auf eine Rolle ¡an einem Wiener Theater vor. Der vermeintliche Autodidakt, Bauer aus der Gegend von Salzburg namens Kaspar Brandhofer, erhielt schließlich ein Engagement und erzielte einen sensationellen Erfolg in einem Stück im Theater in der Josephstadt. Die Nazipresse feierte ihn als „Beweis" für die Überlegenheit der arischen Rasse. Als Reuss sein Inkognito lüftete, trug er dazu bei, die Widersinnigkeit der faschistischen Rassentheorie zu enthüllen. Nun erhielt er unter seinem richtigen Namen weitere Rollen. Er spielte bis 1937 am Jüdischen Theater in Wien und nahm dann seinen Wohnsitz in Hollywood.62 61
62
International Biographical Dictionary, S. 652, 1173, 974, 130, 646, 193, 831; Horak, S. 58. Lacina, S. 201, 208; Horak, S. 57, 60, 118; International Biographical Dictionary, S. 152, 963 f.
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Zu den exilierten Filmschaffenden gehörte Richard Oswald, gebürtiger Wiener. Als er von den deutschen Nazis attackiert wurde, verlegte er seine Produktion nach Österreich. In Wien setzte er Aufnahmen mit dem Tenor Joseph Schmidt fort. Der Produzent Erich Morawski gründete nach seiner Emigration die Wiener Film-Morawski. Arbeit für einige Zeit fand seit 1933 in der österreichischen Hauptstadt auch der Produzent Sam Spiegel. Unter den Regisseuren, die von Berlin nach Wien gingen, befanden sich Kurt Gerron und Wilhelm Thiele. Eine kontinuierliche Filmproduktion kam jedoch nicht zustande, da der deutsche Markt weitestgehend verschlossen blieb, zumal die deutschen Behörden im September 1935 in Wien eine Prüfstelle für österreichische Filme eingerichtet hatten. Die Zahl der von Emigranten in. Wien und auch in Budapest hergestellten Filme sank ständig: von neun 1934 über sechs 1936 auf einen 1937. William Szekeley, ebenfalls 1933 nach Wien gekommen, gründete hier 1935 die Gloria-Film und 1937 die Intergloria, die beide vornehmlich Operettenfilme produzierten. Diese konnten wegen ihres unverfänglichen Inhalts auch nach Deutschland exportiert werden. Zu den Musikern, die Deutschland verließen, gehörte der Komponist Paul Abraham, ein gebürtiger Ungar, der einige Jahre in Berlin gelebt hatte. Seit 1933 in Wien, verfaßte er u. a. die Musik zu den Filmen „Ball im Savoy" und „Bretter, die die Welt bedeuten" sowie zu den Operetten „Märchen im Grand Hotel" und „Roxy und ihr Wunderteam", die in den 30er Jahren in der österreichischen Hauptstadt uraufgeführt wurden. Bruno Walter, 1925 bis 1929 Dirigent an der Städtischen Oper Berlin, dann des Leipziger Gewandhausorchesters, exilierte 1933, von den Nazis als Jude boykottiert, nach Österreich. Gelegentliche Engagements führten ihn von hier nach Amsterdam. Auf seine Veranlassung wurde 1936 in Wien ein Zyklus mit Werken des in Hitlerdeutschland verpönten Komponisten Gustav Mahler aufgeführt. Von diesem Jahr bis 1938 war Walter an der Wiener Staatsoper tätig, um dann weiter nach Frankreich zu emigrieren.63
2.4.
Wissenschaftler
Zu den wenigen nach Österreich exilierten Wissenschaftlern zählte der Dekan der Handelshochschule in Berlin, Moritz Julius Bonn, Ökonom und Professor der Politischen Wissenschaften. Er besaß seit 1926 ein Haus in Parsch bei Salzburg, wo er sich stets während der Semesterferien aufhielt. Nach seiner Entlassung und Emigration 1933 lebte er nicht ständig in Österreich, sondern befanld sich wiederholt zu Vorlesungen in Großbritannien und in den USA. Der seit den 20er Jahren in Heidelberg arbeitende Statistiker Jakob Marschak ging im März 1933 nach Wien, im Sommer jenes Jahres bereits weiter nach Oxford. Der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Hertz, gebürtiger Wiener, der seit 1929 an der Universität in Halle einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Soziologie inne-
63
Horak, S. 11 f., 40, 48, 114, 143, 148; Schneidereit, Otto, Operette von Abraham bis Ziehrer, Berlin 1969, S. 9; International Biographical Dictionary, S. 4,1100,1205.
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hatte, wurde am 1. Mai 1933 entlassen. Er war ein offener Gegner der faschistischen Rassentheorie und kam in die österreichische Hauptstadt zurück. 1938 übersiedelte er nach Großbritannien. 64
3.
österreichische Behörden und deutsche Emigranten. Unterstützungsmaßnahmen verschiedener Organisationen
Die Lage der deutschen Emigranten in Österreich war sehr unterschiedlich. Vor allem die Mitglieder von Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung, aber ebenso jüdische sowie katholische Bürger kamen aus Deutschland oft nicht nur ohne Ausweis, sondern in ihrer großen Mehrheit auch ohne Geld, unter Zurücklassung ihres Hab und Guts in dieses Land. Ihre Situation gestaltete sich deshalb doppelt schwierig: Sie sahen sich der Willkür der Behörden und zugleich materieller Not ausgesetzt. Kompliziert für sie war es zumeist, Arbeit zu erhalten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und nicht mehr auf die notwendigerweise geringen Zuwendungen österreichischer Parteien und Organisationen angewiesen zu sein, durch die sie sich in der ersten Zeit des Exils über Wasser halten konnten. Nur die wenigsten hatten Verwandte oder Freunde in Österreich, die ihnen weiterhalfen. Anders hingegen gestaltete sich die Lage zahlreicher bürgerlicher Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Künstler. Sie besaßen überwiegend gültige Pässe, einige von ihnen seit Jahren ein Anwesen in diesem Alpenland, konnten oft die Familie, sogar Hausrat mitnehmen oder nachkommen lassen, z. T. ein gewisses Vermögen — auf welchem Weg auch immer — in das Exilland hinüberretten und rasch, vielfach ohne Unterbrechung, Beschäftigung finden. Das galt in erster Linie für die „Prominenten", aber auch für viele andere dieser Gruppen. Die österreichischen Behörden richteten ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Überwachung emigrierter Kommunisten. In einem als „Vertraulich! Sehr dringend!" gekennzeichneten Rundschreiben wandte sich die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im österreichischen Bundeskanzleramt am 4. März 1933 an alle Landesregierungsämter und an alle Bundespolizeibehörden: „Nach den letzten Ereignissen im Deutschen Reiche ist mit einem erhöhten Bestreben staatsgefährlicher Elemente, nach Österreich einzureisen und hier Aufenthalt zu nehmen, zu rechnen." Es sei deshalb erforderlich, „nicht nur der Einreise unerwünschter Personen aus Deutschland schärfstes Augenmerk zuzuwenden", sondern „auch die Fremdenbewegung auf dem Gebiet der Handhabung der Meldevorschriften der strengsten Überwachung zu unterwerfen, um das Auftauchen und die Seßhaftmachung solcher Elemente, insbesondere auch kommunistischer Agitatoren aus Sowjetrußland, politischer Emigranten aus Ungarn, Jugoslawien und den anderen Balkanstaaten, gesichert wahrnehmen und weiterhin kontrollieren, gegebenenfalls auch verhindern zu können". 65 64 65
Lacina, S. 201 f£., 487 f.; International Biographical Dictionary, S. 132, 497. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien, Bundeskanzleramt, Inneres, Polizei-Direktion Wien, Berichte, Karton 25.
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Im selben Monat veranlaßte die Bundespolizeidirektion in Wien auf Grund ihr zugegangener Spitzelberichte die Grenzkontrollstelle in Passau, Frachtschiffe der in Amsterdam ansässigen „Continental-Motorschiffahrtsgesellschaft" besonders zu überprüfen. Sie sollte deutsche Kommunisten aus Bayern nach Österreich geschmuggelt und hier an Land gesetzt haben.68 Wie die Wiener „Arbeiter-Zeitung" am 9. April 1933 berichtete, führte die Kriminalpolizei der österreichischen Hauptstadt seit geraumer Zeit jeden Morgen Razzien in Massenquartieren, z. B. im Männerheim in der Wurlitzergasse und im Heim der Heilsarmee, durch. Sie suchte Deutsche, die vor den Nazis geflüchtet waren. Auch wenn sie einen gültigen Paß besaßen, wurden sie mitgenommen, um ihre Parteizugehörigkeit festzustellen und ihnen gegebenenfalls anzukündigen, daß sie über die Grenze abgeschoben würden. Die „ArbeiterZeitung" kommentierte: Das sei nur eine Drohung, um die Emigranten einzuschüchtern, denn in Österreich gelte das Asylrecht. Den von der Polizei bedrohten Flüchtlingen solle der Hinweis gegeben werden, daß ihnen gegen die Abschiebung eine Berufung beim Landeshauptmann zustehe und daß ihnen bei einer Ausweisung die Wahl der Grenze freigestellt werden müsse. Angesichts der abweisenden Haltung offizieller Stellen gegenüber in Not geratenen Emigranten aus Deutschland nahmen sich österreichische Parteien und Organisationen — entsprechend ihrer Möglichkeiten — dieser Exilanten an. Die illegale Kommunistische Partei Österreichs verfügte ebenso wie die ihr nahestehenden Massenorganisationen nur über geringe Möglichkeiten und finanzielle Mittel, um deutsche Kommunisten zu unterstützen bzw. ihnen zu helfen, in .andere Länder weiterzuemigrieren. Das Funktionärsorgan der österreichischen Roten Hilfe, „Der RH-Funktionär", stellte im März 1935 fest: „Wir sind eine illegale Organisation, die unter den gegebenen Verhältnissen einen äußerst schweren Kampf für die gesicherte Unterbringung und Weiterbeförderung der eigenen verfolgten Klassenkämpfer zu führen hat. Unsere Bruderorganisationen im Ausland kennen unsere Situation sehr genau und wissen, daß Österreich heute kein Asylland für verfolgte ausländische Genossen ist, daß im Gegenteil gerade bei uns fast 100% die Sicherheit besteht, daß die österreichische faschistische Justiz ausländische Genossen den sie verfolgenden Heimatsbehörden ausliefert . . . Nur in Ausnahmefällen werden ausländische Genossen zur Weiterreise nach Österreich geschickt. In jedem dieser Fälle bekommt der Emigrant eine Losung oder eine Meldestelle mit, mit der er bei uns legitimiert ist, oder aber die Bruderorganisationen verständigen uns brieflich, daß dieser oder jener Genosse herkommt und daß wir ihm weiterhelfen sollen."67 Anders war 1933 die Situation der SPÖ. Der Parteivorstand beauftragte am 3. April jenes Jahres Julius Deutsch, mit den führenden Funktionären der Partei in Wien und dem Bundesvorstand der Freien Gewerkschaften zu sprechen, um eine zentrale Emigrantenunterstützungsstelle einrichten zu können. Der SPÖVorstand erklärte sich bereit, einen anteiligen Beitrag zur Verfügung zu stellen.68 Auf der Sitzung des SPÖ-Vorstandes am 8. Mai 1933 beantragte Julius Deutsch, 66 67 68
Ebenda. DÖW, Nr. 4030/3. Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, (Archiv) Mappe 45/6, Protokolle Parteivorstand.
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daß die Parteiführung, die Leitung der Wiener Parteiorganisation und der Bundesvorstand der Freien Gewerkschaften je 2 000 Schillinge f ü r deutsche Flüchtlinge bereitstellten. Dem wurde zugestimmt und f ü r die Durchführung der Unterstützungsaktion Ludwig Phillip, Mitglied des Parteisekretariats, die Verantwortung übertragen. Auf der Tagung des SPÖ-Vorstandes am ,19. Juni 1933 berichtete einer der Sekretäre, Leopold Thaller, über Festlegungen der SAI, nach denen in jedem Land eigene Flüchtlingsfonds zu schaffen waren und die SAI bis zu 50 Prozent Zuschuß leisten wolle. Am 26. Juni informierte Thaller den Parteivorstand, d a ß in Österreich aus Vertretern des Bürgertums ein Hilfskomitee f ü r deutsche Flüchtlinge gebildet worden sei. Dessen Aufruf in der SPÖ-Presse zu veröffentlichen, lehnte der Vorstand jedoch ab. Am 24. Juli 1933 unterrichtete ihn Julius Deutsch, daß besonders die westlichen Bundesländer Österreichs durch die Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland belastet seien. Sein Antrag, Tirol einen einmaligen Beitrag von 300 Schillingen zu bewilligen, fand die Billigung der Vorstandsmitglieder. Ende August wurden erneut von Partei- und Bundesvorstand sowie der Wiener Organisation der SPÖ je 2 000 Schillinge dem Fonds zur Unterstützung deutscher Emigranten zur Verfügung gestellt. Zugleich legte der SPÖ-Vorstand fest, daß den Exilanten keine Empfehlungsbriefe ausgehändigt werden und mit Prag zu verhandeln sei, um das Hin- und Herschicken der Flüchtlinge zu beenden. Im September 1933 bewilligte der Parteivonstand wiederum 2 000 Schillinge u n d gab der Erwartung. Ausdruck, d a ß die Wiener Parteiorganisation und der Bundesvorstand der Gewerkschaften ebenso handeln würden. Zudem seien den einzelnen Landesparteiorganisationen 50 Prozent ihrer Flüchtlingsausgaben zu vergüten.® Allein in Wien kamen von Mai bis Dezember 1933 714 Emigranten aus verschiedenen Ländern, darunter mehr als 350 aus Deutschland, in die Sozialdemokratische Flüchtlingsstelle im ,6. Bezirk, Königseggasse 10, an die rund 20 000 Schillinge an Unterstützung ausgezahlt wurden. 70 Im Tätigkeitsbericht der Sozialdemokratischen Flüchtlingshilfe f ü r Mai bis Dezember 1933 heißt es: „Um die Partei- und Organisationszugehörigkeit der Emigranten festzustellen, war oft eine sehr umfangreiche Korrespondenz nötig, da die meisten Emigranten ohne Ausweispapiere in der Flüchtlingsstelle vorsprechen und die von ihnen gemachten Angaben erst teils durch die in Wien lebenden Emigranten ü b e r p r ü f t werden müssen und, wo eine solche Überprüf u n g nicht möglich ist, eine Korrespondenz eingeleitet wurde." 71 Da sich auch Nazispitzel u n t e r die Emigranten gemischt hatten, gab die Flüchtlingsstelle Warnlisten heraus. Unter den mehr als 350 deutschen Emigranten, die sie f ü r diesen Zeitraum als Unterstützte anführte, befanden sich überwiegend Mitglieder der SPD und des Reichsbanners, wenige der SAP (neun) und der KPD (22). Die Flüchtlingsstelle beschaffte Emigranten Pässe, die die Ausreise in ein anderes Land gestatteten. Sie besorgte Quartiere sowie ein freies Mittagessen bei 59 70 71
Ebenda. Exenberger, S. 24. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien, Sozialdemokratische Partei, Karton 4.
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österreichischen Sozialdemokraten und ermöglichte eine kostenlose ärztliche Behandlung. Den Emigranten wurde „der Bezug der A . Z. (.Arbeiter-Zeitung' — K . M.) zum Arbeitslosenpreis, der Besuch der Kurse in den Volksbildungshäusern unentgeltlich bewilligt. Von der Direktion des ,Appollo' (in ihm zeigte man Filme, aber auch 'Revuen — K . M.) wunden Freikarten zur Verfügung gestellt. Die Arbeiterbüchereien stehen den Emigranten ebenfalls kostenlos zur Verfügung." 7 2 Das überparteiliche, offenbar nicht nur aus Bürgerlichen — wie der SPÖ-Vorstand meinte — bestehende „österreichische Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge", mit Sitz im 1. Wiener Bezirk, Elisabethstr. 24, war seit Mai 1933 tätig. In seinem ersten Rechenschaftsbericht vom September 1933 wird festgestellt: „Schriftsteller, Mediziner, Juristen, Kaufleute, Künstler, Angestellte, Arbeiter — Angehörige aller politischen Richtungen und aller Konfessionen — kommen zu uns, mittellos, erwerbslos und verzweifelt. Sie berichten Entsetzliches vom faschistischen Terror in Deutschland, manche von ihnen sind aus dem Konzentrationslager entkommen, die meisten haben nichts als das nackte Leben gerettet." 73 Das Hilfskomitee unterstützte sie mit Geldern privater Spender. Bisher seien 2 000 Schillinge in bar ausgegeben, 200 unentgeltliche Ubernachtungen ermöglicht, 15 Personen eingekleidet, ca. 200 Mittagessen 'bereitgestellt sowie in dringenden Fällen kostenlose ärztliche Behandlung erwirkt worden. In dem als Flugblatt verbreiteten Bericht appellierte das Komitee an die Österreicher: „ A b e r alles das reicht nicht annähernd aus! Immer noch kommen Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich, immer noch haben Unzählige nicht das Allernötigste zum Leben. Tätige Mithilfe aus allen Kreisen der österreichischen Bevölkerung ist nötig, wenn unsere Hilfsaktion fortgeführt werden soll. Helft uns weiter! W i r brauchen dringend Geldmittel. Unterstützen Sie uns durch Uberweisungen auf unser Bankkonto! Wir brauchen Verköstigung und Kleider für Frauen, Männer und Kinder. Teilen Sie uns bitte mit, ob Sie uns Freitische zur V e r fügung stellen können und ob wir Kleider abholen lassen dürfen! Wir brauchen ärztliche und juristische Hilfe, wir brauchen Naturalleistungen aller A r t (Lebensmittelpakete etc.). Wir brauchen Mitarbeiter und Hilfskräfte für unsere Büround sonstigen Arbeiten. Unterstützen Sie uns in unserer Arbeit! Was drüben an ungeheuerlichen Verbrechen geschieht, soll uns dazu aufrütteln, wenigstens zu helfen, soweit wir können!" 74 In einem weiteren Flugblatt erklärte das Komitee: „Eine große zivilisierte Nation wird von einer brutalen bewaffneten Terrororganisation vergewaltigt. Die nationalsozialistische Regierung hat die blutigste Schreckensherrschaft gegen alle, die ihr aus irgendeinem Grunde nicht genehm sind, zum Programm erhoben . . . Es ist Pflicht jedes einzelnen, Protest gegen die Geschehnisse in Deutschland dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er die politischen Flüchtlinge, die völlig mittellos hier eintreffen, tatkräftig unterstützt. W i e in Frankreich, Holland und anderen Ländern, w o sich Männer w i e Romain Rolland, Bar72
Ebenda.
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DÖW, Nr. 4002/85. Ebenda.
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busse, Dreiser an die Spitze der Aktion gestellt haben, ist auch in Österreich ein Hilfskomitee entstanden, das die Unterstützung auf überparteilicher Grundlage organisiert. Wir richten a n alle den Appell mitzuwirken." 75 Das Komitee hatte zu diesem Zeitpunkt f ü r sein Anliegen Zustimmungserklärungen u. ,a. von dem österreichischen sozialdemokratischen Soziologen Max Adler, von Hanns Eisler, Oskar Maria Graf, Fritz Kortner und von dem österreichischen bürgerlichen Schriftsteller Friedrich Torberg erhalten. Bereits am 12. August 1933 hatte es in einem Schreiben der Deutschen Gesandtschaft in Wien mitgeteilt, daß es sich „die Unterstützung der zahlreichen aus Deutschland wegen politischer Verfolgungen Geflüchteten zur Aufgabe" gemacht habe. Zugleich protestierte es gegen die Hinrichtung der im ersten großen Terrorprozeß zum Tode verurteilten vier deutschen Antifaschisten am 1. August ¡in Hamburg-Altona sowie gegen die völlig unbegründete Anklage gegen Torgier, Dimitroff, Popov und Tanev wegen der Brandstiftung im Reichstag. Die Deutsche Gesandtschaft berichtete dem Auswärtigen Amt in Berlin tendenziös über dieses Schreiben und bemerkte, daß das Hilfskomitee „nicht näher bekannt" sei. Dennoch schlußfolgerte sie voreilig und unzutreffend: „Es handelt sich allem Anschein nach um eine neue kommunistische Organisation." 76 In Wien vereinbarten Anfang 1935 verschiedene Organisationen und Vereinigungen, sich gemeinsam u m die Hilfe f ü r deutsche Emigranten zu kümmern. Es waren dies der Evangelische Zentralverein f ü r innere Mission, die Heilsarmee, die Internationale Vereinigung f ü r Kinderhilfe, die Internationale Frauenliga, die Israelitische Kultusgemeinde, die österreichische Liga f ü r Menschenrechte, die österreichische Völkerbundliga, der Schutzverband f ü r Ausländer, die Schwedische Gesellschaft f ü r Israel, die Society of Friends (Quäker), der Verein gegen Verarmung und Bettel sowie der Verein Settlement. In einem Brief vom 10. J a n u a r 1935 an das Präsidium der Polizeidirektion in Wien stellten sie fest: „Furchtbar ist das Los der Emigranten, aber nicht n u r furchtbar f ü r sie selbst, sondern auch geradezu unerträglich f ü r jeden, der sich Sinn f ü r Menschlichkeit und Mitgefühl f ü r Leidende und Elende im Herzen bewahrt hat. Von Land zu Land, von Ort zu Ort gehetzt, ohne Obdach, ohne Nahrung, .allzu oft ohne zulängliche Bekleidung ist ihr Leben eine Kette von bittersten Sorgen und Qualen aller Art. Sie einfach von der Tür zu stoßen, wäre Barbarei, wäre unmenschlich. Die meisten Emigranten kommen begreiflicherweise ohne genügende Ausweispapiere zu uns und laufen deshalb Gefahr, verhaftet, vielleicht auch gestraft und dann ausgewiesen zu werden. Aber auch jene, die sich vollkommen legitimieren können, haben in der Regel nicht so viel Geldmittel, daß sie nicht wegen Subsistenzlosigkeit gleichfalls ausgewiesen würden . . . Kaum sind sie über der Grenze, werden sie wieder zurückgeworfen, um nun schon durch ,Reversion' straffällig zu sein. Es ist klar, daß hier Abhilfe geschaffen werden muß. Eine Fürsorge f ü r die Emigranten ist unbedingt notwendig." 77 Die genannten Organisationen teilten der Wiener Polizeidirektion mit, daß sie 'bei d e r Society of Friends im 1. Wiener Bezirk, Singerstraße 16, eine Zentralstelle f ü r die gemein75 76 77
Ebenda. Ebenda, Nr. 17022. Ebenda, Nr. 7130.
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schaftliche Hilfsaktion einrichten würden, die auch die Identität und Herkunft der Emigranten feststellt, da polizeiliche Ermittlungen im Herkunftsland die zurückgebliebenen Angehörigen gefährdeten. Die Zentralstelle würde auf Grund ihrer Recherchen einen mit Lichtbild versehenen Ausweis ausstellen, der nicht nur bei materiellen und finanziellen Unterstützungen durch diese Organisationen vorgelegt, sondern auch von der Polizei zur Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung anerkannt werden sollte. Die Mittel für die Hilfsaktion würden von den beteiligten Organisationen aufzubringen sein, aber auch durch Bundeszuschüsse und Beiträge aus jenen Staaten, die nicht von der Emigration betroffen waren. Für die Ausreise, „die tunlichst anzustreben wäre", ohne eine Ausweisung anzuordnen, sollten mittellosen Emigranten weitgehende Fahrtbegünstigungen gewährt werden. 78 Im Auftrag des Hochkommissars für die Flüchtlinge aus Deutschland hielt sich Anfang Februar 1935 Walter Kotschnig, Direktor des Hochkommissariats, in Wien auf, um sich über die Lage der deutschen Emigranten zu unterrichten. Er sprach auch mit Vertretern der erwähnten Organisationen, von deren Eingabe an die Polizeidirektion er erfahren hatte. Vom Außenamt erbat Kotschnig, auf die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit einzuwirken, damit diese die Vorschläge der Hilfsorganisationen unterstütze. Darauf wandte sich das Außenamt am 12. Februar an die Generaldirektion und erklärte, daß „die Errichtung einer solchen Zentralstelle die österreichischen Behörden der Notwendigkeit überheben würde, mit vielen Hilfsorganisationen zu verhandeln bzw. deren zersplitterte Aktionen zu überwachen; andererseits wäre es sozusagen auch aus optischen Gründen nicht unerwünscht, dem Hochkommissariat auf seine verschiedenen Anregungen u. dgl., die bisher immer nur ganz formell beantwortet wurden, auch einmal eine etwas mehr meritorische Erledigung zugehen zu lassen, indem wenigstens die Genehmigung eines solchen Vorschlages bekanntgegeben werden könnte". 79 Jedoch schoben die zuständigen Behörden eine Entscheidung hinaus. Mehrere der Hilfsorganisationen richteten Anfang Mai 1935 eine Eingabe an den Staatssekretär für die Angelegenheiten des Sicherheitswesens und forderten die Beseitigung von Schwierigkeiten bei der Hilfe für Emigranten. Am 15. Februar 1936 überreichte eine Abordnung von Vertretern dieser Organisationen dem Bundesminister für die Leitung der Angelegenheiten der inneren Verwaltung und des Sicherheitswesens, Eduard Baar-Baarenfels, ein Schreiben mit Vorschlägen. Sie zielten darauf, Emigranten gültige Reisedokumente zu beschaffen und sie bis dahin im Land zu belassen, jene aber, die nachiweisbar von in Österreich wohnenden Verwandten oder hier wirkenden Organisationen dauernd unterstützt würden, überhaupt nicht auszuweisen. Unvermeidliche „Abschiebungen" sollten nur in jene Staaten erfolgen, die der Aufnahme der Betreffenden zustimmten. Um Emigranten in andere Länder, meist nach Übersee, weiterzuleiten, sei ihre berufliche Umschulung erforderlich, denn dort würde meist nur dann eine Einreisegenehmigung erteilt, wenn sie einen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Beruf ausübten. Voraussetzung für die Umschulung sei, daß die österreichischen Behörden bereitwilliger Arbeitsgenehmigungen erteilten. Schließlich 78 79
Ebenda. Ebenda.
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wurde darauf verwiesen, daß die Hilfsorganisationen bisher selbst die Mittel f ü r ihre Tätigkeit .aufgebracht hätten und immer noch nicht von den Behörden anerkannt worden seien und auch keine provisorischen Ausweise ausstellen dürften. Nach einer Notiz des Büros des Hochkommissars f ü r Flüchtlinge aus Deutschland vom Februar 1936 hatte die österreichische Regierung schließlich ihre Bereitschaft zugestanden, Pässe f ü r Staatenlose und f ü r deutsche Flüchtlinge ausstellen zu lassen, wenn diese ihre Identität und ihre Ausbürgerung aus Deutschland belegen bzw. nachweisen würden, daß sie von deutschen diplomatischen Vertretungen im Ausland keine gültigen Dokumente erhalten könnten. „Es ist selbstverständlich, daß sich die Flüchtlinge von jeder politischen Tätigkeit in Österreich enthalten müssen." 80 Jüdischen deutschen Emigranten sollte die Ausbildung in der Landwirtschaft ermöglicht werden, wenn sie sich verpflichteten, anschließend nach Palästina zu gehen. Katholische Flüchtlinge, die deutsche Staatsbürger seien und das nachweisen könnten, werde eine Arbeitsgenehmigung f ü r maximal drei Jahre erteilt, wenn der betreffende Arbeitgeber darum nachsuche. Das waren insgesamt sehr einschränkende Bedingungen, f ü r zahlreiche Exilanten kaum zu erfüllen, denn wie sollte ein Emigrant z. B. belegen können, daß er von deutschen Gesandtschaften im Ausland keinen Paß erhielt, daß er noch deutscher Staatsbürger war? Trotz dieser — wenn auch sehr begrenzten — Zugeständnisse verstärkte das Schuschnigg-Regime vor allem nach dem Abkommen mit Deutschland vom 11. Juli 1936 die Überwachung politischer Bestrebungen deutscher Emigranten, selbst jener katholischen, gegen die Volksfront .agierenden Kräfte um Klaus D o h m vom „Christlichen Ständestaat", die die Bildung eines „Christlichen Reichsbundes f ü r deutsche Freiheit" anstrebten. Über diese Bemühungen informierte die Politische Abteilung des Außenamtes Anfang April 1937 die Generaldirektion f ü r die öffentliche Sicherheit. Weiter heißt es in dem betreifenden Schreiben: „Im Hinblick auf die vielfachen politischen Unannehmlichkeiten, die der österreichischen Bundesregierung durch eine derartige Tätigkeit der Emigranten erwachsen könnten, beehrt sich die Abteilung 13/pol das Ersuchen zu stellen, der in der Information dargelegten Bewegung genaue Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen und die Abteilung 13/pol über allfällige Wahrnehmungen betreffs der Tätigkeit der hiesigen Emigranten ,auf dem laufenden halten zu wollen." 81 Die Generaldirektion beauftragte d a r a u f h i n die Polizeidirektion in Wien, über den „Reichbund" „sachdienliche Ermittlungen einzuleiten und der deutschen Emigrantenbewegung ein besonderes Augenmerk zuzuwenden, da deren Tätigkeit in Österreich absolut .unerwünscht ist". Im Entwurf dieses Schreibens lautete der letzte Halbsatz: „ . . . da es absolut unerwünscht scheint, daß von Österreich aus deutsche Emigranten gegen das deutsche Reich politisch tätig sind." 82 Bei seinem Treffen mit Hitler am 12. Februar 1938 in Berchtesgaden sicherte Schußchnigg neben anderen weitgehenden Zugeständnissen auch zu, die Betätigung deutscher Emigranten weiter einzuschränken. 80 81
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Ebenda. Ebneth, S. 207.
Ebenda.
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Versuch einer Zusammenfassung
Österreich war in den 30er Jahren angesichts der Bedingungen unter dem Dollfuß- und dem Schuschnigg-Regime, angesichts auch des provokatorischen Auftretens der einheimischen Nazis kein Zentrum der deutschen Emigration — im Unterschied etwa zur ÖSR u n d zu Frankreich, wo eine bürgerliche Republik existierte bzw. von 1936 bis 1938 ein Volksfrontkabinett regierte. Dennoch bestanden auch in diesen beiden Staaten in jenen Jahren Einschränkungen f ü r deutsche Emigranten, besonders wenn sie Kommunisten waren, mußten auch hier Hilfsorganisationen versuchen, die Not zahlreicher Flüchtlinge aus Deutschland zu lindern, kämpften auch hier demokratische Parteien und Organisationen um die Durchsetzung des Asylrechts. Nach Österreich wandten sich zahlreiche meist jüdische oder katholische Intellektuelle, die sich im kulturellen Leben der Weimarer Republik zum Teil einen Namen erworben hatten, wie der Dramatiker Carl Zuckmayer, der Verleger Gottfried Bermann-Fischer, die Schauspieler Albert Bassermann und Max Reinhardt, der Komponist Paul Abraham, der Dirigent Bruno Walter, um n u r einige Namen zu nennen. Für sie war das Exil überwiegend mit geringen Schwierigkeiten verbunden. Anders sah das bei politisch und rassisch Verfolgten aus, die Arbeiter, Angestellte, kleine Geschäftsleute, Ärzte oder Juristen waren, die oftmals n u r das nackte Leben gerettet hatten. Sich eine neue Existenz zu schaff en, war meist kompliziert f ü r sie. Insgesamt entkamen in den Jahren 1933 bis 1937 schätzungsweise wohl weit mehr als eintausend Deutsche der Drangsalierung und der Verfolgung durch die Unterdrückungsorgane des Hitlerregimes nach Österreich. Hier fanden sie f ü r kürzere oder längere Zeit Zuflucht, u m dann notgedrungen weiterzuemigrieren, wollten sie nicht schließlich, 1938, doch noch der Gestapo in die Hände fallen. Verwunderlich ist, daß einige wenige von ihnen, so die bürgerlichen Schriftsteller Rudolf Frank und Elisabeth Castonier sowie der Filmproduzent William Szekeley, nach Italien gingen, d. h. aus dem faschistischen deutschen Staat schließlich in ein anderes faschistisch beherrschtes Land. Der Verfasser kennt die Ursachen nicht, vermutet aber, daß dafür berufliche, materielle Gründe den Ausschlag gaben. Dieser Schritt scheint zudem zu beweisen, daß die einstige Emigration aus Deutschland oftmals nicht politisch motiviert war. Die deutsche Emigration in Österreich war — wie auch anderswo — sehr heterogen, nicht nur in sozialer, sondern auch in politischer Hinsicht. Während es z. B. in Frankreich zumindest eine Zeitlang zu einer volksfrontähnlichen Zusammenarbeit von Vertretern der unterschiedlichen politischen Richtungen des deutschen Exils kam, war das in Österreich nicht möglich. Denn nach dem Februar 1934 gab es hier kaum noch kommunistische und sozialdemokratische Emigranten aus Deutschland. Sogar gegen die Volksfront in der Emigration überhaupt gerichtete Bemühungen um Zusammenschlüsse bürgerlicher deutscher Flüchtlinge scheiterten. Die politische Wirksamkeit der deutschen Emigration in Österreich war angesichts ihrer Bedingungen und der Situation in diesem Alpenland, namentlich seiner zunehmenden Bindungen a n Hitlerdeutschland, insgesamt gering. Politische Emigranten — selbst bürgerlich-konservative wurden zunehmend polizei-
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lieh überwacht — hatten n u r wenige und immer eingeschränktere Möglichkeiten, mündlich und schriftlich dazu beizutragen, 'breitere Kreise der österreichischen Bevölkerung über den Charakter des Hitlerregimes und seinen Terror zu unterrichten, zumal es keine eigentliche deutsche Exilpresse in diesem Staat gab, wie es in anderen Exilländern der Fall war. Ebenfalls im Unterschied zu diesen Ländern hatten nach der jetzigen Kenntnis die deutschen politischen Emigranten in Österreich überhaupt keine Möglichkeit, von hier aus in irgendeiner Weise im antifaschistischen Sinne propagandistisch nach Deutschland hinein zu wirken. Österreichische Antifaschisten und bürgerliche Demokraten trugen entscheidend dazu bei, Hunderten von deutschen Hitlergegnern, die ihren Häschern entkommen waren, eine Existenz im Exil und einigen von ihnen f ü r eine kürzere oder längere Zeit auch ein bestimmtes politisches Wirken zu sichern.
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Der Weg zum Moskauer Vertrag
Die 70er Jahre unseres Jahrhunderts standen im Zeichen einer bedeutungsvollen Wende in den Beziehungen zwischen .der U.dSSR und der Bundesrepublik Deutschland. Der Moskauer Vertrag war einer der Marksteine, der den gesamten Entspannungsprozeß prägte. Auf seiner Grundlage gelang es, eine für beide Länder nützliche und vorteilhafte Zusammenarbeit .auf vielen Gebieten der Politik, Wirtschaft und Kultur erfolgreich zu gestalten. Als am 12. August 1970 im Kreml der Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD unterzeichnet worden war, fragten sich manche, wie dieses Abkommen zwischen zwei Ländern, d'ie sich noch vor einem Vierteljahrhundert im blutigsten und schwersten Krieg der Menschheitsgeschichte gegenüberstanden, überhaupt zustande kommen konnte. Die jahrhundertelange Politik des „Dranges nach Osten", die besonders barbarisch in der Zeit des Faschismus betrieben wurde, machte „die Deutschen" in den Augen der osteuropäischen Völker zu Eroberern, obwohl die Deutschen selbst immer Opfer dieser Politik wurden. Es war eine Aufgabe von historischier Bedeutung, unter diese Vergangenheit einen Schlußstrich zu ziehen und sich mit den Staaten Osteuropas für immer auszusöhnen. Die DDR hat dafür einen grundlegenden Neubeginn eingeleitet. Der tiefreichende Bruch mit der Vergangenheit, die Anerkennung neuer europäischer Realitäten, darunter der bestehenden Grenzen, der konsequente Friedenskurs überzeugten Russen und Polen, Tschechen und Slowaken, daß von der DDR kein Krieg mehr ausgehen wird. Die BRD begab sich im Rahmen ihrer Ostpolitik mit großer Verspätung auf diesen Weg, u. a. auch deshalb, weil fast ein Vierteljahrhundert ihr Verhältnis zu den Staaten Osteuropas von revanchistischen Ansprüchen geprägt wurde. Heute ist die Notwendigkeit des gegenseitigen Verständnisses zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik zu einem politischen Axiom geworden. Doch die Erkenntnis dieser für Europa sehr wichtigen Tatsache ist nicht von selbst gekommen. 1.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD
Zu Beginn, verstärkt aber ab Mitte der 50er Jahre, mußte von sowjetischer Seite berücksichtigt werden, daß die Einbeziehung der BRD in den Westblock und die damit verbundenen Konsequenzen zur Tatsache werden könnten. Die
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Sowjetunion ging dabei von den realen Gegebenheiten aus. Sie stellte ins Kalkül, daß die staatliche Spaltung Deutschlands durch den Beitritt der BRD zu den Pariser Verträgen vertieft werden würde und für lange Zeit zwei selbständige deutsche Staaten mit unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsordnungen nebeneinander bestehen bleiben würden. Deshalb wurden von sowjetischer Seite vor dem Abschluß der Verträge bestimmte Maßnahmen eingeleitet, um die Beziehungen zur Bundesrepublik zu klären und zu normalisieren. Nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Oktober 1954 — die der BRD den Weg in die NATO ebneten1 —, aber noch bevor die Verträge vom Bundestag ratifiziert wurden, machte diie Sowjetunion wiederholt in einer Erklärung vom 15. Januar 1955 in sehr entschiedener Form auf die gefährlichen Folgen dieses Schrittes für die weitere Entwicklung in Europa .aufmerksam. Unter Hinweis darauf, daß es noch ungenützte Möglichkeiten zur Erziehung eines Abkommens über die Vereinigung Deutschlands wie auch über die Durchführung diesem Zweck dienender gesamtdeutscher freier Wahlen im Jahre 1955 gebe,2 hielten es die sowjetischen Repräsentanten für möglich, sie unter „entsprechender internationaler Überwachung" durchzuführen. Voraussetzung dafür sei, daß die Pariser Verträge nicht ratifiziert würden. Von sowjetischer Seite wurde unmißverständlich die Tatsache betont, daß die Ratifizierung unvereinbar mit der Wiederherstellung Deutschlands als einheitlichen friedliebenden Staates sein wird.3 In eindrucksvoller Form wurde eine sowjetische Alternative für die Verträge und zum endgültigen Einfrieren der deutschen Teilung angeboten. Sie bestand in der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa, an dem beide deutschen Staaten gleichberechtigt teilnehmen sollten.4 Im Januar 1955 ergaben sich ,aus der Sicht der Sowjetunion drei Schlußfolgerungen zur friedlichen Lösung der deutschen Frage: 1. Für die Regelung des Deutschlandproblems war es am dringlichsten, die „Wiederherstellung der deutschen Einheit" anzustreben; 5 dazu wäre es notwendig, daß zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion Verhandlungen über „die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf Grund gesamtdeutscher freier Wahlen gepflogen werden". 6 2. Die Sowjetunion, die gute Beziehungen zur DDR unterhielt, war bereit, ¡„auch die Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik zu normalisieren", die zugleich zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und zum Finden erfolgreicherer Wege bei der Lösung der Aufgabe beitragen sollten und die
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2 3
4 3 6
Vgl. dazu Thomas, Siegfried, Der Weg der BRD in die NATO. Zur Integrations- und Remilitarisierungspolitik der BRD 1949-1955, Berlin 1978. Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Berlin 1963, Bd. 2, S. 107. Vgl. dazu Kaiser, Ines, Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD, in: Beiträge zu den Auseinandersetzungen um die Lösung der deutschen Frage 1945-1961, Berlin 1984, S. 5 9 - 7 6 (Gesellschaftswissenschaften, AdW der DDR. Wissenschaftliches Informationszentrum Berlin, GW 35). Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, S. 107 f. Ebenda, S. 109. Ebenda.
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schließlich die „Wiederherstellung der deutschen Einheit" zur Folge haben könnten. 3. Es wurde festgestellt, daß durch die Ratifizierung der Pariser Verträge sich eine ganz neue Lage ergeben würde. Die Sowjetunion würde „nicht nur für die weitere Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zur DDR sorgen", sondern auch durch gemeinsame Anstrengungen der europäischen 'Staaten „zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa beitragen". 7 Diese Erklärung, die das am weitesten gehende Angebot der UdSSR zur Lösung der Deutschlandfrage darstellte und zugleich eine Warnung war, stieß auf taube Ohren. In den USA, Großbritannien und Frankreich wurden die sowjetischen Vorschläge abgelehnt. Deshalb entspricht die Behauptung eines renommierten BRD-Historikers nicht den Tatsachen, daß die Sowjetunion angeblich keine „ernsthaften Versuche, die Eingliederung Westdeutschlands in die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Allianzen des Westens aufzuhalten", 8 gemacht hätte. Die Note vom 15. Januar 1955 wie auch andere Schritte beweisen das Gegenteil. Die BRD-Regierung wertete die Vorschläge der Sowjetunion lediglich als einen Schritt, die Ratifizierung der Militärverträge zu verhindern. Nicht nur die Westmächte drängten darauf, die Pariser Verträge zu bestätigen, auch die Bundesrepublik war der Auffassung, daß die Zeit für Verhandlungen erst dann reif sein könne, wenn der Westen einheitlich und stark sei. Die Bundesregierung beurteilte die TASS-Erklärung vom 15. Januar 1955 „als ein Mittel, die Ratifizierung der Pariser Verträge zu stören", wie später Bundeskanzler Adenauer in seinen Memoiren schrieb, und lehnte diese Erklärung „als nichtdiskutable Verhandlungsbasis ab". 9 Am 22. Januar 1955 erklärte Adenauer: „Wir sind nicht so töricht, die Hilfe der Atlantikpaktstaaten bei der Wiedervereinigung durch eine Ablehnung oder eine dieser dn ihrem Wirken gleichkommende Vertagung der Pariser Verträge auf Grund einer solchen Verlautbarung Sowjetrußlands preiszugeben."10 Nach der Ratifizierung der Pariser Verträge (27. Februar 1955) und nach deren Inkrafttreten am 5. Mai 1955 entstand jene Situation, vor der die Sowjetunion mehrfach gewarnt hatte: Die Spaltung Europas wurde vertieft und die Teilung Deutschlands besiegelt. Auch unter dieser Bedingung, die durch das Bestehen von zwei politisch-militärischen Gruppierungen in Europa .gekennzeichnet war, trat die Sowjetunion für Verhandlungen mit der BRD ein. Den Grundsatz ihrer Außenpolitik — Entschärfung internationaler Spannungsherde — stellte die sowjetische Seite wiederum unter Beweis: Im Frühjahr 1955 leitete sie eine neue Entspannungsinitiative ein, zu der sie bereits ausreichende Rechtsgrundlagen vorbereitet hatte.
7 8
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Ebenda. Graml, Hermann, Die Außenpolitik, in: Die Bundesrepublik Deutschland. Geschichte in drei Bänden, Bd. 1: Politik, hrsg. von Wolfgang Benz, Frankfurt a. M. 1983, S. 331 bis 377, hier S. 362. Adenauer, Konrad, Erinnerungen 1953-1955, Stuttgart 1966, S. 404. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn 1955, Nr. 16, 25.1.1955, S. 130 (im folg.: Bulletin).
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Durch den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. Januar 1955 über die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland und die Herstellung friedlicher Beziehungen schuf die Sowjetunion eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung normaler Beziehungen zwischen beiden Staaten. Damit legte sie „gegenüber dem gesamten deutschen Volk Großmut an den Tag".11 Als die Sowjetunion am 7. Juni 1955 der Bundesregierung über den sowjetischen Botschafter in Paris, S. A. Vinogradov, dem dortigen BRD-Botschafter, Freiherrn Vollrath von Maltzan, die Note überreichte, in der mitgeteilt wurde, daß sie ohne Vorbedingung „direkte diplomatische und Handelsbeziehungen sowie kulturelle Beziehungen zwischen beiden Ländern" 12 herstellen möchte, betonte die Sowjetregierung gleichzeitig ihren Wunsch, nicht nur nationalen Interessen beider Staaten zu dienen, sondern auch den Interessen der Festigung des Friedens und der Sicherheit aller europäischen Staaten Rechnung zu tragen. Damit setzte die sowjetische Seite eine Linie fort, die sie bereits während der Berliner Außenministerkonferenz verfolgt hatte. Während der Berliner Konferenz sondierte sie die Möglichkeit, unmittelbare Verbindungen zur BRD herzustellen. Nicht nur die Erklärung der sowjetischen Delegation vom Februar 1954, ökonomische und kulturelle Kontakte aufnehmen zu wollen, wurde stark beachtet, sondern auch die Stellungnahme des Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR vom 11. Juni 1954 bei der Unterredung mit Otto Grotewohl, wonach die Sowjetunion der Initiative interessierter Kreise der BRD zur Herstellung wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen positiv gegenübersteht. 13 Am 14. Juni 1954 wurde auf einer Beratung von Experten in Bonn mit Recht festgestellt, daß die Erklärung des sowjetischen Regierungschefs ein „Vorschlag über die Schaffung eines Modus vivendi" sei und die Eventualität der Herstellung diplomatischer Beziehungen nicht ausschließe.14 Die Note vom 7. Juni löste zunächst in Bonn Überraschung und Verwirrung aus. Die Bundesregierung geriet in eine gewisse Zwangslage: Eine so frühzeitige Reise nach Moskau paßte ganz offensichtlich nicht in ihr außenpolitisches Programm. Die Einladung auszuschlagen, vermochte der Bundeskanzler jedoch nicht. Schon allein aus dem Grunde, weil er in zahlreichen Interviews, Reden und Artikeln immer wieder versichert hatte, daß die Zeit zu Verhandlungen mit der UdSSR erst nach dem Abschluß der Pariser Verträge reif sei. Führende Politiker, maßgebende Beamte in Bonn, die Koalitionsparteien sowie der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) sprachen sich für die Annahme der Einladung aus. Jedoch ohne Konsultationen mit den verbündeten Westmächten war das kaum möglich. Nach einer Bundeskabinettssitzung wunde die sowjetische Note einstimmig am 8. Juni in einer Erklärung allgemein begrüßt und ihre sorgfältige „Vorprüfung"
11
Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1945—1970, T. 2, Berlin 1971, S. 267. Pravda, 8. 6.1955. 13 Izvestja, 13. 6.1954; vgl. dazu Belezkij, V. N., Za stolom peregovorov. Obsuzdenie germanskich del na poslevojennych mezdunarodnych soveäcanijach i vstreciach, Moskva 1979, S. 172 f. v ' Ebenda. 12
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angekündigt. 15 „Daß ich nach Moskau gehen müsse", schrieb Adenauer in seinen Memoiren, „stand bei mir fest. Es ergab sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt, ob vor oder nach der Vier-Mächte-Konferenz. Ich hielt es für klüger, nach der Viererkonferenz nach Moskau zu fahren." 16 „Adenauer hatte sich nicht leicht entschlossen, die Einladung nach Moskau anzunehmen. Ihm war deutlich anzumerken, daß er noch mit dem Gedanken spielte, den ganzen Besuch unter irgendeinem Vorwand abzusagen",17 schrieb rückblickend der langjährige Vertraute des Bundeskanzlers Felix von Eckardt. Wahrhaftig war das Verhältnis Adenauers zu seiner Reise in die UdSSR für ihn gar nicht so klar. Die Ablehnung des sowjetischen Angebots konnte die Bundesregierung aber nicht riskieren. Eine Bevölkerungsumfrage in der BRD im Juni 1954 hatte bereits gezeigt, daß 46 Prozent der Befragten für die Aufnahme der Gespräche mit der Sowjetunion waren, 22 Prozent dagegen ¡stimmten und 31 Prozent sich unentschieden verhielten; 1955 waren es bereits zwischen 85 bis 93 Prozent, die diese Reise befürworteten. 18 Die sowjetische Entspannungspolitik im Sommer 1955 wurde von der Bundesregierung und von ihrem 'Kanzler als bloße Taktik gewertet und — nach dem Urteil von Adenauer — als ein Versuch, „einen Keil zwischen die Bundesrepublik und die anderen Westmächte zu treiben", 19 idargestellt. Nicht zu übersehen war auch eine andere Fehleinschätzung des Kanzlers: er sah „Rußland in einem Zustand der Schwäche", ökonomische und politische Schwierigkeiten hätten die Verständigungspolitik der Sowjetunion bewirkt: „ . . . die Russen brauchen eine Atempause, und deshalb waren sie unter Umständen zu einem echten Entgegenkommen bereit." Er hoffte, daß die Sowjetunion durch ihre vermeintlichen „inneren Schwierigkeiten gezwungen sein würde, ihre Politik gegenüber dem Westen zu ändern". 20 In diese vermeintliche Konstellation wollte Adenauer auch die Einladung der sowjetischen Regierung vom 7. Juni einordnen. Die Verhandlungen sollten erst nach 'dem Treffen der Regierungschefs in Genf im Sommer 1955 stattfinden. Angesichts der Resonanz der sowjetischen Vorschläge glaubte der Kanzler, die Westmächte vor Konzessionen gegenüber der Sowjetunion warnen zu müssen. „Unsere Aufgabe" — so Adenauer — „mußte sein, die Westmächte von der Gefährlichkeit jeglicher Neutralisierungsgedanken zu überzeugen, ihnen zu versichern, daß wir treu zu den Verträgen stünden .und daß direkte Verhandlungen mit Moskau, die ich angesichts des Drucks der öffentlichen Meinung in Deutschland für unumgänglich hielt, in unserer Haltung keinerlei Änderung bringen würden." 21 Eine der markantesten Chronistinnen dieser Zeit meinte in der Retrospektive, „daß Adenauer von jeher mit zwei Zungen geredet hat: Nach innen wurde er « Bulletin, Nr. 106, 11. 6.1955, S. 877. 16 Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, S. 450. 17 Eckardt, Felix v., Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf/Wien 1967, S. 378. 18 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Allenbach 1956, S. 336; vgl. dazu Kremer, I. S., FRG: Vnutripoliticeskaja bor'ba i vnesnjaja orientacija, Moskva 1977, S. 173,176. 19 Adenauer, Erinnerungen 1953-1955, S. 448 f. 20 Ebenda, S. 451 f. und 528. 21 Ebenda, S. 449.
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nicht müde, von d e r Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit u n d vom Alleinvertretungsrecht zu sprechen, nach außen gab er zu erkennen, daß f ü r i h n die feste Einordnung der Bundesrepublik in den Westen das Allerwichtigste war, auch wenn seine Gegner meinten, daß dies die Teilung Deutschlands f ü r alle Zeiten verewigen werde". 22 Drei Wochen nach Eingang d e r sowjetischen Note vom 7. Juni, gestützt .auf eine Mehrheit im Bundestag und von d e r SPD befürwortet, erklärte die Bundesregier u n g in einer Note vom 30. J u n i 1955 ihre Zustimmung zu 'den Verhandlungen. Sie schlug vor, d a ß die zu behandelnden Themen zwischen den Botschaften d e r BRD u n d d e r UdSSR in Paris geklärt und präzisiert wenden sollten. Noch vor d e r Gipfelkonferenz u n d vor allem während d e r Reise Adenauers nach Washington im J u n i 1955 w u r d e n über die geplante Moskaureise Adenauers Gespräche mit Eisenhower und Dulles geführt. Sie brachten Ubereinstimmung in den Auffassungen beider Regierungen: die USA u n d a n d e r e Westmächte stimmten prinzipiell d e r Reise Adenauers zu. Der Ausgang d e r Genfer Gipfelkonferenz (18.—23. J u n i 1955) w a r f ü r diejenigen Politiker in der B R D eine tiefe Enttäuschung, die sich von ihr einen sichtbaren Erfolg der Politik der Stärke erhofft hatten. Die Westmächte m u ß t e n in Genf die unlösbare Verbindung zwischen europäischer Sicherheit und deutscher Frage anerkennen, wenn sie auch noch nicht bereit waren, d a r a u s entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen. Es w a r jetzt unmöglich geworden, die Verhandlungen abzusagen. Nun versuchte die Bundesregierung, indem sie Vorbedingungen stellte, i h r e n Ablauf von vornherein zu belasten. So verlangte sie i n einer Note vom 12. August „die Erörter u n g anderer Fragen", wie der „der staatlichen Einheit Deutschlands" 2 3 und die Freilassung von Deutschen, die sich wegen zur Zeit des zweiten Weltkrieges begangener Verbrechen noch in sowjetischer H a f t befanden. Die sowjetische Regierung n a h m diese Haltung zur Kenntnis und e r k l ä r t e sich bereit, auch andere Probleme zu erörtern, wobei sie unmißverständlich klarmachte, d a ß d e r Regierung d e r Bundesrepublik Deutschland die Stellung der UdSSR zur „Frage der nationalen Einheit Deutschlands" b e k a n n t sei.24 Das Hauptziel der UdSSR blieb die A u f n a h m e diplomatischer Beziehungen m i t der Bundesrepublik. Als Verhandlungstermin w u r d e d e r 9. September vorgeschlagen. In d e r Bundesregierung wurden die bevorstehenden Gespräche mit Skepsis betrachtet. Außenminister Heinrich von Brentano, d e r seit dem 7. J u n i 1955 das Amt innehatte, beurteilte die Situation besonders negativ. In einem Brief an Adenauer schlug er zur Zusammensetzung d e r Delegation vor, sie möglichst klein zu halten, keine Persönlichkeiten aufzunehmen, die ihr zu viel politisches Gewicht verleihen würden. Seinen Vorschlägen w u r d e stattgegeben. Außer d e m Außenminister von Brentano gehörten d e r Delegation a n : die Staatssekretäre Walter Hallstein u n d Hans Globke, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundesrates Ministerpräsident Karl Arnold sowie der Vor22 Dönhoff, Marion Gräfin, Von Gestern nach Übermorgen. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 44. 23 Vgl. Note der Bundesregierung vom 12. August 1955, in: Bulletin, Nr. 151, 16. 8.1955, S. 1269. 25 Pravda, 20. 8.1955; Bulletin, Nr. 156, 23. 8.1955, S. 1309.
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sitzende des A u s w ä r t i g e n Ausschusses des Bundestages K u r t Georg Kiesinger u n d sein Stellvertreter Carlo Schmid (SPD), Botschafter H e r b e r t B l a n k e n b o r n , Botschafter Felix von Eckardt, Ministerialdirektor Wilhelm G. G r e w e . Bin großer E x p e r t e n s t a b begleitete die Delegation, d e r ein Sonderzug d e r Deutschen B u n d e s b a h n w ä h r e n d der Moskauer V e r h a n d l u n g e n als Arbeitsort diente. Grewe, damals Leiter der politischen Abteilung des A u s w ä r t i g e n Amtes, e r klärte den Zweck dieses Sonderzuges: „ . . . ein auf d e m Nebengleis eines Mosk a u e r B a h n h o f s abgestellter Sonderzug mit abhörsicherem Spezialwagen, Mitropa-Speisewagen, F u n k - u n d Fernsprechanlagen, Schreibabteilen u n d so weiter — k u r z eine a m b u l a n t e Botschaft, deren Installierung wir in den prozed u r a l e n V o r v e r h a n d l u n g e n als Ersatz f ü r eine noch nicht existierende Botschaft verlangt hatten". 2 5 Dies alles entsprach d e m Wunsch der BRD-Delegation u n d deutete auf tiefes M i ß t r a u e n g e g e n ü b e r dem Gastland u n d d e m V e r h a n d l u n g s p a r t n e r hin. Die V e r h a n d l u n g e n f a n d e n vom 9. bis 13. S e p t e m b e r i m Spiridonowka-Palais statt. Von sowjetischer Seite n a h m e n teil: der Vorsitzende des Ministerrats d e r UdSSR, N. A. Bulganin, Delegationsleiter; das Mitglied des P r ä s i d i u m s des Obersten Sowjets der UdSSR, N. S. Chruscev; d e r Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der U d S S R u n d Außenminister der UdSSR, V. M. Molotov; d e r Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, M. G. Pervuchin; der A u ß e n h a n d e l s m i n i s t e r I. G. K a b a n o v ; d e r Stellvertreter des Außenministers d e r UdSSR W. S. Semjonov. Die Gespräche erwiesen sich als sehr problematisch; sie verliefen in einer ges p a n n t e n Atmosphäre, da die bundesdeutsche Delegation zunächst mit einer Tagesordnung a u f w a r t e t e , die m i t d e m eigentlichen Ziel d e r Herstellung von diplomatischen u n d Handelsbeziehungen nichts zu t u n hatte. Der Bundeskanzler wich dem Meinungsaustausch ü b e r eine deutsche Friedensregelung aus, d a s V e r handlungsziel versuchte er mit „Vorbedingungen" zu belasten u n d stellte die F r a g e nach „freien W a h l e n " u n d den „zurückgehaltenen P e r s o n e n " i n d e n V o r d e r g r u n d . Was das P r o b l e m d e r „Wiedervereinigung" b e t r a f , so ging es d e m Bundeskanzler u m die Absicherung der Position Bonns hinsichtlich .der Grenzen u n d des Alleinvertretungsanspruchs u n d weniger u m echte Gespräche, die nach d e m S t a n d p u n k t d e r Regierung A d e n a u e r d e n Westmächten vorbehalten bleiben sollten. Das b e k a n n t e Bonner Wiedervereinigungskonzept f a n d bei der sowjetischen Seite keine Resonanz. Ihr ging es u m d a s eigentliche Ziel: die A u f n a h m e n o r maler, auf Achtung u n d V e r t r a u e n basierender Beziehungen, die die Hindernisse auf dem Weg zur friedlichen Z u s a m m e n a r b e i t beider Völker f o r t r ä u m e n u n d somit .auf die Festigung d e r Sicherheit d e r europäischen Völker f ö r d e r n d w i r k e n w ü r d e . Auf die F r a g e der „Wiederherstellung d e r Einheit Deutschlands" eingehend, wiederholten .die sowjetischen V e r t r e t e r d e n S t a n d p u n k t : I h r e Lösung sei vor .allem die Sache der Deutschen selbst, dabei m ü ß t e m a n die bestehenden Realitäten — d a s Bestehen d e r DDR u n d d e r BRD — in Betracht ziehen u n d sie mit d e n entsprechenden i n t e r n a t i o n a l e n A b k o m m e n ü b e r die G e w ä h r l e i s t u n g des Friedens u n d d e r Sicherheit in E u r o p a in Ü b e r e i n s t i m m u n g sehen. „Ihrer-
25 Grewe, Wilhelm G., Rückblenden 1976-1951, Frankfurt a. M. 1979, S. 236.
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seits war und bleibt die Sowjetunion", betonte der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, N. A. Bulganin, „ein konsequenter Anhänger der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als eines friedliebenden und demokratischen Staates."36 In seiner Grundsatzerklärung stellte Adenauer zwei Komplexe in den Mittelpunkt, die schon in der Note der BRD vom 12. August 1955 genannt worden waren: Zum ersten die Frage der „staatlichen Einheit Deutschlands". Dabei wurde vom Bundeskanzler betont, zu diesem Problem „für alle Deutschen" zu sprechen, „nicht nur für die Einwohner der Bundesrepublik". 27 Auf die Absurdität des Alleinvertretungsanspruchs des Kanzlers wurde im Verlaufe der Verhandlungen mehrmals von sowjetischer Seite hingewiesen. Zum anderen wurde die Freilassung derjenigen Deutschen gefordert, die Adenauer als „Kriegsgefangene" bezeichnete und 'die sich noch in der Sowjetunion in Gewahrsam befanden. Seit Anfang der 50er Jahre wurde von der Regierung, den Parteien und den Massenmedien der BRD behauptet, in der Sowjetunion würden noch Hunderttausende deutsche Kriegsgefangene zurückgehalten, was zunehmend in der Propaganda des Antisowjetismus Eingang fand. Die Sowjetunion hatte bereits im Mai 1950 genaue Angaben über jene ca. 14 000 Personen gemacht, die als Kriegsverbrecher zu längeren Haftstrafen verurteilt worden waren. 1953 wurden mehr als 5 000 auf Grund von Verednbarungen zwischen der UdSSR und der DDR amnestiert. 1955 waren es noch — nach Angaben der sowjetischen Seite — 9 626 Personen, die ihre Strafe verbüßten. Im Juli 1955 hatte Wilhelm Pieck im Namen der Regierung der DDR Gespräche zu ihrer Repatriierung geführt. Die BRD-Delegation versuchte nun, die Freilassung dieser Verurteilten als Vorbedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu stellen. Die sowjetische Seite war gezwungen, wiederholt auf die bestehenden Realitäten hinzuweisen; da diese Frage beide Teile Deutschlands betreffe, wäre es nicht zweckmäßig, sie ohne die Vertreter der DDR zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen. Adenauer, der als einen der stärksten Beweggründe 28 die „Befreiung . . . zurückgehaltener Deutscher zu erreichen" ansah und der angeblich deshalb die Reise nach Moskau angetreten habe, drohte mit dem Abbruch der Verhandlungen. Er wurde von Brentano und Hallstein unterstützt. 29 Adenauer lenkte jedoch ein. Der sowjetische Ministerpräsident hatte ihm in einem außerhalb der offiziellen Verhandlungen geführten Gespräch zugesichert, das Problem der Verurteilten zu lösen. Der Bundeskanzler stimmte der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu. Die Legende von Konrad Adenauer als „Befreier" der Kriegsgefangenen für den „Preis" der Herstellung diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR wird auch in den neuesten BRD-Publikationen weiter gepflegt.30 Am selben Tag richtete Adenauer ein „Vorbehaltsschreiben" an die sowjetische 26 27 28 29 30
Pravda, 10. 9.1955; Neues Deutschland, 10. 9.1955. Vgl. Bulletin, Nr. 170, 10. 9.1955, S. 1421 ff. Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, S. 492. Ebenda, S. 546, 549; vgl. auch Eckardt, S. 399. „Als er [K. Adenauer] am 14. September wieder abreiste, waren die Kriegsgefangenen in der Tat befreit, dafür aber diplomatische Beziehungen hergestellt ..." Vgl. dazu Graml, S. 364.
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Seite, welches kurz vor dem Abflug am 14. September dem sowjetischen Ministerpräsidenten zugestellt wurde: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen stelle, hieß es dort, „keine Anerkennung des derzeitigen territorialen Besitzstandes dar" und „bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnisse zur Vertretung des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten und in bezug auf die politischen Verhältnisse in denjenigen deutschen Gebieten, die sich gegenwärtig außerhalb der effektiven Hoheitsgewalt befinden". 31 Das bedeutete, daß die bestehenden Grenzen nicht anerkannt und die Existenz der DDR negiert wunden. Durch diese „Vorbehalte", so präzisierte Adenauer später, sei die Möglichkeit beseitigt worden, daß „dritte Staaten unseren Entschluß, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion .aufzunehmen, mißverstanden". Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR werde die Bundesregierung auch künftig als „einen unfreundlichen Akt betrachten und entsprechende Konsequenzen ziehen".32 Hier lagen die Wurzeln der Hallstein-Doktrin, die in unmittelbarer Reaktion der Moskaureise auf einer Botschafterkonferenz im Dezember 1955 formuliert wurden. Auf diese Anmaßung antwortete die sowjetische Seite am 15. September, indem sie auf die Existenz zweier deutscher Staaten verwies und an die Tatsache erinnerte, daß die Frage der Grenzen Deutschlands durch das Potsdamer Abkommen bereits gelöst worden sei und daß die BRD ihre Jurisdiktion auf ihrem Gebiet ausübe. Am 23. September 1955, auf der 102. Sitzung des Deutschen Bundestages nach der außerparlamentarischen Debatte, wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen einstimmig gebilligt. Einen Tag vorher hatte Adenauer in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag seine These wiederholt, daß „die Entspannung nuc am Ende politischer Entscheidungen stehen kann und nicht an ihrem Anfang". 33 Am 24. September befürwortete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD. Im Dezember 1955 nahm die Sowjetische Botschaft in der BRD unter Botschafter V. A. Sorin, die Botschaft der BRD in der Sowjetunion im März 1956 unter Botschafter Wilhelm Haas ihre Tätigkeit auf. Mit diesem Schritt bekräftigte die Sowjetunion ihren Standpunkt in der deutschen Frage, der vom Bestehen zweier deutscher Staaten ausging. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen hätte der Auftakt zur Normalisierung sein können. Sie bot die reale Chanoe, ein neues Kapitel in den Beziehungen UdSSR—BRD aufzuschlagen. Aber Adenauer und seine Regierung haben diese Chance verpaßt. In seinen Memoiren schrieb er: „Wir hatten einen Weg eröffnet, der (es uns ermöglichte, doch vielleicht bei dieser oder jener Gelegenheit auch in direkten Verhandlungen mit Sowjetrußland eine Wirkung ausüben zu
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Bulletin, Nr. 173, 15. 9.1955, S. 1445 ff. Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, S. 550. Bulletin, Nr. 179, 23. 9.1955, S. 1493-1496.
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können. In Wirklichkeit wurde aber jede Berührung (vermieden. Nachdem die Bundesregierung den ersten Schritt auf dem Weg in die richtige Richtung unternommen hatte, verließ sie ihn wieder.
2.
Die Entwicklung der Beziehungen nach den Moskauer Verhandlungen
Nach der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD schlugen auch einige andere sozialistische Staaten Europas der westdeutschen Regierung vor, ebenfalls offizielle Beziehungen auf diplomatischer Ebene aufzunehmen, darunter die VR Polen, die CSR und die Ungarische Volksrepublik. Diese Angebote wurden abgelehnt. Die UdSSR als eine der vier f ü r Deutschland verantwortlichen Großmächte sollte eine Ausnahme bleiben. Im Sommer 1956 erklärte Außenminister von Brentano vor dem Bundestag, „daß diplomatische Beziehungen" zu den sozialistischen .Staaten „unter den augenblicklichen Umständen nicht aufgenommen werden können". 35 Er bedeutete weiterhin, daß diese .starre Haltung nicht impliziere, daß die Bundesregierung „uninteressiert" an der Herstellung diplomatischer Beziehungen sei. Als „Voraussetzung" fordere sie aber ein Abrücken der sozialistischen Staaten von der DDR, deren „Fallenlassen", sowie einen Verzicht der VR Polen auf die im Potsdamer Abkommen vorgenommene Grenzziehung an Oder und Neiße. Im Herbst 1956 trat eine vorübergehende Änderung dieser Haltung ein. Die dramatischen Ereignisse in Ungarn und die polnischen Oktoberereignisse weckten in Bonn genauso wie in anderen imperialistischen Ländern die Hoffnung auf einen Zerfall der sozialistischen Staatengemeinschaft. Die Regierung Adenauer bekundete nun ihr Interesse an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu .den sozialistischen Staaten Osteuropas. Auf einer Pressekonferenz am 30. November 1956 artikulierte der Außenminister die Bereitschaft, „die Beziehungen unter neuen Gesichtspunkten, .die sich ergeben, zu überprüfen" 36 . Doch mit dem Schwinden .der Illusionen über die Erfolgsaussichten der Oktoberereignisse schwand auch die Bereitschaft zu jedwedem Normalisierungsansatz. Die politischen Repräsentanten des deutschen Monopolkapitals befürchteten, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu weiteren Staaten, mit denen die DDR bereits auf normaler und gleichberechtigter Basis verkehrte, das ganze Gebäude ihrer Ostpolitik unterminieren und schließlich zum Einsturz bringen würde. Aus diesem Grund brach Bonn mit Jugoslawien, als dieses 1957 normale 34
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Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, S. 555; vgl. dazu Sorin, V. A., Pervye äagi sovetskoj diplomatii v Bonne (1955—1956), in: Novaja i novejsaja istorija, 1980, 3, S. 69-84. Die auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Köln 1972, S. 321 f. Vgl. Polen, Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze, hrsg. von Rudi Goguel, Berlin 1959, S. 682. Vgl. dazu die treffende Einschätzung bei Kleßmann, Christoph, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1982, S. 235.
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diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm. Dieser Schritt gehörte zu den Höhepunkten der entspannungsfeindlichen Ostpolitik der 50er Jahre. Er basierte auf der Hallstein-Doktrin, die — benannt nach Staatssekretär Hallstein — nach ihrer Verkündung im Dezember 1955 bis weit in die 60er J a h r e einer der Grundpfeiler der Bonner Außenpolitik war und f ü r die Ostpolitik der BRD von Anfang an eine schwere Belastung bedeutete. Negativ, völkerrechtswidrig und letztlich erfolglos, wurde sie im historischen Rückblick der bürgerlichen Historiographie „geradezu zum Symbol der weltpolitischen Defensive" 37 , die sich außerdem „zum Ballast der Bonner Westpolitik" 'entwickelte 38 und „die sich von J a h r zu Jahr als drückender erweisen sollte". 39 Uber eine Reihe von Jahren hinweg erfüllte dieses außenpolitische Instrument jedoch seinen Zweck. Es gelang der BRD, die volle Anerkennung der DDR durch andere kapitalistische Staaten und Staaten der dritten Welt zu verzögern. In der Bundesregierung tauchten jedoch seit Anfang der 60er Jahre erste Zweifel auf, ob dieser Weg auf die Dauer durchzuhalten sei. Auch von der sozialdemokratischen Opposition wurde ihre unflexible Handhabung kritisiert. Die regierungsoffizielle Politik blieb aber starr und baute auf Faktoren, die sich in der Zukunft als Mythen erwiesen. Dazu gehörten u. a. Behauptungen von der angeblichen Aggressivität der UdSSR, von der „Gefahr aus dem Osten", von der historischen Kontinuität ihrer Außenpolitik in bezug auf die Politik des zaristischen Rußlands, die Überzeugung von der Fortdauer des kalten Krieges und der Spannungen zwischen den beiden Systemen, der Glaube an die Geschlossenheit der westlichen Mächte und an deren uneingeschränkte und unwandelbare Unterstützung des außenpolitischen Programms der herrschenden Kreise der BRD.40 Diese starre Position der Regierung stieß in zunehmendem Maße auf Kritik, besonders von seiten der sozialdemokratischen oind der freidemokratiischen Opposition. Sie warfen ihr vor, die bestehenden diplomatischen Beziehungen nicht voll genutzt zu haben. Die Beziehungen Bonn — Moskau blieben gespannt. Die UdSSR wurde weiterhin als der Hauptfeind hingestellt, der gegenüber der BRD und Westeuropa aggressive Pläne verfolge. Eine echte Normalisierung des Verhältnisses zu Moskau wurde in Aussicht gestellt, falls die sowjetische Regierung die Bonner Deutschlandpolitik akzeptiere. In ihrer Ostpolitik dieser J a h r e befolgte die Regierung eine Linie, die sich eng an die von .den USA kreierte und betriebene Strategie des Roll back anlehnte. 37
Besson, Waldemar, Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, S. 199. — Zur Entstehung und Anwendung der HallsteinDoktrin vgl. Thomas, Siegfried, Entstehung und Scheitern einer Doktrin, in: Die Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, Berlin 1977, S. 401-415; vgl. außerdem Eliseev, M. G., Bonn i GDR 1949-1964, Minsk 1975, S. 837; Keiderling, Gerhard, Die stumpfe Waffe der Nichtanerkennung, in: JbG, Bd. 12, 1973, S. 303 ff. 38 Graml, S. 365. 39 Schwarz, Hans-Peter, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957-1963, Stuttgart/Wiesbaden 1983, S. 27 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenberg, Joachim C. Fest, Eberhard Jäckel, Bd. 3). ',0 Zu diesem Komplex vgl. Kode, Gerhard, Die Bedrohungslüge. Zur Legende von der „Gefahr aus dem Osten", Köln 1980, S. 122-128. 21 Jahrbuch 38
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Auf mannigfaltige Art und Weise hat die Bundesrepublik ihren „Rechtsstandpunkt" zum Ausdruck gebracht: so z. B. 1955 in einem iBrief an den sowjetischen Ministerpräsidenten vom 13. September, in der Regierungserklärung vom 22. September oder in der Erklärung der Bundesregierung zur außenpolitischen Lage vom 1. Dezember.41 Auch in dem Notenaustausch der Jahre 1956 und 1958 beharrte die Regierung Adenauer auf diesen völkerrechtswidrigen Positionen. Die Forderung nach Wiedervereinigung wurde stets als Preis für die Verbesserung und Normalisierung der Beziehungen beider Länder bezeichnet. Als die Bestrebungen, die BRDStreitkräfte mit atomaren Waffen auszurüsten, zunahmen, machte die UdSSR in Noten an die BRD-Regierung auf die damit verbundenen Gefahren aufmerksam. „Es muß unverblümt gesagt werden", hieß es in der Note vom 10. Dezember, „daß die Umwandlung der Bundesrepublik Deutschland in eine Abschußzone für amerikanische Raketenwaffen und die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen . . . die Bundesrepublik Deutschland durchaus nicht weniger verwundbar machen würden; im Gegenteil, die Gefahr eines Atomkrieges auf ihrem Territorium würde nur zunehmen . . . Auch die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im zentral gelegenen Teil Europas, der beide Teile Deutschlands einschließt, würde dem Interesse der Abrüstung und der Minderung der internationalen Spannung dienen."42 Die Annahme des Bundestagsbeschlusses vom 28. März 1958 über die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägerwaffen unterstrich die politische Haltung zu den sowjetischen Vorschlägen. Die UdSSR trat mit einer diplomatischen Offensive für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa ein, für ein Nichtangriffsabkommen zwischen den Warschauer Vertragsstaaten und der NATO und für eine Verpflichtung der Großmächte, die Nuklearwaffen nicht einzusetzen. Als der sowjetische Ministerpräsident Bulganin am 5. Februar 1957 erneut breit gefächerte Verhandlungsangebote unterbreitete und an das Verantwortungsbewußtsein beider Regierungen sowohl für das Schicksal der Völker ihrer Länder als auch für den Frieden in Europa appellierte, antwortete Konrad Adenauer am 27. Februar: „Geben ¡Sie siebzehn Millionen Deutsche frei . . . und sie werden einer freundschaftlichen Zusammenarbeit unserer beiden Länder einen außerordentlichen großen Dienst erweisen." 43 Hier lag der Kern seiner Politik, Vgl. Bulletin, Nr. 173, 15.9.1955, S. 1445 f.; Nr. 179, 23.9.1955, S. 1493 ff. Am 1.12. 1955 erklärte z. B. von Brentano: „Überhaupt kann von uns die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion zunächst nur als ein technischer Vorgang gewertet werden. Es liegt in der Hand der Sowjetunion, die Normalisierung der Beziehungen zwischen dem deutschen und dem russischen Volk zu verwirklichen. Solange die Sowjetunion von der Teilung Deutschlands und der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, bestehen keine normalen Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Erst mit dem Tage, an dem das gesamte deutsche Volk in Moskau durch einen Botschafter vertreten ist und die Sowjetunion einen Botschafter der gesamtdeutschen Regierung in der deutschen Hauptstadt bestellt . . . werden wir von normalen Beziehungen sprechen können." Ebenda, Nr. 226, 2.12.1955, S. 1916 und 1920. '•2 Izvestija, 12.12.1957; Bulletin, Nr. 232, 12.12.1957, S. 2122 ff. 43 Vgl. Moskau-Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955-1973. Dokumentation, hrsg. von Boris Meissner, Köln 1975, Bd. III/l, S. 239.
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das „zentrale Problem" nach dem Zeugnis eines langjährigen Vertrauten des Kanzlers, des Bundespressechefs IFel'ix von Eckardt.44 Die sowjetische Regierung gab mehrmals Antwort auch auf diese Frage. So zeigte sie in der Note vom 8. Januar 11958 „dafür Verständnis, daß die Bundesregierung, wie auch die iRegierung der DDR, in erster Linie Maßnahmen zur Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands" vereinbart sehen möchte. Doch auch an diese Frage „kann man nicht ohne Berücksichtigung der realen Möglichkeit für ihre Lösung herangehen. Es genügt zu sagen, daß es für die Lösung der deutschen Frage an der elementarsten Voraussetzung fehlt: an der Bereitschaft, mit dem Staat zu verhandeln, mit dem man sich vereinigen will."45 Die herrschenden Kreise der BRD waren zu keinerlei Änderungen ihres politischen Kurses bereit. Allerdings zweif elten einige maßgebende Politiker um Adenauer daran, ob diese Ziele der Bundesregierung zu erreichen seien. Zur selben Zeit, als die internationale Diskussion über ein mögliches neues Gipfeltreffen sich verstärkte, nahmen auch die Überlegungen zu, „Adenauer für eine Antwort zu gewinnen", die „auf eine wirkliche Gesprächsanknüpfung mit der Sowjetunion abzielte".46 Einige Monate später, am 7. März 1958, machte der Kanzler dem sowjetischen Botschafter Smirnow dais Angebot eines „österreichischen Status" für die DDR/' 7 Diese Lösung wurde oft von Politologen und Historikern der BRD, die der CDU/ CSU nahestanden, als ein Zeichen für die flexible Haltung Adenauers in der Ostpolitik der 50er Jahre gewertet. Aber dieser Vorschlag, der ein zaghafter Versuch gewesen ist, die Politik der Bundesregierung dem sich wandelnden internationalen Kräfteverhältnis anzupassen, ohne die revanchistischen Maximalziele aufzugeben, und die Sowjetunion ziur Preisgabe der DDR zu veranlassen, entsprach nicht den realen Gegebenheiten. Die sowjetische Regierung antwortete mit einem am 19. März 1958 durch Smirnow überreichten Aide-mémoire, in 'dem wiederholt wurde, daß die „Interessen der beiden deutschen Staaten gebürenderweise in Rechnung gestellt werden" 48 müßten und daß die Zuständigkeit für Fragen ihrer gegenseitigen Verständigung nicht in Moskau, sondern in Berlin läge. In seinen Memoiren zitierte Adenauer den Botschafter später: „Hierbei handelt es sich jedoch um Anliegen eines fremden souveränen Staates, und die Sowjetunion ist zu einer Einmischung nicht berechtigt; 1945 bis 1947 wäre dies noch möglich gewesen, 1958 jedoch nicht mehr." 49 Im selben Gespräch artikulierte übrigens Adenauer seinen Wunsch, „eine gute Nachbarschaft zur ¡Sowjetunion herzustellen".50 Darin zeigte sich die Widersprüchlichkeit seiner Äußerungen, in denen die Sowjetunion oftmals als permanenter „Erzfeind" bezeichnet, sie andererseits der Friedensliebe der Bundesrepublik versichert wurde. In dieser gespannten Situation liefen in Moskau Verhandlungen zwischen den beiden Ländern um ¡die Herstellung und Erweiterung der Handelsbeziehungen. Eckardt, S. 259. « pravda, 11.1.1958; vgl. auch Moskau-Bonn, Bd. III/l, S. 325 f. iS Dönhoff, S. 87. ',7 Vgl. ebenda; Adenauer, Erinnerungen 1955—1959, Stuttgart 1967, S. 377. 48 Pravda, 21. 3.1958; vgl. Moskau-Bonn, Bd. III/l, S. 361. '*9 Adenauer, Erinnerungen 1955-1959, S. 370 ff. 50 Ebenda.
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Von sowjetischer Seite wurden konkrete Vorschläge unterbreitet. Die sowjetische Delegation schlug vor, ein Abkommen über gegenseitige Warenlieferungen für die Dauer bis zu fünf Jahren zu ¡schließen, und übergab der Delegation der Bundesrepublik Deutschland ein Programm der .möglichen sowjetischen Bestellungen und Einkäufe. Es sah den Kauf von Rohstoffen und Waren mit Lieferungen im Zeitraum von 1957 bis 1961 für die Gesamtsumme von fast 3,3 Milliarden Rubel (rund 3,5 Milliarden DM) vor, so z. B. verschiedene Arten von Maschinen, Ausrüstungen für die Schwer-, die chemische, die Nahrungsmittel- und die Leichtindustrie. Für die Lieferungen aus der Sowjetunion nach der BRD wurden u. a. anvisiert: Hölzer, Getreide, Baumwolle, Erdöl und Erdölprodukte, Steinkohle, Asbest, Zink, Zinn u. a. Außerdem schlug die sowjetische Delegation vor, über rechtliche und andere Bedingungen übereinzukommen, die in den Handelsbeziehungen zwischen beiden Staaten angewandt werden sollen. Die Delegation der Bundesrepublik kam ihrerseits zur ersten Zusammenkunft (am 24. Juli 1957) ohne konkrete Vorschläge angereist; ihr Leiter — Botschafter Lahr — gab lediglich eine Erklärung allgemeinen Charakters ab. TASS konstatierte am 6. September 1957, daß die Regierung der BRD zwar die Bereitschaft zeigte, ein Handelsabkommen auf drei Jahre zu beschließen, aber keine konkreten Vorschläge einbrachte. Die BRD-Abordnung stimmte der Errichtung einer Handelsvertretung der UdSSR in der Bundesrepublik zu, wich aber „einer Behandlung der Frage über die gegenseitige Anwendung der Form der Meistbegünstigung in den Handelsbeziehungen zwischen beiden Staaten aus".51 Die Fortsetzung der Verhandlungen machte die Bundesrepublik abhängig von der „künstlich geschaffenen Frage der sogenannten Repatriierung, die im Verlauf der Verhandlungen erschöpft worden war".52 Die sowjetische Seite war aber nach wie vor bereit, die Arbeit bis zum erfolgreichen Abschluß fortzuführen. Die Gespräche wurden am 8. April 1958 mit einem gemeinsamen Schlußkommunique abgeschlossen. Vereinbart wurden ein „Langfristiges Abkommen über den Waren- und Zahlungsverkehr", ein „Protokoll über den Warenverkehr im Jahre 1958", ein „Abkommen über allgemeine Fragen des Handels und der Schiffahrt", f erner ein Konsularvertrag. Die Vereinbarungen wurden in Moskau von den Leitern der Regierungsdelegationen paraphiert; ihre Unterzeichnung sollte in Bonn erfolgen, wohin eine sowjetische Delegation unter der Leitung des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Anastas I. Mikojan Ende April 1958 reiste. Die Ratifikationsgesetzentwürfe wurden im Oktober 1958 in der Bundestagsdebatte zur Zustimmung eingebracht. Sowohl von den Regierungsparteien als auch von der SPD-Opposition wurden sie begrüßt und als „ausgezeichnete und ausgewogene Leistung"53 bezeichnet. Die SPD warf durch ihren Abgeordneten Kalbitzer in der Debatte allerdings die Frage nach der Dringlichkeit des Abschlusses des Kulturabkommens mit der Sowjetunion auf. 51
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Vgl. TASS-Erklärung vom 5.9.1957, in: Pravda, 6.9.1957; vgl. Moskau-Bonn, Bd. III/l, S. 303 f£., hier S. 305. - Insgesamt verliefen die Gespräche in folgenden Phasen: 24. 7.-31. 7.; 8. 8.-19. 8.; 2. 9.-30. 9.; 13.12.1957-8. 4.1958. Ebenda. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 3. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 42, Bonn 1958, S. 2619 f.
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Im Verlaufe des J a h r e s 1958 wurde von seiten d e r Sowjetunion u n d der DDR mehrfach auf die eingetretene Verschärfung der Lage in Mitteleuropa hingewiesen .sowie Wege zu ihrer Normalisierung vorgeschlagen. Am 28. F e b r u a r regte die Regierung der UdSSR ein neues Gipfeltreffen d e r Regierungschefs .an, das durch eine Außenministerkonferenz vorbereitet werden sollte. E r ö r t e r t werden sollten dabei anstehende internationale Fragen, von der Einstellung d e r Kernwaffenversuche und über regionale Rüstungsbeschränkungen, den A b schluß eines Nichtangriffspaktes zwischen den S t a a t e n d e r NATO u n d des W a r schauer Vertrages bis zu M a ß n a h m e n zur Erweiterung der internationalen H a n delsbeziehungen. Als ein (Punkt der Tagesordnung wurde der Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland vorgeschlagen, zu d e m die Regierungen beider deutscher Staaten hinzugezogen werden sollten. Eindringlich w u r d e in den verschiedenen Stellungnahmen der sozialistischen S t a a t e n vor d e m atomaren Wettrüsten, insbesondere vor der Ausrüstung d e r Bundeswehr mit Atomwaffen gewarnt. Die Westmächte lehnten d e n Gedanken einer Gipfelkonferenz zwar nicht ab, doch verzögerten sie bewußt seine Verwirklichung. Bonn war d a r u m bemüht, mögliche Verhandlungen über Abrüstung u n d Entspannung von 'der Lösung d e r deutschen Frage abhängig zu machen. Bilaterale Gespräche mit d e r DDR ü b e r Entspannung und Verständigung w u r d e n nach wie vor zurückgewiesen. 54 Am 10. J a n u a r 1959 legte die sowjetische Regierung den drei Westmächten, d e n beiden deutschen Staaten u n d allen am Krieg gegen Deutschland Beteiligten d e n Entwurf eines Friedensvertrages vor. Er b e r u h t e in wesentlichen Teilen auf d e n Vorschlägen d e r J a h r e von 1952 bis 1954, berücksichtigte jedoch die inzwischen eingetretene Entwicklung in Deutschland. So enthielt das Projekt die Verpflicht u n g zur militärischen Bündnislosigkeit — die folgerichtig das Ausscheiden 'beider deutscher Staaten aus NATO u n d Westeuropäischer Union (WEU) bzw. Warschauer Vertrag bedeutete —, zur A n e r k e n n u n g der Nachkriegsgrenzen, zum Verbot des Besitzes von ABC- u n d anderen ausgesprochenen Aggressionswaffen. Der Entwurf sah G a r a n t i e n f ü r die friedliche, demokratische Entwicklung vor und enthielt keinerlei Beschränkungen f ü r die Wirtschaft, d e n Handel u n d die Schiffahrt. Angesichts der Existenz von zwei souveränen deutschen Staaten sollte d e r Friedensvertrag von d e r BRD u n d d e r DDR unterzeichnet werden. Der sowjetische Vorschlag formulierte ausdrücklich das Recht des deutschen Volkes auf Wiederherstellung d e r staatlichen Einheit, die durch A n n ä h e r u n g u n d Verständigung zwischen d e r DDR und der BRD erreicht werden sollte. Das veröffentlichte P r o j e k t u m r i ß die sowjetische Position zur Lösung d e r d e u t schen Frage, wie sie sich seit Mitte d e r 50er J a h r e herausgebildet hatte. Es verband die Problematik d e r europäischen Sicherheit mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes. Mit ihren Vorschlägen von 1958 u n d 1959 u n t e r n a h m die UdSSR nochmals d e n Versuch, zusammen mit ihren ehemaligen P a r t n e r n aus der Antihitlerkoalition eine f ü r alle betroffenen S t a a t e n und Völker akzeptable Lösung des Deutschlandproblems zu finden. Ihre Vorschläge standen zur Diskussion. Bonn lehnte d a s sowjetische Verhandlungsangebot vom 10. J a n u a r kategorisch ab. Außenminister von Brentano erklärte in einem R u n d f u n k i n t e r v i e w aim 54
Geschichte der Außenpolitik der DDR. Abriß, Berlin 1984, S. 144 f.
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18. Januar 1959: „Auf diese Forderungen kann es im deutschen Volke und in der ganzen freien Welt nur eine Antwort geben: ein klares ,Nein'." 55 Besonderen Unmut riefen die in dem Projekt vorgesehene Anerkennung der DDR als eines der beiden deutschen Teilstaaten und der geforderte Austritt aus den Militärkoalitionen hervor. In völliger Verdrehung der Vorschläge wurde behauptet, die Sowjetunion verlange nichts anderes als die Festschreibung der Teilung Deutschlands. In Hinblick auf mögliche Verhandlungen mit der Sowjetunion plädierte Adenauer dafür, die Wiedervereinigungsfrage, die noch nicht reif sei, auszuklammern. Auch eine isolierte Behandlung der europäischen Sicherheit verwarf er. Nach verschiedenen Konsultationen kamen die Westmächte schließlich überein, der Sowjetunion die Einberufung einer Außenministerkonferenz vorzuschlagen. Erstmals gaben sie ihr Einverständnis für die Teilnahme beider deutscher Staaten an einer Viermächtekonferenz. Auf der Außenministerkonferenz der vier Mächte in Genf 11. Mai bis 20. Juni und 13. Juli toiis 5. August 1959 stellte die UdSSR die grundlegenden Fragen einer deutschen Friedensregelung entsprechend ihren Vorschlägen vom November 1958 und vom Januar 1959 erneut in den Mittelpunkt. Die Obstruktion der Westmächte und aktive Störtätigkeit der Adenauer-Regierung ließen die Verhandlungen in 'den entscheidenden Fragen — der Vorbereitung eines Friedensvertrages — ohne Ergebnis zu Ende gehen. Die Konferenz hatte keines der anstehenden Probleme gelöst, aber deutlich gemacht, daß nur eine Anerkennung des Status quo in Europa zu Sicherheit und Entspannung führen kann. Die Existenz von zwei deutschen Staaten konnte von nun an nicht mehr geleugnet werden. Die Genfer Tagung hatte auch im Lager der Westmächte zu der Erkenntnis beigetragen, .daß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht durch Verhandlungen der vier ehemaligen Siegermächte erreicht werden konnte.
3.
Die Beziehungen in der Zeit der außenpolitischen Krise 1961 bis 1966
Mit dem Beginn der 60er Jahre begann eine neue Phase in der Entwicklung der Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR. In diesen Jahren bildete sich in allen entwickelten kapitalistischen Ländern innerhalb der herrschenden Klasse, verbunden mit einem außenpolitischem Differenzierungsprozeß, eine Tendenz der Anpassung an das veränderte Kräfteverhältnis heraus. Damit entstanden günstigere Bedingungen für die Beendigung des kalten Krieges und für die Durchsetzung der internationalen Entspannung. Obwohl die Bundesrepublik mit diesen Veränderungen unmittelbar konfrontiert war, versuchte sie, sich diesem objektiven Anpassungszwang durch lediglich taktische Modifizierungen der Außenpolitik zu entziehen und die alten Ziele aufrechtzuerhalten. '5 Bulletin, Nr. 12, 20.1.1959, S. 105 f.
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Die „schmerzhafte Anpassung" d a u e r t e längere Zeit, bis m a n sich in Bonn des ganzen Ausmaßes d e r eingetretenen Veränderungen f ü r die Bundesrepublik b e w u ß t wurde. Die Reaktionen von Regierung und sozialdemokratischer Opposition nach d e m 13. August 1961 zeigten immer ¡noch, daß weder die eine noch die andere gewillt war, gegenüber den sozialistischen Staaten auf die Ziele und Grundsätze d e r 50er J a h r e zu verzichten. Aber u n t e r dem Zwang d e r internationalen Kräftekonstellation iund unter d e m Druck innerer Faktoren begann ein zaghafter Umwandlungsprozeß. Von Einfluß w a r e n dabei d e r sowjetisch-.amerikanische Dialog, die intensiven Bemühungen de Gaulies uim bessere Beziehungen zu sozialistischen Staaten u n d die Haltung der britischen Regierung zu einer Verständigung mit der UdSSR. Vor allem die USA verlangten von d e r Bundesregierung, daß sie im R a h m e n der u n t e r J o h n F. Kennedy u n d seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson entwickelten neuen strategischen Konzeptionen i h r e n spezifischen Beitrag leiste. In der BRD selbst m e h r t e n sich die Stimmen, die eine Abkehr von d e n starren Formeln der Adenauerschen Ostpolitik verlangten. Von publizistischen, akademischen u n d kirchlichen Kreisen kaimen Empfehlungen, die f ü r eine Änderung der Beziehungen zu d e n osteuropäischen Staaten u n d f ü r ihre Normalisierung mit d e r UdSSR eintraten. F ü r die Kritik an der sterilen, dogmatischen Regierungspolitik w a r e n freilich unterschiedliche Motive ausschlaggebend. Die einen b e f ü r w o r t e t e n eine echte Wende in der Ostpolitik im Interesse des Friedens u n d der europäischen Sicherheit. Andere gingen von der Erkenntnis aus, d a ß mit d e n Mitteln u n d Dogmen der Politik d e r Stärke weder die „Wiedervereinigung" noch eine Veränderung d e r europäischen Grenzen zu erreichen sei, u n d t r a t e n deshalb f ü r ein flexibleres Vorgehen ein. Einzelne f ü h r e n d e SPD- u n d FDP-Politiker begannen erste außenpolitische An* passungsvarianten zu entwickeln. So w u r d e die Bundesregierung am 14. J u n i 1961 vom Auswärtigen Ausschuß des Bundestages aufgefordert, „gemeinsam m i t ihren Verbündeten eine Ostpolitik zu f ü h r e n , deren Ziel die Wiederherstellung eines freien Gesamtdeutschlands ist, d a s auch mit der Sowjetunion u n d allen osteuropäischen Staaten friedliche u n d gedeihliche Beziehungen unterhält". Zu diesem Ziel sollte die Bundesregierung „jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, u m ohne Preisgabe lebenswichtiger deutscher Interessen zu einer Normalisier u n g d e r Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und d e n osteuropäischen Staaten zu gelangen". 56 Dazu seien auch die Kontakte auf wirtschaftlichem, geistigem u n d kulturellem Gebiet auszubauen. Der Beschluß des Bundestages vom 14. J u n i 1961, den die bürgerliche BRDLiteratur oftmals als eine A r t Wendepunkt auf d e m Wege zu einer aktiven Ostpolitik bezeichnet, dokumentierte lediglich die Forderung nach mehr Bewegung in der Ostpolitik und nach flexibleren Methoden. Das Ziel, „die Wiederherstellung eines freien Gesamtdeutschlands", u n d der Beschluß selbst, wie e r f o r m u liert war, verhinderten jedoch praktisch die Normalisierung d e r Beziehungen zwischen d e r BRD und d e n sozialistischen Ländern und speziell d e r UdSSR.
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Entschließungsanträge des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages vom 31. 5. und 9. 6.1961, angenommen am 14. 6.1961. Vgl. Drucksache 2740. Deutsche Osteuropa-Politik, Bonn 1967, S. 40 f. und 63.
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Ungeachtet der auch von der CDU-Führung als „Stunde der Desillusion" empfundenen Lehre des 13. August 1961, die selbst Konrad Adenauer das Gefühl vermittelt hatte, es „für den Rest des Lebens" als „für das Wichtigste" zu halten, das „Verhältnis zu Rußland in eine erträgliche Ordnung zu hringen", 57 wandte sich der Kanzler aber entschieden gegen jedwede Maßnahme, die darauf gerichtet war, die Beziehungen zur UdSSR grundlegend zu normalisieren. Botschafter Hans Kroll berichtet in seinen Memoiren, daß Adenauer zu dieser Zeit tatsächlich an einer Verständigung mit der Sowjetunion .interessiert gewesen sei.58 Adenauer stellte jedoch die durch Kroll hergestellten diplomatischen Kontakte im wesentlichen in den Dienst seiner Taktik des Manövrierens. In einem Gespräch, das auf Initiative des sowjetischen Botschafters Smirnow am 16. August stattfand, versicherte der Bundeskanzler zwar, „keine Schritte" zu unternehmen, „welche die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR erschweren und die internationale Lage verschlechtern" 59 könnten, zwei Tage später jedoch, am 18. August in seiner Regierungserklärung, sprach Adenauer tendenziös über „massive Drohungen" der sowjetischen Seite und machte die Sowjetunion für die „Berlin-Krise" verantwortlich. 60 Auch seine Haltung zur Kroll-Affäre spricht für sich: Am 9. November 1961 legte Hans Kroll dem sowjetischen Regierungschef einen Fünf-Punkte-Plan zur Regelung offener Fragen zwischen der BRD und der UdSSR vor.61 Diese für die Bundesregierung unerwünschte Initiative — obwohl Adenauer zugab, daß die Überlegungen teilweise von ihm stammten — kostete Kroll den Botschafterposten. Ihm wurde vorgeworfen, er sei nicht befugt gewesen, „eigene Vorschläge" vorzulegen. An der Kampagne gegen den Botschafter, die bis zum Herbst des folgenden Jahres geführt wunde, beteiligte sich auch das Auswärtige Amt. Im Herbst 1962 wurde Kroll „in die Zentrale . . . berufen". 62 Von sowjetischer Seite ging Ende 1961 eine 'erneute Initiative aus. In einem Memorandum vom 27. Dezember, das noch an Botschafter Hans Kroll übergeben worden war, wurde der sowjetische Standpunkt zur Entwicklung der sowjetischwestdeutschen Beziehungen ausführlich dargelegt. Darin wurde von der Feststellung ausgegangen, daß nach zwei Kriegen gegen Deutschland, die zu führen die Sowjetunion gezwungen wurde, die Politik des Militarismus und der Aggression Deutschland selbst teuer zu stehen gekommen war. Ein Ausweg könne nicht in der Suche nach Wegen bestehen, um „die verlorenen Gebiete und Positionen zurückzugewinnen, anstatt zur Schaffung von Verhältnissen beizutragen, die die 57
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Krone, Heinrich, Aufzeichnungen zur Deutschland- und Ostpolitik 1954—1969, in: Adenauer-Studien. Bd. 3, hrsg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen, Mainz 1974, S. 164. Kroll, Hans, Lebenserinnerungen eines Botschafters, Berlin (West)/Darmstadt/Wien 1968, S. 534. Bulletin, Nr. 152, 17. 8.1961, S. 1469. Ebenda, Nr. 154, 19. 8.1961, S. 1485. Kroll, S. 525 f.; vgl. auch Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, S. 242. Kroll, S. 549 f.; vgl. ferner Ehlert, Nikolaus, Große Grusinische Nr. 17. Deutsche Botschaft in Moskau, Frankfurt a. M. 1967, S. 328 f.; Löwenthal, Richard, Vom kalten Krieg zur Ostpolitik, in: Die Zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland — eine Bilanz, hrsg. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1974, S. 661.
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Möglichkeit neuer kriegerischer Erschütterungen in Europa ausschließen".63 Die sowjetische Seite zog Bilanz der außenpolitischen Stellung der Bundesrepublik. Sie verwies darauf, daß zwar die Beteiligung der Bundesrepublik an der NATO ihr vom Standpunkt einiger westdeutscher Politiker gewisse Vorteile gebracht, „ihre Position im Verhältnis zu den Westmächten in gewissem Grade gestärkt, ihre politische Stellung im Verhältnis zu den östlichen Mächten aber . . . entscheidend geschwächt" habe.64 Die Sowjetunion nannte in ihrem Memorandum die Aufgaben, die im Interesse „friedlicher Koexistenz und gutnachbarlicher Beziehungen" gelöst werden mußten, uim den Frieden upd die Sicherheit der Völker zu festigen, damit „eine durchgreifende Gesundung der Lage und die Beseitigung der Überbleibsel des zweiten Weltkrieges"65 erreicht werden konnten. Die BRD beharrte jedoch auf ihren früheren Positionen. Dies bestätigte das Memorandum der Regierung vom 21. Februar 1962. In ihm wurde in üblicher Form vom „Regime der sogenannten DDR" gesprochen und von Vorbedingungen für die Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR. Welche tatsächlichen Absichten Konrad Adenauer hegte, zeigt sein Angebot an die Sowjetregierung vom 6. Juni 1962, eine Art „zehnjährigen Burgfriedens" abzuschließen. Die Motivierung dieses Vorgehens als „schrittweise Verbesserung der [west]ideutsch-sowjetischen Beziehungen" auszugeben, um „das politische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland .im Verhältnis zu ihren westlichen Verbündeten zu erhöhen",68 kann nur bestätigen, daß die Bundesregierung nicht imstande war, das tatsächliche Kräfteverhältnis zu erkennen. In diesen zehn Jahren sollten sich beide Seiten bemühen, „wirklich normale Verhältnisse eintreten zu lassen", und vor allem dafür sorgen, „daß die Menschen in der DDR freier leben könnten, als es jetzt der Fall ist". 67 Hinter diesem „sensationellen Vorschlag" standen offensichtlich die gleichen Überlegungen, die in den beiden Entwürfen des „Globke-Plans" von 1959 und 1960 enthalten waren.68 Ziel war es, über die zeitweilige Hinnahme des territorialen zu einer spürbaren Veränderung des politischen Status qiuo zu gelangen, d. h., „'die deutsche Friedensregelung hinauszuzögern und zu versuchen, Zeit zu gewinnen für die Verwirklichung der Rüstungspläne der BRD, zur Sammlung von Kräften zum Zwecke der Revision der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und der Revanche",®9 wie dies in einer Erklärung des sowjetischen
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Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Bd. 2, Berlin 1968, S. 252 f. Ebenda. Ebenda. Moskau-Bonn, Bd. III/2, S. 751. Die auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, S. 472 f. Grundzüge dieses Planes vgl. Bandulet, Bruno, Adenauer zwischen West und Ost. Alternativen der deutschen Außenpolitik, München 1970, S. 232 f.; vgl. auch Gotto, Klaus, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954—1963, in: Adenauer-Studien, Bd. 3, S. 3—91, 202—209; Entspannung und Wiedervereinigung. Deutschlandpolitische Vorstellungen Konrad Adenauers 1955—1958, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1979, S. 34. Pravda, 12.10.1963; Moskau-Bonn, Bd. III/2, S. 961-965, hier S. 963, 965.
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Außenministeriums vom 11. Oktober 1963 als Antwort auf den erwähnten „Waffenstillstand auf zehn Jahre" betont wurde. Dieser „Bungfrieden"-Vor.schlag fand bei der sowjetischen Regierung kein zustimmendes Echo. Botschafter Smirnow erklärte in einem Gespräch, das im Beisein von Globke am 2. Juli 1962 stattfand, daß es wenig zweckdienlich sei, die „Errichtung einer Atmosphäre des Vertrauens, in .der es leichter sein wird, die Probleme der heutigen Tage zu lösen, auf zehn Jahre oder selbst für ein Jahr zu verschieben" — wie es die BRD-Seite vorschlug —, sondern „an dieses sollte man unverzüglich herangehen". 70 Während eines Besuches in den USA Ende 1962 versuchte Adenauer, seine außenpolitischen Intentionen weiterzuführen, indem er von J. F. Kennedy erneut einen „harten Kurs" des Westens gegenüber der UdSSR forderte. Konrad Adenauer gelangte zu der Auffassung, daß für Verhandlungen der BRD mit der UdSSR über die Normalisierung der Beziehungen „der verbleibende Zeitraum der Amtszeit" 71 zu kurz sei, und wich damit der Problementscheidung aus. Nachdem am 5. August 1963 im Ergebnis der Verhandlungen zwischen Vertretern der Regierungen der UdSSR, der USA und Großbritanniens ein „Vertrag über das Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im kosmischen Raum und unter Wasser" in Moskau unterzeichnet worden war, trat die Bundesrepublik trotz schwerer Bedenken Adenauers am 19. August dem Atomteststoppabkommen bei. Am selben Tag begrüßte sie „das Ziel dieses Vertrages", der die Ursachen der „politischen Spannungen" beseitigen sollte, gleichzeitig bezeichnete sie sich selbst jedoch als die „einzige frei gewählte und rechtmäßig gebildete deutsche Regierung", die berechtigt sei, „für das ganze Deutschland zu sprechen".72 Sie lehnte es weiterhin ab, die DDR als Staat anzuerkennen. Ihr Versuch, die gleichberechtigte Teilnahme der DDR am Teststoppvertrag zu verhindern, blieb jedoch ergebnislos.73 Im Herbst 1963 trat erstmals eine neue Bundesregierung ihr Amt an. Bundeskanzler Ludwig Erhard erklärte namens der Bundesregierung die — verspätete — Einsicht, daß sich „Veränderungen im Ost-West-Verhältnis abzeichnen". Im Mittelpunkt des außenpolitischen Programms stand weiterhin die Forderung nach der „Lösung der deutschen Frage". Neben ihrer Bereitschaft zur Mitwirkung an Abrüstungsverhandlungen und -maßnahmen deklarierte es diese Bundesregierung als „ständiges Bemühen", auch im „Verhältnis zur UdSSR" eine Normalisierung herbeizuführen. Unverändert blieb in dieser Regierungserklärung das Junktim zwischen überholten Zielstellungen gegenüber der DDR, der Oder-Neiße-Grenze und der Normalisierung des Verhältnisses zur UdSSR sowie der Bereitschaft, „Schritt für Schritt" vor allem die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu „den osteuropäischen Staaten" auszubauen.74
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Ebenda. Vgl. Aufzeichnungen Krones vom 1. 5.1963, in: Adenauer-Studien, Bd. 3, S. 175. Bulletin, Nr. 147, 20. 8.1963, S. 1289. Ersil, Wilhelm, Außenpolitik der BRD 1949-1969. Abriß, Berlin 1986, S. 207. Bulletin, Nr. 186, 19.10.1963, S. 1623.
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Stärker als die vorhergehende versicherte die Regierung Erhard, „einen hohen Preis" für die DDR zahlen zu wollen, „ein großes materielles Opfer nicht [zu] scheuen".75 In der Erklärung zu den Fragen der Ostpolitik zeigten sich jedoch keine Unterschiede zu früher. Die Absicht, das wirtschaftliche Potential der BRD in stärkerem Maße in die Waagschale zu werfen, war jedoch unverkennbar. Darüber hinaus konnte sich die Bundesregierung nicht mehr der Tatsache entziehen, daß andere imperialistische Großmächte bereits mit der UdSSR verhandelten und auf dem Gebiet der Abrüstung Fortschritte erreicht wurden. Der dn früheren Jahren geprägte konzeptionelle Ansatz für die Ostpolitik — und konkret in bezug auf die UdSISR — wurde nicht in Frage gestellt oder gar verworfen; versucht wurde, sich neuen Gegebenheiten taktisch anzupassen und früher konzipierte Ausgangspunkte und Zielvorstellungen punktuell ziu modifizieren. Man könnte sogar von einer Kontinuität der außenpolitischen Konzeption 'der Bundesrepublik sprechen. Es wird dies auch von bürgerlichen Politologen und Politikern eingestanden. 76 Nach einer gründlichen Analyse der Erklärung des Bundeskanzlers Erhard wurde in einer umfassenden TASS-Erklärung vom 7. März 1964 festgestellt: „Wenn die heutige Regierung der Bundesrepublik imstande ist, aus der Vergangenheit die richtigen Lehren zu ziehen, ihre Politik mit den grundlegenden Wandlungen der internationalen Lage als Folge und nach Beendigung des zweiten Weltkrieges in Einklang zu bringen, so kann ihre Wahl nur die eine sein: Friede, Abrüstung und friedliche Koexistenz von Staaten". 77 In den Regierungs jähren Erhards, „Jahren der Orientierungslosigkeit" 78 in der Ostpolitik Bonns, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auch auf diplomatischer Ebene. Als demonstrative Arroganz zu werten ist die Handlungsweise des Botschafters der BRD in Moskau, Horst Groepper, der die Antwort auf die Botschaft des sowjetischen Ministerpräsidenten an die Staats- und Regierungschefs der Länder der Welt vom 31. Dezember 1963 betreffend einen Vertrag über Gewaltverzicht bei Grenzstreitigkeiten durch einen Postboten übermitteln ließ,79 ein Schritt, 'der eine grobe Mißachtung diplomatischer Gepflogenheiten bedeutete. Dieser Botschafter mußte übrigens zum Jahreswechsel 1965/66 das Land verlassen, als ihm Ikonen-Schmuggel nachgewiesen wurde. Mit dem neuen BRD-Botschafter, Gebhardt von Walther, wurden die Beziehun75 77
Edinger, Lewis J., Kurt Schumacher. Persönlichkeit und politisches Verhalten, Köln/ Opladen 1967, S. 437. 53 Vgl. Griffith, William E., Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1981, S. 82. 59 Edinger, Kurt Schumacher, S. 437. fi" Vgl. Paterson, William E., The SPD and European Integration, Glasgow/Lexington, Mass., 1974, S. 7 f£. 61 Edinger, Kurt Schumacher, S. 437. 62 Gatzke, Germany and the United States, S. 179
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Dulles"63 erscheint dadurch -als das Beispiel vertrauensvoller Zusammenarbeit und als „Höhepunkt"64 in den Beziehungen USA — BRD. Auch in der konservativen Geschichtsschreibung der BRD nimmt das Wirken Adenauers einen herausragenden Platz ein. Vor allem wird seine Rolle bei der Restauration des deutschen Imperialismus hervorgehoben. Adenauers Beharrlichkeit und seiner politischen Weitsicht, seinem diplomatischen Geschick und seiner Energie wird es zugeschrieben, daß die 'Bundesrepublik zu einem „Machtfaktor der internationalen Politik"65 wiurde. Deshalb sei sogar die „Epochenbezeichnung ,Ära Adenauer' verdient".65 Dagegen wird peinlichst vermieden, den Bundeskanzler als 'Sachwalter des Monopolkapitals darzustellen.67 Führende BRD-Historiker wie Hans-Peter Schwarz, Johannes Gross und Arnulf Barling sind vielmehr bemüht, ihn als patriarchalischen Landesvater zu preisen, dem das Wohl aller Klassen und Schichten am Herzen lag. Dabei ist nicht zu übersehen, daß Adenauer als Motivations- und Leitbild aufgebaut wird. Im Rahmen eines BRD-eigenen Traditionsverständnisses soll er nicht nur den eigentlichen Gründungsvater dieser Republik verkörpern, vielmehr gelte es, seine konservativen Wertvorstellungen wachzuhalten und weiterzuvermitteln. Diese verstärkten Bestrebungen der Aufwertung Adenauers ¡in der gegenwärtigen konservativen Geschichtsliteratur der BRD machen deutlich, daß diese Amibitionen zwar mit den derzeitigen Bemühungen in den USA hinsichtlich der besonderen Hervorkehrung des Anteils Adenauers am westlichen Bündnis konform gehen, aber aus bundesdeutscher Sicht Adenauer ein spezifischer Stellenwert für die Ausprägung eines BRDeigenen Geschichtsbewußtseins eingeräumt wird. Überblickt man die Beziehungen zwischen den USA und der BRD, ¡so haben sich im Laufe der Jahrzehnte tiefgreifende Wandlungen vollzogen.68 Aus dem einstigen Vasallen und Juniorpartner BRD wurde ein Bündnispartner und Konkurrent. Das Ansehen der USA, das sie einst in der BRD-Bevölkerung genossen, ist unverkennbar gesunken und das Vertrauen in die westliche Führungsmacht geschwunden. Ernsthafte Vorbehalte gegenüber der US-amerikanischen Außenpolitik, ja sogar eine gewisse „AmerikaMndlichkeit", besonders in der jungen Generation, führten zu tiefer Besorgnis in den USA. Der ehemalige USA-Botschafter 'in der BRD, Arthur F. Burns, kam nicht umhin, „eine Schwächung der
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Griffith, William E., Erwägungen über die deutsch-amerikanischen Beziehungen, in: Nach dreißig Jahren. Die Bundesrepublik Deutschland — Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, hrsg. von Walter Scheel, Stuttgart 1979, S. 197. Ebenda, S. 199. Baring, Arnulf, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beiträge zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München/Wien 1969, S. 334. Schwarz, Hans-Peter, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957—1963, Stuttgart/ Wiesbaden 1983, S. 357. Vgl. Thomas, Siegfried, Die ersten beiden Jahrzehnte Bonner Außenpolitik in Geschichtsschreibung und Publizistik der BRD, in: ZfG, 1972, 10, S. 1205 ff. Vgl. Basler, Gerhard, Gemeinsamkeiten und Widersprüche im Verhältnis BRD—USA, in: IPW-Forschungshefte, Berlin 1979, 1; ders., Bündnis- und Rivalitätsverhältnis USA-Westeuropa, ebenda, 1986, 3.
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Bindungen" 69 zwischen beiden Ländern festzustellen. Und Lewis J. Ediniger mußte wie viele andere Beobachter konstatieren, daß das „goldene Zeitalter enger deutsc&Hameritendscher Beziehungen vorbei ist".70 Um diesem „Abwärtstrend" (aufzuhalten bzw. ihn nach Möglichkeit sogar umzukehren, sehen einige Politiker und Historiker der USA eine wichtige Aufgabe darin, verstärkt an jene Nachkriegsjiabre zu erinnern, als die USA das Wiedererstehen des deutschen Imperialismus wirksam unterstützten. Sichtbarster Ausdruck dessen .war der 1984 in Westberlin betriebene Rummel um den 35. Jahrestag der „Berliner Luftbrücke". Seinerzeit wurde die Duftbrücke, die die „Berlinkrise" noch verschärfte, vom USA-Imperialismus in einer Atmosphäre hochgezüchteter .antikommunistischer Hysterie inszeniert. Sie diente dem Ziel, die antisowjetische Blockbildung in Westeuropa zu beschleunigen und von eigenen separatistischen Bestrebungen abzulenken. Die „Berlinkrise" war von den USA langfristig geplant, sie suchten Krise und Konfrontation, um die Spaltung Deutschlands psychologisch vorzubereiten. 71 Die USA waren keineswegs in diese Krise „hineingeschlittert". Selbst Lucius D. Clay, damaliger amerikanischer Militärgoaiverneoir und eigentlicher Initiator der „Berliner Luftbrücke", mußte dies mehr oder weniger eingestehen.72 Dieser 35. Jahrestag der Bieend'igung der sogenannten Berlin-Blockade schien Politikern wie Historikern besondere geeignet, die „deutsch-amerikanischen Gemeinsamkeiten" zu beschwören. Aus diesem Grunde waren sogar aus den USA der damalige Innenminister William Cliark und Eleanor Dulles, die Schwester des früheren Außenministers, ¡angereist. Das Ziel bestand darin, die „Erinnerung . . . an die Luftbrücke . . . lebendig zu erhalten". 73 Die Luftbrücke wurde gar als „'Geburtsstätte des westlichen Bündnisses" bezeichnet.7'1 Als eigentlicher „Held" dieser Aktion wurde Lucius D. Clay ¡gefeiert. Wurden seine „Leistungen" zur Schaffung des westdeutschen Separatstaates und zur Verhinderung antiimpenialistischer Bestrebungen seit jeher „gewürdigt" 73 , so erfährt seine Tätigkeit als „Krisenmanager" während der „Berlinkrise" erneute Aufmerksamkeit.76 Höhepunkt dieser Clay-Renaissanoe war neben dem zweifelhaften Jubiläum der „Berliner Luftbrücke" eine Ausstellung vom 2. Mai bis 25. Juni 1983 in Westberlin. Sie hatte den bezeichnenden Titel „Von der Unterwerfung zur Partnerschaft 1945—1949. Amerikanische Militäiherrschaft unter Lucius D. Olay". Das 09
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Bums, Arthur F., Europa aus der Sicht Amerikas, in: Amerika-Dienst, Bonn, 2.12. 1981, S. 5. Edinger, Lewis J., The German-American Connection in the 1980s, in: Political Science Quaterly, No 4, Winter 1980/81, S. 590. Vgl. Keiderling, Gerhard, Die Berliner Krise 1948/49. Zur imperialistischen Strategie des kalten Krieges gegen den Sozialismus und der Spaltung Deutschlands, Berlin 1983. Vgl. Clay, Lucius D., Entscheidung in Deutschland, Frankfurt a. M. o. J., S. 422. Tagesspiegel, Berlin [West], 11. 5.1984, S. 2. Ebenda, 12. 5.1984, S. 2. Vgl. The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945—1949, hrsg. von Jean E. Smith, 2 Bde., Bloomington/London 1974. Vgl. Backer, John, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949, München 1983.
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Auffällige daran war eine Reaktivierung des unnachgiebigen „Hardliners" Clay, der in einer schwierigen Situation erfolgreich dem „Druck" der Sowjetunion widerstanden hätte. An diesen Beispielen der verstärkten Rückbesinnung aiuf die 40er Jahre und die von Clay .betriebene Politik wird deutlich, welch hohen Stellenwert Vertreter der bürgerlichen Zeitgeschlichtsschreibunig der USA aus aktuellen politischen Bedürfnissen dieser Problematik beimessen. Denn gerade die Hervorhebung der konfrontativen Elemente in der Politik Glays gegenüber der Sowjetunion motiviert .ein wesentliches Element in der Außenpolitik der USA gegenüber den sozialistischen Ländern. Zusammenfassend lassen sich folgende neue Tendenzen in einem Teil der konservativen Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft der USA in den 70er und 80er Jahren feststellen: 1. Auf der Suche nach einer glaubhaften ideologischen Ahstützung einer aggressiven Variante US-amerikanischer Außenpolitik gegenüber den Ländern des Sozialismus erfährt in der konservativen Historiographie und Politikwissenschaft der USA die Zeit des kalten Krieges eine Reaktivierung. Die theoretische Grundlage bildet hierbei vor allem die antikommunistische Totalitanismusdoktrin. 2. Aus aktuellen politisch-praktischen Erwägungen werden in der konservativen Geschichtsliteratur der USA jene Jahre nach dem zweiten Weltkrieg betont aufgewertet, in denen die USA trotz der Schwächung des imperialistischen Weltsystems zur uneingeschränkten Fühxiungsmacht der kapitalistischen Welt aufstiegen. Seinen Ausdruck findet diese Entwicklung in einem intensivierten Nationalismus in Gestalt des sogenannten Amerikainismus. 3. Nicht wenige historische Analysen sind gerade in den letzten Jahren von der Sorge um das westliche Bündnis getragen. Angesichts geschwundenen Vertrauens imperialistischer Bündnispartner in die Führungsmacht USA und gewisser antiamerikanischer Tendenzen selbst in der BRD erforschen US-amerikanische Historiker verstärkt die Wurzeln „atlantischer" Partnerschaftsbeziehungen mit der BRD. Gerade die BesatzungspoMtik der USA in Deutschland 1945—1949 ibatte maßgeblich dazu beigetragen, entscheidende Grundlagen für das imperialistische Zweckbündnis mit der späteren BRD zu legen. Mancher Historiker der USA ist bestrebt, an jene Zeit zu erinnern und sie als bleibende geschichtsideologische Motivation f ü r die Gegenwart nutzbringend zu machen. Das führte beispielsweise zu einer betonten Aufwertung der sogenannten Ära Adenauer — Dulles. Hinsichtlich des wissenschaftlichen Gehalts einer Reihe von konservativen Geschichtsinterpretationen 'handelt es sich nicht immer um die Analyse neuer Quellen, sondern in vielen Fällen um eine politisch-ideologische Neuinterpretation bzw. um konservative Rückgriffe. Es ist noch nicht zu übersehen, ob -der reaktionäre Trend angesichts einer flexibleren, weniger offen antikommuniistischen Außenpolitik der USA bzw. erster .erfolgreicher RaketenAbrüstungsabkommen zwischen der UdSSR und den USA gewisse Modifizierungen erfahren wird.
Autorenverzeichnis
Dr. phil. Karl-Heinz Börner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR Dr. phil. Susanne Schötz, wissenschaftliche Assistentin an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig Dr. Jakob Rokitjanski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der KPdSU, Moskau Dr. phil. Waltraud Seidel-Höppner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR Dr. sc. phil. Harald Koth, wissenschaftlicher Oberassistent an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig Dr. sc. phil. Hans-Jürgen Arendt, Professor, Direktor der Sektion Geschichte an der Pädagogischen Hochschule „Clara Zetkin", Leipzig Dr. phil. Annette Neumann, stellvertretende Abteilungsleiterin am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED Dr. sc. phil. Johannes Glasneck, außerordentlicher Professor, Sektion Geschichte/Staatsbürgerkunde an der Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg Dr. sc. phil. Klaus Mammach, Professor, Bereichsleiter am Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR Dr. phil. Ines Mietkowska-Kaiser, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für allgemeine Geschichte der AdW der DDR Dr. phil. Heinrich Bortfeldt, wissenschaftlicher Oberassistent an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED