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German Pages 227 [234] Year 2020
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 38 · 2020 Franz Steiner Verlag
herausgegeben von Oliver Auge Unter Mitwirkung von Josef Ehmer Rainer S. Elkar Gerhard Fouquet Mark Häberlein Franklin Kopitzsch Reinhold Reith Martin Rheinheimer Dorothee Rippmann Susanne Schötz Sabine Ullmann
Jahrbuch für Regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstr. 40, D – 24118 Kiel, E-Mail: [email protected] Unter Mitwirkung von Josef Ehmer, Rainer S. Elkar, Gerhard Fouquet, Mark Häberlein, Franklin Kopitzsch, Reinhold Reith, Martin Rheinheimer, Dorothee Rippmann, Susanne Schötz, Sabine Ullmann Redaktion Stefan Brenner, Karen Bruhn, Nina Gallion, Knut Kollex, Laura Potzuweit, Frederieke M. Schnack E-Mail: [email protected] https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-JRG
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 38 · 2020
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der BurgenStiftung Schleswig-Holstein.
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Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Aufsätze Marcel Korge Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld Soziale Sicherung für ‚arbeitslose‘ Gesellen durch obersächsische Handwerkskorporationen in der Frühen Neuzeit
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Mark Häberlein Reformation, Konfessionalisierung und Region Eine Nachlese zum Reformationsjubiläum
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Rezensionen 1. Epochenübergreifend Sigrid Hirbodian, Christian Jörg, Sabine Klapp (Hg.): Methoden und Wege der Landesgeschichte (Martin Knoll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Marian Füssel, Antje Kuhle, Michael Stolz (Hg.): Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel, Jana Madlen Schütte (Hg.): Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert) (Martin Gierl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Andreas Rutz: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Mark Häberlein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
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Inhalt
Marian Füssel, Philip Knäble, Nina Elsemann (Hg.): Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert (Rainer S. Elkar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Markus A. Denzel (Hg.): Europäische Messegeschichte 9.–19. Jahrhundert (Ortwin Pelc) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Christine van den Heuvel, Gerd Steinwascher, Brage bei der Wieden (Hg.): Geschichte Niedersachsens in 111 Dokumenten (Hermann Wellenreuther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Hans-Christian Bresgott: Ostseeküste – Ostseebad. Von der Entdeckung des Nordens zur Entstehung der deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert (Norbert Fischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Raivis Bičkeviskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans, Anu Schaper, Björn Spiekermann, Inga Walter (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure, Bd. 1: Zwischen Reformation und Aufklärung (Helmut Glück) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Günter Vogler: Müntzerbild und Müntzerforschung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Bd. 1: 1519 bis 1789 (Helmut Bräuer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Klaus-Frédéric Johannes (Hg.): Mobilitas. Festschrift zum 70. Geburtstag Werner Schreiners (Benjamin Müsegades) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Mittelalter Harald Derschka (Bearb.): Die Reichenauer Lehenbücher der Äbte Friedrich von Zollern (1402–1427) und Friedrich von Wartenberg (1428–1453) (Lukas-Daniel Barwitzki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Nina Herrmann: Das Urbar des Schottenklosters St. Jakob in Regensburg (1390) (Helmut Flachenecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Angela Huang: Die Textilien des Hanseraums. Produktion und Distribution einer spätmittelalterlichen Fernhandelsware (Christof Jeggle) . . . . . . . . . . . . . . 151
Inhalt
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Peter Wiegand: Der päpstliche Kollektor Marinus de Fregeno († 1482) und die Ablasspolitik der Wettiner. Quellen und Untersuchungen (Heinrich Lang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Julia Mandry: Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600) (Helmut Bräuer) . . . . . . . . . . . . . 156 Jan Habermann (Hg.): Kaiser Heinrich III. Regierung, Reich und Rezeption (Matthias Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Jürgen Dendorfer, Heinz Krieg, R. Johanna Regnath (Hg.): Die Zähringer. Rang und Herrschaft um 1200 (Dieter J. Weis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Gerhard Fouquet, Sven Rabeler (Hg.): Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlischen Kleinkredits im Spätmittelalter (Ulla Kypta) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hermann Göhler (†): Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu Sankt Stephan in Wien 1365–1554 (Frederieke Maria Schnack) . . . . . . . . . . . . 165 Stefan Pätzold, Felicitas Schmieder (Hg.): Die Grafen von der Mark. Neue Forschungen zur Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Beiträge der Tagung am 22. April 2016 in Hagen (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Ralph A. Ruch: Karthographie und Konflikt im Spätmittelalter. Manuskriptkarten aus dem oberrheinischen und schweizerischen Raum (Martin Berthold) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Otfried Krafft: Landgraf Ludwig I. von Hessen (1402–1458). Politik und historiographische Rezeption (Laura Potzuweit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Frühe Neuzeit Ekaterina Emeliantseva Koller: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850) (Cornelia Aust) . . . . . . . . . . . . . . 174 Simone Signaroli: Provveditore in Valcamonica. Dispacci al Senato di Venezia 1620–1635. Edizione di una fonte storica per la Guerra die Trent’Anni nelle Alpi (Andreas Flurschütz da Cruz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
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Inhalt
Achim Beyer: Die kurbrandenburgische Residenzenlandschaft im „langen 16. Jahrhundert“ (Sven Rabeler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Georg M. Wendt: Legitimation durch Vermittlung. Herrschaftsverdichtung und politische Praxis in Württemberg am Beispiel von Kirchheim/Teck, Schorndorf und Steinheim/Murr (1482–1608) (Gerhard Fritz) . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian Heinker: Die Bürde des Amtes – die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert (Alexander Schunka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Andreas Müller: Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651–1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie (Christian Hoffmann) 186 Andreas Flurschütz da Cruz: Hexenbrenner, Seelenretter. Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (1573–1617) und die Hexenverfolgungen im Hochstift Würzburg (Klaus Rupprecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Holger Zaunstöck, Brigitte Klosterberg, Christian Soboth, Benjamin Marschke (Hg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen (Hermann Wellenreuther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Petrus A. Bayer: Konfessionalisierung im klösterlichen Umfeld. Die Entwicklung frühneuzeitlicher Religiosität in den Pfarren des Stiftes Schlägl (1589–1665) (Dietmar Schiersner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Robert Rebitsch (Hg.): 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges (Anuschka Tischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Luděk Březina: Der Landvogt der Niederlausitz zwischen Königsmacht und Ständen (1490–1620). Ein Diener zweier Herren? (Christian Oertel) . . . . . . . 199 Dagmar Freist: Glaube, Liebe, Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit (Sabine Ullmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Axel Flügel: Anatomie einer Ritterkurie. Landtagsbesuch und Landtagskarrieren im kursächsischen Landtag (1694–1749) (Andreas Rutz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Inhalt
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Ferdinand Opll, Heike Krause, Christoph Sonnlechner: Wien als Festungsstadt im 16. Jahrhundert. Zum kartografischen Werk der Mailänder Familie Angielini (Sven Rabeler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sabine Eibl: Küster im Fürstbistum Münster. Stabsdisziplinierung, Gemeindeansprüche und Eigeninteressen im konfessionellen Zeitalter (Johannes Staudenmaier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Andreas Pečar, Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert (Benjamin Marschke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Susanne Netzer: Von schönen und necessairen Künsten. Glasproduktion und Glasveredelung in Preußen zwischen 1786 und 1851 (Robert Bernsee) . . . . . . . . 212 4. 19. und 20. Jahrhundert Horst-Alfons Meißner (Hg.): Neubeginn in der Fremde. Vertriebene aus der Grafschaft Glatz in Schlesien nach 1946 (Matthias Stickler) . . . . . . . . . . . . . . . 214 Richard Lakowski: Ostpreußen 1944/45. Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches (Martin Göllnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Georg D. Falk: Entnazifizierung und Kontinuität. Der Wiederaufbau der hessischen Justiz am Beispiel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Anton F. Guhl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Karl-Heinz Braun, Hugo Ott, Wilfried Schöntag (Hg.): Mittelalterliches Mönchtum in der Moderne? Die Neugründung der Benediktinerabtei Beuron 1863 und deren kulturelle Ausstrahlung im 19. und 20. Jahrhundert (Klaus Unterburger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Georg Jäschke: Wegbereiter der deutsch-polnisch-tschechischen Versöhnung? Die katholische Vertriebenenjugend 1946–1990 in der Bundesrepublik Deutschland (Matthias Stickler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Nadine Freund: Teil der Gewalt. Das Regierungspräsidium Kassel und der Nationalsozialismus (Martin Göllnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Editorial In der 38. Ausgabe des Jahrbuchs für Regionalgeschichte ist wie üblich eine stattliche Anzahl Rezensionen versammelt: Insgesamt handelt es sich um 46 ausführliche Buchbesprechungen, wovon elf auf die Rubrik Epochenübergreifend, zwölf auf das Mittelalter und 17 auf die frühe Neuzeit entfallen. Sechs sind zu Publikationen verfasst, die Themen des 19. und 20. Jahrhunderts behandeln. Das Spektrum der besprochenen Werke ist äußerst vielseitig und weist über ein engeres Verständnis von Regionalgeschichte deutlich hinaus. Die Relevanz für das Fach bleibt davon unbenommen. Dem Rezensionsteil voraus gehen diesmal zwei Beiträge. Marcel Korge blickt auf die soziale Sicherung für „arbeitslose“ Gesellen durch obersächsische Handwerkskorporationen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Anhand zahlreicher Quellen kann er das alles andere als einheitliche zünftische Unterstützungswesen in seiner Spätphase erhellen und auf diesem Weg bisherige Fehlurteile über diesen Komplex sozialer Sicherung in der Vormoderne korrigieren, die immer noch in der Forschung vorkommen. Der wesentlich umfangreichere Beitrag von Mark Häberlein hingegen stellt eine regionalhistorisch ausgerichtete Nachlese zum Reformationsjubiläum von 2017 dar, indem der Verfasser darin die Flut an Monographien, Sammelbänden und Ausstellungskatalogen, die zu diesem Anlass erschienen sind, nach ihrem regionalhistorischen Ertrag hin vorstellt. Unter diesem Blickwinkel wurde dies bisher nirgends unternommen. Häberleins Sichtung zeigt, dass in den Regionen oftmals ganz andere Akteure als Martin Luther wichtige Anstöße zum Reformationsgeschehen gegeben, dass spezielle Konstellationen und Bedingungen vor Ort auch spezifische Ausprägungen von Reformation hervorgebracht und dass die eigentlichen Reformationsgeschehnisse hier durchaus auch bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und gar darüber hinaus angedauert haben. Band 38 des Jahrbuchs für Regionalgeschichte erscheint erstmalig unter meiner herausgeberischen Federführung. Für das in meine diesbezüglichen Fähigkeiten gesetzte Vertrauen möchte ich zuvorderst dem Gremium der Jahrbuchherausgeberinnen und -herausgeber danken. Dann gilt mein Dank natürlich und ganz besonders Mark Häberlein und seinem Bamberger Team für die lobenswert problemfreie Amtsübergabe im Jahr 2019. Das „Haus“ war von Bamberg aus derart gut bestellt, dass wir in Kiel nahtlos an diese vorbildliche Redaktionsarbeit anknüpfen konnten. Der Franz Steiner Verlag – namentlich Frau Katharina Stüdemann – trug das Seinige zu diesem erfreulich bruchlosen Übergang bei. Meinem Kieler Redaktionsteam und mir persönlich blieben
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Editorial
so schwerwiegende Startprobleme bei der Arbeitsorganisation gänzlich erspart. Auch das lobenswerte Engagement und Organisationstalent dieses Teams, bestehend aus Karen Bruhn, Felicia Engelhard, Nina Gallion, Knut Kollex, Jan Ocker und Frederieke Schnack, hatte daran natürlich seinen nicht zu vernachlässigenden Anteil, wofür ich an dieser Stelle ebenso ausdrücklich Danke sagen möchte. Im Zuge des Wechsels Nina Gallions nach Mainz und Frederieke Schnacks nach Würzburg rückten im Jahr 2020 Stefan Brenner und Laura Potzuweit in die Redaktion nach. Die reibungslose Stabübergabe und Kontinuität im Arbeitsprozess spiegelt sich rein äußerlich im Erscheinungsbild des Jahrbuchs und seiner Beiträge wider, das mit der letzten Ausgabe, die noch von Bamberg aus besorgt wurde, komplett übereinstimmt. Gleichwohl wird es in absehbarer Zeit auch zeitgemäße Neuerungen geben. So arbeiten wir derzeit gemeinsam mit dem Verlag an einer verstärkten Internetpräsenz des Jahrbuchs, was seinem Bekanntheitsgrad und damit seiner allgemeinen Relevanz im Fach nur zuträglich sein kann. In diesem Sinn freue ich mich mit meinem Kieler Redaktionsteam auf die nächsten spannenden und ertragreichen Jahre mit dem und für das Jahrbuch für Regionalgeschichte. Oliver Auge, Kiel im Frühjahr 2020
Aufsätze
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld Soziale Sicherung für ‚arbeitslose‘ Gesellen durch obersächsische Handwerkskorporationen in der Frühen Neuzeit Marcel Korge Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 15–53
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld [But an idler does not earn viaticum] Social security for ‘unemployed’ journeymen by Upper Saxon craft guilds in the early modern period Kurzfassung: Handwerksgesellen waren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sehr mobil. Sie wanderten nicht zuletzt, um (bessere) Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Um die Gesellenmigration zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern, unterstützten einige der Meisterund Gesellenverbände (Zünfte, Gesellenschaften) die Wandernden durch verschiedene Maßnahmen. Diese Wanderunterstützung kann als eine frühe Form gemeinschaftlich organisierter Arbeitslosenfürsorge verstanden werden. Jedoch kursieren in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zum Teil noch immer recht undifferenzierte Urteile über diesen Bereich sozialer Sicherung. Durch die Verwendung zahlreicher Quellen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird im Folgenden ein Beitrag zur Untersuchung des keineswegs einheitlichen zünftischen Unterstützungswesens in seiner Spätphase geleistet. Schlagworte: Soziale Sicherung – Zunft – Handwerksgeselle – Wanderschaft – Arbeitslosigkeit – Viaticum Abstract: Journeymen were very mobile in the Middle Ages and in the early modern period. Last but not least, they migrated to find (better) employment opportunities. In order to make the migration of journeymen possible or at least to facilitate it, some masters’ and journeymen’s associations supported the wanderers with various measures. This migratory support can be understood as an early form of collectively organized unemployment assistance. However, there are still quite
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Marcel Korge
undifferentiated judgments about this area of social security in scientific historiography. Through the use of numerous sources from the 18th and early 19th centuries, a contribution is made to the study of the by no means uniform guild support system in its late phase. Keywords: Social security – craft guild – journeyman – peregrination – unemployment – viaticum
Einleitung Während der Frühen Neuzeit galt Chemnitz als größter Textilproduktionsstandort im albertinischen Sachsen. Um ihre Interessen besser vertreten zu können, schlossen sich die Gewerbetreibenden dieser Wirtschaftsbranche entsprechend frühzeitig zu verschiedenen Berufskorporationen zusammen. Unter den ältesten und bedeutendsten Handwerksinnungen der Stadt fand sich auch jene der Tuchmacher. Spätestens im 18. Jahrhundert stieg dann die Leineweberei mit der Herstellung von wollenen und halbwollenen Produkten zum mit Abstand mitgliederstärksten Chemnitzer Handwerk auf. Dennoch stellte sich die sozioökonomische Lage vieler Webermeister und -gesellen nicht günstig dar. Hohe Preise für den Rohstoff Baumwolle verteuerten den Arbeitsprozess. Die englische Konkurrenz drückte jedoch die Verkaufspreise der Erzeugnisse und damit die Einkommen ebenso wie jene der günstig produzierenden Landweber. Beides beförderte die Ausbreitung eines Verlagswesens, das die meisten Weber in die finanzielle Abhängigkeit von einigen Kaufleuten führte. Aber nicht allein von dieser Seite drohte den Webern Ungemach. Auch innerzünftig gab es erheblichen sozialen Sprengstoff. Selbst im offiziellen Protokoll der Weberinnung ist für das Jahr 1775 zu lesen, dass die Wohlhabenderen unter den Meistern so sehr wucherten, daß sie, die Armen, in die Länge dabey nicht mehr bestehen könnten, weshalb man die Zahl der erlaubten Arbeitskräfte je Meister stärker als bisher beschränken und den Handel mit Garn verbieten wollte.1 Die Mehrzahl der Leineweber konnte sich und ihre Familien mehr schlecht als recht ernähren. So mancher Inhaber des Meisterrechts verdingte sich notgedrungen als Lohnweber bei einem besser situierten Arbeitskollegen. Es war kein Wunder, dass viele selbst die Gebühren an die eigene Berufsgenossenschaft, die Zunft, nur widerwillig oder überhaupt nicht zahlen wollten. Zumindest sollten aber doch die zuständigen Kassenvorsteher effektiv kontrolliert werden. Im August 1782 kam es wegen der Ausgabenpolitik der Zunftkasse dann zum Eklat. 20 Leinewebermeister sandten protestierend eine lange Liste mit Defecten und Erinnerungen an den Rat der Stadt und beschuldigten den regierenden Obermeister Gottfried Günther, das
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Stadtarchiv Chemnitz (im Folgenden: StadtAC), H 01, Nr. 412, 309.
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
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Handwercks-Vermoegen und die Einkünfte als sein Eigenthum behandelt zu haben.2 Im Rahmen der recht harschen Kritik an Günther und den drei anderen Obermeistern, die darauf hinauslief, diesen Zunftältesten Verschwendung und persönliche Bereicherung anzulasten, monierten die aufgebrachten Weber die Vergabepraxis des sogenannten Zehrgeldes. Das Zehrgeld sollte an Gesellen des Handwerks gereicht werden, wenn sie vor Ort keine Arbeit fanden. In einem weiteren intervenierenden Schreiben heißt es jedoch, dass die Obermeister das Geld der Zunft durch zu hohe Wanderunterstützungen verschleudern würden. Sie hätten damit die Faulen alimentiert, denn es hätte in andern Staedten nicht an Arbeit gefehlet, so die Gesellen erhalte, wann sie nur arbeiten wollen […]. Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld.3 Das erwähnte Zehr-Geld stellte eine von mehreren Maßnahmen sozialer Sicherung dar, welche die vormodernen Handwerkszünfte und Gesellenverbände (Gesellenschaften) erbrachten, um Handwerksgesellen zu unterstützen, die keine Anstellung bei einem Meister oder einer das Handwerk führenden Meisterwitwe erhielten. Diese auf dem Solidaritätsprinzip und damit auf Gegenseitigkeitserwartungen basierenden Leistungen4 können „als erster Ansatz genossenschaftlicher Arbeitslosenfürsorge“5 bewertet werden. Sie sollten die Arbeitsmigration erleichtern sowie die Gesellen vor der Inanspruchnahme der öffentlichen Armenfürsorge und erst recht vor der ehrenrührigen Praxis des Bettelgehens bewahren.6 Undifferenzierte Urteile, wie das des berühmten Nationalökonomen Karl Bücher (1847–1930) spiegeln dabei nicht die historische Realität wider. Bücher schrieb: „Der wandernde Geselle war nirgends fremd und verlassen; er wurde gestützt und gefördert durch die Verbindungen seiner Genossen […]“.7 Die Handwerksgeschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise diese und ähnliche Auslegungen als idealisierend und pauschalisierend widerlegt.8 Dennoch bedarf es weiterer, empirisch gesättigter Untersuchungen
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StadtAC, Ratsarchiv (im Folgenden: RA), IX Za, Nr. 75, Bl. 80b. Ebenda, Nr. 75, Bl. 247b–248. Rainer Schröder: Arbeitslosenfürsorge und Arbeitsvermittlung im Zeitalter der Aufklärung. In: Hans-Peter Benöhr (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 5), Tübingen 1991, 7–76. hier 19. Friedrich Kleeis: Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Berlin 1928 (Nachdruck Berlin/Bonn 1981), 46. Ebenda. Karl Bücher: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1922, 257. – Noch Jahrzehnte später kursiert diese Einschätzung, sodass es fast überschwänglich und beliebig heißt: „So erhielten die Wandergesellen alle möglichen Unterstützungen, nicht nur seitens der Bruderschaft (Zunft), sondern oft auch der Meister und der im Ort beschäftigten Gesellen […].“ Zu diesem Zitat Odilo Haberleitner: Handwerk in Steiermark und Kärnten vom Mittelalter bis 1850. I. Von der Aufdingung bis zur Erlangung der Meisterwürde (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 20), Graz 1962, 67. Siehe beispielsweise Helmut Bräuer: Gesellen im sächsischen Zunfthandwerk des 15. und 16. Jahrhunderts, Weimar 1989, 33 f.; Josef Ehmer: Worlds of mobility: migration patterns of
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Marcel Korge
über die detaillierte Ausgestaltung des Wanderunterstützungssystems im zünftischen Handwerk. Insbesondere ist sich in der Frage nach einem konkreten Unterstützungsanspruch die Forschergemeinde bislang nicht einig. Der folgende Beitrag soll helfen, die Differenziertheit dieses Teilsystems sozialer Sicherung aufzuzeigen und pauschalen Urteilen entgegenzuwirken.9 Ausgehend von einigen knappen Ausführungen zur Arbeitsvermittlung und zum Wanderwesen im alten Handwerk generell werden im Hauptteil die genossenschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen im Hinblick auf die obersächsischen Zunfthandwerke, zum Teil differenziert nach verschiedenen Branchen, vorgestellt. Auch in Bezug auf die weitere Entwicklung dieses Systems sozialer Sicherung bis zur Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert wird der Schwerpunkt der Betrachtung auf den sächsischen Raum gelegt. Die herangezogenen Quellenbelege entstammen den Stadtarchiven in Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau. Bevor es in medias res geht, sei noch auf die nicht unproblematische Verwendung des Begriffs ‚Arbeitslosigkeit‘ hingewiesen. Weder handelt es sich um einen frühneuzeitlichen Quellenbegriff,10 noch kann eine zu enge Definition im Sinne völliger Erwerbslosigkeit angewandt werden. Vielmehr soll an dieser Stelle ein Geselle ganz pragmatisch dann als ‚arbeitslos‘ gelten, wenn ihm eine offizielle Anstellung in einer Zunftwerkstatt fehlte.11 Der Geselle konnte in diesem Fall gegebenenfalls auf eine gewisse Unterstützung durch seine Zunft und/oder Gesellenschaft hoffen. Natürlich konnte es verschiedene Gründe geben, weshalb ein Geselle keine Anstellung erhielt. Neben fehlender persönlicher Eignung, individuellen Vorbehalten oder (zunft-)politischen Vorgaben12 waren in den meisten Fällen ökonomische Gründe ent-
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Viennese artisans in the eighteenth-century. In: Geoffrey Crossick (Hg.): The Artisan and the European Town, 1500–1900 (Historical Urban Studies), Aldershot u. a. 1997, 172–199, hier 188–191 und besonders Reinhold Reith: Arbeitsmigration und Gruppenkultur deutscher Handwerksgesellen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Scripta Mercaturae 23 (1989) 1–2, 1–35. Zum System sozialer Sicherung im Handwerk im Falle weiterer sozialer Notfälle siehe: Marcel Korge: Kollektive Sicherung bei Krankheit und Tod. Fallstudien zum frühneuzeitlichen Zunfthandwerk in städtischen Zentren Sachsens (Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau) (Studien zur Gewerbe- und Handelsgeschichte 33), Stuttgart 2013. Im deutschen Sprachgebrauch taucht der Begriff erst seit den 1890er Jahren auf. Sebastian Conrad, Elísio Macamo, Bénédicte Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit. Individuum, Gesellschaft, Nation. In: Jürgen Kocka, Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M./New York 2000, 449–475, hier 462. Der Autor ist sich bewusst, dass mit dieser Definition die Perspektive der Zunft eingenommen wird und der Geselle durchaus nicht zwangsläufig ohne Erwerbstätigkeit blieb. Ob und welche Auswirkungen es aber haben konnte, wenn ein Geselle einer nicht-regulären Arbeit nachging, kann an dieser Stelle nicht erläutert werden. Die Quellen, welche zur Untersuchung der Wanderunterstützung herangezogen wurden, geben diesbezüglich keinerlei Auskunft. In einigen Handwerken war die Anzahl an Gesellen, die ein Meister beschäftigen durfte, auf ein Maximum beschränkt. Z. B. bei: StadtAC, RA, IX Aa, Nr. 3a, Bl. 81b (Posamentierer 1663), 174b und 179b (Leineweber 1594); Stadtarchiv Dresden (im Folgenden: StadtAD), RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 1, Bl. 157 (Kürschner 1575), 250 (Schneider 1606); Stadtarchiv Leipzig (im Folgenden: StadtAL), Zunftbuch II, Bl. 84 (Leineweber 1613), 178 (Bürstenbinder 1650), 331b (Tischler 1653),
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scheidend. Dabei sind sowohl strukturelle als auch saisonale Arbeitslosigkeit maßgeblich auf ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen.13 Streng genommen besaß bis zur Einführung der Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert jedes Handwerk einen eigenen abgeschlossenen Arbeitsmarkt. Dies lag neben gewerbespezifischen Faktoren vor allem darin begründet, dass sich die Handwerke scharf gegeneinander abgrenzten und gegenüber anderen Gewerben und überhaupt allen Personen, die nicht Teil der eigenen Zunft waren, genau auf die Einhaltung der Grenzen der Produktionsbereiche achteten (gewerblich differenzierte, räumlich geschlossene Gütermärkte nach Zunftzwang- und Bannmeilenprinzip).14 Auf die daraus resultierenden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt reagierten die betroffenen Arbeitskräfte nicht selten mit Migration. Arbeitsvermittlung und Wanderwesen Das Wandern15 von Handwerkern ist so alt wie das Handwerk selbst. Schon im hohen Mittelalter waren insbesondere die Gesellen relativ mobile Menschen. Die Beweggründe ihrer unzähligen Migrationsbewegungen waren zahlreich und reichten von Neugierde, Abenteuerlust und Fernweh über den Wunsch der Vervollkommnung eigener Fähigkeiten, Fertigkeiten und des eigenen Charakters bis hin zu wirtschaftlichen Motiven.16
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346b (Schuhmacher 1661); Stadtarchiv Zwickau (im Folgenden: StadtAZ), X, 33, 3b, Bl. 6b (Riemer 1581). Entgegen dieser weitverbreiteten Ansicht und unter Vernachlässigung der zahlreichen, Arbeit suchenden Fachkräfte wird ein Mangel an Qualifikation für ursächlich gehalten bei Peter Schütt: Die Geschichte der kommunalen und staatlichen Fürsorgeanstalten Sachsens unter den Bedingungen des säkularen sächsischen Verwaltungsstaates, im Prozeß der Entstehung der Moderne, Diss. Dresden 1998, 84–86. Die Strukturen der gewerbespezifischen Arbeitsmärkte schränkten die beruflichen und sozialen Aufstiegschancen für viele Handwerksgesellen stark ein. Klaus J. Bade: Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey. Gesellenwanderung zwischen Zunftökonomie und Gewerbereform. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69 (1982), 1–37, hier 7. Helmut Bräuer definierte „Wanderschaft“ in einer seiner grundlegenden Arbeiten zum sächsischen Handwerk als „mehr oder weniger zielgerichtete Ortsveränderung, unterschiedlich in der zeitlichen Ausdehnung, dabei spezielle soziale Beziehungen aufbauend und nutzend und der Realisierung bestimmter Vorhaben verpflichtet“. Bräuer: Gesellen, 55. Bade: Altes Handwerk, 10; Helmut Bräuer: Gesellenmigration in der Zeit der industriellen Revolution. Meldeunterlagen als Quellen zur Erforschung der Wanderbeziehungen zwischen Chemnitz und dem europäischen Raum, Karl-Marx-Stadt 1982, 24; DERS.: Zur Wanderungsmotivation sächsischer Handwerksgesellen im 15./16. Jahrhundert. Quellenbefund – theoretische Erörterungen – Hypothesen. In: Gerhard Jaritz, Albert Müller (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt a. M./New York 1988, 217–231, hier 219–226; Bräuer: Gesellen, 55, 58 f.; Ehmer: Mobility, 172; Haberleitner: Handwerk, 53 f.; Wilfried Reininghaus: Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 71), Wiesbaden 1981, 47 f.
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Da die Nachfrage nach gewerblichen Produkten und damit der Produktionsumfang und der Arbeitskräftebedarf in den meisten vormodernen Handwerken vor Ort erheblich schwankten, übernahm die Wanderschaft eine Ausgleichsfunktion zwischen Orten mit Arbeitskräfteüberschuss und Arbeitskräftemangel. Sie konnte somit als ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit dienen.17 Wenngleich für die ältesten Zeiten kaum aussagekräftige Quellen vorhanden sind, kann mit gewisser Berechtigung vermutet werden, dass sich, als es noch keine Gesellenschaften und Herbergen gab,18 Gesellen (Arbeitnehmer) und Meister (Arbeitgeber) ursprünglich auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt gegenseitig suchten, in freier Wahl zueinander fanden und mit beiderseitigem Einverständnis ein Vertragsverhältnis eingingen. Dieses Prozedere änderte sich mit dem Aufkommen des Zunftsystems, spätestens aber mit dem Übergang zur Wanderpflicht und der starken Zunahme der Anzahl wandernder Gesellen. Am Ende des 15. Jahrhunderts vollzog sich unter steigendem sozioökonomischem Druck aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums bei zurückbleibender Nachfrage nach gewerblichen Gütern der Übergang vom (mehr oder weniger) freiwilligen Wandern zum obligatorischen, zünftisch veranlassten Wandern (Wanderzwang).19 Die Wanderschaft wurde zu einer wesentlichen Bedingung für die Erlangung des Meisterrechts und zentrales Charakteristikum des Lebens und der Identität der meisten Handwerksgesellen.20 Teilweise wurden die Vorgaben zur Wanderschaft von den
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Weitere zahlreiche, auch außerökonomische Gründe für erzwungene und freiwillige Wanderungen in: Bräuer: Wanderungsmotivation, 219–226; Ders.: Gesellen, 59. Bade: Altes Handwerk, 10, 19; Josef Ehmer: Gesellenmigration und handwerkliche Produktionsweise. Überlegungen zum Beitrag von Helmut Bräuer. In: Gerhard Jaritz, Albert Müller (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt a. M./New York 1988, 232–237, hier 233 f.; Ders.: Mobility, 172; Sigrid Fröhlich: Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich (Sozialpolitische Schriften 38), Berlin 1976, 68; Reinhold Reith: Arbeits- und Lebensweise im städtischen Handwerk. Zur Sozialgeschichte Augsburger Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert (1700– 1806) (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 14), Göttingen 1988, 110; Ders.: Gruppenkultur, 2 f.; Hans Ulrich Thamer: Arbeit und Solidarität. Formen und Entwicklungen der Handwerkermentalität im 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland. In: Ulrich Engelhardt (Hg.): Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 37), Stuttgart 1984, 469–496, hier 493. Die Gesellenherbergen hießen ursprünglich „Trinkstuben“ oder „Uerten“ und wurden erst ab dem 15. Jahrhundert als Herbergen bezeichnet. Georg Schanz: Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände. Mit 55 bisher unveröffentlichten Documenten aus der Zeit des 14.–17. Jahrhunderts, Leipzig 1877, 103. Knut Schulz verortet dagegen die Einführung der Wanderpflicht auf breiter Front erst um 1600. Knut Schulz: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985, 268. Bade: Altes Handwerk, 11; Bräuer: Gesellen, 33, 58; Ehmer: Mobility, 174; Haberleitner: Handwerk, 59, 63; Reith: Gruppenkultur, 1. Die einzelnen Merkmale der Gesellenwanderungen (Reiserouten, zurückgelegte Entfernungen, Reisedauer usw.) wiesen ein hohes Maß an Differen-
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Zünften im Laufe der Frühneuzeit übermäßig ausgedehnt, um den Arbeitsmarkt in ihrem Sinne zu steuern, insbesondere um die Anzahl der Meisterrechtsanwärter und zukünftigen Konkurrenten zu verringern.21 Schließlich wurde die Wanderpflicht sogar territorialstaatlich sanktioniert, so in Sachsen kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges.22 Sie blieb bis zur Aufhebung des Zunftzwangs und der Einführung der Gewerbefreiheit bestehen (in Preußen 1811, 1831 bzw. 1845, in Bayern 1853, in Sachsen 1861).23 Mit dem Wanderzwang nahm die Bedeutung der Arbeitsvermittlung für die fremden, ortsunkundigen Wandergesellen erheblich zu. In Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden Produktionsbedingungen wurde der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt eines zünftig organisierten Gewerbes mehr oder weniger streng reglementiert.24 Je schärfer die normativen Vorgaben durch die Berufsverbände ausfielen, desto stärker war deren Zugriff auf die Zugangskontrolle zum Arbeitsmarkt.25 Das übliche Mittel zur Regelung der Zugangskontrolle war die Etablierung eines korporativ gesteuerten Arbeitsvermittlungssystems, der Umschau.26 Die Verteilung der Arbeit suchenden Gesellen auf die Meister erfolgte nach gewerbespezifischen Mechanismen,27 die auf den
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ziertheit auf. Faktoren, welche die Wanderung beeinflussten, waren ökonomischer, kulturräumlicher, konfessioneller, politischer, innerhandwerklicher sowie branchenspezifischer Art. Bade: Altes Handwerk, 15; Wilfried Reininghaus: Wanderungen von Handwerkern zwischen hohem Mittelalter und Industrialisierung. Ein Versuch zur Analyse der Einflußfaktoren. In: Gerhard Jaritz, Albert Müller (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt a. M./New York 1988, 179–215. Bade: Altes Handwerk, 19 f.; Ehmer: Gesellenmigration, 233 f.; Ders.: Mobility, 172; Reith: Arbeits- und Lebensweise, 110. Im Zusammenhang mit der ökonomisch sinnvollen Ausgleichsfunktion der Gesellenwanderung spricht Ehmer von den Abschließungstendenzen der Zünfte anschaulich als einem „Abstoßen und Anziehen“. Ehmer: Gesellenmigration, 234. Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung Churfürst Joh. Georgens des II. zu Sachsen, den 22. Junii, Anno 1661. In: Johann Christian Lünig (Hg.): Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […], [Bd. I], Leipzig 1724, Sp. 1561–1610, hier Sp. 1586. Darauf weist auch hin: Bräuer: Gesellen, 58. Bettina Hitzer: Freizügigkeit als Reformergebnis und die Entwicklung von Arbeitsmärkten. In: Jochen Oltmer (Hg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin/Boston 2016, 245–289, hier 267. Reith: Gruppenkultur. Reith leitet aus der unterschiedlich starken Regulierung und Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung die jeweilige Ausgestaltung der Wanderunterstützung ab. Bräuer: Gesellen, 32; Haberleitner: Handwerk, 63; Reininghaus: Gesellengilden, 152; Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 53 f. Die Meister kontrollierten weiterhin die Aufnahme von Lehrlingen und die Verleihung des Meisterrechts. Die verschiedenen Zugangsstufen waren im Handwerk von rechtlichen und von Qualifikationsfragen abhängig. Ebenda, 24. Daneben gab es noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Gewerbe, in denen die Meister sich ihre Arbeitskräfte per Selbstwahlverfahren verschaffen konnten. Eine Einschränkung bestand hier in der schon erwähnten Obergrenze für die von einem Meister maximal angestellten Gesellen und in der Vorschrift, Gesellen ausschließlich auf der Herberge um Arbeit anzusprechen. Bräuer: Gesellen, 32. Hierzu die gut strukturierte, berufsspezifische Analyse der Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktkontrolle von: Reith: Gruppenkultur.
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Prinzipien einer innerzünftigen Konkurrenzeingrenzung und einer relativen Chancengleichheit (Nahrungsprinzip) basieren sollten.28 Als mögliche Träger der Arbeitsvermittlung kamen in Sachsen Viermeister (Obermeister), Meister, Herbergsväter, Altgesellen, Örtengesellen29, die ankommenden Gesellen selbst oder allgemein am Ort tätige Gesellen infrage.30 In Verbindung mit der Umschau entwickelten sich verschiedene, symbolisch aufgeladene Schenkrituale, d. h. es wurden dem zugewanderten Gesellen zu verschiedenen Gelegenheiten Getränke (ein-)geschenkt. Vor allem in den ‚geschenkten Handwerken‘, von denen gleich noch die Rede sein wird, waren umfangreiche, kostspielige Schenkzeremonien üblich, welche die soziale Kohäsion der Gesellengruppe stärkten. Idealtypisch wurde der Zugewanderte nach einem ersten, kleinen Willkommenstrunk (‚kleine Schenke‘) am Tag der Ankunft oder dem Folgetag umgeschaut, d. h. es wurde ihm nach festen Regeln eine freie Arbeitsstelle in einer Zunftwerkstatt gesucht. Gegenüber allen an einer Umschau beteiligten Gesellen hatten die jeweilig aufgesuchten Werkstattinhaber eine Bewirtungspflicht (‚große Schenke‘).31 Fortwandernde Gesellen wurden mit einer weiteren ‚Schenke‘, dem ‚Ausschenken‘, verabschiedet. Abgesehen von den entstehenden Bewirtungskosten, dem Arbeitsausfall und weiteren Unannehmlichkeiten stellte die Umschau in Zeiten des Arbeitskräftemangels ein wichtiges, machtvolles Distributionsinstrument für den Arbeitsmarkt auf Seiten der organisierten Arbeitnehmer dar und bildete bereits um 1500 einen heftig umstrittenen Gegenstand in den Sozialbeziehungen zwischen Meistern und Gesellen.32 In zahlrei-
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Bräuer: Gesellen, 32. Ähnliche Regelungen durchzogen das gesamte Zunftwesen und wurden durch eine Konkurrenzeingrenzung nach außen (Monopolisierung von Arbeits- und Produktionsbereich) ergänzt. Dennoch konnten die Zünfte den Anspruch, ihren Mitgliedern „tatsächlich ein weitgehend vergleichbares und standesgemäßes Einkommen zu garantieren“, nicht gewährleisten. Fröhlich: Soziale Sicherung, 52; Katrin Keller: Armut und Tod im alten Handwerk. Formen sozialer Sicherung im sächsischen Zunftwesen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Peter Johanek (Hg.): Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung A 50), Köln/Weimar/Wien 2000, 199–223, hier 209. Örten-, Irten- oder Ürtengesellen wurden in einigen Handwerken jene Gesellen genannt, welche die Umschau bewerkstelligten. Teilweise war dieses Amt mit jenem des Altgesellen identisch. Zum Ursprung des Begriffs siehe Anmerkung 18. Bräuer: Gesellen, 31. Davon abweichend musste in praxi in manchen Gewerben nur jener Meister, bei dem der neu zugewanderte Geselle Arbeit aufnahm, die Umschauenden bewirten. Zum Teil hatten auch die vor Ort in Arbeit stehenden Gesellen oder der für die Umschau zuständige Amtsträger die Kosten ganz oder teilweise zu tragen. Die Formen der eng mit der Gesellenkultur verbundenen Trink- und Feiergewohnheiten sind bereits mehrfach beschrieben worden. Konrad Knebel: Handwerksbräuche früherer Jahrhunderte, insbesondere in Freiberg. In: Mitteilungen vom Freiberger Altertumsverein 23 (1886), 27–90, hier 64, 72–76; Rudolf Wissell: Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 7), Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1971, 338. Bräuer: Gesellen, 31; Paul Kummer: Gewerbe und Zunftverfassung in Zwickau bis zum Jahre 1600, Diss. Leipzig 1921, 89; Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 24. Eine Relativierung der Bedeu-
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chen Auseinandersetzungen, die bis zu kollektiven Arbeitsniederlegungen eskalieren konnten, wurde über punktuelle wie grundsätzliche Fragen der Umschau und des Arbeitsmarktzugangs gestritten.33 Vonseiten der Meister wurden besonders die übertriebenen Schenkpraktiken heftig beklagt,34 sodass die Reichsgesetzgebung im 16. Jahrhundert das Thema aufgriff, das ‚Schenken‘ verbieten und letztlich den Gesellen die Arbeitsvermittlung wieder aus den Händen nehmen wollte.35 Das Vorhaben scheiterte am Widerstand der Gesellen und an der Inkonsequenz der Ortsobrigkeiten und Meister,36
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tung des Instruments der Arbeitsvermittlung findet sich bei Bräuer, der „die formale Handhabung dieses Rechts durch die Gesellen“ betont. Bräuer: Gesellen, 35. Umfassend zu Arbeitsausständen der Handwerksgesellen in der Frühen Neuzeit: Andreas Griessinger: Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981; Reinhold Reith, Andreas Griessinger, Petra Eggers: Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Materialien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des städtischen Handwerks 1700–1806 (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 17), Göttingen 1992. Mit speziellem Bezug zum sächsischen Handwerk Helmut Bräuer: Gesellenstreiks in Sachsen im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 14 (1987), 183– 199; Marcel Korge: Unruhiges Gewerbe? Fehden, Boykotts und Streiks – Die Beteiligung der Leipziger Handwerksgesellen an Konflikten vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. In: Ulrich Brieler, Rainer Eckert (Hg.): Unruhiges Leipzig. Beiträge zu einer Geschichte des Ungehorsams in Leipzig (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 12), Leipzig 2016, 67–100. Hildegard Birch-Hirschfeld: Die holzverarbeitenden Gewerbe in Leipzig von 1500–1800, Diss. Leipzig 1919, 55; Bräuer: Gesellen, 34; Knebel: Handwerksbräuche, 64 f. Siehe unter anderem: Römischer Kayserlicher Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, im Heiligen Römischen Reich, zu Augspurg Anno 1530 auffgericht. In: Teutsche Reichs-Abschiede. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tagen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. In Vier Theilen, Zweyter Theil derer Reichs-Abschiede von dem Jahr 1495 bis auf das Jahr 1551 inclusive, Frankfurt a. M. 1747, Art. XXXIX § 1; Der Römisch-Kayserlichen Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, zu Beförderung des gemeinen Nutzens auff dem Reichs-Tag zu Augspurg, Anno Domini 1548 auffgericht. In: Teutsche Reichs-Abschiede. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tagen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. In Vier Theilen, Zweyter Theil derer Reichs-Abschiede von dem Jahr 1495 bis auf das Jahr 1551 inclusive, Frankfurt a. M. 1747, Art. XXXVII § 2; Abschied der Röm. Kayserl. Majest. und gemeiner Stände, auf dem ReichsTag zu Augspurg Anno 1559 aufgericht. In: Teutsche Reichs-Abschiede. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tagen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. In Vier Theilen, Dritter Theil derer Reichs-Abschiede von dem Jahr 1552 bis 1654 inclusive, Frankfurt a. M. 1747, § 77. Bräuer: Gesellen, 35; Reininghaus: Gesellengilden, 156 f.; Ders.: Die Gesellenvereinigungen am Ende des Alten Reiches. Die Bilanz von dreihundert Jahren Sozialdisziplinierung. In: Ulrich Engelhardt (Hg.): Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 37), Stuttgart 1984, 219–241, hier 222; Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 54. Die Versuche, das Schenkwesen und die Arbeitsvermittlung stärker den Meistern und Zünften zu
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weshalb sich in Abhängigkeit von der Stärke der Gesellenschaften37 deren Vorstellungen mehr oder weniger durchsetzten. Zu Beginn der Frühen Neuzeit war eine Beteiligung der Gesellen an der Arbeitsvermittlung in drei von vier obersächsischen Handwerksordnungen festgeschrieben.38 Allerdings wurde ihnen das Machtinstrument der Arbeitsvermittlung im Laufe der folgenden Jahrhunderte wieder entrissen. Um 1800 erfolgte die Arbeitsmarktkontrolle, sofern überhaupt noch vorhanden, zunehmend unter obrigkeitlichen Vorgaben durch die Zünfte, bis sie schließlich völlig aufgehoben und durch die freie Arbeitsvermittlung ersetzt wurde.39 Ungeachtet dessen entwickelte sich aus der ‚Schenke‘ bzw. der Bewirtungspflicht das ‚Geschenk‘ als kostenfreie Zehrung mit Übernachtungsmöglichkeit. Wurde in den Quellen auf diese Option näher eingegangen, handelte es sich für gewöhnlich um die Möglichkeit, eine Unterkunft für eine einzige Nacht kostenfrei in Anspruch nehmen zu können.40 In der Überlieferung des 16. Jahrhunderts vereinzelt, später deutlich vermehrt, tauchte das ‚Geschenk‘ auch in Form eines Reisegeldes, das als ‚Zehrpfennig‘ oder Viaticum bezeichnet wurde, auf. Somit war im Zunfthandwerk – und dies stellt ein frühneuzeitliches Spezifikum dar – die Arbeitsvermittlung eng mit einer begrenzten sozialen Absicherung der Arbeitsuchenden verbunden.41 Der Vollständigkeit halber muss noch auf eine weitere Bedeutung des Begriffs ‚Schenke‘ hingewiesen werden. Bislang wurde die ‚Schenke‘ als ein Ehrentrunk nach der Ankunft eines Wandergesellen an einem Ort mit Zunftorganisation, als Bewir-
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übertragen und letztlich obrigkeitlich stärker zu regulieren, zogen sich bis in das 18. und 19. Jahrhundert. In manchen Städten gab es nie Gesellenschaften, in anderen waren viele Gesellenschaften frühzeitig in verschiedene Interessengruppen (z. B. sesshafte und mobile, ledige und verheiratete, einheimische und fremde Gesellen) geteilt und damit in ihren Aktionsmöglichkeiten geschwächt. Reininghaus: Gesellenvereinigungen, 222 f. Bräuer: Gesellen, 31. Uta Ludwig: Die soziale Lage und soziale Organisation des Kleingewerbes in Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss. Göttingen 1982, 220; Reith: Gruppenkultur, 33. In den untersuchten Quellen tauchte nur in zwei Fällen eine abweichende Regelung auf. Ein Herbergsvertrag, den die Dresdner Gürtler mit ihrem Herbergsvater schlossen, sah für arbeitslose Gesellen eine kostenfreie Schlafmöglichkeit für bis zu drei Nächte vor. Ein Tuchscherergeselle durfte in Kursachsen in Ausnahmefällen bei des Meisters guten Willen ebenfalls bis zu drei Nächte entgeltfrei nächtigen. StadtAD, 11.2.25, Gürtler-Dep. Nr. 7, unpag. (Gürtler 1772, Kontrakt vom 02.08.1772); StadtAL, Zunftbuch I, Bl. 273b (Tuchscherer und Scherenschleifer 1587); StadtAZ, X, 50, 14, unpag. (Tuchscherer und Scherenschleifer 1541, Artikel 16); StadtAZ, X, 50, 15, unpag. (Tuchscherer und Scherenschleifer 1556, Artikel 17). Siehe hierzu auch den tabellarischen Anhang. Hans-Peter Benöhr: Zur Geschichte der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung. In: DERS. (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 5), Tübingen 1991, 1–5, hier 2. Generell zu ‚Geschenken‘ und Ritualen des ‚Schenkens‘ (14.–16. Jh.): Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 3), Konstanz 2000; Ders.: Liebesgaben. Zu Geschenken, Freiwilligkeit und Abhängigkeit zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 9 (2002) 2, 39–52.
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tungspflicht durch die Meister bei der Arbeitsvermittlung oder als Abschiedstrunk vorgestellt. Knut Schulz beschreibt das typische Verfahren nach einer erfolgreichen Umschau, bei der also der Arbeitssuchende in eine Werkstatt vermittelt werden konnte, wie folgt: Der nächste wesentliche und rechtlich relevante Schritt, der sich daran anschloß, war die unter Beachtung der in der Regel 14 Tage umfassenden Probezeit von den Gesellen mit dem neuen Berufsgenossen gemeinsam veranstaltete Schenke, in der erst einmal in der sogenannten Umfrage festzustellen war, ob gegen den Neuen etwas vorlag. Andererseits hatte der fremde Geselle mitzuteilen, ob anderwärts Meister oder Gesellen geschmäht oder für unredlich erklärt worden wären. Mit der Schenke selbst wurde der Neuankömmling sodann feierlich in den Kreis der Gesellen aufgenommen und auf deren Normen und zur Solidarität verpflichtet. Wollte ein Geselle weiterwandern, so hatte er bei einer Abschiedsschenke die Verpflichtung zu übernehmen, daß er gegebenenfalls Unredlichkeitserklärungen und Verrufungen durch die Gesellen dieser Stadt auf seiner Wanderschaft weitermelden werde.42
Hier wird die ‚Schenke‘ zur Gesellenversammlung, bei der – fast könnte man meinen nebenbei – Getränke (meist in Form von Bier) ausgeschenkt wurden. Umgekehrt konnte damit letztlich jede Gesellenversammlung eine ‚Schenke‘ bilden, da in der Regel auch immer Umfrage gehalten wurde. Es ist einleuchtend, dass für die Quelleninterpretation die Mehrfachbedeutung der ‚Schenke‘ bzw. des ‚Schenkens‘ durchaus problematisch ist. Im Rahmen der Umschau, aber auch nach der Arbeitsaufnahme, erfolgten ein oder mehrere Legitimationsprüfungen des Zugewanderten. Einerseits hielt die Gesellenschaft – wie Schulz darlegte – auf ihren Versammlungen regelmäßig Umfragen ab. Andererseits entwickelten die Gesellen zur Legitimationsprüfung bereits für die erste Begrüßung verbindliche Erkennungsrituale. Der Geselle wurde als Mitglied der Gesellengemeinschaft über eigentümliche Formen, Formeln und Praktiken als solcher identifiziert.43 Am bekanntesten ist der sogenannte Handwerksgruß. In einem ritualisierten Gespräch holte die Gesellenschaft über einen Fragenkatalog verschiedene Informationen vom Zugewanderten ein und überprüfte damit seine Legitimation, insbesondere seine Qualifikation und Ehrbarkeit. Gefragt wurde beispielsweise nach bisherigen Lehr- und Arbeitsverhältnissen, nach Wahrzeichen oder besonderen Erscheinungen in den vom Wandergesellen angegebenen Ortschaften und nach handwerklichen Erfahrungen.44 42 43 44
Schulz: Handwerksgesellen, 131 f. Reininghaus: Gesellengilden, 157; Reith: Gruppenkultur, 29–31. Haberleitner: Handwerk, 125 f.; Knebel: Handwerksbräuche, 71; Kurt Wesoly: Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert (Studien zur Frankfurter Geschichte 18), Frankfurt a. M. 1985, 384. Zu den ‚Wahr-
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Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts überbrachten die Wandergesellen in norddeutschen Städten auch Meister- und Handwerkszeichen, mündliche Botschaften und schriftliche Nachrichten (Kundschaften) des letzten Arbeitgebers oder der zuletzt aufgesuchten Handwerksorganisation. Für Sachsen ist dies seit dem 16. Jahrhundert belegt.45 Auf diese Weise legitimierte sich die Person als gruppenzugehörig und belegte ihr bisheriges Wohlverhalten innerhalb des Handwerks. Fehlten die Nachweise, konnte dies zu Strafzahlungen oder zur verweigerten Aufnahme in die Handwerkskorporation führen. Beispielsweise musste der Corduanmachergeselle Christoff Gerhardt im Jahre 1657, da er zu Lübek ohne geschenck vnd gruß davon gezogen, zwölf Taler und weitere entstandene Unkosten an die Leipziger Innung bezahlen.46 Die Perückenmacher zu Leipzig legten in ihrer Handwerksordnung fest, dass ein neu eingestellter Geselle als Nachweis der ehrlichen Lehrzeit innerhalb von sechs Wochen seine Kundtschafft beybringen müsse, wiedrigens aber der Diener – also der Geselle – nicht ferner zu fördern ist, es sei denn, er könne es anderweitig glaubhaft belegen.47 Am Ende des 17. Jahrhunderts forderten immer mehr Handwerke schriftliche Reisedokumente ein, da sich viele der älteren Formen der Legitimationskontrolle als unzureichend erwiesen hatten.48 1731 wurde die Kundschaftspflicht für Wandergesellen reichsweit eingeführt, der Wortlaut der fortan gedruckten Papiere standardisiert.49 Nur mit einer formgerecht ausgefüllten Kundschaft sollten zünftige Wandergesellen in einer anderen Werkstatt wieder eine Anstellung finden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lösten Wanderbücher die Kundschaften ab.50 Als Teil eines überregionalen Kommunikationsnetzes dienten die Umfragen und die verschiedenen Legitimationsdokumente und -objekte der Überprüfung der Gruppenzugehörigkeit des Gesellen. Hierüber wurde erstens der Zugang zum Arbeitsmarkt des einzelnen Handwerks (über die Probezeit hinaus) über die Einforderung bestimmter Verhaltensregeln und die Abweisung aller Außenseiter reguliert. Zweitens konnten Gesellen, die ihre Zugehörigkeit zum betreffenden Gewerbe glaubhaft belegt
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zeichen‘ einiger Städte im Detail: Heinrich Gerlach: Die deutschen Städtewahrzeichen und die Wahrzeichen der Stadt Freiberg insbesondere. In: Mittheilungen des Freiberger Alterthumsvereins 3 (1864), 223–240. Bräuer: Gesellen, 38; Georg Jahn: Zur Gewerbepolitik der deutschen Landesfürsten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss. Leipzig 1909, 51. StadtAL, Handwerksinnungen, Corduanmacher B 1, Bl. 86. Zu einem weiteren Beispiel aus diesem Handwerk: Ebenda, Bl. 139b. StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 302 (Perückenmacher 1694). Bräuer: Gesellenmigration, 11; Knebel: Handwerksbräuche, 76 f. Universitätsbibliothek Leipzig (im Folgenden: UBL), Allgemeine zu Abstellung Der Handwercker-Mißbräuchen ergangen- und von Sr. Kayserl. Majest. Ratificirte Reichs-Verordnung, Wien 1731, § 2 (Signatur: Dtsch.Priv.-R 33h). In Sachsen durch: Mandat, die Abstellung verschiedener Innungsgebrechen betreffend, de dato Dresden, den 7. Decbr. 1810. In: Georg Eduard Herold: Die Rechte der Handwerker und ihrer Innungen, 2. Aufl., Leipzig 1841, 111–121.
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hatten, nach einer erfolglosen Umschau auf eine gewisse Wander- bzw. Arbeitslosenunterstützung hoffen. Unterstützungsmaßnahmen Mit der Verbreitung des Wanderzwangs aufgrund des Erfordernisses flexiblerer Arbeitsverhältnisse und Arbeitsmärkte wurde die Notwendigkeit zur Schaffung eines kollektiven Versorgungssystems für die nun zahlreicher einwandernden, fremden, ortsunkundigen Handwerksgesellen akut.51 Viele Wandergesellen konnten keine eigenen Ersparnisse ansammeln, weshalb sie auf die Versorgung durch Dritte angewiesen waren. Grundsätzlich setzte sich im Laufe des ausgehenden Mittelalters und in der Frühen Neuzeit die Regelung durch, dass bei fehlender Arbeitsmöglichkeit und nachgewiesener Mitgliedschaft in einer Korporation des jeweiligen Gewerbes – ob vor Ort oder andernorts – die ortsansässigen Meister und/oder Gesellen neben der Arbeitsvermittlung zu einer bestimmten temporären Unterhaltspflicht angehalten waren.52 Dabei fielen die konkrete Form und das Ausmaß der Unterstützung unterschiedlich aus, wie an einigen Chemnitzer, Dresdner, Leipziger und Zwickauer Zunfthandwerken gezeigt werden soll. Zahlreiche weitere Beispiele, die sich bei der Recherche fanden, werden der Vollständigkeit und Übersicht halber in einem tabellarischen Anhang zur Verfügung gestellt. Im Mittelalter kehrte ein Handwerksgeselle, der in eine Stadt einwanderte und hier über keinerlei familiäres oder freundschaftliches Netzwerk verfügte, bei einem Meister seines Gewerbes ein. Bei dem Meister erhielt er eine erste Verpflegung und, wenn er Arbeit suchte und seine Arbeitsvermittlung erfolglos blieb, ein Dach über dem Kopf. Bisweilen trug das Handwerk die Beherbergungsaufgabe einem einzelnen Meister für einen gewissen Zeitraum auf, wobei die Herbergsfunktion dann oft nach einer festgelegten Reihenfolge wechselte.
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Bade: Altes Handwerk, 15; Konstantin Eberwein: Die Leipziger Bäckerzunft von ihren Anfängen bis zum Jahre 1861. Ein Beitrag zur Innungsgeschichte der Stadt Leipzig, Diss. Leipzig 1924, 39; Josef Ehmer, Peter Gutschner: Probleme und Deutungsmuster der „Arbeitsgesellschaft“ in der Gegenwart und in der Frühen Neuzeit. In: Gerhard Ammerer, Christian Rohr, Alfred Stefan Weiss (Hg.): Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, Wien/München 2001, 305–320, hier 319; Fröhlich: Soziale Sicherung, 68; Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 55. Entsprechend bewirkte ein Wandersystem in abgeschwächter Form wie in den Niederlanden, dass ein vergleichbares Unterstützungssystem nicht notwendig war und daher unterblieb. Sandra Bos, Piet Lourens, Jan Lucassen: Die Zünfte in der niederländischen Republik. In: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 151), Göttingen 2002, 127–153, hier 141 f. Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 55.
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Aufgrund der wachsenden Zahl arbeitsloser Gesellen schufen ab der Mitte des 15. Jahrhunderts einige, meist größere Handwerkszünfte Herbergen für die Zuwandernden. Entweder wurden die Herbergsgebäude von den Meistern zur Verfügung gestellt oder die Herbergsfunktion konnte auf städtische Wirtshäuser übertragen werden. Die Wirte übten dann gegen ein Entgelt die Funktion des Herbergsvaters aus, der häufig zugleich die Umschau übernahm. In einigen Handwerken richteten wiederum die Gesellenschaften, sobald sie die Arbeitsvermittlung übernommen hatten, Herbergen ein oder beauftragten Gastwirte mit der ersten Verköstigung und Unterbringung der einreisenden Gesellen. Den Anreisenden sollte ein Abendbrot, ein Nachtlager und gegebenenfalls ein Frühstück gereicht werden.53 Man nannte diese Form der bald selbstverständlichen zeitweiligen Versorgung auch ‚Geschenk‘. Im Übrigen finden sich schon im 15. und 16. Jahrhundert in einigen Handwerksordnungen Forderungen, wonach die Einkehr der zuwandernden Gesellen auf den ausgewiesenen Unterkünften (z. B. Herbergen, Wirtshäusern, bestimmten Meisterhäusern) und sonst in keinem Haus stattzufinden habe, um die Gesellen besser sozial kontrollieren und vom Bettelgehen und von anderen ehrenrührigen Betätigungen abhalten zu können.54 Der Aufenthalt in den als Herbergen ausgewiesenen Häusern sollte bei erfolgloser Arbeitssuche auf einen kurzen Zeitraum begrenzt werden. Letztlich wurden bei einigem Widerstand seitens der Zünfte von den städtischen Obrigkeiten drei Tage, in Ausnahmefällen auch bis zu 14 Tage, bewilligt.55 Danach sollten die Arbeitslosen die Stadt verlassen, notfalls hatte der Herbergsvater, dessen Vertreter oder ein Mitglied des Handwerks sie zum nächsten Stadttor oder bis vor die Vorstadt zu begleiten. Eine Einschränkung erfuhr die übliche Herbergs- und Beköstigungsaufgabe, indem in einigen Handwerken klar formuliert wurde, dass die zu unterstützenden Gesellen in tatsächlicher Arbeitsabsicht eingewandert sein mussten. Andernfalls (z. B. bei bloßer Durchreise oder Arbeitsverweigerung) sollten sie auf eigene Rechnung in
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Bräuer: Gesellen, 33 f., 60; Haberleitner: Handwerk, 63; Reininghaus: Gesellengilden, 160 f. Neben der Versorgung der fremden Gesellen hatten die Herbergen viele weitere Funktionen. Nicht selten dienten sie zugleich als allgemeine Zunfthäuser. Seit dem 19. Jahrhundert ersetzten Gesellenheime und ähnliche Einrichtungen zunehmend die alten Gesellenherbergen. Haberleitner: Handwerk, 69. Z. B.: StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 1 (1552–1658), Bl. 53 (Zimmerleute 1579) und Nr. 274b, Bl. 169b (Leineweber 1551); StadtAL, Zunftbuch I, Bl. 90–90b (Schuster 1497); StadtAZ, X, 33, 3b, Bl. 10, 11 (Riemer 1581); StadtAZ, X, 41, 26, Bl. 1b (Schuhmacher 16. Jh.); StadtAZ, X, 50, 14, unpag. [Artikel 16] (Tuchscherer und Scherenschleifer 1541); Karl Friedrich von Posern-Klett (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Leipzig, Bd. 1 (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae II/8), Leipzig 1868, 324 (Schuhmacher 1465). Zahlreiche Belege finden sich für Dresden und Leipzig: StadtAD, 11.2.2, Nr. 103; StadtAD, RA, B. XII, Nr. 31, Bl. 102–102b; StadtAD, RA, C. XVII, Nr. 38, Bl. 12; StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 112, Bl. 3–8b; StadtAL, II. Sektion A Nr. 325, Bl. 7; HELMUT BRÄUER: Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, 142.
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der Herberge unterkommen und speisen.56 Einige Korporationen legten einen Betrag fest, bis zu dem die Kosten für die Verpflegung auf der Herberge von ihnen übernommen wurden. Andere zahlten diesen Höchstbetrag bald den Gesellen aus, sodass sich besonders im 17. und 18. Jahrhundert daraus der in klingender Münze ausgereichte ‚Zehrpfennig‘ (auch ‚Wegpfennig‘, ‚Reisepfennig‘ oder Viaticum genannt) entwickelte und die ursprüngliche Bedeutung des ‚Geschenks‘ in den Hintergrund drängte.57 Anfangs richtete sich wohl die Höhe dieser direkten finanziellen Unterstützung nach der Entfernung zur nächstgelegenen Stadt, zu der ein Geselle in der Hoffnung auf Arbeit oder Unterstützung wandern konnte.58 In Anbetracht der geringen Unterstützungshöhe wird dieses Viaticum von Helmut Bräuer als „eine dürftige Überbrückungslösung“ auf der Wanderung zum nächsten Ort, an dem das jeweilige Handwerk vertreten war, charakterisiert.59 Allerdings differierten die Unterstützungsmaßnahmen in ihrem Ausmaß nicht unwesentlich. Auf die Klage über den Mangel an Informationen zum Thema Wanderunterstützung ließ Reinhold Reith einen instruktiven Aufsatz zum Thema folgen, der auf der Auswertung von Augsburger und Braunschweiger Archivalien basiert. Darin gliedert Reith das Handwerk in fünf Gewerbegruppen, die er bezüglich der Kriterien der Gesellenmigration, der Arbeitsvermittlung und der Wanderunterstützung getrennt untersucht.60 Diese berufs- bzw. branchenspezifische Vorgehensweise wird im Folgenden für den Bereich der Wanderunterstützung auf die obersächsischen Zunfthandwerke übertragen. Es muss einschränkend angemerkt werden, dass viele der einschlägigen Quellenbelege zu den betreffenden Korporationen recht vage oder mehrdeutig formuliert sind, weshalb der zeitliche Fokus vor allem auf dem quellenreicheren späten 17. und 18. Jahrhundert liegt (vgl. dazu jeweils auch den tabellarischen Anhang). In Massenhandwerken (z. B. bei Schneidern, Schuhmachern oder Tischlern), die für den örtlichen Markt produzierten, herrschte oft ein Arbeitskräfteüberschuss. Wie andernorts besaßen in Sachsen die zugehörigen Gesellenverbände dieser ‚ungeschenkten‘ Handwerke zwar viele Mitglieder, doch standen sie wie die entsprechenden Zünfte finanziell auf sehr schwachen Beinen, sodass sie sich oft kaum soziale Ausgaben leisten konnten. Besonders dramatisch gestalteten sich die Zustände in den betreffenden Handwerken in den Städten Leipzig und Dresden. Immerhin wurden hier Herbergen für die zuwandernden Gesellen eingerichtet. In ihnen mussten die Wandergesellen al-
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StadtAD, 11.2.46, Nr. 75 g, [7] (Posamentierer 1618); StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 119–119b (Rotgießer 1671); Bräuer: Gesellen, 33 (Lohgerber in Freiberg 1555). Reith: Gruppenkultur, 2. Oder es blieb bei der alten Bezeichnung ‚Geschenk‘, obwohl dieses nun in Form von Bargeld gereicht wurde. Fröhlich: Soziale Sicherung, 67. Bräuer: Gesellen, 33. Reith: Gruppenkultur.
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lerdings um ihr eigenes Geld zehren und das Nachtlager zahlen.61 Bei den Schneidern und Schuhmachern wurde kein ‚Geschenk‘ gegeben. Vielmehr setzten sich die Vertreter dieser Handwerke schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür ein, dass ihre bedürftigen Gesellen bei den städtischen Armenkassen um einen Zehrpfennig ansuchen durften, da sowohl die Innungen durch einen Jahresbeitrag als auch die Meister durch ihre Steuern und Abgaben die städtischen Institutionen finanziell mittrugen.62 Von obrigkeitlicher Seite aus wurden die Handwerkskorporationen in der Folgezeit aber eher noch stärker zur Finanzierung des öffentlichen Armenwesens herangezogen, wobei man nicht vergaß, zugleich an die handwerksinterne Solidarität zu appellieren. Ein besonderes Privileg besaßen anscheinend die Tischlergesellen in Leipzig und Dresden. In beiden Städten gestand man ihnen bei erfolgloser Arbeitsvermittlung ein Recht auf eine 14-tägige Anstellung in einer Werkstatt zu. So sollten sie sich ihren Lebensunterhalt und ihr für eine weitere Wanderschaft benötigtes Reisegeld selbst verdienen. Und eventuell bot sich ihnen während dieser zwei Wochen doch noch eine andere Arbeitsgelegenheit.63 In den Bauhandwerken, in denen es zahlreiche verheiratete, sesshafte Gesellen gab, zerfiel die Gesellenschaft schon frühzeitig in mehrere Personengruppen mit verschiedenen Interessen. So unterblieb hier eine Arbeitslosen- bzw. Wanderunterstützung größeren Stils. Die entsprechenden Statuten der Maurer und Zimmerer gehen kaum auf dieses Thema ein. Zumindest Gesellenherbergen für die arbeitslosen Wandergesellen werden erwähnt. Die Handwerksordnung der Dresdner Zimmerer weist explizit darauf hin, dass für einen fremden Gesellen Tagk und Nacht eine Herberge vorhanden sein soll, in die er einkehren könne. Wenn der Geselle jedoch innerhalb einer gewissen Zeit keine Arbeit erhält, soll man ihn lenger zur Herberg nicht schuldigk sein64. Am häufigsten wurde in der Branche eine Unterstützung ‚aus freiem Willen‘, d. h. ein Almosen, gewährt. Am Ende des 18. Jahrhunderts zeichneten sich einige Veränderungen im Fürsorgewesen ab. Nachdem die landesherrliche Ebene mehrfach und zuletzt in den 61
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StadtAD, 11.2.64, Tischler-Dep. Nr. 2, unpag. (Artikel der Tischlergesellen von 1681 und vom 25.07.1694) und Tischler-Dep. Nr. 15, unpag. (Tischler 1803, Nr. 33); StadtAD, RA, C. VI, Nr. 30, Bl. 20b (Schuhmacher 1737); StadtAL, Handwerksinnungen, Tischler C 6 (Tischler 1810) und C 10, Bl. 1b (Tischler 1810); StadtAL, Tit. VIII Nr. 334, 1745, Teil 1, Paket 1, Bl. 82b (Schneider 1745). StadtAD, RA, C. VI, Nr. 30, Bl. 45b, 47b–48b (Schuhmacher 1737). StadtAD, 11.2.64, Tischler-Dep. Nr. 14, unpag. (Tischler 1687, Nr. 5); StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 2, Bl. 267b–268 (Tischler 1686/87); StadtAL, Zunftbuch I, Bl. 108 (Tischler 1534), 217b (Tischler 1558). Weitere ähnliche Beispiele: Bräuer: Gesellen, 33; Fröhlich: Soziale Sicherung, 65. Ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung dürfte die „gegenseitige Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme“ von Meister und Geselle geblieben sein. Bei Haberleitner heißt es dazu mit Belegen der Schneider von Rottenmann (ca. 1590) und der Uhrmacher von Graz (1712): „Hatte sich aber ein Meister in der Herberge um einen Gesellen beworben, diesen dann aus irgendwelchen Gründen jedoch nicht in Arbeit genommen, mußte er dem Abgewiesenen einen Wochenlohn bezahlen.“ Haberleitner: Handwerk, 65. StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 1, Bl. 53 (Zimmerer 1579). Vgl. StadtAC, RA, IX Aa, Nr. 3a, Bl. 92 (Zimmerer 1653); StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 1, Bl. 61b–62 (Zimmerer 1612).
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kursächsischen Generalinnungsartikeln von 1780 ein Zehrgeld gefordert hatte,65 wurde zumindest von einem Teil der kursächsischen Bauhandwerke nachweislich ein solches in geringer Höhe durch die Gesellenschaft finanziert.66 In Leipzig wurde den arbeitslosen Gesellen der Maurer und einiger anderer Gewerbe seit dem Jahr 1803 ein Almosen aus der städtischen Armenanstalt gewährt, wohin die Handwerkskassen einen Jahresbeitrag abführen mussten.67 Nahrungsmittelgewerbe wie jene der Bäcker und Fleischer sahen durchaus geringe Unterstützungsleistungen, insbesondere die kostenfreie Verpflegung und Unterbringung für eine Nacht, vor. Ende des 17. Jahrhunderts zahlte die Chemnitzer Fleischerlade den erfolglos umgeschauten Gesellen dann einen oder zwei Groschen ‚Geschenk‘.68 Ihre Berufskollegen in Leipzig wurden zu dieser Zeit mit einem Nachtlager auf der Herberge und zwei Mahlzeiten unterstützt.69 Spätestens mit der Einrichtung der jüngeren Gesellenverpflegungskassen Anfang des 19. Jahrhunderts reichten die meisten Innungen ihren Gesellen bei fehlender Anstellung ein ‚Geschenk‘ in Geldform.70 So erhielten die nach Dresden zuwandernden Bäckergesellen einen nicht unbeträchtlichen Zehrpfennig in Höhe von sechs Groschen.71 Aus dem Anhang geht schließlich hervor, dass die Wanderunterstützung bei den ‚geschenkten‘ Handwerken am stärksten ausgebaut und institutionalisiert war. Da die Wanderunterstützung gegebenenfalls ein konstitutives Element dieser Gruppe von Handwerken, zu denen z. B. die Buchbinder, Glaser, Posamentierer, Seiler und Wagner zählten, bildete, folgen einige erläuternde Ausführungen. Eine allgemein akzeptierte Definition, welche die ‚geschenkten‘ Handwerke überzeugend von den ‚ungeschenkten‘ Handwerken abgrenzt, existiert bislang nicht. Als 65
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StadtAD, 11.2.56, Schuhmacher-Dep. Nr. 16, unpag. (Abschrift des Entwurfs allgemeiner Handwerksartikel vom 07.01.1767); StadtAD, 11.2.69, Wagner-Dep. Nr. 8, unpag. (Abschrift eines Schreibens vom 03.04.1772); Mandat die General-Innungs-Articul für Künstler, Profeßionisten und Handwerker hiesiger Lande betreffend, ergangen sub Dato Dresden, den 8. Januar 1780. In: Georg Eduard Herold: Die Rechte der Handwerker und ihrer Innungen, 2. Aufl., Leipzig 1841, 94. StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 110, Bl. 39b (Zimmerer 1804). Im Entwurf neuer Gesellenartikel von 1766 durch die Zwickauer Zimmerer soll ein Zehr Pfennig gezahlt werden, wen ein Armer Nothleudenter oder sonst ein schaden hafter Zimmers Geselle ein wandert. Die Grenzen zur almosenähnlichen Unterstützung Arbeitsunfähiger sind hier fließend. StadtAZ, X, 54, 9, Bl. 4b. StadtAL, II. Sektion A Nr. 325, Bl. 2, 4, 9b. Curt Wilhelm Zöllner: Das Handwerk der Fleischhauer zu Chemnitz. In: Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz auf das Jahr 1883, Chemnitz 1883, 217–239, hier 226. StadtAL, Handwerksinnungen, Fleischer A 2 (Fleischer 1696); StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 355 (Fleischer 1715); Hermann Kind: Die Fleischerei in Leipzig. In: Karl Bücher (Hg.): Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie. Sechster Band. Königreich Sachsen (Schriften des Vereins für Socialpolitik 67), Leipzig 1897, 1–178, hier 7. StadtAC, RA, IX Aa, Nr. 9, Bl. 10b (Bäcker 1804); Eberwein: Bäckerzunft, 42; Kind: Fleischerei, 8. StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 110, Bl. 145b (Bäcker 1804).
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Alleinstellungsmerkmale der ‚geschenkten‘ Handwerke werden in der Forschungsliteratur jeweils gesehen: die Wanderpflicht72, die Darreichung des ‚Geschenks‘ als Trank73 bzw. zur Zehrung74, die Darreichung der Wanderunterstützung (vor allem in Geldform) an sich,75 die Kostenfreiheit der Wanderunterstützung76 sowie das Recht auf die ‚Schenke‘ und damit die Arbeitsvermittlung in Gesellenhand.77 Eine hilfreiche, wenngleich nicht gänzlich einleuchtende Differenzierung nimmt Sigrid Fröhlich vor. Nach ihrer Einschätzung hätten vermutlich in ältester Zeit nur die ‚geschenkten‘ Handwerke feste Regeln für das förmliche ‚Ein- und Ausschenken‘ besessen, während sie später eine Wanderunterstützung gaben. Allerdings trifft dies zeitversetzt auch auf ‚ungeschenkte‘ Handwerke zu.78 Das wohl überzeugendste Charakteristikum könnte der gewohnheitsrechtliche Anspruch der Gesellen ‚geschenkter‘ Handwerke auf die Unterstützung bieten, doch fehlt es bislang an ausreichend Belegen. Die Abgrenzung der Wanderunterstützung mit (gewohnheits-)rechtlichem Anspruch vom Almosen aus gutem Willen findet sich mehrfach in der Forschungsliteratur.79 Auch Friedrich Kleeis betont, dass es sich beim ‚Geschenk‘ nicht um ein Almosen, sondern um eine Unterstützung, auf die ein Anspruch bestand, handelte. Deshalb hätten alle wandernden Gesellen das ‚Geschenk‘ erhalten.80 Die Existenz eines Rechtsanspruchs auf den Zehrpfennig ist jedoch nicht unumstritten.81 Im Laufe des Untersuchungszeitraums verschwamm die Grenze zwischen Almosen und ‚Geschenk‘. Mit der Reichshandwerksordnung sollte der Unterschied zwischen ‚geschenkten‘ und ‚ungeschenkten‘ Handwerken aufgehoben werden. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts besaßen in Sach72 73
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Ernst Mummenhoff: Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit (Die deutschen Stände in Einzeldarstellungen 8), 2. Aufl., Jena 1924, 81. Friedrich Friese: Ceremoniel Der Schmiede, in welchem nicht allein dasjenige, was bey dem Auffdingen, Loßsprechen und Meister werden nach denen Articuls-Briefen unterschiedener Oerter von langer Zeit her in ihren Innungen und Zünfften observiret worden […], [Leipzig 1705], 28 f. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oeconomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden. Erster Theil, Leipzig 1755, 252. Birch-Hirschfeld: Holzverarbeitende Gewerbe, 66; Emil Herzog: Chronik der Kreisstadt Zwickau. Mit lithographirten Ansichten und Plänen. Erster Theil. Topographie und Statistik, Zwickau 1839, 237; Ders.: Zwickau’s Gewerbswesen im Mittelalter. In: Zwickauer Wochenblatt 48 (1850) 141, 1009 f.; Jahn: Gewerbepolitik, 45 f.; Elard Johannes Kulenkamp: Das Recht der Handwerker und Zünfte, Marburg 1807, 53, 281. Peter Albrecht: Die Förderung des Landesausbaues im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Spiegel der Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts (1671–1806) (Braunschweiger Werkstücke A16), Braunschweig 1980, 275. Schulz: Handwerksgesellen, 130 f. Fröhlich: Soziale Sicherung, 70 f. Haberleitner: Handwerk, 57; Kummer: Gewerbe und Zunftverfassung, 90; Mummenhoff: Handwerker, 66; Friedrich Wilhelm Ponfick: Geschichte der Sozialversicherung im Zeitalter der Aufklärung, Dresden 1940, 42; Wissell: Recht und Gewohnheit, 329. Kleeis: Soziale Versicherung, 46. Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 55.
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sen nach landesherrlicher Gesetzgebung prinzipiell alle arbeitslosen Gesellen eines zünftisch organisierten Handwerks ein Anrecht auf einen Zehrpfennig. ‚Geschenkte‘ Handwerke besaßen meist nur relativ wenige Mitglieder und waren nicht in jeder Stadt zu finden. Bald nach ihrem zünftischen Zusammenschluss wurden im Rahmen der Arbeitsvermittlung die beschriebenen Schenkrituale etabliert. Namensgebend war für die ‚geschenkten‘ Handwerke neben der ‚Schenke‘ als ‚freundlichem Trunk‘ auch das zusätzlich (in Sachsen spätestens ab der Mitte des 16. Jahrhunderts) gewährte ‚Geschenk‘. Hieß es bei den Zwickauer Böttchern zuerst noch, dass es den Meistern freistand, einem einwandernden Gesellen Maltzeitt vnd Herbrige zu geben oder ihn an die kostenpflichtige Herberge zu weisen,82 setzte sich bei allen ‚geschenkten‘ Handwerken das kostenfreie ‚Geschenk‘ als materielle Unterstützung (d. h. freies Nachtlager und Kost) und später als Reisegeld in unterschiedlicher Höhe durch. Üblich war im Untersuchungszeitraum die Finanzierung der ‚Gesellenschenke‘ durch die in Arbeit stehenden Gesellen, während die Kosten für die Unterkunft und Verpflegung des Arbeitslosen häufig die Meister trugen.83 Dabei wechselten sich die Meister oft nach einer festen Reihenfolge wie dem Alter des ihnen verliehenen Meisterrechts ab. In Leipzig durften Glaser- und Seilermeister arbeitslose Gesellen für kurze Zeit auch über die maximal erlaubte Gesellenanzahl hinaus beschäftigen, damit sich jene ihre Zehr- und Reisegelder verdienen konnten.84 Insgesamt fielen die Unterstützungsleistungen der ‚geschenkten‘ Handwerke vergleichsweise hoch aus. Sie betrugen nach den Angaben von Reinhold Reith bis zu einem halben oder sogar ganzen Wochenlohn.85 In Sachsen fanden sich die höchsten Unterstützungssätze ebenfalls bei ‚geschenkten‘ Handwerken: In den Jahren um 1700 fiel bei den Corduanmachern in Leipzig der Beitrag von sechs Groschen zur ‚Gesellenschenke‘ (neben dem Nachtlager) relativ hoch aus.86 Dies entsprach in etwa dem Wochenlohn eines Schneider- oder Strumpfwirkergesellen.87 Etwa 100 Jahre später konnten die Gesellen der Feueressenkehrer in Dresden mit 16 Groschen, einem Nachtlager und einem Trunk rechnen.88 Zum Vergleich: Ein Schneidergeselle, der damals bei einem Meister in Arbeit stand
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StadtAZ, X, 6, 1, Bl. 2 (Böttcher zwischen 1517 und 1520). Einige Belege für diese typischen Unterstützungsregelungen ‚geschenkter‘ Handwerke in: StadtAC, IX Aa, Nr. 3a, Bl. 47 (Bader und Wundärzte 1695), 61 (Nadler 1660), 76b–77 (Hutmacher 1661), 129 (Glaser 1675), 225b (Buchbinder 1673), 290–293 (Riemer 1668); StadtAD, 11.1.4, Nr. 6 (Barettmacher 1567); StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 119–119b (Rotgießer 1671), XX–XXI (Wagner und Stellmacher 1555); StadtAZ, X, 45, 20, unpag. (Barettmacher und Strumpfstricker 1723). StadtAL, Handwerksinnungen, Seiler A 6, Bl. 6 (Seiler 1710); StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 36 (Glaser 1568). Reith: Gruppenkultur, 24. StadtAL, Handwerksinnungen, Corduanmacher B 1, Bl. 97b (Corduanmacher 1669), 137b (Corduanmacher 1712). StadtAL, Handwerksinnungen, Schneider B 2, Bl. 54b (Schneider 1712); StadtAL, Zunftbuch III, Bl. 377–377b (Strumpfstricker 1723). StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 110, Bl. 177–177b (Feueressenkehrer 1804).
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und Obdach und Kost erhielt, wurde darüber hinaus mit einem kargen Wochenlohn von acht Groschen abgespeist.89 In den Handwerken der Textilherstellung ergab sich ein differenziertes Bild. Das in und um Chemnitz stark verbreitete Handwerk der Leineweber, auf welches am Anfang des Beitrags eingegangen wurde, orientierte sich trotz aller Schwierigkeiten bei der Erbringung der Leistungen grundsätzlich an den Unterstützungen der ‚geschenkten‘ Handwerke mit ‚Gesellenschenke‘, freier Herberge und Verpflegung bzw. Zehrpfennig.90 Gleiches galt für das relativ junge Handwerk der Strumpfwirker, dessen Zehrpfennig üblicherweise durch Meister und Gesellen gemeinsam bestritten wurde. In Chemnitz wurden im 18. Jahrhundert erst ein bis zwei Groschen, um 1800 dann vier Groschen gewährt,91 in Dresden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts drei Groschen.92 Dagegen gaben die Tuchmacher als ‚ungeschenktes‘ Handwerk keinen Zehrpfennig, sondern ein geringes Almosen (z. B. in Dresden im 18. Jahrhundert ein paar Pfennige, höchstens aber kaum mehr als einen Groschen).93 Bei den textilherstellenden Gewerben waren aber Übernachtung und Verköstigung auf der Herberge zumindest für die erste Nacht meist unentgeltlich.94 Zusammenfassend bestätigen sich die Ergebnisse des Aufsatzes von Reith, wenngleich einige handwerksspezifische Differenzierungen auszumachen sind. Die wesentlichsten Unterstützungsmaßnahmen waren die kostenfreie Beherbergung inklusive Verpflegung und die Zahlung eines Zehr- oder Reisepfennigs. Für die Begünstigten bestand bezüglich der entstandenen Kosten – anders als oftmals im Rahmen der zunftinternen Kranken- und Armenunterstützung – keine Rückzahlungspflicht.95 Wer finanzierte die Unterstützungsmaßnahmen arbeitsloser Gesellen? Generell lässt sich sagen, dass die Wanderunterstützung durch die vor Ort in Arbeit stehenden 89 90 91 92 93 94 95
StadtAD, 11.2.54, Nr. 129, Bl. 31 (Schneider 1803). Belege für die Zeug- und Leineweber zu Chemnitz im 18. Jahrhundert: StadtAC, H 01, Nr. 406, Nr. 407, Bl. 179, 185, Nr. 409, Nr. 410, Rechnungsjahr 1737/38, Bl. 6, Nr. 411, Rechnungsjahr 1761/62 und Rechnungsjahr 1781/82, Nr. 412, 194–196. StadtAC, H 01, Nr. 225, I, Nr. 238, Nr. 239, Nr. 240, Nr. 241 und Nr. 242; StadtAC, RA, IX Sm, Nr. 1, Bl. 28b, 99 und Nr. 7, Bl. 4, 17. StadtAD, 11.2.62, Nr. 20b, unpag. (Registratur vom 08.05.1767) und Nr. 20c, unpag. (Entwurf neuer Innungsartikel aus dem Jahr 1780); StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 216c, Bd. 4, Bl. 74. StadtAD, 11.2.66, Nr. 71v, unpag. (Einnahmen-/Ausgabenrechnung von 1762/63, Einnahmen- und Ausgabenrechnung 1777/78, Einnahmen- und Ausgabenrechnung 1790/91 u. ö.). Bei den Zwickauer Tuchmachern war erst seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts die erste Nacht auf der Gesellenherberge ausdrücklich kostenfrei. StadtAZ, X, 1, 14, Bl. 98b (Tuchmacher 1646); StadtAZ, X, 49, 124, Bl. 8b–9 (Tuchmacher 1706). In nichtsächsischen Quellen finden sich Abweichungen von dieser Ausnahme. Eine sehr frühe Form der Arbeitslosenunterstützung in Form einer eigenen Darlehenskasse für arbeitslose Gesellen findet sich bei den Schiffern, Flößern und Schiffsbauern in Speyer im 15. Jahrhundert. Fröhlich: Soziale Sicherung, 71; Ponfick: Sozialversicherung, 41 f. Auch bei den Klagenfurter Faßbindergesellen war es anscheinend üblich, dass die entstandenen Kosten für Verpflegung und Unterkunft arbeitsloser Gesellen von diesen wieder ersetzt werden sollten, sobald sie Arbeit gefunden hatten. Haberleitner: Handwerk, 67.
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Handwerker (Meister und/oder Gesellen) finanziert wurde. In praxi existierten – wie in der tabellarischen Aufstellung am Ende des Beitrags zu sehen – verschiedene Varianten, die vermutlich aus den meist nicht dokumentierten Anfängen der verpflichtenden Gesellenwanderung und der Gesellenschaften selbst herrührten. Meist wurden die Gelder für die Wanderunterstützung in Abhängigkeit von der Person bzw. dem Personenverband, die bzw. der für die Beherbergung und Arbeitsvermittlung zuständig war, aufgebracht. Somit konnten einzelne Meister, die Meisterschaft, einzelne Gesellen oder die Gesellenschaft verpflichtet werden. Gesellenseitig wurden die Maßnahmen aus der allgemeinen Gesellenkasse (Büchse) oder durch Einsammeln der Beiträge in den einzelnen Werkstätten durch einen verantwortlichen Gesellen finanziert. In letzterem Fall erstattete die Gesellenschaft häufig rückwirkend demjenigen die Kosten, der für die Verauslagung des Zehrpfennigs zuständig war. Oft war dies der Altgeselle oder der Herbergsvater. Mitunter hatte der mit der Umschau beauftragte Geselle (Örtengeselle), in Ermangelung dessen der dienstjüngste Meister, auch die Unterstützung oder einen größeren Teil derselben allein zu tragen. Beherbergten die Meister die Zugewanderten, waren sie für die entstandenen Kosten (individuell nach einer bestimmten Reihenfolge oder kollektiv) zuständig. Am häufigsten waren Mischfinanzierungen, bei denen für gewöhnlich die Meister die Kosten, welche im Zusammenhang mit der Herberge standen, übernahmen. Dagegen kamen die Gesellen für die ‚Gesellenschenke‘ auf. Auch die Gelder für einen möglichen Zehrpfennig wurden nicht selten gemeinsam von Meistern und Gesellen aufgebracht. Bei den Leipziger Bäckern kann der Übergang von einer Beherbergungsform zu einer anderen in Verbindung mit der geänderten Finanzierungsweise nachvollzogen werden. Nahmen ursprünglich die Bäckermeister reihum die zuwandernden Gesellen auf und trugen die Unkosten, so ging mit dem Wanderzwang die Beherbergungsaufgabe auf die Gesellenschaft über. Seitdem zahlte die Meisterschaft regelmäßig nur noch einen Zuschuss in die Gesellenlade.96 Die weitere Entwicklung an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert Die Ausweitung des Wanderzwangs auf prinzipiell alle Handwerke hatte die Entwicklung eines Unterstützungssystems der arbeitslosen, reisenden Gesellen wenn nicht hervorgerufen, so doch beschleunigt. Der frühneuzeitliche Territorialstaat überließ die Versorgung bedürftiger Personen lange Zeit vorrangig den kommunalen und korporativen Systemen sozialer Sicherung.97 Bedürftige Zunfthandwerker sollten primär 96 97
Einige Autoren bewerten diese Vorgehensweise als ein Freikaufen der Meister von früheren Pflichten, so z. B.: Eberwein: Bäckerzunft, 39; Jahn: Gewerbepolitik, 46. Helmut Bräuer: Arme Leute in Sachsen im 18. Jahrhundert. In: Räume voll Leipzig. Arbeitsberichte des Stadtarchivs Leipzig. Neue Reihe, Leipzig 1994, 72–87, hier 84.
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von ihren Berufsorganisationen unterstützt werden. Die kommunale Ebene wiederum reglementierte in zunehmendem Maße das allgemeine Bettelwesen. Im Hinblick auf den Gesellenbettel versuchte sie, diesen zu unterbinden und die Lösung des Problems den Berufskorporationen zu überantworten. So forderte die Bettlerordnung des Rates der Stadt Leipzig vom 5. März 1638, dass die bettelnden Gesellen an die Obermeister ihrer Handwerke zu weisen und von diesen mit Arbeit, oder in Manglung derselben, mit einem Zehrpfennige, der Laden Vermögen nach, zu versehen und fortzuschaffen seien.98 Diese Formulierung wurde sogar in die kursächsische Polizeiordnung von 1661 aufgenommen.99 Die Erfolge blieben dürftig, auch da man eine generelle Einführung eines Zehrpfennigs von den Handwerken nicht nachhaltig einforderte. Nach mehrfachen Wiederholungen gemahnte nochmals die große Leipziger Armenordnung von 1704 an die traditionelle Selbsthilfe des Zunfthandwerks und verlangte ein intensiveres Engagement der Handwerkskassen für ihre Bedürftigen im Allgemeinen und für arme Arbeit suchende Handwerker im Besonderen.100 Bis zu dieser Zeit hatte sich die reichs- oder territorialstaatliche Ebene gewerbepolitisch nicht sonderlich auf die Wandergesellen konzentriert. Lediglich die Praktiken der ‚Gesellenschenke‘ versuchte die Reichsgesetzgebung im frühen 16. Jahrhundert ganz oder in ihren extremsten Auswüchsen zu verbieten. Noch in der sogenannten Reichshandwerksordnung vom 16. August 1731, die auch mittels landesherrlichen Mandats im Kurfürstentum Sachsen publiziert wurde, findet sich ein Hinweis zur ‚Schenke‘ und zu anderen Excessen bei der Begrüßung oder Verabschiedung von Wandergesellen. Vor allem sollte die Unterscheidung in ‚geschenkte‘ und ‚ungeschenkte‘ Handwerke abgeschafft und der Gesellenbettel unterbunden werden. Bettelnde Gesellen sollten nicht unterstützt werden, ein ‚Geschenk‘ sollten sie nicht erhalten. Ein positiv formuliertes, vielleicht sogar allgemeines Anrecht auf eine Wanderunterstützung sah die Reichshandwerksordnung dagegen nicht vor. Sie legte lediglich Höchstbeträge für das ‚Geschenk‘ dort fest, wo solches hergebracht, also bisher bereits üblich war.101 Über die akuter 98
Ders.: Der Leipziger Rat, 121. Die Forderungen der Bettlerordnung von 1638 wurden 1652 wortwörtlich wiederholt. Ebenda, 124. 99 Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung Churfürst Joh. Georgens des II. zu Sachsen, den 22. Junii, Anno 1661. In: Johann Christian Lünig (Hg.): Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […], [Bd. I], Leipzig 1724, Sp. 1561–1610, hier Sp. 1574. Eine Wiederholung der Forderung findet sich in: Erneuert und geschärfftes Mandat, Wider die Bettler, Landstreicher und ander böses Gesindel, den 7. Decembr. Anno 1715. In: Johann Christian Lünig (Hg.): Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […], [Bd. I], Leipzig 1724, Sp. 1843–1854, hier Sp. 1844. 100 Bräuer: Der Leipziger Rat, 77, 141. Dagegen sprach sich diese Armenordnung nicht für eine vom städtischen Almosenamt statt wie bisher von der jeweiligen Berufsorganisation ausgereichte Wanderunterstützung aus. Dies behauptet: Elisabeth Dietzmann: Die Leipziger Einrichtungen der Armenpflege bis zur Übernahme der Armenverwaltung durch die Stadt 1881, Diss. Leipzig 1932, 32. 101 UBL, Allgemeine zu Abstellung Der Handwercker-Mißbräuchen ergangen- und von Sr. Kayserl. Majest. Ratificirte Reichs-Verordnung, Wien 1731, § VII (Signatur: Dtsch.Priv.-R 33h); Mandat Zu
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werdende Notwendigkeit eines Eingreifens öffentlicher Behörden in das bislang handwerksintern organisierte Unterstützungswesen für arbeitslose Gesellen wurde aber mittlerweile in allen relevanten Kreisen und so auch unter zeitgenössischen Juristen und Wirtschaftsökonomen diskutiert. Dazu schrieb der Nationalökonom Marperger: Indessen weil einige derselben [Innungen] nicht allzustarck mit Capitalien in ihren Laden versehen seyn, so könte wohl ein Armen-Directorium oder Allmosen-Amt eine Classe, Cassam oder Departement haben, aus welchem einem reisenden Handwercks-Bursch, damit er sich des Bettelns durchs Land enthalten müste, so viel Reise-Zehr- und MeilenGeld, als er etwan ad Locum ad qvem, wo er hin gedächte, nöthig hätte, gegeben würde.102
Im Gegensatz dazu knüpfte in Leipzig der Bericht der Deputierten des städtischen Almosenamtes vom 25. Januar 1748 wieder an traditionelle Vorstellungen der Armenordnung von 1704 an und verlangte von den Berufskorporationen die gewerbeintern finanzierte Versorgung der Bedürftigen des Handwerks statt eines städtischen Viatici.103 In diese Richtung zielte kurz vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Gründung eigener Viaticumskassen bei einigen Handwerken, welche bereits damals auf die Notwendigkeit einer gesonderten Organisation dieses Unterstützungsbereichs aufgrund der wachsenden Zahl Arbeit suchender Wandergesellen hindeutete.104 In der zweiten Jahrhunderthälfte zeigten sich in vielen Handwerken diverse Krisenzeichen, nicht zuletzt ein hoher Arbeitskräfteüberschuss bei einer begrenzten Anzahl an Meisterstellen. Ohne an dieser Stelle auf die weiteren Zusammenhänge im Einzelnen eingehen zu können, kann von einer verbreiteten Übersetzungskrise gesprochen werden. In der Folge nahmen Formen nicht-zünftiger Arbeits- und Lebensmodelle (Manufaktur- und Gelegenheitsarbeiten, Gesellenbettel, Dauergesellenstatus, Gesellenfamilien, Auflösung korporativer Organisationsformen und des zugehörigen
Publicirung des Kayserlichen Patents, wegen Abstellung derer, bey denen Handwerken eingeschlichenen Mißbräuche, und desselben genauer Beobachtung; d. d. 19. October, 1731. In: Rudolph Christian von Bennigsen (Hg.): Fortgesetzter Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […] bis zum Jahre 1772 […], Erste Abtheilung, Leipzig 1772, Sp. 577–592, hier Sp. 579 f. Wiederholt wurden die Bestimmungen in: Anderweites Generale, Zu Abschaffung derer Handwerks-Mißbräuche; d. d. 23. Aug. 1748. In: Rudolph Christian von Bennigsen (Hg.): Fortgesetzter Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […] bis zum Jahre 1772 […], Erste Abtheilung, Leipzig 1772, Sp. 695–696, hier Sp. 695; Mandat, Zu Erneuerung und Einschärfung des Kayserl. Patents vom 19. Oct. 1731 wegen Abstellung derer, bey denen Handwerkern, eingeschlichenen Mißbräuche, und desselben genauerer Beobachtung; d. d. 10. Nov. 1764. In: Rudolph Christian von Bennigsen (Hg.): Fortgesetzter Codex Augusteus, Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […] bis zum Jahre 1772 […], Erste Abtheilung, Leipzig 1772, Sp. 891–892. 102 Paul Jacob Marperger: Wohlmeynende Gedancken über die Versorgung der Armen, Wes Standts, Alters, Leibs- und Unglücks-Constitution nach selbige auch seyn möchten […], Dresden 1733 (Nachdruck Leipzig 1977), 47. 103 Bräuer: Der Leipziger Rat, 182, 186 f. 104 Reininghaus: Gesellenvereinigungen, 235.
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Brauchtums usw.) zu. Die Fähigkeit und die Bereitschaft der Handwerksorganisationen zur solidarischen Unterstützung arbeitsloser Gesellen gingen dagegen zurück.105 Insbesondere in Kursachsen führten die Auswirkungen des Siebenjährigen Krieges und der Hungerkatastrophe der frühen 1770er Jahre im Kreise der Wandergesellen zu einer erheblichen Zunahme des Bettelgehens106 und zu einer intensivierten Inanspruchnahme der städtischen Armenpflege107 sowie bei der kurfürstlichen Regierung zu der Einsicht, dass es wirksamerer staatlicher Reglementierungen in Bezug auf das Unterstützungswesen im Handwerk bedurfte. Obgleich frühere Ermahnungen und Appelle an die gewohnheitsmäßige korporative Selbsthilfe offensichtlich nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt hatten, unterließen sowohl kommunale als auch landesherrliche Verordnungen und Reskripte es nicht, die Handwerksorganisationen darauf immer wieder zu verweisen. Zugleich wurden aber nun die Zünfte in verbindlicherem und stärkerem Maße als bisher zur Finanzierung kommunaler und territorialstaatlicher Versorgungseinrichtungen herangezogen, wodurch der handwerksinternen sozialen Sicherung auch materielle und ideelle Lebenskräfte entzogen wurden.108 Als Bürger einer Stadt trugen die Handwerksmeister seit jeher zur Finanzierung der kommunalen Armenpflege bei. Nach ersten Anläufen unter Prinz Franz Xaver (1730– 1806), dem kursächsischen Administrator, wurden seit 1772 sämtliche Zunftkassen im Land angewiesen, zum bislang bereits mehrfach geforderten Zehrgeld an herumziehende Gesellen und Meister nun neuerdings noch einen Teil der anfallenden Lehrlings- und Meistergebühren an die Ortsarmenkassen abzuliefern. Überdies sollte an die Armenhaushauptkasse in Dresden, die für den Unterhalt der staatlichen Armen-, Zucht- und Waisenhäuser zuständig war, jährlich ein Geldbetrag fließen, der im Zuge der Neukonfirmation der Innungsartikel verbindlich festgesetzt wurde.109 Die stärkere 105
106 107
108 109
Thamer: Arbeit und Solidarität, 493. Das zunehmend ungünstige Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern wirkte sich auf die Kassenlage in vielen Handwerksorganisationen aus. Zahlreiche Zunft- und vor allem Gesellenkassen verschuldeten sich in dieser Zeit und konnten sich keine weiteren sozialen Ausgaben leisten. Andere lehnten eine Änderung ihrer Ausgabenpolitik zugunsten der Bedürftigen ab. Elke Schlenkrich: Bettelwesen in Sachsens Goldenem Jahrhundert. In: Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte 26 (2007) 89, 34–42, hier 40. So auch für Freiberg: Friedmar Brendel: Altfreiberger Gesundheitswesen und Krankenversorgung. In: Die Fundgrube. Kulturspiegel des Kreises Freiberg (1961) 12, 258–261, hier 260. Es handelte sich nicht um ein sächsisches Phänomen. Für Braunschweig-Wolfenbüttel siehe: Albrecht: Landesausbau, 275. Für Oldenburg siehe: Sabine Barnowski-Fecht: Das Handwerk der Stadt Oldenburg zwischen Zunftbindung und Gewerbefreiheit (1731–1861). Die Auflösung der Sozialverfassung des ‚alten Handwerks‘ und ihre Transformation unter den Bedingungen von Stadtentwicklung und staatlicher Gewerbepolitik, Diss. Oldenburg 1999, 228. Schröder: Arbeitslosenfürsorge, 49–51, 56. StadtAD, 11.2.56, Schuhmacher-Dep. Nr. 16, unpag. (Abschrift des Entwurfs allgemeiner Handwerksartikel vom 07.01.1767); StadtAD, 11.2.69, Wagner-Dep, Nr. 8, unpag. (Abschrift eines Schreibens vom 03.04.1772); Armen-Ordnung bey der Chur-Fürstl. Sächß. Residenz-Stadt Dreßden, Neustadt, Friedrichstadt und denen Vorstädten. Errichtet im Jahre 1773, 39; Erneuertes und erläutertes Mandat wegen Versorgung der Armen, und Abstellung des Bettelwesens, vom 11. April,
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monetäre Beteiligung am öffentlichen Armenwesen ließ die Neigung der Handwerke zur eigenständigen Versorgung ihrer Arbeit suchenden Gesellen, vor allem in den Massenhandwerken, jedoch weiter sinken. Auf der anderen Seite fiel es den in Arbeit stehenden Handwerkern zunehmend schwer, die große Zahl an herumreisenden Wandergesellen zu unterhalten, doch forderte der kursächsische Territorialstaat gerade zu dieser Zeit die genossenschaftliche soziale Sicherung verstärkt ein. Nach einer langen Vorbereitungsphase erschienen im Jahr 1780 die General-Innungs-Articul. Diese sahen die Zahlung eines ‚Geschenks‘ für arbeitslose Gesellen durch alle Zunfthandwerke im Kurfürstentum in Höhe von maximal vier bis fünf Groschen vor. Im Gegenzug sollte das städtische Armenwesen von diesen Kostgängern entlastet werden. Im Grunde sollten die in Arbeit befindlichen Gesellen ihre arbeitslosen Berufskollegen finanziell aushalten.110 Besonders die Innungen der Massenhandwerke ahnten aber aufgrund der desaströsen Finanzlage vieler Gesellenkassen, wenn solche eigenständig überhaupt (noch) bestanden, dass damit eine vorschussweise und letztlich dauerhafte Übernahme der Kosten durch sie selbst drohte. In der Vergangenheit war dies in anderen Fällen schon geschehen. Bezeichnenderweise reagierten weder die Schuhmacher- noch die Schneiderinnungen in Leipzig und Dresden auf die gesetzlichen Vorgaben von 1780. Lediglich die Chemnitzer Schwesterladen führten auf Druck des Stadtrats einen Zehrpfennig im Jahr 1784 ein.111 Seitdem galt ein besonderes System bei der Chemnitzer Schuhmacherinnung. Deren Obermeister sollte je nach Beschaffenheit der Dürftigkeit einem arbeitslosen Gesellen ein oder mehrere Handwerkszeichen übergeben.112 Für die Abgabe dieser Zeichen beim städtischen Armenkasten erhielt der Geselle dann pro Zeichen zwei Groschen. Die Gelder rechnete der Armenkasten im Nachhinein mit dem Handwerk ab, wobei die Gelder hälftig von der Zunft und hälftig aus der Gesellenbüchse kamen. Allerdings gab es schon wenige Monate nach Einführung dieses Systems Probleme, da sich vor allem die in Arbeit befindlichen Gesellen weigerten, die Arbeitslosen weiterhin zu unterstützen. Auch wenn die Quellen eine eindeutige Antwort schuldig bleiben, schien um 1800 eine Lösung des Konflikts gefunden. Fortan wurden die Schuhmachergesellen mit einem Zehrpfennig ausgesteuert.113 Auch die Chemnitzer Schneiderinnung folg-
110 111 112 113
1772. In: Ferdinand Gotthelf Fleck, Karl Christian Kohlschütter (Hg.): Zweyte Fortsetzung des Codicis Augustei oder anderweit vermehrtes Corpus Juris Saxonici […] bis zum Jahre 1800 […], Leipzig 1805, Sp. 639–666; Keller: Armut und Tod, 208; Korge: Kollektive Sicherung, 269 f. Mandat die General-Innungs-Articul für Künstler, Profeßionisten und Handwerker hiesiger Lande betreffend, ergangen sub Dato Dresden, den 8. Januar 1780. In: Georg Eduard Herold: Die Rechte der Handwerker und ihrer Innungen, 2. Aufl., Leipzig 1841, Cap. II, 5 und 13. StadtAC, RA, IX Aa, Nr. 9, Bl. 13–13b (Schneider und Schuhmacher 1804); StadtAC, RA, IX Se, Nr. 8, Bl. 35 (Schneider 1783); StadtAC, RA, IX Sg, Nr. 14 (Schuhmacher 1785). Ebenda, Nr. 14, unpag. (Schreiben vom 12.09.1785). Ebenda, Nr. 14, Bl. 1, 9 und unpag. (Schreiben vom 12.09.1785).
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te diesem Beispiel. Hier hatte man den Anteil der Gesellenschaft an der Finanzierung der Wanderunterstützung auf einen fixen Beitrag von monatlich zwölf Groschen festgeschrieben, um die finanzschwache Gesellenkasse nicht zu überfordern.114 In Leipzig und Dresden blieb eine solche Lösung – vielleicht aufgrund der immensen Anzahl potenzieller Leistungsempfänger – aus. Vielmehr gab in Leipzig der Stadtrat im Jahre 1803 mit der Gründung einer Armenanstalt endlich einen neuen Anstoß, das kommunal organisierte Armenwesen zu modifizieren und damit nicht zuletzt auf die mangelhafte handwerksinterne Unterstützung bedürftiger Personen zu reagieren. Mit der institutionellen Neugründung sollte jenen Gesellen, die nach erfolgloser Umschau von ihrem Handwerk keine oder nur eine geringe Wanderunterstützung erhielten, ersatzweise ein städtisch organisiertes Almosen gegeben werden. Anfangs galt für die Almosenempfänger eine vierteljährliche, seit 1807 eine halbjährliche Sperrfrist. Reichten die Handwerke keinen Zehrpfennig, betrug das Almosen drei Groschen, ansonsten wurde es ergänzend zum Zehrpfennig gezahlt, bis eine Gesamtunterstützung von drei Groschen erreicht war. Als Vorbedingung hatten die betreffenden Handwerke, insbesondere die großen Handwerke der Schneider, Schuhmacher und Tischler, Beiträge an die Leipziger Armenanstalt abzuführen.115 Im Gegenzug lehnten die Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeten Gesellenverpflegungskassen die Unterstützung arbeitsloser Gesellen ab und verwiesen jene an die von den Zünften mitfinanzierten städtischen Institutionen des Armenwesens.116 Allerdings deckten die Jahresbeiträge der Innungen keineswegs die tatsächlich verursachten Aufwendungen. Die Vergabe von Almosen an arbeitslose Gesellen blieb für die städtische Kasse ein erhebliches Zuschussgeschäft.117 Dennoch wehrten sich die Zünfte zäh gegen Erhöhungen ihrer Beiträge an die Armenanstalt. 114 115 116
117
StadtAC, RA, IX Aa, Nr. 9, Bl. 13–13b (Schneider 1804); StadtAC, RA, IX Se, Nr. 8, Bl. 35 (Schneider 1783). Auch andere Handwerke in Chemnitz wandten dieses Zeichensystem an. StadtAC, RA, IX Za, Nr. 76, Bl. 29b–30b, 192 (Zeug- und Leineweber 1783). StadtAL, II. Sektion A Nr. 325, Bl. 2, 4; Dietzmann: Armenpflege, 55, 57. Ähnliche Einrichtungen gab es bereits in anderen kursächsischen Städten wie z. B. in Delitzsch. Keller: Armut und Tod, 212. Seit 1803 schafften einzelne Handwerke ihre Gesellenladen ab und gründeten von den Meistern stärker kontrollierte, von den Gesellen jedoch finanzierte Gesellenverpflegungskassen. Landesweit wurde die Einrichtung von Gesellenverpflegungskassen im Dezember 1810 angeordnet. StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 108; StadtAL, Handwerksinnungen, Tischler C 1, Bl. 8; Mandat, die Abstellung verschiedener Innungsgebrechen betreffend, de dato Dresden, den 7. Decbr. 1810. Im Jahr 1808 zahlten die Schuhmacherinnung 15 Reichstaler und die Schneiderinnung 25 Reichstaler an die städtische Einrichtung. Bei einem persönlichen Auszahlungsbetrag von drei Groschen hätten somit 120 Schuhmacher- und 200 Schneidergesellen mit einem Almosen versehen werden können. Nach einer Erhöhung des Beitrags überwiesen im Jahr 1812 die Schneider 35 Reichstaler, wovon immerhin 280 Gesellen unterstützt werden konnten. Leider fanden sich keine Angaben für die Anzahl der Arbeitssuchenden in beiden Leipziger Handwerken. Doch Vergleichsdaten aus Dresden bzw. aus anderen Handwerken lassen ein Vielfaches vermuten. So wanderten im Jahr 1812 in Dresden 1.300 Schuhmachergesellen durch und ein Jahr später wurden allein 1.500 einwandernde Schneidergesellen gezählt. In Leipzig wurden von der Armenanstalt zwischen 1804 und 1806
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Auch in Dresden war der Widerstand gegen die Einführung eines Zehrpfennigs besonders bei den genannten Massenhandwerken groß. Immerhin führten beispielsweise die Schuhmacher bereits in den 1730er Jahren einen Jahresbeitrag an die Ortsarmenkasse ab, weshalb sie die Zahlung eines Zehrpfennigs rundweg ablehnten.118 Das landesherrliche Mandat vom 7. Dezember 1810 sah tatsächlich ein Zehrgeld von bis zu sechs Groschen für alle Handwerke des noch jungen Königreiches Sachsen vor.119 Zwar sollten grundsätzlich die in Arbeit stehenden Gesellen ein Viaticum für ihre Arbeit suchenden Berufskollegen aufbringen, indem die Arbeit gebenden Meister die Beiträge vom Lohn ihrer angestellten Gesellen einbehalten und an die neuen Gesellenverpflegungskassen weiterleiten sollten, doch erneut ahnten die Meister vermutlich bereits, dass die Gesellen mit dieser Regelung in vielen Fällen finanziell überfordert wären und die Meister notfalls mit eigenen Mitteln aushelfen müssten. Daher ließen sich die Dresdner Schneider umgehend ein geringeres Zehrgeld in Höhe von drei Groschen genehmigen, um die drohenden Aufwendungen etwas zu dämpfen.120 Dennoch stellten sie, auch aufgrund des enormen Andrangs von Wandergesellen, schon nach wenigen Monaten die Abführung der Gelder von ihren angestellten Gesellen ein und verwiesen die Bedürftigen wie schon früher an die städtische Armenkasse, die von ihnen mitfinanziert wurde. Auch in Auseinandersetzungen mit der Stadt verwies man immer gern auf die Beteiligung an der Aufrechterhaltung der städtischen Armenkassen über Steuern und Gebühren. Dabei fiel der finanzielle Beitrag der Handwerke in seiner Frequenz häufig unregelmäßig und in seiner Höhe recht niedrig aus. Ähnliche Vorgänge wie bei den Schneidern gab es bei den Schuhmachern, Tischlern und einigen anderen Handwerken.121 Letztlich kam es für die Handwerksmeister wie befürchtet. Ein landesherrliches Reskript stellte kurze Zeit darauf klar, dass eine Nachschusspflicht für die Meister bestehe, um etwaige Fehlbeträge zum geforderten Zehrgeld auszugleichen.122 Trotz Widerstandes bestanden die städtische Obrigkeit und der an Bedeutung gewininsgesamt 2.255 Tuchmacher- und 2.626 Leinewebergesellen mit einem Almosen von drei Groschen versehen, wogegen die beiden Innungen nur einen jeweiligen Jahresbeitrag von drei Reichstalern (d. h. 72 Groschen) an die Armenanstalt abführten. StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 120, Bl. 5, 11; StadtAL, II. Sektion A Nr. 325, Bl. 1–2. 118 StadtAD, RA, C. VI, Nr. 30, Bl. 47b–48b (Schuhmacher 1737). 119 Mandat, die Abstellung verschiedener Innungsgebrechen betreffend, de dato Dresden, den 7. Decbr. 1810, § 4d. Wie schon 1780 war auch 30 Jahre später eine Finanzierung des Zehrgeldes durch die Gesellen vorgesehen. Die Meister sollten die entsprechenden Gelder über Lohnabzüge und einige Gebührensätze generieren. 120 StadtAD, 11.2.54, Nr. 147, Bl. 10, 12 (Schneider 1811). 121 StadtAD, 11.2.56, Nr. 264f, Bd. IV, unpag. (Schuhmacher 1813, Nr. 63); StadtAD, RA, C. XXIV, Nr. 120, Bl. 1, 2, 3b, 11–11b, 29–30 (Schneider, Schuhmacher und Tuchmacher 1812/13); StadtAL, II. Sektion A Nr. 325 (Schneider, Schuhmacher, Tischler und andere Handwerke 1807–1809); StadtAL, Tit. LXII–I Nr. 10; Bl. 82 (Schneider 1811); StadtAL, Tit. LXIV Nr. 322, Bl. 30b (Schneider 1804). 122 Rescript zu Erläuterung des Mandats von 7ten December 1810 vom 7ten October 1813. In: Ferdinand Gotthelf Fleck, Karl Christian Kohlschütter (Hg.): Dritte Fortsetzung des Codicis Augustei, worinnen die in dem Königreiche Sachsen ergangenen gesetzlichen Verordnun-
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nende Territorialstaat letztlich auf einer Unterstützung arbeitsloser Handwerksgesellen, auch da sich beide Akteure der eigenen finanziellen Unzulänglichkeit bewusst waren. In der Folgezeit versuchte man, insbesondere für ausländische Wandergesellen den Einlass in die Städte, wo diese ein ‚Geschenk‘ erhalten konnten, zu erschweren, indem der Einlass nicht zuletzt an den Besitz eines Mindestvermögens geknüpft wurde. Ironischerweise wurde dieses erforderliche Mindestvermögen in Abwandlung von der traditionellen Bedeutung ebenfalls ‚Zehrgeld‘ genannt.123 Schluss Die auf die obersächsischen Zunfthandwerke fokussierte Untersuchung bestätigt – im Hinblick auf die Vergleichsstudie von Reinhold Reith124 – die Existenz eines vielgestaltigen Wanderunterstützungssystems mit branchen- und zeitspezifisch unterschiedlichem Maßnahmenkatalog und sich verändernder Intensität. So gaben einige Handwerke dezidiert keine Wanderunterstützung, sondern, wie sie nicht müde wurden zu betonen, aus freiem Willen Almosen. Viele Wandergesellen hatten aber wohl zumindest einen moralischen Versorgungsanspruch erworben, indem sie an anderer Stelle Beitrag zahlende Mitglieder der Handwerksgemeinschaft gewesen waren. Für die Gesellen der ‚geschenkten‘ Handwerke, deren genossenschaftlicher Zusammenhalt und soziales Netz durchaus vorbildhaft für die übrigen Gesellenschaften waren, lässt sich die These eines (gewohnheits-)rechtlichen Unterstützungsanspruchs bestätigen.125 Am Ende des Untersuchungszeitraums, also an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, geriet das Wanderunterstützungssystem und nicht allein dieses, sondern letztlich das gesamte System sozialer Sicherung im Zunfthandwerk, an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.126 Der eingangs beschriebene Protest im Chemnitzer Leineweberhandwerk gegen die Vergabe von Zehrgeldern an vermeintliche Müßiggänger gen vom Jahre 1801 bis zu der am 9ten März 1818 angefangenen Gesetzsammlung, enthalten sind. Erste Abtheilung, Dresden 1824, 509 f. 123 Mandat, die Erläuterung und Ergänzung der, im Mandate vom 7. December 1810 Cap. III im Betreff der Legitimationen der wandernden Diener, Gesellen und Mühlburschen, ertheilten Vorschrift betr., v. 25. Jan. 1825; Mandat, die Ausdehnung und Erläuterung des, wegen der Legitimationen der wandernden Diener, Gesellen und Mühlbursche, unterm 25. Januar vorigen Jahres ergangenen Mandats betr., vom 22. September 1826; Armen-Ordnung für das Königreich Sachsen, vom 22. October 1840. Alle enthalten in: Wilhelm Michael Schaffrath (Hg.): Codex Saxonicus. Chronologische Sammlung der gesammten praktisch-gültigen Königlich Sächsischen Gesetze von den ältesten Zeiten, vom Jahre 1255 an bis zum Schlusse des Jahres 1840; mit einem alphabetisch-systematischen Repertorium. Zweiter Band enthaltend: die gesammten Gesetze vom 9. März 1818 an bis zum Schlusse des Jahres 1840, Leipzig 1842, 191 f., 216, 1345. 124 Reith, Gruppenkultur. 125 Zur bislang in der Handwerksgeschichtsschreibung strittigen Frage nach einem Unterstützungsanspruch siehe die Anmerkungen 79, 80 und 81 sowie Korge: Kollektive Sicherung, 254 f. 126 Ebenda, 287 f., 292 f., 367, 445.
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und die weitere Ausdifferenzierung auf Seiten der potenziellen Empfänger stellten damit nur zwei von vielen Aspekten dieses zunehmend überforderten korporativ organisierten Sicherungssystems dar. Die öffentliche Armenfürsorge musste insbesondere bei der Unterstützung Arbeit suchender Handwerksgesellen verstärkt ergänzend zur genossenschaftlichen Hilfe auftreten. Doch bei allen Schwierigkeiten wurde gerade die Tradition eines Reisepfennigs in vielen Handwerken im 19. Jahrhundert fortgeführt.127 Selbst nach dem Ende des Wanderzwangs, der meist mit dem Ende des Zunftzwangs und der Einführung der Gewerbefreiheit (in Sachsen 1861) einherging, zahlten in Dresden 41 von 54 Gesellenunterstützungskassen ihren arbeitslosen Mitgesellen einen Zehrpfennig.128 Und noch bis ins 20. Jahrhundert hielt sich der Brauch, arbeitslosen Wandergesellen ein freies Nachtlager zu gewähren.129 Der vom Prinzip her vorbildhafte Charakter eines Reisegeldes zeigte sich in seiner Übernahme durch die frühen Gewerkschaften.130 Auch wenn deren Wirkung begrenzt war, bildeten somit die vormodernen Formen genossenschaftlicher Arbeitslosenunterstützung für die meisten Gesellen „ein nicht unbedeutendes Element sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit“131. Letztlich genügten diese korporativen Modelle der Lastenverteilung im Falle von Arbeitslosigkeit, nach denen jedes Handwerk seine eigenen Regelungen und sein eigenes Kassenwesen besaß, allerdings nicht mehr. Die Zukunft gehörte dem modernen Sozialstaat.
127
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Vgl. die Finanzierung und Vergabe des ‚Geschenks‘ in Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Fortdauer bis ins 20. Jahrhundert: Ludwig: Kleingewerbe, 219, 224. Für die westfälischen Gesellenladen ist nach 1810 (Aufhebung des Zunftzwangs in Preußen) keine Zahlung eines Zehrpfennigs belegt, weshalb Reininghaus auch keine soziale Absicherung für wandernde Handwerker hier mehr vermutete. Reininghaus: Gesellenvereinigungen, 240; Ders.: Die Unterstützungskassen der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter in Westfalen und Lippe (1800–1850). In: Westfälische Forschungen 35 (1985), 131–163, hier 156. Carl Gustav Brückner: Bericht über die Verhältnisse der Dresdener Handwerkerinnungskassen im Allgemeinen und die der Gesellenverpflegungskassen Insbesondere, auf Grund der Beantwortungen der zu diesem Zwecke an die Herren Innungsältesten ausgegebenen Fragebogen, Dresden 1866, 9. Wissell: Recht und Gewohnheit, 328. Reininghaus: Gesellenvereinigungen, 235; Klaus Schönhoven: Selbsthilfe als Form von Solidarität. Das gewerkschaftliche Unterstützungswesen im Deutschen Kaiserreich bis 1914. In: Archiv für Sozialgeschichte 20 (1980), 147–193, hier 163. Thomas Fischer: Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4), Göttingen 1979, 88.
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Anhang: Maßnahmen der Wanderunterstützung in obersächsischen Zunfthandwerken (Auswahl) Anmerkungen: Die Angaben zur Unterstützungshöhe in eckigen Klammern ergaben sich aus eigenen Berechnungen. Ist vom Nachtlager die Rede, bedeutet dies, wenn nicht anders angegeben, ein freies Nachtlager für eine Nacht. Abkürzungen: C = Chemnitz; d = Denar (Pfennig/e); D = Dresden; g = Groschen; G = Gesamtheit der Gesellen bzw. Gesellenkasse; L = Leipzig; M = ein einzelner Meister; MM = gesamte Meisterschaft bzw. Meisterkasse; r = Reichstaler; S = Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen; Z = Zwickau Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Bäcker
C
1650
Herberge durch M (jährlich wechselnd)
D
1774, 1777
Geschenck durch MM (jeder Meister gibt 1 g wöchentlich)
1804
6 g Zehrpfennig
L
1810
4–6 g Geschenk durch MM
C, L und Z (Haupt- und Kreisladen)
1723, 1728
Nachtlager und Kost durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge); Schenke durch G
D
1567
Nachtlager und Kost durch M sowie 1 g zur Zehrung; Schenke durch G
L
1629
Entwurf: Nachtlager und 1 g durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge); Ehrentrunk durch G
1674
Nachtlager [und vermutlich Kost] durch M; Ehrentrunk durch G
C
1673
Nachtlager und zwei Mahlzeiten durch M (jährlicher Wechsel), dafür eine Verehrung nach Gutdünken durch G
D
1726
Kost auf Herberge bei Ankunft; Ausschenke durch G
1774
kein Geschenk (vor einigen Jahren schon)
1804
Vorschlag der Innung: 3 g Geschenk durch MM und Kost durch den umschauenden Gesellen (bei Bedürftigkeit weitere 4–8 g durch G)
1575
Nachtlager und erste Mahlzeit durch M (jährlich wechselnd); für jede weitere Mahlzeit 6 d; keine kostenfreien Getränke
Barettmacher
Buchbinder
L
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Corduanmacher
L
1669
6 g zur Kost bei der Gesellenschenke hälftig durch MM und G
1712
Nachtlager auf Herberge und 6 g Geschenk durch die gemeinsam von Meistern und Gesellen finanzierte Handwerkskasse
1738
Nachtlager durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
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Feueressenkehrer
D
1804
Nachtlager, Trunk und 16 g Geschenk durch MM (12 g) und G (4 g)
Fleischer
C
ca. 1689
1–2 g Geschenk durch MM (Beitrag der G dazu)
D
1804
Nachtlager und ein Freibier durch G
L
1696, 1715
zwei Mahlzeiten und Getränke auf Herberge [vermutlich auch Nachtlager] durch G
ca. 1810/11
Umwandlung der Naturalverpflegung zu einem Geldgeschenk (durch G finanziert)
C
1675
Nachtlager durch MM und Geschencke durch G
D
1804
4 g 6 d Geschenk durch MM (3 g) und G (1 g 6 d)
D
1747
bisher Nachtlager und Kost (durch MM?) sowie 1 g durch G; laut Ratsbeschluss sollen es fortan 3–4 g sein, dafür aber kein Gelag
1772
Nachtlager für bis zu drei Nächte auf Herberge durch MM und G
1782
4–5 g Geschenk oder entsprechend hinlängliches Eßen und Trincken
1803
Nachtlager und Kost sowie 8 g Geschenk durch G
1799
4 g Geschenk (durch MM?)
1803
4 g Geschenk (durch MM?)
1811
4 g Geschenk durch G (notfalls Zuschuss durch MM)
C (Kreislade)
1661
Nachtlager und Kost (durch MM?) sowie Gesellenschenke (2 g von jedem arbeitenden Gesellen zum gemeinsamen Vertrinken)
D
1552
1 g zu vorehrung vortriengken
1737
4 g Geschenk durch MM (2 g 6 d) und G (1 g 6 d)
1803
4 g Geschenk durch MM (1 g 9 d) und G (2 g 6 d) (3 d an den Herbergsvater für das Hinausbringen der Gesellen); bei Ankunft am Sonntag oder Feiertag zusätzlicher Trunk auf der Herberge (6 d durch jeden Gesellen)
Glaser Gürtler
L
Hutmacher
46
Marcel Korge
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Kupferschmiede
S
1557
Nachtlager und Kost durch M sowie 12 d zum Runisgroschen (d. h. vermutlich Zuschuss zur Schenke)
D
1736
kein Geschenk
1804
12 g Geschenk durch MM (9 g) und G (3 g); bei Arbeitsverweigerung nur 4 g von MM zum Geschenk
Maler
D
1620
acht oder 14 Tage Arbeit durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
Nadler
D und 8 weitere sächsische Städte
1625
Nachtlager [und Kost] sowie freundlicher Trank durch MM
D (Haupt1660 lade) und weitere Kreisladen
Nachtlager und Kost, aber in Seuchenzeiten 2 g, durch einen M (Wechsel nach fester Reihenfolge); zusätzlich Schenke von mehreren Kannen Bier durch G (notfalls durch MM)
D
1804
6 g zur Kost auf Herberge; bei Ankunft am Sonnabend nochmal 3 g für ein Mittagessen durch MM und 2 g für einen Trunk durch G
Posamen- C tierer
1783
Entwurf: Nachtlager und 2 g Zehrpfennig durch MM (1 g 6 d) und G (6 d)
D
1618
2 g zu Nachtlager und Kost durch G (bei erfolgreicher Umschau Erstattung durch M); ohne Umschau keine Unterstützung
1693/94, 1699–1701
2 g 6 d Geschenk (vermutlich durch MM und eventuell weitere 2 g 6 d durch G?)
1701
[ca. 5–6 g] Geschenk
1702–1703
2 g 6 d Geschenk (vermutlich durch MM und eventuell weitere 2 g 6 d durch G?)
1703–1715, 1733–1734
5 g Geschenk (für die Jahre 1714/15 ist die hälftige Finanzierung durch MM und G belegt)
1771
4 g Geschenk durch MM (2 g 6 d) und G (1 g 6 d)
1772
Geschenk durch MM, G und fortan auch durch Meistersöhne und Einheiratende
Juli 1811
Viaticum durch G
Juli 1812
Viaticum durch MM und G (für 2 Jahre)
1818
Geschenk durch G (notfalls Vorschuss durch MM)
L
1697
4 g zu Nachtlager und Kost durch MM (vermutlich Beteiligung der G); ohne Umschau keine Unterstützung
Z
1622
2 g Zehrpfennig durch MM
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
47
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Riemer
C
1668
Beherbergung, aber in Kriegs- und Seuchenzeiten 2 g, durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge); 2 g für das Geschencke durch G (notfalls durch MM); dazu etwas Bier und 1 g zum Essen durch G; bei Abreise noch 3 d Brot und freiwillig ein Trunk durch G
D
1804
Geschenk durch die gemeinsam von Meistern und Gesellen finanzierte Handwerkskasse
Z
1581
Nachtlager, aber in Pestzeiten 2 g zur Kost, durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge); Schenke durch G sowie 2 g zur Schenke durch 2 Gesellen (notfalls durch Lehrling oder jüngsten Meister)
L
1671
nur bei Umschau Nachtlager durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge) und Schenke durch G (maximal drei bis vier Kannen Bier)
Rotgießer Sattler
Schneider
D
1553
6 d durch G und Nachtlager durch M
L
1572
Nachtlager, 6 d und bei der Umschau zwei kandell bier
Z
1712
Nachtlager und freundlicher Trunk durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
C
1783
Entwurf: Nachtlager und 1 g 6 d Zehrpfennig durch MM (1 g) und G (6 d)
1804
Aussteuer durch MM (Zuschuss von 12 g monatlich durch G)
D
L
1736
kein Geschenk; kostenpflichtige Herberge
1775
Gelder für abreisende Gesellen durch G
1784
kein Geschenk, aber maximal 4–5 g Reisepfennig durch G
1811
bisher kein Geschenk, fortan 3 g Geschenk durch MM
1812/13
kein Geschenk, obwohl obrigkeitlich 3 g festgelegt
1745
kostenpflichtige Herberge
1804
kein Geschenk; Almosen durch städtische Armenanstalt, wohin das Handwerk einen Jahresbeitrag von 35 r zahlt
1808
Jahresbeitrag von anfangs 25 r durch MM zur städtischen Armenanstalt, wofür die Gesellen dort ein Almosen bis maximal 3 g erhalten
1811
Jahresbeitrag durch MM zur städtischen Armenanstalt, von der die Gesellen ein Almosen bis maximal 3 g erhalten; Höhe des Jahresbeitrags umstritten
48
Marcel Korge
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Schuhmacher
C
1784/85
2 g Zehrpfennig durch städtischen Armenkasten ausgegeben, Verrechnung mit MM (1 g) und G (1 g); z. T. verweigerte Finanzierung ab Johannis 1785
1804
Aussteuer durch MM
D
1730
kein Geschenk erwähnt; Altgeselle erhält einen Betrag für das Wegschaffen der Steuer Pursche (d. h. der Arbeitsunfähigen)
1737
Innung verteidigt gegenüber dem Stadtrat den Umgang der Gesellen sowie deren Bitte um einen Zehrpfennig und verweist auf den eigenen Jahresbeitrag von 8 r an die städtische Almosenkasse
ca. 1767
kein Geschenk oder Zehrpfennig
1812/13
kein Geschenk, obwohl 3 g durch G (notfalls Zuschuss durch MM) obrigkeitlich festgelegt wurden; Innung verweist auf Beitrag an die Stadtarmenkasse
L
1808, 1811
bisher kein Geschenk; nun Jahresbeitrag von anfangs 15 r durch MM zur städtischen Armenanstalt, wofür die Gesellen dort ein Almosen bis maximal 3 g erhalten
Z
16. Jh.
kostenpflichtige Herberge (eine Mahlzeit für 8 d; Bettgeld 1 d)
C
1652
Beherbergung durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
1804
3 g Zehrpfennig durch MM (2 g) und G (1 g)
1713
Beherbergung durch M, jedoch soll keiner dazu verbunden seyn
1804
bisher 2 g Geschenk durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge), fortan zusätzlich noch 1 g durch G; dazu Herberge (von MM zu 2/3 und von G zu 1/3 finanziert)
S
1685
Beherbergung durch M wie vor alters, aber keine Herbergspflicht; Abschaffung der Gesellenschenke
L
1567
Beherbergung durch M, aber keine Herbergspflicht; Abschaffung der Gesellenschenke
1710
Beherbergung durch M wie vor alters, aber keine Herbergspflicht; 14 Tage zu arbeiten geben, damit der Geselle möge ferner kommen
1806
3 g Geschenk durch MM (2 g) und G (1 g)
Seiler
D
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
Handwerk
Geltungsbereich
Strumpfwirker
C
D
Tischler (z. T. auch Büchsenschäfter)
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
1731–1747
ca. 2 g Zehrpfennig durch MM
1749, 1755
2 g zur Kost auf Herberge (hälftig durch MM und G) und Nachtlager auf Herberge (durch MM, Beitrag der G zur Herberge) (ab 1770/71 vollständig durch MM)
1795/96– 1823/24
[4 g, selten 3 g] Zehrpfennig durch MM (8–10 Taler Zuschuss durch G)
1748
3 g zur Zehrung durch MM
1767
3 g zur Zehrung laut Handwerksordnung, tatsächlich aber 2 g durch MM
1804
2 g Zehrpfennig auf Herberge bisher, zuletzt nur noch 1 g (durch MM?)
L
1807
1 g 6 d Unterstützung bisher durch G, zuletzt nichts mehr; 8 r jährlicher Beitrag durch MM zur städtischen Armenanstalt und dort Almosen (vermutlich 1 g 6 d)
1808/09
3 g Geschenk (hälftig durch MM und G)
Z
1755
1 g 6 d Zehrgeld durch G (ganz oder teilweise?)
1811/12
[ca. 2 g] Zehrpfennig
1812/13
[ca. 1 g] Zehrpfennig
1817/18
[1 g] Zehrpfennig
D
L
Tuchbereiter
Jahr der Erwähnung
49
L
1823/24
[6 d] Zehrpfennig
1681
keine freie Herberge und Kost, sondern bezahlen waß er [d. i. der Geselle] verzehret hatt
1686/87
14 Tage Arbeit durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
1694
keine freie Herberge und Kost, sondern Bettgeld (3 d von fremden und 6 d von einheimischen Gesellen)
1803, 1810
kein Geschenk
1534
14 Tage Arbeit durch M
1558
14 Tage Arbeit durch M
vor 1800
kein Geschenk
1808
Jahresbeitrag von anfangs 10 r durch MM zur städtischen Armenanstalt, wofür die Gesellen dort ein Almosen bis maximal 3 g erhalten; daneben besteht eine kostenpflichtige Herberge (1 g Schlafgeld), welche durch G (mit-)finanziert wird (Vertrag von 1810)
1710
Kost durch G (eventuell auch Beitrag durch MM)
50
Marcel Korge
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Tuchmacher
C
1811
bisher 6 d Geschenk, nun 2 g Geschenk durch MM
D
1721–1770
offiziell keine Unterstützung; z. T. 1 g Almosen (Zehrgeld oder Herbergsgeld genannt) durch MM
1735
freie Herberge durch MM
1772/73– 1790/91
freie Herberge; [1–2 g (?)] Almosen (Zehrpfennig genannt)
1804
offiziell keine Unterstützung; z. T. Almosen
1810–1813
kein Geschenk, obwohl obrigkeitlich vorgeschrieben
1813
1 g Viaticum/Aussteuer durch G (notfalls Zuschuss durch MM)
L
1804–1806
Almosen aus städtischer Armenanstalt und 3 r Jahresbeitrag durch MM dorthin
Reichenbach i. V.
17./18. Jh.
Beherbergung durch M (Geschenke genannt)
Z
1455
kein Hinweis auf Unterstützung
1646
kostenpflichtige Herberge (gemeines Bett für 1 d, Bett des Herbergsvaters für 3 d)
1706
erste Nacht kostenfrei, danach 3 d (gemeines Bett) bzw. 6 d (Bett des Herbergsvaters)
1810/11
meist 2 g Aussteuer durch G (notfalls Vorschuss durch MM)
1812/13
meist 1 g 6 d Aussteuer durch G (notfalls Vorschuss durch MM)
1813/14– 1816/17
1 g Aussteuer durch G (notfalls Vorschuss durch MM)
1817/18
[1 g] Aussteuer durch MM (wegen zu großen Fehlbetrags)
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
51
Handwerk
Geltungsbereich
Jahr der Erwähnung
Unterstützungsmaßnahmen der Handwerke für ihre ‚arbeitslosen‘ Gesellen und ggf. Hinweis auf die Zuständigkeit bzw. Finanzierung
Tuchscherer und Scherenschleifer
C, D und andere kursächsische Städte
1670
Scherenschleifergesellen: eine Verehrung durch MM; freiwillig auch Beherbergung durch M; Tuchscherergesellen: Nachtlager und 2 Mahlzeiten durch M (ggf. freiwillig ein bis zwei weitere Nächte Beherbergung)
D
1804
4 g Geschenk durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge) und 2 g von jedem arbeitenden Gesellen sowie Bier, Tabak und Brandwein durch G
L
1804
6 g Unterstützung durch die gemeinsam von Meistern und Gesellen finanzierte Handwerkskasse
S
1541
Nachtlager und 2 Mahlzeiten durch M (ggf. freiwillig ein bis zwei weitere Nächte Beherbergung)
1554, 1587
Scherenschleifergesellen: eine Verehrung durch MM, kostenpflichtiger Gasthof oder durch M freiwillige Beherbergung; Tuchscherergesellen: Nachtlager und 2 Mahlzeiten durch M (ggf. freiwillig ein bis zwei weitere Nächte Beherbergung)
Wagner (z. T. auch Stellmacher) Zeugund Leineweber Zimmerer
Zinngießer
D
1550
9 d zur Kost durch G; Schenke durch G
1804
Vorschlag der Zunft: 3 g Zehrpfennig durch G und freie Herberge
S
1555
erste Mahlzeit durch M; 9 d zur Kost durch G
C
1715– 1780/81
Zehrpfennig (teilweise Almosen genannt) durch MM, mutende Gesellen und spätestens seit 1737 auch G
1781/82
[1 g 6 d] Zehrpfennig (davon 9 d durch MM, darunter auch Gebühren mutender Gesellen, und 9 d durch G)
C
1653
Herberge bei einem Meister mit eigenem Haus
D
1579, 1612
Herberge bei einem Meister mit eigenem Haus; ist keine Arbeit vorhanden, muss man den Gesellen nicht länger beherbergen
1804
2 g Zehrpfennig durch G (bei Bedarf MM)
Z
1766
Entwurf: Zehrpfennig (vor allem für Arbeitsunfähige) durch G (teilweise oder ganz?)
L
1715
Nachtlager und Kost durch M (Wechsel nach fester Reihenfolge)
52
Marcel Korge
Quellen zum Anhang Stadtarchiv Chemnitz – H 01, Nr. 238 (Rechnungsjahr 1735/36 bis Rechnungsjahr 1746/47), Nr. 240, Nr. 241, Nr. 242, Nr. 406, Nr. 407, Nr. 409, Nr. 410, Nr. 411, Nr. 412. – RA, IX Aa, Nr. 3a, Bl. 61, 76b–77, 92, 94b–96, 124, 129, 152b, 195b, 213b–215b, 225b, 290–293, Nr. 9, Bl. 13–13b; RA, IX Pb, Nr. 7, Bl. 44; RA, IX Se, Nr. 8, Bl. 35; RA, IX Sg, Nr. 14, Bl. 1b, 8, 9 und unpag. (Schreiben vom 12.09.1785); RA, IX Sm, Nr. 1, Bl. 28–28b, Nr. 7, Bl. 4, 14b, 17, 18, 33b; RA, IX Tc, Nr. 38a, unpag. (Schreiben vom 05.03.1811); RA, IX Za, Nr. 75, Bl. 74b, 131b, 164–164b u. ö.
Stadtarchiv Dresden – 11.1.4, Nr. 6; 11.2.2, Nr. 103; 11.2.9, Nr. 30, unpag. (Schreiben vom 18.04.1774); 11.2.25, Nr. 2, Bl. 1–1b, 4b, Nr. 33, Bl. 44b–45, Gürtler-Dep. Nr. 7, unpag. (Kontrakt vom 02.08.1772); 11.2.46, Nr. 75 f., unpag. (Handwerksbeschluss vom 15.06.1772), Nr. 75 g, [6, 7], Nr. 75h, Bl. 96, 102b, 104, 107, Nr. 75k, Bl. 30, 109b, 112, 113, 134b–135, Nr. 75 m, 16 und Bl. 51–52, 53b–54b, 56–56b, 58b–59b, 60b–62 sowie unpag. (Abrechnung zum Quartal vom 08.10.1707), Nr. 75n, unpag. (Abrechnungen zu den Quartalen vom 04.06.1714, vom 17.09.1714, vom 17.12.1714 u. ö.), Nr. 75o, unpag.; 11.2.54, Nr. 27, Bl. 3b, Nr. 147, Bl. 1–6, 10, 12; 11.2.56, Nr. 264f, Bd. I, unpag. (Nr. 24), Nr. 264f, Bd. IV, unpag. (Nr. 63), sowie Schuhmacher-Dep. Nr. 16, unpag. (Kurtze Erinnerungen zu denen General-Articuln); 11.2.59, Nr. 2, Bl. 9; 11.2.62, Nr. 20b, unpag. (Registratur vom 08.05.1767); 11.2.64, Tischler-Dep. Nr. 2, unpag. (Gesellenartikel von 1681 und Gesellenartikel vom 25.07.1694), Tischler-Dep. Nr. 14, unpag. (Nr. 5), Tischler-Dep. Nr. 15, unpag. (Nr. 33); 11.2.66, Nr. 37, Bl. 17b, Nr. 71v, unpag., Nr. 71w, unpag. – RA, C. VI, Nr. 15b, 30, Nr. 30, Bl. 19b–20b, 45b–46, 47b–48b; RA, C. XVII, Nr. 38, Bl. 23; RA, C. XXIV, Nr. 110, Bl. 9–22, 38, 39–40, 42–49, 61–62, 69, 72–73, 76–79, 80–82, 92–93, 94–103, 144, 145b, 150–151, 167–171b, 177–177b, 206, Nr. 120, Bl. 1, 2, 3b, 6–6b, 8–11b, 26b, 29–30, Nr. 216c, Bd. 1, Bl. 12b, 24b, 29, 53, 61b–62, 132–132b, 234, Nr. 216c, Bd. 2, Bl. 266b–269, Nr. 216c, Bd. 4, Bl. 25b, 73b–74, 390b–398.
Stadtarchiv Leipzig – Handwerksinnungen Corduanmacher B 1, Bl. 97b, 137b, 153; Fleischer A 2; Gürtler B 4, Bl. 60b, 67b und B 5; Seiler A 6, Bl. 3, 6 und A 28, Bl. 1–2b; Tischler C 6 und C 10, Bl. 1–6; Tuchbereiter C 1, Bl. 4b. – II. Sektion A Nr. 325, Bl. 1–2, 5–5b, 9b–10, 14, 15, 18, 19; II. Sektion P Nr. 163, Bl. 3–4; II. Sektion S Nr. 2380, Bl. 37. – Tit. VIII Nr. 334, 1745, Teil 1, Paket 1, Bl. 82b; Tit. LXII–I Nr. 10, Bl. 60b–61b, 68b, 80–87b; Tit. LXIV Nr. 129, Bl. 5b–6 und Nr. 322, Bl. 30b, 33b.
Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld
53
– Zunftbuch I, Bl. 103–103b, 108, 206b–208, 217b–218, 272–273b; Zunftbuch II, Bl. 482b; Zunftbuch III, Bl. 96–96b, 119–119b, 153–153b, 294, 350–350b, 355, 376b–377, 379, XX–XXI.
Stadtarchiv Zwickau – IIIx1, Nr. 141b, Bl. 73b–75. – X, 1, 14, Bl. 98b; X, 1, 15, Bl. 59b–60; X, 1, 17, Bl. 83–83b; X, 23, 2, Bl. 2b, 5; X, 27, 24, Bl. 43b–44; X, 33, 3b, Bl. 8b–11; X, 33, 3 f., Bl. 5b; X, 41, 26, Bl. 1b; X, 45, 20, unpag.; X, 46, 17, unpag. (Konfirmation der Handwerksartikel vom 26.05.1755); X, 46, 21, Bd. V; X, 46, 33, Einnahmen und Ausgaben 1811/12; X, 49, 124, Bl. 8b–9; X, 49, 128, Rechnungen 1810/11–1828/29; X, 50, 14, unpag. (Artikel 16); X, 50, 15, unpag. (Artikel 13 und 17); X, 54, 9, Bl. 4b.
Weitere Quellen Birch-Hirschfeld: Holzverarbeitende Gewerbe, 67; Eberwein: Bäckerzunft, 42; Kind: Fleischerei, 7 f.; Albin Kutschbach: Geschichte der Tuchscherer-Innung in Leipzig, Leipzig 1931, 44 f.; Martin Herbert Pönicke: Die Geschichte der Tuchmacherei und verwandter Gewerbe in Reichenbach i. V. vom 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts, Diss. Leipzig 1929, 20; Fritz Troitzsch (Hg.): Die alten Zunftrollen der Geraer und Leipziger Seilerinnungen, Berlin [1913], 24; Zöllner: Fleischhauer, 226.
Zur Person: Marcel Korge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften und forscht schwerpunktmäßig zu folgenden Themen: Sozialgeschichte der Medizin, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Stadt- und Handwerksgeschichte. Dr. Marcel Korge Universität Leipzig, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Käthe-Kollwitz-Straße 82, 04105 Leipzig, Deutschland [email protected]
Reformation, Konfessionalisierung und Region Eine Nachlese zum Reformationsjubiläum Mark Häberlein Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 54–120
Reformation, Confessionalization and Region A Review of the ‘Anniversary Literature’ Kurzfassung: Der 500. Jahrestag des Beginns der Reformation im Jahre 1517 führte zu einer wahren Flut an neuen Monographien, Sammelbänden und Ausstellungskatalogen. Der Beitrag sichtet die seit 2015 erschienene Literatur auf ihren regionalgeschichtlichen Ertrag hin. Obwohl sich viele Buchtitel auf die Person Martin Luthers beziehen, macht die Lektüre deutlich, dass auf regionaler Ebene häufig andere Akteure die entscheidenden Impulse gaben und dass die Ausprägung der Reformation an bestimmten Orten von spezifischen Konstellationen und Kräfteverhältnissen abhing. Außerdem fällt auf, dass die zeitliche Grenze zwischen dem ‚Zeitalter der Reformation‘ und dem ‚konfessionellen Zeitalter‘ zunehmend verschwimmt, da die Einführung und Durchsetzung der Reformation – oder auch deren Scheitern, wie im Hochstift Würzburg unter Julius Echter – vielerorts bis ins späte 16. oder sogar ins 17. Jahrhundert hinein andauerte. Schlagworte: Reformation – Konfessionalisierung – evangelische Theologen – Fürsten – Rekatholisierung – lokale und regionale Entwicklungen Abstract: The 500th anniversary of the beginnings of the Protestant Reformation in 1517 resulted in a veritable flood of new monographs, collections of essays, and exhibition catalogues. This essay reviews the literature which has been published since 2015, paying particular attention to its contributions to regional history. Although many book titles refer to the person of Martin Luther, closer inspection shows that other actors often gave the decisive impulses on the regional level, and that the shape which the Reformation took in particular places was depending on specific constellations and power relations. Moreover, it is remarkable that the boundary between the ‘age of the Reformation’ and the ‘confessional age’ is becoming increasingly porous, as the introduction and imposition of the Protestant Reformation – or its failure, as in the prince-bishopric
Reformation, Konfessionalisierung und Region
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of Würzburg under Julius Echter – frequently continued into the late sixteenth or even into the seventeenth century. Keywords: Reformation – confessionalization – Protestant theologians – princes – re-Catholicization – local and regional developments
Zugleich eine Besprechung der folgenden Werke: Thomas Eser, Stephanie Armer (Hg.): Luther, Kolumbus und die Folgen. Welt im Wandel 1500–1600, Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2017, 312 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-946217-06-0), 36,00 EUR. wartburg-Stiftung Eisenach (Hg.): Luther und die Deutschen. Begleitband zur Nationalen Sonderausstellung auf der Wartburg, 4. Mai – 5. November 2017, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 356 S., 12 s/w- u. 397 farb. Abb., (ISBN 978-3-7319-0360-4), 14,99 EUR. Jutta Carrasco, Reinhard Neebe: Luther und Europa. Wege der Reformation und der fürstliche Reformator Philipp von Hessen (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 30), Marburg: Hessisches Staatsarchiv 2015, 128 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-88964-215-8), 14,90 EUR. Kirsten Baumann, Joachim Krüger, Uta Kuhl (Hg.): Luthers Norden, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 320 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-7319-0414-4), 29,95 EUR. Frank-Lothar Kroll, Glyn Redworth, Dieter J. Weiss (Hg.): Deutschland und die britischen Inseln im Reformationsgeschehen. Vergleich, Transfer, Verflechtungen (Prinz-AlbertStudien 34/Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns 97), Berlin: Duncker & Humblot 2018, X, 351 S., 23 s/w- u. 34 farb. Abb., (ISBN 978-3-428-15409-8), 71,90 EUR. Joachim Bahlcke, Beate Störtkuhl, Matthias Weber (Hg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte – Kultur – Erinnerung (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 64), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, 379 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-11-050159-9), 29,95 EUR. Ingė Lukšaitė: Die Reformation im Großfürstentum Litauen und in Preußisch-Litauen (1520er Jahre bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts). Übersetzt von Lilija Künstling und Gottfried Schneider, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2017, 662 S., (ISBN 978-3-96023-064-9), 49,00 EUR. Wolfgang Breul, Kurt Andermann (Hg.): Ritterschaft und Reformation (Geschichtliche Landeskunde 75), Stuttgart: Steiner 2019, 374 S., (ISBN 978-3-515-12258-0), 63,00 EUR. Werner Greiling, Armin Kohnle, Uwe Schirmer (Hg.): Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 464 S., Abb., (ISBN 978–3412501532), 55,00 EUR. Martin Sladeczek: Vorreformation und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen – Stiftungswesen – Kirchenbau – Kirchenausstattung (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 9), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2018, 720 S., 72 s/w- u. farb. Abb., (ISBN 978-3-412-50810-4), 100,00 EUR. Enno Bünz, Werner Greiling, Uwe Schirmer (Hg.): Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der
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Reformation 6), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2017, 461 S., zahlr. s/w-Abb., (ISBN 978-3-41250807-4), 60,00 EUR. Wolfgang Günter: ReformundReformation.GeschichtederdeutschenReformkongregation der Augustinereremiten (1432–1539) (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 168), Münster: Aschendorff 2018, 605 S., (ISBN 978-3-402-11601-2), 78,00 EUR. Siegfried Bräuer, Günter Vogler: Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016, 542 S., zahlr. s/w- u. farb. Abb., (ISBN 978-3-57908-229-5), 58,00 EUR. Joachim Bauer, Michael Haspel (Hg.): Jakob Strauß und der reformatorische Wucherstreit. Die soziale Dimension der Reformation und ihre Wirkungen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 320 S., 61 s/w-Abb., (ISBN 978-3-374-05150-2), 29,00 EUR. Armin Kohnle, Manfred Rudersdorf unter Mitarbeit von Marie Ulrike Jaros (Hg.): Die Reformation. Fürsten – Höfe – Räume (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 42), Stuttgart: Steiner 2017, XII, 497 S., 64 s/w-Abb., (ISBN 978-3-515-11983-2), 82,00 EUR. Doreen von Oertzen Becker: Kurfürst Johann der Beständige und die Reformation (1513– 1532). Kirchenpolitik zwischen Friedrich dem Weisen und Johann Friedrich dem Großmütigen (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 7), Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 2017, 541 S., (ISBN 978-3-412-50808-1), 70,00 EUR. Jean-Yves Mariotte: Philipp der Großmütige von Hessen (1504–1567). Fürstlicher Reformator und Landgraf (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2018, 301 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-94222540-3), 28,00 EUR. Markus Cottin, Holger Kunde (Hg.): Dialog der Konfessionen. Bischof Julius Pflug und die Reformation. Ausstellungskatalog im Auftrag der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 577 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN: 978-3-7319-0413-7), 49,95 EUR. Enno Bünz, Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann (Hg.): Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 20), Berlin: Lukas 2017, 455 S., 45 s/w-Abb., (ISBN 978-3-86732-265-2), 40,00 EUR. Peter Wolf, Evamaria Brockhoff, Fabian Fiederer, Alexandra Franz, Constantin Groth (Hg.): Ritter, Bauern, Lutheraner. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2017. Veste Coburg und Kirche St. Moriz, 9. Mai bis 5. November 2017 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 66), Stuttgart: Theiss 2017, 392 S., 360 farb. Abb., (ISBN 978-3-8062-3496-1), 29,95 EUR. Hubertus Seibert (Hg.): Bayern und die Protestanten, Regensburg: Pustet 2017, 320 S., zahlr. s/w- u. farb. Abb., (ISBN 978-3-7917-2867-4), 34,95 EUR. Andreas Gössner: Evangelisch in München. Spuren des Protestantismus von der Reformationszeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Kleine Münchner Geschichten), Regensburg: Pustet 2017, 136 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-7917-2851-3), 12,95 EUR. Peter Rückert (Hg.): Freiheit – Wahrheit – Evangelium. Reformation in Württemberg. 2 Bde., Ostfildern: Thorbecke 2017, 752 S., 1 CD-ROM, zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-7995-1235-0), 55,00 EUR. Michael Matheus (Hg.): Reformation in der Region. Personen und Erinnerungsorte (Mainzer Vorträge 21), Stuttgart: Steiner 2018, 212 S., 38 s/w- u. 13 farb. Abb., (ISBN 978-3-515-12045-6), 44,00 EUR.
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Michael Henker, Markus Nadler, Michael Teichmann, Roland Thiele, Winfried Dier (Hg.): FürstenMacht & wahrer Glaube – Reformation und Gegenreformation. Das Beispiel Pfalz-Neuburg, Regensburg: Pustet 2017, 452 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-37917-2866-7), 25,00 EUR. Dietmar Schiersner (Hg.): Familiensache Kirche? Die Fugger und die Konfessionalisierung (Materialien zur Geschichte der Fugger 8), Augsburg: Wissner 2016, 128 S., 11 s/w- u. 11 farb. Abb., (ISBN 978-3- 95786-072-9), 14,80 EUR. Arnd Reitemeier: Reformation in Norddeutschland. Gottvertrauen zwischen Fürstenherrschaft und Teufelsfurcht, Göttingen: Wallstein 2017, 437 S., (ISBN 978-3-8353-1968-4), 59,90 EUR. Susanne Tauss, Ulrich Winzer (Hg.): Miteinander leben? Reformation und Konfession im Fürstbistum Osnabrück 1500 bis 1700. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung vom 3. bis 5. März 2016 (Kulturregion Osnabrück 31), Münster/New York: Waxmann 2017, 417 S., zahlr. Abb., (ISBN 978-3-8309-3600-8), 59,00 EUR. Andreas Lange, Lena Krull, Jürgen Scheffler (Hg.): Glaube, Recht und Freiheit. Lutheraner und Reformierte in Lippe (Schriften des Städtischen Museums Lemgo 18), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2017, 408 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-7395-1118-4), 24,00 EUR. Rudolf Gamper: Joachim Vadian 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich: Chronos 2017, 392 S., 200 s/w-Abb., (ISBN 978-3-0340-1405-2), 48,00 EUR. Rita Binz-Wohlhauser: Katholisch bleiben? Freiburg im Üchtland während der Reformation (1520–1550), Zürich: Chronos 2017, 287 S., (ISBN 978-3-0340-1401-4), 48,00 EUR. Julia Zech: Reformation als Herausforderung. Konflikte und Alltag des Superintendenten Jacob Jovius im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1569–1585 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 50), Göttingen: V&R unipress 2018, 494 S., 1 CD-ROM, 20 s/w-Abb., (ISBN 978-3-8471-0821-4), 70,00 EUR. Chang Soo Park: Luthertum und Obrigkeit im Alten Reich in der Frühen Neuzeit. Dargestellt am Beispiel des Tilemann Heshusius (1527–1588) (Historische Forschungen 109), Berlin: Duncker & Humblot 2016, 680 S., (ISBN 978-3-428-14737-3), 99,90 EUR. Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte (Hg.): Konfession, Politik und Gelehrsamkeit. Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit 11), Stuttgart: Steiner 2017, 280 S., (ISBN 978-3-515-11605-3), 52,00 EUR. Wolfgang E. J. Weber: Luthers bleiche Erben. Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts, Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, VII, 234 S., 16 s/wAbb., (ISBN 978-3-11-054681-1), 29,95 EUR. Rainer Leng, Wolfgang Schneider, Stefanie Weidmann (Hg.): Julius Echter. Der umstrittene Fürstbischof. Eine Ausstellung nach 400 Jahren. Katalog zur Ausstellung vom 23. Juni bis 17. September 2017 im Museum am Dom Würzburg, Würzburg: Echter 2017, 384 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-429-04326-1), 29,00 EUR. Wolfgang Weiss (Hg.): Fürstbischof Julius Echter (†1617) – verehrt, verflucht, verkannt. Aspekte seines Lebens und Wirkens anlässlich des 400. Todestages (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Hochstifts Würzburg 75), Würzburg: Echter 2017, 767 S., zahlr. s/w- u. farb. Abb., (ISBN 978-3-429-04371-1), 59,00 EUR. Wolfgang Weiss (Hg.): Landesherrschaft und Konfession. Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (reg. 1573–1617) und seine Zeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Hochstifts Würzburg 76), Würzburg: Echter 2018, 389 S., zahlr. s/w- u. farb. Abb., (ISBN 9783-429-04448-0), 39,00 EUR.
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Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, 2 Bde., Paderborn u. a.: Schöningh 2015, 1.485 S., (ISBN 978-3-50677980-9), 173,00 EUR.
Historische Jubiläen werden zwar schon seit geraumer Zeit von einer großen Zahl einschlägiger Ausstellungen, Tagungen, Rundfunk- und Fernsehbeiträge, Festveranstaltungen, Zeitschriften- und Buchpublikationen flankiert, doch die 500. Wiederkehr von Martin Luthers Thesenveröffentlichung, die gemeinhin als Auftakt zur Reformation gilt, sprengte in dieser Hinsicht den gewohnten Rahmen. Nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland bereits 2009 die ‚Reformationsdekade‘ ausgerufen hatte, fand unter jährlich wechselnden Leitthemen eine Vielzahl von Sonderausstellungen und Fachtagungen statt, die im ‚Lutherjahr 2017‘ kulminierten. Im Vorfeld des Jubiläums erschienen zahlreiche neue Werke zu Leben, Werk und Wirkung des Reformators für unterschiedliche Leserkreise,1 neue Gesamtdarstellungen der Reformationsgeschichte,2 aber auch Spezialstudien zu problematischen und umstrittenen Einzelaspekten wie Luthers Verhältnis zu Juden und Hexen.3 Nachdem Matthias Pohlig den aktuellen Stand der reformationsgeschichtlichen Forschung an anderer Stelle ausführlich resümiert hat,4 konzentriert sich der folgende Literaturbericht einerseits auf die Begleitpublikationen zu einigen großen Jubiläumsausstellungen, die häufig Bezüge zwischen Ausstellungsort und Reformationsgeschehen herstellen; andererseits werden Publikationen der Jahre 2015 bis 2018 besprochen, die aus dezidiert regionaler Perspektive Genese, Entwicklung und Auswirkungen der
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Aus der Vielzahl neuerer Publikationen seien hier nur diejenigen herausgegriffen, die besondere Resonanz fanden. Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 4. Aufl., München 2016; Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt a. M. 2016; Volker Leppin: Martin Luther, 3. Aufl., Darmstadt 2017. Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016; Carlos M. N. Eire: Reformations. The Early Modern World, 1450–1650, New Haven/London 2016; Andrew Pettegree: Brand Luther. How an Unheralded Monk Turned His Small Town into a Center of Publishing, Made Himself the Most Famous Man in Europe – and Started the Protestant Reformation, New York 2015; Ulinka Rublack (Hg.): The Oxford Handbook of Protestant Reformations, Oxford 2017. Thomas Kaufmann: Luthers Juden, Stuttgart 2014; Markus Hirte (Hg.): „Mit dem Schwert oder festem Glauben“. Luther und die Hexen (Kataloge des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber 1), Darmstadt 2017. Matthias Pohlig: Jubiläumsliteratur? Zum Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017. In: Zeitschrift für Historische Forschung 44 (2017), 213–274. Pohlig charakterisiert das Reformationsjubiläum treffend als „multiperspektivisches Geschehen, dessen Amplitude von wissenschaftlicher Seriosität bis zu touristischem Merchandising reicht“ (214), und postuliert, „dass die wissenschaftliche Erforschung des Reformationsgedenkens ein Antidot zu einer allzu unverhohlenen Vergegenwärtigung Luthers und der Reformation darstellen sollte – nicht im Sinne einer ‚objektiven‘ Historie, aber doch im Sinne der Herstellung von historischer Distanz“ (217). Ferner konstatiert er sowohl eine zunehmende Internationalisierung als auch eine fortschreitende Fragmentierung und „kumulative Pluralisierung der Reformationsforschung“ (220).
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Reformation in Mitteleuropa thematisieren. Die Beobachtung, dass sich die Reformation „an spezifischen Orten und mit spezifischen Akteuren“ ausprägte,5 findet ihren Widerhall in zahlreichen Monographien und Sammelbänden, die einzelne Territorien, Regionen und Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellen. Angesichts der einschüchternden Fülle einschlägiger Publikationen kann freilich auch unter diesen Prämissen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. I. Deutsche und europäische Perspektiven Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg wandte sich dem Reformationsjubiläum unter einer geographisch wie thematisch sehr weit gefassten Perspektive zu: Unter dem Titel „Luther, Kolumbus und die Folgen“ widmete sich seine Sonderausstellung den durch Reformation, geographische Entdeckungen und neue wissenschaftliche Theorien eingeleiteten Veränderungen und deren Bewältigung durch die Menschen des 16. Jahrhunderts. Im begleitenden Katalogband gehen die Herausgeber Thomas Eser und Stephanie Armer sowie die Autorinnen und Autoren allerdings auf Distanz zu klassischen Meistererzählungen eines europäischen Aufbruchs in die Neuzeit und betonen stattdessen die Ambivalenzen, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche dieses Wandels. Thomas Kaufmann zufolge ging es Luther um die Wiederherstellung der „gottgewollte[n] Schöpfungsordnung am Ende der Zeiten“ (12); der Reformator nahm von den iberischen Entdeckungsfahrten nur sporadisch Notiz und interessierte sich vor allem deswegen für Nachrichten über Juden und Muslime, „um sie wirkungsvoller bekämpfen zu können“ (ebenda). Kim Siebenhüner bezeichnet Luther angesichts seiner wirtschaftsethischen Schriften als „Konsumkritiker“ (31), der der Faszination seiner Zeitgenossen für außereuropäische Objekte und Genussmittel wenig abgewinnen konnte. Alessandro Scafi beschreibt, wie Luther das Paradies von der Erde verbannte, indem er postulierte, dass es durch die Sintflut zerstört worden sei. Andreas Kühne betont, dass Nikolaus Kopernikus seine bahnbrechenden astronomischen Einsichten im ermländischen Frauenburg fernab der Kommunikations- und Medienzentren des 16. Jahrhunderts formulierte, und weist darauf hin, dass der Biblizismus des lutherischen Protestantismus und seine Ablehnung des mittelalterlichen Disputationswesens die Rezeption des heliozentrischen Weltbildes verzögert hätten (42). Zugleich machen die Katalogbeiträge von Marina Rieß zu frühen mitteleuropäischen Kunstkammern, von Stephanie Armer zur empirischen, auf Augenschein und Autopsie beruhenden Naturforschung sowie von Thomas Eser zur „kulturellen Gelegenheit“ des 16. Jahrhunderts die Vielfalt neuer Ordnungs-, Klassifikations- und Forschungsansätze deutlich. Die Ausstellung selbst bot einerseits eine kunst- und kultur5
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historische ‚Leistungsschau‘, in der die Globen Martin Behaims und Johann Schöners als Prunkstücke des Museums ebenso wenig fehlen durften wie Weltkarten, illustrierte Reiseberichte, Kunstkammerobjekte oder der Hortus Eystettensis als Spiegel einer „neue[n] globale[n] und universale[n] Weltsicht“ (226). Andererseits warfen Einblattdrucke, Schaustellerzettel, Bruchstücke von Skulpturen, die Bilderstürmen zum Opfer gefallen waren, Schreibkalender, Verhörprotokolle und Chroniknotizen Schlaglichter auf die mediale und soziale Breitenwirkung der Veränderungen am Beginn der Neuzeit – Vorführungen außereuropäischer Menschen und Tiere, Manifestationen der Türkenfurcht, Wunderzeichenberichte, Diffamierungen des konfessionellen Gegners, aber auch die Suche nach einem irenischen Mittelweg zwischen den Konfessionen. Der Schluss der Ausstellung beleuchtete die mentalen Folgen der ‚kleinen Eiszeit‘, insbesondere die Verbreitung des Hexenglaubens. Unter dem Titel „Luther und die Deutschen“ widmete sich eine nationale Sonderausstellung auf der Wartburg dem Wirkungskreis sowie der Wirkungsgeschichte des Reformators. Während die ältere Forschung in der Reformation einen ‚deutschen Geist‘ am Werk sah, betont die – im Begleitband prominent vertretene – neuere Reichsgeschichte den spezifischen Zusammenhang zwischen Luthers Wirken und der Situation von Kaiser und Reich am Beginn des 16. Jahrhunderts. So verweist Enno Bünz auf den überschaubaren geographischen und politischen Radius, in dem Luther sich zeitlebens bewegte, sowie das Spannungsverhältnis zwischen Herrschaft und Genossenschaft in den Territorien des Reiches um 1500. Georg Schmidt argumentiert, dass von der Reformation eine „neue Sicht auf die alte Reichsverfassung“ (34) ausging, indem sich die evangelischen Fürsten mit dem Kaiser auf eine Stufe stellten. „Die Reformation“, so Schmidt, „kettete sich aufgrund der obrigkeitlichen und reichsrechtlichen Garantie an Kaiser und Reich“ (ebenda). Eike Wolgast zufolge führte die Protestation der evangelischen Stände 1529 mit der Berufung auf Seelenheil und Gewissen sowie der Konstituierung als Konfessionsgruppe „neue Elemente in die Reichspolitik“ ein (40), während die Territorien zu Konfessionsräumen umgestaltet wurden. Siegrid Westphal zeigt, dass der Dreißigjährige Krieg zwar zeitgenössisch als Religionskrieg wahrgenommen wurde, heute aufgrund seiner „multikausalen Ursachen“ (44) aber kaum als solcher charakterisiert werden kann. Dietmar Willoweit zufolge schufen Westfälischer Frieden und Reichsrecht die Grundlagen eines spezifisch deutschen Weges zu Mehrkonfessionalität und Toleranz, an den sich die historischen Akteure freilich in einem langen Lernprozess gewöhnen mussten. Das „neue Bild vom Alten Reich“, das sich in diesen Beiträgen spiegelt, habe sich, wie Joachim Whaley (selbst-) kritisch anmerkt, allerdings „noch nicht in der Öffentlichkeit durchgesetzt“ (18). Eine weitere Gruppe von Beiträgen widmet sich Luthers Theologie und seinem Verhältnis zu anderen Gruppen und Gemeinschaften. Volker Leppin zeigt, wie sich der Reformator Impulse aus der mittelalterlichen Tradition aneignete und diese sukzessive transformierte. In seiner Adelsschrift von 1520 verknüpfte er demnach „nationale Ideen der Humanisten, traditionelle Kirchenkritik und die eigene theologische
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Grundorientierung zu einer hochexplosiven Mischung“ (159). Jens Haustein behandelt Entstehung und Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung, während Thomas Kaufmann Genese und Wirkungen der anti-päpstlichen, anti-türkischen und antijüdischen Feindbilder Luthers nachgeht. Die Intensität dieser Feindbilder erklärt er damit, dass „Luthers Wahrnehmung von Papst, Juden und Türken […] apokalyptisch grundiert“ war (170). Die „Spielarten des Protestantismus neben und nach Luther“ – Karlstadt, Müntzer, Zwingli, Calvin und die Täufer – skizziert Anselm Schubert. Den Schwerpunkt der Ausstellung bildete indessen die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Reformation: Die einschlägigen Beiträge widmen sich der Idealisierung von Luthers Ehe- und Familienleben (Christoph Spehr) sowie des evangelischen Pfarrhauses als Hort der Bildung und Kultur (Klaus Fitschen); den Impulsen auf das Bildungswesen (Konrad Hammann); der „eklektischen […] Heroisierung Luthers“ (194) zwischen Aufklärung und Romantik (Albrecht Beutel); der Konstruktion eines Nationalhelden durch Theologen, Philosophen und Historiker im 19. Jahrhundert ( Joachim Bauer); der Luther-Rezeption in Wilhelminismus und Nationalsozialismus (Gunther Mai) sowie Lutherbildern im geteilten Deutschland (Martin Greschat, Siegfried Bräuer). Die Lektüre macht einerseits deutlich, dass sich jede Zeit – abhängig von politischen, intellektuellen und ideologischen Strömungen und Konjunkturen – ihr eigenes Lutherbild schuf; andererseits unterstreicht sie die Wirkmächtigkeit und Langlebigkeit der Wahrnehmung Luthers als heroische, Papst und Kaiser die Stirn bietende Kämpfernatur, hinter der die theologischen Anliegen und Botschaften häufig zu verschwinden droh(t)en. Dieser Eindruck verfestigt sich in den Beiträgen über die Transformation der Wartburg zum deutschen Nationalmonument und Erinnerungsort (Petra Schall und Hilmar Schwarz, Jutta Krauß, Grit Jacobs), zum maßgeblich von der Wittenberger Cranach-Werkstatt geprägten Luther-Porträt (Günter Schuchardt) sowie zum Luther-Bild in Musik (Christiane Wiesenfeldt), historischer Belletristik (Martina Fuchs) und Spielfilm (Esther P. Wipfler). Seit dem Lutherjubiläum 1883 wurden auch zahlreiche evangelische Kirchen nach dem Reformator benannt (G. Ulrich Großmann). Der durch Reflexionen zum Stellenwert der Lutherbibel unter den deutschen Bibelübersetzungen (Christoph Kähler), zum Lutherbild der katholischen Kirche (Peter Walter), zu christlichen Glaubensgemeinschaften im heutigen Deutschland (Walter Fleischmann-Bisten) und zu Luthers Platz im kulturellen Gedächtnis ( Johannes Schilling) abgerundete Band bietet somit nicht nur ein differenziertes Bild des historischen Luther, sondern auch reiches Anschauungsmaterial für die Beschäftigung mit seiner Rezeption. Ein ebenfalls zum Reformationsjubiläum erschienener Tagungsband über „Lutherbilder“ und „Lutherprojektionen“, der einen Bogen von
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lutherischer Orthodoxie und katholischer Kontroversliteratur bis zum historischen Spielfilm schlägt, ermöglicht die Vertiefung dieses Themas.6 Der schmale Begleitband zur hessischen Wanderausstellung „Luther und Europa“ rückt die europäischen Dimensionen der Reformation ins Zentrum. Der für ein breiteres Publikum konzipierte Band zeichnet in knappen Texten, die von zahlreichen Karten, Abbildungen und Quellenzitaten begleitet werden, Grundlinien der Reformationsgeschichte nach. Besonderes Augenmerk richtet er auf Hessen als frühes Beispiel einer territorialen Reformation, Vorreiter im Bereich des höheren evangelischen Bildungswesens und Bindeglied zwischen den lutherischen und zwinglianisch-oberdeutschen reformatorischen Strömungen. Prägnante Schlaglichter wirft er auf die europäischen Dimensionen der Konfessionspolitik des Landgrafen Philipp von Hessen, der 1533 König Christian III. von Dänemark zur Einführung der Reformation in seinem Reich riet (100), im folgenden Jahr Herzog Albrecht von Preußen einen Mittelweg zwischen lutherischer und zwinglianischer Lehre empfahl (88) und sich 1543 gemeinsam mit Johann Friedrich von Sachsen an den Senat der Republik Venedig wandte, „um die Freilassung des von der Inquisition bedrohten ehemaligen Franziskanermönchs Baldo Lupetino zu erwirken“ (99). In diesen europäischen Kontext gehören auch die führende Rolle des Südfranzosen Franz Lambert von Avignon bei der Reformation in Hessen (55–57) oder der Umstand, dass einer von dessen Schülern, Patrick Hamilton aus St. Andrews, 1528 als erster protestantischer Märtyrer in Schottland starb (101). Der Begleitband zu der zwischen Mai 2017 und Januar 2018 im Pommerschen Landesmuseum Greifswald und anschließend auf Schloss Gottorf in Schleswig präsentierten Ausstellung „Luthers Norden“ thematisiert das Reformationsgeschehen und seine Auswirkungen im südlichen Ostseeraum. Obwohl Luther nie in dieser Region gewesen ist, fasste die evangelische Bewegung dort frühzeitig Fuß, und ihr Einfluss erwies sich als besonders nachhaltig. Die starke Prägung der dänischen Monarchie sowie der Herzogtümer Schleswig, Holstein, Mecklenburg und Pommern durch die reformatorische Lehre ist einerseits dem Wirken von Luthers Mitstreiter Johannes Bugenhagen als Kirchenorganisator und Bibelübersetzer (ins Niederdeutsche), andererseits der Initiative von Herrschern wie den dänischen Königen Friedrich I. und Christian III. oder den pommerschen Herzögen Barnim IX. und Philipp I. zuzuschreiben. Die Fürsten sind es denn auch, die in mehreren Beiträgen als die großen Gewinner der Reformation im Norden angesprochen werden. Der Katalogband gliedert sich in acht Sektionen. In der I. Sektion skizziert die Mitherausgeberin Uta Kuhl „Kirchliches Leben vor der Reformation“, wobei sie die späte Christianisierung des Ostseeraums sowie die Intensivierung privater Frömmigkeit um 1500 hervorhebt. Unter der Überschrift „Die politische Welt“ (II.) charakterisiert Olaf
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Andreas Holzem, Volker Leppin (Hg.): Martin Luther: Monument, Ketzer, Mensch. Lutherbilder, Lutherprojektionen und ein ökumenischer Luther, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2017.
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Mörke das System des Heiligen Römischen Reiches um 1520, während Jens E. Olesen Grundzüge der dänischen Reformationsgeschichte nachzeichnet. In der III. Sektion „Wittenberg und die Folgen“ umreißen Joachim Krüger und Michael North die von Luther ausgehenden religiösen und politischen Impulse. Spezifischer auf den Norden des Reiches bezogen sind zwei Beiträge Joachim Krügers zu den Städten im Ostseeraum sowie zur für das Verständnis des politischen Kontextes der Reformationsgeschichte Dänemarks und Norddeutschlands wichtigen Grafenfehde von 1534 bis 1536. Im Mittelpunkt der IV. Sektion „Herrscherliche Repräsentation und Glaube“ stehen drei zentrale Ausstellungsobjekte: der von Peter Heymans in den 1550er Jahren geschaffene „Croy-Teppich“ mit seinem protestantischen Bildprogramm, die auf 1565 datierte „Allegorie auf den Naumburger Vertrag von 1554“ von Heinrich und Andreas Göding sowie die 1590 vollendete Hofkapelle von Schloss Gottorf. In der V. Sektion „Die Reformation im Norden“ zeichnen Joachim Krüger und Uta Kuhl die maßgeblichen Entwicklungen auf städtischer und landesherrlicher Ebene nach, und Irmfried Garbe würdigt Johannes Bugenhagen als „Schlüsselfigur der Reformationsgeschichte“ (150). In der VI. Sektion „Verlierer und Gewinner“ zeigt Oliver Auge, dass sich die Aufhebung der Klöster und Stifte in den Herzogtümern Schleswig und Holstein in mehreren Wellen vollzog und einige Frauenklöster als evangelische Damenstifte weiterbestanden. Constanze Köster skizziert anschließend die „Entsakralisierung der Landschaft“, u. a. durch den Wegfall des Pilger- und Wallfahrtswesens, und Gerhard Weilandt beschreibt den eher durch graduelle Anpassungen als durch radikale Brüche gekennzeichneten Wandel der Kirchenausstattungen in Norddeutschland. Irmfried Garbes Darstellung von Bugenhagens Kirchen-, Schul- und Almosenordnungen endet mit einem Hinweis auf einen interessanten geschlechtergeschichtlichen Aspekt: „Anders als manche seiner jüngeren Kollegen rechnete Bugenhagen fest mit den geistlichen Potentialen von Frauen und scheute sich nicht, diese auch kirchenverfassungsrechtlich in seinen Ordnungen zu verankern“ (198). Die Sektion „Reformation multimedial“ (VII.) bietet Beiträge zur Kommunikations- und Mediengeschichte (Daniel Bellingradt), zur seriellen Bildproduktion der Cranach-Werkstatt (Constanze Köster), zu protestantischen Bildprogrammen (Dies.) und zum evangelischen Kirchenlied (Walter Werbeck). Die VIII. Sektion „Reformation im Alltag“ widmet sich schließlich der Stilisierung Luthers zum protestantischen Heiligen und Glaubenshelden (Constanze Köster, Uta Kuhl), ferner der durch die Verbindung von Bild und Schrift geprägten protestantischen Alltagskultur (Uta Kuhl) und der Rolle des Hauses als „Koinzidenzpunkt des weltlichen und geistlichen Regimentes“ (279 f.) im Luthertum (Thomas K. Kuhn). In einem weiteren Beitrag geht Kuhn auf das Selbstverständnis deutscher Aufklärer „als Vollender und Vollstrecker des mit der Reformation einsetzenden Befreiungs- und Emanzipationsprozesses“ (283) ein. Neben ausführlichen Beschreibungen der in Greifswald und Schloss Gottorf gezeigten Objekte bietet der Band auch ein Glossar mit „95 Schlagworten[n] zur Reformation“.
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Der Tagungsband der Prinz-Albert-Gesellschaft „Deutschland und die Britischen Inseln im Reformationsgeschehen: Vergleich, Transfer, Verflechtungen“ verspricht im Titel – vor allem aber im Untertitel – mehr, als er hält. Es gibt weder eine Einleitung noch ein Resümee, welche komparatistische, transfer- und verflechtungsgeschichtliche Perspektiven entfalten würden, und weder die Anordnung der Beiträge noch der Inhalt der meisten Aufsätze lassen diese erkennen. Stattdessen beginnt der Band mit sechs Studien zur Reformation auf den britischen Inseln, von denen lediglich Lothar Höbelts Aufsatz über die Hintergründe der vierten Eheschließung Heinrichs VIII. mit Anna von Kleve 1540 eine explizit deutsch-englische Perspektive einnimmt. Die Beiträge über Thomas Morus (Georg Eckert) und die Reformation in der Stadt Canterbury (Stuart Palmer) beziehen immerhin auch Wechselwirkungen mit Kontinentaleuropa mit ein, während sich die Studien zu den Kontinuitäten der Religionspolitik Elisabeths I. und Jakobs I. (Susan Doran), der aktiven Rolle puritanischer Frauen im elisabethanischen Zeitalter (Lucy M. Kaufmann) und dem Scheitern der Reformation in Irland (Hiram Morgan) ganz auf die britischen Inseln konzentrieren. Die folgende Sektion über „Historische, erinnerungskulturelle und aktuelle Nachwirkungen“ fällt sehr heterogen aus. Ronald G. Asch argumentiert, „dass die enge Verbindung von monarchischer Autorität und Reformation dem englischen Protestantismus ein ganz spezifisches Profil gab und auch die politische Kultur Englands tiefgreifend prägte“ (137). Katharina Beiergrößlein zeigt anschließend auf, dass der 1540 hingerichtete englische Gesandte beim Schmalkaldischen Bund, Robert Barnes, in deutschen Publikationen frühzeitig zum protestantischen Märtyrer stilisiert wurde, während er in England zunächst negativ wahrgenommen wurde und erst in der elisabethanischen Ära eine positivere Rezeption erfuhr. Benjamin Hasselhorn steuert eine Skizze über „Lutherbilder in England“ bei, und Astrid Mühlmann beschließt die Sektion mit Ausführungen zum „Reformationsjubiläum 2017 als weltweite[m] Kulturprojekt“. Die dritte Sektion „Künstlerische und kulturelle Bezüge“ bestreiten zwei Vertreter Coburger Institutionen: Klaus Weschenfelder, ehemaliger Leiter der Kunstsammlungen der Veste Coburg, nimmt Strategien und Wirkungen reformatorischer Bildpolemik in den Blick, und Silva Pfister, Leiterin der Landesbibliothek Coburg, untersucht das Verhältnis von Bild und Text in Lutherbibeln aus den Beständen ihres Hauses. Das um Luther zentrierte „Wittenberger Netzwerk aus Mitgliedern des Hofes, Wissenschaftlern und weitblickenden Unternehmern“ wie Lucas Cranach d. Ä. und dem Drucker Hans Lufft, so Pfister, „führte das Großunternehmen Lutherbibel zum Erfolg“ (239). Die finale Sektion „Reformation in der Region“ umfasst vier Beiträge zur Entwicklung im sächsischen und fränkischen Raum. Enno Bünz kontrastiert die Entwicklung im ernestinischen Kursachsen, wo Friedrich der Weise Luther gewähren ließ und Johann der Beständige ihn tatkräftig unterstützte, mit derjenigen im albertinischen Herzogtum Sachsen, wo Herzog Georg bis zu seinem Tod 1539 die Reformation bekämpfte. Rainer Axmann beschreibt Coburg als Aufenthaltsort der sächsischen Kurfürsten,
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ernestinische Residenz und Schauplatz einer evangelischen Bewegung, während Rudolf Keller Luthers Aufenthalt in Coburg während des Augsburger Reichstags von 1530 als „sehr fruchtbare[n] Abschnitt seines Lebens“ würdigt (330). Zuletzt bindet Dieter J. Weiß die Erfahrungen der Geschwister Willibald und Caritas Pirckheimer in das fränkische Reformationsgeschehen ein. Insgesamt bietet der Band zwar lesenswerte Beiträge, kommt aber eher als Buchbindersynthese denn als konzeptionell überzeugender Beitrag zur deutsch-englischen Reformationsgeschichte daher. Eine Publikation des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa führt zwar den Begriff „Luthereffekt“ im Titel, doch geht es den 23 Beiträgen keineswegs nur um die Auswirkungen Luthers auf Ostmittel- und Osteuropa, sondern vor allem um die Vielgestaltigkeit reformatorischer Strömungen und Impulse vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Den Band eröffnet ein informativer Überblick von Winfried Eberhard über Reformation(en) und ständische Konflikte in Polen-Litauen, Ungarn und Böhmen, der als gemeinsames Merkmal dieser Länder betont, dass der Antagonismus zwischen Monarchie und einem nach Autonomie und Partizipation strebenden Adel im 16. und frühen 17. Jahrhundert von einem konfessionellen Gegensatz überwölbt wurde. Die Ergebnisse fielen gleichwohl sehr unterschiedlich aus: Während die protestantische Ständeopposition in Böhmen gewaltsam niedergeschlagen und die reformatorischen Bewegungen in Polen-Litauen allmählich zurückgedrängt wurden, bildete sich in Ungarn – insbesondere in Siebenbürgen – eine dauerhafte konfessionelle Koexistenz heraus. Die fünf folgenden Aufsätze sind mit „Konkurrenz und Toleranz“ überschrieben. Matthias Weber relativiert die Singularität und Fortschrittlichkeit des Augsburger Religionsfriedens von 1555 mit Blick auf religiöse Friedenswerke in Ostmitteleuropa: Während der Kuttenberger Religionsfriede zwischen böhmischem Königtum und utraquistischen Ständen seinem Augsburger Pendant um 70 Jahre vorausging, garantierten der Thorenburger Landtagsabschied in Siebenbürgen (1568) und die Warschauer Konföderation (1573) ein wesentlich höheres Maß an Religionsfreiheit als der Reichsfriede. Maciej Ptaszyński zeigt am Beispiel der Humanisten Andrzej Frycz Modrzweski (Modrevius) und Stanisław Hozjusz (Hosius), dass das kaiserliche Interim von 1548 in Polen „hauptsächlich im Zusammenhang mit der europäischen Machtpolitik und Diplomatie wahrgenommen“ wurde (61). Edit Szegedi zufolge spielte Luther auch für einen Zweig der radikalen Reformation, die Klausenburger Antitrinitarier, als „Urgestein“ und „neuer Moses“ (66) eine Rolle; zugleich waren sie der Auffassung, dass Luthers Impulse von ihnen selbst konsequent weitergeführt werden müssten. Hans-Jürgen Bömelburg porträtiert die Lutheraner in Polen-Litauen im 17. und 18. Jahrhundert als eine durch Zuwanderung wachsende, aber sich durch konfessionelle Polemik und politischen Druck zunehmend bedroht fühlende Minderheit. Seit den 1680er Jahren lasse sich zudem eine „Nationalisierung der lutherischen Eliten“ (79) beobachten, die nun ihre preußisch-deutsche Eigenart betonten. Kolja Lichy zufolge wirkte die „lutherische Herausforderung“ für den polnischen Katholizismus als „Katalysator“ (86) in
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der Debatte um den Charakter der Kirche. An dem Jesuiten Jakob Wujek (1541–1597) exemplifiziert Lichy Verflechtungen und Ideentransfers zwischen prominenten Katholiken in Polen, Siebenbürgen und Böhmen. Die Sektion „Reiche, Länder und Regionen“ eröffnet Bernhart Jähnigs Beitrag zu Königsberg als Zentrum der Reformation im östlichen Mitteleuropa. Von hier aus wurde nicht nur der Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens im Herzogtum Preußen „anbefohlen, beaufsichtigt und kontrolliert“ (100), hier wurde auch die Glaubensverkündigung in mehreren Sprachen koordiniert und 1544 mit der Universität eine Bildungseinrichtung von überregionaler Strahlkraft gegründet. Für Litauen betont Kęstutis Daugirdas die „Vielfalt der aufgenommenen theologischen Impulse“ (107). Lutherische, calvinistische und antitrinitarische Lehren verbreiteten sich dort zeitlich parallel im Kontext eines europaweiten Austauschs von Menschen und Ideen, der das Großfürstentum u. a. mit Württemberg, der Schweiz und Italien verband. Im Königreich Ungarn entwickelten Lutheraner und Reformierte Eva Kowalská zufolge trotz der gemeinsamen Bedrohung durch den erstarkenden Katholizismus keine dauerhaften Formen institutioneller Zusammenarbeit. Im ‚Pressburger Galeerenprozess‘ von 1674 – einem Gerichtsverfahren gegen Protestanten, das mit drakonischen Strafen endete – gelang es den Reformierten, sich zu den hauptsächlichen Opfern katholischer Repression zu stilisieren, obwohl die meisten Betroffenen Lutheraner waren. Das Phänomen der Glaubensmigration behandelt Péter Ötvös am Beispiel der Ansiedlung österreichischer Protestanten auf Gütern der Familie Batthyány im heutigen Burgenland in den Dekaden um 1600. „Ideen- und Wissenstransfer“ im östlichen Mitteleuropa illustrieren Anja Rasche am Beispiel der Rezeption und Kommunikation reformatorischen Gedankenguts durch Hansekaufleute, Detlef Haberland anhand der Entstehung von Druckereien in Livland, Preußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, Oberungarn und Siebenbürgen sowie Joachim Bahlcke anhand der Versorgung von Protestanten mit geschmuggelten Bibeln, Gesangbüchern und Erbauungsschriften. Die massenhafte Verbreitung verbotener Bücher in der Habsburgermonarchie durch den böhmischen Grafen Franz Anton von Sporck oder die Glauchaschen Anstalten zu Halle belegt laut Bahlcke, „dass ein Zugang zu evangelischer Literatur trotz schärfster Zensur- und Einfuhrbestimmungen möglich war“ (167). Was „Architektur und visuelle Medien“ zur Verbreitung der Reformation in Ostmitteleuropa beitrugen, beleuchten Jan Harasimowicz anhand des Um- und Neubaus protestantischer Kirchen im Herzogtum Preußen, Großpolen und Schlesien, Krista Kodres an Kirchenbauten und -ausstattungen im Baltikum und Grażyna Jurkowlaniec anhand der Übernahme von Illustrationen aus der Lutherbibel in polnische Bibelausgaben. Der konfessionelle Charakter dieser Bibelillustrationen war wesentlich weniger ausgeprägt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Den reich bebilderten Band beschließt eine Sektion, die unter dem Titel „Rezeption und Erinnerung“ Aufsätze zum Lutherbild im katholischen Polen (Anna MańkoMatysiak), zur Arbeit des Gustav-Adolf-Werks unter der evangelischen Diaspora in
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Ostmitteleuropa (Wilhelm Hüffmeier), zu lutherischen Traditionen in der Tschechoslowakei (Martin Zückert), der lutherischen und reformierten Übertrittsbewegung der Ukrainer im Galizien der Zwischenkriegszeit (Katrin Boeckh), Überlieferung und Aufführungspraxis polnischer und litauischer Kirchenlieder (Maria Skiba, Frank Pschichholz) und der evangelischen Friedenskirche im niederschlesischen Jauer als polnisch-deutschem Erinnerungsort (Małgorzata Balcer) versammelt. Ein Glossar, ein Literaturverzeichnis sowie ein – längst nicht in allen ‚Jubiläumspublikationen‘ zu findendes – Personen- und Ortsregister zeugen von der Sorgfalt, mit der dieser Band redigiert wurde. Als „östlicher Ausläufer der Reformation in Europa“ (9) kann Ingė Lukšaitė zufolge die Reformation im seit 1569 mit dem Königreich Polen in der Lubliner Union verbundenen Großfürstentum Litauen gelten. Ihre bereits 1999 in litauischer Sprache erschienene Gesamtdarstellung des dortigen Reformationsgeschehens wurde 2017 auch in deutscher Sprache verlegt. Obwohl sich die Übersetzung von Lilija Künstling und Gottfried Schneider mitunter sperrig liest, etliche Fehler aufweist7 und Begriffe wie „Eigenstaatlichkeit“, „Staatsbürgerschaft“ oder „Pressefreiheit“ im Kontext der beginnenden Neuzeit anachronistisch wirken, werden an der Reformationsgeschichte des östlichen Europa Interessierte, die des Litauischen nicht mächtig sind, die deutsche Ausgabe dieses enzyklopädischen Überblickswerks, das den Zeitraum von den 1520er Jahren bis ins erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts abdeckt, begrüßen. Neben dem Großfürstentum Litauen berücksichtigt Lukšaitė auch die von baltischen Ethnien bewohnten Teile des Herzogtums Preußen; damit trägt sie nicht nur den intensiven Handels-, Migrations- und Kommunikationsbeziehungen zwischen beiden Territorien Rechnung, sondern eröffnet auch eine vergleichende Perspektive. Während der Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach den ‚Ordensstaat‘ Preußen 1525 säkularisierte und bis zu seinem Tod 1568 ein lutherisches Landeskirchenwesen aufbaute, wurde die Option einer landesfürstlichen Reformation im Großfürstentum mit der Entscheidung des polnischen Königs und litauischen Großfürsten Sigismund II. August für den Katholizismus nach 1548 hinfällig. Dass sich hier in den 1550er und 1560er Jahren lutherisches, calvinistisches und antitrinitarisches Gedankengut verbreiteten, war dem Bürgertum der großen Städte Vilnius und Kaunas, dem niederen Adel, aus dem frühe Multiplikatoren der evangelischen Lehre wie Abraomas Kulvietis stammten, vor allem aber Entscheidungen von Magnaten geschuldet, in ihren Herrschaften protestantische Gemeinden zu gründen oder zumindest zu dulden. Mitglieder der Magnatenfamilie Radziwill (Radvila) etwa spielten als Protektoren des Calvinismus eine zentrale Rolle.
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Vgl. die Online-Rezension von Almut Bues unter http://www.sehepunkte.de/2018/11/31173.html (letzter Zugriff: 20. Februar 2020, 11.42 Uhr).
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Große Aufmerksamkeit widmet Lukšaitė der Verdichtung von Netzwerken evangelischer Gemeinden in beiden Territorien, dem Ausbau des Bildungswesens, der Auseinandersetzung der protestantischen Geistlichkeit mit der synkretistischen Volksfrömmigkeit der Balten sowie sprachlichen Vermittlungsproblemen in den multiethnischen Untersuchungsgebieten. In Preußen legte Herzog Albrecht Wert auf die Glaubensvermittlung in den baltischen Sprachen: Deutschsprachige Pfarrer, die das Litauische oder Pruzzische nicht beherrschten, mussten sich der Hilfe von Dolmetschern (Tolken) bedienen, und im Laufe der Zeit bildete sich eine Schicht baltischstämmiger bzw. der baltischen Sprache mächtiger lutherischer Geistlicher heraus. Mit dem Erscheinen des Katechismus von Martynas Mažvydas in Königsberg 1547 begann der litauische Buchdruck. Das „an die mehrsprachige und multikulturelle Gesellschaft des Landes“ angepasste Kirchenwesen Preußens (171) kontrastiert mit der Situation im Großfürstentum, in dem mehrere evangelische Bekenntnisse mit der seit den 1570er Jahren wiedererstarkenden katholischen Kirche konkurrierten und die Frage der Vermittlungssprache offenblieb (462, 491). Auf den Gütern litauischer Magnaten wurden zwar mehrere Druckereien eingerichtet, und Vilnius entwickelte sich zu einem Zentrum des Buchdrucks und des intellektuellen Austauschs, doch viele Publikationen zielten auf eine Leserschaft außerhalb des Großfürstentums ab und waren daher in lateinischer oder polnischer Sprache verfasst. Während bis Ende des 16. Jahrhunderts ein relatives Gleichgewicht zwischen Protestanten und Katholiken in der politisch tonangebenden Adelsschicht bestand und ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen auch in den größeren Städten der „Normalfall“ (447) war, verschoben sich die Gewichte um 1600 durch die Rückkehr zahlreicher Magnatenfamilien zum alten Glauben zunehmend zur katholischen Seite hin. Im Zebrzydowski-Aufstand 1606/7 sowie in den Unruhen in Kaunas und Vilnius 1610/11 manifestierte sich das Umschlagen der wachsenden Spannungen in religiös motivierte Gewalt (421–428). Ein ausführliches Schlusskapitel würdigt die Bedeutung der Reformation für Litauen, wobei Lukšaitės Interpretation stark an einer modernisierungstheoretischen Perspektive orientiert ist: Die Reformation stellte demnach eine „wichtige Etappe für die Entwicklung des Individualismus“ (515) dar. Protestanten hätten gesellschaftliche, rechtliche und politische Reformvorstellungen (bis hin zur Aufhebung der Leibeigenschaft) entwickelt, Tugenden wie Sparsamkeit, Mäßigung und Fleiß propagiert und durch die Förderung des volkssprachlichen Buchdrucks sowie den Ausbau des Bildungswesens kulturelle Impulse gesetzt. Auch wenn dieses Modernisierungsnarrativ heute etwas überholt wirkt, bietet das Buch eine profunde Bestandsaufnahme der Reformationsgeschichte im südöstlichen Ostseeraum.8
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Vgl. aus einer stärker kulturgeschichtlichen und die gesamte Region umfassenden Perspektive auch Heinrich Assel, Johann Anselm Steiger, Axel E. Walter (Hg.): Reformatio Baltica. Kulturwirkungen der Reformation in den Metropolen des Ostseeraums, Berlin/Boston 2017.
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Der von Wolfgang Breul und Kurt Andermann herausgegebene Tagungsband „Ritterschaft und Reformation“ verbindet regionale und europäische Perspektiven auf den niederen Adel im 16. Jahrhundert. Während die ersten elf Beiträge auf das Reich – und hier insbesondere auf den südwestdeutschen Raum – fokussiert sind, decken sieben weitere Aufsätze ausgewählte europäische Länder ab. Steffen Krieb beschreibt zunächst Intensivierung und Zentralisierung niederadeliger Totenmemoria im Pfälzer Raum um 1500. Mit der Reformation fielen dort zwar die liturgischen Elemente des Totengedenkens weg, doch die Persistenz des Ideals des christlichen Ritters sorgte auch für Kontinuität. Joachim Schneider stellt sodann adelige Einungen und Korporationen vor und zeigt, wie Franz von Sickingen diese für seine Ambitionen nutzte. Christine Reinle bietet anhand von sechs Fallbeispielen einen vorzüglichen Überblick über Anlässe und Praktiken der adeligen Fehde. Zugleich erhellt sie die besondere Qualität von Sickingens Fehden, denn diese „sprengten das adelige Maß, sie glichen Fürstenkriegen und setzten die Ressourcen eines Kriegs- beziehungsweise Fehdeunternehmers voraus“ (69 f.). Matthias Schnettger zeichnet die Etappen nach, die zur Entstehung der korporativ verfassten Reichsritterschaft führten, wobei er sowohl auf deren besondere Verbindungen zum Kaiser als auch auf ihre zwischen Konflikt und Kooperation oszillierenden Beziehungen zu Fürsten und Städten eingeht. Matthieu Arnold skizziert das frühe Eintreten Ulrich von Huttens und Franz von Sickingens für die evangelische Lehre anhand von Luthers Briefwechsel. Wolfgang Breul zeichnet ein nuanciertes Bild von Sickingens Verhältnis zur Reformation, das im Anschluss an neuere Forschungen das Bild der Sickingen-Fehde gegen Trier als „Aufstand der Reichsritter“ korrigiert (122). Mit Hartmut von Cronberg stellt Matthias Müller einen produktiven niederadeligen Flugschriftenautor der 1520er Jahre vor. Die darauf folgenden vier Studien zur Ritterschaft im Kraichgau (Kurt Andermann), im Elsass (Marc Lienhard), in der Rhön (Berthold Jäger) und im obersächsisch-thüringischen Raum (Uwe Schirmer) bieten differenziertes, durch biographische und familiäre Fallbeispiele unterfüttertes Anschauungsmaterial zu den Handlungsoptionen, über die Niederadelige in Abhängigkeit von regionalpolitischen Konstellationen, familiären Beziehungsnetzen, Standesinteressen und individuellen Gewissensentscheidungen verfügten. Schirmer arbeitet darüber hinaus die zentrale Rolle heraus, die dem Niederadel aufgrund seiner Gravamina auf dem Altenburger Landtag von 1523 sowie seiner Handhabung des Patronatsrechts für die Reformation in Kursachsen zukam. Erweist sich das Verhältnis von Ritterschaft und Reformation schon für das Heilige Römische Reich angesichts intra- und interregional differierender sozio-ökonomischer, rechtlicher und politischer Rahmenbedingungen als ausgesprochen komplex, so gilt dies umso mehr für die europäische Perspektive. In Dänemark sowie in den Herzogtümern Schleswig und Holstein profitierte der Adel Mikkel Leth Jespersen zufolge insbesondere von seiner Stärkung „als Gutsherrenstand mit umfassenden Rechten gegenüber den eigenen Bauern“ (253). Die Warschauer Konföderation von 1573 ist laut Maciej Ptaszyński weder als Wahlkapitulation noch als Toleranzedikt oder Religions-
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frieden zu interpretieren, sondern als „Ausdruck des adeligen Standesbewusstseins“ (256), welche Religionsfreiheit auch in Polen als ständisches Privileg begriff. Václav Bůžek zeichnet das besonders komplizierte, durch das Nach- und Nebeneinander verschiedener nichtkatholischer Strömungen (Hussiten, Böhmische Brüder, Lutheraner, Calvinisten) geprägte Verhältnis von Adel und Reformation in den böhmischen Ländern nach. Die prägende Rolle des Adels für den Protestantismus in Ungarn führt András Korányi auf die politische Unsicherheit und Fragmentierung des Königreichs nach der Katastrophe von Mohács (1526) sowie die effektive Wahrnehmung des Patronatsrechts zurück. Die Bedeutung des Kirchenpatronats sowie die „enge Verknüpfung von Adelsstolz und Glaubensfreiheit“ (315 f.) betont Arndt Schreiber auch für die österreichischen Erbländer der Habsburger. Für die Siedlungsgebiete der Waldenser im westlichen Alpenraum, in der Provence und in Kalabrien charakterisiert Lothar Vogel die Mitte des 16. Jahrhunderts als „Übergangsphase von einem pragmatisch bedingten grundherrlichen Schutz religiösen Dissenses zu landesherrlicher Religionspolitik“ (328). Der führende Historiker des französischen Protestantismus, Philip Benedict, beschreibt abschließend die kirchenorganisatorische, politische und militärische Rolle niederer Adeliger vor und während der Religionskriege. II. Mitteldeutschland Als Kernland der Reformation genießt der mitteldeutsche Raum in der regionalgeschichtlichen Forschung seit jeher große Aufmerksamkeit. Auch im Umfeld des Reformationsjubiläums waren die Monographien, Sammelbände und Ausstellungskataloge zu dieser Region besonders zahlreich; ihr Spektrum reicht von Biographien einzelner Theologen und Fürsten über Studien zum Einfluss der Reformation auf bestimmte Institutionen und gesellschaftliche Gruppen bis zu thematisch vielfältigen Sammelwerken. Das in Jena angesiedelte Forschungsprojekt „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ ist ein markantes Beispiel für die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des mitteldeutschen Raums an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Es hat sogar eine eigene Schriftenreihe hervorgebracht, die 2013 mit einem Band über die Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten einsetzte.9 Unter dem Titel „Negative Implikationen der Reformation?“ legten Werner Greiling, Armin Kohnle und Uwe Schirmer in dieser Reihe einen Band vor, der an vorwiegend – aber keineswegs ausschließlich – mitteldeutschen Beispielen der Frage nachgeht, inwiefern problema9
Joachim Emig, Volker Leppin, Uwe Schirmer (Hg.): Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 1), Köln/Weimar/Wien 2013. Vgl. die Besprechung von Harald Bollbuck in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 35 (2017), 166–169.
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tische Phänomene wie Untertanenmentalität, Hexenverfolgungen oder Antisemitismus direkt oder indirekt auf Luther und die Reformation zurückzuführen sind. Die Antworten der 17 Autorinnen und Autoren fallen, wie kaum anders zu erwarten, je nach Gegenstand und Perspektive sehr unterschiedlich aus. In der Armenfürsorge setzte Julia Mandry zufolge bereits im Spätmittelalter ein Prozess der „Kommunalisierung, Rationalisierung [und] Bürokratisierung“ (20) sowie der Exklusion und Stigmatisierung fremder, vermeintlich arbeitsscheuer Bettler ein, den die Reformation mit der Einführung gemeiner Kästen zwar verstärkte, aber nicht initiierte.10 Julia A. Schmidt-Funke betont, dass die ausgiebige Debatte über den Einfluss der Reformation auf die Geschlechterordnung letztlich kein klares Ergebnis erbracht habe.11 Einerseits schrieben Flugschriften tradierte Geschlechterrollen fest, und für die Reformatoren war der Hausvater der „dominante Männlichkeitsentwurf “ (46); andererseits hätten die Auseinandersetzungen der Reformationszeit „vormalige Gewissheiten männlicher Lebensführung ins Wanken“ gebracht (42). Der „beispiellose Einbruch“ (59) der Immatrikulationen an mitteleuropäischen Universitäten um 1520 war laut Robert Gramsch primär Ausdruck einer „Überfüllungskrise“, welche mit der Kritik der Reformatoren an traditioneller Gelehrsamkeit und der Krise der alten Kirche offen zutage getreten sei. Speziell für die Universität Erfurt war die Reformation Andreas Lindner zufolge eine „Katastrophe“ (161), weil der Bruch zwischen Humanismus und Reformation die Attraktivität des Standorts minderte. Wie Enno Bünz ausführt, stellte die Aufhebung von 121 sächsischen Klöstern mehrere tausend Mönche und Nonnen vor die Aufgabe, sich eine neue Lebensperspektive zu suchen. Das Spektrum ihrer Reaktionen reichte vom Übertritt in den weltlichen Stand und der Übernahme evangelischer Pfarrerstellen über das Ausweichen in andere Klöster in (noch) altgläubigen Territorien bis zu hinhaltendem Widerstand. Michael Beyer rekapituliert die Debatte um Luthers Verhältnis zu den Juden und akzentuiert die eschatologische Dimension der Judenfeindschaft des Reformators sowie die Vehemenz von dessen Rhetorik gegen „Feinde“ des Evangeliums. Hans-Peter Hasse zufolge ließ die Intensität der publizistischen Kontroversen auch das Bedürfnis nach Kontrolle und Zensur ansteigen; die Wittenberger Theologen befürworteten Bücherzensur und beteiligten sich sogar aktiv daran. „Das entscheidende Motiv der Zensur“, so Hasse, „war die Verteidigung der wahren Kirchenlehre und des Bekenntnisses“ (148). Mehrere Beiträge sind dem Verhältnis von Reformation und Obrigkeit gewidmet. Für das Gebiet der mitteldeutschen Grundherrschaft konstatiert Uwe Schirmer, dass
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Vgl. auch die Dissertation von Julia Mandry: Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 10), Köln/Weimar/Wien 2018. Vgl. dazu auch Martina Schattkowsky (Hg.): Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55), Leipzig 2016.
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die „Herausbildung der niederadligen Patrimonialgerichte“ (169) bereits im 15. Jahrhundert zu einer Entmündigung der bäuerlichen Gemeinden führte. Die in landesherrlichen Ordnungen und Visitationen zum Ausdruck kommende Tendenz zur Zentralisierung von Kontrolle und Disziplinierung wurde durch die Reformation aber zweifellos verstärkt. Damit ging laut Schirmer ein „Funktionswandel des Pfarrers vom Seelsorger zum Moralapostel“ (180) einher. Georg Schmidt greift die „an sich unergiebige Debatte“ (202), ob Obrigkeitsstaat und Untertanengehorsam in Deutschland auf Luther zurückzuführen seien, auf. Luther habe die „komplexe Verfassungswirklichkeit“ des Reiches auf die schlichte Dichotomie Obrigkeit – Untertanen reduziert (204) und den Fürsten mit der Stärkung ihrer Autorität sowie der Übertragung der Aufsicht über den Glauben der Untertanen ein verführerisches Angebot gemacht. Der „Gehorsamsabsolutismus des orthodoxen Luthertums“ (217) sei freilich nur die eine Seite der Medaille; institutionalisierte Formen der Mitsprache und des Protests (Reichsgerichte, Supplikenwesen) gaben den Untertanen die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben. Eike Wolgast führt am Beispiel der Kurpfalz aus, dass die wiederholten Konfessionswechsel der Kurfürsten die Untertanen vor Gewissensentscheidungen stellten; in der Oberpfalz trafen Versuche, das reformierte Bekenntnis einzuführen, auf hartnäckigen Widerstand der lutherischen Städte und der Landstände. Für die Hexenverfolgungen des späten 16. und 17. Jahrhunderts ist die Reformation Karl Lehmann zufolge allenfalls partiell verantwortlich, denn es gab bereits im 15. Jahrhundert Verfolgungswellen; zudem glaubte Luther zwar an die Existenz von Hexen, Teufelspakt und Schadenzauber, lehnte aber die Vorstellung des Hexensabbats ab, die eine wesentliche Grundlage der Prozesswellen bildete. Einzelne Fälle aus lutherischen Territorien zeigen sogar, „dass in der Hochphase der Hexenverfolgungen […] mit den Vorstellungen des Reformators gearbeitet wurde, um Menschenleben zu retten“ (271). Andreas Tacke präsentiert seine auch andernorts publizierten Beobachtungen zu den Auswirkungen der Reformation auf den Kunstmarkt (siehe unten). Ralf Frassek charakterisiert das evangelische Eherecht in Kursachsen als „ausgesprochen rationales Recht […], das in seiner Berücksichtigung und Abwägung der Individualinteressen selbst nach heutigen Maßstäben sachgerecht und ausgewogen ist“ (329). Haik Thomas Porada führt den Bedeutungsverlust der niederdeutschen Schriftsprache primär auf den Niedergang der Hanse zurück, während die Reformation durch Bugenhagens Übersetzung der Bibel ins Niederdeutsche eher positive und bis ins 17. Jahrhundert hinein wirksame sprachliche Impulse gegeben habe. Josef Pilvousek bezeichnet das Konzil von Trient als „Krönung aller Reformbestrebungen“ (363) der katholischen Kirche an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, relativiert aber die Annahme, dass die tridentinischen Reformen zu einer Vereinheitlichung der römischen Liturgie geführt hätten. Christoph Volkmar zeichnet ein differenziertes Bild der Auswirkungen der Reformation auf den niederen Adel in Mitteldeutschland: Während einzelne Niederadelige Rechte wie das Kirchenpatronat nutzten, um evangelische Prediger zu installieren,
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verhielten sich die meisten abwartend. Die adligen Landstände nahmen angesichts des drohenden Verlusts kirchlicher Pfründen und Karrierechancen eine „strukturkonservative Haltung“ (390) ein, und der Niederadel schied infolge der Reformation aus kirchlichen Leitungsämtern weitgehend aus. Den Abschluss des Bandes bilden Ausführungen Stefan Gerbers über die politisch-konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts zur Frage, ob die Reformation als Wegbereiterin späterer Revolutionen anzusehen sei. Protestantische Autoren bestritten die diesbezüglichen Vorwürfe ihrer katholischen Opponenten und betonten stattdessen den autoritäts- und ordnungswahrenden Charakter der lutherischen Reformation. Für Autoren beider konfessioneller Lager „war die moderne Revolution, wie sie sich in Frankreich seit 1789 vollzogen hatte, letztlich eine Katastrophe, deren Innovationen ihre traumatischen Zerstörungs- und Verwüstungswirkungen nicht wettmachen konnten“ (422). Die Dissertation von Martin Sladeczek, eine der bislang ausführlichsten und gründlichsten Studien zur ländlichen Reformation, betrachtet die Entwicklung kirchlichen Lebens und bäuerlicher Frömmigkeit in Thüringen zwischen 1470 und 1570. Neben Visitationsakten – deren Quellenwert zwar schon seit Langem bekannt ist, die in jüngster Zeit jedoch wieder verstärkt Aufmerksamkeit finden12 – stützt er sich auf Kirchenrechnungen und Supplikationen, bezieht aber auch die Kirchenbauten selbst und ihre Ausstattung in seine Untersuchung ein. Auf dieser Quellenbasis entwirft Sladeczek zunächst ein dichtes Bild der sakralen Topographie thüringischer Dörfer vor 1520. Große Bedeutung für die Organisation des lokalen religiösen Lebens kam den von Mitgliedern der dörflichen Oberschicht, den sogenannten Alterleuten, verwalteten Kirchenfabriken zu, die über das Kirchenvermögen wachten, Bau- und Ausstattungsaufträge vergaben, auf dem Kreditmarkt agierten und gegenüber Pfarrern und herrschaftlichen Beamten ausgesprochen selbstbewusst auftraten. Eine Vielzahl an Memorial-, Mess-, Kapellen- und Almosenstiftungen, Spitälern, Laienbruderschaften, Prozessionen und Wallfahrten weist auf eine „Verdichtung des Sakralen“ (90) um 1500 hin. Die Finanzierung von Vikarien und Kommenden exemplifiziert das Interesse der Dorfbewohner an der Verbesserung von Predigt und Seelsorge. In Einzelfällen lassen sich sogar gemeinsame Stiftungen von Adeligen und Bauern nachweisen (122). Insbesondere in den bevölkerungsstarken und naturräumlich begünstigten Dörfern des Thüringer Beckens beobachtet der Verfasser eine „differenzierte sakrale Vielfalt mit Benefizien, Bruderschaften oder auch Hospitälern“ (178), die selbst im Vergleich mit manchen Städten bemerkenswert erscheint. Überdies manifestierte sich die intensive ländliche Frömmigkeit in einem Bauboom: Zwischen 1480 und 1520 entstand eine Vielzahl neuer Dorfkirchen und -kapellen sowie Beinhäuser, und eine massenhafte Produktion von Flügelaltären diente
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Vgl. Dagmar Blaha, Christopher Spehr (Hg.): Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar 7), Leipzig 2016.
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der Ausstattung der Gotteshäuser im ländlichen Raum. Hinsichtlich der Motivik dieser Altäre vermag Sladeczek keine nennenswerten Unterschiede zwischen Stadt und Land festzustellen – in beiden Fällen stand eine intensive Marien-, Annen-, Heiligen-, Passions- und Eucharistiefrömmigkeit im Zentrum des religiösen Lebens. Der Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments, der sich in zunehmender Kontrolle der Kirchenfabriken und des niederen Klerus sowie in der Zurückdrängung der geistlichen Gerichtsbarkeit manifestierte, wurde von den Dorfbewohnern offenbar akzeptiert, weil er den Kern der kommunalen Selbstverwaltung kirchlicher Angelegenheiten kaum tangierte. Als entscheidenden Zeitraum der Verbreitung evangelischer Lehren im ländlichen Thüringen identifiziert Sladeczek die Jahre vor dem Bauernkrieg. Zwischen 1522 und 1524 gab es vielerorts Abgabenverweigerungen gegenüber geistlichen Institutionen und vereinzelt gewaltsame Aktionen gegen Kleriker, während das Stiftungs-, Wallfahrts- und Prozessionswesen weitgehend zum Erliegen kam. Die geistlichen Gerichte wurden nun kaum noch angerufen. So abrupt sich dieser Bruch mit vorreformatorischen Formen der Frömmigkeit vollzog, so geräuschlos ging er zumeist vonstatten: Trotz des Wirkens radikaler Prediger wie Karlstadt und Müntzer kam es nur zu wenigen Bilderstürmen, und die Kirchenausstattung blieb vielfach intakt. Besonders beachtenswert ist der Befund, dass thüringische Bauern bereits vor dem Bauernkrieg selbständig handelnde „Akteure der Reformation“ waren. Evangelisches Gedankengut hatte sich zeitlich vor dem und unabhängig vom Aufbau eines obrigkeitlichen lutherischen Kirchenregiments verbreitet (307). Der Begriff der „Fürstenreformation“ werde den thüringischen Verhältnissen angesichts signifikanter gemeindereformatorischer Züge nicht gerecht. Nach der offiziellen Einführung der Reformation waren Amts- und Lebensführung der Pfarrer Gegenstand regelmäßig abgehaltener Visitationen. Dabei stand die materielle Lage der Pfarrer im Blickpunkt, die sich durch den Wegfall von Stiftungserträgen und Stolgebühren verschlechtert hatte; Zuwendungen aus landesherrlichen Kassen und sequestrierten Klostergütern sollten die „Versorgungsnot“ (322) lindern. Gegenüber seelsorgerischen und charakterlichen Defiziten der Geistlichen zeigte sich die Obrigkeit indessen ebenso nachsichtig wie gegenüber der anhaltenden Präsenz von Altgläubigen und vereinzelten „Schwärmern“ (ein Schafknecht, der so eigenwillige Vorstellungen vertrat, dass Sladeczek von einem thüringischen Menocchio spricht [447], wurde freilich 1584 hingerichtet). Aus materiellen, praktischen und politischen Gründen wurde die Pfarreistruktur zwar zwischen 1530 und 1570 angepasst (Zusammenlegung von Pfarreien, Auflösung von Kloster- und Großpfarreien), aber dieser Prozess gestaltete sich ebenso komplex und langwierig wie die Umwandlung von geistlichen Lehen und Stiftungsgütern zugunsten der Verbesserung der Pfarrereinkommen, der Bildung und des Armenwesens. Obwohl die Landesherrschaft ihren Zugriff weiter intensivierte, „lag die Ausgestaltung des kirchlichen Lebens vor Ort noch immer in Händen der Bauern“ (417). Die von den Alterleuten verwalteten Kirchenfa-
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briken blieben bestehen, der Verkauf der Vasa Sacra zog sich über Jahrzehnte hin, und der Aufbau lutherischer Pfarrbibliotheken ging nur langsam vonstatten. Kontinuitäten zeigen sich auch im Kirchenbau und der Ausstattung mit religiösen Kunstwerken: Bis zur Jahrhundertmitte änderte sich, abgesehen vom langsamen Verfall vieler Dorfkirchen, deren Unterhalt nach der Reformation vernachlässigt wurde, sehr wenig. Erst seit den 1550er Jahren kam es vermehrt zu Neubauten (die teilweise tradierten gotischen Formen folgten), zum Einbau von Emporen, Kanzeln und Gestühlen (die sich auch schon vor der Reformation nachweisen lassen) sowie zur Neuanfertigung von Kunstwerken bzw. zur Überarbeitung existierender Werke im Einklang mit der neuen evangelischen Lehre. Insgesamt erscheint die Reformation in dieser ertragreichen Jenenser Dissertation als evolutionärer Prozess, wobei der Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens nicht nur ‚von oben‘ gesteuert, sondern auch ‚von unten‘ mitgestaltet wurde. Das zentrale Anliegen, welches die Landbevölkerung bereits vor 1520 verfolgt hatte – eine eigene Kirche mit autonomer Kirchenfabrik und eigenem Seelsorger – blieb auch in den folgenden Jahrzehnten handlungsleitend. Aus dem Projekt „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ ist ferner ein Sammelband zu den Auswirkungen der Reformation auf die über 200 Klöster und Stifte auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes hervorgegangen. Die thüringische Klosterlandschaft bietet im ausgehenden Mittelalter in herrschaftlicher, wirtschaftlicher, geistes- und frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht ein vielgestaltiges Bild. Enno Bünz stellt die 14 Kollegiatstifte in Thüringen vor, von denen vier die Reformation überdauerten, und charakterisiert sie angesichts der Krisen und Konjunkturen der Orden als „Konstante des kirchlichen Lebens“ (37). Die Stiftskanoniker riefen durch die Kumulation von Pfründen zwar Kritik hervor, bewegten sich jedoch auch „in vielfältigen Lebenswelten zwischen Kirche und Welt“ (63). Rainer Müller gibt anschließend einen Überblick über bauliche Entwicklung und Baubestand zwischen 1460 und 1520: In diesem Zeitraum sind Baumaßnahmen in rund 20 Thüringer Klöstern belegt, die teilweise mit Reformen des Konventslebens in Verbindung standen. Stefan Michel untersucht die Klosterpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen, die bis etwa 1520 auf den „Ausbau landesherrlicher Rechte“ (118) und die „Stärkung der Observanz“ (121) abzielte; danach betrachteten die Fürsten die Klöster nicht mehr als essentiell für das Landeswohl und ließen ihre Güter sequestrieren – ohne ihnen freilich Schutz und Schirm zu entziehen. Johannes Mötsch zeichnet anhand der Zisterzienserinnenklöster Allendorf und Kapellendorf sowie des Prämonstratenserinnenklosters Trostadt die Entwicklung von Frauenkonventen nach, während Elke-Ursel Hammer die Reformation und speziell den Bauernkrieg als tiefen Einschnitt für die thüringischen Zisterzienserinnen betrachtet. Thomas T. Müller zufolge bedeutete der Bauernkrieg auch für die Eichsfelder Klöster eine markante Zäsur, da vier der sieben dortigen Konvente stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die bereits vorher von Stagnation gekennzeichneten und durch die Unruhen zusätzlich geschwächten Klös-
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ter erhielten durch die Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz allerdings die Chance zur Konsolidierung. Alexander Sembdner geht den Zusammenhängen von Reform und Reformation in den thüringischen Augustiner-Chorherrenstiften „aus organisations- und strukturgeschichtlicher Perspektive“ nach. Anhand der Bemühungen des Visitators Johannes Busch um eine Stärkung der Observanz zeigt er, dass deren Erfolg „ganz wesentlich von der Unterstützung und Durchsetzungsfähigkeit des landesherrlichen Kirchenregiments“ (184) sowie von „der organisatorischen Einbettung der […] Stifte in überregionale Verbände“ (187) abhing. Auch für den Fortbestand der Konvente in der Reformation waren landesherrliche bzw. städtische Obrigkeiten maßgeblich. Bernd Schmies geht dem Verhältnis von Stadtregiment und Franziskanerklöstern in den Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen nach. Während der Rat in Nordhausen die treibende Kraft bei der Einführung der Reformation war und der Konvent sich weitgehend passiv verhielt, spaltete sich der Mühlhäuser Konvent „in aktive Gegner und Befürworter“ (240). Josef Pilvousek konstatiert unverkennbare „Krisen im Erfurter Ordensleben“ am Ende des 15. Jahrhunderts (263) und betont die Bedeutung des Hammelburger Vertrags zwischen dem Erzstift Mainz und dem Stadtmagistrat von 1530 für den Fortbestand der lokalen Klöster. Im späteren 16. Jahrhundert kam es am Erfurter Marienstift zu heftigen Auseinandersetzungen um dessen künftige Aufgaben und Ausrichtung. Die folgenden Beiträge bieten musik-, kultur- und bibliotheksgeschichtliche Perspektiven auf die Thüringer Klöster. Stefan Menzel zeigt am Beispiel eines Reimoffiziums Spezifika der spätmittelalterlichen Erfurter Musikkultur auf. Matthias Eifler beschreibt für das dortige Peterskloster, wie sich der Anschluss an die Bursfelder Reform auf den Ausbau der Bibliothek auswirkte, die bis 1525 auf mindestens 1.000 Bände anwuchs. Joachim Ott gibt eine Übersicht über Buchbestände aufgelöster Thüringer Klöster, die sich heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Jena befinden. Anregungen für künftige Forschungen bieten Volker Graupners Ausführungen über Quellen zur Sequestration thüringischen Klosterguts im Hauptstaatsarchiv Weimar. Uwe Schirmer zeichnet im letzten Beitrag des Bandes den komplexen Prozess der Formierung evangelischer Domkapitel in Mittel- und Nordostdeutschland nach, wobei er Naumburg und Merseburg als „Experimentierfeld für die reformatorischen Umgestaltungen“ (440) besondere Beachtung schenkt. Größere Bedeutung als den diesbezüglichen Überlegungen der Reformatoren schreibt Schirmer dem Willen der sächsischen, brandenburgischen und pommerschen Fürsten zu, die Stiftsgebiete in ihre Territorien zu integrieren und Familienmitglieder sowie Räte und Beamte zu versorgen. Insgesamt verleiht der Sammelband der mitteldeutschen Klosterlandschaft in Spätmittelalter und Reformationszeit klare Konturen. Auch die Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustiner-Eremiten weist bekanntlich enge Bezüge zu Mitteldeutschland auf: Die fünf observanten Klöster in der sächsischen Provinz des Ordens, die sich Anfang der 1430er Jahre zu einer
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Union zusammenschlossen (Magdeburg, Himmelpforten, Waldheim, Dresden, Königsberg in Unterfranken), bildeten die Keimzelle der Kongregation, ihre Führungspersönlichkeiten Andreas Proles und Johann von Staupitz stammten aus Sachsen, und der Übergang des albertinischen Sachsen zur Reformation versetzte der sich bereits in Auflösung befindlichen Union den Todesstoß. Dennoch lässt sich ihre Geschichte laut Wolfgang Günter allein aus regionaler Perspektive nicht adäquat erfassen. Auf der Basis neu aufgefundener bzw. noch nicht umfassend ausgewerteter Quellen beabsichtigt er, „die Geschichte der Reformkongregation präziser und vollständiger als bisher zu rekonstruieren“ (18). Dazu verortet er diese in der allgemeinen Ordensgeschichte, bezieht auch die Perspektive der Ordenszentrale und der Kurie in Rom mit ein und begreift die Reformkongregation „als multiperspektivisches Interaktionsgefüge“ (ebenda). Der maßgeblich von ihrem ersten Vikar Heinrich Zolter vorangetriebenen Union gingen sowohl Reformschriften von Klerikern wie dem Nürnberger Augustinerprior Konrad von Zenn und dem Dominikaner Johann Nider als auch Weichenstellungen der Ordensleitung voraus. Das Generalkapitel von Asti (1419) schuf Günter zufolge „die Grundlage dafür, dass sich die angestrebte Reform […] als konstitutionelle Sonderentwicklung“ vollziehen konnte (64). Die Widerstände in den deutschen Ordensprovinzen waren allerdings heftig, und die Reform einzelner Konvente (wie 1433 in Nürnberg) gelang nur mit obrigkeitlicher Unterstützung (97). Um die Mitte des 15. Jahrhunderts konstatiert Günter freilich „ein Missverhältnis zwischen Reformverkündigung und Reformvollzug“ (115), das dazu beigetragen haben dürfte, dass die sächsischen Reformkonvente 1458 Andreas Proles statt Heinrich Zolters zu ihrem Vikar wählten. Unter ihm wurde die Union „eine Kongregation nach italienischem Vorbild“ (134), geriet aber auch in heftige Konflikte mit den deutschen Provinzen und der Ordensleitung, in denen der Fortbestand der Union auf dem Spiel stand. Andreas Proles’ Romreise von 1464 liefert laut Günter den „älteste[n] Beleg dafür, dass man in der Union lange vor Luther Kurie und Papst als etwas Feindliches, der Wahrheit Widersprechendes wahrgenommen hat“ (152). Nach einem Intermezzo unter Simon Lindner (1467–1473) übernahm Proles 1473 erneut das Vikariat und trieb bis zu seinem Tod 1503 die Expansion der Reformkongregation – die 1492 von der Ordensleitung auch formal anerkannt wurde – energisch voran. Die Zahl der Konvente stieg durch Neuaufnahmen und Neugründungen von sechs auf 27. Die in enger Kooperation zwischen Proles und Herzog Wilhelm III. von Sachsen betriebene Reform der Thüringer Klöster führte zum Anschluss von Erfurt, Gotha und Langensalza, und die Aufnahme des Heidelberger Klosters 1475/78 „verlieh der Union eine neue Qualität“, da sie nun über die Grenzen der sächsischen Provinz hinausgriff. In der Folgezeit kamen auch süd- und westdeutsche Konvente hinzu (u. a. München, Mindelheim, Weil der Stadt, Tübingen, Esslingen, Alzey), wobei sich die Kooperation von Landesherren wie des württembergischen Grafen Eberhard im Bart erneut als entscheidend erwies. Zu Neugründungen kam es in den Niederlanden (Haarlem, Enkhuizen), Kurtrier (Ehrenbreitstein) und Mecklenburg (Sternberg); zu-
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dem wurde Wittenberg mit der Gründung der Universität und des Augustinerklosters 1502/4 „zum zentralen Studienort der Union“ ausgebaut (248). Günter charakterisiert Proles als charismatische Leitungspersönlichkeit, die allerdings einen „autoritären Führungsstil“ praktizierte und bei der Verfolgung ihrer Ziele auch „vor offenem Rechtsbruch“ nicht zurückschreckte (235). Die unter ihm vorbereiteten, aber erst unter seinem Nachfolger Johann von Staupitz 1504 verabschiedeten Konstitutionen zeugen von einem Reformverständnis, das nicht nur einen als ideal wahrgenommenen Urzustand wiederherstellen, sondern in die Zukunft gerichtete Verbesserungen bewirken wollte (290). Unter der Leitung von Staupitz (1503–1520) wuchs die Zahl der Klöster durch Aufnahmen und Neugründungen, insbesondere im rheinisch-niederländischen Raum (Köln, Gent, Dordrecht, Antwerpen), auf 37 an; zugleich stürzten problematische Entscheidungen die Union in neue Konflikte mit Kurie und Ordensleitung. So erwogen Staupitz und der Generalprior Egidio da Viterbo 1507 eine Fusion der deutschen Reformkongregation mit der sächsischen Provinz der Augustiner-Eremiten; zwei Jahre später ließ sich Staupitz in Münnerstadt tatsächlich zum sächsischen Provinzial wählen, beschwor damit aber heftigen Widerstand herauf. Dass Egidio im anschließenden Observantenstreit versuchte, die Kontrolle der Ordensleitung über die deutsche Reformkongregation zu stärken, verstärkte das Misstrauen gegenüber Rom. Seit 1517 zog die causa Lutheri die Reformkongregation in ihren Bann. Günter betont, dass der Staupitz-Schüler im Ablassstreit zunächst kaum Unterstützung aus den Reihen seiner Mitbrüder erhalten habe (366). Luthers Verhältnis zu Staupitz, der 1520 als Vikar resignierte und als Benediktinerabt nach Salzburg ging, kühlte deutlich ab. Seit Beginn der 1520er Jahre lösten sich dann die klösterlichen Strukturen zunehmend auf, wobei die Duldung dieses Vorgangs durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen sich als entscheidend erwies. Eine convocatio in Wittenberg stellte es 1522 der individuellen Entscheidung der Mönche anheim, ob sie das Kloster verlassen wollten. „Der Tabubruch“, schreibt Günter, „wurde damit zur kollektiven Erfahrung einer ganzen Generation“ (398). Staupitz’ Nachfolger Wenzeslaus Linck setzte mit seinem Rücktritt und seiner Heirat 1523 ein weiteres Ausrufezeichen; der Versuch Herzog Georgs von Sachsen, die stark geschrumpfte Union auf seinem Territorium zu stabilisieren, war spätestens seit dem Bauernkrieg zum Scheitern verurteilt. Die Ideale der Verbesserung und Vervollkommnung waren aus Sicht der meisten Augustinermönche in der Generation Martin Luthers nicht mehr innerhalb der Klostermauern zu verwirklichen. Während zahlreiche Publikationen auf die Person Luthers fokussiert sind, fanden auch einige seiner Widersacher im reformatorischen Lager im Umfeld des Reformationsjubiläums Aufmerksamkeit. So legten zwei führende Müntzer-Forscher, der Theologe Siegfried Bräuer und der Historiker Günter Vogler, gemeinsam eine neue Biographie des radikalen Reformators vor. Ihr Buch verfolgt drei Kernanliegen: Erstens soll die Lebensgeschichte Thomas Müntzers möglichst quellennah rekonstruiert werden.
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Angesichts großer Lücken in den Quellen ist dies kein leichtes Unterfangen: Zahllose Mutmaßungen, Hypothesen und Spekulationen in der Historiographie werden geprüft und verworfen; wiederholt sehen sich die Autoren genötigt, auf Lücken und Unklarheiten in der Abfolge der Ereignisse hinzuweisen. Dies beginnt mit der Frage, wann Müntzer in Stolberg geboren wurde und wer seine Eltern waren, und endet mit ungeklärten Problemen im Zusammenhang mit seinen Aufenthaltsorten zwischen der Ausweisung aus Mühlhausen Ende September 1524 und der Rückkehr in die Reichsstadt im Februar des folgenden Jahres. Zweitens betten Bräuer und Vogler Müntzers Vita in seine soziale Lebenswelt ein. Die Stationen auf dem Lebensweg des Reformators werden jeweils in knappen Strichen vorgestellt. Ob dabei das Gründungsdatum jedes Klosters und die erste urkundliche Erwähnung jeder Stadt genannt werden müssen, sei dahingestellt; in jedem Fall können die Autoren die Bedeutung von Städten wie Zwickau, Allstedt und Mühlhausen als „Lebens-, Erfahrungs- und Handlungsraum“ (16, 342) deutlich machen. So hilft die Skizze der von einem gegenüber Müntzers Ideen anfänglich aufgeschlossenen Schosser verwalteten kursächsischen Amtsexklave Allstedt (181–183) zu verstehen, warum seine Lehren dort auf fruchtbaren Boden fielen, ehe die Grafen von Mansfeld und Herzog Georg von Sachsen ein Einschreiten gegen den Prediger forderten. Für die Reichsstadt Mühlhausen arbeiten die Autoren die Gemengelage sozialer und politischer Spannungen sowie frühreformatorischer Impulse heraus, die den Boden für Müntzers dortige Tätigkeit bereitete (254–258). Auffällig ist zudem, dass sich Kaufleute wie Hans Pelt in Braunschweig und Christoph Fürer in Nürnberg für Müntzers Lehre interessierten. Der Lage der Bauern hingegen wandte sich der städtisch sozialisierte Reformator erst gegen Ende seines Lebens zu, und selbst dann konstatieren Bräuer und Vogler eine auffällige „Diskrepanz zwischen seinen radikal-endzeitlichen Appellen und dem Verhalten vieler städtischer und ländlicher Gemeinden“ (335). Drittens zeichnen die Verfasser die Entwicklung von Müntzers Theologie und deren Konturen nach. Müntzer erscheint hier als „Suchender“ (386), der unter dem Einfluss der spätmittelalterlichen Mystik allmählich zu einer eigenständigen reformatorischen Haltung gelangte, die jenseits massiver Kirchen- und Kleruskritik ein eigenständiges Schrift-, Glaubens-, Obrigkeits- und Freiheitsverständnis aufwies, das die Autoren als Alternative zur Wittenberger Reformation klar profilieren. Große Unterschiede zwischen Müntzer und Luther betreffen auch das Verhältnis zur Gewalt und das Tempo reformatorischer Neuerungen (392–394). Insgesamt demonstriert diese Biographie eindrucksvoll den aktuellen Stand der Müntzer-Forschung. Wirtschafts- und sozialethische Themen spielten in der Literatur zum Reformationsjubiläum eine untergeordnete Rolle. Vor diesem Hintergrund ist ein Tagungsband über den thüringischen Reformator Jakob Strauß sehr willkommen. Der um 1480 in Basel geborene Strauß kam 1523 nach Eisenach, wo er evangelische Neuerungen initiierte und mit einer Schrift gegen den Wucher Aufsehen erregte. Obwohl das kanonische Zinsverbot nach wie vor in Kraft war, hatten kirchliches und weltliches Recht be-
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stimmte Formen von Kreditgeschäften wie den Rentenkauf zu moderaten Zinssätzen faktisch gebilligt. Speziell in Eisenach, wo ein Großteil des Grundbesitzes in der Hand geistlicher Korporationen und Stiftungen lag, bildeten Zinseinkünfte eine Haupteinnahmequelle der Kirche. Gegen diese Praxis bezog Strauß auf biblischer Grundlage kompromisslos Stellung: Wucher war für ihn eine Todsünde, weil er gegen das Gebot der christlichen Nächstenliebe verstieß. Strauß’ Äußerungen führten zu Zinsstreiks in Eisenach und Umgebung und riefen sowohl Herzog Johann von Sachsen, der den Prediger nach Weimar vorlud, als auch Martin Luther auf den Plan. Luther sprach sich für moderate Zinsen aus und betrachtete die Regulierung des Kreditwesens als Sache der Obrigkeit. Strauß reagierte auf Kritik an seinen Thesen 1524 mit einer zweiten Schrift, in der er zwar Schuldner aufrief, ihren Verpflichtungen nachzukommen, aber seine Position bekräftigte, Zinsnahme sei „dem Glauben, dem Wort Gottes, brüderlicher Lieb, dem ganzen christlichen Wesen und der natürlichen Billigkeit entgegen“ (243). Trotz dieser entschiedenen Haltung hielt Herzog Johann vorerst an dem Prediger fest und beauftragte ihn Anfang 1525 sogar mit der ersten Visitation in Eisenach und Umgebung. Nach dem Bauernkrieg verließ Strauß allerdings Thüringen und ging nach Süddeutschland, wo sich seine Spur 1527 verliert. Den spärlich dokumentierten Lebensweg von Jakob Strauß, den wirtschafts- und sozialhistorischen Kontext seines Wirkens sowie die Geschichte der Wucherthematik behandeln acht Beiträge, wobei es mitunter zu Überschneidungen kommt. Im Einzelnen befassen sich Thomas T. Müller mit der Vor- und Frühreformation in Eisenach, Dagmar Blaha mit den Beziehungen zwischen der Stadt und dem Weimarer Hof Herzog Johanns, Siegrid Westphal mit sozialen Problemlagen, Joachim Bauer mit Strauß’ Position innerhalb der frühreformatorischen Bewegung, Stefan Michel mit der Wucherdiskussion aus Wittenberger Perspektive, Fritz Backhaus mit dem antijüdischen Wuchertopos, Maximilian Kalus mit Debatten um ökonomischen Profit in diachroner Perspektive und Rainer Kessler mit den biblischen Grundlagen der Wucherthematik. Den Abschluss des Bandes bilden die beiden Schriften von Strauß gegen den Wucher im Faksimile sowie „in einer dem heutigen Deutsch angenäherten Übertragung“ durch Carlies Maria Raddatz Breidbach (173). Mehrere Beiträge weisen darauf hin, dass Strauß’ biblizistische Argumentation der Komplexität des Kreditwesens im 16. Jahrhunderts kaum gerecht wurde; vor diesem Hintergrund verspricht die Erforschung der Wucherthematik im Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts, die Stefan Michel umreißt, interessante Einsichten. Darüber hinaus bediente sich Strauß antijüdischer Wucherstereotypen, obwohl Juden auf dem Eisenacher Kreditmarkt keine Rolle spielten. Damit leistet der Band auch einen Beitrag zur Geschichte des „Antijudaismus ohne Juden“ (12). Die Fürsten fanden im Kontext des Reformationsjubiläums ebenfalls starke Beachtung. Neben der Begleitpublikation zu einer sächsischen Ausstellung über „Luther
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und die Fürsten“13 sowie einem Sammelband zur „Fürstenreformation im Reich und in Europa“14 ist hier auf Monographien zu einzelnen fürstlichen Persönlichkeiten sowie auf den von Armin Kohnle und Manfred Rudersdorf herausgegebenen Konferenzband „Die Reformation. Fürsten – Höfe – Räume“ hinzuweisen. Die 28 Beiträge des letztgenannten Bandes zeichnen Porträts wichtiger Reformationsfürsten, loten Aspekte fürstlichen Handelns und höfischer Repräsentation aus, gehen aber auch auf Aspekte der ‚Reformation ohne Fürsten‘ ein. Stefan Michel charakterisiert zunächst die Kirchenpolitik der sächsischen Kurfürsten Friedrich und Johann, von denen Ersterer das Wirken Luthers wohlwollend, aber zurückhaltend begleitete, während Letzterer konsequente Weichenstellungen im Sinne der neuen Lehre vornahm. Manfred Rudersdorf zeichnet die „Verbindung von Glaube, Macht und Politik durch zentrales obrigkeitliches Handeln“ (23) bei Landgraf Philipp von Hessen nach. Reinhard Seyboth porträtiert Georg von Brandenburg-Ansbach, der am ungarischen Königshof mit der evangelischen Lehre in Verbindung kam und die Reformation in den 1520er Jahren in seinem schlesischen Herzogtum Jägerndorf sowie in seiner fränkischen Markgrafschaft einführte. Georg beeinflusste überdies die Hinwendung seines Bruders Albrecht, des Hochmeisters des Deutschen Ordens in Preußen, zur Reformation; jenem ist ein eigener Aufsatz von Almut Bues gewidmet. Armin Kohnle behandelt die Sichtweisen Luthers, Müntzers und Calvins auf das fürstliche Amt, Steffen Schlinker das Fürstenamt in rechtshistorischer Perspektive. Enno Bünz skizziert „Entwicklungslinien deutscher Landesherrschaft“ zwischen 1450 und 1550, wobei er Kontinuitäten und Brüche bei der Herausbildung eines landesherrlichen Kirchenregiments betont. Im Prozess der Staatsbildung bildete die Reformation demnach eine Zäsur, weil sie „den Fürsten die Chance zu einer territorialen Flurbereinigung bot“ (111). Martina Schattkowsky betrachtet die „Gestaltungsräume“ dreier sächsischer Fürstinnen (der Herzogin Elisabeth sowie der Kurfürstinnen Anna und Magdalena Sibylla), während Christoph Volkmar der Frage nach den – im Detail oft schwer nachvollziehbaren – Einflüssen von Räten und Ständevertretern auf fürstliches Handeln nachgeht. Einige Beiträge befassen sich mit kunst-, architektur-, musik- und sprachgeschichtlichen Aspekten der Reformationszeit, wobei die Reihung der Aufsätze eher unsystematisch wirkt. Zu den behandelten Themen gehören die Entstehung des fürstlichen Ehepaarbildnisses (Naima Ghermani), das Bild der Passion Christi in der Druckgraphik des frühen 16. Jahrhunderts (Birgit Ulrike Münch), die reformatorische Bildrhe-
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Dirk Syndram, Yvonne Wirth, Doreen Zerbe (Hg.): Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, 2 Bde., Dresden 2015. Susan Richter, Armin Kohnle (Hg.): Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 24), Heidelberg 2016. Vgl. die Rezension von Andreas Flurschütz da Cruz in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 36 (2018), 222–225.
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torik Hans Holbeins des Jüngeren ( Jürgen Müller), die Entwicklung der wettinischen Schloss- und Sakralarchitektur (Stefan Bürger), die adressatenbezogene Briefprosa Luthers (Hans Ulrich Schmid), das Wirken des Schul- und Stadtkantors sowie Hofkapellmeisters Johann Walter (Christoph Krummacher, Jürgen Heidrich) und der Aufschwung der Musikkultur an den albertinischen Fürstenschulen in Pforta, Meißen und Grimma in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Stefan Menzel). Während sich die meisten dieser Beiträge auf den mitteldeutschen Raum konzentrieren, geht Klaus Bochmanns Skizze des Einflusses der Reformation auf die Entwicklung europäischer Schriftsprachen weit darüber hinaus. Auch den fürstlichen Reformationsgegnern sind mehrere Aufsätze gewidmet. Christian Winter beschreibt das konfliktreiche, aber auch von punktueller Kooperation gekennzeichnete Verhältnis Herzog Georgs von Sachsen zu seinen ernestinischen Verwandten; Martina Fuchs porträtiert die Habsburger Karl V. und Ferdinand I.; und Eike Wolgast bietet ein Kollektivporträt der Reichsbischöfe der Reformationszeit zwischen Passivität und Resistenz. Die mecklenburgischen Herzöge Heinrich V. und Albrecht VII. waren laut Wolfgang Huschner zwar „Fürsten in der Reformation“, aber keine „Reformationsfürsten“ (353). Als Beispiele einer „Reformation ohne Fürsten“, so der Titel von Sektion V, behandeln Uwe Schirmer die Rolle der Städte und des Niederadels in Kursachsen, Sabine Todt – die sich eng an von Hans-Jürgen Goertz entwickelte Interpretationen anlehnt – die radikalen Ansätze des Wittenberger „Reformteams“ (393 f.) bis zum Jahr 1522, in dem Luther die alleinige Deutungshoheit für sich reklamiert habe, und Joachim Bahlcke die vor allem vom hohen Adel getragenen, konfessionell vielfältigen reformatorischen Aufbrüche im östlichen Mitteleuropa. Insbesondere Schirmers Beobachtungen, dass sich in Kursachsen „ab dem Jahr 1522 die Stadträte und der Niederadel vermehrt als Träger und Multiplikatoren der evangelischen Bewegung betätigt haben“ (363) und der Altenburger Landtag von 1523 den Weg zu einer Duldung der Wittenberger Theologie gebahnt habe, werfen die Frage auf, warum sich die Forschungen zur mitteldeutschen Reformation nach wie vor so stark auf die Fürsten konzentrieren. Auf europäische Kontexte verweisen schließlich die laut Tarald Rasmussen am Wittenberger Vorbild orientierte Fürstenreformation in Dänemark, das von Ottfried Czaika „im Spannungsfeld von Unionsauflösung, Staatsbildung und Reformation“ (430) verortete kirchenpolitische Agieren von Gustav Eriksson (Wasa) in Schweden sowie die vergeblichen Bemühungen Wilhelms von Oranien um eine „politisch und sozial verankerte Koexistenz der Konfessionen“ (463) in den Niederlanden (Nicolette Mout). Angesichts der Tatsache, dass dem von 1525 bis 1532 regierenden sächsischen Kurfürsten Johann dem Beständigen in der Historiographie „lediglich die Rolle des Bewahrers und Platzhalters zugewiesen“ worden sei (12), bemüht sich Doreen von Oertzen Becker in ihrer Jenenser Dissertation um eine Ehrenrettung dieses häufig als blasse Figur wahrgenommenen Herrschers. Die Leitfrage ihrer Studie zu Johanns Kirchenpolitik lautet, wie sich „das Bild des politisch unerfahrenen, wenig ambitionierten und
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vermeintlich ungeschickten Herzog[s]“, der bis 1525 im Schatten seines älteren Bruders Friedrich des Weisen15 stand, mit dem Bild eines Kurfürsten vereinbaren lässt, „der augenscheinlich ohne Zögen und aus tiefster Überzeugung unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme“ mit dem „Aufbau einer evangelischen Landesherrschaft“ begann (28). Um diese Frage zu beantworten, zeichnet die Autorin zunächst Johanns Werdegang bis zur Mutschierung – der Aufteilung des Kurfürstentums in zwei separate Verwaltungseinheiten – von 1513, die Gruppe seiner Berater sowie sein Verhältnis zu thüringischen Theologen der frühen Reformation – Müntzer, Karlstadt, Jakob Strauß, Nikolaus Hartmann und Wolfgang Stein – nach. Anschließend rekonstruiert sie mitunter recht kleinteilig die Auseinandersetzungen Johanns mit seinem die Reformation ablehnenden wettinischen Vetter, Herzog Georg von Sachsen, die kursächsische Kirchenpolitik (Reform der Universität Wittenberg, Visitationen, Umgang mit der Täuferbewegung, Einziehung von Kirchengütern), das politische Handeln auf Reichsebene bis zum Augsburger Reichstag 1530 sowie die Bündnispolitik Johanns vom Gotha-Torgauer Bündnis 1525 bis zur Gründung des Schmalkaldischen Bundes 1531. In der Gesamtschau entsteht das Bild eines Fürsten, der sich zwar frühzeitig der neuen Lehre öffnete, in seiner Haltung gegenüber den diversen evangelischen Strömungen aber bis 1524 weitgehend neutral blieb und damit auch radikalen Reformatoren Freiräume eröffnete. Die Erfahrung des Bauernkriegs stellte einen „Wendepunkt“ (67) dar, der die eindeutige Hinwendung Johanns zur lutherischen Lehre und den konsequenten Aufbau eines landesherrlichen Kirchenregiments einleitete. Auf Reichsebene sichtbar wurde diese Wende auf dem Speyrer Reichstag von 1526, auf dem sich Johann erstmals „als entschlossener, evangelischer Fürst präsentieren“ konnte, der seine „Positionen und Forderungen“ klar artikulierte (335). Für die Bündnisverhandlungen und Reichstage der folgenden Jahre arbeitet von Oertzen Becker die signifikanten Unterschiede zwischen dem konfessionell offenen und politisch risikobereiten Landgrafen Philipp von Hessen sowie dem primär auf Bekenntniseinheit und Friedenswahrung bedachten sächsischen Kurfürsten heraus. So ließ Johanns Ablehnung eines Zusammengehens mit den der zwinglianischen Lehre zuneigenden oberdeutschen Städten die Bündnisverhandlungen 1529 scheitern; vor dem Augsburger Reichstag von 1530 zeigte sich das evangelische Lager „zerrissen und gespalten […] wie nie zuvor“ (468). Erst die Kompromisslosigkeit des Kaisers und der altgläubigen Ständemehrheit auf diesem Reichstag bewirkten ein Umdenken, das der Gründung des Schmalkaldischen Bundes 1531 den Weg ebnete.
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Vgl. zu ihm zuletzt Armin Kohnle, Uwe Schirmer (Hg.): Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen. Politik, Kultur und Reformation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 40), Leipzig 2015. Vgl. die Besprechung von Gabriele Haug-Moritz in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 37 (2019), 206–209.
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Im Lichte ihrer detaillierten Rekonstruktion des politischen Handelns des Kurfürsten warnt die Autorin davor, den Einfluss der Wittenberger Theologen auf diesen zu überschätzen: Johann war zwar bemüht, im Einklang mit dem Evangelium zu regieren, und er zog Luther und seine Kollegen in zahlreichen Fragen zu Rate. Doch diese Konsultationen verliefen innerhalb eng gezogener Bahnen, und wenn es ihm politisch geboten schien, setzte sich der Kurfürst über die Ratschläge der Theologen hinweg (497). Obwohl er für sich selbst keine theologische Kompetenz beanspruchte und in innen-, reichs- und außenpolitischen Fragen auf einen Kreis erfahrener Berater angewiesen blieb, steht für die Autorin „außer Frage, dass Johann an allen religions- und bündnispolitischen Entscheidungen persönlichen Anteil hatte“ (505). Zusammen mit einem Sammelband, welcher die Obrigkeitspredigten, die Luther 1522 am Weimarer Hof Johanns hielt, kontextualisiert,16 bereichert Doreen von Oertzen Beckers Studie die Kenntnis der Handlungsweisen und Netzwerke dieses Fürsten erheblich. Zu den markantesten Fürsten des Reformationszeitalters gehört Philipp von Hessen, in dessen Regierungszeit der Übergang der Landgrafschaft zum Protestantismus fällt und der auch die Reichspolitik der evangelischen Stände als Mitbegründer und Hauptmann des Schmalkaldischen Bundes maßgeblich prägte. Die Biographie des französischen Archivars Jean-Yves Mariotte (1935–2003) erschien zwar pünktlich zum Reformationsjubiläum (und zugleich zum 450. Todestag des Landgrafen!) in deutscher Übersetzung; es handelt sich jedoch um kein neues Werk. Bei seinem Tod hatte Mariotte die Darstellung nur bis zum Fürstenaufstand von 1552 ausgeführt, in dem Kurfürst Moritz von Sachsen die Freilassung seines Schwiegervaters aus kaiserlicher Gefangenschaft erzwang. Die letzten 15 Lebens- und Regierungsjahre des Landgrafen skizziert die Witwe des Autors, Ruth Mariotte, auf lediglich fünf Seiten. Die verarbeitete Sekundärliteratur reicht zwar punktuell bis in die 1990er Jahre, doch basiert die Darstellung in erster Linie auf älteren Biographien und Quellenpublikationen.17 Mariotte legt den Schwerpunkt auf Philipps öffentliches Wirken, insbesondere auf Reichsebene. Die Einführung der Reformation in Hessen nach der Homberger Synode von 1526, die Säkularisierung der Kirchengüter und die Gründung der Universität Marburg 1527 werden zwar behandelt, aber im Wesentlichen endet die Darstellung der inneren Entwicklung der Landgrafschaft bereits in den späten 1520er Jahren. Die Konfessionalisierung Hessens nach 1530, die administrativen und finanzpolitischen Maßnahmen des Landgrafen, sein Verhältnis zu den Ständen sowie Hofhaltung und Kultur an Philipps Hof werden lediglich knapp gestreift. Dafür ist der reichspolitisch wie kirchenrechtlich brisanten Zweitehe des Landgrafen mit Margarethe von der Saa-
16 17
Christopher Spehr, Michael Haspel, Wolfgang Holler (Hg.): Weimar und die Reformation. Luthers Obrigkeitslehre und ihre Wirkungen, Leipzig 2016. Vgl. die französische Originalausgabe: Jean-Yves Mariotte: Philippe de Hesse (1504–1567). Le premier prince protestant (Bibliothèque d’Histoire Moderne et Contemporaine 30), Paris 2009.
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le, deren Bekanntwerden die Reformatoren Luther, Bucer und Melanchthon in große Verlegenheit brachte, ein eigenes Kapitel gewidmet. Das reichspolitische Wirken Philipps von seinem ersten Auftritt auf dem Wormser Reichstag 1521 über seine Beteiligung an der Niederschlagung von Ritterfehde und Bauernkrieg, die Speyrer Protestation und das Marburger Religionsgespräch von 1529, die Gründung des Schmalkaldischen Bundes und die Wiedereinsetzung Herzog Ulrichs von Württemberg 1534 bis hin zum Schmalkaldischen Krieg und zur fünfjährigen Gefangenschaft Philipps 1547–1552 werden ausführlich dargestellt. Dabei sind die Quellenzitate im Text zwar modernisiert, sie sind jedoch in den Anmerkungen im frühneuhochdeutschen, lateinischen oder französischen Original nachzulesen. Was der heutige Leser freilich vermisst, sind Reflexionen über symbolische Kommunikation und politische Kultur, zu denen die Forschung der letzten Jahrzehnte zahlreiche Erkenntnisse erarbeitet hat. So wird zwar wiederholt darauf hingewiesen, dass Philipp von Hessen mit großem, prächtig ausstaffiertem Gefolge auf Reichsversammlungen erschienen sei; Schlussfolgerungen zur Bedeutung dieser performativen Selbstinszenierung des Landgrafen bleiben jedoch dem Leser überlassen. Ähnliches gilt für die der fürstlichen Ehre höchst abträgliche und von Zeitgenossen heftig kritisierte Gefangensetzung des Landgrafen durch den siegreichen (und offenkundig rachsüchtigen) Kaiser. Unter den katholischen Reichsfürsten des Zeitalters ist der letzte Bischof von Naumburg, Julius Pflug (1499–1564), einerseits eine tragische Figur, weil er mit ansehen musste, wie außerhalb seines Domkapitels und seines engsten Umfelds praktisch das gesamte Bistum zur neuen Lehre überlief, und er sich überdies mit einem evangelischen ‚Gegenbischof ‘, Nikolaus von Amsdorf, auseinandersetzen musste. Als Vermittler zwischen den entstehenden Konfessionsparteien, der in der Tradition Erasmus’ von Rotterdam am Ideal der Einheit der Christenheit festhielt, ist Pflug andererseits eine Figur, die angesichts der ökumenischen Annäherung der christlichen Kirchen neuerdings wieder Beachtung findet. Seine auf Ausgleich und Versöhnung bedachte Position stellte die von den Vereinigten Domstiften Merseburg und Naumburg sowie dem Kollegiatstift Zeitz konzipierte Ausstellung „Dialog der Konfessionen“ in den Mittelpunkt. Darüber hinaus verortete sie Persönlichkeit und Wirken Julius Pflugs in größeren familien-, geistes-, kunst- und herrschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen. Der umfangreiche Begleitband porträtiert den aus einer einflussreichen sächsischen Adelsfamilie stammenden Pflug als zeittypischen Kirchenfürsten, der in Leipzig, Bologna und Padua zwar die artes liberales, die klassischen Sprachen und Jura, aber keine Theologie studiert hatte, der weder die Priester- noch die Bischofsweihe empfangen hatte und der in einem halben Dutzend Bistümern geistliche Pfründen sammelte. Enno Bünz zufolge markieren die fehlenden Weihen „Grenzen der Wirkungsmöglichkeiten in seinem eigenen Bistum, die in einem merkwürdigen Kontrast zum überregionalen Ansehen Pflugs als Vermittlungstheologe stehen“ (28). Gleichwohl beteiligte Pflug sich intensiv an den theologischen Debatten seiner Zeit, und seine auf Einheit
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und Versöhnung bedachte Position hob sich positiv von dem oft polemischen Ton protestantischer wie katholischer Kontroverstheologen ab. Zwischen 1530 und 1557 nahm Pflug an allen wichtigen Religionsgesprächen im Reich teil, wobei es ihm laut Josef Pilvousek stets „um die Suche nach einem verantwortbaren Kompromiss“ ging (38). Auch das Interim, das Kaiser Karl V. nach seinem Sieg über den Schmalkaldischen Bund erließ, trug seine Handschrift. Die Einbindung des vielfältig interessierten Julius Pflug in die Netzwerke des europäischen Humanismus stellt Peter Walter anhand dessen weitgespannten Briefwechsels mit seinen Leipziger und Bologneser Lehrern und Kommilitonen (darunter Johannes Cochlaeus und Georg Agricola) sowie mit Erasmus und Philipp Melanchthon heraus. Die fünfbändige Edition der Korrespondenz Pflugs ist das große Verdienst des französischen Dominikaners Jacques Vincent Pollet (1905–1990), dem Andreas Sohn eine biographische Skizze widmet. Darüber hinaus zeugen Pflugs umfangreicher, von der Forschung erst partiell gehobener handschriftlicher Nachlass (den Holger Kunde und Thomas Thibault Döring charakterisieren) sowie seine knapp 1.700 Bände umfassende Bibliothek von der Weite seines intellektuellen Horizonts. Pflugs politisches Denken war indessen ausgesprochen konservativ und trat neben der Einheit der Kirche für ein starkes, von landesfürstlichen Zwischengewalten unabhängiges Kaisertum ein. Obwohl er „seinen Cäsarismus durch das republikanische Element einer Gesetzesherrschaft“ (170) ergänzte, gab der Naumburger Bischof Alexander Schmidt zufolge letztlich „eine nostalgische Perspektive der Verlierer von Territorialisierung und Fürstenreformation“ wieder (172). Neben der Präsentation zahlreicher Manuskripte, Druckwerke und Porträts Pflugs und seiner Zeitgenossen bemühte sich die Ausstellung auch um eine Annäherung an architektonische und künstlerische Aspekte der Lebenswelt des Naumburger Bischofs – keine leichte Aufgabe angesichts der Tatsache, dass das Zeitzer Bischofsschloss im Dreißigjährigen Krieg zerstört und 1657/67 neu aufgebaut wurde. Diese Annäherung erfolgte über Untersuchungen zur Baugeschichte des Schlosses, die Einbeziehung des Zeitzer Doms und der Stadtkirche St. Michael sowie zeitgenössischer Kunstwerke und liturgischer Objekte in die Präsentation und Dokumentation und schließlich durch den Versuch einer Rekonstruktion von Pflugs Studierzimmer. Insgesamt regt der aufwändig gestaltete, sprachlich allerdings nicht durchgehend sorgfältig redigierte Katalogband zu einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Vermittlerpersönlichkeit zwischen den auseinanderdriftenden konfessionellen Lagern an. Vergleichende Perspektiven auf Sachsen und Brandenburg eröffnet der Tagungsband „Reformationen vor Ort“. Wie die Herausgeber Enno Bünz, Heinz-Dieter Heimann und Klaus Neitmann schreiben, möchte er die Vielgestaltigkeit reformatorischer Entwicklungen auf lokaler und regionaler Ebene, das komplexe Wechselspiel von Kontinuität und Wandel sowie die Rolle von Gemeinden, Gruppen und Korporationen deutlich machen. Diesen Anspruch lösen die überwiegend quellengesättigten Studien insgesamt überzeugend ein.
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In der ersten Sektion „Reformen und Reformation? Ständische Ordnung und landesherrlicher Anspruch“ nehmen Frank Göse und Uwe Schirmer den Anteil der Landstände an der Reformation in den Blick. Göse zufolge war die Einführung der evangelischen Lehre in Brandenburg 1539 zwar ein landesherrlicher Akt, doch bei deren Ausgestaltung durch Visitationen und die Säkularisierung der Kirchengüter wirkten die Landstände als „Korrektiv“ (47) zum Landesherrn. Den Begriff des Korrektivs verwendet auch Schirmer (64) für Kursachsen: Während Friedrich der Weise die Ausbreitung der evangelischen Bewegung eher passiv duldete, trieben die Stände seit dem Altenburger Landtag von 1523 eine „landständische Reformation“ voran (69). Seit 1525 nahm zwar Kurfürst Johann das Heft des Handelns in die Hand, aber Prozesse wie die Sequestration der Klostergüter wurden weiterhin von den Ständen maßgeblich mitgestaltet. Die Sektion „Wie reformieren? Selbstbehauptung und Wandel sozialer Gruppen und Milieus im Widerstreit um die Durchsetzung reformatorischer Forderungen“ versammelt instruktive Lokal- und Regionalstudien zur Auflösung des Klosters Dobrilugk in der Lausitz und zu den damit verbundenen materiellen und administrativen Problemen (Sascha Bütow), zur Umwandlung der Johanniter-Ballei Brandenburg in eine evangelische Korporation (Christian Gahlbeck), zur Ausgestaltung Beetzendorfs zu einem kirchlichen Zentrum durch die adlige Familie von der Schulenburg (Christoph Volkmar), zur Reform der 1506 gegründeten Universität Frankfurt an der Oder (Michael Höhle) sowie zur Einführung der Reformation auf dem Wittum Rochlitz durch Elisabeth von Sachsen, die Schwiegertochter des altgläubigen Herzogs Georg und Schwester des Landgrafen Philipp von Hessen ( Jens Klingner). Michael Scholz zufolge zeigt insbesondere die Entwicklung in Stendal, „dass auch in den altmärkischen Städten ein Potential für eine eigenständige Einführung der Reformation vorhanden war“ (166). Wie komplex sich die Reformation einer Bischofsstadt gestaltete, führt Alexander Sembdner am Beispiel Naumburgs vor, wo sich Stadtrat und Domkapitel antagonistisch gegenüberstanden, ihre jeweiligen Herrschaftsbereiche (Bürgerschaft und Domfreiheit) zäh behaupteten und um Einfluss auf die Pfarrkirchen rangen. In der anschließenden Sektion „Was glauben? Normen und Normierungsprozesse alter und neuer religiöser Gemeinschaften und konkurrierender konfessioneller Identitätsbildungen“ stellt Andreas Stegmann die 1540 von Kurfürst Joachim II. erlassene Kirchenordnung als theologischen, organisatorischen und praktischen „Schlüsseltext der brandenburgischen Reformation“ (280) ausführlich vor. In den Visitationen, die im 16. Jahrhundert im Berliner Raum durchgeführt wurden, stand laut Christiane Schuchard „die Sicherung der materiellen Grundlagen des kirchlichen Lebens, aber auch der Sozialfürsorge und des Bildungswesens, im Vordergrund“ (304). Sabine
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Zinsmeyer untersucht die reformatorischen Ordnungen für sächsische Frauenklöster, zu denen sie auch eine Dissertation vorgelegt hat.18 In der abschließenden Sektion „Was bleibt? Religiöse Transformationen im Spiegel der Kirchenausstattungen und der Nutzung kultureller Objekte und Rituale“ nutzen Julia Kahleyß und Gotthard Kemmether Kirchenrechnungen als Quellen für den vorreformatorischen Bestand und reformatorischen Wandel von Kirchenausstattungen in Zwickau und Frankfurt (Oder). Peter Knüvener zeichnet die Umwandlung mittelalterlicher Kirchenräume in Brandenburg und den Lausitzen anhand materieller Objekte nach. Andreas Odenthal steuert mit dem lateinischen Stundengebet im Brandenburger Domstift ein Beispiel für die Beharrungskraft vorreformatorischer liturgischer Formen im evangelischen Kontext bei. Die Studie von Thomas Fuchs zum Aufbau evangelischer Kirchenbibliotheken zwischen 1550 und 1650 betont demgegenüber den Aspekt des Wandels; Fuchs bezeichnet die Einrichtungen als „Kinder der Konfessionalisierung“ (408). Aus dem zeitlichen Rahmen des Bandes fallen die Beiträge von Enno Bünz, der die Formel von Sachsen als „Mutterland der Reformation“ als „Teil eines bürgerlich-patriotischen wie konfessionell-lutherischen Diskurses“ des 19. Jahrhunderts verortet (90), und von Lucian Hölscher, der das Problemfeld Frömmigkeit und Konfessionalität von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart umreißt und eine Akzentverschiebung von der „staatsbildende[n] Kraft der Religionsgemeinschaften“ hin zur „identitätsbildende[n] Kraft“ für das Individuum konstatiert (335). III. Süddeutschland Die Bayerische Landesausstellung 2017 erhob unter dem Titel „Ritter, Bauern, Lutheraner“ den Anspruch, Voraussetzungen, Hintergründe und Auswirkungen der Reformation möglichst breit auszuleuchten. „Man darf die Reformationsgeschichte nicht isoliert sehen,“ schreiben die Ausstellungsmacher im begleitenden Katalog, „sie schon gar nicht auf einen einzigen ‚Heros‘ wie Martin Luther verengen. […] Was prägte die Lebenswelt von Fürsten und Rittern, Bürgern und Bauern, Lutheranern und Altgläubigen?“ (13). Dieser weit gefassten Fragestellung versuchte die Ausstellung durch ein breites Spektrum an Themen und Exponaten gerecht zu werden. Das Resultat, das sich anhand des Ausstellungskatalogs nachvollziehen lässt, fällt zwiespältig aus. Auf der einen Seite werden zahlreiche Aspekte der Reformationszeit – von höfischer Prachtentfaltung bis zu Armut und Bettel, von Frömmigkeit über Flugschriftenpropaganda bis hin zur konfessionalisierten Glaubenspraxis – behandelt und visualisiert. Auf der anderen Seite vermisst man ein wenig den roten Faden. Die Tatsache, dass Luthers 18
Sabine Zinsmeyer: Frauenklöster in der Reformationszeit. Lebensformen von Nonnen in Sachsen zwischen Reform und landesherrlicher Aufhebung (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 41), Stuttgart 2016.
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Aufenthalt in Coburg während des Reichstags von 1530 ins Zentrum der Ausstellung gerückt wurde, steht zudem in einem Spannungsverhältnis zur Intention, die Perspektive nicht auf seine Person zu verengen. Der disparate Eindruck verfestigt sich bei der Lektüre des Aufsatzteils, dessen Beiträge zwar Schlaglichter auf Reformation und Glaubensspaltung im heutigen Bayern werfen, aber kaum Verbindungen untereinander aufweisen und Themen wie die reichsstädtische Reformation oder die Täuferbewegung aussparen. Anselm Schubert verweist zunächst auf die Verwurzelung von Luthers Freiheitsbegriff in der mittelalterlichen Rechtstradition und Mystik und problematisiert dessen Inanspruchnahme für aktuelle Freiheitsdebatten. Komplementär dazu setzt sich Thomas Laubach mit den Möglichkeiten und Grenzen des modernen Freiheitsbegriffs auseinander. Eberhard Isenmann zeigt „komplexe Lebensbedingungen und komplizierte Lebensverhältnisse“ (34) in süddeutschen Städten um 1500 auf. Hartmut Kühne entwirft anhand von Luthers „Vermahnung an die Geistlichen“ von 1530 ein „Panorama der vorreformatorischen religiösen Praxis“ (35). Andrea Thurnwald skizziert Kontinuitäten und Wandlungen im Bereich der Sakralarchitektur, Liturgie und materiellen Kultur im evangelischen Franken. Birgit Ulrike Münch befasst sich anhand der Figur des Karsthans mit der Repräsentation des ‚gemeinen Mannes‘ in der Druckgraphik des frühen 16. Jahrhunderts. Andreas Tacke beschreibt, wie die Reformation Künstler zu erhöhter geographischer Mobilität und der Suche nach neuen Marktnischen nötigte. Rainer Axmann erörtert kommunikative und personelle Voraussetzungen der Rezeption der reformatorischen Lehre sowie den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens in der Pflege Coburg. Dieter J. Weiß behandelt die Religionspolitik der Bayernherzöge, die sich frühzeitig auf eine anti-reformatorische Linie festlegten, der evangelischen Bewegung um die Mitte des 16. Jahrhunderts begrenzte Zugeständnisse machten, schließlich aber nach innen wie nach außen als Sachwalter des katholischen Glaubens auftraten. Günter Dippold weist auf die Verbreitung des Protestantismus im Hochstift Bamberg in einer Phase obrigkeitlicher Schwäche nach dem Zweiten Markgrafenkrieg (1552–1554) hin; zunächst zaghafte Bemühungen der Fürstbischöfe, die Bevölkerung zum katholischen Glauben zurückzuführen, wurden in den 1590er Jahren intensiviert. Johannes Laschinger stellt die besondere konfessionelle Situation der Oberpfalz vor, in der der Versuch Kurfürst Friedrichs III., den Calvinismus einzuführen, auf Widerstand der Stände traf. Karl Möseneder entschlüsselt das Inschriftenprogramm einer Serie von Papstwappen in Schloss Obernzell bei Passau und zeigt, wie humanistische Gelehrsamkeit hier in den Dienst der Gegenreformation genommen wurde. Silvia Pfister spürt den Nachwirkungen von Luthers endzeitlichem Geschichtsdenken bei dem Reichsritter Wilhelm von Grumbach und dem von prophetischen, astrologischen und magischen Vorstellungen geprägten ernestinischen Herzog Johann Friedrich II. nach. Klaus Weschenfelder schließlich macht deutlich, dass die Veste Coburg aufgrund ihrer langen militärischen Nutzung erst im 19. Jahrhundert in den Prozess der „Historisierung und Musealisierung“ (98) der Lutherstätten einbezogen wurde.
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Der von Hubertus Seibert herausgegebene Sammelband „Bayern und die Protestanten“ hat zwar einen Schwerpunkt im 16. Jahrhundert, behandelt aber nicht nur das damalige Herzogtum, sondern auch schwäbische und fränkische Teile des heutigen Freistaats. Der Herausgeber betont eingangs, dass sich die Bayernherzöge frühzeitig der evangelischen Lehre entgegenstellten; ferner verweist er auf den „langen Weg der bayerischen Protestanten von der Bikonfessionalität über Toleranz und Parität hin zur staatsfreien Kirche“ (14). Den divergierenden Entwicklungslinien im Gebiet des heutigen Bayern möchte sich der Band über einen „vergleichenden stadtgeschichtlichen Ansatz“ (14) nähern, auf den allerdings in den folgenden Beiträgen nur wenig Bezug genommen wird. Nach einem Überblick von Tom Scott über die städtische Reformation, welcher die „Unebenheit des Weges in die neue Glaubenslandschaft“ akzentuiert (35), skizziert Gabriele Greindl die frühe evangelische Bewegung in Bayern, die zunächst in verschiedenen sozialen Schichten Anklang fand, seit den 1550er Jahren aber primär von selbstbewussten Hochadeligen getragen wurde, die nach Autonomie strebten und in den Landständen den Ton angaben. Mit der Niederschlagung der sogenannten Adelsverschwörung brach Herzog Albrecht V. deren politischen Widerstand und schuf die Voraussetzungen für die Rekatholisierung adeliger Enklaven, in denen sich ein „Mischglauben“ aus katholischen und evangelischen Elementen freilich als zählebig erwies (55). Hans-Joachim Hecker bietet eine knappe Skizze der Unterdrückung der evangelischen Minderheit in München mittels Verhören und Ausweisungen unter Albrecht V., der Andersgläubigkeit mit Ungehorsam assoziierte und auf städtische Autonomierechte wenig Rücksicht nahm. Andreas Gößner präsentiert mit dem Feuchtwanger Kollegiatstift, das sich der Einführung der Reformation durch Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach lange widersetzte und erst in den 1560er Jahren vollständig evangelisch wurde, ein Beispiel aus einer fränkischen Landstadt. Rolf Kießling betont für die schwäbischen Reichsstädte die zentrale Rolle der Pfarrei- und Gemeindeebene, die Einführung evangelischer Kirchenwesen im Konsens zwischen Rat und Gemeinde sowie die von der Reformation ausgehenden ordnungs-, bildungsund baupolitischen Impulse. Tim Lorentzen stellt die von der Obrigkeit als deviant etikettierte und verfolgte Täuferbewegung im Herzogtum Bayern in den späten 1520er Jahren der Laienkelchbewegung der 1550er Jahre gegenüber, die zumindest vorübergehend zu einer landesherrlich geduldeten „Ausdifferenzierung der Glaubenspraxis“ geführt habe (108). Harry Oelke resümiert die Forschungen zur Rolle der Medien bei der Herausbildung einer reformatorischen Öffentlichkeit und betrachtet insbesondere die Situation in München, wo der Drucker Hans Schobser in den frühen 1520er Jahren reformatorische Texte produzierte. Matthias Weniger betont, dass die Kunst der Reformationszeit, ungeachtet eines dramatischen Einbruchs der Produktion religiöser Werke, stilistische und motivische Kontinuitäten aufweist. Rolf Selbmann exemplifiziert anhand des 1559 gegründeten Münchner Jesuitenkollegs „das konfessionelle Alternativmodell zum Protestantismus“ (146).
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Sieht man von den letzten eineinhalb Seiten von Selbmanns Aufsatz und den ersten beiden Seiten des folgenden Beitrags von Werner K. Blessing ab, sind das 17. und 18. Jahrhundert in diesem Band vollständig ausgespart – lutherische Orthodoxie, Pietismus und Mehrkonfessionalität in fränkischen und schwäbischen Städten sind hier also kein Thema. Angesichts der informativen Beiträge zum bayerischen Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, die sich anschließen, ist diese Blindstelle bedauerlich. Im Einzelnen behandeln Werner K. Blessing die rechtliche, politische und soziale Stellung der evangelischen Minderheit im bayerischen Königreich, Gerhard Hetzer Reformierte, Mennoniten und Freikirchen in München und Umgebung, Michael Stephan und Georg Seiderer die konfessionellen Verschiebungen, welche die Zuwanderung nach München, Nürnberg und Regensburg bewirkte, Ulrich Baumgärtner das Schulwesen, Philipp Stoltz den evangelischen Kirchenbau sowie Jürgen König das evangelische Pressewesen in München und Nürnberg. Das schmale Bändchen „Evangelisch in München“ des Kirchenhistorikers Andreas Gößner stellt eine gute Ergänzung zum eben besprochenen Sammelband dar, indem es ausgehend vom „Mythos der Katholizität Bayerns und Münchens“ (7) der Präsenz von Protestanten sowie den Beziehungen zwischen der bayerischen Metropole und protestantischen Städten nachgeht. Gößner wählt einen topographischen Zugang und entdeckt protestantische Spuren an Orten wie dem ehemaligen Franziskanerkloster, wo Wilhelm von Ockham bereits im 14. Jahrhundert das Königtum Ludwigs des Bayern gegen päpstliche Machtansprüche verteidigte und der spätere Weihbischof von Brixen, Johannes Nas, nach seiner Konversion vom Protestantismus einige Jahre verbrachte; dem Augustinerkloster, wo sich u. a. „Luthers väterlicher Vorgesetzter“ (56) Johann von Staupitz und sein Adlatus Leonhard Reiff zeitweilig aufhielten; dem Falkenturm als „Gefängnis für Staatsfeinde und Protestanten“ (92) sowie der Residenz, wo der Schwedenkönig Gustav Adolf nach seinem Einzug in München 1632 einen evangelischen Gottesdienst hielt und seit 1799 mit dem ‚Kabinettsprediger‘ der Kurfürstin Karoline von Baden, Friedrich Ludwig (von) Schmidt, ein evangelischer Geistlicher wirkte. Ferner demontiert Gößner die Legende, dass Luther sich in München aufgehalten habe, behandelt am Beispiel Hans Schobsers und seiner Nachfolger den – recht bescheidenen – Beitrag Münchens zur reformatorischen Publizistik, würdigt die irenische Beziehung zwischen dem Musikliebhaber Luther und dem konfessionell schwer einzuordnenden Hofkomponisten Ludwig Senfl und weist auf eine Reihe von Münchner Studenten hin, die in Wittenberg von Philipp Melanchthon geprägt wurden. Gößners Spurensuche konzentriert sich (zu) stark auf Geistliche, Künstler und Gelehrte, während die Münchner Patrizier, Kaufleute und Handwerker, die sich zwischen 1567 und 1571 Religionsverhören unterziehen und sich entweder zum katholischen Glauben bekennen oder auswandern mussten, nur en passant vorkommen. Von diesen bayerischen Beiträgen zum Reformationsjubiläum hebt sich der vom Landesarchiv Baden-Württemberg konzipierte Aufsatz- und Katalogband zur Reformation in Württemberg positiv durch seine klare Strukturierung um zentrale Leitlinien
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und Fragestellungen – das Verhältnis von Gesellschaft, Reformation und Bauernkrieg, die Reformation als Medienereignis, Liturgie und Musik sowie die Auswirkungen der Reformation auf die württembergischen Klöster – ab. Der Aufsatzband bietet neben Grundlagenbeiträgen zu Person und Werk Martin Luthers facettenreiche Einblicke in das reformatorische Geschehen im Südwesten. Christian Herrmann erörtert die „zentrale Bedeutung der Bibel für den kirchlichen und indirekt auch gesellschaftlichen Bereich“ (36). Hartmut Kühne resümiert konzise theologische Hintergründe und reale Entwicklung der vorreformatorischen Ablassfrömmigkeit. Nicole Bickhoff porträtiert die Ehefrauen von Johannes Brenz als Repräsentantinnen des lutherischen Ehemodells sowie Margarete Blarer als Beispiel für die Teilhabe einer ledigen Frau an humanistischer Bildung und theologischen Diskussionen. Spannend zu lesen sind die mikrohistorischen Studien von Robert Kretzschmar zu dem Markgröninger Pfarrer Reinhard Gaißlin, der sich vom Unterstützer der Aufstandsbewegung des Armen Konrad 1514 zur „getriebene[n] Randfigur der Esslinger Reformationsgeschichte“ (51) wandelte, sowie von Georg M. Wendt zur Blendung des Bauern Hans Rauchmeyer in Schorndorf 1526, welcher den Umgang der von 1519 bis 1534 amtierenden habsburgischen Statthalterregierung mit Aufrührern und religiösen Abweichlern exemplifiziert. Alexandra Haas betont die Gewaltbereitschaft der Bauernhaufen im Bauernkrieg, während Volker Leppin mit dem Vorurteil aufräumt, dass die Bauern den Freiheitsbegriff Luthers nicht verstanden hätten: „Die Bauern schrieben, was sie von Luther lasen oder von ihm gehört hatten, in ihre Lebenswelt ein und dachten es produktiv weiter“ (70). Die Beiträge über Kunst und Medien im deutschen Südwesten berücksichtigen die Vielfalt des reformatorischen Medienensembles – Ablassbriefe, Einblattdrucke, Flugschriften, Predigten, Münzen und Medaillen, Bilder und Kirchenausstattungen – und betonen, „dass Ausmaß und Schärfe des reformatorischen Bilderkampfes […] jede bisher bekannte Grenze überschritten“ (Volker Honemann, 86). Diese polemische Schärfe, die Eva-Linda Müller anhand von Thomas Murners anti-reformatorischem „grossen lutherischen Narren“ veranschaulicht, wirkte weit über Luthers Tod hinaus: Laut Andreas Holzem hielten katholische Kontroverstheologen den Wittenberger Reformator zwar nicht für den Teufel selbst, aber doch für dessen willfähriges Werkzeug. Auswirkungen der Reformation auf die Ausstattung sakraler Räume werden anhand der Stuttgarter Stiftskirche, der Marienkirche in Upfingen und der Peterskirche in Weilheim aufgezeigt. Im Katalogband ist insbesondere die mediale Dimension der Reformation mit zahlreichen Beispielen vertreten. Die Ausstellung zur Reformation in Württemberg wurde außer in Stuttgart auch in den ehemaligen Klöstern Maulbronn, Bebenhausen und Alpirsbach gezeigt und trug damit der Bedeutung der Klöster als Herrschaftsträger in vorreformatorischer Zeit wie auch der tiefen Zäsur Rechnung, welche der religiöse Umbruch für die Klöster bedeutete. Obwohl die drei Konvente (sowie das Frauenkloster Rechenhofen) in separaten Beiträgen behandelt werden, verlief ihre Entwicklung sehr ähnlich: Herzog
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Ulrich intensivierte bis zu seiner Vertreibung 1519 den herrschaftlichen Zugriff auf die Klöster (Maulbronn wurde erst 1504 württembergisch). Unter habsburgischer Herrschaft blieben sie relativ stabil, auch wenn mit dem Prior Ambrosius Blarer ein späterer Reformator 1521 das Kloster Alpirsbach verließ. Nach seiner Rückkehr legte Herzog Ulrich mit dem Klostermandat von 1535 die Grundlagen für die Auflösung der Konvente, deren Mitglieder teilweise ins Exil gingen. Das Interim von 1548 führte zunächst zur Wiederbelebung der verwaisten Klöster, ehe sie 1556 auf Geheiß Herzog Christophs in evangelische Klosterschulen zur Bildung des Pfarrer- und Beamtennachwuchses umgewandelt wurden. Bis die letzten Konventualen gestorben waren, lebten katholische Mönche hier vorübergehend mit evangelischen Lehrern und Schülern zusammen. Aufsätze und Katalog beschreiben die hier umrissenen Prozesse nicht nur in großer Detailschärfe, sondern illustrieren Lebenswelt und Alltag der Klöster auch anhand markanter Objekte. Gemeinsam mit einem neueren Sammelband über „Kirche und Politik am Oberrhein“19 bietet „Reformation in Württemberg“ eine vorzügliche Grundlage für die Beschäftigung mit den Umbrüchen des 16. Jahrhunderts im deutschen Südwesten. Der von Michael Matheus herausgegebene Band „Reformation in der Region“, der eine Mainzer Vortragsreihe aus dem Jahre 2015 dokumentiert, ist – anders als der allgemein gehaltene Titel suggeriert – auf das heutige Bundesland Rheinland-Pfalz fokussiert. Gerold Bönnen behandelt darin zunächst die sich gängigen Periodisierungen entziehende Reformationsgeschichte der Reichsstadt Worms: Nachdem der Rat bereits um 1500 seinen Herrschaftsanspruch gegenüber Bürgerschaft und Klerus demonstriert hatte, fand die evangelische Bewegung zwar in den 1520er Jahren zahlreiche Anhänger, doch erforderten die politischen Rahmenbedingungen Rücksichtnahmen, welche die Durchsetzung eines bestimmten Bekenntnisses lange verhinderten. Erst seit den 1550er Jahren vollzog sich eine lutherische Konfessionsbildung der Ratselite, während die Stadt selbst dauerhaft mehrkonfessionell blieb. Ein Schwerpunkt liegt auf markanten Persönlichkeiten der Reichsritterschaft. Silvana Seidel Menchi würdigt Ulrich von Hutten, dem seine humanistische Bildung und seine exzellenten Lateinkenntnisse 1514 die Türen am Mainzer Hof Albrechts von Brandenburg öffneten – Türen, die Hutten mit seinen hof- und romkritischen Schriften bereits 1518 wieder zuschlug. Reinhard Scholzen skizziert, wie Franz von Sickingen – dessen Familie mit ihren umfangreichen Bergbaubeteiligungen und Ländereien dem Bild des verarmenden Ritterstandes diametral entgegensteht – das Fehdewesen als Geschäftsmodell entdeckte. Während er anfangs seinen Einfluss zielstrebig ausbauen konnte, indem er ein „feines Gespür für sich verändernde Machtverhältnisse“ (68) zeigte, überspannte Sickingen mit seiner Fehde gegen das Erzstift Trier 1522/23 19
Ulrich A. Wien, Volker Leppin (Hg.): Kirche und Politik am Oberrhein im 16. Jahrhundert. Reformation und Macht im Südwesten des Reiches (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 89), Tübingen 2015.
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den Bogen. Ausgehend von Goethes Drama porträtiert Kurt Andermann Sickingen und Götz von Berlichingen als „Zeitgenossen, Altersgenossen und Standesgenossen“ (87), die mindestens ebenso viel trennte, wie sie verband: So reichten Götz von Berlichingens Ressourcen nicht entfernt an den Reichtum Sickingens heran, und das konventionelle Ordnungs- und Standesdenken des Ersteren kontrastierte mit dem Machtund Aufstiegsstreben des Letzteren. Wolfgang Breul verortet Sickingen im Kontext der frühen Reformation: Obwohl die Bedeutung seines Stammsitzes, der Ebernburg, als reformatorisches Zentrum nicht überschätzt werden sollte – dafür waren die Aufenthalte Martin Bucers, Caspar Aquilas und Johannes Oekolampads schlicht zu kurz –, könne an der Hinwendung Sickingens zur evangelischen Lehre kein Zweifel bestehen. Eine Vermittlerfunktion kam Ulrich von Hutten zu: Durch ihn „wurde Sickingen vergleichsweise früh für die Luthersache gewonnen“ (101). Volker Gallé stellt Ferdinand Lassalles wenig bekanntes Sickingen-Drama aus dem Jahre 1857 vor, das dem Autor scharfe Kritik von Marx und Engels eintrug, und Matthias Müller macht über den Vergleich mit zeitgenössischen Herrscherporträts deutlich, wie Sickingen versuchte, „mit Hilfe von Bildern sein Image zu prägen und öffentlich sichtbar zu machen“ (115). Die letzten drei Beiträge wenden sich anderen Themenbereichen zu. Andreas Tacke zeigt, dass der Zusammenbruch des Marktes für religiöse Kunst die Künstler der Reformationszeit zu Anpassungen und Neuorientierungen zwang: Sie mussten sich Marktnischen oder neue Arbeitgeber suchen, und Flugblätter klagten über die Verarmung des Berufsstandes. Dass manche Künstler diesen Wandel erfolgreich vollzogen, führt die Karriere Lucas Cranachs d. Ä. vor Augen: Dem Wittenberger Maler gelang nicht nur die Akquise von Großaufträgen katholischer Mäzene wie Albrecht von Brandenburg; er kreierte überdies Sujets und Bildtypen, die sich auf einem „sich neu formierenden Kunstmarkt“ (156) glänzend verkauften. Christoph Reske setzt sich kritisch mit der These auseinander, dass sich im Zeitalter der Reformation eine „Medienrevolution“ vollzogen habe. Der Erfolg reformatorischer Schriften habe zwar „für eine Art Goldgräberstimmung im Buchmarkt gesorgt“ (168), doch angesichts hoher Analphabetenraten, unsicherer Auflagenhöhen und der Tatsache, dass katholische Städte wie Mainz kaum von der Buchkonjunktur profitierten, sollte der Nexus von Buchdruck und Reformation nicht überbewertet werden. Statt von „Medienrevolution“ solle man daher von „Medienevolution“ sprechen: „Mit der Reformation wurde medial nichts Neues eingeführt, aber bereits Vorhandenes konsequent angewendet“ (181 f.). Rudolf Steffens schließlich thematisiert Luthers Bedeutung für die deutsche Schriftsprache, wobei er im Hinblick auf den „Kampf- und Agitationswortschatz“ des Reformators auch dessen zunehmende Radikalisierung hervorhebt (188–191). Insgesamt versammelt der Band lesenswerte Beiträge, wobei rätselhaft bleibt, warum er den Begriff „Erinnerungsorte“ im Untertitel führt, der an keiner Stelle aufgegriffen und fruchtbar gemacht wird. Die Ausstellung „FürstenMacht & wahrer Glaube“ in Neuburg an der Donau widmete sich der Bedeutung des erst 1505 geschaffenen Fürstentums Pfalz-Neuburg für
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die Reformationsgeschichte, aber auch der im frühen 17. Jahrhundert einsetzenden Rekatholisierung des Landes sowie den überregionalen und europäischen Bezügen der regierenden Dynastie. Der erste evangelische Landesherr, Pfalzgraf Ottheinrich, verfolgte ursprünglich einen antireformatorischen Kurs, ehe er sich Anfang der 1540er Jahre der neuen Lehre zuwandte. In diesem Zusammenhang wurde die Neuburger Schlosskapelle – laut Michael Teichmann das „Hauptexponat der Ausstellung“ (15) – zu einem protestantischen Kirchenraum ausgestaltet. Christian Scholl würdigt Architektur und Bildprogramm der von der italienischen Renaissance inspirierten Kapelle, weist jedoch im Vergleich mit der etwa zeitgleich entstandenen, noch von spätgotischen Formen geprägten Torgauer Schlosskapelle auch darauf hin, „dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Stil und Konfession gibt und dass man darüber hinaus vorsichtig sein sollte, ‚Schlichtheit‘ zu einem wesentlichen Charakteristikum lutherischer Kirchenräume zu erklären“ (56). Aufgrund der Zahlungsunfähigkeit des Fürstentums musste Ottheinrich die Herrschaft 1544 den Landständen übertragen und ins Exil gehen. Erst der Passauer Vertrag von 1552 ermöglichte ihm die Rückkehr und anschließend mit einer von Johannes Brenz und Philipp Melanchthon beeinflussten Kirchenordnung die Etablierung eines protestantischen Kirchenwesens. Bedeutsam für die Ausprägung der lutherischen Konfessionskultur war das Bildungswesen, insbesondere das von Reinhard H. Seitz und Gabriele Kaps behandelte, 1562 gegründete Illustre Gymnasium in Lauingen. Für den von 1569 bis 1614 regierenden Pfalzgrafen Philipp Ludwig betont Sabine Ullmann den engen Zusammenhang von landesherrlichem Kirchenregiment und guter Policey: „Alle Regierungsinitiativen […] zielten letztlich in eine Richtung: den Aufbau eines frühmodernen Staates mit sicheren Außengrenzen und einer verdichteten inneren Herrschaft über einen konfessionell einheitlichen Untertanenverband“ (131). Als die lutherische Konfessionalisierung bereits weit fortgeschritten war, vollzog Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm seit 1613 eine radikale Kehrtwende: Nach seiner heimlichen Konversion zum Katholizismus führte er ein Simultaneum ein und forcierte dann mit Hilfe der Jesuiten und unter militärischem Druck die Rekatholisierung. Klaus Unterburger betont die strukturellen Analogien von lutherischer und katholischer Konfessionalisierung – „Austausch oder Konversion der Geistlichen“, „rituell korrekte Observanz“ der Bevölkerung, „Professionalisierung des Schulwesens“ und den Zusammenhang zwischen Kirchenpolitik und „Selbstverständnis des Landesherrn“ (70 f.). Kontinuitäten zwischen lutherischen und katholischen Landesherren weist Wolfgang Behringer am Beispiel der Hexenverfolgung nach: Diese setzten 1587/88 unter dem lutherischen Pfalzgrafen Philipp Ludwig ein, der in dieser Frage „von Anfang an überkonfessionell kooperativ“ war (221), und erreichten 1628–1630 mit einer Verfolgungswelle in Neuburg und Reichertshofen ihren Höhepunkt. Manfred Veit erhellt den Prozess der Rekatholisierung anhand der Aufzeichnungen der Neuburger Jesuiten. Markus Nadler nimmt die Haltung der Eliten am Neuburger Hof „zwischen Konversion und Migration“ (153) in den Blick und weist auf die Bedeutung italieni-
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scher Katholiken für Hof und Fürstentum hin (164 f.). Roland Thiele gibt anhand der Verhöre von 475 Neuburger Bürgern im Jahre 1618 Einblicke in Glaubenshaltungen und Strategien der Bevölkerung: Während vor dem Verhör 346 Bürger nachweislich evangelisch und lediglich 25 katholisch waren, gaben nur 20 im Verhör an, evangelisch bleiben zu wollen. Die große Mehrzahl war hingegen bereit, zu konvertieren oder sich äußerlich konform zu verhalten (170 f.). Eine Gruppe, die von der Rekatholisierung profitierte, waren die Juden, die Ottheinrich 1552/53 hatte ausweisen lassen und die unter Wolfgang Wilhelm ins Fürstentum zurückkehren durften (Monika Müller). Während die Gegenreformation in Pfalz-Neuburg längerfristig erfolgreich war, scheiterte sie, wie Adolf Rank zeigt, im von Wolfgang Wilhelms Bruder August regierten Teilfürstentum Pfalz-Sulzbach. August widersetzte sich der Rekatholisierung, die Normaljahresregelung des Westfälischen Friedens führte 1649 zur Restitution des evangelischen Bekenntnisses, und Pfalzgraf Christian August führte in den 1650er Jahren ein Simultaneum ein. Dass Wolfgang Wilhelms Rekatholisierungspolitik in der eigenen Familie auf Widerstände stieß, macht auch Siegrid Westphal am Beispiel von dessen Mutter, Herzogin Anna, deutlich, die an ihrem Witwensitz Höchstädt bis zu ihrem Tod 1632 eisern am evangelischen Glauben festhielt. Die reichspolitischen und europäischen Dimensionen der pfalz-neuburgischen Geschichte veranschaulichen Ottheinrichs Wirken als pfälzischer Kurfürst (1556–1559), Wolfgang Wilhelms Rolle im Jülisch-Klevischen Erbfolgekrieg (1609–1614), in dem er sich Jülich und Berg sichern konnte, insbesondere aber die Josef Johannes Schmid zufolge überaus erfolgreiche dynastische Politik Herzog Philipp Wilhelms: Dieser erreichte durch die sorgfältige Ausbildung seiner zahlreichen Nachkommenschaft, die Pflege der Beziehungen nach Rom, Wien und Versailles sowie vorteilhafte Heiratsallianzen, dass aus seinen „14 überlebenden Kindern […] eine Kaiserin, zwei Königinnen, eine Fürstin, zusammen drei Kurfürsten sowie ebenfalls drei Fürstbischöfe, ein Chorbischof sowie ein General hervorgehen konnten“ (244). Die Familie Fugger war in der Reichsstadt Augsburg und ihren schwäbischen Herrschaften eine wesentliche Stütze der alten Kirche. Jakob Fugger der Reiche und sein Neffe Anton positionierten sich klar gegen die evangelische Bewegung, Mitglieder der Familie ermöglichten die Gründung des Augsburger Jesuitenkollegs, und der Konstanzer Fürstbischof Jakob Fugger bekleidete im frühen 17. Jahrhundert ein hohes Amt in der Reichskirche. Insofern ist es verdienstvoll, wenn der wissenschaftliche Leiter des Fuggerarchivs, Dietmar Schiersner, eine Publikation zum Thema „Die Fugger und die Konfessionalisierung“ vorlegt, wenngleich das schmale Bändchen schon angesichts seines geringen Umfangs kaum mehr als eine erste Sondierung dieses noch keineswegs umfassend erforschten Themenfeldes sein kann. Die fünf Beiträge – ein sechster wird zwar in einer Fußnote (75, Anm. 3) erwähnt, kam aber nicht zum Abdruck – bestätigen die starke katholische Prägung der Familie und ihrer Herrschaftsgebiete, sie nehmen jedoch auch Differenzierungen an diesem Bild vor. Welche Motive für die Konfessionsentscheidungen der Fugger letztlich ausschlaggebend waren, wie
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diese familienintern tradiert wurden und wie die Katholizität der Fugger in die Erinnerungskultur einfloss, muss dem Herausgeber zufolge künftigen Forschungen vorbehalten bleiben. Stefan Birkle zeigt an zwei Beispielen, dass die Konfessionsgeschichte evangelischer Herrschaften nach ihrer Übernahme durch Mitglieder der Familie Fugger von Fall zu Fall unterschiedlich verlief. Während die vom Schwenckfeldertum geprägte Herrschaft Leeder nach dem Erwerb durch Jacob Fugger-Babenhausen (1595) rasch und gründlich rekatholisiert wurde, blieb das reformierte Grönenbach nach dem Übergang an Ottheinrich Fugger dauerhaft bikonfessionell, weil die Inhaber der benachbarten Herrschaft Rotenstein, die evangelischen von Pappenheim, und die reformierten Untertanen sich einer umfassenden Rekatholisierung auch mit Hilfe einer kreativen Auslegung der Normaljahresregelung erfolgreich widersetzten. Diana EgermannKrebs resümiert Ergebnisse ihrer Dissertation zu Jacob Fugger-Babenhausen (1542– 1598), einem Sohn des ungleich bekannteren Handelsherrn Anton Fugger. Während dieser Fugger die Ansiedlung der Kapuziner in Augsburg und die von seinem Vater begründete Babenhausener Schulstiftung aktiv förderte, stellte er in seinen Herrschaften eine gewisse Flexibilität in konfessionellen Fragen unter Beweis: Er beschäftigte evangelische Vögte, grenzte sich von der strikten Linie des Augsburger Bischofs ab, wenn es um gemischtkonfessionelle Ehen, die Gültigkeit von Eheversprechen und den Umgang mit Klerikerkonkubinen ging, und bestand darauf, dass bischöfliche Mandate nur mit seiner Zustimmung von der Kanzel verlesen werden durften. Seine Herrschaftspraxis bringt Egermann-Krebs auf die Formel: „katholisch ja – aber nicht auf Kosten der eigenen herrschaftlichen Autorität“ (55). Stefanie Billmayer-Frank betrachtet das Thema „Die Fugger und die Musik“ aus konfessionsgeschichtlicher Perspektive. Ausgehend von dem Befund, dass den Fuggern zwischen 1545 und 1628 nicht weniger als 48 Musikaliendrucke gewidmet wurden, präsentiert die Autorin sowohl Beispiele für eine dezidiert katholische Musikpflege wie Orgelstiftungen und die Förderung des Komponisten, Organisten und Priesters Gregor Aichinger als auch Gegenbeispiele wie das Interesse von Familienmitgliedern an der Instrumentalmusik protestantischer Tonsetzer. Sylvia Wölfles Beitrag zur Patronage italienischer Künstler kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Aufträgen an italienische bzw. in Italien sozialisierte Künstler für die Ausstattung katholischer Kirchen und Kapellen, deren Umsetzung die Fugger genau kontrollierten, stehen Bestellungen weltlicher Gemäldezyklen ohne konfessionellen Bezug sowie die Beschäftigung evangelischer Goldschmiede gegenüber. Im konkreten Einzelfall war die künstlerische Qualität der Arbeiten wichtiger als die Konfession des Künstlers. Den Band beschließt ein Beitrag von Ariane Schmalzriedt zur Sakralisierung der schwäbischen Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn mittels barocker Pfarr- und Wallfahrtskirchen im 18. Jahrhundert.
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IV. Nord- und Westdeutschland Während für die Reformation in Westfalen eine aktuelle Synthese des Münsteraner Landeshistorikers Werner Freitag vorliegt,20 bietet dessen Göttinger Kollege Arnd Reitemeier eine profunde Gesamtdarstellung der Reformationsgeschichte Norddeutschlands. Er legt den Schwerpunkt auf die welfischen Territorien sowie auf Hamburg, Bremen und Lübeck, während Mecklenburg und Pommern lediglich gestreift werden. Wie Freitag betont Reitemeier die Vielfalt lokaler und regionaler Entwicklungen und beschreibt die Reformation in Norddeutschland als langwierigen Prozess, der in den Städten bereits in den 1520er Jahren einsetzte, sich auf territorialer Ebene aber erst seit den 1540er Jahren konsolidierte und mit dem Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens in Braunschweig-Wolfenbüttel im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zum Abschluss kam. Den Geistlichen, Gelehrten und frommen Laien, die sich als frühe Rezipienten evangelischer Lehren identifizieren lassen, stellt Reitemeier die „schweigende Mehrheit“ der Stadtbürger und Kleriker gegenüber, die sich abwartend verhielt (97); selbst die meisten norddeutschen Bischöfe blieben angesichts der reformatorischen Herausforderung passiv. Der 1528 von Johannes Bugenhagen ausgearbeiteten Braunschweiger Kirchenordnung kam eine Vorbildfunktion für andere norddeutsche Städte zu, doch „erst die Landeskirchenordnungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schufen die rechtlich-administrativen Grundlagen für ein Landeskirchenregiment“ (141). Überhaupt betont der Verfasser die Bedeutung der Fürsten, die Glaubensfragen ihren politisch-dynastischen Zielen und Interessen untergeordnet hätten. Konsistorien, Superintendenten und Visitationen verschafften dem fürstlichen Willen Geltung; Universitäten wie die von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel in Helmstedt gegründete bildeten angehende Juristen und Theologen aus; säkularisierte Klostergüter verbesserten die ökonomische Basis und die finanziellen Spielräume der Fürsten; Bischofssitze, Domkapitel und Stifte wurden in die fürstlichen Territorien inkorporiert oder deren Leitungspositionen mit nahen Verwandten besetzt. Reitemeier entwirft ein breites Panorama des Reformationsjahrhunderts, das auch Faktoren wie Klimaverschlechterung, demographischen Wandel, Ökonomie und Staatsbildung einbezieht. Die Konstituierung einer protestantischen Geistlichkeit wird als sich über drei Generationen erstreckender Prozess dargestellt, wobei problematische Aspekte wie Antijudaismus (170), Teufelsfurcht (175–177) und Hexenglaube (305 f.) nicht ausgespart werden. Dass evangelische Pfarrer heirateten und Familien gründeten, warf Fragen der angemessenen Unterbringung und der Witwenversorgung auf. Der Erfolg lutherischer (bzw. in Ostfriesland und Bremen reformierter) Konfessionalisierung wird differenziert beurteilt, indem Reitemeier auf konfessionelle Ge20
Werner Freitag: Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz, Münster 2016. Vgl. die Besprechung von Michael Rohrschneider in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 36 (2018), 225 f.
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mengelagen (173) und allenfalls partielle Abgrenzungen zwischen den Konfessionen auf lokaler Ebene (184) hinweist. Auch in der Architektur und Kirchenausstattung zog sich die Formierung evangelischer Konfessionskulturen lange hin: In Norddeutschland entstanden im 16. Jahrhundert nur wenige Neubauten, und protestantische Elemente wie Predigtkanzeln hielten erst allmählich Einzug. Hingegen avancierten „Bücher und sonstige Druckerzeugnisse […] rasch zum zentralen Merkmal der kulturellen Wandlungsprozesse“ (348); Diskursgemeinschaften protestantischer Gelehrter konstituierten sich auf Basis des gedruckten Wortes. Abschließend bilanziert Reitemeier sowohl die Veränderungen, welche die Reformation mit sich brachte, als auch die nicht minder ausgeprägten Kontinuitäten. Es entstand „ein scheinbar homogen lutherischer Raum, der vom Niederrhein bis an die Ostsee, vom Südrand des Harzes bis weit über die Elbe reichte“ (350). Bei näherer Betrachtung differenziert sich allerdings das Bild: Lediglich in den Städten konnte konfessionelle Homogenität weitgehend realisiert werden, „während die räumlich zersplitterten Territorien mit ihren weiten Kontaktzonen und wechselseitigen Durchdringungen hiervon weit entfernt waren“ (361). Während die Landesfürsten eindeutige Gewinner des Konfessionalisierungsprozesses waren, erscheine der Adel, der seinen Zugriff auf Klöster und Stiftungen verlor, als „größte[r] Verlierer der Einführung des lutherischen Glaubens“ (355). Eine „Alphabetisierungskampagne sondergleichen“ (358) in Städten und Territorien gehört ebenso zur Bilanz des Reformationsjahrhunderts wie die Kommunalisierung der Armenfürsorge und ihre Fokussierung auf die sogenannten Hausarmen sowie der allmähliche Übergang vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen. Insgesamt ist Reitemeier eine Synthese gelungen, die für den behandelten Raum Handbuchcharakter beanspruchen kann, während die Darstellung durch prägnante Beispiele und Quellenzitate zugleich Anschaulichkeit gewinnt. Eine singuläre Entwicklung zeichnet die Reformations- und Konfessionsgeschichte des Hochstifts Osnabrück aus, der sich die im Frühjahr 2016 vom Landschaftsverband Osnabrücker Land veranstaltete und im folgenden Jahr publizierte Tagung „Miteinander leben?“ widmete. Fürstbischof Franz von Waldeck führte hier 1543 eine evangelische Kirchenordnung ein, musste diese aber nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1548 zurücknehmen. Es folgte eine Phase der konfessionellen Indifferenz, in der mehrere evangelische Bischöfe das Hochstift regierten. Die in den 1620er Jahren einsetzende Gegenreformation endete abrupt mit dem Einmarsch schwedischer Truppen 1633. Die 1650 ratifizierte Capitulatio perpetua schrieb schließlich die Bikonfessionalität des Hochstifts fest, in dem sich katholische und evangelische Landesherren fortan abwechselten. Die 16 Aufsätze untersuchen sowohl den Beitrag unterschiedlicher Akteure und Gruppen – reformatorischer Prediger, Bischöfe, Domkapitel, Ritterschaft – zur konfessionellen Entwicklung des Hochstifts als auch die Auswirkungen der Osnabrücker Bikonfessionalität auf Alltag und Frömmigkeit. Volker Leppin beschreibt anfangs, wie das mittelalterliche Ideal religiös homogener Gemeinwesen in der Frühen Neuzeit von einer konfessionellen Pluralisierung auf
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der Ebene des Reiches und einiger Territorien abgelöst wurde. Diese Entwicklung spiegele den Primat der Staatsräson, während religiöse Wahrheitsansprüche bewusst ausgeklammert wurden. Karsten Igel betrachtet anschließend mit der Devotio moderna und dem Augustinerkloster „zentrale Erscheinungen und Akteure der geistlichen Reformen des 15. Jahrhunderts im Bistum Osnabrück“ (54), ehe Martin H. Jung mit dem seit 1521/22 als Lutheranhänger in Erscheinung tretenden Augustiner-Eremiten Gerhard Hecker die wichtigste Gestalt der frühreformatorischen Bewegung in der Bischofsstadt vorstellt. Am Beispiel der Fürstbischöfe des späten 16. Jahrhunderts zeichnet Siegrid Westphal einen ‚dritten Weg‘ zwischen katholischer und lutherischer Konfessionalisierung nach, denn die protestantischen Bischöfe dieses Zeitraums trieben zwar den inneren Landesausbau voran, wurden aber durch das Reichsrecht und ihre Wahlkapitulationen an konfessionspolitischen Initiativen gehindert. Daraus ergab sich eine „weitgehende Entkoppelung von politischem und konfessionellem Raum“ (106). Dass auch nach Inkrafttreten der Capitulatio perpetua von 1650 noch konfessionelle Konflikte auftraten und von den Landesherren machtpolitisch instrumentalisiert wurden, zeigt Volker Arnke am Beispiel Ernst Augusts I. von Braunschweig-Lüneburg (1716–1728). Christian Hoffmann nimmt mit dem Osnabrücker Domkapitel eine Korporation in den Blick, die seit den 1530er Jahren innere Reformen einleitete, in der zweiten Jahrhunderthälfte konfessionell weitgehend indifferent erscheint, sich seit den 1590er Jahren wieder verstärkt dem katholischen Glauben zuwandte und nach 1650 dauerhaft bikonfessionell war. Olga Wedenbrock untersucht an zwei Beispielen den Beitrag adeliger Familien zur konfessionellen Entwicklung im Hochstift. Gerd Steinwascher wertet die – auch in anderen Beiträgen wiederholt zitierte – Visitation des Generalvikars Albert Lucenius von 1624/25 als Quelle für die kirchlichen und religiösen Verhältnisse im Osnabrücker Land aus. Lucenius zeichnete ein verheerendes Bild eines ungebildeten, in Lehre und Lebensführung alles andere als vorbildlichen Klerus, verwahrloster Kirchen und weit verbreiteter abergläubischer Riten. Tatsächlich wurde das religiöse Leben offenbar stark von den Laien mitbestimmt, die diverse Mischformen zwischen katholischem und evangelischem Glauben praktizierten. Renate Oldermann skizziert die Auswirkungen von Reformation und Konfessionalisierung auf die Klöster und Stifte im Osnabrücker Land: Während einige aufgelöst wurden und andere als katholische Einrichtungen fortbestanden, konnte sich das Kloster Börstel als evangelisches Damenstift behaupten. Martin Luthers Interesse an einer umfassenden, beiden Geschlechtern offenstehenden Schulbildung fand Monika Fiegert zufolge zwar in den Osnabrücker Kirchenordnungen Widerhall, hatte in der Praxis aber kaum Auswirkungen. 1624/25 verfügten nur 24 der 59 Pfarreien über eigene Schulen, und über Mädchenschulen wurde „nicht nachgedacht“ (260). Herbert Schuckmann stellt mit Badbergen ein Beispiel eines kirchlichen Simultaneums vor, wo selbst das Taufbecken durch eine Scheidewand zweigeteilt wurde und damit für beide Konfessionsparteien nutzbar war. Die Translozierung eines Altarretabels aus dem
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Osnabrücker Dom in das Kloster Gertrudenberg 1662 spiegelt laut Klaus Niehr die veränderte konfessionelle Situation nach der Capitulatio perpetua wider, denn katholische Reliquien wurden nun sukzessive aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit entfernt. Inken Schmidt-Voges entwickelt Perspektiven für die Erforschung von Reformation und Konfessionalisierung auf der Ebene von Ehe und Haushalt. Abgerundet wird der informative Band durch Beiträge zum Prozessions- und Wallfahrtswesen (Hermann Queckenstedt), zur wechselvollen Entwicklung einer Memorialstiftung der Osnabrücker Schuhmacher von 1502 (Sabine Reichert) und zur konfessionellen Erinnerungskultur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, einer Gemeinschaftsproduktion von vier Osnabrücker Studentinnen. Wie der Sammelband „Glaube, Recht und Freiheit“ deutlich macht, bildet der vermeintliche Thesenanschlag Martin Luthers 1517 für die Reformationsgeschichte der Grafschaft Lippe einen weniger unmittelbaren Bezugspunkt als der Röhrentruper Rezess von 1617. Dieser Vertrag, der jahrelange Auseinandersetzungen zwischen den reformierten Grafen von Lippe und der lutherischen Stadt Lemgo beendete, garantierte Ersteren zwar die Landeshoheit und das ius reformandi in allen Orten der Grafschaft außer Lemgo, Letzterer aber weitgehende Autonomierechte einschließlich des Rechts, beim lutherischen Glauben zu bleiben. Für die Entwicklung des Konfessionalisierungsparadigmas ist Lippe insofern bedeutsam, als Heinz Schilling seine einschlägigen Thesen in seiner 1981 publizierten Habilitationsschrift „Konfessionskonflikt und Staatsbildung“ am Beispiel dieses Territoriums entwickelt hatte. Wie der 23 Beiträge umfassende und mit zahlreichen ganzseitigen Farbfotografien aus den Lemgoer Pfarrkirchen St. Nicolai und St. Marien üppig ausgestattete Band zeigt, betrachten längst nicht alle Forscherinnen und Forscher Schillings These von einer lutherischen „Ersten Reformation“, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts von einer reformierten „Zweiten Reformation“ abgelöst wurde, als letztes Wort zur Konfessionsgeschichte Lippes. Ulrich Meier führt vor, dass Lemgo als Sitz eines Archidiakonats bereits im Spätmittelalter ein regionales kirchliches Zentrum war, in dem sich eine „unglaublich vielfältige und aufwändige Stiftungstätigkeit“ (26) entfaltete und nicht weniger als zehn Bruderschaften eine intensive Heiligenverehrung und Totenmemoria praktizierten. Heye Bookmeyer und Christof Spannhoff zeichnen Grundlinien der lippischen Reformationsgeschichte im regionalen und überregionalen Kontext nach. Wie vielerorts begann die Reformation hier als städtisches Phänomen. Nachdem sich Lemgo bereits 1533 eine evangelische Kirchenordnung gegeben hatte, zog die Grafschaft fünf Jahre später nach, wobei sich in einer Phase der Vormundschaftsregierung der Einfluss Philipps von Hessen als ausschlaggebend erwies. Weitere Zäsuren stellten der Erlass einer lutherischen Kirchenordnung während einer weiteren Vormundschaft 1571 und die 1605 publik gemachte Entscheidung Graf Simons VI. für das reformierte Bekenntnis dar. Roland Linde porträtiert die Protagonisten der Reformation in Lemgo, unter denen sich Mitglieder alteingesessener Ratsfamilien wie auch soziale Aufsteiger befanden; als wichtigstes verbindendes Element erscheint ihr hohes Bildungsniveau.
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Christian Helbich porträtiert den von 1555 bis 1568 in Lemgo wirkenden lutherischen Theologen und Geschichtsschreiber Hermann Hamelmann. Bartolt Haase beschreibt die Herausbildung der Bikonfessionalität in Lippe – in kritischer Distanz zu Heinz Schilling – als „ständigen Erneuerungsprozess“ (120), in dem die Hinwendung zum reformierten Glauben eher als späte Umsetzung der Kirchenordnung von 1571 erscheint denn als plötzlicher Bruch: „Die Lipper entschieden sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts nicht zwischen zwei sich statisch gegenüberstehenden Konfessionssystemen und wechselten von dem einen in das andere, sondern rangen zunächst auf der lokalen Ebene um die richtige Gestaltung ihrer örtlichen Kirche“ (119). Lennart Pieper verfolgt diesen Prozess aus der Perspektive des lippischen Grafenhauses, in dem Erb- und Nachfolgefragen, Vormundschaftsregierungen und die Konsequenzen konfessionsverschiedener Ehen zwischen 1530 und 1650 wiederholt für Konfliktstoff sorgten. Nicolaus Rügge behandelt die „Lemgoer Revolte“ von 1609, in der sich die Bürgerschaft gegen die Entscheidung des Stadtrats stellte, sich der Autorität des Grafen Simon VI. in der Konfessionsfrage zu beugen, und Marcel Oeben beschreibt Zustandekommen und Inhalt des von Delegierten des Hochstifts Paderborn vermittelten Röhrentruper Rezesses von 1617. Lemgo stellte fortan „einen Sonderfall, eine rechtliche Enklave dar, blieb aber immer Teil der Grafschaft Lippe“ (164). Der das Stilmittel der rhetorischen Frage ein wenig überstrapazierende Beitrag von Gerrit Nötensmeier umreißt die anschließende Periode bis zum Erlass einer reformierten Kirchenordnung 1684, und Lena Krull demonstriert am Beispiel der vor den Stadtmauern gelegenen reformierten Kirche St. Johann, dass Lemgo keineswegs so streng lutherisch war, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr bildete St. Johann den Kristallisationspunkt einer reformierten Gemeinde, um deren Rechte und Grenzen zwar zahlreiche Auseinandersetzungen geführt wurden, die jedoch auch die von einigen Lemgoern intensiv genutzte „Möglichkeit der freien Wahl einer Kirchengemeinde“ (196) eröffnete. Nicolaus Rügge gibt in seinem zweiten Beitrag eine differenzierte Antwort auf die Frage, ob die unter den Bürgermeistern Heinrich Kerkmann und Hermann Cothmann äußerst intensiven Hexenverfolgungen der 1620er bis 1680er Jahre ein Resultat der 1617 erstrittenen städtischen Autonomie waren: Zum einen genossen Kerkmann und Cothmann die Unterstützung des Grafenhauses, zum anderen sei die Krisensituation des Dreißigjährigen Krieges bei der Erklärung dieses Phänomens zu berücksichtigen. Iris Fleßenkämper rekonstruiert die Bemühungen des 1571 eingerichteten Konsistoriums um die Durchsetzung einer protestantischen Sittenzucht und konstatiert dabei langfristige Erfolge – so enthielt die reformierte Kirchenordnung von 1684 „einen mehrstufigen Maßnahmenkatalog, der das Mahnverfahren, die einzelnen Schritte des Buß- und Versöhnungsprozesses sowie den Umgang der Kirche mit ‚unbußfertigen Sündern‘ konkretisierte“ (244) –, aber auch hartnäckige lokale Widerstände. Weiterhin enthält der aufschlussreiche Band Beiträge zur teilweise erhaltenen und durch mehrere Kataloge dokumentierten Bibliothek Graf Simons VI. ( Joachim Eberhardt), zur frühneuzeitlichen Musikpflege in Lippe (Arno Paduch), zur zahlenmäßig
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kleinen katholischen Minderheit (Uwe Standera) und zur Situation der Juden, für die Dina van Faassen zeigt, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen der Grafschaft und der Stadt Lemgo auch auf die Frage des Judengeleits erstreckten; die Ausweisung der Juden 1614 erscheint gleichsam als Kollateralschaden dieses Macht- und Konfessionskonflikts (284 f.). Jürgen Scheffler, Andreas Lange, Arno Schilberg und Michael Beintker verfolgen die Entwicklung der Konfessionskirchen sowie deren Verhältnis zueinander vom 19. bis ins beginnende 21. Jahrhundert. V. Schweiz Auch in der Schweiz gab das Reformationsjubiläum Impulse für neue Darstellungen zur Reformationsgeschichte. In St. Gallen bilden Bibliothek und Nachlass des Politikers und Gelehrten Joachim von Watt (Vadian) seit jeher einen Dreh- und Angelpunkt einschlägiger Forschungen. Aus der Feder von Rudolf Gamper, dem langjährigen Bibliothekar der Vadianischen Sammlung, liegt nunmehr eine reich bebilderte Biographie vor, die den avancierten Forschungsstand bündelt und mit eigenen Quellenforschungen verbindet. Gegenüber der älteren Biographie Werner Näfs leuchtet Gamper vor allem das soziale und intellektuelle Umfeld Vadians stärker aus. Die drei Hauptkapitel widmen sich Vadians Studien- und Dozentenzeit in Wien (1502–1518), seiner Tätigkeit als Arzt, Reformator und Bürgermeister in St. Gallen (1519–1531) und seinem Wirken als Politiker und Geschichtsschreiber (1532–1551). Innerhalb der jeweiligen Zeitabschnitte ist die Darstellung thematisch gegliedert. In Wien, wo sich der aus einer einflussreichen St. Galler Bürgerfamilie stammende Vadian als Schüler von Konrad Celtis und Johann Camers humanistischen Studien zuwandte, schlug sich seine „Ausstrahlung als Dozent“ im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in steigenden Studentenzahlen aus St. Gallen und der Ostschweiz nieder (55). Am dortigen Poetenkolleg behandelte Vadian „die Dichtung als eigenständige Form der Kommunikation“ (74). Die in Wien entstandenen Reden und Dichtungen Vadians werden ebenso eingehend behandelt wie sein Medizinstudium – das freilich ganz in traditionellen Bahnen verlief und keine Rezeption zeitgenössischer Impulse erkennen lässt – und seine geographischen Studien. Sein Kommentar zu Pomponius Mela war zu Lebzeiten Vadians bekanntestes Werk. Nach seiner Rückkehr nach St. Gallen wurde Vadian rasch zum Mittelpunkt eines kleinen Kreises von Gelehrten; darüber hinaus baute er ein humanistisches Korrespondenznetzwerk auf und verfasste anlässlich eines Ausflugs an den Pilatussee „die wohl älteste ausführliche und präzise Landschaftsbeschreibung aus der Schweiz seit der Römerzeit“ (124). Mit der Anstellung als „Berater der Stadtregierung und Lobbyist für die Stadt“ (127) fand Vadian sein kongeniales Wirkungsfeld: Er übernahm zahlreiche Gesandtschaften und bereitete in den frühen 1520er Jahren als Mitglied einer „Studiengruppe“ (154), in der sich Kleriker und gelehrte Laien auf der Basis von Erasmus’
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Ausgabe des Neuen Testaments mit theologischen Fragen beschäftigten, maßgeblich die St. Galler Reformation mit vor. Zugleich distanzierte er sich von den täuferischen Positionen, die sein Schwager Konrad Grebel in Zürich vertrat (166 f.). Als Mitglied der Stadtregierung – Ende 1525 wurde er erstmals zum Bürgermeister gewählt und bis 1550 achtmal wiedergewählt –, Gutachter und diplomatischer Repräsentant gestaltete Vadian auch die Neuordnung des städtischen Kirchenwesens und die Übernahme der Fürstabtei St. Gallen maßgeblich mit. Einen Einschnitt markiert laut Gamper der Zweite Kappeler Krieg von 1531, der St. Gallen auf der Verliererseite sah: Besitz und Herrschaftsrechte der Fürstabtei mussten umfassend restituiert werden, und die Stadt war fortan politisch weitgehend isoliert. Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen setzte sich Vadian zum einen für den Erhalt des reformierten Kirchenwesens ein. Zum anderen intensivierte er erneut seine humanistischen Studien, die er nun jedoch dezidiert „in den Dienst der reformierten Kirche“ stellte (263). In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten entstanden zahlreiche historische, geographische und theologische Werke. Auf der Basis frühmittelalterlicher Urkunden, die er nach dem Sturm auf die Fürstabtei 1529 an sich genommen hatte, verfasste Vadian eine grundlegende Abhandlung zu deren Besitzgeschichte. Ferner schrieb er eine Darstellung der historischen Entwicklung der Sakramentenlehre, bezog gegen die theologischen Ansichten Caspar Schwenckfelds Position und erarbeitete Chroniken von Stadt und Abtei St. Gallen aus reformierter Perspektive. Seine 455 Bände umfassende Bibliothek ließ er katalogisieren und vermachte sie testamentarisch der Stadt; sie „wurde zur Trägerin der Memoria“ der einflussreichsten Persönlichkeit in St. Gallen während der Reformationszeit (316). Kurze Zusammenfassungen am Anfang jedes Kapitels, Resümees der einschlägigen Forschung sowie materialreiche Exkurse und Anhänge erleichtern den Einstieg in bestimmte Themen und Forschungsgebiete. Die Exkurse bieten unter anderem eine Werkübersicht, Beschreibungen von Bibliothek und Briefsammlung sowie zwei Quellentexte: Vadians Thesen zur Beichte von 1525 (326–335) und Josua Kesslers Trauergedichte auf den Reformator (355–359). Auch die katholisch gebliebenen Orte der Schweiz fanden im Kontext des Reformationsjubiläums Beachtung. In ihrer Studie zu Freiburg im Üchtland befasst sich Rita Binz-Wohlhauser zunächst ausführlich mit der Historiographie und konstatiert dabei eine starke Pfadabhängigkeit: Bestimmte Urteile seien in der Literatur über Jahrhunderte hinweg tradiert worden, obwohl sie einer quellenkritischen Überprüfung nicht standhielten. Auch wenn die Stadt letztlich katholisch geblieben sei, habe sie „kein Bollwerk des Katholizismus“ gebildet (253). So revidiert die Autorin das verbreitete Urteil, „der Freiburger Rat sei früh, eisern und äusserst repressiv gegen Anhänger der neuen Glaubenslehre vorgegangen“ (254). Tatsächlich habe sich die Stadt eng an religionspolitischen Vorgaben der eidgenössischen Tagsatzung orientiert; die Freiburger profession de foi, d. h. die Verpflichtung der Untertanen auf den alten Glauben, sei nach dem eidgenössischen Glaubenskonkordat
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von 1525 zu datieren. Der Rat habe Anhänger der neuen Lehre zwar mit harten Sanktionen bedroht, die Strafnormen aber flexibel und moderat umgesetzt. Die „Urteilsdichte gegen reformatorische Anhänger“ (256) erreichte ihren Höhepunkt nach der Berner Reformation im Jahre 1528. Die Entscheidung für das Festhalten Freiburgs am alten Glauben war Anfang der 1530er Jahre gefallen, während sich die Durchsetzung einheitlicher katholischer Glaubensgrundsätze als langwieriger Prozess erwies. Noch in den 1530er Jahren seien „im Alltag flexible Übergänge vom alten zum neuen Glauben möglich“ gewesen (63). Neue Akzente setzt Binz-Wohlhauser auch hinsichtlich der Rezeption der evangelischen Lehre. Die Existenz eines pro-reformatorisch gesinnten Humanistenzirkels um den 1519 verstorbenen Schultheißen Peter Falck erscheint ihr fraglich, und für die Aufnahme reformatorischer Impulse spielte der Humanismus offenbar eine geringe Rolle. Als Anhänger der neuen Lehre lassen sich vielmehr niedere Weltgeistliche, Handwerker und Landbewohner, aber auch einzelne Angehörige von Ratsfamilien fassen. Insgesamt blieben die Anhänger der neuen Lehre(n) jedoch stets in der Minderheit. Eine „Säuberung“ des Rates von Reformationsbefürwortern ist ebenso wenig erkennbar wie eine größere Auswanderungswelle. Letztlich führten politische, wirtschaftliche und religiöse Motive – das Bemühen um Einheit, Ruhe und Ordnung, die Bedeutung des Söldnerwesens und der französischen Pensionen sowie das Fehlen einer reformatorischen Zentralgestalt wie Zwingli in Zürich oder Vadian in St. Gallen – dazu, dass Rat und Bevölkerungsmehrheit am katholischen Glauben festhielten. Ein weiterer Schwerpunkt der Studie liegt auf den gemeinsam von Bern und Freiburg verwalteten Herrschaften Grasburg-Schwarzenburg, Murten, Orbe-Echallens und Grandson. Obwohl sich letztlich in allen das reformierte Bekenntnis durchsetzte, verlief die Entwicklung im Einzelnen unterschiedlich. In Grasburg und Murten konnte Bern die Reformation bis 1530 durchsetzen, wobei die Stadt sich in ersterer Herrschaft ihre günstige Rechtsstellung zunutze machte. In Orbe-Echallens und Grandson hingegen einigten sich Freiburg und Bern 1532 auf Bekenntnisfreiheit, womit Bern der Tatsache Rechnung trug, dass die Anhänger der Reformation dort in der Minderheit waren. Bis das reformierte Bekenntnis die Oberhand gewann, waren in der Regel mehrere Abstimmungen notwendig, und beide Seiten nutzten die turnusmäßig alternierende Appellationsgerichtsbarkeit, um Konfessionskonflikte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Handlungsmöglichkeiten Freiburgs auf der Ebene der Eidgenossenschaft sieht die Autorin seit der Berner Reformation von 1528 stark durch den Umstand eingeschränkt, dass Freiburg als Vorposten des Katholizismus in der Westschweiz räumlich von den ebenfalls altgläubigen Innerschweizer Orten abgetrennt war. Umgeben von mächtigen protestantischen Nachbarn, lag es im Eigeninteresse Freiburgs, in den Kappeler Kriegen wie auch in der Folgezeit als Vermittlerin zwischen katholischen und reformierten Orten aufzutreten.
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VI. Lutherische Orthodoxie Wie sich Lehre, Amtsführung und Lebenswelt lutherischer Geistlicher nach dem Tod des Reformators weiterentwickeln, lässt sich anhand mehrerer Neuerscheinungen nachvollziehen. Nach der Einführung eines evangelischen Kirchenwesens im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel wurde Jacob Jovius (Götze) 1569 erster Superintendent in Halle im Weserbergland – und das obwohl er „sein Examen nicht bestanden hatte und vom Konsistorium nachweislich abgelehnt worden war“, wie Julia Zech in ihrer Dissertation über diesen Geistlichen schreibt (381). Tatsächlich war Jovius offenbar keine schlechte Wahl, denn er bekleidete sein Amt bis zu seinem Tod 1585 16 Jahre lang und erfüllte die vielfältigen Aufgaben, mit denen ein lutherischer Geistlicher der mittleren Leitungsebene einer hierarchisch aufgebauten Territorialkirche konfrontiert war, durchaus zufriedenstellend. Was diesen Mann für die historische Forschung besonders interessant macht, sind die drei von ihm angelegten Konzeptbücher, die 668 dienstliche und private Schriftstücke enthalten und die Zech erstmals umfassend auswertet. Aus diesen Schreiben lassen sich der Arbeits- und Gemeindealltag von Jacob Jovius wie auch seine verwandtschaftlichen und sozialen Netzwerke detailliert rekonstruieren. Im Anschluss an eine Beschreibung und Kontextualisierung der zentralen Quellen (2) zeichnet Zech Jovius’ Biographie und intellektuellen Horizont nach und umreißt das Aufgabenspektrum eines Superintendenten, das Visitationen, die Dienstaufsicht über Pfarrer, Küster und Schullehrer, die Kirchen- und Ehegerichtsbarkeit sowie Kirchen- und Sittenzucht umfasste (3). Zech charakterisiert den in Jena ausgebildeten Jovius als orthodoxen Lutheraner mit einem ausgeprägten Interesse an Büchern und Medizin. Ihre Auswertung der Konzeptbücher gliedert Zech nach Konfliktfeldern: Familie (5), Freunde (6), Gemeinde (7), geistliche Amtsträger (8) und weltliche Amtsträger (9). Die Beziehungen zwischen Jovius und seiner Herkunftsfamilie waren durch Streitigkeiten um das elterliche Erbe belastet, während die Verhältnisse innerhalb der eigenen Kernfamilie offenbar wesentlich harmonischer waren: Auf jeden Fall war Jovius’ Gattin an wichtigen Entscheidungen beteiligt, und die Versorgung von Frau und Kindern bildete ein zentrales Anliegen des Superintendenten, der sich auch für die Karrieren seiner Schwäger einsetzte. Sein Freundeskreis umfasste neben Berufskollegen auch Adelige und Hofbeamte, wobei Jovius’ Bericht über den Tod seines Freundes Hartung Hake bemerkenswerte Einblicke in die Praxis lutherischer Sterbebegleitung bietet. Ausgesprochen konfliktträchtig gestaltete sich das Verhältnis zur Kirchengemeinde in Halle, in der es eine Reihe von Abendmahls- und Gottesdienstverweigerern gab und die Baukosten sowie die Zehntforderungen des Pfarrers Unmut hervorriefen. Über Jahre hinweg war Jovius damit beschäftigt, ausstehende Zehntleistungen einzutreiben, und auch mit dem Pächter des zur Pfarrei gehörenden Meierguts geriet er mehrfach in Streit. Hier zeigt sich eine strukturelle Schwäche des Superintendentenamts nach
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der Einführung der Reformation in Braunschweig-Wolfenbüttel, denn obwohl Jovius das in der Kirchenordnung von 1569 verankerte Recht auf seiner Seite wusste, konnte er sich gegen die auf dem alten Herkommen beharrenden Dorfbewohner häufig nicht durchsetzen (204, 226). Innerhalb des territorialen Kirchenwesens war der Superintendent eine zentrale „Kontroll- und Vermittlungsinstanz“ (243), und Jovius kam den damit verbundenen Informations- und Aufsichtspflichten offenbar gewissenhaft nach. Als Problemfelder treten hier der Umgang von Pfarrern mit den Witwen ihrer Amtsvorgänger, Fälle von Ehebruch und annullierten Eheversprechen sowie die Neubesetzung bzw. Vertretung vakanter Pfarrstellen hervor. Eine wichtige Aufgabe der evangelischen Geistlichkeit bestand ferner darin, „die fürstlichen Herrschaftsvorstellungen umzusetzen und zu verbreiten“ (369). Dies erforderte eine enge Zusammenarbeit mit den weltlichen Amtmännern, die zunächst keineswegs reibungslos verlief, sich aber im Laufe der Zeit zunehmend einspielte. Zusammenfassend stellt Zech fest, dass Jovius seine Konzeptbücher hauptsächlich für die „Dokumentation von Amtsaufgaben und -geschäften“ sowie als „Arbeitsinstrument“ nutzte (375). Ihre Studie ist mitunter recht detailverliebt, besitzt jedoch den Vorzug, einen evangelischen Geistlichen der mittleren Leitungsebene einer norddeutschen Territorialkirche in seinen vielfältigen lebensweltlichen und sozialen Bezügen plastisch hervortreten zu lassen. Im Gegensatz zu Jovius repräsentieren Tilemann Heshusius (1527–1588) und Johann Gerhard (1582–1637) den ‚Höhenkamm‘ lutherischer Gelehrsamkeit im konfessionellen Zeitalter. Mit dem Obrigkeitsdenken des aus Wesel stammenden MelanchthonSchülers Heshusius hat sich Chang Soo Park in einer umfangreichen Monographie befasst. Aus stadt- und regionalgeschichtlicher Perspektive ist Heshusius insofern ein interessanter Vertreter der lutherischen Orthodoxie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als er an seinen diversen Wirkungsorten – als Theologieprofessor in Rostock, Jena und Helmstedt, als Pastor und Inhaber kirchlicher Leitungsämter in Goslar, Heidelberg, Magdeburg, Neuburg an der Donau und im preußischen Königsberg – immer wieder mit der Obrigkeit in Konflikt geriet. Diese Auseinandersetzungen zwangen ihn gleich siebenmal zur Aufgabe seiner Stelle. Heshusius’ Schriften zur Obrigkeitsproblematik entstanden also nicht im Elfenbeinturm, sondern im Kontext konkreter Streitfälle und Kontroversen, in denen der streitbare Gnesiolutheraner die Befugnisse weltlicher Autoritäten in Frage stellte. Parks Studie reiht sich damit in eine Reihe jüngerer Untersuchungen ein, die das verbreitete Bild eines obrigkeitstreuen, quietistischen Luthertums in Frage gestellt haben. Vom methodischen Ansatz her ist sie dem von der Cambridge School um Quentin Skinner und J. G. A. Pocock entwickelten und von Luise Schorn-Schütte sozialgeschichtlich untermauerten Konzept der Analyse politischer Sprache verpflichtet. Im Anschluss an eine Kurzbiographie von Heshusius und eine Skizze des Obrigkeitsverständnisses der alle lutherischen Geistlichen seiner Generation prägenden Reformatoren Luther und Melanchthon unterzieht Park im ersten Hauptteil Obrig-
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keitsbegriffe (societas, respublica christiana, ordo politicus, magistratus, ordo …), Tugendverständnis und Legitimationsmuster seines Protagonisten einer eingehenden Analyse. Er zeigt, dass sich im Zentrum von Heshusius’ auf antike, mittelalterliche und humanistische Philosophie- und Rechtstraditionen gestütztem politischem Denken die Dreiständelehre befand. Für den Theologen standen der status politicus, der status ecclesiasticus und der status oeconomicus gleichberechtigt nebeneinander; die weltliche Obrigkeit konnte also keine herausgehobene Position und vor allem keine Kompetenzen in kirchlichen Belangen beanspruchen. Zentral ging es Heshusius um „die Wiederherstellung und Bewahrung des Gleichgewichts der von Gott gestifteten Dreiständeordnung als vorrangiges obrigkeitliches Ordnungsziel“ (180). Wenn die weltliche Obrigkeit dieses Gleichgewicht zu ihren Gunsten zu verändern suchte, erschienen Kritik und Widerstand gerechtfertigt. Der Schutz der Kirche gehörte zwar zu den Aufgaben der Obrigkeit; diese Pflicht erstreckte sich jedoch nur über die äußere Kirche, nicht über deren innere Belange. Park spricht von einem „konsensgestützten“ Herrschaftsmodell, in dem auch die Untertanen Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft geltend machen konnten und ein Widerstandsrecht besaßen (337). Im zweiten Hauptteil der Studie analysiert Park mehrere Konflikte, an denen Heshusius selbst beteiligt war bzw. in denen auf seine Obrigkeitskonzeption Bezug genommen wurde. Ausführlich behandelt werden die Hardenberg’schen Unruhen, ein sich von 1547 bis 1568 hinziehender Konflikt zwischen lutherischen und reformierten Positionen um die Abendmahlslehre in Bremen, und die ‚Emder Revolution‘ von 1595, während die Streitigkeiten in Goslar, Rostock, Magdeburg und Wesel in Form von Exkursen thematisiert werden. Der Autor kann zeigen, dass die Dreiständelehre in konkreten Auseinandersetzungen zwischen protestantischen Geistlichen und weltlichen Magistraten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein zentrales „Referenzsystem“ (484, 551) bildete, auf das die Beteiligten – Ratsmitglieder, Geistliche, Bürgerschaft und Landesherren – Bezug nahmen. Entscheidend ist für Park, dass diese „strategische Waffe“ (551) von lutherischen und reformierten Konfliktparteien gleichermaßen gehandhabt wurde; unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit machten die Oppositionsparteien in Bremen und Emden aristokratische Interpretationen der Dreiständelehre geltend, während die Regierenden sich auf eine monarchische Deutung stützten. Angesichts der engen Verzahnung politischer, religiöser und rechtlicher Fragen bildete sich in diesen Konflikten ein spezifischer „kommunikativer Raum“ aus, in dem über den Charakter von Herrschaft und Ordnung verhandelt wurde (484). Der von 1606 bis 1616 in Heldburg und anschließend bis zu seinem Tod 1637 an der Universität Jena wirkende Johann Gerhard avancierte durch seine dogmatischen Werke und erfolgreichen Erbauungsbücher zum angesehensten orthodox-lutherischen Theologen seiner Generation; darüber hinaus hatte er als Prediger, Seelsorger und Fürstenberater großen Einfluss in den ernestinischen Territorien. Die Forschungsbibliothek Gotha, die den handschriftlichen Nachlass und die Bibliothek Gerhards verwahrt und erschließt, veranstaltete 2013 eine Tagung zu Werk und Wirkung des über-
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aus produktiven Jenaer Gelehrten, deren Beiträge im Jubiläumsjahr 2017 publiziert wurden. Dabei stehen, wie die Herausgeber einleitend schreiben, „die Interdependenzen zwischen Theologie, Politik und Gelehrtenkultur“ sowie deren konfessionelle, reichs- und territorialpolitische Kontextualisierung im Zentrum (10). Matthias Schmoeckel stellt Gerhard als „Denker des Ausgleichs“ zwischen lutherischen und calvinistischen Positionen vor, der die Bindung des Fürsten an die Gesetze betont, ein Widerstandsrecht allenfalls den Reichsständen zugesteht und den Einsatz von Gewalt in Konfessionsfragen strikt ablehnt. Georg Schmidt arbeitet anhand eines Gutachtens Gerhards heraus, dass dieser den Prager Frieden von 1635 trotz seiner für die protestantischen Stände problematischen Aspekte für besser hielt als eine Fortführung des Krieges: „Er zog ein unter dem Kaiser geeintes und friedliches deutsches Reich allen anderen irdischen Konstellationen vor, denn nur die monarchische Staatsform garantierte ein wohlgeordnetes Staatskirchentum“ (50). Siegrid Westphal kommt in ihrer Studie zu Gerhards Visitationen in Heldburg zu dem Ergebnis, dass sich diese weitgehend in den etablierten Bahnen lutherischer Visitationspraxis bewegten; Gerhard wusste demnach „in pragmatischer Weise seine individuellen Interessen mit landesherrlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen“ (67). Hendrikje Carius untersucht den Briefwechsel des Theologen mit Christine von Sachsen-Eisenach, „die umfangreichste und zeitlich längste Korrespondenz, die Gerhard mit einer Herzogin geführt hat“ (71). In seinen Briefen leistete Gerhard der vor ihrer Konversion vom reformierten zum lutherischen Glauben von Zweifeln und Anfechtungen geplagten Fürstin seelischen Beistand und nahm Einfluss auf ihre Lektürepraxis; umgekehrt schickte die Herzogin der jungen Frau des Theologen Briefe, die sie an ihre Pflichten als Pastoren- und Professorengattin erinnerten. Ernst Koch analysiert ein Gutachten der Jenaer Theologischen Fakultät von 1620, in dem Gerhard und seine Kollegen anlässlich des Anschlusses von Johann Ernst d. J. von Sachsen-Weimar an die Protestantische Union strikte Neutralität und die Beachtung des geltenden Reichsrechts empfahlen; ihr Argwohn gegen den Calvinismus saß zu diesem Zeitpunkt offenbar tiefer als ihr Misstrauen gegen den katholischen Kaiser. Joar Haga kontrastiert das Verhältnis von Staat und Kirche bei Gerhard, der auf Basis der Dreiständelehre für eine gewisse Unabhängigkeit der Kirche von weltlicher Herrschaft eintrat, mit der Position dänischer Theologen des 17. Jahrhunderts, die Staat und Kirche in der Person des Monarchen vereinigt sahen und kein autonomes kirchliches Recht mehr gelten ließen. Patrizio Foresta widmet sich der Auseinandersetzung zwischen Gerhard und dem einflussreichsten katholischen Kontroverstheologen seiner Zeit, Roberto Bellarmin, um die Gestalt der Kirche, in der es vor allem um die Geschichte und die Bedeutung der Konzile ging. Robert Kolb führt vor, wie der Jenaer Theologe die paradigmatischen Geschichten, Typen, Figuren und Allegorien des Alten Testaments als Quelle der Erbauung nutzte. Stefan Michel stellt Gerhards maßgeblichen Anteil am Ernestinischen Bibelwerk, einem 1641 gedruckten umfangreichen theologischen Nachschlagewerk, dar. Als Rektor der Universität Jena und Dekan der Theologischen Fakultät
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prägte Johann Gerhard auch die Gestaltung des Reformationsjubiläums an der Salana im Jahre 1617 wesentlich mit. Daniel Gehrt zeigt, dass das Jubiläum in Jena, an den Gymnasien der ernestinischen Territorien, aber auch an Universitäten und hohen Schulen im ganzen Reich mit einer Fülle an Festreden, Disputationen und performativen Akten begangen wurde; speziell für Gerhard konstatiert er „eine zukunftsweisende Neuformulierung des lutherischen Standpunktes“, da dieser „Luthers Legitimität als Kirchenreformer“ nicht aus einer unmittelbaren göttlichen Berufung, sondern aus seinen exzeptionellen persönlichen Gnadengaben und seiner Amtskompetenz als Theologe herleitete (203 f.). Ulman Weiß zeigt am Beispiel von Übersetzungen, Widmungen, Vorreden, Auftragsarbeiten und der für beide Seiten profitablen Zusammenarbeit mit der Jenaer Offizin von Tobias Steinmann die Einbindung Gerhards in ein Netzwerk protestantischer Autoren, Fürsten und Verleger auf. Sascha Salatowsky konkretisiert abschließend anhand einer Privatvorlesung des 21-jährigen Gerhard dessen Anteil an der um 1600 einsetzenden „Rückkehr der Metaphysik“ (262). Insgesamt demonstriert der Band, welche Fundgrube Werk und Nachlass des Jenaer Theologen für Fragen an den Schnittstellen von akademischer Theologie, politischem Denken, landesherrlichem Kirchenregiment und gelehrter Netzwerkbildung im frühen 17. Jahrhundert bietet. Johann Gerhard gehört auch zu den Gewährsleuten, auf die sich Wolfgang E. J. Webers unter dem provokativen Titel „Luthers bleiche Erben“ publizierte „Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts“ stützt. Weber analysiert darin Selbstwahrnehmung, Amtsverständnis und Weltbild jener Vertreter der lutherischen Orthodoxie, die Luther nicht mehr persönlich kennengelernt hatten, sich aber als Sachwalter seines Erbes sahen und ihn zum unerreichbaren Vorbild stilisierten. Die wichtigste Quellengattung der Untersuchung bilden Handbücher und Traktate, die praktische Probleme der Verkündigung und Amtsführung lutherischer Geistlicher reflektierten und damit eine Schnittstelle zwischen theologischen Normen und historischer Praxis markieren. Häufig zitierte Autoren neben Gerhard sind etwa der Eislebener Pastor Conrad Porta (1541–1585), der eine Pastorale Lutheri veröffentlichte, der sächsische Pfarrer und Dichter Johann Samuel Adami (1638–1715) oder der als Superintendent in Rothenburg ob der Tauber wirkende und als Verfasser eines pastoraltheologischen Werks hervorgetretene Johann Ludwig Hartmann (1640–1680). In acht jeweils chronologisch aufgebauten Kapiteln beschreibt Weber auf dieser Quellenbasis die Weiterentwicklung der lutherischen Theologie sowie die „Professionalisierung des Pastorenberufs“ (175) in den zwei Generationen nach Luthers Tod (1); die Wege und Irrwege, die im 17. Jahrhundert auf eine lutherische Pfarrstelle führten (2); das Predigt, Katechese, Sakramentsverwaltung, Kirchenzucht und administrative Aufgaben umfassende Spektrum pastoraler Tätigkeiten (3); die Bekämpfung von „Unzucht, Tanz und Eigennutz“ (4); den Wandel der Vorstellungen vom Straf- und Wächteramt des Pastors (5); den Preis, den die Geistlichen für ihre Amtsführung in Form von „Selbstdisziplinierung, Melancholie und Devianz“ zahlen mussten (6); die
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Debatten um ein angemessenes Pfarrereinkommen (7) sowie die Kritik, welche evangelische Geistliche an Fehlentwicklungen ihres Standes übten oder mit der sie sich von spiritualistischen, pietistischen und aufklärerischen Theologen konfrontiert sahen (8). Webers präzise, quellennahe Analysen dieser wenig bekannten lutherischen Texte gelangen zu einem ambivalenten Befund. Auf der einen Seite registrierten die konsultierten Autoren Probleme wie die Entwicklung des Pastorenamts zu einem verlängerten Arm des Staates, die Anpassung vieler Geistlicher an Lebens- und Verhaltensformen der höfischen bzw. bürgerlichen Eliten und die Überforderung mancher Pfarrer durch ihre Amtspflichten, die sich in zeitgenössisch als ‚Anfechtung‘ und ‚Melancholie‘ beschriebenen Depressionen und abweichendem Verhalten (Alkoholismus, weltlichem Gewinnstreben etc.) äußerten, sehr präzise. Auf der anderen Seite hatten sie diesen Phänomenen über Ermahnungen zu Glaubenstreue, Gottvertrauen, Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit hinaus wenig entgegenzusetzen. Einer oftmals beeindruckenden analytischen Schärfe, wenn es um die Diagnose von Gegenwartsproblemen ging, standen somit eine begrenzte Problemlösungskompetenz und eine resignative Unterordnung unter weltliche Obrigkeiten, die ihren Machtanspruch immer energischer geltend machten, entgegen. Webers kritische, dabei aber durchaus von Sympathie für seine Protagonisten und ihre Probleme geprägte Bestandsaufnahme regt dazu an, tiefer in die Lebens- und Gedankenwelt von Luthers Erben vorzudringen. VII. (K)ein Konkurrenzjubiläum: Würzburg und Julius Echter 2017 jährte sich nicht nur der Auftakt der Reformation zum 500. Mal; es war auch das 400. Todesjahr des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter, der durch seine konsequente Zentralisierungspolitik, energische gegenreformatorische Maßnahmen und eine rege Bautätigkeit das Hochstift und seine Residenzstadt nachhaltig geprägt hat. Auch dieses Jubiläum schlug sich in Ausstellungen, Konferenzen und Sammelbänden nieder, und obwohl die Veranstalter dies bestritten, konnten sich selbst einzelne Beiträger zur einschlägigen Jubiläumsliteratur des Verdachts nicht ganz erwehren, dass Würzburg „wohl auch eine Art regionalen katholischen Konkurrenzjubiläums zum Reformationsgedenken“ veranstaltet habe.21 Das Vorwort des Katalogbands „Julius Echter. Der umstrittene Fürstbischof “, der die gleichnamige Ausstellung im Würzburger Museum am Dom dokumentiert, betont demgegenüber, dass „das Zusammentreffen des Gedenkjahres für Julius Echter und 21
So Heinrich Wagner: Würzburg, Sachsen, Ritterschaft: Konkurrenz oder Koexistenz? In: Wolfgang Weiss (Hg.): Landesherrschaft und Konfession. Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (reg. 1573–1617) und seine Zeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Hochstifts Würzburg 76), Würzburg 2018, 243–265, hier 244.
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für die von Martin Luther ausgelöste Reformation nicht als Konkurrenz, sondern als Chance für einen interkonfessionellen Dialog“ zu verstehen sei (8). Dementsprechend geht es den Autoren darum, sowohl die Leistungen Echters für die Neuorganisation des Hochstifts Würzburg zu würdigen als auch die problematischen Seiten seines Wirkens in den Blick zu nehmen. Ausstellung und Katalog wollten dem Vorwort zufolge Echters „44-jährige Regierungszeit und ihre Folgen beleuchten, aber nicht perspektivisch bewerten“ (7). Dem Katalogteil sind vier Beiträge vorangestellt. Hans-Wolfgang Bergerhausen skizziert die Entwicklung im Reich und im Hochstift Würzburg zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg, wobei er eine Zäsur in den 1580er Jahren ausmacht: „Die Katholiken schalteten um von resignativer Duldung protestantischer Zumutungen zu aktiver Gegenwehr“ (21). Frank Kleinehagenbrock behandelt die Einbindung Echters in das Reich anhand der Nutzung der Reichsgerichte, der Rolle Würzburgs auf den Reichstagen und im Fränkischen Kreis, der Versuche, auf Nachbarterritorien wie Fulda und Wertheim Einfluss zu gewinnen, sowie der engen Bindung an Wittelsbach. Wolfgang Weiß und Winfried Romberg stellen Echter als Fürsten eines geistlichen Territoriums sowie als Bischof einer Diözese vor, wobei sie ihm sowohl „Beharrlichkeit und Durchsetzungsstärke“ als auch „Härte und Rücksichtslosigkeit“ bescheinigen (31). Bei seinem Regierungsantritt habe Echter ausgesprochen ungünstige Bedingungen – Verschuldung, eine tiefe Wirtschaftskrise, administrative Rückständigkeit und ein zersplittertes, ineffektives Gerichtswesen – vorgefunden, die er durch die planmäßige Neuordnung von Verwaltung, Rechtspflege und Finanzen substantiell verbessert habe. Echters Reformen gaben somit „dem staatlichen Verwaltungsausbau einen bisher ungekannten Schub in Richtung einer frühneuzeitlichen Modernisierung“ (34). Echters Finanzpolitik bescheinigen Weiß und Romberg „eine streng abgewogene Balance zwischen Sparen und Investieren“ (37). Mit der Gründung neuer Institutionen – allen voran Juliusspital und Universität – setzte sich der Fürstbischof bleibende Denkmäler. Im kirchlichen Bereich, so dieselben Autoren, habe Echter bei seinem Amtsantritt 1573 „weithin desolate Verhältnisse“ (39) vorgefunden, auf die er mit rigiden gegenreformatorischen Maßnahmen, aber auch mit einer konsequenten Kirchen-, Armen- und Schulpolitik im Geist der katholischen Reform sowie mit der Belebung „typisch katholischer Frömmigkeitsformen“ (44) reagierte. Der Katalogteil gliedert sich in sechs Abschnitte. Der Abschnitt „Der Weg zum Fürstbischof “ zeichnet familiären Hintergrund und Werdegang Echters nach, der bereits im Alter von 28 Jahren zum Bischof gewählt wurde, obwohl seine Familie nicht im Würzburger Domkapitel verwurzelt war. Unter der Überschrift „Raum und Residenz“ wird die Bautätigkeit während Echters Regierungszeit thematisiert; in seinem Bistum, insbesondere im Hochstiftsgebiet „lässt sich an über 350 Kirchen- und Profanbauten eine Beteiligung Echters nachweisen“ (86). Selbst ein durchreisender Florentiner Diplomat zeigte sich 1609 von der architektonischen Neugestaltung Würzburgs beeindruckt (120 f.).
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Die Sektion „Bistum und Hochstift“ visualisiert anhand von Karten die Ausdehnung von Echters weltlichem und geistlichem Herrschaftsbereich und seine administrativen Maßnahmen, die sich weitgehend auf sein weltliches Herrschaftsgebiet beschränkten (126–130). Das fränkische Herzogsschwert, Porträts und Statuen des Heiligen Kilian mit den Gesichtszügen Echters sowie Wappen, Münzen und Inschriften fungierten als symbolische Repräsentationen der geistlich-weltlichen Doppelherrschaft des Bischofs. Der Abschnitt „Vertreibung und Verfolgung“ widmet sich den problematischen Aspekten von Echters Wirken im Hochstift Würzburg: der Unterdrückung des Protestantismus, die seit Mitte der 1580er Jahre mehrere hundert Familien ins Exil trieb, der Exklusion von Juden und der – in jüngsten Forschungen freilich differenziert beurteilten – Verfolgung von Hexen. Der verbreiteten Deutung, dass Echters Rekatholisierungspolitik erfolgreich gewesen sei, stellt Rainer Leng den bedenkenswerten Befund entgegen, dass sich viele irenische bzw. konfessionell unentschiedene Geistliche, die sich anfangs noch dem Bistum Würzburg zugehörig fühlten, erst angesichts der fortschreitenden konfessionellen Polarisierung klar für protestantische Positionen entschieden hätten (176). Und obwohl Echter auf rechtsförmigen Verfahren bei Hexereidelikten bestanden habe, bleibe er angesichts von 200 bis 300 Opfern „als Landesherr verantwortlich für das Treiben seiner Gerichte“ (180). Der Abschnitt „Frömmigkeit und Ritus“ erhellt anhand zahlreicher Objekte die (Wieder-)Belebung der Marien- und Heiligenfrömmigkeit, die Rolle von Bruderschaften, Teufels- und Dämonenglauben sowie die Neugestaltung von Liturgie und Kirchenräumen. Abschließend wird unter „Erinnerung und Inszenierung“ deutlich, wie stark Echter durch Selbststilisierung, Porträtaufträge, Jubiläumsschriften und Totengedenken langfristig die eigene Memoria beeinflusste. Seit dem 19. Jahrhundert finden sich hingegen „höchst widersprüchliche Blickwinkel auf einen umstrittenen Fürstbischof “ (309). Zeitlich parallel zu dieser Ausstellung legte Wolfgang Weiß einen umfangreichen, aus einer Tagung des Würzburger Diözesangeschichtsvereins im Frühjahr 2016 hervorgegangenen Sammelband vor, in dem sich 25 Autorinnen und Autoren unterschiedlichen Aspekten des Lebens und Wirkens des Würzburger Fürstbischofs widmeten. Der Untertitel „verehrt, verflucht, verkannt“ weist pointiert auf das umstrittene Vermächtnis Echters hin, und die ersten vier Beiträge widmen sich dem Urteil der Nachwelt. Der Herausgeber selbst zeichnet „Linien der Echter-Forschung“ nach; dabei betont er die nachhaltige Prägung der Historiographie durch konfessionell gefärbte zeitgenössische Urteile und konstatiert, dass „die Persönlichkeit Echters“ angesichts fehlender Selbstzeugnisse nach wie vor „nur schemenhaft“ greifbar sei (46). Winfried Romberg skizziert das Bild Echters in der Geschichtsschreibung des Hochstifts Würzburg. Während er einerseits Kontinuität auf dem Bischofsthron verkörperte, wurde er andererseits zu einer „Projektionsfigur“ (80) für Reformen im Geist der katholischen Aufklärung stilisiert. Ausgehend von dem von König Ludwig I. 1847 gestifteten EchterDenkmal an der Würzburger Promenade zeichnet Karl Borromäus Murr nach, wie der Bischof im Königreich Bayern als öffentliche Erinnerungsfigur in Anspruch genom-
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men wurde. Gerhard Hausmann rekonstruiert die protestantische Echter-Rezeption zwischen konfessioneller Polemik und wissenschaftlichem Interesse. Im Anschluss an einen Überblick über die Würzburger Bischofsreihe zwischen Lorenz von Bibra und Julius Echter von Dieter J. Weiß und einen Vergleich zwischen Echter und dem Augsburger Bischof Otto Truchsess von Waldburg, die Wolfgang Wüst als humanistisch gebildete Universitätsgründer und katholische Reformer charakterisiert, porträtiert Stefan W. Römmelt den Würzburger Domdekan Erasmus Neustetter als Geistlichen, der Echters Politik kritisch gegenüberstand, den calvinistischen ‚Dichterarzt‘ Johannes Posthius förderte, sich aber letztlich mit dem mächtigen Fürstbischof arrangierte. Astrid Ackermann zeigt, wie Bernhard von Weimar als Herzog von Franken von Schwedens Gnaden im Dreißigjährigen Krieg seine Herrschaft „vor der Folie des Echter’schen Erbes“ (199) zu legitimieren und zu inszenieren suchte. Christian Grebner befasst sich mit Echters Herkunft aus der Ritterschaft des Spessarts und führt vor, wie der Bischof seine Stellung zur Förderung der eigenen Familie nutzte. Enno Bünz betrachtet den 2017 in Würzburg ausgestellten Echter’schen Familienteppich von 1564 als „bedeutendes Zeugnis adliger Selbstdarstellung“ (232), während Erich Schneider mit dem Schweinfurter „Echter-Tisch“ (255) von 1610 ein weiteres markantes Repräsentationsobjekt in Augenschein nimmt. Frank Kleinehagenbrock demonstriert, wie Echter Herrschaftsrechte und Machtansprüche gegenüber territorialen Nachbarn durchzusetzen versuchte, und Dieter Michael Feineis gibt einen Überblick über die hochstiftischen Finanzen der Echterzeit. Thomas Horlings Beitrag bietet ein wichtiges Korrektiv zur verbreiteten Auffassung, dass das Würzburger Domkapitel gegenüber dem reformfreudigen Bischof lediglich als retardierendes Moment gewirkt habe. Stattdessen sieht er die Haltung der Domherren primär durch deren adeliges Selbstverständnis bestimmt und betont die Mitwirkung des Kapitels an der Gesetzgebung. Gleichwohl bleibe die Geschichte der Korporation ein Forschungsdesiderat. Sabine Ullmann sieht die rigide Politik Echters gegenüber den Juden einerseits in der Kontinuität seines Vorgängers Friedrich von Wirsberg, andererseits im Kontext der wirtschafts-, konfessions-, territorial- und regionalpolitischen Ziele des Fürstbischofs. Andreas Flurschütz da Cruz resümiert die Ergebnisse seiner inzwischen auch monographisch publizierten Forschungen zu Echters Rolle in den Würzburger Hexenprozessen.22 Er charakterisiert Echter als Landesherrn, der sich intensiv mit der Hexenproblematik auseinandersetzte, die Plausibilität von Aussagen und Geständnissen sorgfältig prüfte, Maßnahmen gegen Selbstjustiz der Untertanen ergriff und um das Seelenheil der vermeintlichen Delinquent(inn)en wie von deren Opfern besorgt war. Insbesondere in seinen letzten beiden Regierungsjahren trat er dem Verfolgungseifer seiner lokalen Beamten allerdings nicht mehr entschieden entgegen. Johannes 22
Andreas Flurschütz da Cruz: Hexenbrenner, Seelenretter. Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (1573–1617) und die Hexenverfolgungen im Hochstift Würzburg (Hexenforschung 16), Bielefeld 2017.
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Merz arbeitet heraus, dass die 1585 einsetzende systematische Rekatholisierung des Hochstifts „[r]eichspolitisch und infrastrukturell“ sorgfältig vorbereitet war (396), da Echter seine Machtposition in den Jahren zuvor gefestigt hatte und auch die Regelungen des Augsburger Religionsfriedens im Blick behielt. Die 1589 von Echter erlassene Kirchenordnung weist Sabine Arend zufolge zahlreiche Entlehnungen aus evangelischen Kirchenordnungen auf; gleichwohl steht sie in engem Zusammenhang mit der katholischen Reform in Würzburg. Mit Ingrid Heeg-Engelhart, Elmar Hochholzer und Klaus-Bernward Springer betrachten gleich drei Autoren Aspekte von Julius Echters Klosterpolitik: Übereinstimmend stellen sie fest, dass der Bischof seine Aufsicht und Kontrolle über die klösterlichen Gemeinschaften stärkte. Während er einzelne Frauenklöster zugunsten eigener Projekte aufhob, ist bei den Benediktinern und Dominikanern eine Konsolidierung und Neubelebung erkennbar; diese war freilich nicht allein Echters Werk, sondern geht auch auf Prälaten wie den Abt von Münsterschwarzach, Johannes Burckhardt, und den Prior der Würzburger Prediger, Kaspar Fläschentreber, zurück. Mit Echters bekanntesten Hinterlassenschaften, Universität und Juliusspital, befassen sich die letzten vier Beiträge des voluminösen Bandes. Anja Amend-Traut beschreibt die Universitätsgründung als stufenweisen Prozess, der von der kaiserlichen und päpstlichen Privilegierung 1575 über die Aufnahme des Lehrbetriebs 1582 bis zum Erlass der Statuten 1587/88 reichte. Hier wie auf vielen anderen Handlungsfeldern des Fürstbischofs wird deutlich, dass Echter stets darauf achtete, das Heft in der Hand zu behandeln – ein Befund, den auch Niccolo Steiner SJ für die Jesuiten unterstreicht. Diese spielten in Würzburg in der Hochschullehre, Priesterausbildung, Predigt, Katechese und Volksmission eine zentrale Rolle, doch überließ ihnen Echter weder die Leitung der Universität noch die des Priesterseminars. Sebastian Schmidt beschreibt die Gründung des Juliusspitals als zentrale karitative Einrichtung zwar als „typische Zeiterscheinung“ (594), die im romanischen Europa zahlreiche Vorläufer hatte, stellt jedoch die Größe des Spitals, die Zahl der Fürsorgeempfänger und die territoriale Konzeption der Sozialfürsorge als Besonderheiten heraus. Andreas Mettenleiter ergänzt Schmidts Ausführungen, indem er die Multifunktionalität des Juliusspitals betont und es gemeinsam mit den Würzburger Landspitälern „als sozial-caritatives Gesamtkonzept“ (601) interpretiert. Der ebenfalls von Wolfgang Weiß herausgegebene Sammelband „Landesherrschaft und Konfession“ bietet eine Art Nachschlag zum Echter-Jubiläum: Er versammelt im ersten Teil neun Beiträge des Würzburger Diözesangeschichtlichen Kolloquiums vom November 2016, die sich mit dem Verhältnis zwischen Echter und seiner Residenzstadt befassten. Rainer Leng stellt die „völlig unterschiedliche[n] Herrschaftsauffassungen“ (19) des an älteren genossenschaftlichen Traditionen festhaltenden Würzburger Rats und des an Zentralisierung und der Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes interessierten Bischofs dar. Ferner beschreibt er eine Reihe von Konfliktfeldern – Religionspolitik, Bürgeraufnahmen, Stellenbesetzungen, Bauwesen, Steuern und Fi-
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nanzen, Erlass von Ordnungen und Satzungen –, in denen Echter seine Vorstellungen durchsetzen konnte. Trotz des Macht- und Hierarchiegefälles zwischen Bischof und Rat konnte Letzterer „Reservate städtischer Autonomie“ (34) bewahren. Marcus Holtz zeichnet die gegenreformatorischen Maßnahmen nach, die seit Mitte der 1580er Jahre einen Teil der wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht Würzburgs ins Exil trieben, und betont die erheblichen ökonomischen Auswirkungen dieses Prozesses. Hans-Wolfgang Bergerhausen verfolgt die Konflikte zwischen Bischof und Stadt auf dem Gebiet des Armen- und Gesundheitswesens. Während dem Rat „der Aufbau eines sachgemäßen Medizinal- und Gesundheitswesens völlig fern“ gelegen habe (53), strebte Echter eine umfassende Neuausrichtung der Fürsorge an. Der Widerstand des Rats richtete sich indessen nicht nur gegen die Zentralisierungsbestrebungen des Bischofs, sondern besonders auch gegen dessen Pläne, Ortsfremden Fürsorgeleistungen zukommen zu lassen. Letztlich konnte Echter seine Vorstellungen nur partiell durchsetzen, da „Tendenzen zur Verpfründung, Kommerzialisierung und Klientelisierung im städtischen Fürsorgewesen ungebrochen fortbestanden“ (64). Flankiert wird dieser Beitrag von einer Edition des Entwurfs einer obrigkeitlichen Almosenordnung von 1606. Wolfgang Brückner konkretisiert die katholische Konfessionskultur und Frömmigkeit in Würzburg anhand der Marienverehrung und der Wallfahrten nach Walldürn, Dettelbach und auf den Kreuzberg (Rhön), während Damian Dombrowski am Beispiel der Grabmäler für Julius Echters früh verstorbenen Bruder Sebastian (1577/78) und Echter selbst (1617/18) im Würzburger Dom ikonographische und stilistische Wandlungen der Grabplastik nachvollzieht. Markus Josef Maier führt vor, dass die echterzeitlichen Privat-, Sakral- und Herrschaftsbauten in Würzburg die vorhandene Stadttopographie markant verdichteten und auf den Fürstbischof hin zentrierten. Helmut Flachenecker skizziert die Entwicklung der Festung Marienberg zum Herrschaftszentrum seit dem Hochmittelalter und begreift die Umgestaltungen der Echterzeit als Kompromiss zwischen Residenz- und Festungsfunktion. Hinsichtlich der fortifikatorischen Funktion ergänzt Stefan Bürger, dass der Marienberg topographische Schwierigkeiten für eine zeitgemäße Festungsarchitektur um 1600 aufwarf, und er betont den „hohen strategischen und symbolischen Wert“ der sogenannten Echterbastei (206). Der zweite Teil des Bandes versammelt sechs thematisch eher lose zusammenhängende Beiträge zu Echter und seiner Zeit. Besonders erhellend ist hier der Vergleich zwischen Echter und seinem protestantischen Zeitgenossen Georg Friedrich d. Ä. von Brandenburg-Ansbach aus der Feder Reinhard Seyboths, arbeitet er doch ungeachtet der konfessionellen Differenz eine Reihe von Parallelen hinsichtlich ihrer Herrschaftsauffassung und ihres Regierungshandelns heraus: „Beiden war ihr Glaube die entscheidende Maxime und Triebfeder ihres politischen Handelns, daneben verkörperten sie zahlreiche Merkmale eines frühabsolutistischen Fürsten in beinahe idealtypischer Weise“ (240). Heinrich Wagner macht deutlich, dass der Würzburger Fürstbischof gegenüber seinen territorialen Nachbarn unterschiedliche Strategien verfolgte:
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Während er sich gegenüber Kursachsen und Sachsen-Weimar im Schleusinger Vertrag von 1586, der das Erbe der ausgestorbenen Grafen von Henneberg regelte, auffällig konziliant und kompromissbereit zeigte, zog er gegenüber der evangelischen Ritterschaft im Rhön-Werra-Kreis alle Register einer restriktiven, konfessionell ausgerichteten Lehenpolitik, um deren Einfluss zurückzudrängen. Josef Bongartz charakterisiert die Rechts- und Gerichtslandschaft im Hochstift Würzburg, wobei er konstatiert, dass die Echterzeit vor allem im Bereich des Strafrechts „die entscheidende Verdichtung und Zentralisierung der Strafgewalt“ bewirkt habe (284). Die fürstbischöfliche Kanzlei spielte künftig im Strafverfahren eine zentrale Rolle. Der Beitrag von Enno Bünz widmet sich der „Steinernen Stiftungsurkunde“ des Juliusspitals von 1576/78, anhand derer der Verfasser „den Zusammenhang von Wohlfahrtseinrichtungen, Gebetsmemoria und Seelenheil in Hospitaleinrichtungen in Franken“ (295) vom 14. bis zum 18. Jahrhundert nachverfolgt. Frank Sobiechs Studie zur Kerkerseelsorge der Jesuiten leistet einen Beitrag zur Erforschung der Hexenverfolgungen unter Julius Echter. Neben ‚gewöhnlichen‘ Malefikanten betreuten die Jesuiten auch zahlreiche der Hexerei angeklagte Personen seelsorgerisch. Während sie sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts offenbar mehrfach für die Freilassung von Angeklagten einsetzten, scheinen sie 1615/16 die Hexenhysterie im Hochstift durch einen Predigtzyklus angefacht und überdies versucht zu haben, hochstiftische Beamte, die sich gegen die einsetzende Prozesswelle stemmten, „zum Schweigen zu bringen“ (346). Inwieweit dieser Kurswechsel mit dem Tod des Jesuiten Gerhard Phien 1614 zusammenhing, bedürfe weiterer Forschungen. Der finale Beitrag von Gerhard Seibold zum Stammbuch des westfälischen Niederadeligen Dietrich von Ketteler, in das sich 1567 in Orléans auch Julius Echter und seine Brüder eintrugen, hat eher den Charakter einer Fußnote zur Echterforschung. VIII. Fazit – und eine neue Synthese der postreformatorischen Christentumsgeschichte Die regionalgeschichtlichen Publikationen zum Reformationsjubiläum bereiten den erreichten Wissensstand umfassend und häufig in ansprechender Form auf; zugleich bereichern sie den Kenntnisstand um zahlreiche herrschafts-, kirchen-, gesellschaftsund kulturgeschichtliche Aspekte. Schwerpunkte der Forschung bildeten zuletzt der mitteldeutsche Raum, die führenden evangelischen Theologen und die fürstlichen Akteure. Demgegenüber sind zur Rolle der Stände und der Landbevölkerung zwar weiterführende Studien erschienen, doch wirken diese Forschungsfelder noch ausbaufähig. Weiterhin fällt auf, dass zahlreiche Publikationen deutlich über den in den meisten Handbüchern als ‚Zeitalter der Reformation‘ apostrophierten Zeitraum 1517–1555 hinausreichen. Insbesondere die Grenzen zwischen Reformation und konfessionellem Zeitalter scheinen zunehmend zu verschwimmen. Mit der überbordenden Fülle neuer
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Lokal- und Regionalstudien steigt schließlich auch das Bedürfnis nach Synthesen, welche die empirischen Erkenntnisfortschritte bündeln und systematisieren. Für die drei Jahrhunderte nach der Reformation liegt eine solche Synthese seit 2015 vor. Andreas Holzems Werk „Christentum in Deutschland“ ist schon von den äußeren Dimensionen her ehrfurchtgebietend: Die zwei Bände umfassen fast 1.500 Seiten, und sowohl das Literaturverzeichnis als auch die Register füllen jeweils über 100 Seiten. Dass er den langen Zeitraum vom Interim Karls V. 1548 bis zur Revolution von 1848 in den Blick nimmt, begründet der Tübinger Kirchenhistoriker damit, dass weder der Westfälische Friede von 1648 noch die Französische Revolution für die Ausformung konfessioneller Kulturen, um die es ihm geht, entscheidende Zäsuren seien. Der Autor unterzieht einerseits das Konfessionalisierungsparadigma gut drei Jahrzehnte nach seiner Formulierung durch Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling einer kritischen Bestandsaufnahme und entwickelt es weiter; andererseits strebt er eine vergleichende Perspektive an, die auch „interkonfessionellen Bezugsräumen und Betrachtungsweisen“ (6) Rechnung trägt. Neben dem Verhältnis von Staat und Religion, das die Diskussion um das Konzept der Konfessionalisierung ursprünglich bestimmte, nimmt Holzem auch dessen gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen in den Blick; „kirchliches und religiöses Leben“ soll „in spezifischen sozialen und politischen Erfahrungs- und Handlungsräumen“ (18) dargestellt werden. Erkenntnisleitend ist ferner der Begriff des religiösen Wissens, der „als permanenter Transfer- und Transformationsprozess von Vorprägungen, Zuschreibungen, Handlungsoptionen und nachgehenden Deutungen zu analysieren“ sei (26). Diese umfassende Perspektive entfaltet Holzem in drei Großkapiteln, die zusammen über 500 Textseiten einnehmen. Kapitel 2 ist der „Konfessionalisierung als Politik“ gewidmet: Hier spannt der Autor einen Bogen von den Kriegen der Reformationszeit als Kämpfen „um religiöse Wahrheitsansprüche“ (44) über die „Entflechtung von Theologie und Politik“ (51) im Augsburger Religionsfrieden bis zum Aufbau landesherrlicher Kirchenregimente in protestantischen und der Konfessionalisierung katholischer Territorien. Diese Prozesse werden an markanten Beispielen (Kursachsen, Württemberg, Bayern, Fürstbistum Münster) konkretisiert und die grundlegenden Techniken und Instrumente der Konfessionalisierung (Visitationen, Kirchenordnungen, Aufbau kirchlicher Leitungsgremien) beschrieben. Für den protestantischen Bereich hebt Holzem hervor, dass „kein prinzipieller Gegensatz“ (72) zwischen städtischen und landesherrlichen Obrigkeiten bestanden habe; beide begriffen sich als christliche Autoritäten, die eine besondere Verantwortung für ihre Untertanen trugen. Während sich der Umbau Bayerns zum katholischen Musterstaat in enger Kooperation von Herzögen und Jesuiten vollzog, setzte die Konfessionalisierung geistlicher Territorien „erst mit erheblicher Verspätung“ ein (137), was Holzem auf die begrenzten, von Domkapiteln, benachbarten Herrschern, Klöstern und Stadtgemeinden eingeschränkten Handlungsspielräume der Bischöfe zurückführt. Insgesamt sei die obrigkeitliche Durchsetzung des Bekenntnisses „in evangelischen Territorien weder rascher
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noch erfolgreicher [verlaufen] als in katholischen“ (142). Entscheidend für den Erfolg sei vielmehr „die Kategorie des Raumes“ (ebenda) gewesen: Während Genf, Wittenberg oder München zu konfessionellen Mustergemeinden umgeformt wurden, sah es in peripheren Landgemeinden oft ganz anders aus. Kapitel 3 stellt unter dem Titel „Konfessionalisierung als Kirchenreform“ die zentralen theologischen Entwicklungen und die Prozesse der Bekenntnisbildung dar: das Konzil von Trient, die auch den deutschen Katholizismus maßgeblich prägende ‚Reformspiritualität‘ der Jesuiten, der spanischen Mystiker und des Mailänder Erzbischofs Carlo Borromeo, die sich in externen wie internen Auseinandersetzungen profilierende lutherische Orthodoxie sowie die Ausprägung reformierter Bekenntnisse und Kirchenverfassungen. Das Kapitel 4 „Konfessionelle Gesellschaften und die Verchristlichung der Lebenswelt“ bietet sodann auf rund 240 Seiten die wohl beste Darstellung, die man derzeit zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des konfessionellen Zeitalters lesen kann. Holzem behandelt hier die Professionalisierung des Klerus, die Ausgestaltung von Kirchenräumen, die durch Predigt, Katechese, Schule, Kirchenzucht und religiöse Riten geprägten Lebenswelten der Laien, Phänomene der Bi- und Transkonfessionalität sowie das Verhältnis von Konfessionalisierung und Lebensführung. Um 1600 erscheinen die Erfolge der Konfessionalisierungsbemühungen auf katholischer wie auf protestantischer Seite noch überschaubar; vielmehr sind zahlreiche „Mischformen […] mit einer großen Bandbreite an Praktiken zu beobachten“ (339). Trotz beträchtlicher struktureller Hindernisse – der Einbindung der Geistlichen in konkurrierende Loyalitäten und soziale Netzwerke, der Verwerfungen des Dreißigjährigen Krieges – sei den Konfessionskirchen jedoch langfristig nicht nur die äußerliche Vereinheitlichung der meisten größeren Territorien, sondern auch die Durchsetzung ihrer Vorstellungen von Frömmigkeit und Sittlichkeit gelungen. Als maßgeblich dafür sieht Holzem neben obrigkeitlichem Zwang die „Selbstkonfessionalisierung“ (458) sowohl der Geistlichen, die den an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen zunehmend entsprachen, als auch der Laien, für die die Lektüre von Andachts- und Erbauungsbüchern, die regelmäßige Teilnahme an kollektiven Riten sowie speziell im katholischen Bereich die Sakralisierung und barocke Ästhetisierung der Kirchenräume wichtige soziale und kulturelle Ressourcen bereitstellten. Katholiken und Protestanten seien sich zudem in Bereichen wie der Ehe- und Sexualmoral viel ähnlicher gewesen, als häufig behauptet werde. In bi- und trikonfessionellen Gemeinden beobachtet Holzem in Übereinstimmung mit der neueren Forschung keine Anzeichen für genuine Toleranz, sondern vielmehr „einen steten Wechsel von Konfrontation und Kompromiss“ (540). Die frühneuzeitlichen Fundamentalprozesse „Konfessionalisierung und Staatsbildung“ schließlich gehörten – ungeachtet aller Umsetzungsschwierigkeiten und Vollzugsdefizite – „nicht nur in der Reichs- und Bekenntnispolitik, sondern auch bei der Professionalisierung der Funktionsträger und der Umgestaltung des Herrschaftsanspruchs über den ‚gemeinen Mann‘ und die ‚gemeine Frau‘ eng zusammen“ (552).
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Auf die übrigen Kapitel sei hier lediglich summarisch verwiesen: „Krisen der Konfessionalisierung“ im Dreißigjährigen Krieg und in den Hexenverfolgungen (5); Pietismus (6); Aufklärung (7); Revolution, Säkularisation und Neuordnung im frühen 19. Jahrhundert (8); Romantik, Ultramontanismus und Erweckung (9); die Kirchen in der Revolution von 1848 (10). Was an dieser Gesamtdarstellung beeindruckt, ist nicht nur der enzyklopädische Zugriff, sondern auch die inhaltliche und sprachliche Dichte der Präsentation sowie das ausgewogene Verhältnis von Anschaulichkeit und Abstraktion. Im vierten Kapitel etwa greift Holzem immer wieder auf Beispiele aus der Praxis der Sendgerichte im Fürstbistum Münster zurück, die er anschließend in größere Bezugsrahmen stellt. Dabei benennt er auch Forschungsdesiderate, etwa die Geschichte der katholischen Stadtpfarrer oder diejenige der lutherischen Landgeistlichen. Somit ist dieses Werk nicht nur der ideale Ausgangspunkt, um sich über grundlegende Prozesse der deutschen Christentumsgeschichte in den drei Jahrhunderten nach der Reformation zu informieren, sondern auch eine Bestandsaufnahme, von der aus sich Themen und Felder künftiger Forschung bestimmen lassen. Zur Person: Mark Häberlein ist seit 2004 Professor für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er hat zahlreiche Publikationen zur Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, zur Stadt- und Regionalgeschichte sowie zur atlantischen Geschichte vorgelegt. Prof. Dr. Mark Häberlein Otto-Friedrich-Universität, 96045 Bamberg, Deutschland [email protected]
Rezensionen 1. Epochenübergreifend Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 121–124 Sigrid Hirbodian, Christian Jörg, Sabine Klapp (Hg.) Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Tübingen: Jan Thorbecke Verlag, 2015, 232 S., ISBN 978-3-7995-1380-7, 37,00 EUR. „Regionalgeschichte im Aufbruch“: So lautet ein Buchtitel aus dem Jahre 2010. Unabhängig davon, ob man diesen Titel noch eher als Postulat oder bereits als Tatsachenbeschreibung liest, zeigen die jüngeren Entwicklungen in der deutschsprachigen Historiografie tatsächlich eine neue und produktive Dynamik in der Erforschung der Geschichte der Mezzoebene begrenzter Räume. Die Demarkationslinie zwischen Landesgeschichte und Regionalgeschichte, noch 2001 von Ernst Hanisch auf den einfachen Nenner gebracht, wonach Landesgeschichte letztlich an die politischen Grenzen des Raumes gebunden bleibe, während Regionalgeschichte sich ihre Räume durch ihre Fragestellungen selbst schaffe, wird dabei zunehmend aufgeweicht oder – so Walter Rummel im vorliegenden Band kritisch – „durch die bisweilen nicht mehr beachtete, begriffsgeschichtlich korrekte Verwendung der Begriffe verwischt“ (31). In jüngerer Zeit besetzte oder aktuell zu besetzende Professuren firmieren unter der etablierten Denomination der Landesgeschichte – wie der Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte (Bayreuth/Bamberg) –, widmen sich der Europäischen Regionalgeschichte (Salzburg) oder einer integrierten Denomination von Landes- und Regionalgeschichte, wie zum Beispiel jüngst in Passau ausgeschrieben. Der hier zu besprechende Band kam als erster Band der neuen Reihe „Landesgeschichte“ auf den Markt und publiziert die Ergebnisse der Tagung „Methoden und Wege der Landesgeschichte“, die vom 06. bis zum 08. Juni 2013 veranstaltet wurde. Unter der Ägide der Veranstalterin, der 2012 gegründeten „Arbeitsgruppe Landesgeschichte“ im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, wurde die theoretische und methodische Selbstvergewisserung des Faches zwischenzeitlich ertragreich weiter vorangetrieben. Der zweite Band der Reihe widmet sich der „Landesgeschichte in der
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Schule“, und jüngst wurde ein von zahlreichen Co-Autorinnen und -Autoren erstelltes „Handbuch Landesgeschichte“ vorgestellt.1 Programmatischer Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist das Anliegen einer „Standortbestimmung einer modernen Landesgeschichte im 21. Jahrhundert“ (2), die zwar einerseits aktuelle Anknüpfungsmöglichkeiten im inner- und interdisziplinären Kontext auslotet, die dabei aber im Kern am Konzept Landesgeschichte festhält. Den Vorwurf der Theorieferne, so viel sei vorweg bemerkt, widerlegen die meisten der hier veröffentlichten 13 Beiträge eindrucksvoll. Den Reigen eröffnet ein wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick von Werner Freitag, der die „disziplinäre Matrix“ (Rüsen) der Landesgeschichte in ihrer historischen Entwicklung von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart diskutiert und dabei viele konzeptionelle wie institutionelle Kernprobleme adressiert: eine lange beibehaltene verfassungsgeschichtliche Orientierung an den Kategorien Volk, Stamm und Boden, das Operieren mit einer die politischen Grenzen des Versailler Friedens bewusst transzendierenden Konzeption von Kulturräumen, die Konzentration auf mediävistische Forschung in Frontstellung zur Neuzeitorientierung der Regionalgeschichte und nicht zuletzt die über Einzelpersönlichkeiten und Netzwerke organisierte Fortschreibung politisch kontaminierter Perspektiven über 1945 hinaus. Bis heute produktive methodische „Markenkerne“ (17) wie Kartierung, die Erarbeitung von Atlantenwerken und die komparatistische Forschung vermochten nicht die „Auszehrung der disziplinären Matrix nach 1960“ (20) zu verhindern. Als analytische Disziplin eigentlich eine Alternative zum akteurszentriert individualisierenden Historismus, erkannte die Landesgeschichte demnach in den 1970er-Jahren die Potenziale der von der regionalhistorischen Kritik, samt deren Aufgreifen soziologischer Theorien, vorgebrachten strukturhistorischen Angebote nicht ausreichend. Vielmehr stand die Phase der „Auszehrung“ Freitags Einschätzung zufolge unter den Vorzeichen methodischer Beliebigkeit. Werner Freitag plädiert dafür, die „Verlustgeschichte“ (26) – das Abhandenkommen der landeshistorischen Meistererzählungen der disziplinären Vorväter – als Chance zu begreifen und die etablierten analytisch-hermeneutischen Methoden der Landesgeschichte in Offenheit für Angebote der soziologisch inspirierten Gesellschaftsgeschichte wie auch der neueren Kulturgeschichte weiterzuentwickeln. Den Abschluss des Bandes bildet ein resümierender Diskussionsbeitrag von Ferdinand Kramer, der die Landesgeschichte in den Kontext einer europäischen Perspektive stellt. Er zeigt auf, wie traditionelle Interessen der Landesgeschichte zum Beispiel an „Adelsverflechtungen, kirchlichen Strukturen, monastischen Bewegungen etc.“ (216) produktiv in neue historischkulturwissenschaftliche Forschungsrichtungen – wie die Transfer- und Vernetzungsgeschichte – eingespeist werden können. Während sich in der wissenschaftlichen Praxis die Ansätze von Landes- und Regionalgeschichte weitgehend angenähert hätten, vermochten beide aufzuzeigen, „dass sich die Geschichte des Kontinents weit vielfältiger und komplexer gestaltete als es die ältere Fixierung auf die Nationalstaaten oder auf oft damit in Bezug gesetzte einzelne Regionen lange Zeit hatten sichtbar werden lassen“ (216). Werner Freitags Aufschlag und Ferdinand Kramers Resümee rahmen eine bemerkenswerte Vielfalt von Diskussionsbeiträgen, die sehr unterschiedliche Akzente setzen. Anwendungsorientierung, wie Michael Kißeners Vorstellung eines Handbuchprojekts zur Geschichte von
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Rheinland-Pfalz oder Oliver Auges Reflexionen zur studentischen Projektarbeit, trifft auf grundsätzliche theoretische und methodische Reflexion, die meist auch die Implikationen des kulturwissenschaftlichen Spatial Turn für die Landesgeschichte auslotet. Das Verhältnis zwischen Landesgeschichte und Regionalgeschichte wird ebenso sondiert wie dasjenige zur Politikgeschichte, zur Alltags- und Mikrogeschichte und zur Neueren Kulturgeschichte. „Wer die rituelle Bedeutung des Ulmer Friedhofs untersucht“, so Dietmar Schiersner, „um etwas über die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit zu erfahren, betreibt mit kulturgeschichtlichen Methoden Landesgeschichte; wer es dagegen tut, um Aufschlüsse über die Sepulkralkultur jener Zeit im Allgemeinen zu erhalten, betreibt umgekehrt Kulturgeschichte an landesgeschichtlichen Beispielen“ (159). Walter Rummel charakterisiert Landesgeschichte und Regionalgeschichte als grundsätzlich komplementäre Ansätze: hie historische Länder und Landschaften, da forschungskonstruierte Räume als Gegenstand, hie lokal und in der außeruniversitären Szene rückgebundene, da weitgehend akademisch institutionalisierte Forschung, hie Grundlagenforschung, da strukturhistorisch inspirierte Fragestellung. Komplementär, aber irgendwie doch weniger bipolar, kommt das Verhältnis zwischen Landesgeschichte und Regionalgeschichte in den Überlegungen Winfried Speitkamps daher. Ausgehend von der Betonung des Konstruktcharakters der landeshistorisch erforschten Räume konzipiert er Landesgeschichte als historische Regionalwissenschaft. Diese zeichne sich durch interdisziplinäre oder besser transdisziplinäre Orientierung aus, beschäftige sich mit transnationalen Phänomenen und Fragen des Kulturtransfers, frage nicht primär nach Strukturen und Statik, sondern nach Prozessen und Dynamik, und untersuche „die Aushandlungsprozesse, Praktiken und Handlungen, die Räume entstehen lassen“ (85). Gerade dieser letztgenannte praxeologische Zugang, dieses analytische Ansetzen an der Handlungsdimension, ist auch Grundlage für das von Andreas Rutz vorgeschlagene Konzept des „doing territory“ (95– 110). Im Kern geht es Rutz dabei um eine „Dynamisierung des Raumkonstrukts Territorium“ (100). Damit stehen Autoren wie Andreas Rutz und Martin Ott für die theoretische Offenheit und Innovationskraft aktueller landeshistorischer Forschung. Gleichwohl werden – wie im Beitrag Otts – doch auch klare Grenzen gezogen. Der im Zuge des Spatial Turn allgegenwärtigen relationalen Raumkonzeption mag Ott sich nicht ohne Weiteres anschließen. Sein Plädoyer für die Untersuchung „transregionaler Containerräume“ (124) propagiert einerseits transregionale Perspektiven (von Ernst Langthaler an anderer Stelle auch in das Konzept einer „transterritorialen Mikrogeschichte“ gefasst), betont aber doch andererseits den Wert der Untersuchung unabhängig von einer Problemstellung gegebener Containerräume als bewährtes Verfahren der Landesgeschichte. Dies wiederum führt zurück zum Land als Container der Landesgeschichte. Da stellt etwa Michael Hecht die Kulturgeschichte des Politischen als Perspektive vor, die dabei hilft, forschungsleitende Essentialismen der Landesgeschichte zu dekonstruieren. Stände und Dynastien, so Hecht, „weisen in je eigener Weise einer Entessentialisierung des ‚Landes‘ als Gegenstand der Landesgeschichte den Weg“ (189). Ähnliches wird von mehreren Beiträgern vertreten – implizit auch von der einzigen Beiträgerin, Sabine Ullmann. Sie wählt die kleinräumige und komplexe territoriale Realität des frühneuzeitlichen Reiches mit seinen einander überlagernden Rechtsverhältnissen und eben daraus erwachsenen Herrschaftskonflikten als Beispiel, anhand dessen sie die mitunter kurios voneinander abweichenden Lesarten landes- und reichsgeschichtlicher For-
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schung erörtert. Wenn also, so fragt sich die Leserschaft dieses als aktuelle Standortbestimmung sehr lesenswerten Bandes, so vielstimmig an der „Entessentialisierung des ‚Landes‘“ gearbeitet wird, wozu braucht die Landesgeschichte dann noch das Land? 1
Oliver Auge, Martin Göllnitz (Hg.): Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven (Landesgeschichte 2), Ostfildern 2018, sowie Werner Freitag, Michael Kissener, Christine Reinle, Sabine Ullmann (Hg.): Handbuch Landesgeschichte, Berlin/Boston 2018.
Prof. Dr. Martin Knoll Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, Rudolfskai 42, 5020 Salzburg, Österreich, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 124–126 Marian Füssel, Antje Kuhle, Michael Stolz (Hg.) Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, 232 S., 29 Abb., ISBN 978-3-525-30123-4, 44,99 EUR. Herrscherhöfe bildeten in Mittelalter und Früher Neuzeit die Zentralen für Macht und Wissen schlechthin. Eine entscheidende Brücke zwischen Macht und Wissen stellten dabei nach Meinung des Herausgeberteams und der Autor(inn)en des hier zu besprechenden interdisziplinären Bandes sogenannte „Experten“ dar, deren „Kulturen“ in ihrer jeweiligen Ambivalenz seit einigen Jahren in Göttingen im Rahmen eines Graduiertenkollegs erfolgreich in den Blick genommen werden. Im Umfeld dieses Graduiertenkollegs ist auch der Band „Höfe und Experten“ anzusiedeln, worüber nicht etwa ein Vorwort, das leider fehlt, belehrt, sondern eine kurze Notiz in der ersten Anmerkung der Einführung von Marian Füssel (7): Im Kontext des Graduiertenkollegs wurde nämlich vom 11. bis 13. Februar 2014 ein Symposium mit der Überschrift „Experten des Hofes – Hofkultur als Expertenkultur?“ veranstaltet, aus dem der besagte Band mit weitaus einprägsamerem Titel hervorging. Füssel beginnt den Reigen der neun Aufsätze mit einer grundlegenden und für das Gesamtverständnis zentralen Einführung. Anscheinend handelt es sich bei ihm um den hauptverantwortlichen Herausgeber; wo die Verantwortlichkeit der beiden anderen Editores lag, erschließt sich der Leserschaft nicht, da die zwei weder einen eigenen Beitrag beisteuerten noch bei der Redaktion oder der Erstellung des hilfreichen und vor allem stimmigen Personen- und Ortsregisters am Schluss des Bandes als Mitarbeitende ausgewiesen sind. Füssel legt in seiner Einführung unter anderem dar, dass die anderenorts oftmals behandelten Hofgelehrten nicht unbedingt Experten bei Hofe und Experten „kein[e] essentialistisch verstandene[n]
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Wissende[n]“ gewesen, sondern „als soziale Rolle immer erst in actu“ im Zusammenhang einer sich verstetigenden Anforderung durch den Hof oder eine höfische Institution bei „gleichzeitige[r] Herausbildung einer spezifischen institutionellen Wissenskultur“ entstanden seien (10 f.). Timo Reuvekamp-Felber appelliert anschließend in seinem differenzierten Beitrag ganz korrekt, den Fürstenhof des 12. und 13. Jahrhunderts unter fälschlicher Orientierung an den äußerst fortschrittlichen Verhältnissen am Kaiserhof Friedrichs II. nicht zu überfordern, wie es manchmal sogar gestandene Mediävisten täten (19–38). In dieser frühen Phase höfischer Geschichte nämlich sei der Fürst im Regelfall kein Motor spezifischer Wissenschaft, zum Beispiel im Bereich von Medizin, Astronomie oder Astrologie, gewesen. Erst im weiteren Verlauf habe sich ein Expertenwissen auf den Feldern von Verwaltung und Herrschaft, Mathematik und Naturwissenschaften sowie praktischem Handwerk einer steigenden Nachfrage bei Hofe erfreut. Gerrit Deutschländer und Benjamin Müsegades schauen sodann auf gelehrte Prinzenerzieher an den reichsfürstlichen Höfen um 1500. Angesichts des begrenzten Umfangs des Bandes fällt diese thematische Doppelung zunächst ins Auge, wenn auch sogleich anerkannt werden muss, dass sich beide Aufsätze synergetisch ergänzen und keine Doppelung im Inhalt mit sich bringen. Deutschländer betrachtet speziell Anforderungen, Aufgaben und Werdegänge der Erzieher, die man zwar durchaus als Experten am Hof bezeichnen dürfe, nicht aber als Experten für die hofspezifischen Interaktionsformen und kulturellen Gewohnheiten betrachten könne. Müsegades hingegen stellt die Karrierewege der Präzeptoren an den Höfen vor, wobei die besondere Bedeutung von Empfehlungen und Patronage deutlich wird. Um päpstliche Zeremonienmeister als bisher sträflich vernachlässigte Experten am Papsthof geht es im umfänglichen Beitrag von Jörg Bölling. Die hoch angesehenen Zeremonienmeister kreierten letztlich erst das Zeremoniell, wobei sie von ihren Nachfolgern im Amt durchaus Expertenkritik erfuhren. Karrierewege, Anforderungen und Aufgaben der Ärzte am Mantuaner Hof stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Sabine Herrmann. Diese verfügten während ihrer Tätigkeit über eine einflussreiche Stellung bei Hofe, wurden zumeist unmittelbar aus Mantua rekrutiert und fungierten häufig auch als Tutoren und Erzieher des herzoglichen Nachwuchses. Medizinexperten von außerhalb schafften es dagegen selten, sich langfristig bei Hofe zu etablieren. Annette C. Cremer stellt im Anschluss höfische Kompetenzfelder zwischen Hilfstätigkeit und Spezialistentum vor. Die Zuweisung eines Expertenstatus hing ihrer Ansicht nach eng mit der ständischen Rangordnung zusammen. Ihr provokanter Vorschlag, „die Definition des Experten als institutionell trainiertem (sic!) und sozial konstruierten Träger von Sonderwissen auszuweiten und […] einem breiten Verständnis von Expertentum zu folgen, das mit einer Anti-Hierarchisierung einhergeht und nicht nur Akademiker als Experten versteht, sondern auch Milchmägde, Büttner und Kellermeister, von denen der Hof und die akademischen Experten sowie das Funktionieren des Gesamtsystems abhingen“ (163), wird sicher für Diskussionen sorgen, steht er doch nicht nur in einem krassen Widerspruch etwa zum erwähnten Beitrag von Reuvekamp-Felber: Der Hof des 12. und 13. Jahrhunderts wäre nach dieser weit gefassten Definition eben doch schon voller Experten gewesen! Man muss sich aber vor allem fragen, was der Begriff des Experten dann überhaupt noch erklären soll, wenn er so allumfassend Anwendung findet.
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Speziell um den Hofadel von Versailles im Spannungsfeld von Expertise und sprezzatura dreht sich der nächste Aufsatz von Leonhard Horowski mit einem speziellen Blick auf das ranghöchste Expertenamt bei Hof, der surintendance des bâtiments, sowie die rangniederen Expertenämter des introducteurs des ambassadeurs und des Hofastrologen. Einen einheitlichen Amtshabitus gab es ihm zufolge seinerzeit (noch) nicht; die Ämter konnten mit Personen beliebiger Standespositionen besetzt werden. Ihre Vergabe erfolgte aber in erster Linie nach dem Stand und nicht nach dem vorhandenen Wissen. Zuletzt schreibt Anna-Victoria Bognár über Balthasar Neumann als Architekt bei Hofe. Die fürstlichen Auftraggeber sahen sich nach ihren überzeugenden Ausführungen gern selbst als „Experten“ an, wohingegen sie den Architekten nur die Ausführung ihrer „eigenen“ Entwürfe zugedachten. Allerdings ist eine allmähliche Professionalisierung des Architektenberufs bei Hofe erkennbar. Die genannten Personen- und Ortsregister beschließen den übersichtlich gestalteten und sauber redigierten Tagungsband. In seiner Gesamtheit sowie in den einzelnen Spektren ist der Band spannend, was auch spannungsvoll meint, und anregend informativ zugleich. Das führt allein schon der letzte Absatz von Füssels Einführung vor Augen, worin er auf das Problem fachlicher Inkompetenz für das Expertendasein bei Hofe ebenso verweist wie auf dasjenige eines Zuviels an Wissen oder einer zu ostentativen Zurschaustellung von Wissen (18). Letztlich benötigte der höfische Experte seiner Meinung nach daher vor allem eines: Kompetenzdarstellungskompetenz! Das klingt auf den ersten Blick mehr als platt, bringt die Essenz der Beiträge im Ringen um die Relationen von Macht und Wissen an den Höfen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aber prägnant und stimmig auf einen Punkt. Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 126–128 Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel, Jana Madlen Schütte (Hg.) Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert) (Historische Forschungen 114), Berlin: Duncker & Humblot, 2016, 443 S., 4 Abb., 1 Tab., ISBN 978-3-428-14951-3, 99,90 EUR. Der vorliegende Sammelband präsentiert die Beiträge der Tagung „Europäische Gelehrtenkulturen (1100–1700). Praktiken, Positionen, Periodisierungen“, die als Abschlusstagung des DFGNetzwerks „Institutionen, Praktiken und Positionen der Gelehrtenkultur vom 13. bis 16. Jahrhundert“ im November 2014 in Göttingen stattfand. Man hat die Beiträge unter die Rubriken „Organisieren“, „Streiten“, „Disputieren“ und „Repräsentieren“ gebracht.
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Florian Hartmann eröffnet die Abteilung „Organisieren“ mit einer Arbeit zur Lehrpraxis der Kunst, Briefe zu verfassen, der ars dictaminis, im 12. und 13. Jahrhundert an der Universität Bologna. Thierry Kouamé untersucht mit den congregationes universitäre Beratungs- und Entscheidungsverfahren an der Pariser Universität vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Willem Frijhoff klagt, dass „Gelehrtenkulturen, pratiques savantes, or cultural conventions of learning, the overarching theme of this volume […] a wide-ranging topic without clear-cut conceptual limits“ seien (67) und rekapituliert dann weitgehend fußnotenfrei seine früheren Arbeiten zu den Institutionstypen Universität, Akademie, Hochschule und Kolleg im frühmodernen Europa. Jean-Luc Le Cam untersucht mithilfe der Helmstedter Vorlesungszettel (Rechenschaftsberichte der Helmstedter Professoren an die Regierung) die Lehrpraxis des Rhetorikprofessors Christoph Schrader – also wie die Lehre jenseits der Lektionskataloge eigentlich gewesen ist. Rund 140, in schlechten Jahren 100 Lehrstunden Schraders im Jahr stellt er fest. Die Sektion „Streiten“ beginnt mit einer Studie Jan-Hendryk de Boers, wie der Buchdruck und die sich mit ihm entfaltenden literarischen Genres den Judenhass in Form gebracht haben – es ging dabei nicht nur um die Eigenidentität in Abgrenzung vom Anderen, sondern auch darum, die Obrigkeit „zu einer entschiedenen Judenpolitik“ zu drängen (167). Jana Madlen Schütte reflektiert Heinrich Botters (1539–1617, Medizinprofessor in Marburg, später Leibarzt des HessenKasselschen Landgrafen sowie des Kölner Erzbischofs) Diagnose des Medizinstudiums und Medizinalwesens und deren Konflikte und Konkurrenzen, wie sie sich in Fakultäts- und Rektoratsakten niedergeschlagen haben. Darauf folgt Bernd Rolings Arbeit „De asitia“ (Über die Magersucht) in der Kontroverse zwischen dem Italiener Fortunio Liceti und dem Portugiesen Estêvão Rodrigues de Castro im 17. Jahrhundert. Rolings Studie zeigt, wie sich die „akademische Meinungspolitk“ (207) um Licetis Vorstellungen des Verdauungsvorgangs und damit einer „Verwissenschaftlichung der Anorexie“ nicht nur in Traktaten, sondern auch in „Gedichten, Satiren und Dialogen“ (207) vollzog. Nicht nur die Praktiken, sondern auch die Inhalte und Argumente der Texte vorstellend und kontextualisierend, zählt der Beitrag zu meinen Lieblingsbeiträgen im Band. Matthias Roick erzählt von der Auseinandersetzung der Humanisten Lorenzo Valla (1405– 1457), Antonio Beccadelli (1396–1471) und Bartolomeo Facio (circa 1400–1457) am Hof König Alfonsos in Neapel. Thomas Woelki läutet die Sektion „Disputieren“ mit den Disputationen (1385–1394) des Paduaner „Starjuristen“ Angelo degli Ubaldi ein: Hat es sich um „Politikberatung aus dem Hörsaal“ (229) gehandelt? In Krieg und Frieden und mit der „Reichweite staatlicher und städtischer Jurisdiktionsgewalt“ (248) habe Angelo degli Ubaldi tagespolitische Fragen aufgegriffen. Ulrich G. Leinsle stellt Ablauf und Fragen von Disputationen an der Jesuitenuniversität Dillingen im 16. Jahrhundert nach den philosophischen Promotionsakten vor – mit Fragen zum Gemeinwesen und zu höfischer Geselligkeit als Beispiele. Die Promotionsdisputationen hätten das jeweilige Für und Wider mit „manchmal überraschendem Ausgang“ erörtert (274). Hanspeter Marti blickt auf „Stand, Perspektiven und Probleme“ der Erforschung frühneuzeitlicher Schuldisputationen – er schließt seinen Beitrag mit dem Vetorecht der Quellen und dem Votum einer vollständigen Erfassung ab, womit der Band zur letzten Sektion „Repräsentieren“ kommt.
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Marcel Bubert fragt nach Gruppenbildung an der Artistenfakultät in Paris im 13. Jahrhundert: Interaktion im Institutionsrahmen habe zur Institution und Identität der Artes-Magister beigetragen. Daniela Rando sucht ausgehend von Johann Hinderbach (1418–1486), secretarius des Kaisers, nach Praxis, Praktikabilität und den Möglichkeiten, Wissen in den Verwaltungen vor Ort zur Anwendung zu bringen, mit einem Schlenker ins 13. Jahrhundert. Thorsten Schlauwitz untersucht die Haltung des Patriziats zu Bildung und Studium im spätmittelalterlichen Nürnberg, nicht zuletzt anhand der Panegyrik – seit Conrad Celtis avancierten Bildung und Wissen zu zentralen Elementen. Jörg Schwarz unterstreicht die Rolle des Johannes Fuchsmagen (um 1450–1510) am Habsburgerhof Friedrichs III. und Maximilians I. Yann Dahhaoui verfolgt die Rezeption eines Briefs der Pariser Theologischen Fakultät vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Die Pariser Theologische Fakultät hatte 1445 einen Brief, der die Ausschweifungen des kirchlichen fête des fous beschreibt und sein Verbot fordert, an die Bischöfe Frankreichs gesandt, ohne zunächst eine prompte kirchliche Reaktion zu erreichen, dafür seit dem 17. Jahrhundert umso mehr eine antiquarisch historische: Der Brief wurde nun als Interpretationsmaßstab auftauchender Quellen zum fête des fous benutzt. Der Band verlebendigt mit den vorgestellten Beispielen gelehrter Praxis die Universitäten vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Er wendet den Blick damit auf ein institutionelles Ausagieren. Das ist wichtig. Um „Periodisierungen“, wie es der ursprüngliche Tagungstitel wollte, geht es dabei nicht. Der Band versetzt uns „zwischen Konflikt und Kooperation“ hinein in die „europäische Gelehrtenkultur“ – ein Notbegriff, der so ziemlich alles meinen kann. Es geht in den Aufsätzen jedoch um die soziale, politische und kommunikative Umsetzung institutionalisierter Wissensorganisation. Das öffnet die Tür der Universitätsgeschichte hin zu einer Geschichte von allgemeinem Belang. Dr. Martin Gierl Georg-August-Universität Göttingen, Lichtenberg-Kolleg, Geismar Landstraße 11, 37083 Göttingen, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 128–130 Andreas Rutz Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur 47), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2018, 583 S., 20 sw. und 20 farb. Abb., ISBN 978-3-412-50891-3, 80,00 EUR. Andreas Rutz’ an der Universität Bonn entstandene Habilitationsschrift widmet sich mit der Praxis territorialer Grenzziehungen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reich einer „grundsätzliche[n] Frage nach dem Verhältnis von Raum und Herrschaft“ (13). Im Zentrum der Ana-
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lyse stehen dabei „die Akte der Grenzziehung selbst, die als Teil der Konstruktion von Räumen, genauer von Herrschaftsräumen verstanden werden“ (14). Im Anschluss an konstruktivistische Raumkonzepte, insbesondere die Raumsoziologie Martina Löws, untersucht der Verfasser sowohl die Vorstellungen und Konzeptionen räumlich-territorialer Herrschaft als auch die im Zusammenhang mit Prozessen herrschaftlicher Raumaneignung vollzogenen Handlungen und Praktiken. Damit strebt er eine neue Perspektive auf Territorialisierungsvorgänge im vormodernen Mitteleuropa an, wobei sich nach seiner Ansicht „der mit Grenzen definierte Herrschaftsraum nicht als Kulminationspunkt einer politik- und verfassungsgeschichtlichen Entwicklung darstellt, sondern als das Ergebnis der Wechselwirkung von gesellschaftlichen Strukturen und raumkonstituierendem Handeln“ (28). Rutz identifiziert vier grundlegende Formen von Grenzziehung – verbale Beschreibung, materielle und symbolische Markierung sowie Vermessung und Kartierung. Eine seiner zentralen Thesen lautet, dass lineare Grenzlinien kein genuin neuzeitliches Phänomen darstellten und das in der Forschung etablierte Bild einer Entwicklung vom „grenzenlosen“ mittelalterlichen Personenverbandsstaat zum klar umgrenzten neuzeitlichen Flächenstaat kritisch zu hinterfragen sei. Bereits in karolingischer Zeit lassen sich ihm zufolge Vorstellungen präziser Grenzlinien nachweisen, die Herrschaftsräume voneinander schieden. Diese lösten sich jedoch in den folgenden Jahrhunderten teilweise auf, so dass sich keine direkten Kontinuitäten zu spätmittelalterlichen territorial-räumlichen Herrschaftsvorstellungen ziehen lassen. Auf jeden Fall sei zu konstatieren, „dass räumliches und personales Herrschaftsverständnis sich nicht gegenseitig ausschlossen, die Dichotomie von mittelalterlichem Personenverbandsstaat und spätmittelalterlich-frühneuzeitlichem Flächenstaat also kaum der historischen Realität entsprochen haben dürfte“ (91 f.). Vielmehr geht Rutz für das Mittelalter von einer „Gemengelage von stärker personenverbandlich ausgerichteten Herrschaftspraktiken auf der einen und stärker räumlich – an Grenzen – orientierten Herrschaftspraktiken auf der anderen Seite“ aus (92 f.). Eine weitere zentrale These dieser Studie besagt, dass die vier elementaren Verfahren der Grenzziehung lange Zeit komplementär zueinander angewandt wurden; sowohl verbale Grenzbeschreibungen, in denen sich räumliches Herrschaftswissen sukzessive verdichtete, als auch Markierungen mittels (teilweise mit Wappen verzierter) Grenzsteine und die Anlage von Landwehren sind bereits im Spätmittelalter vielfach belegt. Darüber hinaus spielten Akte symbolischer Kommunikation eine wichtige Rolle: Grenzbegehungen fungierten als „Verfahren der symbolischen Markierung im Feld“ (159) beziehungsweise als „Instrument zur fortwährenden Inszenierung und Reproduktion territorialer Herrschaft als Herrschaft über einen bestimmten Raum“ (163). Empfänge fremder Herrscher und Einholungen an der Grenze betonten ebenfalls diese symbolischen und kommunikativen Funktionen. Ungeachtet bedeutender Fortschritte der wissenschaftlichen Kartographie in der Frühen Neuzeit (durch den Einsatz neuer Vermessungsmethoden und technischer Instrumente) verdrängten Karten die textuellen und symbolischen Formen der Grenzfestlegung zunächst nicht, sondern ergänzten sie allenfalls. Auch hier betont Rutz wiederum die Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit: Einerseits finden sich Kartierungen von Herrschaftsräumen seit dem 12. Jahrhundert, andererseits wurden Karten erst im 16. Jahrhundert wirklich in das System der
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Beschreibung von Herrschaftsräumen und -grenzen integriert. Karten dienten nun zunehmend der „Visualisierung, Konkretisierung und Bestimmung von Grenzverläufen, und zwar vor allem zwischen Territorien und territorialen Verwaltungseinheiten“ (222). Wichtige Etappen auf dem langen Weg der Integration von Karten in das System der Beschreibung und Kennzeichnung von Herrschaftsräumen bildeten die humanistische Kartographie, die Kommerzialisierung der Kartenproduktion, die zunächst in der Reichsstadt Nürnberg und den Niederlanden markant zutage tretende „territoriale Herrschaftskartographie“ (287) sowie die auf fürstliche Initiative hin erfolgenden Landesbeschreibungen des 16. Jahrhunderts – unter anderem in Bayern, Württemberg, Hessen und Sachsen –, deren Ergebnisse für den internen Verwaltungsgebrauch bestimmt waren und daher zumeist unter Verschluss blieben. In der Präsentation von Karten in fürstlichen Kunstkammern manifestiert sich überdies die zunehmende „Verbindung von raumbezogenem Wissen und territorialer Herrschaft“ (322). Obwohl Karten bereits in Reichskammergerichtsprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts zur Visualisierung von Ansprüchen konkurrierender Territorialherren vorgelegt wurden, erlangten sie damals noch keine von Textdokumenten und Zeugenbefragungen unabhängige Beweiskraft. In einigen Territorien wie Kurköln und Lothringen lassen sich in dieser Zeit noch erhebliche Widerstände gegen den Einsatz von Karten als Beweismittel konstatieren; ein „Zwang zur Karte“ scheint vor allem dort existiert zu haben, wo territoriale Besitzstände unmittelbar bedroht waren (392). Erst im 18. Jahrhundert avancierten Karten zum „Leitmedium“ der räumlichen Beschreibung und der Fixierung von Herrschaft: Landesvermessungen zielten nun „auf eine lückenlose Kartierung der territorialen Topographie“ ab (402) und nutzten die verbesserten technischen Möglichkeiten konsequent für administrative Zwecke. Auch vor Gericht erlangten Karten nun den Charakter rechtsverbindlicher Dokumente; wie Beispiele aus Franken und Sachsen zeigen, wurden sie von einzelnen Herrschaftsträgern geschickt zur Visualisierung territorialer Ansprüche genutzt. Insgesamt hat Andreas Rutz eine eindrucksvolle Studie vorgelegt, die grundlegende Fragen vormoderner Raumwahrnehmung, Herrschaftsverdichtung und Repräsentation aufgreift und überzeugende neue Interpretationsangebote dafür formuliert. Die Untersuchung basiert zwar in erster Linie auf rheinischen, fränkischen und bayerischen Beispielen, sie bezieht jedoch auch andere mitteleuropäische Territorien sowie gesamteuropäische Entwicklungen ein. Der Autor zeigt sich mit der umfangreichen Literatur zur Herrschafts-, Wissens- und Verwaltungsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vertraut und analysiert Text- und Bildquellen gleichermaßen souverän (wobei die Kartenabbildungen teilweise allerdings zu klein ausfallen, um die analysierten Details wirklich erkennen zu können). „Die Beschreibung des Raums“ stellt geradezu ein Musterbeispiel einer modernen, an aktuelle Tendenzen der Forschung anknüpfenden Landesgeschichte dar; das Buch liefert Anregungen für Dutzende von Dissertationen und ist auch angesichts seiner chronologischen und inhaltlichen Bandbreite ein großer Wurf. Prof. Dr. Mark Häberlein Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, 96045 Bamberg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 131–135 Marian Füssel, Philip Knäble, Nina Elsemann (Hg.) Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 418 S., ISBN 978-3-525-30122-7, 70,00 EUR. In den Jahren von 2009 bis 2018 erforschte das Göttinger Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts“. In diesem Zusammenhang entstand das vorliegende Werk, dessen Titel zugleich auf vorausgehende Impulse verweist: einen soziologischen zum „Expertenwissen“1 und einen zur „Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte“2. Im laufenden Projekt folgte dann die wichtige, viel zitierte Studie von Frank Rexroth.3 Die Ringvorlesung „Wissensmärkte in der Vormoderne“ (2014) und die Tagung „Experten des Ökonomischen – Ökonomie der Experten“ (2016) lieferten die 15 hier zu besprechenden Beiträge. Im Zusammenhang mit der kompakten Einleitung von Philip Knäble (9–30) lassen sie sich als Teil einer Abschlussdokumentation lesen. Das gemeinsame Forschungsbestreben erklärt Knäble sehr klar: Einerseits gelte es, die „Dialogbereitschaft der Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeschichte aus (kultur)historischer Perspektive“ aufzugreifen. Andererseits sollen „im Anschluss an die konstruktivistische Wissenssoziologie“ die Herausbildung von „Expertenkulturen“ seit dem Mittelalter, die Wissensdifferenzierung, das Entstehen von Sonderwissen, das „Aufkommen von handwerklichen, merkantilen und technischen Wissensbereichen in den Städten und die Gründungen von Universitäten“ sowie Angebot und Nachfrage von Experten auf „Wissensmärkten“ untersucht werden (11 f., 17). Damit wird in epistemischer Absicht eine „Wirtschaftskulturgeschichte“ entworfen, die im Unterschied zu den quantifizierenden Methoden der Wirtschaftsgeschichte und deren besonderem Bezug zur Sachüberlieferung vornehmlich, aber nicht ausschließlich von der Hermeneutik der Geistes- und Literaturgeschichte durchdrungen ist. Sechs Untersuchungen wenden sich dem 13. bis 16., neun dem 17. bis 18. Jahrhundert zu. Alle, bis auf jene zu Handel, Bankwesen und Kaufmannschaft, sind thematisch überaus heterogen und befassen sich überwiegend mit dem tertiären Wirtschaftssektor. Das Handwerk als größter und innovativster Wissensmarkt von der Antike bis zur Neuzeit spielt nur am Rande eine Rolle. Hier keine eigenen Studien anzusiedeln, mag angesichts der Fülle handwerksgeschichtlicher Forschungen verständlich sein. Doch hätten deren Einsichten in Mobilität und Wissenstransfer den Diskurs im Graduiertenkolleg durchaus befruchten können. Gleiches ließe sich zum Primärsektor bemerken: Bergbau und Hüttenwesen waren seit dem Mittelalter, Land- und Forstwirtschaft seit der Aufklärung mit praktischem wie mit wissenschaftlichem Wissen durchdrungen, das schließlich zur Hochschulbildung führte, was die Thematik der Göttinger Gruppe sogar eng berührt. Drei Sektionen zu jeweils fünf Studien ordnen die Vielfalt den folgenden Themen zu: „I. Vertrauen und Risiko“ (33–138), „II. Produktion und Transfer“ (141–276) sowie „III. Angebot und Nachfrage“ (279–416). Damit seien – so Knäble – nicht kurze, scheinbar zeitlose Definitionen gemeint; vielmehr gehe es um die Historisierung der Begriffe und die Darstellung von „Aneignungsformen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften“ (19). Das Ergebnis
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dieser „Historisierung“ wird auf einer allgemeineren Ebene jedoch nicht festgehalten, bleibt in der Regel den einzelnen Studien überlassen, die aber nicht durchweg die Leitbegriffe aufgreifen. „Vertrauen und Risiko“ prägten die ökonomischen und sozialen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Wie sehr es sich dabei – zeitbedingt unterschiedlich – um gesellschaftliche Konstruktionen handelt, lässt sich in den ersten fünf Studien bemerken. Angesichts der unverkennbaren Nähe zur Wissenssoziologie ist es erstaunlich, dass ein Hinweis auf die 1986 von Ulrich Beck begründete Soziologie der Risikogesellschaft fehlt. Dabei gibt es einen konkreten Berührungspunkt in der Analyse des Versicherungswesens. Wolfgang Bonß behandelte dies soziologisch mit Blick auf die „Moderne“,4 Benjamin Scheller historisch in einer Analyse der spätmittelalterlichen Seeversicherung. Ausgehend von dem kuriosen Fall eines Versicherungsabschlusses nach Eintritt des Versicherungsfalles belegt Scheller eindrucksvoll, wie Informationsmanagement, Risikoexpertise und protostatische Wahrscheinlichkeitserwägungen seit dem 14. Jahrhundert in Italien an Bedeutung zunahmen und einen effektiven Wissensmarkt begründeten. Wer sich ohne Risiko bereicherte, war er Kaufmann oder Geldwechsler, dessen Handeln galt als dem Gemeinwohl abträglich. Zu diesem Ergebnis gelangt Philip Knäble in seiner Studie über scholastische Wirtschaftsexperten. Ökonomische Traktate und seelsorgerlich begründete Bewertungen belegen, wie erfolgreich sich auf einem religiösen Feld ein wirtschaftliches Beratungswissen entfaltete, das zu einer Domäne der Bettelorden wurde. Während das Thema Risiko hauptsächlich mediävistisch behandelt wird, ist die Frage nach dem Vertrauen in zwei Studien auf die Neuzeit gerichtet. Ausgehend von der Beobachtung der englischen Kreditkrise 1710 zeigt Tim Neu, wie es der Tory-Opposition gelang, eigenes Vertrauen durch Kritik an der Expertise des Schatzmeisters herzustellen und selbst an die Regierung zu kommen. Dabei gelingt es dem Verfasser, überzeugend darzulegen, wie fragil das System des public credit war, das so „heterogene Elemente“ wie „Steuereinnahmen, Kreditgewährung und Gewinnmotive“ zusammenzuführen hatte, aber auch „Ängste, Argumente und Metaphern“ berücksichtigen musste (47). Der einzige englische Beitrag verdient zum besseren Verständnis eine Kommentierung in gleicher Sprache: Harold J. Cook, well known for his excellent study „Matters of Exchange“5, introduces his interesting essay to „Early Modern Science and Monetized Economies“ with linguistic reflections on the German terms „Markt“ and „Wissen“. Strangely enough, he uses the „Oxford English Dictionary“ instead of a German reference encyclopedia such as „Grimms Wörterbuch“, which misleads him with both terms especially with regard to the etymology. A similar misunderstanding occurs later when he writes about „Prüfung“ instead of „Probe“ in the context of coin production. Starting from a solid literature basis on the history of Amsterdam in the Golden Age, Cook shows how „the new science and commercial economies were being co-produced“ (111). „New science“ in the closer context of his essay means above all the carefully checked handling of measure, weight and coin production. But ignoring the state of research in historical metrology and numismatics6 (from Philip Grierson to Michael North and Harald Witthöft), missing the necessary contact to German literature, arguing without any archival or material sources, he overlooks the fact that his observations do not really prove a fundamentally new quality of progression of knowledge.
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Eva Brugger befasst sich mit dem „Projektemachen“ als einer besonderen „ökonomische[n] Praktik“, die sich im konkreten Fall auf die nordamerikanische Kolonie New Netherland bezieht. Präzise erklärt sie den Projektbegriff auf der breiten Grundlage zeitgenössischer Abhandlungen (Defoe, von Justi, Laer, van Meteren, Zincke) sowie des „Grimmschen Wörterbuches“ und nutzt ihn zur Deutung der Phänomene des 17. und 18. Jahrhunderts. Ihr vielleicht überraschendes, jedenfalls aber gut begründetes Ergebnis ist: Unabhängig von Erfolg oder Scheitern eines Projektes etablierten sich die Projektemacher als Experten des Ökonomischen. In der zweiten Sektion geht es um „Transfer“, soweit die „Produktion“ eine Rolle spielt, dann in Form der „Dienstleistung“, nicht jedoch als Herstellung materieller Güter. Die Studie von Tanja Skambraks über die Monti di Pietà lässt sich jener von Knäble an die Seite stellen, da auch sie sich mit der Verzinsung von Darlehen im Mittelalter befasst. Präzise zeigt sie auf, wie der „Wissenstransfer“ über die „Flexibilisierung des Wucherbegriffs“ (186) von Experten der Universitäten ausging, Prediger als Mediatoren erreichte und schließlich rechtsetzend die Praxis der Monti steuerte. Dabei plädiert sie für eine Erweiterung des Expertenbegriffs, der theoretisches und praktisches Wissen umschließt. Skambraks ist die einzige, die so die Bedeutung des Handwerks im städtischen „Cluster von Expertisen“6 erkennt. Der andere mediävistische Beitrag von Heinrich Lang hebt bei seinen Ausführungen über Kaufmannbankiers ebenfalls die Bedeutung des Praxiswissens hervor, das erfolgs- und marktorientiert in einem lebenslangen Lern- und Erfahrungsprozess entwickelt wurde. Dies befähigte und qualifizierte sie zugleich als höfische Experten und Finanzverwalter. Zwei der drei neuzeitlichen Beiträge weisen über Europa hinaus: Marian Füssel betrachtet den militärischen Arbeitsmarkt in Südasien während des 17. und 18. Jahrhunderts. Dort richtete sich die Nachfrage nicht auf theoretisches, sondern hauptsächlich auf praktisches Wissen insbesondere im Artillerieeinsatz, der seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Häufig kam es nicht darauf an, dass die Militärexperten ihre Fähigkeiten konkret nachweisen mussten, entscheidender war ihre ethnische Herkunft aus der europäischen „Fremde“, als „Franken“, die ihnen ihre Rolle als Experten erfolgversprechend zuwies (235). Rainald Becker erkennt im selben Zeitraum wie Füssel eine „eigenwertige Begegnungsphase mit dem Außereuropäischen“ (268), wobei er unter sorgfältiger Beobachtung des süddeutschen Büchermarktes die Konjunktur des „Überseewissens“ über Nord- und Südamerika registriert (248). Hervorgebracht wurde dieses Wissen vornehmlich von katholischen Orden, namentlich den Jesuiten, Benediktinern, Franziskanern und Kapuzinern, denen Becker besondere Aufmerksamkeit schenkt, aber auch von pietistischen oder dissentierenden Protestanten, die er ebenfalls erwähnt. Was einen kaiserlich-königlichen Kommerzienrat im 18. Jahrhundert zu einem Experten machte, erklärt Kolja Lichy am Beispiel des Grafen Karl von Zinzendorf. Dieser nutzte eine doppelte Kompetenz: einerseits juridisch-herrschaftlich als herausgehobener Amtsträger, andererseits sozial-hierarchisch als Angehöriger des Hochadels mit spezifischen familiären Netzwerken. Die dritte Sektion untersucht Angebot und Nachfrage auf den Wissensmärkten. Die Einzelbeiträge forschen dabei kaum nach einem Marktgleichgewicht, sondern sind eher bemüht, das Vorhandensein eines besonderen Marktes darzutun. Gleichwohl ist die Ausrichtung der Einzelbeiträge auf die beiden Leitbegriffe im Vergleich zu den beiden anderen Sektionen sehr viel enger.
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Klar strukturiert gelingt es Gion Wallmeier, Theorien der Institutionenökonomik und der Marktsoziologie auf die Frage „Wie der Kreuzzug marktfähig wurde“ anzuwenden. Was die Nachfrage-, Angebots-, Wert-, Kooperations- und Institutionalisierungsdimensionen anbelangt, wird nicht nur theoretisch reflektiert, sondern mit Archivquellen belegt. Zu Recht erklärt er die Anwendung seines differenzierten Marktbegriffs auf das Phänomen des höfischen Beratermarktes für „möglich und plausibel“ (303). Colin Arnaud erkennt in italienischen Textilunternehmen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die einen grundlegenden Wandel von der einstigen Armenfürsorge zur Beschäftigung der Armen als Lohnarbeiter herbeiführten. Während die Stadtverwaltungen „die Textilindustrie aus sozialen Gründen“ unterstützten, entwickelte sich ein begleitender „Wirtschaftsdiskurs“, an dem sich der Klerus sowie auch andere Gebildete beteiligten (327, 329 f.). Mark Häberlein stellt einen besonderen freien und unregulierten Wissensmarkt in der Frühen Neuzeit vor: den der Nutzung und Unterrichtung von Fremdsprachenkenntnissen. Die Nachfrage ging vom Adel, der Kaufmann- und höheren Beamtenschaft aus. Das Angebot an Übersetzung, Unterricht und Lehrwerken sorgte für eine beträchtliche Marktdynamik, die aber die Mehrzahl der Dienstleistungsanbietenden nicht aus einer wirtschaftlich prekären Lage befreite. Ian Maclean betrachtet den rechtswissenschaftlichen Buchmarkt vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg. Um einen internationalen Markt zu erreichen, waren Rezensionen wichtig. Das Funktionieren des internationalen Buchmarktes hing nicht von den Gelehrten ab, sondern von Sammlern, die aus Prestigegründen Bücher kauften. Welchen Wert das Sammeln von Büchern für einen Professor im 18. Jahrhundert hatte, erklärt abschließend Miriam Müller am Beispiel der beiden Naturforscher Gottfried Christoph Bereis und Christian Wilhelm Büttner. Eine stattliche Sammlung verhalf zu Ansehen, das sich bei einer Berufung kapitalisieren ließ, barg aber auch ein existenzielles wirtschaftliches Risiko. Wie kann nun eine Bilanz nach der Lektüre der gut lesbaren Beiträge unter Einbeziehung der Leitgedanken der Einführung aussehen? Zunächst erweist sich die Ausweitung der Sicht auf Wissensmärkte als beeindruckend. Dies wiederum regt dazu an, über das Dargebotene hinauszudenken und Fehlendes zu erkennen. Häberlein ist der einzige, der Frauen als Expertinnen ausdrücklich erwähnt. Angesichts der Bedeutung, die den Bettelorden wiederholt beigemessen wird, wäre es gewiss angebracht, auch über die kenntnisreichen Klosterfrauen nachzudenken. Nicht zu vergessen sind die Expertinnen in der Kaufmannschaft, im Handwerk, die Büchersammlerinnen, die Akteurinnen in Wissenssalons und viele andere mehr. Dies könnte in die Frage münden: Gab es spezifisch weibliche Wissensmärkte? Da in den drei Sektionen wenig Wert auf eine Zeitenfolge gelegt wird, hat die vorliegende Rezension versucht, jeweils zuerst die mediävistischen, dann die an der Frühen Neuzeit orientierten Beiträge zu behandeln. Doch auch so ist eine diachrone Entwicklung von Wissensmärkten schwer erkennbar. Vielfach wird in dem Sammelband eine „Vormoderne“ erwähnt. Der Begriff ist längst geläufig geworden, doch wird er nach wie vor hinsichtlich seiner begrifflichen und zeitlichen Dimensionen kaum reflektiert. Sollte die „Vormoderne“ keine Negation der „Moderne“ darstellen, sondern bereits modern erscheinende Elemente enthalten, wäre ein Diskurs über die
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historische und die soziologische Annäherung an die Moderne spannend gewesen. Beim Thema „Risiko“ hätte sich dies angeboten. Das Abrücken von scheinbar zeitlosen ökonomischen Definitionen, wie sie die Sektionsüberschriften suggerieren, wird bis auf einzelne Ausnahmen, die vor allem in der dritten Sektion anzutreffen sind, offenkundig. Doch ein fassbares Ergebnis dieser Art von „Historisierung“ lässt sich nicht bemerken. Die multa der Fallbeispiele, Inhalte und Zeitperspektiven fügen sich letztlich leider nicht zu einem multum an verbindender Erkenntnis. Dennoch wird man den Band gewinnbringend als historische Dokumentation unterschiedlicher Wissensmärkte, Expertenprofile und auch als Anregung zur weiteren Beschäftigung mit der „Wirtschaftskulturgeschichte“ nutzen können. 1 2 3
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Ronald Hitzler, Anne Honer, Christoph Maeder (Hg.): Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994. Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004. Frank Rexroth: Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts. In: Björn Reich, Frank Rexroth, Matthias Roick (Hg.): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (Historische Zeitschrift, Beiheft NF 57), München 2012, 12–44. Siehe auch Wolfgang Bon ß : Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995, v. a. 191–232. Harold J. Cook: Matters of exchange. Commerce, medicine, and science in the Dutch Golden Age, New Haven/London 2007. Rexroth: Systemvertrauen, 30.
Prof. Dr. Rainer S. Elkar Wilnsdorf bei Siegen
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 135–137 Markus A. Denzel (Hg.) Europäische Messegeschichte 9.–19. Jahrhundert Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2018, 434 S., 25 sw. Abb., ISBN 978-3-412-50794-7, 70,00 EUR. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Tagung „Internationale Messen in Vergangenheit und Gegenwart“ zurück, die am 27. und 28. Juni 2015 in Leipzig veranstaltet wurde, und umfassen einen Zeitraum von rund 1000 Jahren, thematisch über ganz Europa verteilt. Einleitend bietet der Herausgeber eine Definition von „Messen“ nicht nur als Zentren des überregionalen Warenaustauschs zwischen Kaufleuten sowie als Finanzmärkte (Kredite, Wechselhandel, Edelmetallverkehr), sondern auch als Kommunikationsplattformen und Informationsbörsen für die Bildung von Netzwerken. Zudem waren Messen Zentren des Kulturtransfers durch die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Kulturräume. Anschließend gibt er einen kompakten Überblick
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über die Erforschung von Messen, von diversen Einzelstudien bis hin zu den Tagungen und Publikationen seit den 1950er-Jahren durch die Société Jean Bodin, das Städteinstitut in Münster und die Internationale Kommission für Städtegeschichte, zum Messejubiläum in Frankfurt am Main 1990/91 und zum gewichtigen Messeband der Settimana di Studi von 2001. Manfred Straube spricht sodann „Aktuelle Fragen der deutschen und internationalen Messegeschichte“ (15–42) an, indem er die schwierige Abgrenzung zwischen Jahrmärkten und Messen unterstreicht, den Fernhandel und insbesondere den Landverkehr für Messen sowie das dortige Marktgeschehen und die Akteure hervorhebt. Mihailo St. Popović betrachtet „Jahrmärkte im europäischen Teil des Byzantinischen Reiches und deren neuzeitliches Nachleben“ (43–53). Carsten Jahnke betont, dass der nordeuropäische Hanseraum messefeindlich war, weil die Hansekaufleute keine Konkurrenten duldeten; es gab nur eine Ausnahme – namentlich die „Messen in Schonen – die größten Marktveranstaltungen im Hanseraum“ (55–81), die vom 13. bis ins 15. Jahrhundert allerdings eine nicht-urbane Veranstaltung waren. Philipp Robinson Rössner beschreibt umfassend „Messen und Jahrmärkte in England im Spiegel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der beginnenden europäischen Wirtschaft, ca. 1000–1800 n. Chr.“ (83–114), wobei sechs Märkte Charakteristiken von Messen aufwiesen. „Fairs in Northern France and the Low Countries, 1200–1600“ (115–123), also in der Champagne und Flandern, betrachtet Wim Blockmans. Zwei weitere Beiträge befassen sich mit Italien: Andrea Bonoldis „Italien und die Messen zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ (125–146) und Claudio Marsilios „The Italian Exchange Fairs and the International Payment System (XVI–XVII Centuries)“ (169–180). Dabei spielten in Italien weniger Messen als die großen Städte eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Handels. Michael Rothmann analysiert „Marktkonzepte im mittelalterlichen Europa unter besonderer Berücksichtigung des Heiligen Römischen Reiches“ (181–202) und verortet dabei bis um 1500 in circa 1.500 Orten rund 5.000 periodische Märkte. Marie-Claude Schöpfer konzentriert sich in ihrem Beitrag „Jahrmärkte und Messen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz vom Mittelalter bis zum 19./20. Jahrhundert“ (203–219) auf die wichtigen Orte Genf und Zurzach. Peter Rauscher betrachtet „Wege des Handels – Orte des Konsums. Die nieder- und innerösterreichischen Jahrmärkte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert“ (221–266) und geht ausführlich auf die Handelsgeschichte der Region sowie auf die Neuzeit ein. Norbert Spannenberger periodisiert „Märkte im Königreich Ungarn, Kroatien und in Siebenbürgen“ (267–283) in die Phasen des 15. Jahrhunderts, in die osmanische Zeit, in die Habsburger Herrschaft und in das 19. Jahrhundert. Dimitrios M. Kontogeorgis betont in seinem Beitrag „International and Regional Fairs in the Balkans from the Late Middle Ages up to the Nineteenth Century. Perseverance and Change in Ottoman Southeastern Europe“ (285–324) die Bedeutung von Messen für das Osmanische Reich, und Werner Scheltjens untersucht in „North-Eurasian Fairs from the Late Middle Ages to the Nineteenth Century“ (325–352) einen riesigen geographischen Raum, dessen Handel zu unterschiedlichen Zeiten durch Moskau, St. Petersburg, Archangelsk und die Häfen am Schwarzen Meer bestimmt wurde. Dass die spanischen Messen ihren Höhepunkt im 15. und 16. Jahrhundert hatten, berichtet Hilario Casado Alonso in seinem Beitrag „International and Regional Fairs in Spain, from the Middle Ages to the 19th Century“ (147–168). Spanische Kaufleute wirkten aber bis in die Kolonien, wie Renate Pieper in „Die Messen der Karibik im hispanoamerikanischen Handelsgefüge,
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16.–18. Jahrhundert“ (353–367) nachweisen kann. Abschließend untersucht Markus A. Denzel das „System der Messen in Europa – Rückgrat des Handels, des Zahlungsverkehrs und der Kommunikation (9. bis 19. Jahrhundert)“ (369–431) und diskutiert dabei den Jahrmarktsbegriff im Verhältnis zu den Messen, die bis ins 16. Jahrhundert vor allem ein westeuropäisches Phänomen waren, dann auch in Osteuropa und nicht zuletzt auch in Leipzig eine Rolle spielten, als sich die Handelsströme von der Nord-Süd-Ausrichtung nach Ost-West veränderten. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge dieses informativen Sammelbandes arbeiten in unterschiedlicher Intensität die auffällig variierenden Charakteristika von Messen und Märkten in fast allen europäischen Regionen heraus und zeigen deren Veränderungen im Verlauf der Jahrhunderte. Ein Register hätte die Nutzbarkeit des anregenden Buches erleichtert. Dr. Ortwin Pelc Hamburg
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 137–138 Christine van den Heuvel, Gerd Steinwascher, Brage bei der Wieden (Hg.) Geschichte Niedersachsens in 111 Dokumenten (Veröffentlichungen des Niedersächsischen Landesarchivs 1), Göttingen: Wallstein Verlag, 2016, 495 S., 264 farb. Abb., ISBN 978-3-8353-1960-8, 29,90 EUR. Eine Geschichte Niedersachsens in 111 Dokumenten aus Anlass der „Gründung des Landes Niedersachsen am 1. November 1946“ (7) darzustellen, erweist sich als ein in mehrfacher Hinsicht schwieriges, eigentlich unmögliches Unterfangen: Diese Schwierigkeiten beginnen mit dem zeitlichen Umfang des Themas: Das Land Niedersachsen besteht seit 70 Jahren; es war nach dem 2. Weltkrieg aus dem Zusammenschluss des Landes Hannover mit den Freistaaten Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe entstanden. Zwischen 1866 und dem 2. Weltkrieg bildete es einen Teil Preußens; davor, von 1815 bis 1866, glänzte es als das Königreich Hannover, das aus dem Kurfürstentum Hannover und dieses wiederum durch den Zusammenschluss von Teilfürstentümern zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg gebildet worden war. Dies aber setzte sich zuvor aus einzelnen Teilen zusammen, die in unterschiedlichen dynastischen Konstellationen mal kleiner, mal größer bis zu den Welfen im Mittelalter hineinreichen. Die „Welfen“ gibt es immer noch, wie man aus wunderbaren Illustrierten wie dem „Grünen Blatt“ oder der „Bunten“ erfährt. Wer sich für die Genese dieses Gebildes „Niedersachsen“ interessiert, sollte eine ältere Geschichte des Landes in die Hand nehmen; hier findet er sie nicht. Stattdessen findet er hier einmal die Vielfalt, die Niedersachsen auszeichnet, dann die unterschiedlichen sprachlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Facetten, die den sturmgewachsenen Niedersachsen definieren. Die 111 Dokumente sind nicht abgedruckt, sondern werden durch Archivare kenntnisreich vorgestellt. In deren Essays liegt der eigentliche Wert dieser „Geschichte Nieder-
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sachsens“. Denn sie beschreiben nicht nur das ausgesuchte Dokument, skizzieren kurz seine Entstehung, seinen Inhalt und seine Wirkungsgeschichte, sondern ordnen das Dokument auch immer wieder geschickt und überzeugend in den größeren Kontext der Entwicklungen des Landes ein. Im Großen und Ganzen ist dank dieser vorzüglichen Essays das gewagte Unternehmen nicht nur gelungen, sondern die Beiträge machen das gewichtige Buch auch zu einem informativen und hervorragenden Lesevergnügen, in dem viel zu entdecken ist – auch für den Historiker, der sich gelegentlich mit der Geschichte Niedersachsens befasst hat. Besonders lehrreich für mich war die Lektüre über das Asegabuch aus der Zeit um 1300 (Dokument Nr. 9, 44–47), der Schmähbrief des lüneburgischen Adeligen Johann von Oppershausen von 1550 (Dokument Nr. 20, 88–91), der Essay über „Gott bleyst die Quin“, was nicht alemannisch, sondern englisch à la Friedrich I., König in Preußen, war und in dem von Christine van den Heuvel geschickt der Bogen von der sogenannten „Glorreichen Revolution“ bis zu den Göttinger Sieben gespannt wird (169–171). Dass diese Göttinger Heiligen in dem Band selbst nicht erneut heiliggesprochen wurden, empfindet der Rezensent als wohltuend. Gibt es an dem Band etwas zu kritisieren? Natürlich: Aber der Rezensent ist so von dessen Qualitäten angetan, dass er darauf verzichtet und jedem sturmfesten Niedersachsen stattdessen den Band auf den Nachttisch wünscht. Prof. Dr. Hermann Wellenreuther Göttingen
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 138–140 Hans-Christian Bresgott Ostseeküste – Ostseebad. Von der Entdeckung des Nordens zur Entstehung der deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert Konstanz: UVK Verlag, 2017, 394 S., ISBN 978-3-86764-710-6, 39,00 EUR. Die abwechslungsreiche, von Steilufern, Dünen und weitläufigen Sandstränden, Haffs und Nehrungen geprägte Ostseeküste war 1793 Schauplatz der Gründung des ersten deutschen Seebades: Heiligendamm bei Bad Doberan. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Meeresküsten in Deutschland als erholsam und gesundheitsfördernd propagiert. Vertreter der Aufklärung – wie der Naturforscher und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg – priesen den Aufenthalt am Meer als medizinisch erstrebenswertes Unterfangen. Hans-Christian Bresgott geht den Spuren dieser „Entdeckung“ der Ostseeküste auf materialund perspektivreiche Weise nach. Beim vorliegenden Werk handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer 2014 an der Technischen Universität Berlin eingereichten geschichtswissenschaftlichen Dissertation. Der Verfasser deckt prinzipiell die gesamte deutsche Ostseeküste ab – wobei die territoriale Zugehörigkeit seit der Zeit um 1800 wechselte. So werden Seebäder behandelt, die einst zu Dänemark gehörten; andere Territorien gehören heute nicht mehr zu Deutschland. Die
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Studie basiert auf archivalischen Quellen ebenso wie auf einer stupenden Kenntnis einschlägiger – auch historischer – Fachliteratur sowie auf zahlreichen Ortsmonografien. Strukturell ist die Arbeit als „Diskursgeschichte des Raumes“ (13) angelegt. Aus dem Uferraum wurde ein Kurraum; der zuvor fast nutzlose Sand wurde nun zum begehrten Strand umund aufgewertet. Geologische Formationen wurden kulturell-gesellschaftlich überformt; das Seebad wurde zum „säkularisierten Heilraum“ (79). Zunächst beschreibt Hans-Christian Bresgott die „mentale“ (13) Aneignung der Ostseeküste. Waren zunächst überhaupt nur die größeren Hafenstädte an der Ostsee von wirtschaftlicher Bedeutung, so gewannen bereits in der Frühen Neuzeit auch kleinere Orte aus landschaftsästhetischen wie auch gesundheitspolitischen Gründen neue Bedeutung. In der gebildeten Welt stellten nun nicht mehr allein südlich-mediterrane Gefilde die Sehnsuchtsorte dar, sondern auch der zuvor als „wild“ (13) betrachtete Norden. Von herausragender Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung der frühen Seebäder an der Ostsee waren die Aktivitäten der Badeärzte im Kontext einer allgemeinen Medikalisierung, die den Küstenraum immer stärker in den Fokus rückte. Neben der als segensreich deklarierten Wirkung des Meerwassers spielte auch die künstlerische Entdeckung der Ostseeküste, etwa durch Caspar David Friedrichs Arbeiten, eine katalysatorische Rolle. Der mentalen folgte die praktische Raumaneignung. Zeit und Geld wurde investiert, um abgelegene, teilweise nur schwer zu erreichende Fischerdörfer zu erschließen und attraktive Seebäder zu schaffen. Dabei prallten nicht selten ganz unterschiedliche soziale Schichten aufeinander; nicht immer profitierten Einheimische von der nun entstehenden Infrastruktur, die am Strand und um ihn herum entstand. Es entwickelte sich eine dezidiert bürgerliche, von Liberalität geprägte Seebäderkultur, die sich architektonisch und gesellschaftlich von den aristokratischen Kurbädern im Binnenland unterschied. Ein stetig ausgebauter Dienstleistungssektor einerseits, Küstenschutzmaßnahmen und die zunehmende Sicherheit auf See andererseits flankierten diese Entwicklung. Von maßgeblicher Bedeutung für Aufstieg oder Niedergang eines Seebades war die verkehrstechnische Anbindung; auch die Nähe zu größeren Städten war hilfreich für eine erfolgreiche Gründung. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten Dampfschiffe und Eisenbahn eine wesentliche Rolle für die Entwicklung eines Ortes. Warnemünde beispielsweise profitierte von der Nähe zu Rostock und der guten Erreichbarkeit von Berlin aus; auswärtige Kurgäste wurden hier summarisch als „Berliner“ (350) bezeichnet. Angesichts der zunehmenden Zahl von Seebädern verwundert es nicht, dass es bald zu Konkurrenzkämpfen unter den Ostseebädern, aber auch gegenüber den sich fast zeitgleich entfaltenden Nordseebädern kam. Mit Abgrenzungsversuchen und Alleinstellungsmerkmalen, zum Teil mit großem publizistischem Aufwand betrieben, warb man ums Publikum. Insgesamt zeigt sich die Geschichte der Ostseebäder – sieht man von Ausnahmen ab – bis heute als eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolgsgeschichte. Besonders überzeugend ist jener von Bresgott praktizierte interdisziplinäre Ansatz der Darstellung, der Aspekte der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Natur– und Landschaftsgeschichte, Medizingeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch der Verwaltungs- und Politikgeschichte miteinander verknüpft. Immer wieder werden auch Verbindungen zur Kunst– und Literaturgeschichte, zur Theologie sowie auch zur allgemeinen Geistesgeschichte hergestellt. Die
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blendend informierte und auch anschaulich bebilderte Studie bietet umfassende Einblicke in die Transformation des Küstenraumes an der Ostsee. Als kleiner Nachteil der hier gewählten strukturellen Gliederung erweist sich, dass Informationen zu einzelnen Seebädern in den unterschiedlichen Kapiteln wiederholt auftauchen – was aber den insgesamt hervorragenden Gesamteindruck nicht schmälern kann. Prof. Dr. Norbert Fischer Universität Hamburg, Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie, Edmund-Siemers-Allee 1 (Westgebäude), 20146 Hamburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 140–142 Raivis Bičkeviskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans, Anu Schaper, Björn Spiekermann, Inga Walter (Hg.) Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure, Bd. 1: Zwischen Reformation und Aufklärung (Akademie-Konferenzen 28), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017, 508 S., ISBN 978-3-8253-6812-8, 52,00 EUR. Der Band versammelt die Referate einer internationalen Nachwuchstagung, die die Heidelberger Akademie vom 05. bis zum 08. Mai 2014 durchführte. Die Teilnehmer stammten aus den Fachdisziplinen der Geschichtswissenschaft, der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Musikund Kunstgeschichte. Das Spektrum der Methoden und der Erkenntnisinteressen war dementsprechend breit. In der Einleitung grenzen die Herausgeber den baltischen Kulturraum ein: Er umfasst „Estland, Kurland, Livland unter Einschluss Litauens“ (15). In Litauen wurde seit der Reformation „‚Kleinlitauen‘ (Lithuania minor), vormals ‚preußisch Litauen‘“ zur „wichtigsten Schaltstelle“ (16) in den Austauschprozessen der Region. Die Universität Königsberg war dabei von zentraler Bedeutung. Untersuchungsraum ist die Kulturregion Baltikum; dabei geht es nicht um „politische Gebilde“ mit wechselnden Grenzen (18). Der einleitende Essay von Klaus Garber gibt dem Band Orientierung. Er beginnt mit Gedanken zur „Rückkehr nach Europa“, die die „baltische Trias“ nach 50 Jahren Fremdherrschaft 1990 erkämpfte. Garber hebt die Rolle der Baltendeutschen hervor, die in den baltischen Ländern seit dem Mittelalter ein „kulturelles Aufbauwerk“ vollbrachten (31), das er in einem gerafften Überblick über den politischen, konfessionellen und kulturellen Entwicklungsgang darstellt. Er arbeitet die Unterschiede zwischen den Regionen, in denen die Deutschen die Oberschicht bildeten und im 16. Jahrhundert die Reformation durchführten, und dem altgläubigen Lettgallen und Großlitauen nachvollziehbar heraus. Während sich in Est- und Livland sowie in Preußen das orthodoxe Luthertum durchsetzte, war der Vielvölkerstaat Großlitauen im 16. und frühen
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17. Jahrhundert ein konfessionelles Mosaik, in dem das Luthertum nie ein Übergewicht hatte: Es waren „der polyglotte, der polyethnische und der polyreligiöse Duktus, die dem Großfürstentum ihr Gepräge gaben“ (38). Diese eher globale Darstellung unterfüttert Garber durch eine überaus kenntnisreiche Darstellung der „gelehrten Infrastruktur“ – nämlich der Schulen, Universitäten und vor allem der Bibliotheken. Die immensen Verluste durch die Zerstörung der Stadtbibliothek Riga 1941 und durch die Vernichtung von Städten wie Narwa und Mitau ( Jelgawa) im deutschsowjetischen Krieg bleiben nicht unerwähnt. Der Band ist danach in vier Abteilungen gegliedert. Die erste Abteilung enthält vier Beiträge über „Reformation und lutherische Orthodoxie“. Die kurländische Kirchenordnung (1570) samt der vorhergehenden Kirchenreformation und ihre Folgen behandelt Sabine Arend. Diese Kirchenordnung ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie durchgängig auch die „undeutsche“ Mehrheitsbevölkerung im Blick hatte und regelte, dass und wie der Gottesdienst auf Lettisch zu gestalten war und wie die lettischen Gemeinden zu leiten und zu disziplinieren waren. Das vorreformatorische „Missale Rigensis“ und seine musikgeschichtliche Bedeutung im Vergleich zu fünf anderen Missalen aus Mitteleuropa behandelt Guntars Prānis. Mit den komplexen sprachlichen Techniken der (ungedruckt gebliebenen) Bibelübersetzung von Johannes Bretke aus dem späten 16. Jahrhundert ins Litauische befasst sich Elgė Greverė am Beispiel der Übersetzung der griechischen Partikel δὲ, lateinisch autem, bei Luther aber mit bet, ins Litauische einerseits, mit der Konstruktion litauisch duoti(s) + Infinitiv und deutsch (sich) lassen + Infinitiv andererseits, die sie direkt aufs Deutsche zurückführt. So kann sie plausibel machen, dass Luthers Text großen Einfluss auf die litauische Übersetzung hatte. Den – vielfach als Hexenjäger verkannten – lutherischen Theologen und Politiker Hermann Samson (1579–1634), der in Riga wirkte, behandelt Uģis Sildegs. Die zweite Abteilung behandelt „Privates und Institutionelles“. Es geht dort um eine in vielen Abschriften überlieferte, lutherisch geprägte hochdeutsche Chronik der Stadt Riga vom Anfang des 17. Jahrhunderts (Enija Rubina), die ihren Schwerpunkt in den „Kalenderunruhen“ in Riga (1584–1589) hatte, um die Autobiographie des Rigaer Bürgermeisters Franz Nyenstede, abgeschlossen um 1607 (Andris Levans), und um die „Anotationes“ des Revaler Gymnasialkantors David Gallus (Aigi Heero), wobei es sich um eine tagebuchartige Chronik handelt. Weiterhin geht es um die Berichte von Johann Gutslaff und Reiner Brockmann – zwei lutherischen Pastoren des 17. Jahrhunderts – über ihre estnischen Bauerngemeinden (Maris Saagpakk) und schließlich um die Entwicklung des humanistischen Denkens in Livland seit etwa 1550 und die Entstehung der sodalitas literaria Rigensis ( Jost Eickmeyer). Die dritte Abteilung ist der „sakralen und profanen Musik“ gewidmet – namentlich der schwedischen und deutschen Hochzeitsmusik in Narwa im 17. Jahrhundert (Aleksandra Dolgopolova), den Gelegenheitsmusiken in Riga (Anna-Juliane Peetz-Ullmann), der Kirchenmusik in livländischen Kleinstädten (Ieva Pauloviča), den musikalischen Transfers und Einflussgefechten zwischen dem Baltikum und Norddeutschland (Anu Schaper) und schließlich dem ältesten überlieferten lettischen Kirchengesangbuch (1621) des Jesuiten Georg Elger (Māra Grudule). Die vierte Abteilung trägt die Überschrift „Gelehrtentum und Dichtung.“ Auch hier handelt es sich um Fallstudien: um zwei Beispiele frühneuzeitlicher Wanderungen von Gelehrten nach
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Königsberg als Ausdruck baltisch-deutscher Kulturkontakte (Axel E. Walter), um die estnischen Hochzeitsgedichte von Reiner Brockmann, der Martin Opitzens „Deutsche Poetik“ auf das Estnische anwandte, verstanden als Bemühung um die Entwicklung des Estnischen zur Schriftsprache (Martin Klöker), und um einen Vergleich der Dichtungen der beiden Jesuiten Jakob Bidermann und Matthias Casimirus Sarbievus (Živilė Nedzinskaitė). Das Protokoll der Abschlussdiskussion beschließt den Band. Der Anhang enthält ein Personenregister; Orts- und Sachregister fehlen. Der Band dokumentiert eine Konferenz, deren Teilnehmer aus ihren zum Teil sehr speziellen Forschungsgebieten referierten. Das führt einerseits zu Wiederholungen bei den allgemeinen historischen Informationen, andererseits dazu, dass nur selten Zusammenhänge zwischen den einzelnen Abteilungen und zwischen den Beiträgen innerhalb dieser Abteilungen erkennbar werden (das gilt besonders für die dritte und vierte Abteilung). Das Vorwort der sechs Herausgeber hebt diesen Mangel nicht auf. Bemerkenswert ist schließlich, dass einige maßgebliche Kulturhistoriker der baltischen Länder kaum rezipiert wurden: Raimo Raag und Pēteris Vanags werden in einem einzigen Artikel zitiert (Maris Saagpakk), Aivar Põldvee und Ineta Balode überhaupt nicht. Dennoch sind viele Beiträge als Fallstudien nützlich und erhellend, besonders diejenigen von Sabine Arend, Elgė Greverė, Martin Klöker und Maris Saagpakk. Andere Beiträge sind aufgrund ihrer hohen Spezialisierung nur für wenige Spezialisten von Interesse. Lesenswert ist der Band allemal – nicht zuletzt wegen des luziden Essays von Klaus Garber. Prof. Dr. Helmut Glück Bamberg
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 142–145 Günter Vogler Müntzerbild und Müntzerforschung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Bd. 1: 1519 bis 1789 Berlin: Weidler Buchverlag, 2019, 534 S., ISBN 978-3-89693-734-6, 75,00 EUR. Seit nahezu einem halben Jahrhundert begleitet der „radikale Reformator“ (438) den Autor auf seinem wissenschaftlichen Weg – über Detailstudien, Vorträge, Lehrveranstaltungen, Biographien und eine bibliographische Erfassung der Publikationen von und über Thomas Müntzer. Zum Teil waren Marion Dammaschke und der Theologe Siegfried Bräuer (†) seine unmittelbaren Mitstreiter. Eine solche langwährende und intensive Beschäftigung mit dem Magister und seinem Umfeld rechtfertigt die Themenwahl und ist die reale quellenorientierte und theoretische Plattform des Berliner Historikers. Bereits der einleitende „Überblick über Leben und Lehre“ Müntzers (13–26) macht erkennbar, dass es sich nach wie vor um eine streitbare und umstrittene Persönlichkeit handelt, aus deren
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theologischen Auffassungen soziale Konsequenzen folgerichtig waren. Sie führten Luther zur theologischen und glaubensstrategischen Abweisung des „Satan[s] zu Allstedt“ (zum Beispiel 19, 60) und gipfelten im machtpolitischen Konflikt mit der Obrigkeit, die für das physische Ende des Predigers sorgte. Nur langsam und zäh trat die Mär vom „Bauernführer“ den Rückzug an. Kapitel 1 umfasst einen editionsgeschichtlichen Abriss, der vom Nachlass Müntzers bis zur Textausgabe aus den Jahren 2004–2017 reicht. Dabei wird gezeigt, wie seine Auffassungen gezielt aus dem geistlichen Gut evangelischer Kirchen herausgehalten beziehungsweise bekämpft werden. Dass Müntzer ein erzsatanisches Werkzeug und Ungeheuer gewesen sei, der als Evangeliumsfälscher, Verleumder, Hassprediger, Aufwiegler, Schwärmer, ja als ein solcher gelten müsse, vor dessen Irrlehren und widergöttlichem Ungehorsam jeder Gott um gnädigen Schutz zu bitten habe, verdeutlicht Kapitel 2. Das machten von Luther und Melanchthon abwärts all jene ‚Reformatoren‘ geltend, die allein für sich beanspruchen, ‚das rechte Wort Gottes‘ zu predigen. Dieserart Hasstiraden nahmen nach 1525 zu. Sie sollten nun auch die verbliebenen Anhänger von Müntzers Ideen treffen. Wenngleich die römisch-katholische Front (Kap. 3) die Verteufelung Müntzers in vielen Varianten fortsetzt und Müntzer aus Luther herkommend sieht (unter anderem Cochlaeus), spielte auch der Bauernkrieg als wesentliches äußeres Exempel eine wichtige Rolle. Dabei demonstriert die Auseinandersetzung mit und um Witzel die Verworrenheit der Argumentationen zwischen Rom und Wittenberg. Im Zentrum des 4. Kapitels steht Sleidans „Histori Thome Muntzers“, die – wie der Verfasser hervorhebt – „gleichsam kanonisiert wurde“ (107), womit Müntzer in die Geschichtsschreibung über die Täufer Eingang fand. Der Zwinglianer Bullinger habe zwar dessen Lehren generell als widerlegt verstanden, doch seien seine Anhänger weiterhin von der Rechtmäßigkeit der Gütergemeinschaft und der Wiedertaufe überzeugt gewesen. Die bisherigen Grundlinien der Attacken gegen den Prediger wurden nach der Mitte des 16. Jahrhunderts weitergeführt und zum Teil wiederholt, aber auch durch seine Aufnahme in die Ketzerkataloge erweitert, ohne dass sich lutherische beziehungsweise katholische Stoßrichtungen wesentlich veränderten (Kap. 5). Bald rückte das Müntzerbild auch in die nicht-sakrale Literatur vor und nahm dort einen breiteren Raum ein, zum Beispiel in lokalen Chroniken und bei Franck, Spangenberg und anderen. Auch der Bauernkrieg erhielt wachsende Aufmerksamkeit, wobei Müntzer, nicht allein bei lutherischen Autoren, „Antreiber“ der Bauern gewesen sei, der Gottes Wort falsch gedeutet habe (Kap. 6). Im Verlauf des 17. Jahrhunderts rückten Müntzers Vorstellungen (zum Beispiel sein Geist-Glaube und die Offenbarung durch Träume) in den Theologenstreit. So warfen Schelhammer und sein Anhang Weigel und den Weigelianern ein „Herkommen“ von Müntzer und seinen Schändlichkeiten vor (Kap. 7). In die Niederlande, nach Frankreich und England führt der Verfasser seine Leser und beobachtet dort ebenfalls die generelle Verteufelung des Predigers (Kap. 8). Im weiteren Verlauf der Abhandlung werden Autoren und Publikationen für eine breitere Öffentlichkeit dargestellt, in denen Müntzer mit seinem Werk behandelt oder berührt wird (Kap. 9): Enzyklopädien, Lexika, Chroniken sowie Landes- und Stadtgeschichten. Sie boten samt und sonders keine neuen Erkenntnisse oder Sichten, sondern lehnten sich an die vorhandenen Werke beziehungsweise (negativen) Personen- und Problemwertungen an. Auf diese Weise hielten sie jedoch Müntzer im Gespräch. Im Umfeld der ersten beiden Reformationsjubiläen (1617 und 1717)
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wurden katholischerseits die Vorwürfe der Kirchenspaltung wiederholt, während bei den Lutherischen die Unterstellung gepflegt wurde, Müntzer sei der Initiator des Bauernkrieges und Vater der Täufer gewesen (Kap. 10). Man sah in ihm in den Worten Johann August Starcks nach wie vor „einen eingefleischten Teufel“ (337). Tragend war in beiden Fällen Vorwurf und Kritik an der (eigentlichen) Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber der Obrigkeit. Dem Leben und Werk Gottfried Arnolds (1666–1714), der ein mehr als kritisches Verhältnis zur (Amts-)Kirche entwickelte, widmet der Verfasser größeren Raum, weil dieser nicht in Müntzer, sondern in der Tyrannei der Obrigkeit die Ursache des Aufstandes sah, auch wenn er die Gewaltanwendung des Predigers ablehnte (Kap. 11). Das sind wahrhaftig „neue Debatten“ (6) und nicht „weitere Debatten um das Müntzerbild“ (339). Es ist eine gewisse (vorsichtige) Lösung von den Sichtweisen des 16. Jahrhunderts, doch selbst diese ruft heftige Kritik hervor. Mit dem Bauernkriegsthema (Kap. 12) treten dann Müntzer, Storch und Karlstadt als Schwärmer wieder in den Blickpunkt, denen sich Pfeiffer zugesellt. Wenngleich einige Obrigkeiten es mit der Bauernbedrückung übertrieben hätten, so seien die Bauern an ihrem Ende doch selbst schuld, denn sie hätten gewaltsam ihren Anteil an den Besitzungen erlangen, das Evangelium also fleischlich auslegen wollen. Das sei des Teufels und Müntzers Werk. Ein Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit wiesen vor allem die Juristen unter den Autoren ab (zum Beispiel Fleischmann), wobei sie ihren Rückhalt bei Luther suchten und fanden. Im 13. Kapitel markiert der Verfasser wohl einige Grundprinzipien der Aufklärung und zeigt, dass man die Obrigkeit partiell kritischer beurteile, aber am alten Verdammungsklischee gegenüber Müntzer weitgehend festhalte (zum Beispiel Planck und Galletti). Angesichts der Datenmasse waren methodische Orientierungshilfen besonderer Art nötig. Der Autor löst diese Frage, indem er den jeweiligen Kapiteln die Hauptprobleme zur Information voranstellt und gleichfalls die Behandlung der wichtigsten Autoren mit biographisch-bibliographischen Angaben versieht. Das erleichtert die Überschaubarkeit des inhaltlichen Materials der Schriften. Zugleich wird damit das Argumentationsumfeld erweitert und der Zugang zum Kern des Müntzerbildes gleitend gemacht. Das immense literarische (vor allem theologische, philosophische, juristische und historiographische) Faktenpaket zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert schnürt Günter Vogler in souveräner Weise in Kap. 14. Er legt dar, wie dürftig die Kenntnisse über Müntzers Biographie und seine Lehre waren, weil sich die Autoren nur sehr zögerlich den tatsächlichen Müntzer-Quellen zuwandten. Alle Differenzierungen und Nuancierungen des Bildes des Predigers stammten mehr oder weniger aus den Autoren-Kämpfen und erwiesen sich als Kompilationen. Die Verfasser waren sich aber einig in ihrer Grundansicht, dass Müntzer das Böse in verschiedenster Form verkörpere und sich gegen die göttliche Idee und ihren menschlichen Zweck gerichtet habe. Damit hingen sie weitgehend ab von den Positionen der theologisch-politischen Kämpfe der Reformationszeit, insbesondere Luthers und Melanchthons. Ausdruck dafür war letztlich ihre Sicht auf die Gefahren des Bauernkrieges und der Täufer. Nur wenige Stimmen (Franck, Gennep, Weigel, Arnold) äußerten sich vorsichtig sachlich-positiv zu Müntzer.
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Ein wissenschaftlicher Apparat (447–534), bestehend aus Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis, einer Zusammenstellung der Aufenthaltsorte Müntzers und einem Verzeichnis der zentralen Sachbegriffe in Leben und Werk des Predigers, schließt die Publikation ab. Für die weitere Forschungsarbeit zu Müntzer hat Günter Vogler eine neue Basis geschaffen. Gute Wünsche für die Arbeit am zweiten Band sollen ihn begleiten. Prof. Dr. Helmut Bräuer Leipzig
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 145–147 Klaus-Frédéric Johannes (Hg.) Mobilitas. Festschrift zum 70. Geburtstag Werner Schreiners (Schriftenreihe der Bezirksgruppe Neustadt an der Weinstraße im Historischen Verein der Pfalz Neue Folge 1), Neustadt an der Weinstraße, 2017, 725 S., 43 farb. Abb., ISBN 978-3-9816211-4-3, 38,00 EUR. Vor der Leserschaft liegt ein wahrer Backstein. Auf mehr als 700 Seiten sind zur Feier von Werner Schreiners 70. Geburtstag sieben Gruß- und Vorworte sowie 39 Einzelbeiträge versammelt. Bereits eingangs wird die breite öffentliche Anerkennung des Jubilars im Land Rheinland-Pfalz deutlich. Neben der amtierenden Ministerpräsidentin Malu Dreyer nahmen sich unter anderem der ehemalige Regierungschef Kurt Beck, ein aktiver und ein ehemaliger Oberbürgermeister sowie der Regionalleiter der „DB Regio“ für die Region Mitte die Zeit, Würdigungen zu verfassen. Schon diese ungewöhnlich große Zahl von Grußworten unterstreicht das umfangreiche Wirken Werner Schreiners auf ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern. Als Lehrer in Neustadt an der Weinstraße und Bad Dürkheim und dann seit 1992 als für die Optimierung des Bahnverkehrs verantwortlicher Experte im Landesdienst, als Stadtrat in Neustadt an der Weinstraße sowie auch als Verfasser von Studien zur Bildungs- und insbesondere Verkehrsgeschichte der Pfalz war und ist er in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens sichtbar. So breit angelegt wie Schreiners Wirken ist auch die Spannweite der unterschiedlichen Beiträge in seiner Festschrift. Genretypisch wird der Leserin und dem Leser ein buntes Potpourri an Themen geboten, die lose durch die Interessen des Jubilars verbunden sind. Im Folgenden sei es dem Rezensenten nachgesehen, dass aufgrund der großen Zahl von Aufsätzen keine Wiedergabe aller Ausführungen en détail, sondern vielmehr eine Gesamtwürdigung des Werks erfolgen soll. Untergliedert ist die Festschrift in vier unterschiedlich große Abschnitte. Der erste thematische Block widmet sich der „Älteren Territorialgeschichte“. Sichtbar wird bereits hier eine vorwiegend ereignisgeschichtliche Ausrichtung der meisten Beiträge, die sich durch den gesamten Band zieht. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Martin Armgarts systematisch angelegte Studie dar, in der er am Beispiel Neustadts Überlegungen zur Bedeutung von Klosterhöfen in pfälzi-
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schen Städten anstellt (3–23). Eine Analyse von zwei Hauptburgfrieden des ausgehenden 14. Jahrhunderts legt nachfolgend Frank Klasing vor (93–106). Josef Distler mit seinen Ausführungen zur Jagd an fürstlichen Höfen des Barock (25–36), Lutz Frisch zur kurzlebigen Universität Pfalzgraf Johann Casimirs in Neustadt (37–70), Klaus Frédéric Johannes über die Bedeutung des Hausvertrags von Pavia von 1329 (71–92) und Markus Schmitt zur Protestantischen Union von 1608 (107–127) beschreiten Pfade, auf denen vor ihnen schon viele wanderten. Die Mischung aus Altbekanntem und Neuem durchzieht auch den nächsten Abschnitt zur „Pfälzischen Geschichte ab 1816“. Lesenswert sind hier die nah an den Quellen gearbeitete Darstellung von Klaus J. Becker und Philippe Haller zum Schicksal des Neustadter Stadtbeigeordneten Ludwig Manderschied von der Zeit der Weimarer Republik bis in die Jahre nach 1945 (131– 145) sowie der Beitrag von Arno Mohr, der kritisch die Darstellung des Nationalsozialismus in Lokal- und Heimatgeschichten aus dem Gebiet der heutigen Pfalz in den Blick nimmt (181–232). Die weiteren Beiträge changieren zwischen Überblicksdarstellungen wie Hans Fenskes Ausführungen zum Anschluss der Pfalz an Bayern (147–161), vielfach durch Selbsterlebtes fundierten Miszellen (Werner Schineller, „Die Verwaltungsreform und die Auflösung der Bezirksregierung in Neustadt“, 241–247/Gerhard Wunder, „Miszellen zur Neustadter Geschichte“, 299–339) und quellengesättigten Detailstudien wie Stefan Schaupps Darstellung zur Positionierung der SPD zum pfälzischen Separatismus im Jahr 1919 (233–240) sowie Theo Wieders und Ulrich Burkharts Ausführungen zum Eisenbahnpionier Paul Camille Denis und seiner Haltung zum Hambacher Fest (249–298). Mit mehr als 200 Seiten und 14 Beiträgen bildet der sich anschließende Block zur Verkehrsgeschichte den umfangreichsten Abschnitt der Festschrift. Hans Ammerich mit seinen Ausführungen zur Anbindung der Region Zweibrücken-Pirmasens an das Zugnetz (343–366) und Ludwig Brake mit seinen Überlegungen zu den ersten Eisenbahnen in Rheinhessen (367–377) legen den Schwerpunkt vor allem auf das 19. Jahrhundert. Weiter in Richtung Gegenwart blicken etwa die Studie von Karl-Heinz Rothenberger zum nicht realisierten Saar-Pfalz-Rhein-Kanal (457–465), Walter Rummels Beitrag zu einem Zugunglück auf der Strecke Kaiserslautern-Saarbrücken im Jahr 1918 (467–487) und Rolf Übels Untersuchung zu Luftangriffen auf Bahnlinien in der Südpfalz im Zweiten Weltkrieg (511–525). Der modernen Mobilitätsgeschichte und Perspektiven des Verkehrswesens gewidmet sind etwa die Ausführungen von Michael Heilmann und Fritz Engbarth zu Geschichte und Gegenwart des sogenannten „Rheinland-Pfalz-Takts“ (393–401), Volkhardt Maliks Überlegungen zur „Mobilität 4.0“ (427–437), Werner M. Rieds Darstellung zum grenzübergreifenden Schienenverkehr zwischen dem Saarland, Lothringen und Luxemburg (439–447) und Theresia Riedmaiers und Lothar Zimmermanns Vorstellung des integrierten Mobilitätskonzepts im Landkreis Südliche Weinstraße (449–455). Den Abschluss des Bands bildet eine thematisch breite Reihe von Untersuchungen, die unter dem Titel „Wissenschaft, Bildung und Kunst“ vereinigt wurden. Hierbei spannen sich die Beiträge von aufgeklärten Gesellschaften in Neustadt am Ende des Alten Reichs (Wilhelm Kreutz, 593–603) und den Uhrwerken der örtlichen Stiftskirche (Axel Rehe, 637–664) über Reisen durch Mexiko im 18. Jahrhundert (Richard Nebel, 615–635) bis hin zum Ausbau der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer in der frühen Bundesrepublik (Karsten Ruppert, 665–684).
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Ein Schriftenverzeichnis Werner Schreiners (719–725) sowie insgesamt 43 farbige Abbildungen zu den vorangehenden Beiträgen runden den Band ab. Insgesamt verbindet der Begriff „mobilitas“, mit dem die Festschrift überschrieben ist, nicht alle der zahlreichen Beiträge zur pfälzischen Geschichte. Eine große thematische Vielfalt ist aber ohnehin das Los des Genres Festschrift. Jeweils für sich stehende kürzere und längere Beiträge von unterschiedlichem Neuigkeits- und Innovationswert sind schon traditionell konstitutiv für diese Literaturgattung. Die Festschrift für Werner Schreiner stellt hierbei keine Ausnahme dar. PD Dr. Benjamin Müsegades Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]
2. Mittelalter Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 147–149 Harald Derschka (Bearb.) Die Reichenauer Lehenbücher der Äbte Friedrich von Zollern (1402–1427) und Friedrich von Wartenberg (1428–1453) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen 61), Stuttgart: W. Kohlhammer, 2018, 416 S., 20 sw. Abb., 1 Einlegekarte, ISBN 978-3-17-033573-8, 48,00 EUR. Das Narrativ des „schleichenden Verfalls“ des Klosters Reichenau wird spätestens seit der Arbeit von Thomas Kreutzer1 zu Recht in Frage gestellt, jedoch finden sich innerhalb der letzten 15 Jahre fast keine Studien, die sich mit der Reichenau im späten Mittelalter beschäftigen.2 Harald Derschka legt nun mit der Edition der beiden ältesten Lehenbücher aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den nächsten Grundstein für die Erforschung des Reichenauklosters, besonders in Bezug auf die Herrschaftspraktik und lokale Fokussierung der beiden behandelten Äbte auf das Gebiet zwischen Hegau und Thurgau. Die Edition besteht aus drei Teilen, die im Folgenden einzeln besprochen werden. In der fast 60-seitigen Einleitung liefert Derschka zuerst eine präzise und ausführliche Beschreibung der beiden Handschriften und die Einbettung in die archivalische Gesamtüberlieferung aus dem Spätmittelalter. Die von ihm vorgenommene Identifikation der Schreiberhände ist durch gut ausgewählte Bildausschnitte für den Leser leicht nachzuvollziehen. Weiter folgt die Darstellung der Lehenobjekte, aufgeteilt nach den Kategorien „Grundbesitz“, „Herrschaftsrechte“, „Abgabeleistungen“ und „Eigenleute“. Diese bilden auch die Grundlage der Kartenlegende für die Übersicht
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über die Lehenobjekte. Die Einleitung endet mit einer Auflistung der erstellten Karten und mit den Richtlinien zur Erstellung der Register und der Edition selbst, wobei für die Textgestaltung der Edition das „Chartularium Sangallense“ als Vorlage diente (LXXXI). Die Edition erfolgt buchstabengetreu, Abkürzungszeichen werden jedoch stillschweigend aufgelöst und die Zeichensetzung dem Empfinden des modernen Lesers angepasst. So gewinnt der Editionstext an Struktur und Leserlichkeit, paläographische Fragestellungen zu Formelabkürzungen lassen sich jedoch leider nicht damit beantworten. Der zweite Teil umfasst die Edition der Lehenbücher des Abtes Friedrich von Zollern (auf 88 Seiten) und Friedrich von Wartenberg (auf 190 Seiten). Die Textgestaltung wirkt anfangs etwas ungewohnt, unterstützt aber das Verständnis und die Leserlichkeit der Quellen. Die einzelnen Einträge wurden nummeriert und sind sowohl der Seitenzahl als auch dem Ort des Lehens untergeordnet. Zeitlich spätere Nachträge zur selben Ortschaft werden nicht wie gewohnt in eckigen Klammern ergänzt, sondern im Text eingerückt. Durch die Angabe der Schreiberhand am Ende des Eintrages ist so für den Leser der Großteil aller Informationen aus dem Original in die Edition übertragen worden und leicht zugänglich. In den Fußnoten werden Orts- und Flurnamen aufgeschlüsselt und in der heutigen Geographie verortet, ebenso Institutionen wie die umliegenden Klöster und Stifte identifiziert. Die Identifikation der Orts- und Flurnamen erfolgt für jeden einzelnen Eintrag neu, was die Informationsdichte erhöht, aber auch zur Folge hat, dass teils in mehreren Fußnoten hintereinander derselbe Ort identifiziert wird und der kritische Apparat entsprechend an Umfang gewinnt. Als dritter Teil folgen mit fast 140 Seiten Umfang die beiden Register. Dieser Plural mag überraschen, erklärt sich jedoch damit, dass für beide Lehenbücher je ein eigenständiges Orts-, Personen- und Sachregister angelegt wurde. Hervorzuheben ist für beide Lehenbücher der Querverweis zwischen den Orts- und Personenregistern. Im Ortsregister wird für jeden Ort die aktuelle Lage genannt und anschließend, welche Ortsteile, Gebäude und Flurnamen dort zu verorten sind und welche Personen im Kontext dieses Ortes genannt werden. Im Personenregister wird dafür konsequenterweise nicht nur der Eintrag verzeichnet, in dem die Person genannt wird, sondern gleichzeitig in Klammern auch der im Ortsregister verzeichnete Ort. Eine strukturierte Durchsuchung der Edition ist also sowohl über die Orts- als auch Personenangaben möglich und wird durch die gründliche Aufarbeitung des Registers vereinfacht. Das Sachregister umfasst die frühneuhochdeutschen Begriffe und gibt in Klammern eine moderne Deutung an, bevor die Einträge folgen. Größere Bedeutungszusammenhänge wie „Abgaben“, „Familie“ oder „Kirche“ werden in semantischen Feldern erschlossen. So ist zum Beispiel unter dem Lemma „Lehen“ ein Verweis zu allen Lemmata, die im Bezug zur direkten Lehensvergabe stehen. Den Abschluss bildet eine detaillierte Karte, die die Lehenobjekte übersichtlich darstellt. Mit der Edition der Lehenbücher legt Harald Derschka einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der spätmittelalterlichen Herrschaftspraxis im Bodenseeraum vor. Die präzise und detailreiche Kommentierung der einzelnen Orte und Begriffe rundet die benutzerorientierte und sehr informative Edition ab. Die hohen Maßstäbe an den kritischen Apparat und die Register führen zwar zu pedantisch anmutenden Definitionen wie „graben (Graben)“ im Register (407), aber dies zeigt gleichzeitig, welch minutiöser Aufwand bei der Zusammentragung aller Informa-
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tionen betrieben wurde. Die editorische Leistung Derschkas wird nicht gemindert, wenn angemerkt wird, dass zwar die Orts- und Lehensbegriffe ausführlich dargestellt werden, die genannten Personen – unter ihnen fast alle umliegenden Adelsgeschlechter des Hegau und Thurgau sowie die städtische Elite der Reichsstadt Konstanz – aber nicht prosopographisch verortet werden. Der Zugang über die querverwiesenen Register bietet sich für eine zukünftige Untersuchung des politischen Verhältnisses zwischen dem Kloster Reichenau und den genannten Personengruppen an. Generell ist anzunehmen, dass Derschkas Edition nicht nur für die Erforschung der Reichenau ein einschlägiges Werk wird, sondern als semantisch-pragmatisches Nachschlagewerk für das komplexe Thema der Lehenspraxis und der Herrschaftsrechte in Süddeutschland und der Nordschweiz dienen kann. Das bei Kohlhammer erschienene Buch ist bisher nicht als E-Book oder PDF verfügbar. Mit Blick auf die digitalen Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft und zur Verbesserung der Textdurchsuchung jenseits der Registerbegriffe wäre es sehr zu begrüßen, wenn der Verlag das PDF noch online zur Verfügung stellt. Die von Derschka offerierten Nutzungsmöglichkeiten der Edition werden so ihr volles Potenzial entfalten. 1 2
Thomas Kreutzer: Verblichener Glanz. Adel und Reform in der Abtei Reichenau im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 168), Stuttgart 2008. Eine Stichwortsuche mit „Reichenau“ im OPAC der „Regesta Imperii“ liefert keine nennenswerten Ergebnisse, die sich auf die Zeit nach 1200 beziehen.
Lukas-Daniel Barwitzki M. A. Universität Zürich, Historisches Seminar, Culmannstraße 1, 8006 Zürich, Schweiz, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 149–151 Nina Herrmann Das Urbar des Schottenklosters St. Jakob in Regensburg (1390) (Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte 22), Regensburg: edition vulpes, 2017, 124 S., ISBN 978-3-939112-96-9, 18,00 EUR. Quelleneditionen sind für die allgemeine wie regionale Geschichtsforschung äußerst nützliche Werkzeuge für weitere Untersuchungen, sie erleichtern die Zugänglichkeit und verbreitern damit das notwendige Grundlagenwissen. Dies gilt auch für das hier anzuzeigende Urbar aus dem Regensburger Schottenkloster, das sich als Original im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg befindet. Das Klosterurbar, das am Anfang einer längeren Reihe von Salbüchern, Einkünfteregistern und Stiftsbüchern aus dem 15. und 16. Jahrhundert steht, wurde von mehreren Händen geschrie-
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ben; das am Beginn stehende Ortsverzeichnis scheint jüngeren Datums zu sein als das eigentliche Urbar. Außerdem sind eine Anniversarliste angehängt sowie weitere Urbareinträge aus dem 16. Jahrhundert unterschiedlicher thematischer Ausrichtung. Die Editorin spricht von einem „urbariellen Mischbuch“ (20). Generell werden in dieser primär wirtschaftlich ausgerichteten Quelle die Orte mit Klosterbesitz, die Abgabenhöhe – meist in Naturalien – sowie die Inhaber der Höfe und Güter angegeben. Die Transkriptionsregeln lehnen sich an jene von Walter Heinemeyer an; Orts- und Personennamen wurden so weit als möglich identifiziert. In den angedeuteten Forschungsperspektiven geht die Editorin nur auf zwei Aspekte ein: die Analyse der Besitzentwicklung des Klosters seit der ersten Besitzbestätigung von 1213 sowie jene der sozialgeschichtlichen Vernetzung mit dem Regensburger Patriziat. Jedoch sind weitere Möglichkeiten durchaus denkbar. Zunächst ist auffällig, dass die irischen Wurzeln des Klosters sowie die Fremdheit der Mönche in der Regensburger Umgebung in sprachlicher und kultureller Hinsicht kaum zu greifen ist. Das Urbar könnte auch aus einem anderen regional verwurzelten Monasterium stammen. Die weitere Besonderheit der Schottenklöster, dass sie als einzige Benediktinerklöster seit 1215 einen monastischen Verband bildeten, analog zu den Zisterziensern, Prämonstratensern, aber auch zu den Bettelorden, zeigt sich in den beiden Zusatzurbaren zu den Schottenklöstern in Eichstätt, das zum damaligen Zeitpunkt wohl nur noch von einem Propst verwaltet wurde, der dem Regensburger Abt von St. Jakob direkt unterstand, und in Nürnberg. Während die Eichstätter Besitzliste relativ umfangreich ist, dürfte es sich im Nürnberger Fall nur um einen kleinen Teil des dortigen Gesamtbesitzes gehandelt haben, dessen Abgaben direkt nach Regensburg abgeführt wurden. Im Eichstätter Fall wird auf ein Abkommen von 1433 zwischen dem Abt von St. Jakob, Cormacus, und dem Eichstätter Propst Patricius hingewiesen, das wiederum auf den Abgaben des Vorgängers, Propst Donald, basierte. Ein um 1500 entstandenes Einkommensregister aus der ältesten Niederlassung der irischen Benediktiner in Regensburg Weih Sankt Peter enthält Abgaben – meist in Form von Bier – aus dem Regensburger Ober- beziehungsweise Niedermünster. Gerade das Obermünster spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung Weih Sankt Peters im ausgehenden 11. Jahrhundert; unter Umständen geht der Kern dieser Zahlungen in die Frühzeit zurück. In den nicht datierten Anniversarien zeigen sich die Ämter im Mönchskonvent, da die Zahlungen an den Abt, die Konventspriester, den scholasticus, custodus und ecclesiasticus einzeln ausgewiesen werden. Das Urbar spiegelt auch die Bedeutung der Besitzungen von St. Jakob in Griesstetten (und im benachbarten Dietfurt) wider. Die regionale Wallfahrt zu den Elenden Heiligen1 ist nicht erwähnt; die wirtschaftliche Präsenz des Klosters wird allerdings augenfällig durch einen eigenen Mairhof, den Zehnten über das gesamte Dorf und Fischlehen, deren Inhaber direkt an den Abt Fische zu liefern hatten beziehungsweise an den vom Kloster eingesetzten Meier (Mair) vor Ort. Von der Abgabe des Müllers ging ein Teil direkt an den im Dorf sitzenden Pfarrer, womit eine Mitbestimmung des Klosters bei dessen Einsetzung erahnbar wird. Ferner werden Sonderkulturen wie Weingärten und Weinberge (mit einer eigenen Liste, ferner mit einer solchen aus der Umgebung von Melk), Holzabgaben (aus den oberpfälzischen Besitzungen in Pursruck und Schwand) und der Besitz von Mühlen greifbar, was die Vielfalt von Abgaben wie auch den Einfluss auf die lokale Infrastrukturzelle ‚Mühle‘ deutlich werden lässt. Dem Müller in Pielenhofen
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wurde beispielsweise im Falle der Nichtzahlung seiner jährlichen Abgaben angedroht, dass das Kloster die Mühle zusperren werde, bis er zahle. Er wie sein Kollege in Wiesen besaßen nicht nur die Mühle, sondern auch Äcker, Gärten, Wiesen und Waldanteile. Der Müller von der Griesstettener Mittermühle musste eine Geldabgabe leisten. In Eich besaß das Kloster einen Wald, der von einem Förster verwaltet wurde. Von weiteren Handwerken werden meist Schuster, Schmiede und Fischer erwähnt. Kritik wäre an der dürftigen Darstellung der Forschungslage zu dem irischen Klosterverband und zu dem arg kursorischen Geschichtsüberblick zu äußern; allerdings schmälert dies nicht den grundsätzlichen Wert der Edition an sich. 1
Helmut Flachenecker: Die Griesstettener Wallfahrt zum hl. Martin und zu den Elenden Heiligen. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 28 (1994), 238–268; Ders.: Die Griesstettener Mirakelbücher als genealogische Quellen. In: Blätter des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde 57 (1994), 1–81: Eine Synopsis vitae trium Sanctorum Scotorum aus dem 17. Jahrhundert berichtet von zwei irischen Mönchen, die sich auf ihrer Pilgerreise nach Rom in Griesstetten niederließen (angeblich um 1140). Die Mirakelbücher enthalten Ereignisse seit 1630.
Prof. Dr. Helmut Flachenecker Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 151–154 Angela Huang Die Textilien des Hanseraums. Produktion und Distribution einer spätmittelalterlichen Fernhandelsware (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte 71), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2015, 311 S., 57 sw. Abb., ISBN 978-3-412-22495-0, 45,00 EUR. Die Hanse wird bislang vor allem mit dem Fernhandel von Textilien assoziiert und, von wenigen Zentren im Westen abgesehen, weniger als Produktionsraum von für den Export hergestellten Textilien wahrgenommen. In ihrer 2013 an der Universität von Kopenhagen angenommenen Dissertation möchte Angela Huang diese Einschätzung neu bewerten und zeigt, dass aufgrund der exportorientierten Textilproduktion in einer Reihe von Hansestädten der Hanseraum auch als Produktionsraum für Textilien zu betrachten ist. Sie fordert damit eine Neubewertung des hansischen Handels, der nicht als reiner Fernhandel zwischen Osteuropa und dem nördlichen Westeuropa gesehen werden dürfe; vielmehr müsse der Absatz gewerblicher Produkte, die im Hanseraum hergestellt und auf den Märkten am Rande des Hanseraums in die Niederlande, England, Skandinavien und Russland verkauft wurden, ebenfalls berücksichtigt werden. Die Produktion von Exportgütern sei damit ein wichtiges Element des hansischen Wirtschaftssystems. Dabei wird
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der Hanseraum nicht als homogene Fläche verstanden, sondern als Handels- und Kommunikationsnetzwerk der Hansestädte, die wiederum die sie umgebende Region wirtschaftlich beeinflussten. Die Autorin problematisiert dazu den Begriff der Hansestadt hinsichtlich der Kriterien der Zugehörigkeit und geht von der Frage aus, ob der Hanseraum als eher einheitlicher oder regional beziehungsweise lokal ausdifferenzierter Produktionsraum gelten kann. Eine übergeordnete Organisation der Tuchproduktion innerhalb der Hanse lässt sich nicht nachweisen; vielmehr war die Produktion an einzelne Städte gebunden, die die Textilien durch den hansischen Handel absetzten. Textilien waren hochdifferenzierte mittelalterliche Handelswaren, die aufgrund der zunehmenden Kaufkraft auf eine steigende Nachfrage stießen und im Untersuchungszeitraum eine Phase der Expansion und Kommerzialisierung durchliefen. In systematischer Hinsicht verweist Huang auf die Zusammenhänge von Produktqualität und den Strukturen von Märkten sowie auf die Expansion der Märkte für massenhaft nach bestimmten Mustern produzierte Textilien. Die Problematik, bestimmte Qualitäten der Ware im Fernhandel zu gewährleisten – unter den Bedingungen des späten Mittelalters, die auch dadurch gekennzeichnet waren, dass die Kaufleute die Waren zunehmend nicht persönlich auf Sicht, sondern durch die Bestellung von Kontingenten einer vorgegebenen Produktqualität einkauften – führte zur Etablierung vielfältiger Kennzeichnungs- und Kontrolltechniken, um die Informationsasymmetrien zu reduzieren. Dieses Bemühen habe die Organisation des Handels und rückwirkend die Produktion bestimmt, denn es lassen sich keine wesentlichen technischen Neuerungen feststellen. Diese Praktiken betrachtet die Autorin in den Kategorien der Neuen Institutionenökonomie hinsichtlich der Transaktionskosten. Sie befasst sich eingehender mit den Institutionen zur Qualitätssicherung und verweist auf das Bestreben der Kaufleute, die Art der Tuche nach ihren Vorstellungen und Interessen durch Einflussnahme auf die Produktkontrolle zu gestalten. Nachdem meist nur die gehandelten Gewebe in den Handelsakten benannt werden, sind die genauen Qualitätsmerkmale der vielfältigen Sorten kaum zu erfassen. Um die Textilien als Waren oder Warengruppen verorten zu können, werden die Charakteristika der untersuchten Tuchsorten über Produktionsstatuten, Produktionsorganisation, Preise, gehandelte Mengen, gelegentliche Beschreibungen der Qualität sowie der Verwendungszwecke erschlossen. Empirisch geht die Studie von den Londoner Zollakten aus, die seit dem 14. Jahrhundert überliefert sind. Die Autorin konnte dabei auf die vorbereitenden Arbeiten von Stuart Jenks zu deren Edition zurückgreifen. Sie führt ausführlich in die Überlieferungssituation und die mögliche Aussagekraft des Materials ein. Die in den Akten aufgeführten Textilien werden in drei Gruppen unterteilt: erstens Hauptsorten, die eindeutig aus Hansestädten stammten und regelmäßig in großen Mengen nach London eingeführt wurden, zweitens Nebensorten, die ebenfalls eindeutig aus dem hansischen Produktionsraum kamen, aber keinen regelmäßigen und bedeutenden Anteil an den Exporten hatten, und drittens Sorten, deren Herkunft unklar ist und die nur möglicherweise im Hanseraum hergestellt wurden. Die letztgenannte Kategorie wurde nicht in die weitere Auswertung aufgenommen. Die Hauptsorten setzten sich aus einem dauerhaften Sortiment von neun Sorten zusammen, die überwiegend aus dem westfälischen und dem sächsischen Raum kamen, wohingegen nur eine aus dem preußischen Raum stammte. Für die sechs Nebensorten
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ließen sich keine prägnanten Muster geographischer Herkunft feststellen; vielmehr handelte es sich meist um kleine Mengen unterschiedlicher Provenienz. Gemessen in Ellen hatten die Hauptund Nebensorten am gesamten, in den Londoner Zollrollen verzeichneten Leinenimport einen Anteil von durchschnittlich etwa 30 Prozent, wobei sich der Anteil einzelner Sorten im Lauf des 15. Jahrhunderts in drei Phasen verschob. Regional bezeichnete Sorten wurden durch Herkunftsbezeichnungen einzelner Städte abgelöst. Aufgrund von Preisanalysen kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass das Preisniveau des hansischen Leinens über das 15. Jahrhundert hinweg relativ homogen blieb und es sich am unteren Ende der Preisskala bewegte. Damit kann vermutet werden, dass es sich um undifferenzierte Massenware für breitere Kundenkreise gehandelt hat. Die erste Phase, die sich feststellen lässt, dauerte von den 1380er- bis zu den 1420er-Jahren und war von den Hauptsorten ‚Westfale‘ und ‚Prucie‘ bestimmt. In der zweiten Phase, die von den 1420er- bis zu den 1460er-Jahren anhielt, setzten sich die Sorten aus den sächsischen Hansestädten durch. Während der dritten Phase wurden diese seit den 1470er-Jahren bis 1500 durch die Dominanz der westfälischen Leinwand abgelöst. In den drei Kapiteln zu den Phasen werden die Materialien zur Leinenproduktion der jeweiligen Sorten in den verschiedenen Orten und Regionen zusammengestellt. Aufgrund des meist spärlich überlieferten Materials spürt die Autorin den Zusammenhängen von Absatzentwicklung und der Entwicklung der Organisation der lokalen Leinenproduktion nach und bietet anschließend eine strukturierte Synthese zur spätmittelalterlichen Leinenherstellung im Hanseraum. Dabei wird die Entwicklung der Leinenproduktion in den sächsischen und westfälischen Hansestädten mit derjenigen in den Niederlanden verglichen, und es werden Parallelen herausgearbeitet. Die Distributionsnetzwerke des Leinenhandels verfolgt Huang wiederum vom Zielort London entlang der Produktlinie zurück, um Akteure und spezifische Handelspraktiken herauszuarbeiten. Aufgrund der unterschiedlichen Angaben der Londoner Zollakten versucht die Autorin, die Londoner Importeure genauer zu fassen. Die fragmentierten Daten lassen nur Näherungen zu, deren Ableitung diskutiert wird. Rund 60 Prozent der nachgewiesenen Kaufleute gehörten den englischen ‚Mercers‘ an, die etwa drei Viertel derjenigen hansestädtischen Leinwand importierten, die sich einem Importeur zuordnen lässt. Die Mercers waren auf den Textilhandel zwischen England und den niederländischen Messen in Brabant und im seeländischen Middelburg spezialisiert, der hinsichtlich seiner Organisation und Handelspraktiken dort und in London rekonstruiert wird. Anschließend geht Huang der Frage nach, inwiefern die Mercers und die auswärtigen Hansekaufleute in einem kooperativen oder konkurrierenden Verhältnis standen. Die englischen Kaufleute scheinen – unter anderem in Abhängigkeit von den von ihnen gehandelten Textilien – gespalten gewesen zu sein, und das Verhältnis zu den Hansekaufleuten war eher ambivalent. Hinsichtlich der Handelswege auf dem Kontinent werden die besondere Bedeutung von Köln und dessen Kaufleute sowie deren enge geschäftliche Beziehungen zu den Mercers auch im Verhältnis zu anderen hansischen Handelsstädten, insbesondere Hamburg, eingehend gewürdigt. Nach dem englisch-hansischen Krieg übernahmen ab 1574 Kaufleute der Hanse den Großteil des Importhandels nach London. Die produzierenden Hansestädte entwickelten zunehmend strategisches Engagement in der hansischen Organisation jeweils zugunsten ihres Leinenhandels, so dass die Autorin zu dem Schluss kommt, dass die Leinwandherstellung der sächsischen und
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westfälischen Hansestädte als hansestädtisch bezeichnet werden kann. In Ergänzung zum Leinen wird die Entwicklung der hansestädtischen Wolltuchproduktion aufgrund publizierter Belege und Forschungsarbeiten skizziert. Abschließend wird die Entwicklung der hansestädtischen Textilproduktion strukturiert zusammengefasst. Im Ergebnis betont Huang, dass der Hanseraum zukünftig nicht nur als vom Transithandel bestimmter Handelsraum wahrgenommen werden dürfe, sondern als exportorientierter Gewerberaum weiter erforscht werden müsse. Dazu liegt nun eine mit ihrer detaillierten und strukturiert geführten Argumentation sorgfältig fundierte und gut lesbare Studie als Grundlage vor, der eine breite Rezeption zu wünschen ist. Die Darstellung wird durch Karten, Graphiken und Tabellen illustriert und durch ein ausführliches Register erschlossen. Zur Auswertung der Londoner Zollakten finden sich im Anhang rund 30 Tabellen. Dr. Christof Jeggle 96049 Bamberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 154–155 Peter Wiegand Der päpstliche Kollektor Marinus de Fregeno († 1482) und die Ablasspolitik der Wettiner. Quellen und Untersuchungen (Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 5), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015, 428 S., 24 farb. Abb., 1 Kte., ISBN 978-3-86583-747-9, 70,00 EUR. Im sächsischen Staatsarchiv Dresden befindet sich ein Konvolut aus verschiedenartigen Schriftstücken, die das Wirken des apostolischen Ablasskommissars Marinus de Fregeno in Mitteldeutschland von 1457 betreffen. Diese im sogenannten „Wittenberger Archiv“ niedergelegten Schreiben zeigen aus verschiedenen Perspektiven den Handlungsradius des als nuntius et collector von Papst Calixt III. entsandten Marinus und stellen damit auf exemplarische Weise das Phänomen des Indulgenzwesens dar. Denn kaum ein Fall ist vergleichbar gut für das Reich belegt wie die Mission des aus Umbrien (aus Fergino bei Spoleto) stammenden Kirchenvertreters und nachmaligen Bischofs von Kammin (Pommern). Der Herausgeber ergänzt die Volltextedition des Materials um die päpstliche Überlieferung, so dass ein umfassendes Bild entstehen kann. Ausgewählte Dokumente sind am Ende des Buches fotografisch wiedergegeben und illustrieren die hohe Qualität der edierten Archivalien – unter ihnen etwa Einnahmelisten von den Ablasszahlungen oder die Beichtbriefe Görlitzer Bürgerinnen und Bürger. Grundsätzlich ist die historiographische Forschung zur Ablasspraxis von der Auseinandersetzung mit der Kritik am Ablasshandel geprägt; denn scheinbar untrennbar sind Indulgenz, Ablasshandel und die Reformation miteinander verwoben. Wiegand aber zeigt in seiner ausführlichen Einleitung, die zugleich die Gebrauchsanweisung der 164 transkribierten Texte mit einer
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anregend verfassten Interpretation verbindet, das Folgende: Ein Ablasskommissar bewegte sich in einem prekären Spannungsfeld zwischen der ihn entsendenden Zentralkirche, den von ihm bereisten Diözesen – den Bischöfen und den Gläubigen – sowie den beteiligten Landesherren. Die Ablasspredigten, der Einzug der Indulgenzzahlungen, deren Überweisung durch Kaufmannbankiers und deren Verwendung durch die beteiligten Institutionen boten Anlass für eine Vielzahl von Konflikten, die sowohl auf das christliche und fiskalische Selbstverständnis der Kirche als auch auf die Herrschaftsrechte und die Durchsetzungsfähigkeit der jeweiligen weltlichen Mächte herausfordernd wirkten. Die Reise des Marinus de Fregeno, der nicht nur für die sächsischen Bistümer mit der Indulgenzverwaltung beauftragt wurde, sondern darüber hinaus auch für Pommern, Polen, das Baltikum und Skandinavien zuständig war, fiel in den Zusammenhang mit der verstärkten Propagierung des Ablasses im Zuge der Kreuzzugssynoden kurz nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmantürken 1453. Strittig indes blieb die tatsächliche Verwendung der durch den Verkauf von Ablassbriefen generierten finanziellen Mittel. Namentlich Kurfürst Friedrich II. und Herzog Wilhelm III. von Sachsen betrieben mit dem Zugriff auf die Einkünfte aus der Indulgenz eine eigensinnige Politik. Denn Streit entspann sich zwischen den Landesherren um die Frage, welche Einnahmen aus den unterschiedlichen Kirchenprovinzen in jeweils welche fürstlichen Truhen zu fließen hatten – wenige Jahre nach dem wettinischen Bruderkrieg. Die Unterstützung der Indulgenzpolitik durch die Landesherren mochte sich durchaus rechnen: Denn Wiegand kalkuliert für die Jahre von 1457 bis 1460 die Erhebung von annähernd 20.000 Gulden durch den Ablasskommissar Marinus de Fregeno. Allerdings ist die aktive Ablasspolitik deutscher Reichsfürsten auch ein Indikator für eine gewisse Nähe zur Kurie, zumal der Indulgenzhandel aus dem Reich weitaus geringere Ergebnisse für die apostolische Kammer zeitigte als etwa aus Italien oder Spanien. Aufgrund der uneinheitlichen Befunde und der äußerst fragmentarischen Überlieferungssituation kann nicht bestätigt werden, dass der Fall des Ablasskommissars Marinus de Fregeno und die Politik der sächsischen Herren tatsächlich repräsentativ für das vorreformatorische Reich waren. Anzunehmen ist, so argumentiert Peter Wiegand, dass sich die Wettiner Landesherren in den im Spätmittelalter üblichen vielschichtigen Situationen bewegten und uneinheitlich handelten. Peter Wiegand gelingt eine anschauliche Darstellung des Phänomens der Indulgenzkampagnen des 15. Jahrhunderts und blickt in mehreren Perspektiven auf das Ablasswesen. Durch diese Herangehensweise und nicht zuletzt durch die Präsentation des vorhandenen Materials zur Fallgeschichte des Kollektors Marinus de Fregeno erschließt sich ein vermeintlich sperriges Thema als eine spannende Geschichte von Herrschaftsdurchsetzung, kirchlichen Institutionen und Netzwerken handelnder Personen, so dass die Zweifel an der üblichen Kurzschlüssigkeit zwischen Ablasshandel und Luthers reformatorischen Thesen nur bestärkt werden. PD Dr. Heinrich Lang Universität Leipzig, Historisches Seminar, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 156–158 Julia Mandry Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 10), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2018, 1052 S., 20 sw. und 38 farb. Abb., 5 Ktn., ISBN 978-3-412-50811-1, 125,00 EUR. Die Autorin unternimmt mit ihrer Dissertation den Versuch, die Vielgestaltigkeit der sozialen Erscheinungen Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in der thüringischen Region und über die Zeitspanne von drei Jahrhunderten darzustellen. Ein solches Vorhaben erfordert eine gehörige Portion konzeptionellen Mutes und individuellen Engagements, aber auch enormen Fleiß und Geschick. Das annoncierte Arbeitsprogramm hat die Verfasserin höchst erfolgreich absolviert. Über weite Strecken besticht die Arbeit durch ein hohes Maß an Konkretheit. Die benutzten Bestände der verschiedenen Landes-, Kreis-, Stadt- und Kirchenarchive demonstrieren den erheblichen Aufwand, der nötig war, um das Qualifikationsprojekt zum Erfolg zu führen. Wer künftig über die Thematik im deutschsprachigen Raum arbeitet, wird an der Materialfülle dieses Bandes und der klugen analytischen Arbeit der Verfasserin nicht vorbeigehen können. Dass die Abhandlung zudem in einer klaren und lesbaren Sprache präsentiert wird, die auf übersteigerte Generalisierungen und die Debatte „soziologischer Konzepte“ ohne ausreichenden Theoriewert verzichtet, sei ausdrücklich positiv angemerkt. Wenn verschiedentlich der Eindruck entsteht, dass häufiger über die Armen und Bettler gehandelt wird, so ist das nicht der Autorin anzulasten, sondern ein Spezifikum der Überlieferung: Arme haben relativ selten über sich geschrieben – sie waren einfach nur arm. Aber wie die „Besitzgesellschaft“ unisono auf Armut reagiert hat, ist ein Problem, das die Jahrhunderte in Permanenz durchzieht – Ausnahmen inklusive. In der Einleitung befasst sich die Autorin mit dem Forschungsstand, bevor sie Armut und deren Ursachen diskutiert (33–56). Dabei spielen die vorrangigen Ursachen von Armut, die in erster Linie ein strukturelles Problem in Stadt und Land ist, also der feudalen Gesellschaft zugeordnet werden muss, leider nur eine Nebenrolle. Dieser Umstand führt zur Unterbewertung der „Armut auf dem Lande“1 sowie zur Betonung der Individualisierung in unterschiedlichsten Formen. Kapitel III ist für die Armenfürsorge reserviert (57–109). Wenn die Autorin als Nicht-Theologin berechtigterweise ihre Reserviertheit gegenüber „theologischen Grundlagen“ (16) betont, gerät sie bei der Behandlung von Fürsorgeeinrichtungen in Schwierigkeiten, wie sich aus der „undifferenzierten“ Aneinanderreihung von Bibelstellen (zum Beispiel 58, Anm. 4) ergibt. Die Vielzahl thüringischer Regionen, deren Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Territorien sowie die kirchlich-konfessionellen Ausprägungen bilden die Basis für die Behandlung der Thematik. Das bringt zwar das mehrfache Aufgreifen von Teilaspekten mit sich, ist aber insgesamt ein klug gewähltes Differenzierungsmittel, zumal auch durch die jeweiligen Obrigkeiten, ihre nor-
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mativen Entscheidungen und die realen Ausprägungen der Probleme vor Ort ein Raster für den Vergleich entsteht. Eingangs der jeweiligen „regionalen Kapitel“ Nordhausen (111–172), Mühlhausen (173–278), Mainzisches Erfurt (279–378), Ernestinisches Altenburg, Albertinisches Salza (451–490), Arnstadt und die Schwarzburger (491–530) sowie Greiz und die Reußen (531–548) werden die jeweiligen Territorien beziehungsweise Städte in ihren sozialen, ökonomischen, administrativen und kirchlichen Zuständen vorgeführt. Das schafft eine solide Ausgangslage für die Diskussion der spezifischen Probleme. Nützlich erweist sich dabei die Vorstellung der Normebene in Gestalt der entsprechenden Statuten und Bestimmungen. Einen höchst interessanten Vergleich bieten die Abschnitte über vor- und nachreformatorische Verhältnisse. Hier fällt zunächst die äußerliche Diskrepanz hinsichtlich Umfang und Intensität der jeweiligen Textpartien auf. Dafür wird man die Quellenüberlieferung sowie den Forschungsstand gleichermaßen verantwortlich machen müssen. Diese Unausgewogenheit setzt sich jedoch in der diffizilen und abgestuften Behandlung der „Armenprobleme“ nach der Einführung der Reformation fort, die eine gründliche und wechselseitige Darlegung der normativen Seite beziehungsweise der beabsichtigten Maßnahmen und ihrer Umsetzung darbietet und auch die Schwierigkeiten nicht verschweigt. Generell aber erscheint in dieser ungleichen „Vorher-Nachher-Relation“ die mittelalterliche römisch-katholische Armenversorgung lediglich als Vorgeschichte dessen, was die Reformation erzeugt hat. Das bedingt ein problematisches Ungleichgewicht. Kapitel XI bietet eine Synopse der „Armenfürsorge in Thüringens Städten und Landgebieten“ (549–770). Die Darstellung setzt mit obrigkeitlichen Normen ein und führt über die Gemeinen Kästen bis zu den Bettlern und beschäftigt sich auch mit dem Quellenwert bildlicher und gegenständlicher Zeugnisse. Damit wird ein erheblicher Teil des Armen- und Bettleralltages in Spätmittelalter und Früher Neuzeit abgedeckt und ein facettenreiches Panorama gezeichnet. In seiner Konkretheit gehört dieser Teil zu den Stärken des Buches, ruft aber auch verschiedentlich Widerspruch hervor, was die weitere Forschung zum Anlass für Nachfragen nehmen sollte. So berichtet Mandry über die beeindruckende Fülle der Spenden, Stiftungen und Almosen (594–609), deren Objektgestalt, Vergabeanlässe und Zielgruppen. Wenig Aufmerksamkeit finden hingegen die Motive des Spendens beziehungsweise Stiftens. Neben der Angst um das Seelenheil und das Weiterleben im Jenseits gab es auch weltliche Impulse, in erster Linie wohl gesellschaftliches Prestige und Ehre. Außerdem konnten grundsätzlich nur diejenigen spenden und stiften, die die materiellen Mittel dazu besaßen. Woher aber stammten diese Mittel? Eine weitere Frage werfen die Bettler auf: Wenn man ihre „Bewertung“ nach einer Akte2 vornimmt, muss geradezu zwangsläufig ein Bild entstehen, das dem obrigkeitlichen Klischee entspricht und „von Betrug über Diebstahl zu Mord“ reicht (699–703). Eine regionale Zusammenschau der Bereiche „Armenfürsorge“, „Hospitäler“ und „Bettel“ (771–783) ist – das sei uneingeschränkt eingestanden – ein Drahtseilakt. Er ist im Wesentlichen gelungen. Zwei Problemkreise demonstrieren das deutlich: Mandry kennzeichnet die Handhabung der Bettlerproblematik als eine immer rigider betriebene Grundlinie der obrigkeitlichen Politik, und sie rückt in diesem Zusammenhang das Arbeitsethos der Reformation konsequent in den Vordergrund.
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Der Anhang mit seinen „Finanztabellen“, dem „Katalog der Visitationsergebnisse“ und den Hospitalstandorten enthält eine beeindruckende Fülle von Daten, die zur Weiterarbeit herausfordern. Der „Personenkatalog des kriminellen Bettlermilieus“ verfestigt das einseitige Urteil der Obrigkeit vom „bösen Bettler“ und beantwortet die Ursachenfrage mit den Normen von Territorialstaat, Stadtrat und Besitzbürgern. Der Abbildungsteil mit seinen 38 Darstellungen und fünf Karten illustriert nicht nur den Text, sondern bietet auch zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Der Band enthält ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, leider aber nur ein Ortsregister. Ein Sachregister hätte die Arbeit zusätzlich aufgewertet und zudem leichter handhabbar gemacht. Der Rezensent hat die Dissertation mit Interesse, Spannung und Gewinn gelesen und wünscht ihr eine weite Verbreitung. 1 2
Gerhard Ammerer, Elke Schlenkrich, Sabine Veits-Falk, Alfred Stefan Weiss (Hg.): Armut auf dem Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2010. Stadtarchiv Nordhausen, II Za 5, Bd. XII.
Prof. Dr. Helmut Bräuer Leipzig
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 158–160 Jan Habermann (Hg.) Kaiser Heinrich III. Regierung, Reich und Rezeption (Beiträge zur Goslarer Geschichte, Goslarer Fundus 59), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2018, 216 S., 27 sw. und 39 farb. Abb., ISBN 978-3-7395-1159-7, 19,00 EUR. Leben und Regierungszeit Kaiser Heinrichs III. (1039–1056) haben in der Forschung lange keinen größeren Widerhall gefunden. Weder existiert über den zweiten Salier eine monographische Biographie neueren Datums, noch liegen bislang Regesten über die Zeit seiner Herrschaft vor. Dennoch gelang es Heinrich III. vor wenigen Jahren, über die Grenzen der Mediävistik hinaus für Aufsehen zu sorgen, als begründete Argumente vorgebracht wurden, sein bisher angenommenes Geburtsjahr (1017) um ein Jahr vorzuverlegen.1 In der Konsequenz konnte Heinrichs III. 1000. Geburtstag in zwei aufeinanderfolgenden Jahren begangen werden, was sich in einer Tagung 2016 in Bochum sowie einem großen Festakt 2017 in Goslar manifestierte.2 Die in Goslar im Rahmen einer Veranstaltungsreihe gehaltenen Festvorträge sind in Form des zu besprechenden Bandes erschienen. Während der Titel „Kaiser Heinrich III.“ eine ausschließliche Beschäftigung mit dem salischen Kaiser vermuten lässt, eröffnet der allgemein gehaltene Untertitel „Regierung, Reich und Rezeption“ zahlreiche weitere Annäherungsmöglichkeiten. Entsprechend legt auch der Herausgeber Jan Habermann in seinem einführenden Beitrag die Ausrichtung des Bandes dar. Die Beiträge „widmen sich inhaltlich keineswegs allein der Person Kaiser Heinrichs III. und seinem Wirken“,
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vielmehr stünden „die komplexen Strukturen einer ganzen Zeit, die politischen Konstellationen im Reich, die Instrumente und Bedingungen der Herrschaftspraxis sowie die zeitgenössischen Wahrnehmungen der Herrschaft Heinrich [sic!] III.“ im Fokus (9). Habermann legt sein Augenmerk jedoch auch auf einen weiteren, dem Titel nicht zu entnehmenden, den Band jedoch prägenden Schwerpunkt: Goslar mit seiner unter Heinrich III. angelegten Pfalz und dem Stift St. Simon und Judas. Die folgenden vier Beiträge widmen sich historiographischen Fragen und der Rezeption Heinrichs III. bis in die heutige Zeit. Gerhard Lubich macht auf die sowohl unter Zeitgenossen des Kaisers im 11. als auch in der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert unterschiedlichen Wahrnehmungen des Herrschers aufmerksam, die ihn schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg gänzlich aus dem Blickfeld der Historiker schwinden ließen. Oliver Auge schließt daran die im Grunde nicht zu beantwortende Frage nach historischer Größe an und überlegt, inwiefern eine solche Kategorie auch auf Heinrich III. anwendbar sein mag. Trotz aller Vorbehalte gegenüber der Kategorie möchte aber auch Auge dem Kaiser historische Größe nicht absprechen. Gerd Althoff untersucht am Beispiel der Auseinandersetzung Heinrichs III. mit den sächsischen Billungern dessen Konfliktverhalten und die Einhaltung typischer „Spielregeln“ der damaligen Zeit. Mit dem Mittel des Gerichtskampfes weist Althoff dabei auf eine untypische Form der Konfliktbeilegung hin. Abschließend stellt Christina Wötzel in einem allgemein gehaltenen Abriss Heinrichs Gemahlin Agnes von Poitou vor. Während sich Cord Meckseper Fragen zu Pfalz und Stiftskirche in Goslar zuwendet, baulichen Ähnlichkeiten der Verbindung von Kirche und Palast bis ins antike Rom und Ägypten nachspürt und sich mit der Rekonstruktion des Urzustandes der mittlerweile abgebrochenen Stiftskirche beschäftigt, widmen sich die beiden folgenden Beiträge dem von Heinrich III. für Goslar angefertigten Evangeliar. Dieses Evangeliar, heute in Uppsala (Schweden) verwahrt, im Rahmen der Jubiläumsfeier jedoch noch einmal nach Goslar gebracht, zählt Tillmann Lohse zu den „Meisterwerke[n] mittelalterlicher Buchherstellung“ (99). In seinem Beitrag geht er den Entstehungsbedingungen des Evangeliars nach, verbindet dies mit Anmerkungen zu Heinrichs Tätigkeit als Kirchenstifter im Allgemeinen und führt alles auf die wichtige Jenseitsvorsorge zurück, derer sich Heinrich im Besonderen durch die Errichtung von Kirchen, aber auch durch die „qualitative und quantitative Steigerung des Gottesdienstes“ (106) gewidmet habe, wozu nicht zuletzt das Evangeliar einen wesentlichen Beitrag geleistet habe. Christian Heinzmann stellt die Darstellung Heinrichs III. im Evangeliar in eine lange, von Ludwig dem Frommen über Karl den Kahlen, Otto III. und Heinrich II. reichende Tradition von Herrscherabbildungen, die jedoch mit Heinrich III. ein Ende gefunden habe; nur Heinrich der Löwe habe danach eine Handschrift mit einer Darstellung seiner selbst in Auftrag gegeben. Die abschließenden Beiträge lassen sich keiner übergeordneten Kategorie zuweisen. Sebastian Steinbach geht einem von ihm festgestellten Forschungsdesiderat nach und befasst sich mit der Münzprägung unter Heinrich III. sowie einer allgemeinen Einführung in die Geldwirtschaft ottonisch-salischer Zeit. Ausgehend von den Münzrechtsprivilegien Heinrichs III. sieht Steinbach in der Salierzeit den „Übergang von der frühmittelalterlichen Subsistenzwirtschaft zur hochmittelalterlichen Marktwirtschaft“ (138). Eine besondere Rolle als wichtige Prägestätte spielte auch
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hierbei Goslar. Jan Habermann geht noch einmal explizit auf die Bedeutung Goslars im Speziellen sowie des Harzraumes im Allgemeinen für Heinrich III. ein und spürt anhand verschiedener „Mikro-Itinerare“ der Bedeutung dieses Raumes für den Kaiser sowie vergleichend dazu für dessen Sohn Heinrich IV. nach. Im abschließenden Beitrag widmet sich Ulrich Albers in knappen, allgemeinen Worten der Urkundenpraxis Heinrichs III. und bietet alle neun für Goslar ausgestellten Urkunden des Saliers in Abbildung sowie deutscher Übersetzung. Der Band schließt mit einer Gesamtbibliographie. Der Band versucht offensichtlich den Spagat, sich als eine wissenschaftliche Publikation für ein auch nichtwissenschaftliches Publikum zu verstehen. Viele Beiträge werden durch großformatige, zumeist in Farbe gehaltene Abbildungen unterstützt; anstatt auf Fußnoten wurde auf Endnoten zurückgegriffen. Der geschichtsinteressierte Laie bekommt damit ein gutes Werk an die Hand, das ihm die Person Heinrichs III. und seine Zeit in vielen Facetten näherzubringen versteht. Die Historikerin oder der Historiker mag diese Einsicht nicht für alle Beiträge gleichermaßen teilen, erhält dennoch einen guten Überblick über einen lange Zeit zu Unrecht in der Forschung vernachlässigten Herrscher. 1 2
Vgl. Gerhard Lubich, Dirk Jäckel: Das Geburtsjahr Heinrichs III.: 1016. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 72 (2016), 581–592. Zu den Ergebnissen der Bochumer Tagung vgl. Gerhard Lubich, Dirk Jäckel (Hg.): Heinrich III. Dynastie – Region – Europa (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 43), Köln/Weimar/Wien 2018.
Dr. des. Matthias Weber Ruhr-Universität Bochum, Historisches Institut, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 160–162 Jürgen Dendorfer, Heinz Krieg, R. Johanna Regnath (Hg.) Die Zähringer. Rang und Herrschaft um 1200 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 85), Ostfildern: Thorbecke 2018, 544 S., 220 teils farb. Abb., ISBN 978-3-7995-1296-1, 35,00 EUR. Mit dem Tod Herzog Bertholds V. von Zähringen am 18. Februar 1218 erlosch die Dynastie der Zähringer, deren Besitzungen in Südwestdeutschland und der Westschweiz in andere Hände übergingen. Aus diesem Anlass veranstalteten die Herausgeber des vorliegenden Bandes eine große Tagung in der Zähringergrablege St. Peter im Schwarzwald, die den Schwerpunkt auf die Zeit Bertholds V. (1186–1218) legte. Kann die Geschichte der Zähringer infolge langjähriger Forschungen, die sich an der Abteilung Landesgeschichte des Historischen Seminars der Albert-Ludwig-Universität Freiburg konzentrieren, und der letzten Gesamtdarstellung von Thomas Zotz1 als sehr gut erforscht
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gelten, so gelingt es den Herausgebern doch, durch die Konzentration auf den Ausgang der Zähringerzeit, ihr Nachleben und zahlreiche innovative Fragestellungen neue Aspekte vorzustellen. Jürgen Dendorfer und Heinz Krieg bewerten in ihrer instruktiven Einleitung das Aussterben der Zähringer 1218 als Glücksfall für die Geschichtswissenschaft, weil sie dadurch „früh zum Bezugspunkt historischer Identitätsbildung“ werden (XI) und die Forschung anregen konnten. In der ersten Sektion – „Zähringer-Geschichten“ – stellt Heinz Krieg die Dynastie in der zeitgenössischen Historiographie des 12. und frühen 13. Jahrhunderts vor. Clemens Joos untersucht ihr Bild in den Chroniken Konrad Justingers und Johannes Sattlers, die für eine breite städtische „Zähringer-Renaissance“ des 15. und 16. Jahrhunderts stehen. Ihre Funktion als positives Gegenbild zu den Habsburgern im Schweizer Geschichtsbild beleuchtet Claudius Sieber-Lehmann. Thomas Zotz wendet sich der Zähringerforschung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zu. Casimir Bumiller führt den Weg von der Freiburger Zähringerausstellung 1986 bis zu einem möglichen künftigen ‚Haus der Zähringer‘ im Kloster St. Peter vor, für das er Konzepte bis hin zu einem virtuellen Museum entwirft. Ein zweiter Komplex befasst sich mit Herrschaft zwischen personalen Bindungen und Raum. Tobie Walther untersucht die Positionierung ausgewählter Adelsfamilien im Umfeld der Zähringer. Unter der Überschrift „Personale Aspekte der Zähringerherrschaft“ rückt Petra Skoda die Anziehungskraft des Zähringerhofes in den Mittelpunkt, wobei sie sich besonders auf Zeugenreihen stützen kann. Gerhard Lubich geht der Formierung der Zähringer als Adelshaus nach. Armand Baeriswyl falsifiziert aufgrund neuer stadtarchäologischer Erkenntnisse ältere Vorstellungen von einem angeblich typischen zähringischen Stadtgrundriss, was er durch Abbildungen und Pläne veranschaulichen kann. Martina Stercken vergleicht die Rolle habsburgischer und zähringischer Städtegründer. Clemens Regenbogen schließlich greift nach Burgund aus und untersucht Anspruch und Wirklichkeit des burgundischen Rektorats der Zähringer. Im dritten Teil geht es um die Einbindung der Zähringer in den reichsfürstlichen Kontext um 1200. Jörg Peltzer wählt die negative Charakteristik des Herzogtums der Zähringer (vacuum nomen) durch Bischof Otto von Freising als Ausgangspunkt und verortet sie wegen ihrer Stellung am Königshof sowie ihres Konnubiums trotzdem als Reichsfürsten. Dagegen betont Robert Gramsch-Stehfest ihr glückloses Agieren als Reichsfürsten, wozu er besonders die gescheiterte Kandidatur Bertholds V. für den römisch-deutschen Königsthron rechnet. Allerdings kann er in einer Netzwerkanalyse zeigen, dass sie durchaus zum Kreis potenzieller Kandidaten gehörten. Tobias Weller analysiert den Stand der Zähringergattinnen und konstatiert eine Entwicklung von der antisalischen Fürstenopposition über das Konnubium mit den Welfen bis zu einem Ausgreifen in den Westen. Die weiteren Beiträge konzentrieren sich auf die Hofhaltung und damit die Repräsentation der Zähringer: Rudolf Denk fragt nach der höfischen Dichtung in ihrem Umfeld und stellt die Mäzenatin Clementina von Zähringen vor, Michael Matzke behandelt umfassend ihre Siegel und Münzen, indem er einen durch Abbildungen dokumentierten Katalog erarbeitet, und Alfons Zettler analysiert ihre Repräsentationsarchitektur am Beispiel der Donjons ihrer Burgen. Hans W. Hubert würdigt den um 1200 begonnenen Neubau des Freiburger Münsters Bertholds V. hinsichtlich Baugestalt und Anspruchsniveau im überregionalen, anschaulich illustrierten Vergleich. Geradezu detektivisch geht Katharina Christa Schüppel der Geschichte des silbernen, von ihr um 1160/70 datierten Böcklinkreuzes im Freiburger Münster nach, das nicht
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mehr als zähringische Erinnerungsstiftung gelten kann. Daran anknüpfend problematisiert Sebastian Bock die Bedeutung dieses Kreuzes für die jüngere Zähringerforschung. Der letzte Abschnitt ist dem von 1218 ausgehenden Geschichtsverlauf gewidmet, als um das Erbe der Zähringer teils bewaffnete Konflikte ausbrachen. Jürgen Dendorfer betont, wie viele Vorannahmen der bisherigen Forschung brüchig seien, zumal schon die Trennung in Allod und Lehen schwierig sei. König Friedrich II. habe auf Ansprüche aus diesem Erbfall verzichtet, um die Königswahl seines Sohnes Heinrich (VII.) und eine breite Teilnahme an seinem Kreuzzug zu ermöglichen. Die Bürger der Stadt Freiburg entschieden sich gegen die 1218 mögliche Reichsfreiheit zugunsten der Herrschaft Graf Eginos V. von Urach, wie Mathias Kälble zeigt. Michael Kolinski untersucht die zähringische Ministerialität im Umbruch von 1218, die sich nördlich des Rheins überwiegend für den Grafen von Urach entschieden habe. Daran knüpft Eva-Maria Butz an, die das lange Ringen der verwandten Grafen von Urach um das zähringische Erbe vorstellt. Knut Görich nimmt zum Abschluss einen Perspektivenwechsel vor und schaut vom Reich, von König Friedrich II. aus auf das Jahr 1218. Teile der Forschung waren lange von einem planvollen Handeln des Staufers ausgegangen, um das Zähringererbe und damit eine Landverbindung von ihrem Besitz im Elsass nach Innerschwaben zu gewinnen. Doch genau diese Absicht stellt er infrage, zumal Friedrich II. den Herrschaftsraum nördlich der Alpen zunächst gar nicht gekannt habe. Er plädiert dafür, die Übernahme der zähringischen Herzogswürde in die staufische Familie als „friedenserhaltende Maßnahme“ zu verstehen (493). Ihre selbstgewählte Aufgabenstellung, weitere Forschungspotenziale für die vielbehandelten Themen der Zähringerforschung aufzuzeigen, kann das Herausgeber-Team einlösen. Der Band vermittelt nicht nur einen umfassenden Überblick zur Erforschung und Rezeption verschiedener Zähringerbilder als Bestandteil der Identitätsbildung, zu Herrschaftsformen besonders der späten Zähringerzeit und zur Kultur im Umfeld der Zähringerhöfe, sondern führt mit der Behandlung der von 1218 ausstrahlenden Entwicklungslinien sowohl im zeitweise zähringisch dominierten Südwesten wie auch auf Reichsebene zu allgemeinen Fragestellungen der Reichsgeschichte. Der vorliegende Band bildet somit ein eindrucksvolles Zeugnis für den hohen Stand der vergleichenden Landesgeschichtsforschung wie für ihre Grundlagenarbeit zur allgemeinen Geschichte. Der besonders im dritten Abschnitt mit instruktiven Abbildungen ausgestattete Band wird durch ein Register erschlossen. 1
THOMAS ZOTZ: Die Zähringer. Dynastie und Herrschaft (Urban-Taschenbücher 776), Stuttgart 2018.
Prof. Dr. Dieter J. Weiß Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 163–165 Gerhard Fouquet, Sven Rabeler (Hg.) Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlischen Kleinkredits im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 242), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2018, 162 S., 2 sw. Abb., 8 Tab., ISBN 978-3-515-12225-2, 39,00 EUR. Kredite und Schuldbeziehungen wurden in den vergangenen Jahren zum beliebten Thema in der sogenannten Neuen Wirtschaftsgeschichte, die sich zunehmend von mathematischen Modellen abwendet und die Wichtigkeit des historischen Kontextes betont. Dass wirtschaftliches Handeln nicht angemessen verstanden und erklärt werden kann, wenn man den sozialen und kulturellen Kontext unberücksichtigt lässt, gilt wohl für jede Art der wirtschaftlichen Interaktion, fällt aber für den Kredit besonders rasch ins Auge. Wie schon häufig – und auch hier wieder – konstatiert, hat das Wort ‚Kredit‘ nicht nur eine ökonomische Konnotation, sondern steht auch allgemein für die Reputation, während ein fester Glaube sich nicht nur auf Gott, sondern auch auf steigende Aktienkurse ausrichten kann. Damit aus Vielfalt keine Beliebigkeit wird, muss die Neue Wirtschaftsgeschichte nun anfangen, Zusammenhänge zu konkretisieren, Vielfalt nicht nur zu bestaunen, sondern zu analysieren, Mikrostudien nicht um ihrer selbst willen zu verfassen, sondern damit zu Forschungsdiskussionen beizutragen. Genau das tut der vorliegende Band. Die Autorinnen und Autoren verstehen Kredit eindeutig als ökonomisches Phänomen: Jemand leiht dem anderen Geld. Die im Titel genannte Glaubensfrage bezieht sich auf die Religion, denn alle Beiträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Kreditnehmern. Dabei richtet sich der Band gegen die in jüngerer Zeit schon häufig angegriffene These, der wucherische Kredit habe vornehmlich in den Händen von jüdischen Kreditgebern gelegen, während Christen daran wegen des herrschenden Wucherverbots nicht beteiligt gewesen seien. Dem im nicht-islamischen mittelalterlichen Europa stets virulenten Antisemitismus wird mit dieser Annahme eine Art pseudorationale Rechtfertigung verpasst: Der Hass auf die Juden, so schwingt in solchen Aussagen mit, sei in gewisser Weise damit zu erklären, dass viele Menschen bei ihnen hoch verschuldet gewesen wären. Gerade in Notzeiten hätten Menschen bei jüdischen Gläubigern Kredite zu hohen, wucherischen Zinsen aufnehmen müssen. So verbindet der Band das gerade aktuelle Thema „Kleinkredite“ mit der schon länger diskutierten Frage der Beziehung zwischen Juden und Christen im Kreditwesen. Die Beiträge zeigen nachdrücklich, dass sich die Rollen der Juden und Christen als Gläubiger nicht so fundamental unterschieden, wie die alte Forschung behauptete. Dass jüdische Kreditnehmer in die Kreditnetze ihrer Heimatstädte gut integriert waren, bewahrte sie aber keineswegs vor Ausgrenzung und Vertreibung. In ihrer Einleitung präsentieren Gerhard Fouquet und Sven Rabeler die Fragen und Thesen des Bandes, der anhand von lokalen Studien das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Geldleihern und ihren Kunden konkret unter die Lupe nimmt. Gabriela Signori wertet die Gerichtsbücher der Stadt Basel aus und zeigt damit, dass Juden und Christen gleichermaßen Geld
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verliehen. „Geliehenes Geld“, das heißt Kredit, der nicht auf Sachen beruhte, floss auch von Christen an Christen; gerade große Kaufleute fungierten als Geldgeber für ihre ärmeren Mitbürger. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Konstanz, wie Christian Hagen mithilfe des Ammanngerichtsbuchs herausarbeitet. Eine erste Auswertung des Konstanzer Gerichtsbuchs aus dem Jahr 1423 belegt, dass 80 Prozent der dort verzeichneten Gläubiger Christen und nur 20 Prozent Juden waren. Das Konstanzer Beispiel beleuchtet außerdem, dass der Rat zwar eine Obergrenze für die Zinshöhe setzte, hochverzinsliche Kleinkredite aber billigte und jüdischen Geldleihern die Pflicht auferlegte, solche Kredite zu verleihen. Christen durften sich an solchen Geschäften eigentlich nicht beteiligen, taten es in der Praxis aber doch, indem sie den jüdischen Gläubigern ihrerseits Geld liehen. So konnten sie von den hohen Zinsen auf Kleinkredite profitieren, das Stigma des Wucherers aber den jüdischen Kreditgebern belassen. Die Beiträge von Hagen und von David Schnur streichen eine besondere Rolle jüdischer Geldleiher heraus, die ihnen einen wichtigen Platz für das Funktionieren des Systems einräumte: Sie zeichneten verantwortlich für die Schadennahme. Dieses Instrument gewährte dem Gläubiger das Recht, nach Ablauf der Frist die ausstehende Summe bei einem anderen Geldleiher aufzunehmen, bei dem es sich nicht immer, aber häufig um einen Juden handelte. Die Schadennahme bildet aber nur einen kleinen Teil der Beziehungen zwischen jüdischen Geldleihern und christlichen Handwerkern, die Schnur für die Stadt Frankfurt am Main untersucht. Solche Kredite spielten eine wichtige Rolle für das ältere Narrativ der ausbeuterischen jüdischen Geldleiher: Handwerker hätten in Notzeiten wucherische Kredite bei ihnen aufnehmen müssen. Schnur kann aus den Frankfurter Gerichtsbüchern 10.500 Einträge auswerten. An 24 Prozent davon waren Handwerker beteiligt. Bei Weitem nicht alle Kredite können als Notkredite klassifiziert werden. Viele Kredite wurden kurz vor den Frankfurter Messen aufgenommen; eine Gruppe von Fischern nahm Kredite auf, um in den Viehhandel zu investieren. Die Kredite ermöglichten den Handwerkern offenbar eine Beteiligung am expandierenden Handel. Tanja Skambraks setzt sich mit der antijüdischen Polemik der Monti di Pietà auseinander, die im Italien des 15. Jahrhunderts von Franziskanern als Pfandleihanstalten gegründet wurden. Laut Statuten sollten sie die jüdische Geldleihe verdrängen; in der Praxis aber koexistierten beide Geldverleiher. Im Gegensatz zu den Monti verlangten jüdische Geldverleiher keinen Nachweis über die Bedürftigkeit ihrer Kunden, verliehen das Geld über längere Zeiträume und schätzten die hinterlegten Pfänder mit höherem Wert ein, weshalb sie als Kreditgeber attraktiv blieben. In seinem abschließenden Beitrag hebt Hans-Jörg Gilomen hervor, dass Darlehenszinsen im mittelalterlichen Europa immer verboten blieben. Legale Ersatzgeschäfte sollten nicht verwechselt werden mit verstecktem Wucher. Ein solches Wucherverbot, so erinnert er, gab es aber keineswegs nur unter Christen, sondern auch unter Juden. Auch wenn die Praxis in italienischen Städten anders aussah, möchte er doch betont sehen, dass die Ideologie der Franziskaner auf eine Verdrängung der Juden nicht nur als Kreditgeber, sondern aus jeglichem Kontakt mit ihren christlichen Mitmenschen hinarbeitete. Juden seien nicht als Wucherer, sondern als Juden abgelehnt worden. Entsprechend müsse die aktuelle Forschung aufpassen, so Gilomen, die mittelalterliche Judenfeindschaft nicht kleinzureden und damit den Antisemitismus zu verharmlosen.
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Das ist sicher richtig. Detaillierte Studien wie die hier versammelten vermitteln aber meines Erachtens gerade hilfreiche Lehren zum Antisemitismus: Auch wenn sich „die Juden“ als einheitliche Gruppe von Wirtschaftsakteuren in der Praxis gar nicht finden lassen, weil es von Ort zu Ort Sonderregelungen gab, manche Juden arm und manche reich waren, manche Investitions- und manche Konsumkredite verliehen, manche Gläubiger und manche Schuldner waren, wurden sie von den Zeitgenossen trotzdem als Gruppe angesehen, ausgegrenzt und stigmatisiert. Zudem zeigen die hier versammelten Forschungen, dass jüdische Geldleiher nicht deshalb gehasst wurden, weil sie wucherische Kleinkredite vergaben. Gerade umgekehrt wurden die jüdischen Geldleiher dazu genötigt, Kleinkredite zu vergeben, weil sie als Juden verhasst waren. JProf. Dr. Ulla Kypta Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte, Überseering 35/5, 22297 Hamburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 165–167 Hermann Göhler (†) Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu Sankt Stephan in Wien 1365–1554 Johannes Seidl, Angelika Ende, Johann Weißensteiner (Hg.), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2015, 646 S., 18 farb. Abb., ISBN 978-3-205-20092-5, 75,00 EUR. Zum 650. Gründungsjahr des Wiener Domkapitels zu St. Stephan ist 2015 eine Monographie erschienen, in der das Personal dieser 1365 als Kollegiatkapitel etablierten Institution bis 1554 prosopographisch aufgearbeitet wird. Dass zwar die Publikation dieses Werks, nicht aber seine Entstehung zeitlich mit dem genannten Jubiläum in Zusammenhang steht, verdeutlicht schon für sich genommen, um welch besonderen Fall es sich handelt: Unter der Regie der Herausgeber Johannes Seidl, Angelika Ende und Johann Weißensteiner ist die bereits 1932 eingereichte Dissertation Hermann Göhlers zum Druck gebracht worden. Der frühe Tod des 1944 gefallenen Verfassers, sein in den 1930er-Jahren stockend verlaufener, von engen Kontakten zu hochrangigen Vertretern der katholischen Kirche und schließlich einer Hinwendung zur NSDAP geprägter Karriereweg (48 f.) sowie mehrere fehlgeschlagene Veröffentlichungsversuche in der Nachkriegszeit hatten dazu geführt, dass Göhlers Forschungen zuvor noch keinem breiten wissenschaftlichen Publikum zugänglich gemacht wurden. Der nun vorliegende Band bietet eine Edition des vollständigen Dissertationstextes, dem zur besseren Erschließung noch einige weitere Materialien und Abbildungen beigegeben sind. Auf eine Überarbeitung von Göhlers Ergebnissen, insbesondere seiner Aussagen zum Verhältnis der dem Kapitel angehörenden Geistlichen zur Wiener Universität, ist verzichtet worden, da ein solches Unternehmen schon in der Vergangenheit aufgrund der vielen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet die Drucklegung der Arbeit verhindert hatte (21). Diese Entscheidung ist her-
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vorzuheben: Zwar wäre eine Anpassung an den derzeitigen Forschungsstand eine bedeutende Erweiterung von Göhlers Arbeit gewesen, aber vorangegangene Bemühungen in diese Richtung haben die Schwierigkeiten dieses kaum erfüllbaren Vorhabens mehr als deutlich offenbart. Erst die Konzentration der Herausgeber auf die „wortgetreue Wiedergabe“ (21) der Dissertation hat es ermöglicht, die seit Jahrzehnten erhoffte Publikation der Studie zu realisieren. Zu den ergänzend beigeordneten Materialien zählt an erster Stelle (23–33) ein Abschnitt über die Gründungsumstände des Kollegiat- beziehungsweise späteren Domkapitels an St. Stephan und die weitere Entwicklung dieser Institution. Nachdem Rudolf IV. von Österreich am Beginn seines Herrschaftsantritts 1358 noch geplant hatte, ein Kollegiatkapitel in einer eigens gestifteten Kapelle in der herzoglichen Burg zu errichten, schwenkte er kurze Zeit später auf die Pfarrkirche St. Stephan um, die er zunächst in rechtlicher Hinsicht sowie mit Reliquien und Gütern ausstattete und deren bauliche Erweiterung er schließlich ab März 1359 anstrebte. Der Tod Innozenz’ VI. samt Beginn des Pontifikats Urbans V. ließ noch einige Jahre verstreichen, bis das Kapitel am 16. März 1365 als Institution mit 24 Kanonikern und einem Propst, der zugleich unter anderem Kanzler der vier Tage vor dem Kapitel gestifteten Universität Wien sein sollte, begründet werden konnte. Nicht nur hinsichtlich des Präsentationsrechts, auch in Bezug auf die Güter, die mit der Stiftung zusammenhingen, war das Kapitel eng an Rudolf IV. gebunden, weshalb der Besitzstand modifiziert wurde, als der Herzog nur gut vier Monate nach der Errichtung verstarb. Der größte Einschnitt in den ersten Jahrhunderten der bereits unter Rudolfs Bruder, Herzog Albrecht III., noch stärker an die Universität angebundenen Institution war aber, dass sie im Zuge der Wiener Bistumsgründung 1469 zum Domkapitel wurde. Göhlers Untersuchung nimmt diesen Bruch auf und behandelt das Personal des Kapitels noch bis 1554, das heißt bis zur Reform der Einrichtung durch König Ferdinand I. Um den Zugang zu Göhlers Forschungen zu erleichtern, haben die Herausgeber der Edition neben der geschichtlichen Einführung noch ein Abkürzungsverzeichnis (37 f.), ein Glossar (39–46), die Vita des Verfassers, sein Werkverzeichnis sowie Aufzeichnungen zum Rigorosum (47–59) vorangestellt, was einen Blick nicht nur auf die im Zentrum stehenden Ergebnisse von Göhlers Studie, sondern auch auf ihre Entstehungsumstände erlaubt. Die Dissertation selbst führt nach einer Einleitung (63–65) und einem kurzen Abriss über die verwendeten Quellen (67 f.) mehrere rechtsgeschichtliche Informationen zur analysierten Institution an (unter anderem Exemtion, Ausstattung mit Gütern und Rechten: 69–87) und vermerkt im folgenden Abschnitt „Personengeschichtliche Einzelheiten“ (89–99) übergreifende Erkenntnisse zu den untersuchten Kanonikern, etwa zur Herkunft der Pröpste, die in der Anfangszeit zumeist adlig und unter denen seit der Gründung der Diözese Wien zunehmend „wissenschaftlich gebildete Beamte des Landesfürsten“, das heißt Geistliche bürgerlicher Abkunft zu finden waren (89 f.). Für das gesamte Kapitel hat Göhler, freilich unter der Schwierigkeit großer Lücken in den diesbezüglichen Aufzeichnungen, einen Schwerpunkt von Klerikern aus dem Süden des Reiches und dem Herzogtum Österreich ermittelt, was er mit der engen Bindung der Institution an die Wiener Universität in Zusammenhang bringt (91 f.). Ferner werden die Beziehungen der Geistlichen zum herzoglichen Hof thematisiert und unter namentlicher Nennung der jeweiligen Kanoniker belegt (92 f.). Dies und die weiteren Ausführungen des Abschnitts reißen erste Fragen
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an, die an das Korpus der analysierten Personen gestellt werden können und übergreifende, auch für Vergleiche heranzuziehende Schlüsse auf die Zusammensetzung einer solchen Institution ermöglichen. Die Basis für die Behandlung dieser Fragestellungen hat Göhler mit seiner tiefgehenden Untersuchung der 14 Pröpste und 375 Kanoniker des Kapitels gelegt. Soweit möglich, wird zu jedem Kleriker seine Herkunft und sein Lebensweg dargestellt, was insbesondere die erlangten Pfründen und die Ämter an der Universität Wien umfasst. Aber auch weitere Nachweise zur jeweiligen Person wie Urkundenausstellungen und die damit zusammenhängenden Angelegenheiten sowie Grablegen und ihre Ausstattung werden thematisiert, so dass zu den Geistlichen ein beeindruckend umfassend erscheinender Blick in die vielschichtige Überlieferung gelingt. Dies sowie die große Menge zusammengetragener Quellennachweise und die Diskussion der Belege in widerstreitenden Fragen führen deutlich den immensen Aufwand, den Göhler bei der Recherche betrieben hat, vor Augen. Das Personal des Kollegiat- und späteren Domkapitels wird so in all seinen Facetten ausgeleuchtet. Die Herausgeber haben die Dissertation in Gänze ediert und mit im Text abgedruckten Seitenverweisen auf das Manuskript sowie einer Seitenkonkordanz am Ende des Buches das Auffinden einzelner Informationen aus der bisher zugänglichen Fassung der Arbeit erleichtert. Zwei Register, die das Personenkorpus nach Vornamen sowie Familien- und Herkunftsnamen erschließen, helfen bei der Orientierung im Werk. Insofern ist die Drucklegung der Dissertation positiv zu beurteilen: Hermann Göhler hat in Anlehnung an die Forschungen Leo Santifallers zu Brixen eine Arbeit von herausgehobenem Umfang geleistet, die trotz ihres beachtlichen Alters die Bedeutung solch groß angelegter prosopographischer Studien aufzuzeigen vermag. Für vergleichend ausgerichtete kirchen- und universitätsgeschichtliche Untersuchungen liegt nun eine weitere, wenngleich leider nicht aktualisierte und jüngere Recherchemöglichkeiten zu prosopographischen Fragen einbeziehende Materialbasis vor. Göhlers Dissertation und ihre Edition sind nicht nur wichtig für zukünftige Analysen zum Kollegiat- beziehungsweise Domstift zu St. Stephan in Wien, sondern können auch weitere Vorhaben nach diesem Muster anregen. Gerade vor dem Hintergrund, dass in der jüngeren mediävistischen Forschung streckenweise wieder eine Hinwendung zu Themen der Bistums- und Stiftsgeschichte zu beobachten ist, erscheint Göhlers Arbeit, obschon vor mehr als 80 Jahren verfasst, noch immer relevant. Frederieke Maria Schnack M. A. Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 168–169 Stefan Pätzold, Felicitas Schmieder (Hg.) Die Grafen von der Mark. Neue Forschungen zur Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Beiträge der Tagung am 22. April 2016 in Hagen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 41), Münster: Aschendorff, 2018, 171 S., 44 meist farb. Abb., ISBN 978-3-402-15128-0, 29,00 EUR. Von 2012 bis 2018 fanden jährlich die sogenannten „Gespräche zur Regionalgeschichte an Rhein und Ruhr“ unter maßgeblicher Regie von Stefan Pätzold vom Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte in Kooperation zunächst mit Nikolas Jaspert (seinerzeit Universität Bochum) und dann Felicitas Schmieder (Fernuniversität Hagen) statt. Aus dem vierten dieser Gespräche, das am 22. April 2016 stattfand und die Grafen von der Mark zum wissenschaftlichen Thema hatte, ging der hier zu besprechende, gleichbetitelte und um den Abdruck eines leicht überarbeiteten Handbuchartikels ergänzte Sammelband hervor. Zunächst führt das Vorwort von Herausgeber und Herausgeberin die „Gespräche zur Regionalgeschichte“ in ihrer Charakteristik und wissenschaftlichen Zielsetzung – vor allem unter Betonung eines regionalgeschichtlich offenen Konzepts der Erforschung des Raums zwischen Rhein und Ruhr – sowie ihrer bisherigen Geschichte vor Augen (7–9). Darauf liefert Stefan Pätzold zur Einführung in das eigentliche Thema unter der auf den ersten Blick vielleicht etwas irritierenden, allgemein gehaltenen Überschrift „Familienforschung“ einen kurz gerafften und durch eine Karte sowie eine vereinfachte genealogische Stammtafel veranschaulichten Überblick zur bisherigen Beschäftigung mit den Grafen von der Mark und ihren Verwandten (11–19), gefolgt von Stephanie Marras informativer Zusammenfassung der dynastischen Geschichte von den fassbaren Anfängen im 12. Jahrhundert bis zu ihrem Aussterben im Mannesstamm 1609 (21–50, davon 33–50 als wirklich sehenswerter Bildteil). Marra geht dabei besonders auf die Erinnerung und Erinnerungspolitik am Beispiel der Repräsentationsbauten und Grablegen und auf das dynastische Handeln der Akteure, die sich durch eine territorial expansive und sehr erfolgreiche Heiratspolitik auszeichneten und bekanntlich zu Herzögen von Kleve-Mark aufstiegen, im Wandel der Zeit ein. Bei ihrem enzyklopädischen Beitrag handelt es sich um den schon genannten, leicht überarbeiteten Artikel aus dem „Handbuch der Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich“ von 2003, weswegen anders als bei den sonstigen Aufsätzen in diesem Fall auf einen Anmerkungsapparat verzichtet worden ist. Die Literatur im angehängten Verzeichnis gibt leider nur den Stand von 2003 wieder. Michael Hecht steuert sodann einen allgemeinen Überblick zu aktuellen Themen und Perspektiven der Erforschung der Dynastiegeschichte bei, der unter den Stichworten „Entessentialisierung“, „Erinnerung“, „Erbfolge“ und „Eheschließungen“ bei aller Gerafftheit zugleich doch alles Wesentliche, was aktuell dazu zu sagen ist, zusammenführt und in dieser Hinsicht, auch seiner weit über die Grafen von der Mark hinausgehenden Sichtung wegen, als wirklich zentral für den ganzen Band und darüber hinausgehend bezeichnet werden darf (51–68). Die bereits mit einem Beitrag vertretene Stephanie Marra befasst sich im Anschluss daran nochmals eingehender mit der Familien- und Heiratspolitik der Grafen von der Mark, die neben mili-
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tärischen Allianzen und politisch geschicktem Agieren ein wichtiger Baustein im Prozess des Zusammenwachsens ursprünglich voneinander unabhängiger Territorien „zum größten weltlichen Länderkomplex im Nordwesten des Reiches“ gewesen ist (69–77, hier 77). Im Rahmen eines mit „Doing Dynasty“ überschriebenen Abschnitts stellt Marra aufschlussreiche Beispiele hierzu vor. Thorsten Fischer untersucht überzeugend das liturgische Totengedenken der Grafen von der Mark im 13. und 14. Jahrhundert, wobei er unter anderem auf ihre Memoria im Stift Essen, auf ihre Grablege im Zisterzienserinnenkloster Fröndenberg und auf ihre Stiftungstätigkeit in Hörde eingeht (79–101), worauf nochmals Stefan Pätzold in seinem Aufsatz mit dem Titel „Erinnerung und Identitätskonstruktion“ die Darstellung der Grafen von der Mark in der Chronik des Lütticher Domkanonikers Levold von Northof näherbringt (103–119). Von dessen Konstruktion rührt die fiktive Abstammung der Grafen von den Orsini her. Dem Chronisten ging es um Information, Belehrung und Vorbildfunktion, wie Pätzold zeigen kann: „Dies tat er, indem er eine Reihe von Fakten oder Episoden aus der imaginierten und tatsächlichen Familiengeschichte mitteilte, die dazu geeignet waren, familiäre Gemeinschaft zu stiften, individuelle wie gemeinschaftliche Identität auszubilden oder herrscherliche Verhaltensparadigmata und damit Rollenmuster zur Verfügung zu stellen“ (119). Zu guter Letzt liefert der Archäologe Stefan Leenen eine spannende und wiederum reich bebilderte Zusammenstellung der Burgen (und Schlösser) der Grafen von der Mark als „Pfeiler[n] der Macht“ (121–161). Sein zeitliches Fenster reicht vom frühen 12. bis letztlich zum Anfang des 17. Jahrhunderts. Als wichtig und lesenswert erscheint sein Beitrag über die konkreten Burgengeschichten hinaus auch durch die knappe Gesamtschau, in der der Autor unter anderem eine Einordnung dieser Burgen „in eine Art obere Mittelklasse“ wagt, was im Prinzip mit dem Rang ihrer Besitzer korreliert. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass mit diesem Band nunmehr eine thematisch reichhaltige, durch die zahlreichen Abbildungen wunderbar illustrierte und aufgrund der aktuellen Fragestellungen und durchweg kompetenten Antworten darauf auch für die allgemeine Dynastienforschung anschlussfähige und relevante Publikation vorliegt, die eindrucksvoll belegt, dass das Ruhrgebiet weitaus mehr zu bieten hat als „nur“ seine Industrie- und Bergbaugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 170–171 Ralph A. Ruch Karthographie und Konflikt im Spätmittelalter. Manuskriptkarten aus dem oberrheinischen und schweizerischen Raum (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 33), Zürich: Chronos, 2015, 200 S., 17 Abb., ISBN 978-3-0340-1269-0, 34,00 EUR. Die Untersuchung spätmittelalterlicher Manuskriptkarten als historische Quellen ist in den letzten Jahren vermehrt thematisiert worden. Insbesondere der Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich, namentlich Prof. Dr. Martina Stercken, hat sich unter anderem mit dem Sammelband „Herrschaft verorten“1 hervorgetan. Unter ihrer Betreuung ist die Dissertation „Kartographie und Konflikt im Spätmittelalter. Manuskriptkarten aus dem oberrheinischen und schweizerischen Raum“ von Ralph A. Ruch entstanden. Dieser beleuchtet anhand von vier Fallbeispielen aus dem 15. Jahrhundert, nämlich Genf, Honau, Zürich und der sich etablierenden Eidgenossenschaft an sich, welche konkreten Anwendungsmöglichkeiten Kartenwerke in politischen Konflikten bieten konnten. Konkret fragt er, wer mit Karten Repräsentation betrieb, wie dies geschah und auf welche Art und Weise sich Intention und politische Nutzung als Produktionskontexte auswirkten (11). Er stellt seine Arbeit damit in eine Reihe mit dem Forschungswerk von John Brian Harley, der bereits in den 1980er-Jahren die Karten inhärenten Intentionen von Machtentfaltung hervorgehoben hat und damit insbesondere den Vertretern einer historisch deskriptiven Kartographie wie John H. Andrews widersprach. Ruch geht dabei stringent nach dem folgenden Muster vor: Indem er zunächst kurz den jeweiligen Fall darlegt und sodann anhand der verfügbaren Schriftquellen die Begleitumstände ausführlich und anschaulich vergegenwärtigt, die die Erstellung der jeweiligen Karte notwendig oder sinnvoll machten, dirigiert er den Blick des Lesers auf die starke Verschränkung der beiden Quellenarten. Diese Abhängigkeit der Karten von erklärenden Texten bildet auch seine erste Schlussfolgerung, die den Leser durch das ganze weitere Werk begleiten wird. An die Einführung und Fallschilderung schließt sich jedes Mal eine Analyse der Materialität der Karten an, anhand derer Ruch einen konkreten Einsatzort und die anzunehmende Einsatzart herleitet. Hat er diese Basis beim Leser gelegt, sucht der Autor die intendierte Wirkung im jeweils untersuchten Konflikt zu ergründen. Auf diese Art und Weise gelingt es Ruch, im Falle des Konflikts zwischen Bischof und weltlichem Fürsten um Besitzstände in Genf hervorzuheben, dass die skizzenhafte Karte des sogenannten „Plan Bolomier“ nicht nur alle strittigen, neuralgischen Orte der Stadt in ihrem Kontext veranschaulicht. Vielmehr weist sie darüber hinaus einer als Empfänger ausgemachten päpstlichen Kommission den Weg zu etlichen der Partei des Skizzierenden wohlgesonnenen Personen. Ruch deutet diese Kartenskizze folglich nicht primär als Stadtplan für Ortsunkundige oder Plan, auf dem mögliche Lösungsansätze oder Maßnahmen eingetragen werden könnten (42), sondern durchaus auch als Mittel bewusster politischer Beeinflussung Dritter (54). Auch die zweite Karte veranschaulicht Einfluss- oder Besitzsphären des Klosters Honau, die ansonsten nur in Schriftquellen festgelegt waren. Anhand dieses Beispiels trägt Ruch vor, wie das in Schriftquellen fi-
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xierte alte Wissen um Zinsabhängigkeiten und Almendebesitz des Stifts anhand einer stark abstrahierten Karte aufgeschlüsselt und somit mit vergleichsweise geringerem Aufwand, als ihn das Textstudium erfordern würde, weitergegeben werden konnte. Der Autor hebt hervor, dass gerade diese Tradierung und folglich Perpetuierung von Wissen um Ansprüche eine zentrale Zielstellung derartiger Karten ausmachte. Den in den beiden ersten Beispielen analysierten Karten ist also eine jeweils klar umrissene Rolle in einem durchaus begrenzten Konflikt zugedacht gewesen. Dies verhält sich bei den beiden folgenden Beispielen anders. Sie sind – auch wenn Ruch dies nicht expressis verbis hervorhebt – in anderen Konfliktlagen angesiedelt. Die als dritte und vierte erforschten Karten beziehungsweise Konfliktfälle stehen nicht für sich, sondern sind oder waren in einen konkret zugehörigen Text fest eingebunden. Sie sollten wohl weniger als topographischer Orientierungshelfer oder als Plangrundlage fungieren, sondern vielmehr Zusammengehörigkeiten strategischer Natur hervorheben. Eine Stadtansicht von Zürich ordnet Ruch in die Reihe „schriftbildliche[r] Hybride zwischen Bild und Karte“ ein (95). Hier finden sich zusätzlich Illustrationen vergangener politischer beziehungsweise kriegerischer Handlungen. Durch die inhärente Interpretation der späteren Abbildung politischen Handelns und eigener Stärke zusammen mit der umgebenden Chronik hätte sich die Zürcher Elite ihrer eigenen Macht und ihres Herrschaftsanspruchs versichert, interpretiert Ruch (115–117). Nochmals deutlich komplexer erweist sich der vierte und letzte Fall dieser Arbeit. Es handelt sich um eine Darstellung der gesamten Eidgenossenschaft nebst Anrainern. Ruch legt dar, dass, obschon topographisch zwar durchaus überraschend exakt, dennoch verschiedene Hervorhebungen und Schwerpunktsetzungen vorlägen (148 f.). Ausführlich erörtert der Autor, dass sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Differenzen, Nähe und Ferne verschiedener Mitglieder der Eidgenossenschaft sich versinnbildlicht auf der Karte niederschlagen. Er geht sogar so weit, ein hierarchisches Gefälle zwischen verschiedenen Genossen auf der Karte abgebildet zu sehen (146 f., 153). Jedoch gelingt ihm die interpretatorische Trennung von Karte und Text nicht ganz so transparent wie in den vorangegangenen Fallbeispielen. All dies, so folgert Ruch, sollte dem Kaiser als ausgemachtem Adressaten die Eidgenossenschaft als ein einheitliches Ganzes präsentieren, das jedoch eher in das Reich überging, als diesem abgegrenzt gegenüberzustehen (164). Dies ist Ruch zufolge die zentrale Intention des Kartographen, eines eidgenössischen Leibarztes Kaiser Maximilians. Die Arbeit versteht es, vier auf den ersten Blick sehr verschiedene Fallbeispiele zusammenzubringen und so die zentralen Vorteile von Karten im Konflikt – nämlich Vereinfachung und Veranschaulichung – herauszuarbeiten, während gleichzeitig deutlich wird, wie abhängig insbesondere spätmittelalterliche und stark abstrahierte Karten von den sie begleitenden Texten waren, deren leichterer und zielgerichteterer Interpretation sie oftmals dienten. 1
Ingrid Baumgärtner, Martina Stercken (Hg.): Herrschaft verorten. Politische Kartographie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 19), Zürich 2012.
Martin Berthold M. A. Berlin
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 172–174 Otfried Krafft Landgraf Ludwig I. von Hessen (1402–1458). Politik und historiographische Rezeption (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen 88), Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2018, 880 S., 18 farb. Abb., 5 Taf., 3 Tab., ISBN 978-3-942225-42-7, 48,00 EUR. Trotz der Vergleiche mit seinem bekannten Urenkel, Landgraf Philipp (dem Gutmütigen) von Hessen (1504–1567), zeichnete die Historiographie bisher ein durchweg positives Bild Landgraf Ludwigs I. von Hessen (1402–1458). Mit den Beinamen „Fried(e)samer“ oder „Frommer“ versehen, 1440 als Anwärter auf das römisch-deutsche Königtum gehandelt und 1450 mit der Goldenen Rose durch Papst Nikolaus V. (1397–1455) ausgezeichnet, wurde Ludwig stets ein zielführendes und planvolles Agieren unterstellt, was zum Erfolg der Landgrafschaft im 15. Jahrhundert beigetragen habe. Die nun dazu vorliegende Habilitationsschrift von Otfried Krafft wurde Anfang 2015 beim Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Philipps-Universität Marburg eingereicht. Mittels einer grundständigen Auseinandersetzung mit der Überlieferung analysiert Krafft die Planung hinter Ludwigs politischem Handeln und zeichnet dafür detailreich den Aufstieg Ludwigs zu einem bedeutenden Akteur des 15. Jahrhunderts nach. Der aktive politische Austausch des Landgrafen mit seinen Zeitgenossen steht dabei gleichermaßen im Untersuchungsfokus wie die Rezeption nach seinem Tod, die das Bild des „friedsamen“ und „friedfertigen“ Landgrafen nachhaltig ausformte. Mittels räumlicher Schwerpunktsetzungen je Kapitel wird Ludwigs Herrschaft in größtenteils chronologischer Abfolge nachvollzogen. Am Beginn von Ludwigs politischem Handeln steht daher zunächst die Vormundschaftsregierung durch seinen Schwager Herzog Heinrich (den Milden) von Braunschweig-Lüneburg (um 1355–1416). Die aktive Vormundschaftspolitik Heinrichs und einiger hessischer Räte habe in den von Landgraf Hermann II. (um 1342–1413) ererbten Nachbarkonflikten mithilfe einer Rundum-Absicherung durch Verträge nicht nur Schadensbegrenzung betrieben, sondern darüber hinaus die Ausgangsbasis für Ludwigs umfassendes Bündnisnetz gelegt (Kap. III). Das spannungsreiche Verhältnis zu den Wettinern am Beginn des 15. Jahrhunderts (Kap. IV) mündete auf diese Weise 1431 in eine Erbverbrüderung, während der Sieg gegen Mainz 1427 und die Ewige Einung von Friedberg (1442) den langjährigen Konflikt mit dem Erzbistum beendeten (Kap. V). Im Westen gelang Ludwig in der Mitte der 1430er-Jahre schließlich die Friedenssicherung mit einem vertraglich abgesicherten Bündnisnetz zwischen Jülich-Berg, Kurköln und Hessen (Kap. VII), während zeitgleich ein verstärktes landgräfliches Ausgreifen in Franken erkennbar wird (Kap. VI). Dahingegen zeichne sich sein politisches Agieren im Süden und Norden durch ein gewisses Desinteresse aus (Kap. XI). Das rasche Ende der Bündnisse nach Ludwigs plötzlichem Tod sei letztendlich jedoch ein Indiz für den dezidiert personell-gebundenen Charakter des umfangreichen Netzwerks des Landgrafen. In Bezug auf die regional übergeordneten herrschaftspolitischen Bündnisse sei auf der königlich-kaiserlichen Ebene des Reiches die Politik des Landgrafen durch die Ambivalenz aus persön-
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licher Nähe und Ferne zum Herrscher gekennzeichnet worden. Während der Regierungszeiten von Sigismund (1368–1437) und Albrecht II. (1397–1439) habe Ludwig eine stellenweise enge Zusammenarbeit mit dem Königtum angestrebt, wie sein Agieren in Brabant zeige. Dort hat er nach Krafft und entgegen der bisherigen Forschung im Auftrag des Luxemburgers gehandelt und nicht, um eigene erbliche Ansprüche durchzusetzen. Die dezidierte Königsferne des Landgrafen hingegen sei erst ab dem Herrschaftsantritt von König Friedrich III. (1415–1493) als ein dauerhafter Zustand zu beobachten (Kap. VIII). Den religionspolitischen Aspekt von Ludwigs Herrschaft verdeutlicht Otfried Krafft zum einen über die landgräfliche Nähe zum Papsttum, die unter anderem durch die Verleihung der Goldenen Rose nachvollzogen werden kann (Kap. XII), und zum anderen mittels Ludwigs Förderung von Klöstern, die vor allem den Reformströmungen der Devotio moderna und der Bursfelder Kongregation nahestanden (Kap. XIII). Trotz seiner Wallfahrten nach Aachen und St. Josse und entgegen dem Beinamen „der Fromme“ sei die Religion jedoch keine Hauptrichtschnur von Ludwigs Politik gewesen. Auf der innerhessischen Ebene vertieft Krafft unter anderem am Beispiel der Konflikte mit Henne ( Johann) von Löwenstein und der Stadt Frankfurt die andere Seite von Ludwigs Politik, die sich durch Kompromisslosigkeit ausgezeichnet habe (Kap. IX). Den bedeutendsten territorialen Zugewinn der Landgrafschaft unter Ludwig bildete letztgültig der Erwerb der Grafschaften Ziegenhain und Nidda, da durch ihre Eingliederung die räumliche Trennung von Ober- und Niederhessen ihr Ende fand (Kap. X). Im abschließenden Kapitel zur historiographischen Konstruktion kontrastiert Krafft die positive Rezeption und Konstruktion des „friedsamen“ Fürsten mit der kritischen Überlieferung, in der bisweilen der Vorwurf der Treulosigkeit Ludwigs begegnet (Kap. XIV). Ergänzt werden die Ausführungen durch einen Quellenanhang samt Itinerar für Ludwigs I. gesamte Regierungszeit. Durch die Verwendung des äußerst umfangreichen Quellenmaterials gelingt es Otfried Krafft, ein detailliertes Bild der Regierungsjahre Landgraf Ludwigs I. von Hessen nachzuzeichnen und dessen positive Rezeption kritisch zu hinterfragen. Die dem Landgrafen zugeschriebene Friedensliebe habe häufig pragmatisch aus dem Ziel der Bestandssicherung resultiert, zumal während seiner Regierungszeit zahlreiche Fehden und eine hohe Aktivität des Femegerichts in Freienhagen nachweisbar seien. Gleichzeitig benennt Krafft Ludwigs Politik der „gewinnorientierten Neutralität“ (125) als einen Kernbaustein seines landgräflichen Agierens, so dass seine Herrschaft den Anschein eines Balanceaktes aus Vermittlertum, Neutralität und Kompromisslosigkeit erweckt, am Beispiel des Gebietserwerbs von Ziegenhain und Nidda jedoch auch die Abhängigkeit von biologischen und politischen Zufallsmomenten sichtbar wird. Durch die Einbeziehung zahlreicher weiterer Akteure der Landgrafschaft Hessen, wie zum Beispiel der hessischen Räte und der Schwestern Ludwigs, und ihrer Anteile an der Herrschaftsausübung wird insgesamt ein differenzierteres Bild von Ludwigs Vorgehen gezeichnet, wodurch der Charakter seiner Herrschaftspraxis als Gemeinschaftstätigkeit deutlich wird. Der anfänglich geographisch orientierte Aufbau der Monographie gestattet je Kapitel zwar eine Fokussierung auf einzelne Stränge des umfangreichen Bündnisnetzwerks, erzeugt dadurch aber thematische Wiederholungen und zeitliche Vor- und Rückverweise. Auch die alte Rechtschreibung stört leider stellenweise den Lesefluss. Im Großen und Ganzen liegt hier jedoch eine
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detaillierte Gesamtbetrachtung und Verortung der Politik Ludwigs I. abseits seines Urenkels, allerdings im Gesamtgefüge seiner Zeit vor. Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
3. Frühe Neuzeit Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 174–176 Ekaterina Emeliantseva Koller Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850) (Lebenswelten osteuropäischer Juden 17), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2018, 352 S., ISBN 978-3-412-22453-0, 60,00 EUR. Lange Zeit hat die historische Forschung den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als eine Zeit von Aufklärung und zunehmender Säkularisierung in den Blick genommen – und dies häufig in einem nationalgeschichtlichen Rahmen. Ekaterina Emeliantseva Koller untersucht dagegen zwei Beispiele sich wandelnder religiöser Zugehörigkeiten und religiöser Grenzziehungen im östlichen Europa, die auf den ersten Blick recht verschieden scheinen. In ihrer Untersuchung widmet sie sich einerseits den mystisch spirituellen Anhängern der St. Petersburger Prophetin Ekaterina Tatarinova (1783–1856) und andererseits den Warschauer Frankisten, Anhängern des jüdischen religiösen Exzentrikers Jakob Frank (1726–1791), die als Katholiken in der polnischen Hauptstadt lebten, ohne jedoch völlig in der katholischen Mehrheitsgesellschaft aufzugehen. Es sind also die Transformation des Religiösen und dessen lebensweltliche und situative Ausformungen, die im Zentrum der Arbeit stehen. Methodisch verortet Emeliantseva Koller sich in einer neueren Vergleichsforschung, die sie ausführlich diskutiert (24–28). Dabei folgt sie einer von Natalie Zemon Davis als „dezentrierenden Vergleich“ (28) vorgeschlagenen mikrogeschichtlichen Vorgehensweise, bei der es weniger darum geht, die beiden verglichenen Fälle zu kontrastieren, sondern darum, „Teilaspekte der Phänomene, fokussiert auf eine bestimmte Charakteristik, nämlich die gleichzeitige Zugehörigkeit jener ungewöhnlichen Gläubigen zur dominanten Kirche und religiösen Tradition der sozialen Umgebung“ (28), zu untersuchen. Inhaltlich konzentriert sich die Autorin, soweit es die Quellen zulassen, auf die religiöse Praxis und soziale Organisation der beiden Gruppen, die sie nicht als abgeschlossene Einheiten betrachtet, sondern deren religiös geprägten Zugehörigkeiten von der jeweiligen Alltagssituation abhingen. Emeliantseva Koller operiert hier mit den Begriffen der „si-
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tuativen Religiosität“, die je nach Situation stark variieren konnte, und einer Liminalität, entlang der sich die Gläubigen immer wieder neu verorteten (38–45). Im ersten Teil des Buches untersucht die Autorin, vor allem basierend auf Prozessakten, die „spirituelle Gemeinschaft“ der Anhängerinnen und Anhänger von Ekaterina Tatarinova in St. Petersburg. Zu dieser heterogenen Gruppe gehörten sowohl hohe Staatsbeamte und Offiziere als auch St. Petersburger aus „einfacheren Verhältnissen städtischer und bäuerlicher Herkunft“ (69). Sie untersucht die verschiedenen Frömmigkeitsformen, die innerhalb der Gruppe zum Ausdruck kamen, ohne dass es je zu einem Bruch mit der russisch-orthodoxen Kirche kam. Vor allem im häuslichen Leben flossen „volkstümliche mystische Interpretationen des russisch-orthodoxen Glaubens […] mit der westeuropäischen Mystik“ (90) zusammen, wie zum Beispiel an der materiellen Kultur des Michajlovskij-Schlosses und der Vorortdatschen einiger Anhänger Tatarinovas gezeigt wird. Die Autorin beschreibt die „eigensinnige religiöse Praxis“ (156) ihrer Protagonistinnen und Protagonisten als ein „komplexes Phänomen transkonfessioneller Grenzüberschreitung“ (156), in der sowohl Einflüsse europäischer Erweckungsbewegungen als auch bäuerliche Frömmigkeitsformen aufeinandertrafen. Sie ordnet die Bewegung in den Kontext der Alexandrinischen Religionsreformen ein. Anders als häufig in der russischen Historiographie behauptet, sieht sie die Gruppe um Tatarinova nicht als rückwärtsgewandt, aber auch nicht einem „aufklärerischem Fortschritt“ (157) verhaftet, sondern als eigenen, religiösen Weg in die Moderne. Hier schließt direkt die zweite Fallstudie an. Auch für Verschiebungen innerhalb der jüdischen Glaubenspraxis in Osteuropa ist vor allem die Entstehung des Chassidismus in den letzten Jahren zunehmend als spezifisch osteuropäisch-jüdischer Weg in die Moderne diskutiert worden. Die von Emeliantseva Koller im zweiten Teil ihrer Studie untersuchte Gruppe hat zwar deutlich weniger Bedeutung entfaltet, fällt aber geographisch und zeitlich in denselben Entstehungskontext wie der Chassidismus. Anders als Jan Doktór und Pawel Maciejko, die in den letzten Jahren umfangreich zu Jakob Frank (1726–1791), einem zum Katholizismus konvertierten podolischen Juden, und seinen Anhängern gearbeitet haben, widmet sich die Autorin vor allem den Anhängern Franks, die sich 1759 und in den Folgejahren in Warschau ansiedelten. Basierend vor allem auf bisher wenig bearbeiteten sozialhistorischen Quellen (wie etwa Matrikelbüchern oder Steuerlisten) verortet sie die Warschauer Neukatholiken, die auf Jacob Franks Netzwerke zurückgingen (und von anderen jüdischen Konvertiten zum Katholizismus unterschieden werden müssen), in sozialer, geographischer und ökonomischer Hinsicht in der Stadtlandschaft. Trotz des engen familiären Zusammenhaltes der frankistischen Gruppe existierten daneben auch andere Zugehörigkeiten, wie die Autorin zeigen kann. Allerdings könne nicht „klar zwischen ‚privatem‘ eigenem Glauben und ‚öffentlichem‘ Katholizismus“ (199) unterschieden werden. Außerdem werden die Selbstverortung zwischen Franks Anhängern und der Warschauer Stadtgemeinde im Zuge des Vierjährigen Sejms und die Wohn- und Festkultur der Warschauer Neukatholiken näher untersucht. In der Umbruchszeit der Teilungen Polens „partizipierten die Neukatholiken aus frankistischen Netzwerken“, so Emeliantseva Koller, „an den Aushandlungsprozessen darüber, wie die Zukunft Polens aussehen sollte“ (281). Abschließend versucht die Autorin, Gemeinsamkeiten der beiden untersuchten Gruppen herauszuarbeiten, was ihr vor allem hinsichtlich ihrer These „eigensinniger Grenzgänger“ (297), die
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einen „spirituellen Weg in die europäische Moderne gingen“ (286), gelingt. Insgesamt zeigt die Arbeit die Flexibilität der Lebenswelten religiöser Grenzgänger auf und betont noch einmal, dass „die Geschichte des Östlichen Europas nicht in das Prokrustesbett einer ‚Phasenverschiebung‘ zu den Entwicklungen in den westlichen Teilen des Kontinents hineingepresst werden kann“ (296). Über die Fallbespiele hinaus bietet die Arbeit eine sichere und ausführliche Einordnung in Literatur und Debatten zu Säkularisierung und Moderne, religiöser Grenzüberschreitung, Konfessionalisierung und jüdischer Geschichte im deutschsprachigen Raum als auch in Osteuropa. Sie zeigt beeindruckend die historiographisch breiten Kenntnisse und theoretischen Zugriffe von Historikerinnen und Historikern, die an den Rändern des historiographischen Mainstreams arbeiten. Dr. Cornelia Aust Universität Bielefeld, Abteilung Geschichtswissenschaft, Postfach 10 01 31, 33615 Bielefeld, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 176–179 Simone Signaroli Provveditore in Valcamonica. Dispacci al Senato di Venezia 1620–1635. Edizione di una fonte storica per la Guerra die Trent’Anni nelle Alpi (Fonti per la storia della Valle Camonica 1), Edolo: Società Storica e Antropologica di Valle Camonica, 2018, 272 S., ISBN 978-88-99256-05-0, 25,00 EUR. Die Untersuchung von Funktionseliten frühneuzeitlicher europäischer Staaten und ihrer Spielräume erfreut sich in der Forschung seit einigen Jahren besonderer Aufmerksamkeit. Das bürokratisch durchorganisierte spanische Habsburgerreich, das sich weit über die Grenzen Europas hinaus erstreckte, bietet aufgrund seiner reichhaltigen Quellenüberlieferung hervorragende Untersuchungsmöglichkeiten.1 Doch auch andere Territorien verfügten über weitverzweigte und ausgeklügelte Verwaltungssysteme. So ließ die Republik von Venedig ihre umfangreichen Festland- und Überseegebiete neben anderen Lokalbeamten (Capitani, Rettori) durch Angehörige ihres Patriziats verwalten, die als Proveditoren (Gouverneure), einem engmaschig geknüpften Netz gleich, die verschiedenen venezianischen Provinzen von der Lombardei bis ins Friaul und über Dalmatien bis zu den griechischen Inseln Kreta und Zypern überzogen. Sie entstammten den einflussreichsten Familien der Republik und verkörperten Bindeglieder zwischen Zentrum und Peripherie. Simone Signaroli widmet sich den Proveditoren in der vorliegenden Publikation in Form einer Mikrostudie zum Valcamonica, einem etwa 70 Kilometer langen Tal in der lombardischen Provinz Brescia, das freilich nur einen kleinen Bereich des venezianischen Reiches darstellte. Die Briefedition umfasst nur den kurzen, aber höchst relevanten Zeitraum der 1620er- bis zur Mitte
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der 1630er-Jahre. Genau in dieser Periode spielte das Valcamonica für die Geschicke Europas, das sich gerade im Dreißigjährigen Krieg befand, eine geopolitisch außerordentlich wichtige, aber bisher nur teilweise erforschte Rolle. Die Republik Venedig hingegen wusste um die strategisch günstige Lage der von Alpenpässen durchzogenen Gegend. Als es im unmittelbar benachbarten Veltlin, wo die „spanische Straße“ ihr französisches Pendant kreuzte, im Sommer 1620 zu einem blutigen Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken kam, in dessen Folge Spanien das Veltlin besetzte, reagierte der mit Frankreich verbündete venezianische Senat umgehend und installierte ab 1620 und bis 1635 besondere Regierungsbeamte im Valcamonica, Proveditoren. Sie sollten die Verbindung in die Lagunenstadt stärken und die nötigen Maßnahmen zur Verteidigung des stark umworbenen Gebietes treffen, während die spanischen und die österreichischen Habsburger danach trachteten, das Veltlin in ihre Herrschaftsgebiete zu integrieren und so einen „corridoio stabile di collegamento tra i propri possedimenti“ zu etablieren (XII f.). Venedig reagierte in dieser Situation mit verstärkter militärischer Präsenz. Die Republik handelte nicht nur als Alliierte Frankreichs, sondern auch im eigenen Interesse, musste sie doch unbedingt daran interessiert sein, die Pässe nach Nordeuropa offenzuhalten und die direkte Verbindung nach Graubünden und damit in die gesamte Eidgenossenschaft zu garantieren, die unter anderem ein wichtiges militärisches Reservoir für die Markusrepublik darstellte. Die im Staatsarchiv Venedig erhaltenen 160 an den Dogen beziehungsweise den Senat gerichteten Briefe von acht der insgesamt zehn Proveditoren, die in diesen Jahren als Sondergesandte mit Sitz in der Stadt Edolo fungierten, bilden den Hauptteil der vorliegenden Edition. Sie werden in der ausführlichen Einleitung Signarolis zunächst umfassend kontextualisiert und in die Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges eingebettet. Signaroli unterteilt den betrachteten Zeitraum in vier Abschnitte, nämlich die Veltliner Anfänge (1620–1622), die erste französische Kampagne im Veltlin (1624–1626), die Pestjahre 1629–1630 und die zweite französische Kampagne 1635–1636. Im September 1620 kam mit dem Adligen Francesco Basadonna der erste Proveditor ins Tal. In der Folge erreichten den Senat in Venedig regelmäßig Schreiben der Proveditoren aus Edolo, die auch mit ihrem direkten Vorgesetzten, dem Generalproveditor in Verona, in ständigem Austausch standen sowie mit weiteren einheimischen sowie auch auswärtigen weltlichen und kirchlichen Akteuren südlich und nördlich der Alpen, also aus dem Veltlin, Frankreich und dem Reich. Es wird somit ein komplexes Kommunikationsnetz greifbar, von dem die edierten Briefe der Proveditoren nach Venedig freilich nur einen kleinen, aber aussagekräftigen Ausschnitt darstellen können. Gleichzeitig ermöglichen sie eine zeitgenössische italienische Perspektive auf die Ereignisse im Reich, wenn etwa mit der pace di Sassonia (171 f.) beispielsweise der Frieden von Prag (1635) thematisiert wird. Die Themen, die in den Briefen behandelt werden, decken sich konsequenterweise weitgehend mit den Aufgabengebieten der Proveditoren und geben somit einen eindrücklichen Einblick in deren Amtstätigkeit: Im Mittelpunkt steht die Kommunikation mit der venezianischen Zentrale. Bürokratische Abläufe und Amtshierarchien werden erkennbar; Informationsbeschaffung für den Senat und Kontaktpflege zu in- und ausländischen Informanten bis hin zur Spionage und zur Identifikation und Abwehr feindlicher Spitzel gehörten zum Tagesgeschäft der Proveditoren, aber auch die Auseinandersetzung mit zirkulierenden religiösen Schriften und deren möglicherweise
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notwendiger Zensur. Neben dem zweiten großen Aufgabengebiet der Grenz- und Passsicherung und diesbezüglicher Übergriffe sowie der Kriegs- beziehungsweise Verteidigungsorganisation und -finanzierung stellen die Nahrungsmittelversorgung und die Seuchenbekämpfung wiederkehrende Themen dar, vor allem in Zeiten vermehrter Truppenkonzentrationen und -durchzüge in der Region sowie Flüchtlingsströme. Signaroli ediert nicht nur die Berichte der Proveditoren, sondern bezieht auch externe Texte ein, wie zeitgenössisch publizierte Aufzeichnungen und nur im Originalmanuskript vorliegende Notizen (von Enrico Caterino Davila und Gregorio di Valcamonica). Als ausgezeichneter Kenner der Region und ihrer historischen Quellen kontextualisiert er die Dispacci somit umfassend und weitläufig und stellt dem Leser mit den konservativ und eng am Original angelehnt edierten Briefen gehaltvolles Quellenmaterial zur Verfügung, ohne dies aber bereits analysieren zu wollen. Die Edition bereitet auf diese Weise den Boden für weitere Forschungen und bietet in der Einführung lediglich Hinweise und Anregungen, wie die Briefe der Proveditoren, die Signaroli als „eine temporäre Antwort auf eine militärische Krisensituation“ bezeichnet („risposta temporanea a una situazione di crisi militare“ [XV]), ausgewertet werden könnten. Diese Möglichkeit steht freilich nur des Italienischen mächtigen Forscherinnen und Forschern zur Verfügung (die Edition enthält auch einen französischen Text). Besonders fruchtbar ist die Edition in Hinblick auf die zahlreichen Ortsbeschreibungen, die in den Briefen enthalten sind (201 f.). Im Zentrum der Kriegslogistik stehen zudem häufig die in der Forschung derzeit sehr präsenten Straßen und Wege, Brücken und Pässe,2 waren diese als militärstrategisch relevante Objekte doch zentrales Transportmedium für Menschen, Tiere, Ausrüstung und Lebensmittel (203 f.). Neben den vielfältigen prosopographischen Erkenntnissen ermöglichen die Briefe zudem wertvolle Einblicke nicht nur in die besondere Situation des Krieges und der Kriegsführung, sondern auch in eine Alltagsgeschichte des Krieges, und dies speziell in Grenzgebieten wie dem Veltlin und Valcamonica. Bezüglich der Ende Juli 1635 erneut ausbrechenden Pest lässt sich anhand der Briefe deren zeitlicher und geographischer Verlauf nachvollziehen sowie die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden (Schließung der Pässe, Entsendung eines Gesundheitsspezialisten: ministro […] di sanità [205]), und die wirtschaftlichen Konsequenzen, die die Epidemie nach sich zog. Neben einem Namens- und Ortsregister verfügt die Publikation über ein Glossar, das vor allem militärischen Wortschatz erläutert. Dass sich die Registerangaben allerdings auf Briefnummern statt auf Seitenzahlen beziehen, stiftet unter Umständen Verwirrung in dieser ansonsten hervorragenden Edition, der eine breite Rezeption über die Grenzen des italienischen Sprachgebietes hinaus zu wünschen ist. 1
DFG-Forschergruppe 1986 „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ (LMU München), Projektbereich 2 „Figuren politischer Anthropologie“, Teilprojekt 5 „Amtsnaturen. Habituelle Spielräume von Amtspersonen der spanischen Monarchie (16.–17. Jahrhundert)“. Bisherige Publikation: El Habitus del Oficial Real. Ideal, Percepción y Ejercicio del Cargo en la Monarquía Hispánica (Siglos XV–XVIII). The Habitus of the Royal Officer. Ideal, Per-
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ception and Behavior in the Hispanic Monarchy (15th–18th centuries) (Studia Historica. Historia Moderna 39/1), Salamanca 2017. Siehe dazu z. B. Jahrbuch für Regionalgeschichte 36 (2018).
Dr. Andreas Flurschütz da Cruz Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, 96045 Bamberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 179–181 Achim Beyer Die kurbrandenburgische Residenzenlandschaft im „langen 16. Jahrhundert“ (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 65), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2014, 371 S., 15 Abb., ISBN 978-3-8305-3247-7, 54,00 EUR. Zu Beginn seiner Dissertation (Potsdam 2011) umreißt Achim Beyer deren Programm: Die Studie verfolge „die Absicht, in interdisziplinärem Zugriff für das ‚lange 16. Jahrhundert‘ die kurbrandenburgische Residenzenlandschaft auf ihre bestimmenden Funktionsmerkmale hin zu untersuchen“. Dabei sei vor allem das Schloss in Cölln „als ein Ort politischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Zentralität“ zu betrachten (14). Es folgt ein umfangreicher Fragenkatalog: vom Hof als „Wirtschaftsfaktor“ wie als „geistliches Zentrum“ und der Residenz „in ihrer rechtlichen Funktionskomponente“ über das Schloss als „Ort der Repräsentation und der Darstellung und Verkündigung von Status und Magnifizenz“ bis hin zum möglichen „Vorbildcharakter der kurbrandenburgischen Residenzenlandschaft“ und zu ihren räumlichen Strukturen und Bedingungen (15–19) – ein Fragenkatalog mithin, der (fast) nichts auslässt und den aktuellen Stand der Hof- und Residenzenforschung vielfältig widerspiegelt. Nicht zu erwarten ist, dass sämtliche Themen für die brandenburgischen Hohenzollern im Zeitraum vom späten 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert – ungefähr vom Herrschaftsantritt des Kurfürsten Albrecht Achilles in der Mark (1470) bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618) – erschöpfend abgehandelt werden. Und so bietet Achim Beyer eher eine detailreiche und problemorientierte Synthese als eine systematische, die Grenzen des Materials stets auslotende Analyse. Den Schwerpunkt bilden zum einen architektonische Zeugnisse als „Chiffren einer für den Zeitgenossen selbstverständlich [?] geläufigen Zeichensprache“ (57) und als „Teil eines jedermann [?] verständlichen herrschaftlichen Zeichensystems“ (89), zum anderen administrative Aspekte und territoriale Bezüge. Verglichen mit den kultur- und verwaltungsgeschichtlichen Ansätzen tritt die Sozialgeschichte zurück: So werden personengeschichtliche Punkte – aus Sachsen stammende Funktionsträger (150 f.), das Personal der kurfürstlichen Kammer (188–191), Stadtbürger am Hof (256–260), Amtshauptleute, Adlige und „Ausländer“ (267–275) – zwar wiederholt berührt, eine konsequente prosopographische Annäherung erfolgt jedoch nicht.
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Nach der Einleitung (13–40) gliedert Beyer seine Darstellung in sechs Kapitel. Zunächst kommt er auf die bauliche Residenzentwicklung zu sprechen: auf das Schloss in Cölln als Hauptresidenz (41–88) sowie auf den (Aus-)Bau von Festungen und Jagdhäusern (88–128). In Erweiterung des Blickfeldes fragt er außerdem, inwieweit sich der märkische Adel in der Gestaltung seiner Sitze an den Landesherren orientiert habe (128–138). Das vierte Kapitel nimmt diesen Faden auf anderer Ebene auf, indem es das wettinische Sachsen als dynastischen Maßstab und höfischen Einflussfaktor herausstellt (138–170). Damit ist der Perspektivwechsel von der Residenz zum Hof vollzogen, der im anschließenden fünften Abschnitt in seinen administrativen Funktionen beschrieben und außerdem in die Strukturen der territorialen Verwaltung – Ämter, Gerichte, Stände – eingeordnet wird (170–232). Das letzte Kapitel widmet sich den sozialen und ökonomischen Beziehungen des Hofes zu seiner Umwelt, nämlich zur Residenzstadt und zum Stadtbürgertum (vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten) sowie zum märkischen Adel (232–275). Den Schluss bildet eine konzise Zusammenfassung (277–284). Neben zahlreichen Detailergebnissen – nicht zuletzt infolge der kritischen Sichtung der Forschungsliteratur und unter Korrektur mancher älterer, aber auch neuerer Urteile – durchziehen einige grundlegende Feststellungen gleichsam leitmotivartig den Text. Das betrifft etwa die Einschätzung, dass der kurbrandenburgische Hof insbesondere im Vergleich zu den im Reich Maßstäbe setzenden Wettinern kaum konkurrenzfähig gewesen sei: Erst nach 1648 hätten die Hohenzollern „auch in residenzkultureller Hinsicht allmählich Anschluss an die führenden Dynastien des Alten Reiches“ gefunden (217). Im Untersuchungszeitraum hingegen seien „Einfluss und Abhängigkeit vom sächsischen Nachbarn eine Konstante des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens in der Mark“ gewesen (154). Einen der wesentlichen Gründe für die Benachteiligung gegenüber den Höfen der sächsischen Kurfürsten, aber auch der Kölner Erzbischöfe oder der fränkischen Hohenzollern sieht Beyer in der „mangelnden Finanzkraft“ (246). Diesem Urteil über die arg begrenzten Möglichkeiten Kurbrandenburgs im „Konkurrenzkampf der Höfe um Rang und Magnifizenz“ (162 f.) ist zuzustimmen, doch mag dabei trotz des kurfürstlichen Ranges das erfolgreiche Messen mit den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg, von Mecklenburg oder von Pommern und die Demonstration des eigenen Vorrangs im Kreis der norddeutschen Fürsten ebenso wichtig gewesen sein. In der Summe wird das Bild eines in vielerlei Hinsicht rückständigen, unterlegenen Territoriums entworfen (138–141). Zur Begründung führt Beyer auch die Bedeutung der Naturalwirtschaft für die Hofversorgung an (140); ebenso sieht er die Beziehungen zu Hoflieferanten im „Zeichen des noch nicht vollzogenen Übergangs von der Natural- zur Geldwirtschaft“ (239), was etwas überspitzt anmutet, zumal die beschriebenen Praktiken nicht sonderlich ungewöhnlich erscheinen. In dieses Bild fügt sich als weiteres ‚Leitmotiv‘ der Studie das Fehlen einer systematischen Verwaltungsorganisation: Das „unentwirrbare Zuständigkeitsgefüge“, das durch „gravierende Ineffizienz“ gekennzeichnet gewesen sei, charakterisiert Beyer als „Missstand“ (178 f.), er hebt „Aufgabenüberschneidungen und das Kompetenzwirrwarr in der Hof- und Landesverwaltung“ hervor (193) und verweist auf das „strukturelle Vollzugsdefizit“ (199). So begrüßenswert die Revision jener älteren Forschung ist, die bereits im 16. Jahrhundert Grundzüge einer systematischen Behördenorganisation und eines planvollen Verwaltungshandelns zu identifizieren
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suchte, so läuft doch diese Umwertung als defizitär Gefahr, unter umgekehrten Vorzeichen erneut Vorstellungen moderner Staatlichkeit zum Bewertungsmaßstab zu nehmen. Doch lassen sich die präsentierten Befunde auch als Beleg dafür lesen, dass im 16. Jahrhundert nach wie vor Familie und Dynastie, Haushalt und „Nahrung“ (so Albrecht Achilles) im Zentrum fürstlicher Herrschaft standen. Beyer selbst lehnt ganz richtig eine „ahistorische Übertragung moderner Verwaltungskategorien auf die Verhältnisse des Reformationszeitalters“ ab (191). Auch mit dem Begriff der „Residenzenlandschaft“ möchte Beyer „in Teilen“ das Bild der Forschung „revidieren“, das aus der Konzentration auf den Ausbau der Cöllner Residenz seit dem 15. Jahrhundert und den damit angeblich verbundenen „abrupten Wechsel von der mittelalterlichen Reiseherrschaft zur frühneuzeitlichen Residenzherrschaft“ resultiert (103 f.). Aus diesem Grund lenkt er den Blick auf die bislang vernachlässigte funktionale Bedeutung der Landesfestungen und Jagdhäuser. Eine umfassende Analyse der kurfürstlichen Reisepraxis nimmt er jedoch nicht vor. Ausdrücklich stellt er zum Beispiel fest, dass Tangermünde „noch bis weit ins 16. Jahrhundert hinein“ politisch-administrative Funktionen habe bewahren können, unter anderem als „(Sommer-)Residenz des Landesherrn“ (24), ohne dem aber weiter nachzugehen. Gleichwohl wird mit der Residenzenlandschaft ein Thema akzentuiert, das konzeptionell und inhaltlich weiterzuverfolgen lohnend sein sollte. Insgesamt ist es Achim Beyer gelungen, in der Bündelung, Erweiterung und Kritik der bisherigen Literatur und unter produktiver Aufnahme aktueller Forschungstendenzen ein wichtiges Desiderat der brandenburgischen Geschichte der beginnenden Frühen Neuzeit zu schließen. Doch auch über den regionalen Gesichtskreis hinaus bietet der Band eine höchst anregende Lektüre. Dr. Sven Rabeler Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 181–183 Georg M. Wendt Legitimation durch Vermittlung. Herrschaftsverdichtung und politische Praxis in Württemberg am Beispiel von Kirchheim/Teck, Schorndorf und Steinheim/Murr (1482–1608) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 79), Ostfildern: Thorbecke, 2018, 292 S., 4 Ktn., ISBN 978-3-7995-5279-0, 38,00 EUR. Georg M. Wendt, mittlerweile Stadtarchivar in Aalen, hat die hier zu besprechende Arbeit im Wintersemester 2016/17 an der Universität Tübingen bei Sigrid Hirbodian und Sabine Holtz als Dissertation eingereicht. Er untersucht die drei im Titel genannten Ämter, um exemplarisch zu überprüfen, in welcher Weise sich in seinem Untersuchungszeitraum die Ausübung der Herr-
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schaft veränderte. Dabei geht er, vollkommen im Einklang mit der jüngeren (aber durchaus auch der älteren) Herrschaftsforschung, von einer Verdichtung der Herrschaft aus. Das rund um das weinreiche Remstal gelegene Amt Schorndorf war eines der größten und wohlhabendsten von mehreren Dutzend württembergischen Ämtern. Das am kärgeren Rand der Schwäbischen Alb gelegene Amt Kirchheim umfasste neben der namensgebenden Amtsstadt die kleineren Städte Weilheim und Owen sowie ein Nonnenkloster, das in der Frühphase des Untersuchungszeitraums Anlass für mancherlei Reibereien war. Noch komplexer war die Lage in dem kleinen Amt Steinheim, wo das dortige Dominikanerinnenkloster den ursprünglichen Herrschaftsmittelpunkt bildete. Der gleichnamige Marktflecken, der seine im späten 13. Jahrhundert erworbenen Rechte als Reichsstadt nicht halten konnte, musste sich immer mit dem Kloster auseinandersetzen, gegenüber dem er aber erhebliche Autonomie gewann. Da außer Württemberg auch Hohenlohe Herrschaftsrechte in Steinheim besaß, ergab sich eine ortsspezifische herrschaftliche Gemengelage, bei der die Untertanen die beiden Herrschaften dann und wann gegeneinander ausspielen konnten. Wendt geht von zwei politischen Prozessen aus, um die Spannweite seiner Untersuchung zu umreißen. Im Jahr 1526 war in Schorndorf der Bauer Rauchmeyer zur Strafe für seine öffentlichen Äußerungen zugunsten des ins Exil verjagten Herzogs Ulrich auf Betreiben der habsburgischen Regierung in Stuttgart trotz fehlenden Geständnisses öffentlich geblendet worden, während 1564 der Kirchheimer Beamte Eckher bei einer eigentlich erdrückenden Beweislage trotz umfangreicher Korruption und riesiger Unterschlagungen glimpflich mit einer Geldstrafe und Hausarrest wegkam. Im Laufe seiner Arbeit kommt Wendt auf diese beiden Fälle (und andere) ausführlich zurück und erklärt die unterschiedliche Reaktion der Obrigkeit unter anderem mit der unsicheren Legitimität der habsburgischen Regierung von 1526, die sogar an einem von den örtlichen Beamten als harmlosen Schwätzer eingestuften Rauchmeyer ein Exempel statuieren musste, während 1564 Eckher einen Herzog vorfand, dessen Legitimation dermaßen gefestigt war, dass er sich den Formalien seiner eigenen Landesordnung unterwarf und letztlich sogar – trotz erheblicher Verärgerung – das Schweigekartell des Beziehungsnetzes rund um Eckher akzeptierte. Wendt erläutert zunächst den Forschungsstand mitsamt der Theoriediskussion rund um das Phänomen der Herrschaftsverdichtung im 16. und 17. Jahrhundert und schließt dann eine ausführliche Darstellung an, in der die Herrschaftsentwicklung in Württemberg unter sämtlichen Herzögen von Eberhard im Bart († 1496) bis Friedrich († 1608) im Allgemeinen und in den drei untersuchten Ämtern im Besonderen erläutert wird. Dabei werden in lokaler beziehungsweise regionaler Perspektive Aspekte konkret greifbar, die im Rahmen einer allgemeinen Herrschaftsgeschichte abstrakt und farblos bleiben. Aus der Vielzahl einschlägiger Beispiele sei hier nur die Zeit der spanischen Besatzung im Gefolge des Schmalkaldischen Krieges herausgegriffen, wo deutlich wird, was die „Spanier in meinem Haus“ (Kap. 7.2) 1548–1552 an Problemen mitbrachten. In einem weiteren, eher wieder theorieorientierten Kapitel fügt Wendt seine Befunde in ein Modell der „Handlungsinteressen, -optionen und -beschränkungen“ ein (Kap. V), bevor er am Schluss ein Fazit seiner Ergebnisse zieht. Insgesamt ist der Ertrag der Untersuchung erheblich. Wie es wissenschaftlicher Erfahrung entspricht, reißt jedoch jede beantwortete Frage neue Fragen auf: So arbeitet der Rezensent – in anderen Ämtern, aber zeitlich durchaus mit dem Fall Eckher vergleichbar – an mehreren Korrup-
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tionsfällen von Beamten, in denen die württembergischen Zentralbehörden zum Teil ganz anders reagierten als bei Eckher. Es wäre zu fragen, wie sich dies ins Modell der Herrschaftsverdichtung einfügt. Weiterhin wäre zu fragen, ob nicht eine Auswertung der (zugegebenermaßen nur unvollständig erhaltenen) Amtsrechnungen noch weitere Einblicke in den Prozess der Herrschaftsverdichtung ermöglicht hätte. Prof. Dr. Gerhard Fritz Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Oberbettringer Straße 200, 73525 Schwäbisch Gmünd, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 183–185 Christian Heinker Die Bürde des Amtes – die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 48), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015, 425 S., ISBN 978-3-86583-855-1, 72,00 EUR. Der Geheime Rat wurde in Kursachsen im Jahr 1574 ins Leben gerufen. Zunächst paritätisch mit zwei adeligen und zwei bürgerlichen Räten besetzt, institutionalisierte er sich als wichtigstes Regierungsgremium im Jahr 1601. Seine Angehörigen, die über die Jahre immer mehr wurden, prägten die sächsische Politik auf unterschiedlichen Feldern, bis der Rat zu Beginn des 18. Jahrhunderts (1704/06) hinter das neu geschaffene Geheime Kabinett zurückgestuft und zu einem „Geheimen Konsilium“ umgeformt wurde. Laut dem Verfasser der vorliegenden Studie, der damit im Jahr 2013 an der Universität Leipzig promoviert wurde, steht der Geheime Rat „zwischen der Kanzleiherrschaft des 16. Jahrhunderts“ und der „Kabinettsherrschaft“ des 18. Jahrhunderts (139). Die Untersuchung ist angesiedelt zwischen Institutionsgeschichte und Prosopographie beziehungsweise Kollektivbiographie der Ratsangehörigen, deren Leben und Wirken ein umfangreicher Anhang in biographischen Übersichten präsentiert. Ausgangspunkt ist die Weber’sche These von der Rationalisierung der Verwaltung, die im Verlauf der Studie zwar nicht über Bord geworfen, aber immerhin zeitlich und inhaltlich differenziert wird. Demnach könne in der Übergangszeit des 17. Jahrhunderts allenfalls von schwerfälligen, rudimentären Versuchen eines moderneren Behördenaufbaus die Rede sein, der sich erst nach dem Siebenjährigen Krieg durchgesetzt habe (291). Die Gruppe der Geheimen Räte oszillierte damit im Bereich zwischen „Fürstendiener“ und „Funktionselite“ (zum Beispiel 290, 295). Zentrale Basis der – ausweislich des Quellen- und Literaturverzeichnisses – auf breiter Materialgrundlage beruhenden Arbeit sind Bestallungen, Hofordnungen und diverse Verwaltungsakten, daneben unter anderem Leichenpredigten (die primär als Reservoir biographischer Informa-
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tionen dienen). Die Untersuchung besitzt eine umfangreiche, streckenweise ziemlich allgemein gehaltene Einleitung, in der klassische Elemente wie Fragestellung, Thesenbildung, Quellenkritik oder Anbindung an aktuelle Themen der kulturgeschichtlich inspirierten Verwaltungsgeschichtsforschung der Frühen Neuzeit teils nur in Ansätzen erkennbar sind. Im ersten Hauptteil wird der Geheime Rat als Institution behandelt. Darauf folgt ein Kapitel zum Verhältnis zwischen den sächsischen Kurfürsten und ihrem Ratsgremium. Schließlich werden die Geheimen Räte in ihrem sozialen Umfeld verortet; dieser Abschnitt ist wohl am konzisesten gelungen. Dem ersten Teil lässt sich entnehmen, dass die Frühzeit des Ratsgremiums von mühsamen Institutionalisierungsversuchen, von Spannungen zwischen Geheimen Räten und Kammerräten, aber auch zwischen Adeligen und Bürgerlichen geprägt war. Mit der Etablierung des Rats als kursächsischer Oberbehörde ab 1601 und der Ansässigkeit seiner Mitglieder in Dresden korrelierte der Abschluss sächsischer Residenzenbildung. Eine juristische Universitätsausbildung setzte sich bei den Räten immer weiter durch, doch der Einfluss bürgerlicher Räte blieb eine Episode der Frühzeit, gegenüber denen der Adel rasch wieder aufholte. Häufig führte der Weg vom Hofamt in den Geheimen Rat; Geheime Räte avancierten zu den Spitzenverdienern der Verwaltung. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kam es zudem immer öfter vor, dass inländische Ämter oder diplomatische Tätigkeiten für einen Ratstitel qualifizierten, wenn ihnen nicht sogar die Verleihung des Titels ehrenhalber voranging. Geheime Räte vertraten den Kurfürsten bei kaiserlichen Belehnungen, sie handelten Verträge aus und nahmen an Erbhuldigungen teil. Kursachsen entsandte seine Räte an den Regensburger Reichstag (beziehungsweise machte seine Reichstagsgesandten zu Geheimen Räten); ansonsten setzte man sie gern für Ad-hoc-Missionen an andere Höfe ein. Während der adelige Jurist Caspar von Schönberg im frühen 17. Jahrhundert zeitweilig eine herausgehobene Stellung erringen konnte, sorgten ständische Einflüsse ansonsten dafür, eine Machtakkumulation von Einzelpersonen zu verhindern. Im zweiten Abschnitt steht das Verhältnis des Geheimen Rats zu den Kurfürsten im Zentrum, die chronologisch nacheinander abgehandelt werden. Hier ist die Rede von aktiven und passiven, starken und schwachen Herrschern, von deren Fähigkeiten nach Ansicht des Autors die Wirkmächtigkeit der Räte abhing. Gänzlich unironisch wird beispielsweise Christian II. zu einer „auch physiognomisch so unherrscherlichen“, trunksüchtigen „Schachfigur, die von anderen bewegt wurde“ (142) – und zwar von Räten wie Gerstenberger und Schönberg. Kaum weniger passiv gerät Johann Georg I.; ihm zur Seite gestellt wird der Oberhofprediger Hoe von Hoenegg (158– 160), der allerdings kein Mitglied des Geheimen Rates war. Johann Georgs gleichnamiger Nachfolger sorgte für ein Zerwürfnis mit seinem Ratsgremium, das er enger mit dem Hof verband und zugleich weitgehend auf eine Aufsichtsfunktion reduzierte. Dies änderte sich unter Johann Georg III., der den Rat systematisch umbesetzte und dafür (erneut) verstärkt auf Personal sächsischer Herkunft zurückgriff (185–187). Üblich wurde nun die Verknüpfung von Ratsmitgliedschaft und anderen Staatsämtern – vom Gesandten bis zum Oberhofmarschall. Unter Friedrich August I. sollten wiederum Nichtsachsen mehr Gewicht im Rat erhalten. Immer stärker wandelte sich nun die Regierungsform zum ressortorientierten Kabinettsprinzip. Ein eigenes Kapitel thematisiert die Rolle der Geheimen Räte Callenberg und Gersdorf als Landvögte der Oberlausitz vor dem Hintergrund der territorialen Integration der Lausitzen. Mehr hätte man gern über die Rolle des
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Neuzeller Abts Bernardus von Schrattenbach erfahren, der als katholischer Niederlausitzer den Titel eines kursächsischen Geheimen Rats trug (210). Insgesamt handeln die Ausführungen dieses mittleren Abschnitts mehr über die Kurfürsten und ihr (nach Meinung des Verfassers häufig defizitäres) Agieren in der sächsischen und äußeren Politik als über die Aktionsradien der Geheimen Räte, deren Einfluss auf Verträge und Staatsaktionen wie den Abschluss des Prager Friedens (161 f.) aber gelegentlich deutlich wird. Ein illustrativer „Exkurs“ stellt die Neuordnung des Gremiums im Jahr 1637 dar. Der letzte große Teil behandelt das soziale Umfeld der Räte; hier lässt sich für das 17. Jahrhundert ein niederadeliges Übergewicht feststellen (215–217). Standeserhöhungen unter Geheimratsmitgliedern fallen vor allem in die Zeit Johann Georgs II., die von einer Aufwertung höfischer Kultur geprägt war und – wie der Verfasser mehrfach betont – in dieser Hinsicht bereits in die Epoche Friedrich Augusts I. verweist. Vereinzelt diente das Amt zum persönlichen Aufstieg; in einigen Fällen wurde es innerhalb adeliger Familien weitergegeben – basierend auf Verwandtschafts- oder Heiratsverbindungen, doch verbunden mit der nötigen Qualifikation. Grundsätzlich lasse sich daraus nicht darauf schließen, dass familiäre Beziehungen die immer bedeutsamer werdenden Ausbildungsqualifikationen obsolet gemacht hätten (242). Hinsichtlich der Ausbildung hatte sich seit dem 16. Jahrhundert ein juristisches Studium durchgesetzt, das in der Regel – aber nicht ausschließlich – an sächsischen Universitäten absolviert wurde (263). Der Adel holte hier rasch gegenüber bürgerlichen Räten auf und verknüpfte universitäre Bildung zunehmend mit Standesprivilegien. Einflüsse renommierter Reichsjuristen lassen sich – durch Studienaufenthalte und gelehrte Kontakte – bei verschiedenen adeligen Räten feststellen. Im reichsweiten Vergleich war die Dominanz des Adels im Rat in etwa vergleichbar mit Brandenburg-Preußen. Sie lag um mehr als das Doppelte höher als in Württemberg, jedoch unter den Zahlen für den kaiserlichen Geheimen Rat (289). Eine Einordnung der Untersuchung fällt ambivalent aus: Interessante Sachinformationen werden insbesondere in den ersten beiden Hauptabschnitten oft nicht sehr stringent präsentiert; sie sind häufig gerahmt von Redundanzen und Gemeinplätzen. Kapitel wie dasjenige zur politischen Theorie und zu Seckendorff (123–138) wirken nachgeschoben; der Umgang mit der älteren Forschung hätte durchweg reflektierter ausfallen müssen – und dies betrifft nicht allein die Wertungen der sächsischen Herrscher oder Termini wie „Versippung“ (zum Beispiel 60), sondern auch eine latente oder offene Orientierung an einem modernen Ressortprinzip der Verwaltung, vor deren Hintergrund die Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts notgedrungen als rückständig beziehungsweise als „Zuständigkeitswirrwarr“ (71) erscheinen müssen. Spezifisch frühneuzeitliche Rationalitäten und Praktiken hätte man durchaus ernster nehmen können (zum Beispiel 67, 76). Verbunden mit einer klareren Fragestellung und besseren Leserführung hätte die Arbeit damit gewonnen. Prof. Dr. Alexander Schunka Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstraße 20, 14195 Berlin, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 186–189 Andreas Müller Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651–1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 34), Münster: Aschendorff Verlag, 2017, 744 S., ISBN 978-3-402-15125-9, 69,00 EUR. Die Anwendung moderner sozialgeschichtlicher Fragestellungen auf die gesellschaftlichen Eliten der Frühmoderne hat dazu geführt, dass seit einigen Jahrzehnten der Blick der Forschung verstärkt auf den landsässigen Adel in den deutschen Territorien fällt. So sind unter anderem binnen weniger Jahre gleich mehrere Studien – zumeist als wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten – zum Adel des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen historischen Raumes Westfalen entstanden, vor allem von Elizabeth Harding über Landtag und Adligkeit am Beispiel der Ritterschaften der Hochstifte Münster und Osnabrück sowie der Grafschaft Ravensberg 1650 bis 1800 (Dissertation von 2008/09, erschienen 2011), von Bastian Gillner über den Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung von 1500 bis 1700 (Dissertation von 2009, erschienen 2011) und von Michael Lagers über den Paderborner Stiftsadel zur Mitte des 15. Jahrhunderts (Dissertation von 2011, erschienen 2013).1 Die hier zu besprechende Arbeit von Andreas Müller zur Ritterschaft des kurkölnischen Herzogtums Westfalen im Zeitraum zwischen dem Westfälischen Frieden von 1648 und der Säkularisation des Kurerzstifts Köln 1802/03, eine Paderborner Dissertation von 2006/07, reiht sich hier nahtlos ein. Eingebettet in die moderne sozialgeschichtliche Adelsforschung, die einleitend reflektiert wird, will Müller durch die Untersuchung der „herzoglich-westfälischen Ritterschaft der Frühen Neuzeit in ihrer Gesamtheit und über einen größeren Zeitraum hinweg […] wichtige Aufschlüsse über die Geschichte einer sozialen Elite dieser Epoche“ gewinnen (38). Die Wahl des zum Kurerzstift Köln gehörigen Herzogtums als Untersuchungsraum erscheint aufgrund seiner weitgehenden räumlichen Geschlossenheit bei gleichzeitigem Fehlen einer unmittelbaren territorialen Verbindung zum rheinischen Hauptteil des Kurerzbistums plausibel; die zeitliche Eingrenzung ausgehend von der Einführung der 16-Ahnen-Probe für die Zulassung zum Landtag des Herzogtums durch den Landdrosten Dietrich Daniel von Landsberg-Erwitte am 21. Juli 1651 (Abdruck, 642) bis zur Säkularisation des Kurerzstifts Köln und den Übergang des Herzogtums Westfalen an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt 1802/03 leuchtet unmittelbar ein. Die einleitend beschriebene Divergenz zwischen günstiger Quellenlage und mangelndem Forschungsinteresse wird wohl nicht ganz zu Unrecht mit dem Fehlen von landesgeschichtlichen Forschungsinstitutionen und Archiven begründet (20–23). Wie schon der Untertitel von Müllers Studie zeigt, nähert sich der Autor seinem Forschungsgegenstand mit einem personengeschichtlichen Ansatz über „Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie“. Im zweiten Kapitel nimmt Müller die allgemeine Geschichte des Herzogtums Westfalen von seinen Anfängen im achten Jahrhundert bis zum Ende in den Blick (39–64). Das erste konkret auf den Forschungsgegenstand bezogene dritte Kapitel beschreibt die landständische Verfassung
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und den ritterbürtigen Adel im Herzogtum Westfalen (65–147). Zentrale Themen sind die mittelalterliche Territorialisierung, die gleichzeitig einsetzende Entwicklung der Landstände und die Entstehung des ritterbürtigen Adels sowie die Ausbildung der territorialen Landtage. Ausführlich analysiert Müller die Teilnahme der Mitglieder der Ritterschaft auf den Landtagen und Quartalskonventen, wobei der wichtigste Befund in den für die Jahre 1730 bis 1733 ermittelten Zahlen für die Teilnahme am Landtag vorliegt: An den Landtagssitzungen dieser Jahre nahmen zwischen 64,6 und 76 Prozent aller Angehörigen der Ritterschaft teil, wobei die tägliche Anwesenheit in den einzelnen Sessionen der zwischen 14 und 20 Tagen dauernden Landtage niemals unter 43,1 Prozent aller Aufgeschworenen beziehungsweise 63 Prozent der am Landtag Teilnehmenden lag (128–133). Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem „Zugang zur Ritterschaft“ und nimmt die beiden Zulassungskriterien – adelige Geburt und Grundbesitz – in den Blick (149–288). Ausführlich geht Müller auf den ersten Aspekt ein. Im Herzogtum Westfalen ging die Einführung der Ahnenprobe als Zulassungskriterium zum Landtag im Jahr 1651 – ähnlich wie gleichzeitig im Hochstift Osnabrück – auf die Ritterschaft zurück; ähnlich wie in Osnabrück war auch die westfälische Ritterschaft im späten 18. Jahrhundert bestrebt, die Entstehung dieses Zulassungskriteriums in die 1580er-Jahre zu verlegen (149–151). Dem von Müller beschriebenen Zusammenhang zwischen der Ausbildung der 16-Ahnen-Probe bei den nordwestdeutschen Domkapiteln und den entsprechenden territorialen Ritterschaften ist dabei grundsätzlich zuzustimmen (168–170). Konkret beschreibt Müller die Entwicklung der Ahnenprobe der westfälischen Ritterschaft in einem eigenen Kapitel (190–212), auf das noch weitere Kapitel mit entsprechenden Einzelfällen folgen (unter anderem von Dücker 212–222, Werler Erbsälzer 222–240). Das zweite Kriterium – der Besitz eines in die ritterschaftliche Matrikel eingetragenen landtagsfähigen Gutes – kommt leider vergleichsweise kurz (265–283). Gerade diesen Aspekt hätte sich der Leser noch vertieft dargestellt gewünscht, handelt es sich dabei doch um das zentrale gemeinschaftliche Kriterium für die Landtagsberechtigung in Nordwestdeutschland auch in den Territorien östlich der Weser – etwa in den welfischen Territorien oder im Hochstift Hildesheim –, in denen es wohl zur Ausbildung einer Landtagsorganisation, aber nicht zur Entwicklung einer Ahnenprobe als Zugangsvoraussetzung gekommen war. Der Befund, dass im Herzogtum Westfalen nicht quantifizierbare Kriterien wie zum Beispiel Größe oder wirtschaftliche Leistungsfähigkeit die Landtagsfähigkeit eines Gutes konstituierten, sondern allein historische Zeugnisse, unterstreicht freilich den Charakter der Weser als Grenze zwischen zwei charakteristischen Adelslandschaften. Leider sind solche übergeordneten Aspekte der nordwestdeutschen Landesgeschichte in der Arbeit von Müller nicht in den Fokus genommen worden. Den umfangreichsten Teil der Arbeit Müllers macht mit 267 Seiten die Prosopographie (289– 555) aus. Für jeden der bei der westfälischen Ritterschaft aufgeschworenen Adeligen werden Familie und Lebensdaten, Aufschwörungsjahr, Zugehörigkeit zu anderen Ritterschaften, Eltern und Großeltern, Ehen, Ämter, Offiziersrang und eventuelle Zugehörigkeit zu einem Domkapitel aufgeführt. Die intensive Auswertung dieser Prosopographie (557–626) liefert zunächst statistisches Material zu 336 Adeligen aus 67 Familien, wobei bei einer – im Kontext dieser Arbeit sinnvollen – Berücksichtigung der einzelnen Linien dieser Geschlechter stattdessen von 101 Familien ausgegangen werden müsste. Viele dieser Familien waren nur mit einem oder zwei Angehörigen
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bei der westfälischen Ritterschaft aufgeschworen (etwa von der Asseburg, von Beringhausen oder von Heiden), andere hingegen mit vielen (vor allem von Wrede mit 22 Angehörigen, von Schade und von Fürstenberg zu Waterlappe mit jeweils 19 Angehörigen und von Hörde sowie von Weichs mit jeweils 16 Angehörigen). Die Familien mit einem bis vier Angehörigen machten 71,3 Prozent aller Familien, aber nur 37,2 Prozent aller Aufgeschworenen aus. Dies weist darauf hin, dass es innerhalb der ritterschaftlichen Korporation ebenso einflussreiche Familien gab wie politisch und wohl auch sonst irrelevante Familien. Chronologische Querschnitte zeigen, dass dieses Übergewicht einiger Familien in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht gegeben war, sondern sich im Lauf des 18. Jahrhunderts entwickelte. Im Jahr 1661 waren 56 Adelige aus 49 Familien aufgeschworen; 1731 waren es 50 Adelige aus noch 36 Familien, 1801 dann 61 Adelige aus nur noch 33 Familien (545). Räumlich stammte der weitaus größte Teil der Mitglieder der westfälischen Ritterschaft – wie nicht anders zu erwarten – aus Westfalen (308 Adelige aus 87 Familien), einige wenige vom Niederrhein (17 Adelige aus acht Familien) oder von anderswo (elf Adelige aus sechs Familien) (568– 575). Unter den westfälischen Adelsfamilien machte wiederum – auch dies überrascht nicht – der eingesessene Adel des Herzogtums Westfalen den größten Anteil aus (55 Familien), gefolgt von dem des Hochstifts Münster (elf Familien), der benachbarten Grafschaft Mark (zehn Familien) und des Hochstifts Paderborn (acht Familien). Diese Befunde überraschen nicht; ein großes Verdienst von Müllers Arbeit besteht jedoch darin, entsprechende Vermutungen mit soliden Zahlen hinterlegt zu haben. Ferner sind interne Verflechtung (Verwandtschaft und Heirat), zivile und militärische, weltliche sowie geistliche Ämter und die Zugehörigkeit zu anderen Ritterschaften Aspekte, die Müller näher beleuchtet. Eine Besonderheit stellt Graf Johann von Rietberg-Ostfriesland (1618–1660) dar, der 1652 bei der Ritterschaft des Herzogtums Westfalen aufgeschworen wurde (478–480) – ein Umstand, der allerdings unerklärt bleibt. Ein äußerst nützlicher Anhang (635–744) bietet neben Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personenregister vor allem eine Karte des Untersuchungsgebietes mit den regionalen Verwaltungseinheiten, eine Zeittafel von 795 bis 1816, Graphiken zur Veranschaulichung der Organisation von Verwaltung und ständischer Verfassung des Herzogtums im Kontext des Kurerzstifts, Listen der Landdrosten des Herzogtums und der ritterschaftlichen Deputierten, Editionen zentraler Quellentexte sowie eine alphabetische Liste sämtlicher 336 Aufgeschworener. Einige kleinere bei der Lektüre aufgefallene Ungenauigkeiten betreffen heutige niedersächsische Gebiete und seien korrigiert: Das vom Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg eingeführte Adelsstatut, wofür dieser 1501 eine päpstliche Bestätigung erwirkte, war auch für die Diözesen Hildesheim und Paderborn gültig, weil es sich nicht nur auf die Diözese Mainz (so 158, Anm. 20), sondern auf die Kirchenprovinz Mainz bezog. Ferner führte das Osnabrücker Domkapitel die 16-Ahnen-Probe nicht erst im Lauf des 17. Jahrhunderts ein (164), sondern praktizierte diese bereits spätestens seit 1591. Solche Kleinigkeiten fallen jedoch nicht weiter ins Gewicht. Es ist allerdings leider zu vermuten, dass die im Vorwort (11) erwähnte Kürzung des ursprünglichen Manuskripts für die Drucklegung zulasten der ersten drei Teile des Werkes erfolgt ist und dadurch wichtige Informationen zur organisatorischen und strukturellen Gestalt der westfälischen Ritterschaft dem Leser und der Leserin vorenthalten bleiben. Ungeachtet dessen bleibt
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festzuhalten, dass Müllers beeindruckendes Werk einen wichtigen Baustein zur westfälischen Ständegeschichte in der Frühen Neuzeit darstellt, den vergleichbare künftige Studien zum Maßstab nehmen müssen. 1
Elizabeth Harding: Landtag und Adligkeit. Ständische Repräsentationspraxis der Ritterschaften von Osnabrück, Münster und Ravensberg, 1650 bis 1800 (Westfalen in der Vormoderne 10), Münster 2011; Bastian Gillner: Freie Herren – Freie Religion. Der Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung 1500 bis 1700 (Westfalen in der Vormoderne 8), Münster 2011; Michael Lagers: Der Paderborner Stiftsadel zur Mitte des 15. Jahrhunderts: Untersuchungen zum Auf- und Ausbau niederadliger Machtstrukturen (Studien zur westfälischen Geschichte 74), Bielefeld 2013.
Dr. Christian Hoffmann Niedersächsisches Landesarchiv, Am Archiv 1, 30169 Hannover, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 189–191 Andreas Flurschütz da Cruz Hexenbrenner, Seelenretter. Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (1573–1617) und die Hexenverfolgungen im Hochstift Würzburg (Hexenforschung 16), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2017, 256 S., 15 sw. und 5 farb. Abb., ISBN 978-3-7395-1086-6, 24,00 EUR. Die historische Forschung zur Frühen Neuzeit in Stadt und Bistum Würzburg war 2017 geprägt von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person und Regierungstätigkeit des Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn (reg. 1573–1617) – angeregt durch dessen 400. Todestag. In diesem Umfeld widmet Flurschütz da Cruz dem Phänomen der Hexenverfolgungen und Hexereiprozesse im Hochstift Würzburg in der Regierungszeit des Bischofs Julius Echter eine eingehende Studie. Er macht sich zur Aufgabe, „auf der Grundlage der Quellen einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die Ereignisse sowie auf deren maßgebliche Akteure und Faktoren zu werfen“ (12). Fern der auch heute noch mit dem Thema verbundenen Emotionalität und gesellschaftspolitischen Brisanz weist der Autor richtigerweise darauf hin, dass es für das Verstehen und die Beurteilung der Hexenprozesse unabdingbar sei, auf der Grundlage der Vorstellungswelt der betroffenen Zeit und der darin geltenden Realitäten zu argumentieren und falsche Analogien zu späteren – aufgeklärten – Vorstellungswelten zu vermeiden. In einer recht umfangreichen Hin- und Einführung ist es dem Autor daher wichtig, sich umfassend dem Phänomen „Hexerei“ zu nähern und mit Blick auf die bisherige Forschung die Rolle Bischof Julius Echters mit Bezug auf die Hexenverfolgungen im Hochstift Würzburg zu skizzieren. Er legt dar, dass es eine nahezu allgemeine, in der magischen Volkskultur verankerte Über-
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zeugung der Zeitgenossen war, dass Hexen existierten und dass von diesen und von Zauberern reale Gefahren (Unwetter, Epidemien et cetera) ausgingen, dass es aber auch Mittel und Wege gebe, diese eindeutig zu identifizieren. Um 1600 entstand – basierend auf einer umfassenden Hexenlehre – ein neuer Begriff der Hexerei. Diese wurde nicht mehr als zu ahndender Aberglaube gesehen, sondern war genereller Konsens geworden. Das Delikt der Hexerei wurde zum Ausnahmeverbrechen erklärt, weshalb man auch die entsprechenden Prozesse außerhalb des üblichen rechtlichen Rahmens führen konnte. Dem Autor geht es vor allem darum, sich der Person des Bischofs Julius Echter und dessen tatsächlicher persönlicher Rolle in den Hexenprozessen zu nähern. Warum ließ er die Hinrichtungen zu und warum kam es vor allem am Ende seiner Amtszeit dazu? Flurschütz da Cruz nimmt mit Bezug zur gerade für das Hochstift Würzburg in den letzten Jahren verstärkt geführten wissenschaftlichen Beschäftigung mit „Hexerei und Zauberei“ für sich in Anspruch, „erstmals eine umfassende thematisch fokussierte Kontextualisierung dieses Herrschers in seiner Zeit“ (30 f.) zu versuchen. Dabei betont er besonders, dass der Bischof nicht absolut handeln konnte, sondern sein Handeln eingebunden war in ein komplexes System von herrschaftlichen und regionalen Loyalitäten und Konkurrenzen; Entscheidungen waren häufig Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses des Aushandelns. Scheinbar im Widerspruch stehen dabei die Erkenntnis, dass die Regierungszeit des Bischofs Julius Echter einerseits einen Höhepunkt der Verstaatlichungs- und Zentralisierungstendenzen im Hochstift Würzburg darstellte und dass versucht wurde, durch eine Vielzahl von Mandaten und Verordnungen die Lebenswelt der Untertanen umfassend zu regulieren, und andererseits die Beobachtung, dass es sicherlich keinen „obrigkeitlichen Gesamtplan“ (51) für die Hexenverfolgung gab, sondern deren Ursachen eher auf der lokalen beziehungsweise regionalen Ebene zu suchen seien. Ausgehend von der auch innerhalb des Hochstifts Würzburg sehr unterschiedlichen regionalen Verbreitung des Phänomens Hexenprozesse und dem Wissen, dass die Bezichtigungen in aller Regel aus den Untertanenkreisen selbst kamen, ist es eine wichtige, aber nicht neue Erkenntnis, dass lokale Macht- und Beziehungsgefüge häufig vorentscheidend für das Zustandekommen von Prozessen waren, letztlich das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Akteure auf den unterschiedlichsten Ebenen (Fürst, geistliche und weltliche Regierung, regionale Amtsträger, Zentgraf und vor allem Zentschöffen) Maßnahmen wie Hexenverfolgungen ermöglichten, unterbanden oder zumindest erschwerten. So wird der frühneuzeitliche Herrschaftsverband gesehen als ein polyzentrales System, das auf der Mitwirkung und dem Konsens vieler, im Idealfall aller, beruhte (51). Geleitet von diesen Prämissen, untersucht Flurschütz da Cruz in elf Kapiteln Konstellationen, Akteure und Faktoren, die sich allgemein auf die Regierung des Bischofs, aber auch speziell auf die Hexereiprozesse in dessen Zeit auswirkten, um mögliche Zusammenhänge aufzuzeigen: die Verschlechterung des Klimas (kleine Eiszeit, heftige Unwetter) und daraus folgende negative soziale und wirtschaftliche Folgen, die Einflüsse verschiedener Personen oder Personengruppen (der Familie Echters, weltlicher Beamter und Berater in den Ämtern beziehungsweise der Zentrale, geistlicher Ratgeber, Freunde und des Nachfolgers Johann Gottfried von Aschhausen), die Einflüsse aus benachbarten Territorien beziehungsweise von deren Landesfürsten (unter anderem den Hochstiften Bamberg, Mainz, Trier und Köln, dem Kurfürstentum Bayern und der
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Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth-Ansbach), die Rolle der Bevölkerung des Hochstifts und deren Haltung in der Hexenfrage, das über zeitgenössische Publikationen vermittelte Wissen in der Hexenfrage sowie die gesteigerte Marienfrömmigkeit in jener Zeit – der Madonnenkult als Umkehrseite des Hexenwahns. Die Frage nach dem Zusammenhang von Gegenreformation und Hexenverfolgung beantwortet Flurschütz da Cruz damit, dass konfessionelle Auseinandersetzungen nicht ausschlaggebend für Verfolgungen gewesen seien, dass dadurch aber das gesellschaftliche Krisenempfinden verstärkt worden sei. Schließlich versucht sich der Autor dem frühneuzeitlichen Charakter des Julius Echter zu nähern. Er trägt dabei etliches tatsächlich oder vermeintlich entlastendes Material zusammen, wie etwa dessen Mandate gegen den Missbrauch von Hexenprozessen oder die von Julius Echter vorgenommenen „Milderungen“ von Urteilen. Er kommt zu dem Schluss, dass es verfehlt sei, Echter in die Reihe der „Hexenbrenner“ einzureihen (159) und dass in vergleichender Perspektive Hexenprozesse in der Echter-Zeit eher die Ausnahme denn die Regel waren, was maßgeblich der kritischen Haltung des Landesherrn zugeschrieben werden dürfe. Die These vom späten radikalisierten Echter lehnt der Autor völlig ab. Die Tatsache, dass es in der Spätphase des Fürstbischofs zu vielen Hexenprozessen kam, erklärt Flurschütz damit, dass nicht nur der Bischof ein anderer, älterer geworden sei, dem die Regierungsgewalt über sein großes Hochstift zu entgleiten drohte (203), sondern sich auch die Einstellung der Bevölkerung gewandelt habe, ein fester Hexenglaube und damit auch ein größerer Verfolgungsdruck entstanden sei. Damit wird noch einmal eine auf den Detailstudien vor allem von Robert Meier basierende These des Autors deutlich, dass der Schlüssel zu den Hexenprozessen nicht etwa ein großer Plan des Landesherrn gewesen sei, sondern in der jeweils spezifischen Konstellation zwischen der Bevölkerung, den lokalen Amtsträgern und den Bezichtigten vor Ort liege. So erklären sich dann auch Phänomene wie etwa, dass in unterschiedlichen Orten beziehungsweise Ämtern des Hochstifts gleichartige Hexereivorwürfe zum einen zu Freisprüchen und zum anderen zu Todesurteilen und Hinrichtungen führen konnten. Flurschütz da Cruz ist es ein wichtiges Anliegen, zu differenzieren und die Hexenprozesse als multikausales Ereignis darzustellen, als ein je nach Zeit, Ort und Beteiligten gesondert zu betrachtendes Phänomen. Mit Bezug zur Person des Regenten Julius Echter plädiert der Autor für eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten weg vom Fürstbischof als Hexenbrenner hin zu einer dem Hexenwahn verfallenen Bevölkerung, die in Kooperation mit verfolgungswilligen und profilierungssüchtigen hochstiftischen Beamten Hexenprozesse maßgeblich vorangetrieben habe. Er negiert damit nicht die Verantwortung Julius Echters für das, was in seinem Hochstift geschah, und dessen Verwicklungen und Beteiligungen an den verschiedensten Prozessen. Er relativiert diese aber, indem er betont, der Fürstbischof sei eben nur eine, wenn auch gewichtige, oft jedoch relativ spät eingeschaltete Instanz im Verlauf eines Hexereiprozesses gewesen. Dr. Klaus Rupprecht Staatsarchiv Würzburg, Residenzplatz 2, 97070 Würzburg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 192–193 Holger Zaunstöck, Brigitte Klosterberg, Christian Soboth, Benjamin Marschke (Hg.) Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen (Hallesche Forschungen 48), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 2017, 239 S., ISBN 978-3-447-10961-1, 68,00 EUR. Das Ziel des Bandes, der aus einem 2013 am Internationalen Zentrum für Pietismusforschung veranstalteten Symposion hervorging, besteht darin, „ein nuancenreicheres Bild der wechselseitigen Beziehungen zwischen Pietismus und Preußen zu zeichnen“ (IX), das die Ansätze der klassischen Studien von Carl Hinrichs und Klaus Deppermann insbesondere unter Nutzung der Netzwerkforschung weiterführen soll. Die Beiträge des Bandes sind in vier Blöcke gegliedert: Zunächst ist dies das Kapitel „Berufungen und Institutionen“, in dem Marianne Taatz-Jacobi (3–17) zeigt, dass die Berufung von August Hermann Francke nach Halle längst nicht so reibungslos ablief, wie die ältere Forschung bis jetzt dachte, Claudia Drese (19–35) erklärt, weshalb der als „Franckes Kronprinz“ gehandelte Theologe Johann Daniel Herrnschmidt in Vergessenheit geriet, und endlich Antje Schloms (37–55) ein differenziertes Bild der Gründungsgeschichte des Waisenhauses in Züllichau durch den armen Handwerksmeister Steinbart zeichnet. Im zweiten Block beleuchtet Mathias Müller (57–79) erneut die Beziehungen zwischen dem Berliner Hof und A. H. Francke im Lichte des Briefwechsels zwischen Spener und Francke, hinterfragt Hans-Jürgen Schader (81–101) die „Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik“ und zeigt so nebenbei, wie wichtig bei dieser Frage politisches Kalkül war, und erörtert Frank Göse (103–121) die „politischen Einflüsse“ Halles auf die gehobene Adelsbürokratie, am Hof und in den ländlichen Regionen – ohne allerdings unserem Kenntnisstand allzu viel Neues anzufügen. Im dritten Teil beschreibt Terence McIntosch (125–135) anhand der Analyse von A. H. Franckes Bearbeitung von Johann Ludwig Hartmanns „Pastorale Evangelicum“, das 1741 von seinem Sohn Gotthilf August Francke zum Druck befördert wurde, und arbeitet damit zugleich ein wesentliches Grundanliegen A. H. Franckes – die Verschärfung der Kirchenzucht – scharfsinnig heraus, während im folgenden Beitrag Jürgen Overhoff (137–151) die Gründe beschreibt, die Friedrich I., König in Preußen, veranlassten, Christian Wolff als Professor an der halleschen Universität zu entlassen, dies relativ schnell zu bereuen und damit seinem Sohn zu ermöglichen, Wolff wieder nach Halle zurückzuberufen. Der letzte Beitrag dieses Teils ist den „militärischen Bildern in der Theologie August Herrmann Franckes“ gewidmet. Der Autor, Peter James Yoder (153–165), zieht das Fazit, dass Francke sich zwar um das Seelenheil seiner Zuhörer kümmerte, aber die „Verwendung militärischer Bilder vor dem Hintergrund des historischen Kontextes“ (166) nicht hinterfragte und damit späteren Zeiten die Möglichkeit zu Fehlinterpretationen eröffnete. Dieser Abschnitt wird abgerundet mit Malte van Spankerens (167–178) Erklärung, weshalb Herrnschmidt, dem schon im ersten Teil des Bandes ein Beitrag gewidmet war, in Vergessenheit geriet – weil er sich in seinem ersten Hauptwerk der Frage nach den Leiden, Tugenden und Aufgaben des „frommen Soldaten“ widmete, einer The-
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matik, die spätere hallesche Theologen sorgfältig umgingen (176). Die drei Aufsätze im vierten Teil sind eher ein historiographischer, prosopographischer und elegischer Abgesang: Christoph Schmitt-Maaß (181–201) vertieft sich in „Leichen- und Huldigungspredigten“ in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Andreas Pečar (203–213) revidiert das Bild Friedrichs I. in der Historiographie Friedrichs II. und Tim Petersen (215–234) blickt mit den Augen des Ökonomen Wilhelm Roscher (1817–1894) auf A. H. Francke und den Pietismus zurück. Wie immer, wenn man die Beiträge eines Symposion-Bandes näher betrachtet, werden Licht und Schatten sichtbar, treten Stärken und Schwächen hervor und drängt die Frage nach dem Grundgedanken des Symposions in den Vordergrund. Nach der sehr knappen Einleitung war dies insbesondere die Leistungsfähigkeit der Netzwerkforschung. In einigen Aufsätzen wurde in der Tat nach der Bedeutung und Funktion von Netzwerken für den Halleschen Pietismus gefragt: Vertiefende Analysen vor allem auch unter Berücksichtigung der Bedeutung von Methodik und Leistungsfähigkeit von Netzwerken fehlen jedoch. Die von Göse angekündigte Ausweitung der Netzwerke über höfische, adelige und städtische Eliten hinaus auf das Land bleibt in Ansätzen stecken und die Frage, was die Netzwerkforschung leistet, bleibt in alten Feststellungen stecken. Schade. Prof. Dr. Hermann Wellenreuther Göttingen
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 193–196 Petrus A. Bayer Konfessionalisierung im klösterlichen Umfeld. Die Entwicklung frühneuzeitlicher Religiosität in den Pfarren des Stiftes Schlägl (1589–1665) (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 164), Münster: Aschendorff, 2017, 336 S., 4 sw. Abb., 1 Kte., ISBN 978-3-402-11589-3, 49,00 EUR. Warum bildete sich in einem Teil Oberösterreichs, im Mühlviertel, bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine homogene katholische Gesellschaft heraus, während zur gleichen Zeit in den benachbarten Regionen unter derselben habsburgischen Landeshoheit der Protestantismus immer noch verbreitet war? Und welchen Anteil hatte das hier ansässige Prämonstratenserstift Schlägl an dieser signifikanten Sonderentwicklung? Petrus A. Bayer geht in seiner Dissertation dieser zugleich regional- wie kirchengeschichtlichen Fragestellung für den Zeitraum von 1589, der Einsetzung eines ersten dezidiert reformerisch agierenden Priors, bis zum Jahr 1665, dem Todesjahr des als zweiter Gründer Schlägls verehrten herausragenden Abtes Martin Greysing, nach. Der Anfang dieses Zeitraumes – in anderen Gegenden des Reiches, auch etwa im habsburgischen Schwaben, hatte die katholische Reform schon längst ihre Wirkungen entfaltet – sieht das Stift
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Schlägl vor dem ökonomischen und personellen Untergang: Die Verschuldung war erdrückend, Prämonstratenser aus dem Prager Strahov hielten die fast ganz verwaiste Propstei am Leben, die Disziplin des Klerus in den Pfarreien des Stiftes (und im Stift selbst) war miserabel, protestantische Untertanen gab es allerorten, und insgesamt war die religiöse Lage durch ein „Konfessionskonglomerat“ (214) gekennzeichnet. 76 Jahre später hatte sich die Situation grundlegend verändert. Schlägl – 1657 zur Abtei erhoben – erblühte, der Klerus lebte zölibatär und kann insgesamt als ‚tridentinisch‘ gelten, und auf dem Gebiet seiner Grundherrschaft beziehungsweise in den ihm inkorporierten Pfarreien entfaltete sich das volle Programm barocker Frömmigkeit mit Wallfahrten, Heiligenverehrung und Bruderschaften: Die katholische Konfessionalisierung war – je nach Gesichtspunkt – erfolgreich abgeschlossen oder in voller Fahrt. In seiner Einleitung arbeitet Bayer eine ganze Reihe von Gründen heraus, weshalb die Entwicklung eigentlich auch im nördlichen Oberösterreich das Überleben des Protestantismus hätte begünstigen müssen. Mit der oft kolportierten Auffassung der älteren Forschung möchte er sich nicht zufriedengeben, wonach die Protestantenvertreibungen beziehungsweise -emigrationen des 17. Jahrhunderts im Mühlviertel schlicht keine Andersgläubigen mehr übriggelassen hätten – auch wenn dies ein Faktor gewesen sei. Das monokausale Narrativ ist für Bayer insofern symptomatisch, als in der Forschung die Geschichte der Konfessionalisierung im Land ob der Enns hauptsächlich aus protestantischer Sicht dargestellt und auf eine Unterdrückungsgeschichte reduziert werde. Ebenso gelte das historische Interesse vor allem den Aufständen und Rebellionen in der Gegend, die, selbst wenn sie vorwiegend sozial motiviert waren, mit religiösem Widerstand gleichgesetzt würden. Bayers Kritik lässt sich nach einer Sichtung der einschlägigen Forschungsliteratur nicht von der Hand weisen. Das Problem liegt jedoch – abgesehen von der immer mit zu bedenkenden Standortgebundenheit des jeweiligen Historikers – auch an den zur Verfügung stehenden Quellen. Denn die Überlieferung gestattet keine gleichsam ausgewogene Sicht ‚von unten‘: Widerständigkeit generiert eine – inklusive Ego-Dokumenten – prinzipiell ungleich reichhaltigere Überlieferung als angepasstes Verhalten, dem womöglich zudem geringere Authentizität unterstellt wird. Die Quellen, auf die in der Studie erstmals systematisch zurückgegriffen wird, insbesondere die zwischen 1630 und 1665 von den klösterlichen Offizialen an den häufig in Geschäften abwesenden Abt Greysing geschickten Relationen, können diesen Mangel auch teilweise kompensieren, und gerne hätte man über den „religiösen Alltag der grundherrschaftlichen Untertanen“ (27), in den neben anderen Quellen diese Berichte Einblick gewähren, in der Studie noch mehr Konkretes erfahren (zum Beispiel in Kapitel 2.6.: „Katholische Frömmigkeit“). Einer weiteren, ebenfalls geläufigen Perspektivenverengung tritt der Autor mit seiner Untersuchung zu Recht und mit Erfolg entgegen. Denn der Beitrag der alten Orden zur katholischen Reform beziehungsweise Konfessionalisierung werde häufig, zumal in den Handbüchern, marginalisiert. Dabei beschönigt Bayer die trotz einzelner Reformer wie Jean Despruets oder Servatius de Lairuelz desolate Situation des Prämonstratenserordens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht. Man gewinne aber den Eindruck, die Reformorden allein hätten die Wende bewerkstelligt, während Orden wie die Prämonstratenser keine vergleichbare Initiative entwickelten. Das ist sicher in dieser Pauschalität nicht zutreffend, und doch verdankt sich gerade die Wiederbelebung
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der Schlägler Spiritualität ganz entscheidend der personellen Regeneration durch Absolventen des Krumauer Jesuitengymnasiums, das auch der aus Vorarlberg stammende Martin Greysing besucht hatte. Bayer selbst nennt den Konvent in diesen Jahrzehnten „ausgesprochen jesuitisch geprägt“ (57). Dagegen gelingt just die Etablierung eines spezifisch prämonstratensischen Norbertus-Kultes als Projektion tridentinisch-eucharistischer Frömmigkeit seit den 1630er-Jahren nicht: Norbert wird kein volkstümlicher Heiliger, wofür unter anderem die Seltenheit des Taufnamens unter den Stiftsuntertanen angeführt werden kann. Eine bedenkenswerte Perspektive eröffnet Bayer auch in der Sicht auf die nachtridentinischen Konflikte um bischöfliche Jurisdiktionsrechte beziehungsweise klösterliche Exemtionen. Grundsätzlich hatte ja das Konzil die Stellung der Bischöfe zu stärken getrachtet, während sich beispielsweise die Klöster insbesondere in den ihnen inkorporierten Pfarreien gegen bischöfliche Visitationen nachdrücklich, im Falle Schlägls mit vollem Erfolg wehrten. Nun dürfe man dies aber nicht als Widerspruch zum ‚Geist‘ des Konzils zum Zweck bloßer Besitzstandswahrung werten, denn die Behauptung der Rechtsinstitutionen habe überhaupt erst die Voraussetzung für effiziente Reformmaßnahmen durch das Stift geschaffen. Speziell im Mühlviertel habe dagegen der Passauer Ordinarius über keinerlei weitere Rechte verfügt und eine schwache Stellung besessen. War es da nicht ohnehin sinnvoller, dem Schlägler Klosteroberen die Visitationsrechte zu lassen? Möglicherweise – tatsächlich erkennen lässt sich jedenfalls aus Bayers Studie, dass die gleichzeitige Verfügung über grundherrschaftliche Rechte (so in den beiden Rodungspfarreien Aigen und Ulrichsberg [66]) und das Fehlen fremder Vogteirechte die Konfessionalisierung durch das Stift begünstigte. Schließlich, als die wenigen Protestanten praktisch nicht (mehr) über alternative seelsorgliche Strukturen verfügten, so Bayer resümierend, habe die katholische Konfession – die „katholischen Frömmigkeitsvollzüge“ (198) – angesichts der existenziellen Nöte während des Dreißigjährigen Krieges für die Menschen auf ihrer Suche nach Alltagsbewältigung und Sinn größere „Plausibilität“ erhalten (198, 215 und 302) – oder mit anderen Worten: Es sei zu einer „schrittweisen Assimilierung der verbliebenen Protestanten mangels pastoraler Betreuung“ gekommen (302). So werden sich dergleichen Homogenisierungsvorgänge letztlich allenthalben abgespielt haben, auch wenn die Beweisführung auf der individuellen Ebene mangels Quellen in der Regel unmöglich sein dürfte. Aber ist damit auch der Beweis erbracht für die Bedeutung des ‚alten‘ Ordens der Prämonstratenser und speziell die des Stiftes Schlägl für die konfessionelle Festigung des Mühlviertels? Zum Teil gewiss, doch beispielsweise in der Folge des ‚Bauernaufstandes‘ von 1598 ging die Vertreibung oder Emigration von Protestanten im Stiftsgebiet auf das Einschreiten des Landesherrn zurück; und auch einzelne adlige Herrschaften hatten die „Rebellen“ bekämpft (143). Um den kritischen Einwand als Frage allgemeiner zu formulieren: Ließe sich die konfessionelle Homogenität eines Gebietes mit einer Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsträger und Akteure – einschließlich der Untertanen – nicht noch besser erklären, wenn man die Konfessionalisierung als ein multilaterales ‚Projekt‘, als konfessionspolitisches Interagieren mit, je nach Handelnden, verschiedenartigen Schwerpunkten und Methoden beschriebe? Dass dem Prämonstratenserstift Schlägl in diesem ‚Konzert‘ für das Mühlviertel eine hervorragende Rol-
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le zukam, hat Petrus A. Bayer in seiner quellengesättigten, reflektierten und anregenden Studie überzeugend nachgewiesen. Sie ist zugleich ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der alten Orden und deren Leistungen für die Konfessionalisierung. Prof. Dr. Dietmar Schiersner Pädagogische Hochschule Weingarten, Fach Geschichte, Kirchplatz 2, 88250 Weingarten, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 196–198 Robert Rebitsch (Hg.) 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2017, 229 S., ISBN: 978-3-205-20413-8, 25,00 EUR. Der 400. Jahrestag des Prager Fenstersturzes hat zahlreiche Publikationen angeregt, die sich allerdings oft nur knapp mit dem eigentlichen Ereignis und seinem engeren Kontext beschäftigen. Tatsächlich begann der Dreißigjährige Krieg nicht nur in Prag, sondern er kulminierte 1648 militärisch ein letztes Mal dort, während in Münster und Osnabrück der Frieden zur Unterzeichnung gebracht wurde. Das macht den Krieg von seinem Ausbruch bis zu seinem Ende auch zu einem Ereignis der böhmisch-tschechischen Landesgeschichte. Es ist das Verdienst von Robert Rebitsch, durch diese und eine weitere Publikation zum Jahr 1648 auf die regionale Dimension ebenso wie auf die Dichte der Ereignisse am Anfang und am Ende des Dreißigjährigen Krieges hingewiesen zu haben.1 Der Sammelband zum Kriegsbeginn beschränkt sich aber nicht auf das Jahr 1618 und das Geschehen in Prag. Die ersten fünf Beiträge beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die Kontexte und Konfliktkonstellationen im Umfeld des Kriegsausbruchs: Michael Rohrschneider blickt auf die „europäischen Konfliktfelder um 1600“. Ihm zufolge war das Heilige Römische Reich nicht nur selbst spannungsgeladen, sondern befand sich im Zentrum von „neuralgischen Zonen“: Der habsburgisch-französische Gegensatz, der spanisch-niederländische Krieg, der Aufstieg Schwedens oder die Frontstellung der Habsburger zum Osmanischen Reich prägten Europa und entfalteten mit fragilen Räumen wie Italien, der Eidgenossenschaft oder eben dem Reich eine fatale Wechselwirkung. Die Herrschaftskonglomerate der zusammengesetzten Monarchien (composite monarchies) sowie hegemoniales Denken ergaben im multipolaren Europa der entstehenden Staaten eine gefährliche Mischung. Rohrschneider widerspricht dennoch der Vorstellung, Europa und das Reich seien zwangsläufig in den großen Krieg geschlittert, und weist auf die Beispiele erfolgreicher Einhegungen und Beilegungen von Konflikten hin. Axel Gotthard stellt die Frage nach den Kriegsursachen fokussiert auf das Heilige Römische Reich. Seine Verfassungsgrundlagen, insbesondere der Augsburger Religionsfrieden von 1555, brauchten laut Gotthard in ihrer Uneindeutigkeit den ständigen politischen Konsens. Als dieser
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nicht mehr hergestellt werden konnte, eskalierte die Situation. Als Grund dafür sieht Gotthard eine konfessionelle Blockbildung, bei der die gegenseitigen Wahrheitsansprüche und der wechselseitige Eindruck ständiger Bedrohung aufeinanderprallten. Das Bild von der durchgängig konfessionalisierten Gesellschaft gerät mitunter holzschnittartig, so wenn Gotthard entgegen aktueller Forschung konstatiert, „Heiraten über Konfessionsgrenzen hinweg“ habe es „so gut wie keine gegeben“ (48).2 Er liefert aber ein schlüssiges Modell vom Dreißigjährigen Krieg als Konfessionskrieg, bei dem sich die Faktoren nicht einfach addierten. Vielmehr erscheinen die juristischen und politischen Faktoren als Pulverfass, die konfessionelle Situation jedoch als Lunte, welche die Explosion herbeiführte. Die beiden im Hinblick auf die konfessionelle Blockbildung symptomatischen Bündnisse, die 1608 gegründete Protestantische Union und die 1609/10 gegründete Katholische Liga, thematisieren Stefan Ehrenpreis beziehungsweise Michael Kaiser. Ehrenpreis ordnet die Union in die lange Geschichte reichsständischer Bündnisse ein und zeichnet die kurze Geschichte ihrer Organisation und ihres Verlaufs nach. Es war keine Union aller Protestanten und sie geriet rasch in den Sog der ehrgeizigen Interessen ihres Direktors, des Kurfürsten von der Pfalz und seit 1619 böhmischen Gegenkönigs Friedrich V., und löste sich folglich 1621 auf. Auch für die wesentlich länger existierende Katholische Liga, die formell erst 1635 ihr Ende fand, galt nach Ehrenpreis, dass sie im Wesentlichen unter dem Einfluss eines Mannes und seiner Interessen stand, nämlich Maximilians I. von Bayern, der nach der böhmischen Revolte die pfälzische Kurwürde erhielt. Michael Kaisers Fazit zur Liga, dass das konfessionelle Bündnis in seiner Entstehung ein Ergebnis von Angst und Misstrauen gewesen sei, an dessen Ende die Erkenntnis gestanden habe, dass ein konfessionelles Bündnis keine Sicherheit herstellen konnte, gilt schlussendlich auch für die Union. Interessenkonflikte verliefen durch die konfessionellen Lager hindurch ebenso wie durch Dynastien. Lothar Höbelt verfolgt die innerhabsburgischen Querelen, die mit dem Tod Rudolfs II. 1612 nur vordergründig beendet waren, und erinnert an ihren Anteil an der Instabilität dieser Jahre. Er macht zugleich deutlich, dass die Kaiser Matthias und Ferdinand II. eigentlich in einer komfortablen Position und in ihrer Herrschaft nie ernsthaft bedroht waren. Die Beiträge von Jan Kilián und Robert Rebitsch widmen sich schließlich dem eigentlichen Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Kilián ordnet den Prager Fenstersturz in die komplexe konfessionelle Situation in Böhmen mit ihrer hussitischen Vorgeschichte ein. Rechtliche und politische Auseinandersetzungen hätten zusammen mit der konfessionellen Spannung zwischen den katholischen Habsburgern und einer immer selbstbewusster auftretenden katholischen Geistlichkeit einerseits und den evangelischen Untertanen andererseits auch in Böhmen eine zunehmend explosive Mischung ergeben, die sich keineswegs erst mit der Wahl Ferdinands II. zum König aufgebaut habe. Kilián zeichnet minutiös den Weg von den Auseinandersetzungen um die evangelischen Kirchen in Braunau und Klostergrab hin zur Eskalation der Defenestrierung zweier kaiserlicher Statthalter und ihres Sekretärs durch böhmische Ständevertreter nach und macht dabei auch die Rolle von Kaiser Matthias als zentralem Akteur des Kriegsausbruchs deutlich. Bevor aber am Ende die Waffen hätten sprechen können, habe es der militärischen Organisation bedurft, denn auf ein kriegsbereites Heer habe keine der beiden Seiten zurückgreifen können. Geldaufbringung sei von Anfang an der entscheidende Faktor gewesen, der den Krieg dann 30 Jahre
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lang begleiten sollte. Die böhmischen Rebellen scheiterten daran. Die Bündnissysteme spielten auf beiden Seiten eine zentrale Rolle; für die Habsburger wurden sie zum Schlüssel des raschen Erfolgs bei der Niederschlagung des Aufstands. Damit seien jene Verflechtungen entstanden, die den Krieg über den lokalen Aufstand hinaus am Leben halten sollten. Das Buch richtet sich nach dem Anspruch des Herausgebers „an ein breites, am Dreißigjährigen Krieg interessiertes Lesepublikum“ und intendiert keine „akademisch umfassende Diskussion des Forschungsstandes“ (13). Es handelt sich allerdings nicht um eine konzise Einführung. Die Beiträge werfen Schlaglichter auf das Thema, die nicht unbedingt ein schlüssiges Gesamtbild ergeben, auch wenn Rebitsch sie in der Einleitung zusammenführt. Darüber hinaus liefert er dort eine scharfsinnige Analyse des Kriegsausbruchs, welche die Parallelen zwischen der Situation in Böhmen und im Reich aufzeigt, die es als nicht zufällig erscheinen lassen, dass der Krieg gerade in Prag ausbrach. Für einen Leser, der nicht eine gewisse Kenntnis der Ereignisse mitbringt, bietet sich das Buch nicht an. Trotz des von Rebitsch formulierten Anspruchs setzen die Autoren einiges voraus und verzichten nicht durchweg auf Forschungssprache. Gotthard und Höbelt bedienen sich einer oft sehr launigen Terminologie und springen in ihren Erläuterungen quer durch die Jahrhunderte, mitunter bis in die Moderne und zurück. Die strukturellen Faktoren sind weitgehend auf die politischen, verfassungsrechtlichen und konfessionellen reduziert. Wirtschaftliche und demographische Entwicklungen, sonstige gesellschaftliche Aspekte oder auch die Kleine Eiszeit, deren Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg in der Forschung betont wird,3 fehlen. Hervorzuheben sind der Blick auf Böhmen und die Einbeziehung tschechischer Forschung, die nicht nur in deutschsprachigen Darstellungen oft zu kurz kommen. 1 2 3
Robert Rebitsch, Jenny Öhman, Jan Kilián: 1648. Kriegführung und Friedensverhandlungen. Prag und das Ende des Dreißigjährigen Krieges, Innsbruck 2018. Vgl. dagegen Dagmar Freist: Glaube – Liebe – Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit (Bibliothek Altes Reich 14), München 2017. Geoffrey Parker: Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century, New Haven/London 2013.
Prof. Dr. Anuschka Tischer Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 199–201 Luděk Březina Der Landvogt der Niederlausitz zwischen Königsmacht und Ständen (1490–1620). Ein Diener zweier Herren? (Veröffentlichungen des brandenburgischen Landeshauptarchivs 69), Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2017, 298 S., ISBN 978-3-8305-3704-5, 54,00 EUR. Der hier zu rezensierende Band zu den Landvögten der Niederlausitz stellt die leicht überarbeitete Übersetzung der bereits im Jahr 2011 an der Karls-Universität Prag in tschechischer Sprache eingereichten Dissertation Luděk Březinas dar. In seinem Geleitwort (9–14) stellt der Reihenherausgeber Klaus Neitmann die Arbeit Březinas in eine Reihe mit denen der beiden großen Forscher zur niederlausitzischen Geschichte, Woldemar Lippert und Rudolf Lehmann. Diese Einschätzung wird – um dies gleich vorwegzunehmen – auch vom Rezensenten vollauf geteilt. Březina gibt im Laufe seiner Arbeit nicht nur Auskunft über die Tätigkeit der zahlreichen Landvögte der Niederlausitz, ihre Herkunft und Amtsführung, sondern er versäumt es auch nie, die Entwicklungen in der Niederlausitz im regionalen (Oberlausitz, Schlesien, Brandenburg, Sachsen, Böhmen) und größeren ostmitteleuropäischen (Polen, Ungarn) Kontext zu betrachten. Auch die jeweils handelnden Akteure und ihre verschiedenen Interessenlagen, Motivationen und personellen Verflechtungen werden von ihm angemessen berücksichtigt. Nach dem bereits erwähnten Geleitwort und einem Vorwort des Autors beginnt die Untersuchung zunächst mit zwei einleitenden Kapiteln: In der „Einleitung“ (19–30) ordnet Březina seine Arbeit in die bestehenden Forschungen zur Niederlausitz und zu regionalen Amtsträgern in der Frühen Neuzeit ein, während er im Kapitel „Die Niederlausitz, die Landvögte und die Stände im Mittelalter“ (31–54) einen summarischen Überblick über die Entwicklungen vor dem von ihm anvisierten Untersuchungszeitraum gibt. Der nun folgende Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich in drei chronologischen Hauptkapiteln mit der Landvogtei während der böhmischen Herrschaftszeiten der Jagiellonen von 1490–1526 (55–100) und der Habsburger von 1526–1555 (101– 164) sowie mit der „Niederlausitzer Landvogtei im Zeichen der Ständeübermacht (1555–1620)“ (165–230). Nach einigen sporadischen Erwähnungen des Landvogtamtes seit dem Ende des 13. Jahrhunderts scheint es seit der Zeit der Wettiner Pfandherrschaft über die Niederlausitz (1353–1364) dauerhaft besetzt gewesen zu sein, um die Pfandherren in der Region zu repräsentieren: „Der Landvogt besaß bereits klarer abgegrenzte Kompetenzen, die von der Aufrechterhaltung der Ordnung im Land über die Justiz und Finanzen bis zur Verleihung von Lehen reichten“ (34). Nach dem Erwerb der Niederlausitz für die Luxemburger durch Karl IV. wurde sie 1368 eines der Nebenländer der Böhmischen Krone, eine Affiliation, die sie während des gesamten Untersuchungszeitraumes (und darüber hinaus) behalten sollte. Anfang des 15. Jahrhunderts begannen auch die Landstände eine Rolle in der regionalen Politik zu spielen, die sie unter den Jagiellonenherrschern noch ausbauen konnten und die zum sogenannten „Tyrnauer Urteilsspruch“ von 1508 führte. In diesem wurde unter anderem festgelegt, dass jeder neue Landvogt gegenüber den
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Ständen „einen Eid, den sog. Revers, ablegen musste […]. Das Bestreben der niederlausitzischen Stände, das Amt des Landvogts und damit auch das ganze Land stärker zu kontrollieren, gewann so klarere Konturen“ (83). Dementsprechend waren die Landvögte des 15. und frühen 16. Jahrhunderts tatsächlich insofern „Diener zweier Herren“, als durch sie Aushandlungsprozesse zwischen den Prager Herrschern und den regionalen Potentaten beeinflusst und moderiert wurden. In einigen Bereichen hatten sie selbst relativ große Entscheidungsbefugnis. Als besonders wichtig für die Konturierung dieser Rolle und des Amtes überhaupt stellt Březina den Landvogt Heinrich Tunkel von Brünnles und Hohenstadt vor. Er sei mit seiner 1509 beginnenden 30-jährigen Dienstzeit „der am längsten amtierende und wohl auch wichtigste Landvogt in der Geschichte der Niederlausitzer Landvogtei“ (233) gewesen. Er behielt sein Amt auch über den Dynastiewechsel von den Jagiellonen zu den Habsburgern hinaus, musste sich unter der Herrschaft Ferdinands I. jedoch mit neuen Rahmenbedingungen auseinandersetzen, denn dessen Regierungskonzept sah eine wesentlich stärkere Rolle der Zentralmacht vor als das der jagiellonischen Herrscher. Damit wurden die Landvögte – nach Heinrich Tunkel von Brünnles war dies bis 1554 Albrecht von Schlick – wieder mehr zu Repräsentanten des Herrscherwillens. Unter den beiden folgenden Landvögten, Bohuslav von Lobkowitz (1556–1570) und besonders unter Jaroslaw von Kolowrat (1571–1595), die sich während ihrer Amtszeiten kaum in der Niederlausitz aufhielten, wurden viele Aufgaben des Landvogts von subalternen Amtsträgern, allen voran dem Kanzler und dem Landeshauptmann, erledigt, und damit fand auch eine schleichende Verschiebung der Kompetenzen statt. Dies blieb den niederlausitzischen Ständen nicht verborgen, und sie versuchten erfolgreich, Einfluss auf die Besetzung dieser Positionen zu nehmen. Darüber hinaus nutzten sie die schlechte finanzielle Lage der Habsburger um 1600 dazu, um Rechte durch Geldzahlungen zu erwerben. Diese Entwicklung setzte sich unter dem Landvogt Heinrich Anselm von Promnitz fort, der zwar in der Niederlausitz residierte (wenn auch auf seinem Familienschloss Sorau und nicht am Amtssitz der Landvögte in Lübben), viele Amtsgeschäfte aber ebenfalls delegierte. Dies führte letztlich dazu, dass die Position des Landvogts spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts nur noch „rein formaler Natur war. […] Die Landstände wurden nach innen wie nach außen zu unbestrittenen Repräsentanten der Niederlausitz“ (224). Luděk Březina hat mit dieser Untersuchung eine quellengesättigte und handwerklich solide Arbeit über die politische Geschichte der Niederlausitz und der sie umgebenden Landschaften zu Beginn der Frühen Neuzeit vorgelegt, die darüber hinaus ausgezeichnet lektoriert wurde. Seine Sorge, der Detailreichtum könne „vielleicht den Interpretationsfluss in inakzeptabler Weise unterbrechen“ (28), ist unbegründet. Schade ist, dass mit der Übersetzung und Überarbeitung keine Einarbeitung neuerer Literatur (nach 2010) erfolgte. Den Wert der Arbeit weiter erhöht hätte es auch, wenn der Schluss nicht nur der Zusammenfassung der Ergebnisse gewidmet worden wäre, sondern Březina außerdem darüber reflektiert hätte, welcher Gewinn für die Beschäftigung mit regionalen Amtsträgern und „Herrschaft“ in der Frühen Neuzeit auch in anderen Regionen aus seinen Ergebnissen gezogen werden könnte. Schließlich werden einige Begriffsbildungen wie „Ständeübermacht“ (in der Kapitelüberschrift auf 165) in ihrer Wertung nicht hinreichend motiviert oder lassen wie die „Bestechung“ (114, 214) darauf schließen, dass der Autor stellenweise (zu) moderne Richtlinien an vormodernes Verhalten anlegt. Nichtsdestotrotz ist seine Arbeit ein
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wichtiger Beitrag zum Verständnis dessen, was Herrschaft in vormodernen europäischen Gesellschaften ausmachte – nämlich ein ständiger Aushandlungsprozess zwischen den politisch engagierten Akteuren, hier exemplifiziert an der Niederlausitz und ihrem Landvogt. Dr. Christian Oertel Universität Erfurt, Historisches Seminar, Postfach 90 02 21, 99105 Erfurt, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 201–203 Dagmar Freist Glaube, Liebe, Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit (bibliothek altes Reich 14), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2017, 504 S., ISBN 978-3-486-74969-4, 79,95 EUR. Das Thema der Studie von Dagmar Freist wurde in der Konfessionalisierungsforschung zwar immer wieder angeschnitten und in verschiedenen Kontexten mitbehandelt, aber bisher nirgendwo so systematisch und vertieft bearbeitet wie in dieser Studie. Für den Stellenwert konfessioneller Differenz und Koexistenz in den frühneuzeitlichen Gesellschaften ist das Phänomen der Mischehen zweifelsohne ein zentraler Indikator, der weiterführende Erkenntnisperspektiven eröffnet. Dazu werden in einem ersten Kapitel die Debatten auf den verschiedenen institutionellen Ebenen – vom mittelalterlichen Kirchenrecht über die Ehediskurse in den Konfessionskirchen bis hin zu städtischen beziehungsweise territorialen Rechtstraditionen und dem Reichsrecht – beschrieben. Das zweite Kapitel stellt Praktiken religiös-konfessioneller Fremd- und Selbstverortung vor und gibt dabei einen profunden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu diesem Bereich der Konfessionalisierungsforschung. In einem letzten Abschnitt wird an der strittigen Frage der Religionsmündigkeit von Kindern aus Mischehen die Anschlussfähigkeit und Relevanz des Untersuchungsgegenstandes für diese Fragestellungen überzeugend herausgearbeitet. Der Hauptteil des Buches besteht aus drei regionalen Fallstudien zum Fürstentum Osnabrück, zur Kurpfalz und zu Kursachen, bei denen ausgehend von einzelnen Konfliktfällen die Praktiken und Lösungsansätze rekonstruiert werden. In Kapitel vier wird ein weiterer Zugang über die für die frühneuzeitliche Gesellschaft zentrale Kategorie des „Hauses“ gewählt und im fünften und letzten Kapitel die Behandlung der Konflikte auf der Reichsebene dargestellt. Der methodische Ansatz der Studie, der einerseits in der Einleitung, aber auch in Kapitel 2.2 forschungsgeschichtlich breit dargelegt wird, folgt der aktuellen kulturwissenschaftlichen Ausrichtung in der Konfessionalisierungsforschung, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten ausdifferenziert hat. Angeknüpft wird dabei insbesondere an einen praxeologischen Zugang, der konfessionelle Formung als einen Prozess religiöser Selbstverortung und Subjektivierung begreift. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei insbesondere auf die „Bedingungen, Praktiken und Grenzen religiös-konfessionell ge-
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mischten Zusammenlebens“, das in „Mischehen als kleinster sozialer Einheit beobachtbar“ (4) ist. Zugleich wird mit einem regional-vergleichenden Ansatz gearbeitet, der die Komplexität des Phänomens durch eine typologische Auswahl an territorialen Fallbeispielen, die jeweils unterschiedliche konfessionelle Strukturen und Entwicklungen aufweisen, erschließt. Mit der Kurpfalz und dem Fürstentum Osnabrück wurden dazu zwei konfessionell-gemischte Herrschaftsräume, mit Kursachsen dagegen ein bis zur Konversion Kurfürst Friedrich Augusts I. konfessionell weitgehend homogenes Territorium ausgewählt. Während der regionale Vergleich zu einer überzeugenden Verbreiterung der empirischen Einzelbefunde führt, so dass die Studie durchaus den Anspruch erheben kann, damit das Phänomen für das Reich nach 1648 umfassend behandelt zu haben, ist die Umsetzung der eingangs entwickelten kulturgeschichtlichen Methodik nicht gänzlich gelungen. Die Bearbeitung der einzelnen Konfliktfälle erfolgte doch weitgehend über ereignisgeschichtlich orientierte Verlaufsdarstellungen, bei der die Analysekriterien aus dem Blick geraten. Insofern klafft eine Lücke zwischen den sehr profunden methodischen Ausführungen und der empirischen Umsetzung. Hierzu hätte es mikroperspektivischer Rekonstruktionen unter Einbeziehung der sozialen Kontexte und der narrativen Strategien bedurft. Im Hauptteil der Arbeit wird der Fokus auf die Themenstellung nicht konsequent beibehalten, da auch andere konfessionelle Auseinandersetzungen miteinbezogen werden (siehe etwa die Streitigkeiten um die Errichtung von Wegkreuzen, 213 f., um den öffentlichen Kirchgang, 218 f., oder um die Nebenschulen, 226 f.). Ob diese Ausweitungen für das Gesamtverständnis nötig sind, mag man freilich unterschiedlich gewichten. Dessen ungeachtet liefert die Studie aber eine Reihe an aufschlussreichen, weiterführenden Befunden und gewährt einen sehr spannenden Einblick in die hohe Komplexität der Praktiken und Lösungsansätze der zeitgenössischen Akteure: Nicht nur das quantitative Ausmaß des Phänomens erstaunt in der Gesamtschau, sondern auch die Intensität, mit der sich die Zeitgenossen auf den verschiedensten Ebenen damit beschäftigten, sowie die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Konfliktfälle hervorriefen. Mischehen waren unerwünscht und ein Störfaktor; sie provozierten im Spannungsfeld von obrigkeitlicher Konfessionspolitik – den reichsreligionsrechtlichen Normen der Glaubens- und Gewissensfreiheit einerseits sowie dem Anspruch auf konfessionelle Grenzziehung andererseits – wiederkehrende Auseinandersetzungen um die religiöse Erziehung der Kinder, um deren Religionsmündigkeit oder die väterliche Hausgewalt. Dies sind die zentralen Ergebnisse der Studie. Besonders gelungen ist dabei der Zugriff über die soziale Einheit des Hauses, der veranschaulicht, wie sehr das Geschlechterverhältnis in den gemischt-konfessionellen Familien neu zur Disposition stand und wie hier das Recht auf Religionsfreiheit mit der väterlichen Gewalt korrelierte. Aufschlussreich sind weiterhin die Befunde zur Justiznutzung durch die streitenden Parteien. Auch auf diesem Feld zeigt sich die Problematik von Rechtfindungsprozessen bei unklaren Rechtslagen durch die sich überschneidenden territorialen, lokalen, geistlichen, weltlichen und reichsrechtlichen Normsetzungen, die Handlungsspielräume eröffneten, aber auch Unsicherheiten evozierten. In der Summe zeigt das Beispiel der Mischehen, wie schwierig sich die konkrete Umsetzung der Friedensregelungen von 1648 im Alltag der frühneuzeitlichen Gesellschaft gestaltete und wie komplex beziehungsweise konfliktträchtig die konfessionellen Aneignungsprozesse abliefen – mit diesem Fazit schließt Dagmar Feist in überzeugender Weise
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ihre Analyse ab. Nicht unerwähnt soll abschließend bleiben, dass die Arbeit einen sehr profunden Überblick über die landesfürstliche Gesetzgebung zu Mischehen in den größeren Territorien des Reiches bietet, so dass hier nun tatsächlich ein Standardwerk zu diesem Thema vorliegt. Prof Dr. Sabine Ullmann Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Fachbereich Geschichte, Universitätsallee 1, 85072 Eichstätt, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 203–205 Axel Flügel Anatomie einer Ritterkurie. Landtagsbesuch und Landtagskarrieren im kursächsischen Landtag (1694–1749) (Studien und Schriften zur Geschichte der sächsischen Landtage 2), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017, 582 S., ISBN 978-3-7995-8461-6, 70,00 EUR. In der im Jahr 2000 publizierten Habilitationsschrift des Autors zu den bürgerlichen Rittergütern in Kursachsen ging es vor allem um eine sozialgeschichtliche Analyse der Rittergutsbesitzer in den Umbrüchen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die neue, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie widmet sich wiederum den Rittergutsbesitzern und nimmt deren Präsenz auf dem kursächsischen Landtag sowie die damit zusammenhängenden Karrieren in den Blick. Dabei konzentriert sich Flügel auf die Zeit der Regierungen Kurfürst Friedrich Augusts I. (regierte 1694–1733) und seines Sohnes Friedrich Augusts II. (regierte 1733–1763). Den Endpunkt bildet die Unterbrechung der Tagungen des Landtags von 1749 bis 1763 im Umfeld des Siebenjährigen Krieges. Der kursächsische Landtag kann im Vergleich zu den ständischen Versammlungen anderer Territorien des Heiligen Römischen Reiches eine gewisse Sonderstellung beanspruchen, tagte er doch auch im 18. Jahrhundert noch regelmäßig und war zudem durch seine Personalstärke gekennzeichnet. Hier setzt Flügel an und unternimmt eine groß angelegte prosopographische Untersuchung der teilnehmenden Ritterschaft. Es geht also weniger um die auf den Landtagen behandelten Materien, die diesbezüglichen Debatten und Verhandlungsergebnisse oder die symbolische Praxis der beteiligten Akteure. Vielmehr steht der Landtagsbesuch als solcher im Mittelpunkt – das heißt die Frage, wer von den Landtagsberechtigten überhaupt auf dem Landtag erschienen ist und wie regelmäßig dies geschah: „Anhand dieser Beobachtungen kann ermittelt werden, ob bestimmte adlige Geschlechter eine besondere Tradition oder Mentalität der Landtagsteilnahme ausgebildet haben und ob sich das Korpus der Landtagsbesucher geographisch, sozial oder familial strukturieren und näher kennzeichnen lässt“ (59). Den zweiten Schwerpunkt bilden die Landtagskarrieren der einzelnen Teilnehmer, also „wer von den Landtagsbesuchern im Rahmen der landständischen Einrichtungen Karriere machte, indem er in die Ausschüsse, in
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Deputationen oder in Ämter der landständischen Finanzverwaltung gewählt wurde“ (60). Im Hintergrund steht dabei die übergreifende Frage nach der Bedeutung des Landtags als soziale Institution für die adligen Rittergutsbesitzer. Nachdem in der Einleitung ausführlich Forschungsstand, Quellenlage und Vorgehensweise der Untersuchung behandelt werden, folgt im zweiten Kapitel unter dem Titel „Kursachsen und der kursächsische Landtag im 18. Jahrhundert“ eine Darstellung der Rahmenbedingungen. Dabei geht es zum einen um das Territorium und die kursächsischen Sekundogenituren und zum anderen um die Kurien des Landtags, die Tagungsfrequenz im 18. Jahrhundert sowie die normativen Grundlagen dieser Institution. Letztere werden detailliert anhand der Landtagsordnung von 1728 vorgestellt, wobei unter anderem die Landtagsfähigkeit der Rittergüter, das Landtagsverfahren, der Gang der Verhandlungen, die Ausschüsse und die Ahnenprobe erläutert werden. Die folgenden Kapitel bilden den Kern der Untersuchung. Methodisch geht Flügel in zwei Schritten vor und analysiert Landtagsbesuch und Landtagskarrieren der Rittergutsbesitzer zunächst im Längsschnitt von 1694 bis 1749 (Kap. 3) und sodann im Rahmen einer detaillierten exemplarischen Untersuchung eines einzelnen Landtags, dem von 1742 (Kap. 4). Die Längsschnittuntersuchung im dritten Kapitel ist zweigeteilt. Zunächst werden die Teilnehmer im Kollegium der Allgemeinen Ritterschaft, der Besuch der Allgemeinen Ritterschaft und der Aufstieg in den Weiteren und den Engeren Ausschuss sowie die Deputierten aus den kursächsischen Ämtern untersucht. Danach erfolgen detaillierte Aufschlüsselungen zu den Tätigkeiten der Landtagsbesucher in der Steuerverwaltung (Obersteuereinnehmer, Kreissteuereinnehmer), bei Hof (Oberchargen, Kammerherren, Kammerjunker, Kammerräte), im fürstlichen Machtapparat (Kabinett, Geheimer Rat, Cammerkollegium), als Richter und Juristen in Landesregierung, Obergerichten und im Oberkonsistorium sowie als Offiziere beim Militär. Die hier systematisch behandelten Aspekte werden dann im vierten Kapitel zur „Anatomie“ der Ritterkurie im Landtag von 1742 wieder aufgegriffen und vertieft. Es zeigt sich, dass die adligen Rittergutsbesitzer regelmäßig an den Landtagsverhandlungen teilnahmen, wobei nicht nur persönliche Motive, sondern auch familiäre Traditionen und die Einbindung in den landesherrlichen Dienst eine Rolle spielten. Viele Adlige erschienen sogar über Jahrzehnte auf dem Landtag – selbst dann, wenn ihnen kein Aufstieg in den Weiteren oder Engeren Ausschuss gelang: „Der Besuch des Dresdner Landtags gehörte in dieser Zeit demnach zu einer sehr weitgehend geteilten politischen Kultur der Lehnsgutinhaber“ (422). Darüber hinaus kann Flügel eine breite Streuung der beruflichen Stellung der Landtagsmitglieder feststellen – von einfachen Forstbeamten bis hin zu den hohen landesherrlichen Amtsträgern (Geheime Räte, Kammerherren, Oberchargen). Entscheidend ist dabei die Beobachtung, dass letztere nicht ausschließlich im Engeren Ausschuss vertreten waren und somit eine abgeschlossene Elite bildeten, sondern in allen drei Abteilungen der Ritterkurie begegnen, also auch im Weiteren Ausschuss und im Kollegium der Allgemeinen Ritterschaft. Sie trafen hier nicht nur auf untergeordnete landesherrliche Amtsträger, sondern auch auf Adlige ohne Amt, die sich aus den verschiedenen erbländischen Kreisen rekrutierten. Letztere stammten freilich häufig aus Familien, deren Mitglieder entsprechende Stellungen gehabt hatten und die im Laufe ihrer Karriere durchaus noch die Möglichkeit erhalten konnten, in den landesherrlichen Dienst einzutreten. Man kann also, so Flügels
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plausible Interpretation, „kaum davon sprechen, daß ein durch die Stände im Landtag vertretenes Land dem im Geheimen Rat repräsentierten fürstlichen Willen gegenüber oder gar entgegentrat. Die Räte und Höflinge waren Teil des Landtages, sie agierten auf beiden Seiten der in der Landtagsforschung unterstellten Trennlinie“ (424). Flügel wendet sich mit seiner großen Studie gegen die Dualismusthese der älteren Landtagsforschung, die einen Gegensatz zwischen fürstlicher Sphäre der Herrschaft und der landständischen Sphäre der Freiheit postuliert und der der Autor neben den empirischen Befunden auch noch seine etwa 80-seitigen „Anmerkungen zur Forschungsgeschichte“ im Anhang des Buches entgegensetzt. Aber auch die jüngere Verflechtungsthese, die davon ausgeht, dass durch die Doppelfunktion mancher Landtagsteilnehmer als Rat und Landstand sowie das Zusammentreffen unterschiedlicher Personen in den Landtagskurien ein Ausgleich zwischen der herrschaftlichen und der landständischen Sphäre stattgefunden habe, lehnt Flügel ab. Vielmehr sieht er „die versammelten Landstände wie die übrigen Räte und Kommissionen als integralen und normalen Bestandteil der zeittypischen landesherrlichen Verwaltung“ (424). Dieser Befund deckt sich mit jüngeren Interpretationen frühneuzeitlicher Herrschaft, die den Fürsten als Teil eines vielfältigen Herrschaftsund Beziehungsgefüges ansehen und davon ausgehen, dass fürstliche Herrschaft in einem Territorium nicht nur vom Fürsten selbst, sondern von einer Vielzahl von Akteuren getragen wurde. Gleichwohl dürften Flügels Schlussfolgerungen in dieser Zuspitzung in der Forschung zu Diskussionen führen. Denn er stützt sich dabei vor allem auf die Prosopographie der Landtagsbesucher und nicht auf eine Analyse des tatsächlichen politischen Agierens und Argumentierens der Akteure auf den Landtagen, das die individuellen und gruppenspezifischen Motivationen sowie die situativ variierenden Loyalitäten gegenüber der Landesherrschaft erkennbar machen könnte. Für eine solche Erweiterung des Fokus ist die Dresdner Überlieferung allerdings nur bedingt geeignet (siehe etwa 63, 419 f.); notwendig wären also landesgeschichtlich vergleichende Forschungen. Prof. Dr. Andreas Rutz Technische Universität Dresden, Institut für Geschichte, Zellescher Weg 17, 01069 Dresden, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 205–207 Ferdinand Opll, Heike Krause, Christoph Sonnlechner Wien als Festungsstadt im 16. Jahrhundert. Zum kartografischen Werk der Mailänder Familie Angielini Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2017, 578 S., 108 farb. Abb., ISBN 978-3-205-20210-3, 60,00 EUR. Die osmanische Belagerung Wiens im Herbst 1529 führte den unzureichenden Zustand der Fortifikation der habsburgischen Residenzstadt drastisch vor Augen. Schon im darauffolgenden Jahr
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wurde mit dem Ausbau zur Festung begonnen, dem „größten Bauvorhaben, das die Stadt in der frühen Neuzeit erleben sollte“ (122). In mehreren Phasen wurde die mittelalterliche Stadtmauer größtenteils durch ein System von Wällen, Bastionen und Kurtinen ersetzt. Die Kosten waren immens, und doch überstiegen die militärischen Anforderungen letztlich die finanziellen Möglichkeiten Kaiser Ferdinands I., mit dessen Tod im Jahr 1564 die Baumaßnahmen im Wesentlichen zum Erliegen kamen: Bei einer 1577 durchgeführten Inspektion wurden die Wiener Festungsanlagen für mangelhaft befunden. „Trotz aller Empfehlungen und Bemühungen gelang es das ganze 16. Jahrhundert hindurch nicht, die Festung Wien in einen Zustand zu versetzen, der den Idealen der Festungsbaukunst entsprochen hätte. Es mangelte schlichtweg am Geld“ (196). Erst im 17. und 18. Jahrhundert erfolgten wieder umfangreiche Erweiterungsmaßnahmen. Im Zuge des Festungsbaus entstanden zahlreiche Pläne, Ansichten und Risse, die den Zustand oder einen Entwurf der gesamten Anlage oder einzelner Objekte festhielten. Während dreidimensionale Modelle nicht erhalten sind (251), ist die Überlieferung zweidimensionaler Visualisierungen erfreulich umfangreich. Dazu zählt ein zwischen 1564/65 und 1572 (304, 449) entstandener Plan der Stadt Wien, der eine wichtige, teils freilich idealisierte Quelle für den Zustand der fortifikatorischen Anlagen nach dem Tod Ferdinands I. darstellt und dessen Wert insbesondere „in der hervorragenden Veranschaulichung der damals gerade fertiggestellten Festungsbauten“ liegt (294). Er ist in drei Varianten auf uns gekommen und mit dem Namen der Kartographenfamilie Angielini verbunden. Aus Mailand gebürtig, standen Natale Angielini, sein Bruder Nicolò und sein Sohn Paolo als Baumeister, Zeichner und Kartographen zwischen den 1550er- und den 1570er-Jahren in habsburgischen Diensten und wirkten als Spezialisten für den Festungsbau. Der Wiener Plan findet sich in drei der fünf „Angielini“-Atlanten, „kartografischen Sammelbänden“ (51) mit Landkarten der östlichen (vor allem ‚ungarischen‘), für die Türkenabwehr relevanten Teile des Habsburgerreiches und mit Grundrissen zahlreicher Festungen, die in diesem Zusammenhang errichtet oder ausgebaut wurden. Allerdings tragen nur zwei Blätter den Namen Nicolò Angielinis; für alle übrigen ist letztlich nicht zu klären, inwieweit fremde Vorlagen Verwendung fanden. Das gilt auch für die Darstellungen Wiens, die in Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, des Generallandesarchivs Karlsruhe und des Hauptstaatsarchivs Dresden enthalten sind. Dabei handelt es sich um sorgfältig ausgeführte kolorierte Federzeichnungen. Während diese in der Farbgebung wie auch in manchen Details voneinander abweichen, stimmen sie in der grundsätzlichen Anlage und Ausführung überein: Der Blick richtet sich aus der Vogelperspektive von Nordosten auf die Stadt; Straßen und Häuserblöcke sind im Grundriss dargestellt, die Festungsanlagen und einzelne wichtige Bauten perspektivisch. Diese Pläne stehen im Zentrum der vorzustellenden Publikation, die am Wiener Beispiel die Geschichte des Festungsbaus und der Kartographie am Beginn der Frühen Neuzeit zusammenführt. Ferdinand Opll, Heike Krause und Christoph Sonnlechner, allesamt Kenner der Materie, schauen aus sich bestens ergänzenden Blickwinkeln auf das Thema: Analyse vormoderner Stadtdarstellungen (Opll), archäologische Erforschung des frühneuzeitlichen Festungsbaus (Krause) – seit 2005 galten umfangreiche Grabungen der Wiener Fortifikation – und Umweltgeschichte (Sonnlechner).
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Der Band gliedert sich im Wesentlichen in vier große Blöcke. Den Anfang macht Ferdinand Opll (Kap. 1–4), indem er zunächst die nur spärlich zu ermittelnden Informationen zu Biographie und Werk Natale, Nicolò und Paolo Angielinis zusammenträgt und die „Angielini“-Atlanten beschreibt (21–86). Sodann umreißt er den in diesen Sammlungen dargestellten geographischen Raum (87–100) und ordnet sie in die Kartographiegeschichte Ungarns und Wiens ein (101–126), um mit einem Überblick zum Festungsbau in der Frühen Neuzeit zu schließen (127–145). Der zweite Block (Kapitel 5) besteht zum einen aus Heike Krauses chronologischer Abhandlung der Entwicklung der Wiener Festungsanlagen von 1530 bis zur Mitte der 1560er-Jahre (147–196), zum anderen aus Christoph Sonnlechners Überlegungen zu den umweltgeschichtlichen Aspekten dieser jahrzehntelang bestehenden Großbaustellen, insbesondere mit Blick auf die Holzversorgung (197–220). Auch den dritten Block – „Autopsie und Kontextualisierung der drei ‚Angielini‘Pläne von Wien“ – teilen sich Christoph Sonnlechner (221–250, 294–304) und Heike Krause (250–294). Beginnend mit dem weiteren regionalen Umfeld, dem Umland und den Vorstädten über den Festungsring bis zum Stadtinneren, analysieren sie die Darstellung von Topographie und Bauten im Abgleich mit anderen kartographischen und bildlichen Zeugnissen wie archäologischen Befunden. Nach einer kurzen Zusammenfassung (305–311, Deutsch und Englisch) folgt als vierter Block ein üppiger, von Ferdinand Opll verantworteter Anhang, der einen ausführlichen Katalog der kartographischen Werke der Familie Angielini sowie der in den „Angielini“-Atlanten versammelten Karten, Grundrisse und Ansichten bietet (325–457) – ergänzt unter anderem durch Aufstellungen und Verzeichnisse zu italienischen Festungsbaumeistern, die im östlichen Grenzraum des Habsburgerreiches tätig waren (466–479), zu Festungsbautraktaten (479–483) und zu Plänen und Ansichten der Stadt Wien (483–493). Die einzelnen Teile der Studie fügen sich hervorragend ineinander, so dass in der Summe eine beeindruckende, ja spannende Veröffentlichung vorliegt, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen sehr detaillierten Blick auf die Festungsstadt Wien im 16. Jahrhundert und zugleich auf deren zeitgenössische Visualisierung erlaubt. Dass ergänzend auch noch spezifisch kunstund architekturgeschichtliche oder stärker wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven denkbar wären, schmälert nicht das Ergebnis, das ein gelungenes Beispiel für Interdisziplinarität darstellt. Nicht vergessen sei die durchweg sehr gute Qualität der zahlreichen farbigen Abbildungen – nur wünscht man sich manchmal ein größeres Format, doch das ist nicht mehr als eine Marginalie. Dr. Sven Rabeler Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 208–210 Sabine Eibl Küster im Fürstbistum Münster. Stabsdisziplinierung, Gemeindeansprüche und Eigeninteressen im konfessionellen Zeitalter (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte 27), Münster: Aschendorff Verlag, 2016, 244 S., ISBN 978-3-402-15069-6, 44,00 EUR. Im Kontext der Untersuchung frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis sind in den letzten 20 Jahren die lokalen weltlichen Amtsträger der mittleren und niederen Ebene verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt, wobei im Ergebnis die Bedeutung dieser Personengruppe für die Umsetzung obrigkeitlicher Politik festgestellt wurde. Die Amtsträger mussten sich jedoch immer in einem Spannungsfeld zwischen herrschaftlichen Anforderungen und den Erwartungen der lokalen Gesellschaft behaupten, in dem Herrschaft nur in einem beständigen Aushandlungsprozess zwischen allen Akteuren ausgeübt werden konnte. In ihrer bei Werner Freitag an der Universität Münster eingereichten Dissertationsschrift nimmt Sabine Eibl mit dem Küster nun einen kirchlichen Amtsträger in den Blick, dessen „Position […] im Gefüge der ländlichen Gemeinschaft eine brisante Nahtstelle darstellt“ (24). Als erster Helfer des Seelsorgers mit verschiedensten Aufgaben betraut, bewegte sich der Küster zwischen sakraler und profaner Sphäre, zwischen Kirche und dörflicher Gemeinde. Seine Position hatte daher – so die These – eine „erhebliche Bedeutung für den Prozess der Konfessionalisierung“ (26). Im Unterschied zum niederen Klerus habe das nicht-geweihte Kirchenpersonal bisher jedoch nur wenig Aufmerksamkeit erfahren, so dass es die genaue Position des Küsters bei der Durchsetzung des tridentinischen Katholizismus im Wechselspiel zwischen obrigkeitlichen und gemeindlichen Ansprüchen zu erkunden gelte. Die Autorin spannt für diese Untersuchung einen weiten zeitlichen Bogen, in dem sie die Entwicklung des Küsteramts in zwei Regionen des Fürstbistums Münster zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert untersucht – nämlich im Archidiakonat des Propstes von St. Martini im Oberstift sowie im Dekanat Vechta im Niederstift. Nach einer kurzen Vorstellung der kirchenpolitischen Grundbedingungen in diesen Gebieten entwirft Eibl im – nach dem Buchtitel benannten – Hauptkapitel ein umfassendes Bild der Tätigkeitsbereiche frühneuzeitlicher Küster. Das Spannungsgefüge deutet sich hier schon durch die Gliederung der Unterkapitel an: Zunächst stehen die Aufgaben als kirchlicher Amtsträger im Blickpunkt. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Reinhaltung der Kirchenräume und der liturgischen Gegenstände (custos), ferner die Assistenz bei Organisation und Durchführung von Gottesdienst, Sakramentenspendung, Liturgie und Prozessionen (liturgicus) sowie das für die „Demonstration der konfessionellen Identität“ (162) eminent wichtige Läuten der Kirchturmglocken (campanarius). Bei diesen sakralen Aufgaben stand der Küster zwar selten im Mittelpunkt des Kontakts zwischen Kirche und Gemeinde, dennoch war er als erster Helfer des Pfarrers an allen für die Gemeinschaft zentralen Riten maßgeblich beteiligt. In den folgenden drei Unterkapiteln wird die profane Dimension der Aufgaben, insbesondere hin-
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sichtlich des Kontakts mit der Gemeinde, beleuchtet. Eine ambivalente Stellung nahm der Küster bei der Durchführung des Sendgerichts ein. Bei diesem ein- bis zweimal jährlich stattfindenden kirchlichen Gericht stand einerseits seine Amtsführung im Fokus gerichtlicher Überprüfung, andererseits war der Küster aber „verlängerter Arm des […] Gerichts als Exekutive“ (181), da er unter anderem die Anwesenheit der Pfarrangehörigen kontrollierte, Vorladungen aushändigte und teilweise Strafen eintrieb (accensus). Besonders instruktiv ist auch der folgende Abschnitt, in dem die Autorin die Mechanismen der Amtseinsetzung darlegt (possessor officii). Das Präsentationsrecht von Adel oder Gemeinde beziehungsweise Pfarrer wurde auch nach dem Konzil von Trient von der Kirche nicht angetastet; dennoch kam es zwischen den verschiedenen Akteuren zu mannigfaltigen und wiederkehrenden Auseinandersetzungen um die Präsentation, Kollation und Investitur. Ebenso wie bei Konflikten um die Gerichtshoheit wurde der Küster dabei oft zum Spielball übergeordneter Interessen, ohne dass es tatsächlich um seine Person ging. Die Erwartungen von außen an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Küsters wuchsen zwar; eine formale Ausbildung war jedoch nicht notwendig. Eine Grundvoraussetzung waren hingegen Lese- und Schreibfähigkeiten, die den Küster zugleich dazu prädestinierten, das an die Kirche gebundene Lehramt in der Gemeinde zu übernehmen, wie Eibl für die Hälfte der von ihr untersuchten Pfarreien nachweisen kann. Erst gegen Ende des Untersuchungszeitraums differenzierte sich der Küsterlehrer zunehmend in zwei verschiedene Berufe aus, wobei der ludimagister dem custos inzwischen im Ansehen voranstand. Da die Einkünfte des Küsters stark von der lokalen Stiftungsausstattung abhängig waren sowie von der Abgabebereitschaft der Parochialen, mussten die Küster häufig einen Nebenerwerb ausüben. War das nicht das Lehramt, kamen oft auch Tätigkeiten in der kommunalen Verwaltung, als Notar oder als Wirt infrage. Überzeugend ist auch der Befund, dass die Nicht-Existenz einer formalen Ausbildung zur Entstehung von Küsterdynastien führte, da die Kenntnisse innerhalb der Familie weitergegeben wurden. So hatten beispielsweise Mitglieder der Familie Nadorff das Amt in der Pfarrei Emsbüren über 250 Jahre lang inne. Sabine Eibl kommt das Verdienst zu, erstmals das Anforderungs- und Aufgabenprofil des frühneuzeitlichen Küsteramts detailliert herausgearbeitet zu haben. Unter Rückgriff auf zahlreiche verschiedene Quellentypen vermittelt sie der Leserschaft in anschaulicher Weise ein umfassendes Bild der Tätigkeiten dieses lokalen kirchlichen Amtsträgers. Eibl zieht sowohl normative Quellen wie Dekrete, Statuten oder Synodalbeschlüsse heran als auch Statusberichte, Visitations- und Sendgerichtsprotokolle, die die Umsetzung beleuchten können. Zudem verwendet die Autorin, um zu den obrigkeitlichen Quellen einen Kontrapunkt zu setzen, als Quellen „von unten“ (37) Kirchen- und Eidbücher, liturgische Bücher (Missale, Rituale, Caeremoniale), sogenannte „Küsterpflichtbücher“ sowie Kirchenrechnungen. Die ambivalente Position des Küsters an der Nahtstelle zwischen profaner und sakraler Sphäre wird so deutlich herausgearbeitet. Das von der Autorin formulierte Vorhaben, die Position des Küsters im Konfessionalisierungsprozess zu eruieren, kann sie hingegen nur teilweise einlösen, da weder die Wirkung konfessionalisierender Maßnahme auf die Bevölkerung noch der diesbezügliche Anteil des Küsters stringent untersucht werden. Zu begründen ist dies zunächst dadurch, dass hierfür geeignete Quellen nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Bitt- und Beschwerdeschriften beispielsweise, die Aufschluss geben könnten über die Stellung des Küsters in der Gemeinde, sind, wie Eibl hervor-
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hebt, kaum überliefert. Obwohl die Autorin den Aushandlungsprozessen in neun „Im Fokus“Kapiteln nachgeht, können diese Interaktionen zwischen Küster und Gemeindemitgliedern als Objekte der Konfessionalisierung aufgrund der Quellenlage nur angerissen werden. Wie auch das lediglich drei Seiten umfassende Schlusskapitel zeigt, werden zudem die analytischen und interpretatorischen Potenziale nicht vollends ausgeschöpft. Gerade unter Rückgriff auf die eingangs erwähnten Erkenntnisse zur Herrschaftspraxis hätte der getroffene Befund, dass „in der unklaren Zwischenstellung der Küster zwischen Gemeinde und Kirchenhierarchie eine der Erfolgsbedingungen für die Konfessionalisierung der ländlichen Gesellschaft gesehen werden muss“ (291), deutlicher herausgearbeitet und begründet werden können. Als Fazit bleibt dennoch die Feststellung, dass die Darstellung von Sabine Eibl eminent wichtige Pionierarbeit hinsichtlich der Stellung des frühneuzeitlichen Kirchenpersonals ohne Weihe leistet und für ähnliche Forschungen zukünftig die Referenz darstellt. Dr. Johannes Staudenmaier Staatsarchiv Bamberg, Hainstr. 39, 96047 Bamberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 210–212 Andreas Pečar, Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke (Hg.) Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2016, 176 S., sw. Abb., ISBN 978-3-95462-703-5, 25,00 EUR. This slim Sammelband, based on a conference held on the 8th of November 2014, addresses a central issue and paradox in the history of Halle Pietism: Pietists’ rejection of an aristocratic lifestyle but reliance upon aristocrats to spread their movement from above. As Holger Zaunstöck’s introduction explicitly and repeatedly states, this book is not intended to present a master narrative or ideal type and then flesh it out with supporting case studies, but rather to showcase various current and ongoing research projects that illustrate this “historical constellation” of Halle Pietism and the nobility. Zaunstöck’s introduction provides a backdrop for the other chapters. Not surprisingly, given their ready interaction with the nobility, Francke and other Pietists saw no fundamental incompatibility between their movement and life at court. Rather than avoiding court, they recommended it as a way to spread their influence, even as they demanded that veracity, humility, sobriety, chastity, and moderation be exercised there. Francke himself adopted some of the less obviously sinful aspects of aristocratic life, such as building his palace-like representative Waisenhaus in Halle. Francke’s Schulstadt in Halle concretely mimicked the tripartite division of society into the nobility (Pädagogium), clergy (Latina), and third estate (Waisenhaus). The Pädagogium, especially, was surprisingly flexible in accommodating the sons of the nobility. Zaunstöck reminds the reader of the nobility’s significance for Halle Pietism: They supported Francke financially and politically, they (or their sons) patronized Francke’s Pädagogium, they employed Halle-trained clergymen,
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they implemented real-world reforms and projects along Pietist principles, and they were caught between the representative and traditional aspects of their social status as well as the ascetic and reforming tenets of Pietism. The volume consists of seven individual articles, plus a brief survey of the relevant holdings of the Landesarchiv Sachsen-Anhalt by Jörg Brückner. The approaches and methods of the articles vary widely, as do their answers (or lack thereof) to the question that is the title of the book. Mareike Fingerhut-Säck’s article is a close study of the Sophie Charlotte and Ernst zu Stolberg-Wernigerode, who are perhaps the most fully Pietist example of nobility presented here: They not only launched Pietist reforms and projects, established Pietist institutions, and hired Pietist protégés, but also were undoubtedly earnestly Pietist in their lifestyle and even actively recruited other aristocrats to become Pietists. Jan Brademann’s article on Gisela Agnes von Anhalt-Köthen traces how she first rejected Pietism as presented by an overly aggressive preacher, then was won over by Francke’s softer touch, but then later drifted away. In this case especially, the importance of the courtly circumlocution on the part of the Pietists is clear, as is (as Brademann points out) the historian’s ambivalence in ascribing Pietist tendencies among the aristocracy to either earnest feeling or self-representation, especially as Pietism became more popular and Francke’s celebrity peaked. Thomas Grunewald’s article on the House of Reuß also presents an ambivalent picture: Some members, such as Heinrich XXIV, were committed Pietists, while others, such as Heinrich XI, were openly anti-Pietist. If there were a pattern, says Grunewald, then it was that the rulers of the smaller, less-populous, and less-significant territories tended towards Pietism. Whereas most of the chapters in this book approach the problem from the aspect of one aristocratic figure or household, Holger Trauzettel’s article is centered around Francke’s tour through the Wetterau in 1717 till 1718. Using Francke’s Tagebuch, Trauzettel has reconstructed Francke’s tour among the local nobility, including his avoidance of various radicals and unplanned detours to welcoming audiences. The charismatic and amenable Francke was thereby able to leverage his existing popularity among the nobility into even greater commitments to Pietism, in the form of patronage of his clients, the launching of Pietist projects, and commitments to send sons to the Pädagogium. Wolfgang Breul’s article on the countesses of Waldeck presents another case in which an audacious Pietist initially failed (like in Anhalt-Köthen), but more amenable Pietists won over their patrons and made Waldeck to a bastion of Pietism. As in several of the other articles (as is explicitly discussed by Breul), the role of the noblewomen in accepting, supporting, and spreading Pietism was critical. Björn Schmalz’s brief article on Friedrich Heinrich von Seckendorff focuses on his smuggling of bibles, produced in Halle, to Hungary. The penultimate article by Andreas Pečar examines Carl Leopold von Mecklenburg’s cynical appeals to Francke and the aforementioned Graf Heinrich XXIV Reuß in 1726. Carl Leopold was about to be deposed as duke by the imperial authorities and his appeals to the Pietists were transparently politically motivated – he hoped that the Pietist Reichsadel might intervene on his behalf. Pečar convincingly concludes that we should see this episode not as an example of sincere Pietism (Carl Leopold also flirted with converting to Catholicism, to the same end), but rather as a measure of the Francke’s widespread celebrity and perceived influence at their climax (Francke died the following year).
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Throughout, the question that is the title of the book is answered in various ways, and not only in the sense of “How much can nobles be Pietist?” but more often “Wie kann Adel pietistisch sein?” So, this small and eclectic collection of research articles does not pretend to present a comprehensive or even coherent answer to the question it poses. The studies together seem more like samplings than any coherent “mosaikartig” picture (20), but it is not difficult for a reader to draw some of his own conclusions about how Pietist nobility can be (or how nobles can be Pietist) after reading the individual articles. The last section of Zaunstöck’s introduction also provides some conclusions and questions for further research. To pick nits, Pietism in this book is unchanging, even ahistorical. Zaunstöck and his co-editors are to be applauded for explicitly explaining what they mean by Pietist, and their definition of Pietist and how nobility might be Pietist is expansive and flexible. However, this reviewer wished for more on how Pietism itself changed over time (for example, when Pietism became accepted around 1700, or when Francke died), not only how the relationship of (static) Pietism with the nobility changed over time (which Zaunstöck points to as a question for further research in his Fazit). Also, there are some minor errors, such as saying that Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode was born in 1695 but was already four years old in 1698 (35). Finally, the Mitteldeutscher Verlag’s production of the book could be better: Some of the people mentioned have birth and death dates every time they are mentioned (Ernst zu Stolberg-Wernigerode) but others not at all (Ludwig Christian zu Stolberg-Wernigerode). Generally, though, this is a fine Sammelband on an important topic, and it obviously should be of interest to Pietismusforscher and Adelsforscher and anyone concerned with the specific aristocrats and houses under discussion. Moreover, this is a significant contribution to various fields in the cultural history of seventeenth- and eighteenth-century Europe: women’s history, the history of sociability, the history of poverty, education, and social reform. Prof. Dr. Benjamin Marschke Humboldt State University, Department of History, Founders Hall 180, 1 Harpst St., Arcata, CA 95521, USA, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 212–214 Susanne Netzer Von schönen und necessairen Künsten. Glasproduktion und Glasveredelung in Preußen zwischen 1786 und 1851 Berlin: Duncker & Humblot, 2017, 358 S., 19 farb. Abb., ISBN 978-3-428-1585-1, 79,90 EUR. Glas gehört nicht zu den Materialien, die bislang große wirtschaftshistorische Aufmerksamkeit erfahren haben. Anders als Güter aus Metallen, Edelmetallen oder Energieträgern gelten Glasprodukte als wenig entscheidend für ökonomische Dynamiken in der Vergangenheit, sei es etwa
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im Zuge der europäischen Expansion oder während der Industrialisierung. Nichtsdestotrotz bildet Glas die Grundlage für sehr unterschiedliche Produkte, die in europäischen Gesellschaften spätestens seit dem Mittelalter sehr präsent waren und wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllten. Fenster etwa beeinflussten nicht nur Funktionalität und Ästhetik von Gebäudeensembles, sondern waren in Gotteshäusern Teil der liturgischen Inszenierung. Glasprodukte waren alltägliche Gebrauchsgegenstände, etwa als Geschirr oder Lampen, aber auch Luxusgegenstände, die beispielsweise als Kronleuchter zur sozialen Distinktion beitrugen oder als Geschenke soziale Interaktion begleiteten. In dem vorliegenden Band beschäftigt sich Susanne Netzer mit der Glasproduktion und -veredelung in Preußen während der ersten Hälfte des sogenannten „langen“ 19. Jahrhunderts, das hier mit dem Tod Friedrichs des Großen beginnt und mit der ersten Weltausstellung in London (1851) endet. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf „kunstvoll veredeltem Glas“ (17) – darunter Spiegel, Kronleuchter oder Zierrat. Glas als Gebrauchsgegenstand spielt nur eine untergeordnete Rolle. Dieser Umstand rührt vor allem daher, dass die Autorin bis zu ihrer Pensionierung als Oberkustodin am Kunstgewerbemuseum Berlin tätig war. Die dortige Sammlung war auch Ausgangspunkt für die Studie. Letztere soll gemäß der Autorin weitere Forschungen anregen und mit ihrer „materialspezifische[n] Fragestellung“ kunst- und industriegeschichtliche Untersuchungen ergänzen (18). Neben der Sammlung bildet der einschlägige Aktenbestand des Geheimen Staatsarchivs die Grundlage der Studie. Der Band unterteilt sich in zwei Abschnitte: Der erste enthält die Darstellung zur Glasproduktion und -veredelung in Preußen; der zweite dokumentiert die Quellen zum Thema aus dem Geheimen Staatsarchiv. Der erste Abschnitt stellt die Studie im eigentlichen Sinne dar. Die Autorin beschreibt hier die Produktionsstruktur der Hohenzollernmonarchie und geht auf die regionalen Zustände und Entwicklungen der Glasproduktion ein. Leserin und Leser erfahren hier, wie sich die Märkte für Glasprodukte ausgestalteten und welchen Herausforderungen sich die Glasbauer ausgesetzt sahen. Interessant ist dabei, dass die Glashütten auf den königlichen Domänen auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Produktion dominierten. Zudem setzten sich die Glasbauer dagegen zur Wehr, den Energieträger von Holz auf Kohle umzustellen – eine Maßnahme, die regierungsseitig zum Schutz der Wälder vorangetrieben wurde. Die Autorin berichtet darüber hinaus über die Ausgestaltung der Produktpalette, die sich im Betrachtungszeitraum um feinmechanische Instrumente sowie Modeartikel erweiterte. Es folgen Ausführungen zu verschiedenen Glasveredelungsformen. Bemerkenswert ist dabei, wie etwa der einsetzende Tourismus, etwa im Riesengebirge, oder die ‚Wiederentdeckung‘ der Glasmalerei neue Impulse setzte. Schließlich beschäftigt sich die Autorin mit der Förderung des Glasgewerbes und der Glasveredelung seitens des preußischen Staates. Letzterer bemühte sich nicht nur darum, altes und neues Wissen ins Land zu bringen und dort zirkulieren zu lassen. Vielmehr setzte er auch neue Instrumente wie Preisausschreiben oder Patente ein, um die Glasindustrie zu fördern. Dem ersten Abschnitt schließen sich insgesamt 19 Abbildungen von Glasprodukten aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum an. Der zweite Abschnitt gibt einen breiten Überblick zu den Quellen zum Thema, wie sie im Geheimen Staatsarchiv vorliegen. Die Autorin dokumentiert zunächst sämtliche Akten nebst Fundorten zu den Glashütten in der gesamten Monarchie – alphabetisch sortiert nach Orten. Es folgt
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eine Dokumentation zu Berliner Glasproduzenten und -händlern, die die Autorin aus einer Vielzahl an Quellen herausgearbeitet hat – darunter Adressbücher und -kalender. Aufgeführt werden zudem auswärtige Personen der Glaswirtschaft, die in den vorgenannten Quellen vorkommen. Daran anschließend finden sich edierte Versionen von vier Preisaufgaben, die der Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes zwischen 1823 und 1839 ausschrieb, sowie einer Patenterteilung (1842/43) und eines Einbürgerungsantrages (1837). Der Abschnitt zu den Quellen beinhaltet eine Dokumentation von Glasgeschenken Friedrich Wilhelms III. an andere Personen – darunter Familienmitglieder und Angehörige des Hofes und anderer Adelshäuser (1811–1850). Er schließt mit einer Liste zum gläsernen Inventar im Wohnzimmer des vorgenannten Königs. Insgesamt bietet der Band einen weitreichenden Einblick in die Glaswirtschaft Preußens während der frühen Industrialisierung. Positiv hervorzuheben ist dabei der breite Ansatz der Autorin, die sämtliche Wertschöpfungsstufen sowie auch sie begleitende Prozesse, wie etwa die staatliche Gewerbeförderung, berücksichtigt. Erfreulich ist zudem, dass sich die Autorin nicht nur auf gläserne Kunstgegenstände beschränkt, sondern die Glasproduktion in ihren Grundzügen darstellt. Der Band, wie von der Autorin aber auch nicht intendiert, behandelt die Geschichte der preußischen Glaswirtschaft bis 1850 bei weitem nicht erschöpfend. Dass eine solche Untersuchung aber wirtschaftshistorisch hochinteressant erscheint, ist ein Verdienst dieser Studie zu diesem doch oft übersehenden Wirtschaftszweig. Die umfangreiche und akribische Dokumentation der Quellen zum Thema, wie sie die Autorin vorgenommen hat, wird sich künftigen Studien als äußerst hilfreich erweisen. Dr. Robert Bernsee Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen, Deutschland, [email protected]
4. 19. und 20. Jahrhundert Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 214–216 Horst-Alfons Meißner (Hg.) Neubeginn in der Fremde. Vertriebene aus der Grafschaft Glatz in Schlesien nach 1946 Münster: Aschendorff Verlag, 2016, 505 S., ISBN 978-3-402-13204-3, 29,80 EUR. Der vorliegende Band ist aus Anlass des 80. Geburtstags des 14. (und gleichzeitig letzten) Großdechanten der ehemaligen Grafschaft Glatz in Niederschlesien – Prälat Franz Jung – herausgegeben worden. Dessen Amt war im frühen 19. Jahrhundert deshalb durch die preußische Regierung geschaffen worden, weil diese eine größere kirchliche Selbstständigkeit dieses Gebiets vom Erz-
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bistum Prag erreichen wollte, zu dem die Grafschaft kirchenrechtlich gehörte. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand daraus ein eigenes Generalvikariat mit dem jeweiligen Großdechanten an der Spitze, das unmittelbar dem Prager Erzbischof unterstand. Seither waren die Großdechanten auch Mitglieder der Fuldaer beziehungsweise Deutschen Bischofskonferenz. Dies blieb auch nach 1945 so; die Großdechanten fanden ihr Aufgabengebiet nun innerhalb der Vertriebenenseelsorge. Erst als Folge der endgültigen Regelung der Deutschen Frage 1990 wurde zunächst 1998 die Mitgliedschaft des Großdechanten in der Bischofskonferenz beendet und schließlich ging 2012 das noch bestehende Amt des Kanonischen Visitators für die Grafschaft Glatz, das Franz Jung seit 1983 innehatte, mit seiner Emeritierung in der Visitatur für ganz Schlesien auf. Der Titel Großdechant wird seither nicht mehr vergeben. Das Unikum der kirchlichen Sonderstellung der Grafschaft Glatz begründete schon vor 1945 ein gewisses Sonderbewusstsein der circa 180.000 katholischen „Grafschafter“, die sich als Folge der Vertreibung beziehungsweise der fortbestehenden Eigenständigkeit innerhalb der Vertriebenenseelsorge in der Bundesrepublik noch verfestigte. Der Band dokumentiert diese Prozesse nach 1945 in 40 von 29 Autorinnen und Autoren verfassten Beiträgen, in denen überwiegend Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Wort kommen. Es handelt sich insofern bei diesem Band nicht um eine genuin wissenschaftliche Aufarbeitung der Integration der „Grafschafter“ nach 1945 in die Nachkriegsgesellschaft, sondern um eine Traditionsquelle ganz eigener Art. Gegliedert ist die Festschrift in acht Teile, der eine Laudatio auf Franz Jung und eine Einleitung vorgeschaltet sind. Teil I widmet sich in einem gefällig geschriebenen Aufsatz von Herausgeber Horst-Alfons Meißner – Leiter des Kirchenhistorischen Arbeitskreises – den Eigenheiten der „Grafschafter“ unter dem Titel „Waren und sind sie ‚wirklich etwas Besonders, die Grafschafter‘, ‚eine Menschenart für sich‘, ein ‚eigentümliches Völkchen‘?“. In Teil II werden Aspekte des „Einleben[s] der Grafschafter in neuer Umgebung“ beleuchtet. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem der Beitrag von Michael Hirschfeld über die „Grafschafter“ im Oldenburger Land, ist dieser Autor doch ein vielfältig ausgewiesener Fachmann für die Geschichte Schlesiens und die Vertriebenenintegration nach 1945. Teil III behandelt die Schaffung kultureller Einrichtungen und Bindeglieder – so etwa einschlägige Medien wie den „Grafschafter Boten“ (Herbert Kober), den Marx-Verlag (Doris und Rainer Marx, Erika Stein), den „Altheider Weihnachtsbrief “ (Georg Wenzel, Eberhard Scholz, Horst-Alfons Meißner), Vereinigungen wie den „Glatzer Gebirgs-Verein“ (Christian Drecher), den „Grafschafter Chor“ (Eberhard Olbrich, Georg Jäschke), die „Forschungsgruppe Grafschaft Glatz“ (Gerald Doppmeier) und die „Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte“ (Horst-Alfons Meißner). Besonders hingewiesen sei hier noch auf den sehr interessanten Beitrag von Georg Jäschke über die Jugendorganisation „Die junge Grafschaft“, der dieser von 1976 bis 1981 als Bundessprecher vorstand und in dem die Grundprobleme der Traditionsweitergabe in Vertriebenenorganisationen sehr deutlich wird. Teil IV versammelt Biogramme von „Grafschaftern“, deren Wirken in Beziehung zum vertriebenenpolitischen Engagement von Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren steht. Mehrheitlich handelt es sich um Personen, die einer heutigen, in der Geschichte der Vertriebenenintegration nicht speziell ausgewiesenen Öffentlichkeit unbekannt sind. Dies ist an sich legitim. Bedauerlich ist allerdings, dass die meist sehr knappen Biogramme doch sehr stark einem eher apologetischen Diskurs verpflichtet sind. Das zeigt sich etwa an dem Beitrag von Peter Großpietsch über den
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Priester und Politiker Georg Goebel (1900–1965), in dem die problematischen Aspekte im Wirken dieses interessanten Aktivisten der ersten Stunde für die Vertriebenen – seine zwiespältige Rolle im Machtkampf bei der Gründung der Dachverbände in den späten 1940er-Jahren und seine wachsenden Sympathien für die rechtsradikale Deutsche Reichspartei, was letztlich zu seinem von der Kirche erzwungenen Ausscheiden aus der Vertriebenenpolitik führte – nicht erwähnt beziehungsweise nur ganz verschämt angedeutet werden. Deutlich besser gelungen ist dagegen der Beitrag über den Maler Joseph Andreas Pausewang (1908–1955). Auch hier spürt man zwar allenthalben die große Sympathie des Autors Horst-Alfons Meißner für seinen Helden, doch schöpft er umfassend aus der einschlägigen Literatur und bietet deshalb unter dem Strich eine recht abgewogene Darstellung. Teil V ist dem Aufbau von Betrieben durch Grafschafter gewidmet. Behandelt werden die Familie von Franz Jung als Fallbeispiel für das Grafschafter Bauerntum, die Ingenieurbüros von Joachim Pabsch und der Neuaufbau der Neuroder Rollladen- und Jalousienfirma durch die Familie Tauber in Braunschweig. Bei allen drei Fallbeispielen handelt es sich um Selbstdarstellungen eher autobiographischen Charakters und insofern um klassische Traditionsquellen. In Teil VI werden die Stiftungen „Grafschaft Glatz/Schlesien“ und die „Gerhard-Hirschfelder-Stiftung“ vorgestellt – auch hier wieder in einem letztlich autobiographischen Zugriff. In Teil VII geht es um Denkmäler, Gedenktafeln und Straßennamen als „Reiseführer in die Vergangenheit“ zum einen im heutigen Deutschland, zum anderen in der alten Heimat. Die drei ausführlichen und gut recherchierten Beiträge wurden verfasst von Manfred Spata. Teil VIII widmet sich dem Leben von Deutschstämmigen in der früheren Grafschaft Glatz nach 1945. Der Beitrag „Auf den Spuren meiner Grafschafter Vorfahren“ von Heinz Peter Keuten, der 1963 in Westdeutschland geboren wurde und nach Polen auswanderte, ist hierbei vor allem autobiographischer Natur, aber nicht zuletzt deshalb interessant, weil das Fallbeispiel der Rückkehr eines Vertreters der Bekenntnisgeneration in die vormalige Grafschaft Glatz präsentiert wird, das eher selten ist. Horst-Alfons Meißner beschäftigt sich dagegen überwiegend quellenorientiert mit dem „Deutschen Freundschaftskreis“ in Glatz, einem Zusammenschluss der deutschen Minderheit dort. Der Band bietet ferner 34 Seiten Literaturangaben, ein Autorenregister sowie ein nützliches Namens- und Ortsverzeichnis, das die Benutzung des Werks sehr erleichtert. Prof. Dr. Matthias Stickler Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 217–218 Richard Lakowski Ostpreußen 1944/45. Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches (Zeitalter der Weltkriege 15), Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 264 S., ISBN 978-3-506-78574-9, 34,90 EUR. Im Fokus der von Richard Lakowski verfassten Studie stehen die militärischen Operationen und operativen Gesichtspunkte der Schlacht um Ostpreußen in den Jahren 1944/45. Die im kollektiven historischen Bewusstsein festgesetzten Leiden der flüchtenden Zivilbevölkerung und der tausenden KZ-Insassen, von denen viele im Rahmen oder infolge der „Todesmärsche“ starben, ordnet der Autor zwar ebenfalls in den Gesamtzusammenhang ein; sie beanspruchen in seiner Darstellung aber keine dominante Rolle.1 Den Gegenstand seiner Analyse bilden durchweg die operativen Planungen und Kämpfe sowjetischer und deutscher Truppen zwischen Herbst 1944 und Mai 1945 im Gebiet des heutigen Dreiländerecks zwischen Litauen, Polen und russischer Exklave. Nach einigen kurzen Ausführungen zur Geographie des Untersuchungsraumes nimmt Lakowski überblicksartig eine Vielzahl militärischer Konflikte in den Blick, in denen Ostpreußen als Schlachtfeld diente. Ausgehend vom Mittelalter zeigt er eine Vielzahl an Konstanten auf, die überwiegend auf natürliche Gegebenheiten zurückzuführen sind. Abschluss und zugleich Schwerpunkt dieses Kapitels bilden die Ereignisse des Ersten Weltkrieges (vor allem die Vorgänge von 1914/15), aus denen sowohl die deutsche als auch die sowjetische Seite für ihre jeweilige Kriegsführung 1944/45 direkte Schlussfolgerungen zogen. Im dritten Kapitel folgt anschließend eine ausführliche Darstellung der militärischen Situation vor dem Beginn der sowjetischen Offensive Ende des Jahres 1944, in der Lakowski deutlich das Ungleichgewicht der Kräfte vor Augen führt und verschiedentlich betont, dass die deutsche Heeresleitung ihren Gegner wiederholt unterschätzt, die sowjetische Seite dagegen die Stärke der deutschen Streitkräfte oft überschätzt habe. Das darauffolgende Kapitel widmet sich sodann den konkreten Angriffs- beziehungsweise Verteidigungsvorbereitungen sowie dem eigentlichen Kampfgeschehen bis Ende Januar 1945. Besonders die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Einsätzen in der ostpreußischen Provinz, wie beispielsweise mit der „Gumbinnen-Operation“ (der ersten sowjetischen Invasion in Ostpreußen im Herbst 1944) oder dem „Unternehmen Tarnkappe“ (der von der Forschung bislang wenig beachtete Ausbruchsversuch der deutschen 4. Armee nach Westen in der letzten Januarwoche 1945), ermöglicht einen neuen Einblick in das Verhalten der beiden Militärstreitkräfte unmittelbar vor Kriegsende. Im letzten Kapitel rückt dann das „Ende des deutschen Ostpreußen“ (159), also die militärische Schlussphase bis zur deutschen Gesamtkapitulation am 9. Mai 1945, in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Obgleich der Verfasser im vierten und fünften Kapitel wiederholt auf die diversen Wechselwirkungen des deutsch-sowjetischen Konfliktes hinweist, die dieser unzweifelhaft auf die Region Ostpreußen hatte, bleibt zu hinterfragen, ob die Studie tatsächlich das komplexe Zusammenspiel zwischen Militär und den „verheerenden Begleiterscheinungen des sogenannten totalen Krieges“ abbildet, wie der Buchrücken suggeriert. Für ein solch vielschichtiges Gesamtbild mangelt es der
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Arbeit Lakowskis dann leider doch an zu vielen neueren Forschungsarbeiten, die hauptsächlich im angloamerikanischen Raum entstanden sind und die sich der unterschiedlichsten Forschungsfelder in Bezug auf die Entwicklungen und Auswirkungen des „totalen Krieges“ annehmen: So bleiben etwa wichtige Untersuchungen zur NS-Herrschaft im Osten des Deutschen Reiches 1944/45, zum „Volkssturm“ oder zur Rolle der Kriegsmarine unberücksichtigt.2 Auch bilden die bereits erwähnten „Todesmärsche“ und Flüchtlingstrecks keine eigenständigen Glieder einer für die Untersuchung relevanten Argumentationskette, da sie vielmehr isoliert bleiben. Als ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Analyse der verschiedenen Parteiorganisationen zu nennen, was schon deshalb verwundert, weil diese einen entscheidenden Einfluss auf Evakuierungs- und Verteidigungsmaßnahmen besaßen. Trotz dieser Monita gelingt es Lakowski, die Tür zu einer Debatte aufzustoßen, in der die Sozial- und Militärgeschichte tiefer miteinander verflochten ist, als dies bislang oftmals der Fall war. Der klare Schreibstil des Autors, der strukturierte Aufbau der Darstellung und die reichlichen Kartenbeigaben sorgen insgesamt dafür, dass die Studie nie den Blick für das Ganze verliert und selbst für Rezipientinnen und Rezipienten, die über keine speziellen Vorkenntnisse hinsichtlich der Entwicklungen in Ostpreußen 1944/45 oder militärischer Operationsziele verfügen, stets nachvollziehbar und spannend zu lesen ist. 1 2
Das kollektive historische Bewusstsein wurde maßgeblich geprägt durch JÜRGEN THORWALD: Es begann an der Weichsel, Stuttgart 1950; sowie EDWIN ERICH DWINGER: Wenn die Dämme brechen. Der Untergang Ostpreußens, Frankfurt a. M. 1950. Exemplarisch sind zu nennen: Alastair Noble: Nazi rule and the Soviet offensive in Eastern Germany, 1944–1945. The darkest hour, Brighton 2009; Howard D. Grier: Hitler, Dönitz, and the Baltic Sea. The Third Reich’s last hope, 1944–1945, Annapolis 2007; David K. Yelton: Hitler’s Volkssturm. The Nazi Militia and the fall of Germany, 1944–1945, Lawrence 2002.
Dr. Martin Göllnitz Philipps-Universität Marburg, Institut für Hessische Landesgeschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6, 35032 Marburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 218–220 Georg D. Falk Entnazifizierung und Kontinuität. Der Wiederaufbau der hessischen Justiz am Beispiel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 86). Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2017, 531 S., ISBN 978-3-942225-38-0, 35,00 EUR. Der Autor der Studie über das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) in der Nachkriegszeit, Georg D. Falk, war bis 2014 selbst Vorsitzender Richter am OLG und hat sich in verschiedenen Veröffentlichungen mit der Geschichte seines Berufsstandes im Nationalsozialismus ausein-
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andergesetzt. In der vorliegenden Arbeit wird nun aber nicht nach dem Verbleib von NS-Richtern in der Bundesrepublik gefragt, sondern vielmehr die Zusammensetzung des nachnationalsozialistischen OLG untersucht. Dafür definiert Falk drei Kohorten: zum einen die OLG-Richter, die zwischen 1946 und 1949 tätig gewesen sind – darunter auch Hilfsrichter, was mit der hohen Fluktuation in den ersten Jahren begründet wird. Die zweite Gruppe bilden die 1953 amtierenden Richter, nun – nach der Konsolidierung der Strukturen – ohne abgeordnete Richter zu berücksichtigen. Als dritte Kohorte werden die OLG-Richter im Jahr 1960 betrachtet. Eine Stärke der Arbeit liegt in der Formulierung einer anwendbaren Definition von NS-Belastung, die sich nicht – wie in den Entnazifizierungsprozessen – auf „formale“ NS-Mitgliedschaften konzentriert. Vielmehr orientiert sich der Autor an dem Idealbild des unbefangenen Richters als einem „eher objektiv-abstrakten Maßstab“ (27). Ob ein Richter als befangen oder unbefangen gelten konnte, dafür komme, so Falk, zurückliegenden Mitgliedschaften in NSDAP, Gliederungen und Verbänden „keine ausschlaggebende Bedeutung zu“ (29); vielmehr müsse eine wertende Gesamtschau der richterlichen Tätigkeit erfolgen. Für diese Gesamtschau werden die Karrierewege der Richter im „Dritten Reich“, die Art der Tätigkeit (zum Beispiel an Sondergerichten) sowie konkrete richterliche Entscheidungen betrachtet. Nach einem Kapitel, das die Rahmenbedingungen beim Wiederaufbau des Oberlandesgerichts und der Entnazifizierung thematisiert, wird dieser Befangenheitsmaßstab an die Richter der drei Kohorten angelegt. In der ersten Gruppe finden sich unter 51 Personen nur vier, auf die die formulierten Befangenheitskriterien zutrafen, und keiner von ihnen hatte der NSDAP angehört. Umgekehrt waren 60 Prozent der Juristen verfolgt oder diskriminiert worden. Für Falk zeigt sich „der bemerkenswerte Befund, dass zumindest bei der Neuerrichtung des Oberlandesgerichts, dem ersten Obergericht des Landes Hessen, der Wiederaufbau der Justiz mit unbelasteten Richtern im Wesentlichen gelungen ist“ (245). In den 1950er-Jahren begann indes „die Zeit der Mitläufer“ (279). Im Jahr 1953 war bereits ein Drittel der nunmehr 48 Richter Mitglied der NSDAP gewesen und ein Viertel im Sinne der Untersuchung belastet. Zugleich gelangten sechs weitere verfolgte Juristen ans OLG, wo trotzdem nun nicht mehr zurückliegende NS-Schädigung als Gruppenschicksal dominierte. Die Kohorte der 67 im Jahr 1960 aktiven Richter zeigt bereits generationelle Effekte: Die Zahl der NS-Geschädigten sank absolut und aufgrund des Stellenaufwuchses noch deutlicher relativ auf ein Fünftel und viele Richter hatten nun bereits „lebensaltersbedingt keine Belastungen aus einer richterlichen Berufstätigkeit“ (403), auch wenn die Zahl der Belasteten absolut etwas zunahm. Deutlicher ist dagegen der Anstieg der ehemaligen NSDAPMitglieder auf gut die Hälfte. Dieser Befund zeigt dann auch die Grenzen der entwickelten Befangenheitsdefinition. Auch wenn von den 1960 aktiven OLG-Richtern auf ihrem vorherigen Karriereweg NS-Konzessionen (wie etwa der Parteieintritt und die Übernahme von Ämtern) vehement eingefordert worden waren, so sind sie doch geleistet worden – und das häufig auch bereitwillig, was bei der späteren Bewertung von Entscheidungshandeln in der Diktatur zumindest den Anschein einer Befangenheit begründen dürfte. Die einzelnen Kohorten werden über Kurzbiographien aufgeschlossen, denn, so argumentiert Falk überzeugend: „Eine Institutionengeschichte kommt ohne Analyse der Personen nicht aus“ (9). Dadurch werden vor allem bei den Richtern der ersten Kohorte Geschichten der Entrech-
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tung und zum Teil mutigen Verhaltens deutlich. In den späteren Kohorten zeigen sich dagegen häufiger individuelle Nazifizierungsprozesse. In einem abschließenden Kapitel erörtert Falk die Frage, ob die anfängliche Dominanz verfolgter Richter zu einer besonders konsequenten Rechtsprechung geführt habe, und identifiziert „bedeutsame Gerichtsentscheidungen […] gerade im Bereich der Aufarbeitung des Unrechts der NS-Diktatur“ in den Jahren bis 1950 (470). In der Gesamtschau zeigt sich eine akribisch erstellte, die eigene Methodik wiederholt reflektierende Arbeit, die zahlreiche bisher unbekannte Biographien nicht nur quellennah erschließt, sondern auch kontextualisiert. Dabei argumentiert Falk explizit als Richter und legt sich selbst „die Notwendigkeit zu entscheiden“ auf (22). Dies führt tatsächlich zu entschiedenen Ergebnissen, so dass sich belastete und unbelastete Richter auch da gegeneinander auszählen lassen, wo Historikerinnen und Historiker sich vielleicht mit dem Akzentuieren von Grauzonen und Ambivalenzen beschieden hätten. An der übersichtlichen Gliederung der Studie ist lediglich zu beanstanden, dass die das gesamte Werk abschließende „Zusammenfassung der Ergebnisse“ (473–478) dem letzten Kapitel über die Praxis der Rechtsprechung zugeschlagen wurde. Bei der sonst flüssig geschriebenen Arbeit scheint allein der Tempuswechsel bei den zahlreichen Einschüben unglücklich, wird doch die rückschauende Erzählperspektive nicht wirklich verlassen. Am Ende überzeugt die Arbeit vor allem, weil sie mittels biographischer Einzelfallbetrachtungen überindividuelle Brüche und Diskontinuitäten verdeutlicht, die die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit kennzeichneten und aufgrund der gesetzten Standards und – dies wird hier besonders eindrücklich – auch der besetzten Posten die Re-Demokratisierung Deutschlands häufig erst ermöglichten. Dr. Anton F. Guhl Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Geschichte, Douglasstraße 24, 76133 Karlsruhe, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 220–223 Karl-Heinz Braun, Hugo Ott, Wilfried Schöntag (Hg.) Mittelalterliches Mönchtum in der Moderne? Die Neugründung der Benediktinerabtei Beuron 1863 und deren kulturelle Ausstrahlung im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg 205), Stuttgart: W. Kohlhammer, 2015, 237 S., ISBN 978-3-17-029890-3, 28,00 EUR. Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die in der Erzabtei Beuron 2013 aus Anlass der 150-jährigen Wiedererrichtung als Benediktinerkloster – die erste benediktinische Gründung auf deutschem Boden außerhalb Bayerns nach der Säkularisation, von wo aus schnell zahlreiche weitere inkorporierte Klöster gegründet wurden – abgehalten wurde. Sie sollte den restaurativen
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Vorstellungen vom Klosterleben nachgehen, die die Gründergeneration prägten, und den damit verbundenen Mittelalterbildern. Die Gründung Beurons wurde ermöglicht vom katholischen Fürstenhaus Hohenzollern. Diese Hintergründe analysiert Volker Trugenberger, der auch auf die Erfahrungen der eigentlichen Stifterin – Fürstin Katharina von Hohenlohe (1817–1893), verwitwete Hohenzollern – eingeht, die ihren Versuch in Rom, in das Kloster Sant’Ambrogio einzutreten, beinahe mit dem Leben bezahlt hätte (1–34). Sie wandte sich nach 1858 deshalb den Benediktinern in San Paolo fuori le Mura zu, von wo die Gebrüder Maurus (1825–1890) und Placidus (1828–1908) Wolter ein Kloster in Deutschland gründen wollten, das Katharina von ihrem Besitz zu finanzieren bereit war. Die Wahl fiel auf Beuron; in Klosternähe nahm auch Katharina (vorübergehend) ihren Wohnsitz. Vorbild sollte die französische Abtei Solesmes sein, die für die ultramontane, an Rom orientierte Restauration des Benediktinertums stand. 1875 bis 1887 musste der Konvent wegen der Kulturkampfgesetzgebung ins Exil gehen. In der Weimarer Republik überführte das Fürstenhaus seine bisherigen Beuroner Besitzungen in Stiftungen. Eine besondere Vorliebe hatte Kaiser Wilhelm II. für Beuron, das er 1910 besuchte; die Benediktiner schienen mit seiner ideologischen Rückbesinnung auf das hohe Mittelalter zu korrespondieren. Als nach der Einweihung der protestantischen Erlöserkirche in Jerusalem 1898 – so Oliver Kohler – die Eingaben der deutschen Katholiken um eine Präsenz in der Heiligen Stadt vom Kaiser nicht mehr überhört werden konnten und das Gebiet der „Dormitio“ erworben wurde, wollte der Kaiser Maria Laacher Benediktiner dort, also Mitglieder der Beuroner Kongregation. Die Übergabe der vom Kölner Diözesenbaumeister Heinrich Renard erbauten Dormitio-Abtei an die Benediktiner erfolgte 1906; erneut war es also die Assoziation Beurons mit einer spirituellen, am Mittelalter orientierten Gegenwelt zum Laizismus und Utilitarismus der Gegenwart, die für den Kaiser den Ausschlag gab. Die Bezugnahme auf das monastische Mittelalter reichte dabei – wie Ewald Frie darlegt – bei den preußischen Hohenzollern bis zu Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zurück; seine Rückbesinnung auf nationale und christliche Größe hatte eine antirevolutionäre Stoßrichtung, indem sie eine geistige Wiedergeburt der Nation erstrebte und sich ganz besonders hierfür auf die rheinischen Kunstdenkmäler stützte. Das kulturelle Selbstverständnis der Benediktinerklöster des 18. Jahrhunderts – also in einer Zeit, auf die man in Beuron bewusst nicht zurückgegriffen hat – beschreibt Franz Quarthal, der eine Intensivierung und Verwissenschaftlichung der klösterlichen Studien (Geschichte, Naturwissenschaften, neue Unterrichtsmethoden) ausmacht. Gegen eine falsche Aufklärung betonte man die patriotische Nützlichkeit der eigenen Institution. Karl-Heinz Braun zeigt im Kontrast hierzu, wie die aufklärerische Kritik mit ihren Negativklischees am Mönchtum in den Landtagsdebatten des späten 19. Jahrhunderts vonseiten der Liberalen fortgeschrieben wurde; das Ordensverbot wurde im Großherzogtum noch 1892 verlängert. Die monastischen Ideale, die hinter der Beuroner Gründung standen, analysiert vor diesem Hintergrund Andreas Sohn. Das Benediktinische sollte, so die Programmschrift Maurus Wolters von 1880, von allen fremden späteren Einflüssen befreit werden. Dabei gewannen Abt Prosper Guéranger (1805–1875) und Solesmes große Bedeutung, ohne dass Beuron einfach eine Kopie desselben gewesen wäre. Kennzeichnend wurden der absolute Vorrang der Liturgie und des Chorals, die Betonung der Liebe zur Zelle und
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damit der stabilitas loci, die ultramontane Ausrichtung, das Kongregationsprinzip (Loslösung von Monte Cassino und Rechtsnachfolge der Bursfelder Kongregation), in das das Einzelklöster integriert wurde, und die Ablehnung der Pfarrseelsorge. Der Abt sollte auf Lebenszeit gewählt und die Novizen grundsätzlich im eigenen Kloster ausgebildet werden. Dabei galt das Mittelalter als die christliche Idealzeit Europas; modellhaft sollte dieses in Beuron wieder anbrechen. Die Bedeutung des Einflusses von Solesmes skizziert Cyrill Schäfer noch genauer. Maurus und Placidus Wolter hielten sich dort jeweils einige Zeit auf; auch Fürstin Katharina war zwei Mal dort. Guéranger wollte dort devotionalistisch-jesuitische Andachtsformen möglichst beschneiden und alle gallikanisch-lokalkirchlichen Formen der Liturgie zugunsten einer strengen Romorientierung eliminieren. Beide Klöster betrieben auch den Zusammenschluss aller Benediktinerklöster als Verband, der gegenüber den späteren mehr zweckbestimmten Orden die Reinform des Monastischen repräsentieren sollte. Nach dem Tod Guérangers rückte man in Solesmes von den Beuroner Unionsplänen jedoch wieder ab. Eine weitere Gruppe von Beiträgen behandelt die Abtei in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Letzterer war für den Zusammenhalt der Mönchsgemeinschaft eine schwere Herausforderung, so Franz-Josef Ziwes. Während Erzabt Raphael Walzer (1888–1966) einen strikten Oppositionskurs einschlug und rechtskatholische Brückenbauversuche, für die andere Beuroner Klöster standen und mit denen auch das Fürstenhaus sympathisierte, unterbinden wollte, bildete sich eine Oppositionsgruppe, die P. Hermann Keller (1905–1970) als Prior aufbaute. 1935 durfte Walzer nicht mehr ins Reich von einer Auslandsreise zurückkehren, so dass er 1937 als Abt resignieren musste. Keller suchte über Kontakte zum Sicherheitsdienst für den Erhalt Beurons zu wirken, spielte dabei aber eine zwielichtige Rolle. Letztlich waren es der Sigmaringer Landrat und der Fürst, die die Aufhebung der seit 1937 von Benedikt Baur geleiteten Abtei verhinderten. Die merkwürdige Episode, als ein Teil der Philosophischen Fakultät am Kriegsende Freiburg verließ und nach Beuron beziehungsweise Burg Wildenstein ging, untersucht Dieter Speck, der damit in der Erinnerungsliteratur herumgeisternde Mythen relativieren kann (es waren nur wenige Studierende und nur acht von 18 Professoren; Heidegger hatte dort eine Liebesaffäre mit der Fürstin Margot von Meiningen). Seit seiner Kindheit hatte Martin Heidegger enge Verbindungen zum benachbarten Beuron, wie Hugo Ott zeigt. Auch nach dessen Bruch mit dem Katholizismus (1919) blieb er mit dem Kloster und der Landschaft seiner Kindheit verbunden. Einen ungleich nachhaltigeren Einfluss übte Beuron aber auf Edith Stein aus. Diese – so Katharina Seifert – verbrachte dort nach ihrer Konversion immer wieder die Kar- und Ostertage, um das benediktinische Stundengebet mitzufeiern, was für sie „wie der Vorhof zum Himmel“ (218) war. Hier reifte ihr Entschluss, in den Karmel einzutreten, wobei sie insbesondere mit Erzabt Walzer ein Vertrauensverhältnis verband. Dieser war ihr von Erich Przywara als geistlicher Begleiter empfohlen worden. Er übermittelte auch ihren berühmten Brief vom April 1933 an den Papst. Der Sammelband bietet so nicht nur facettenreiche Beiträge zur Geschichte Beurons; er kann auch die These vom Rekurs auf das mittelalterliche Mönchtum, der die frühe Beuroner Kongregation prägte, spezifizieren. Hier wäre vielleicht eine weitere Vertiefung möglich gewesen, indem nach dem Verhältnis von antiken Anfängen und mittelalterlicher Weiterentwicklung und nach differenten und konkurrierenden Bildern vom mittelalterlichen Mönchtum in den Reformkon-
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zepten des 19. Jahrhunderts weiter gefragt worden wäre. Diese Aufgabe bleibt so weiteren Studien vorbehalten. Prof. Dr. Klaus Unterburger Universität Regensburg, Lehrstuhl Historische Theologie, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 223–225 Georg Jäschke Wegbereiter der deutsch-polnisch-tschechischen Versöhnung? Die katholische Vertriebenenjugend 1946–1990 in der Bundesrepublik Deutschland Münster: Aschendorff Verlag, 2018, 352 S., ISBN 978-3-402-13276-0, 49,00 EUR. Die vorliegende Studie wurde 2017 von der Fakultät für Geschichte der Universität Vechta als Doktorarbeit angenommen. Der Autor, nach dem Zweiten Weltkrieg in Nordrhein-Westfalen als Sohn heimatvertriebener Schlesier aus der Grafschaft Glatz geboren, hat sich, was in der Arbeit nicht eigens thematisiert wird, aber durch entsprechende Recherchen im Internet erschließbar ist, seines Themas nicht ausschließlich aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse angenommen. Er war vielmehr auch selbst im Milieu der katholischen Vertriebenenjugend aktiv und von 1976 bis 1982 Bundessprecher der sogenannten „Jungen Grafschaft“, der Vertriebene und deren Nachkommen aus der Grafschaft Glatz in Niederschlesien angehören. Die daraus resultierende biographische Nähe zum Untersuchungsgegenstand führt indes nicht dazu, dass Jäschke gleichsam einen apologetischen Ansatz verfolgen würde. Er verbindet vielmehr überzeugend den verstehenden Blick des Insiders mit dem distanzierten Zugriff des Wissenschaftlers. Aufbauen konnte Jäschke, der von Beruf Gymnasiallehrer war, unter anderem auf einer vor gut 30 Jahren erschienenen ersten Publikation, die sich damals ausschließlich mit der Geschichte der „Jungen Grafschaft“ beschäftigte. Die Erforschung der Geschichte der landsmannschaftlich verfassten katholischen Vertriebenenjugend füllt eine nicht ganz unbedeutende Lücke in der Vertriebenenforschung, weil die 2007 erschienene Studie von Sabine Voßkamp über „Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland“ dieses Thema nur am Rande behandeln konnte.1 Jäschkes konkreter Untersuchungsgegenstand sind die sudetendeutsche „Junge Aktion der Ackermann-Gemeinde“ ( JA), die „Aktion Junges Schlesien“ (AJS), die ostpreußische „Gemeinschaft Junges Ermland“ (GJE), die „Gemeinschaft der Danziger Katholischen Jugend“ (später „Adalbertus-Jugend“) und die „Junge Grafschaft“ – mithin die fünf größten beziehungsweise bedeutendsten von insgesamt elf Jugendorganisationen. Kleinere, wie etwa die „Karpathendeutsche Katholische Jugend“ oder der „Hochschulring der Ackermann-Gemeinde“, werden sinnvollerweise nur am Rande behandelt. Die Basis der chronologisch aufgebauten Studie bilden neben der vorhandenen Literatur das ein-
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schlägige Archivmaterial sowie Zeitzeugeninterviews. Ein Namens- und Ortsregister, statistische Angaben, ein Abkürzungsverzeichnis sowie Biogramme bereichern die Darstellung. Die Gründung spezifisch katholischer Vertriebenenjugendorganisationen in den 1950er-Jahren war Ausdruck einer die Vertriebenenorganisationen insgesamt kennzeichnenden Heterogenität. Fortgeschrieben beziehungsweise erneuert wurden auf diese Weise zum einen konfessionelle Strukturen aus der alten Heimat; Jäschke verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf das Wirken charismatischer Priesterpersönlichkeiten, die auf Erfahrungen aus der Jugendarbeit zurückgreifen konnten. Zum anderen spielte eine ebenso wichtige Rolle, dass sich die katholischen Organisationen programmatisch abgrenzen wollten von säkularen Vertriebenenjugendorganisationen. Besonders deutlich war dies etwa bei der Gründung der JA, die sich als Alternative zur „offiziellen“ „Sudetendeutschen Jugend“ sah, welche stark geprägt war von den Traditionen der völkischen Bewegung im Sudetenland. In gewisser Weise wurden so in der frühen Bundesrepublik unterhalb beziehungsweise neben der „Sudetendeutschen Landsmannschaft“ die (partei-) politischen Lagerbildungen aus der Zeit der ersten tschechoslowakischen Republik bei den Jugendorganisationen in ähnlicher Weise fortgeschrieben wie bei den sogenannten „Gesinnungsgemeinschaften“ (katholische „Ackermann-Gemeinde“, sozialdemokratische „Seliger-Gemeinde“ und völkischer „Witikobund“). Eine offensichtliche Konkurrenzsituation bestand ebenfalls zum 1951 gegründeten Verband „Deutsche Jugend des Ostens“ (DJO), der für sich in Anspruch nahm, die landsmannschaftliche Vertriebenenjugend insgesamt zu repräsentieren. Diese Konstellationen erklären auch, warum – und insofern ist der Titel des Bandes durchaus richtig gewählt – der Versöhnungsgedanke bei den katholischen Vertriebenenjugendorganisationen bereits in den 1950er-Jahren eine wichtigere Rolle spielte als Forderungen nach Grenzrevision und Rückkehr. Ebenfalls aufschlussreich sind Jäschkes Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Einbindung der katholischen Vertriebenenjugendorganisationen in den „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ), dem diese sich 1951 anschlossen. Sie arbeiteten dort zusammen in Gestalt einer „Aktion heimatvertriebener katholischer Jugend“ (AhkJ), später „Aktion katholischer landsmannschaftlicher Jugend“ (AklJ) beziehungsweise „Aktion West-Ost im BDKJ. Arbeitsgemeinschaft für europäische Friedensfragen“ (AWO). Die wechselnden Namen waren auch Ausdruck einer sich verändernden Programmatik innerhalb der Einzelverbände, die – das wird in Jäschkes Darstellung überdeutlich – immer wieder von heftigen Auseinandersetzungen begleitet waren. Konflikte gab es zum einen mit dem BDKJ, der seit den 1960er-Jahren (kirchen-)politisch immer mehr nach links rückte und vor diesem Hintergrund auch Kontakt mit kommunistischen Jugendorganisationen im Ostblock knüpfte, was von den AklJ-Verbänden mehrheitlich abgelehnt wurde. Diese suchten vielmehr in der alten Heimat Kontakte zu katholischen Gemeinden beziehungsweise Jugendorganisationen zu knüpfen, was unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur selbstverständlich sehr schwer war. Angesichts der sich seit den 1960er-Jahren sukzessive verändernden außenpolitischen Großwetterlage, aber auch der innenpolitischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, gab es Konflikte allerdings ebenso intern um den richtigen Weg in der „Heimatpolitik“. Insgesamt distanzierten sich die katholischen Vertriebenenjugendorganisationen hier mehrheitlich von der vom „Bund der Vertriebenen“ (BdV) und seinen Mitgliedsorganisationen vertretenen harten Linie; sie wurden aber ebenso wie diese ab 1969 von der Neuen Ostpolitik
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gleichsam überrollt. Erschwert wurde die Lage ferner dadurch, dass den Vertriebenenverbänden in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzungen um die Neue Ostpolitik der Wind ins Gesicht blies und ihnen immer mehr der Ruf anhing, „revanchistisch“ zu sein. Deshalb erlebten die katholischen Vertriebenenjugendorganisationen seit den 1970er-Jahren einen dramatischen Niedergang; erst seit den 1980er-Jahren gelang eine Art Konsolidierung auf erheblich reduziertem Niveau. Die AJS versuchte nach langer Stagnation 1993 einen Neustart als „Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung“ (GdpV) und gab damit den landsmannschaftlichen Anspruch zumindest im Namen auf. Bemerkenswert ist, dass die Verbindung zum BDKJ trotz aller Friktionen erhalten blieb; für diesen blieb die AWO, so Jäschke, „Experte für die Aussöhnung und Verständigung mit den osteuropäischen Nachbarn“ (330). Man wird diesen Befund wohl auch damit erklären können, dass der BDKJ angesichts der fortschreitenden Säkularisierung in der Bundesrepublik und dem damit verbundenen Bedeutungsverlust katholischer Verbände insgesamt an einem Konfrontationskurs nicht interessiert war. Jäschke zieht unter dem Strich eine versöhnliche Bilanz der Arbeit der katholischen Vertriebenenjugendorganisationen und bezeichnet sie als „Brückenbauer im Verständigungs- und Versöhnungsprozess mit den östlichen Nachbarn“ (336). Gleichwohl wird man natürlich ebenso feststellen müssen, dass deren Entwicklung belegt, dass der Jugendarbeit im Vertriebenenmilieu als Folge einer letztendlich doch gelungenen Integration beziehungsweise Assimilation dieser Opfergruppe Grenzen gesetzt waren und die katholischen Vertriebenenjugendorganisationen trotz aller Versuche, Anschluss an eine sich verändernde Gesellschaft zu finden, deshalb faktisch zu Repräsentanten einer immer marginaler werdenden Randgruppe wurden. 1
Sabine Vo ß kamp: Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007.
Prof. Dr. Matthias Stickler Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 38 (2020), 225–227 Nadine Freund Teil der Gewalt. Das Regierungspräsidium Kassel und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 85), Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2017, 646 S., ISBN 978-3-942225-37-3, 35,00 EUR. Die Aufarbeitung der Geschichte deutscher Behörden und Verwaltungseinheiten auf Staatsebene während des nationalsozialistischen Herrschaftssystems hat seit einiger Zeit Konjunktur und so überrascht es nicht, dass zunehmend auch die mittleren Verwaltungssitze auf regionaler Ebene in
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den Fokus der Forschung rücken. Nadine Freund hat sich nun in ihrer 2013 initiierten und 2017 abgeschlossenen Forschungsstudie mit dem Regierungspräsidium Kassel, dem Verwaltungssitz des größten hessischen Regierungsbezirks, befasst. Die Autorin liefert allerdings keine klassische Behördengeschichte; vielmehr werden übergeordnete Fragen, etwa in Bezug auf die Elitenkontinuität nach 1945, thematisiert und beantwortet. Dafür greift sie vor allem auf vielfältiges Aktenmaterial aus dem Berliner Bundesarchiv und den hessischen Staatsarchiven in Marburg und Wiesbaden zurück. Vom Regierungspräsidium selbst sind nur relativ wenige Unterlagen erhalten, weshalb immer wieder auf das Schriftgut von anderen Stellen ausgewichen wird, die mit der Kasseler Behörde in Kontakt standen. Auf über 600 Seiten befasst sich die Arbeit in sechs umfangreichen Kapiteln mit dem Aufstieg der NS-Bewegung in Nordhessen, mit der Beteiligung des Regierungspräsidiums an der nationalsozialistischen Machtsicherung und an den judenfeindlichen Maßnahmen seit 1933, mit den Aufgaben und Kompetenzen der Behörde im Machtgefüge des NS-Staates, mit ihren leitenden Beamten und deren Handlungsspielräumen in einer totalitären Diktatur sowie mit dem Zusammenspiel von regionaler Verwaltung und NSDAP, das sich konflikt-, spannungs- und interessenreich gestaltet hat. Inhaltlich werden die einzelnen Themenkomplexe durchgehend differenziert und unter Berücksichtigung einschlägiger Forschungsthesen präsentiert. Beim Lesen wird jedoch schnell augenfällig, dass die Verfasserin im Kern zwei Hauptanliegen verfolgt: Zum einen beleuchtet sie verstärkt die Beteiligung der Kasseler Behörde an der nationalsozialistischen Judenverfolgung, deren Beamte einen enormen Eifer bei der Umsetzung der Nürnberger Gesetze an den Tag legten und die sich aktiv in die judenfeindlichen Bestimmungen der Parteistellen und der Ministerialbürokratie einbrachten. Dieser überbordende Enthusiasmus wird insbesondere darin erkennbar, dass die Mitarbeiter des Regierungspräsidiums teilweise auf eine verschärfte antijüdische Gesetzgebung drängten oder ihren Ermessensspielraum bei der Anwendung einzelner Erlasse tendenziell zum Nachteil der betroffenen Juden nutzten. Zum anderen versucht Freund aufzuzeigen, welchen Platz das Regierungspräsidium Kassel innerhalb des nationalsozialistischen Machtgefüges einnahm, was ihr allerdings nicht so recht gelingt, zumal die Grenzen zwischen Verwaltung und Politik in der Realität der NS-Herrschaft zunehmend verschwammen. So reklamierten die Funktionsträger und Gauämter der NSDAP wiederholt Verwaltungsaufgaben für sich, während Staatsbeamtete natürlich Aufgaben innerhalb des Parteiapparates übernehmen konnten. Die in der Forschung bisweilen kolportierte „Personalisierung der Politik“ führte aber keineswegs zwangsläufig dazu, dass die traditionelle Verwaltung gegenüber der Politik ins Hintertreffen geriet.1 Im äußerst komplexen Machtgefüge des NS-Regimes war das Regierungspräsidium allerdings nur ein Akteur unter vielen, das zudem in die vorherrschende Staatsarchitektonik fest eingebunden war und das in dem von Parteigrößen geschaffenen Spannungsfeld von Kompetenzstreitigkeiten und Revierabgrenzungen zu agieren hatte. Im Großen und Ganzen verifiziert Freund in ihrer Forschungsarbeit somit jene Erkenntnisse, die die zeitgeschichtliche Forschung in den letzten Jahren in Bezug auf die Behörden und Verwaltungseinheiten des NS-Herrschaftssystems herausgearbeitet hat und die sich auch für andere deutsche Regionen beobachten lassen. Umso mehr erstaunt es, dass ein Vergleich mit anderen
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Provinzen beziehungsweise Teilen des Deutschen Reiches versäumt wurde und die Leserschaft daher nichts über regionale Besonderheiten oder Unterschiede erfährt. Eine solche Perspektive hätte die Arbeit gewiss bereichert und dazu beigetragen, dass die mittleren Verwaltungseinheiten des NS-Staates auf regionaler Ebene stärker als aktive Akteure mit eigenen Handlungs- und Ermessensspielräumen wahrgenommen werden, die sich über Landesgrenzen hinweg untereinander austauschten und die durchaus erfolgreich gemeinsame Ziele verfolgten. Auch ist die Studie von Freund nicht frei von Ungenauigkeiten und Fehlern. So war der Schreibtischtäter Max Hagemann 1951/52 der erste Präsident des Bundeskriminalamtes – er hatte dieses Amt nicht erst ab 1968 inne, wie die Verfasserin schreibt (131).2 Und Uwe Dietrich Adam war gewiss kein „NS-Historiker“ (417), sondern ein Zeithistoriker, der sich wissenschaftlich mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung befasste. Unverständlich ist weiterhin, dass bei so einer umfassenden Lektüre auf ein Personen-, Orts- und Institutionenregister verzichtet wurde. Die erwähnten Leerstellen unterstreichen letztlich vor allem die Bedeutung des Themas für die weitere historische Forschung. Langsam zeichnet sich ein sinkender Bedarf an Studien ab, die im Geiste einer traditionellen Verwaltungsgeschichte die NS-Vergangenheit deutscher Behörden als „leere Gehäuse“ darstellen, deren Funktionsträger von einer generellen Machtlosigkeit gekennzeichnet waren und die als bloße Ausführungsorgane eines übergeordneten Staats- und Parteiapparates über keine eigenen Handlungs- und Ermessensspielräume disponieren konnten. Gleichzeitig aber ist mit Genugtuung festzustellen, dass die jüngere Aufarbeitung des Themas klare Fortschritte gemacht hat, wie auch an Freunds Forschungsarbeit erfreulicherweise deutlich wird. Ihrem Anspruch, erstmals Klarheit über die Rolle des Regierungspräsidiums Kassel im NSRegime zu schaffen, wird die Studie jedenfalls voll und ganz gerecht. 1
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Vgl. bspw. Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945 (Frankfurter historische Abhandlungen 29), Stuttgart 1989, 533–553. Diese Sichtweise kritisiert auch Armin Nolzen: Die Landesleitung Ostland der NSDAP: Strukturen, Funktionen, Praktiken. In: Sebastian Lehmann, Robert Bohn, Uwe Danker (Hg.): Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt (Zeitalter der Weltkriege 8), Paderborn 2012, 147–169, hier 169. Imanuel Baumann, Andrej Stephan, Patrick Wagner: (Um-)Wege in den Rechtsstaat. Das Bundeskriminalamt und die NS-Vergangenheit seiner Gründungsgeneration. In: Zeithistorische Forschungen 9 (2012) 1, 33–53.
Dr. Martin Göllnitz Philipps-Universität Marburg, Institut für Hessische Landesgeschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6, 35032 Marburg, Deutschland, [email protected]
Johannes Bracht / Ulrich Pfister
Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert VIErtEljaHrscHrIft für sozIal- unD WIrtscHaftsgEscHIcHtE – BEIHEft 247 2020. 364 Seiten mit 57 s/w-Abbildungen und 38 Tabellen 978-3-515-12444-7 kartonIErt 978-3-515-12445-4 E-Book
Wie hat sich die Landpacht in Deutschland langfristig entwickelt? Dieser Frage gehen Johannes Bracht und Ulrich Pfister erstmals nach. Auf Basis der Rechnungsbücher adeliger Güter in Westfalen und dem Rheinland zeigen sie, dass die Verbreitung von Pacht sowie das Niveau und die Entwicklung der Pachtzinsen stark von der Bevölkerungsentwicklung, der Marktdurchdringung und von ökonomischen Strategien der Grundbesitzer abhingen. Die Landpacht ist zwar als wichtiger Aspekt der Herausbildung der modernen Marktgesellschaft zu sehen, blieb aber auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ein Gefüge von sozialen Beziehungen zwischen Bauern und Gutsbesitzern eingebettet. Bracht und Pfister revidieren die in Literatur, klassischer Wirtschaftstheorie und in Teilen der aktuellen Forschung verbreitete Ansicht, welche die Pacht in die Nähe eines Ausbeutungsverhältnisses rückt. Sie zeichnen für den nordwestdeutschen Raum und das 19. Jahrhundert ein
ausgewogeneres Bild: Demzufolge konnten die Pächter deutlich von der beschleunigten Agrarmodernisierung profitieren. Die Studie liefert damit wichtige neue Einsichten zur langfristigen Entwicklung der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft auf dem Weg in die Moderne. DIE autorEn Johannes Bracht ist promovierter Historiker und beschäftigt sich am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg mit dem Management von Forschungsdaten. Er forscht zu Themen der Wirtschaftsgeschichte des ländlichen Raumes, insbesondere zu Sparen und Kredit und zur Protoindustrie. Ulrich Pfister ist seit 1996 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Münster. Er forscht zur langfristigen Entwicklung der deutschen Wirtschaft vom 16. zum 19. Jahrhundert.
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Wolfgang Breul / Kurt Andermann (Hg.)
Ritterschaft und Reformation gEscHIcHtlIcHE lanDEskunDE – BanD 75 2019. 372 Seiten 978-3-515-12258-0 gEBunDEn 978-3-515-12260-3 E-Book
Ritterschaft und Niederadel des Spätmittelalters und der Frühneuzeit rückten in den zurückliegenden Jahrzehnten immer mehr in den Fokus der Forschung, darunter Themen wie die Genese und Selbstbehauptung des Standes, seine Jenseitsvorsorge und Memorialpraxis, die Formen der Herrschaftsrepräsentation, soziale Netzwerke in Verwandtschaft, Adelsgesellschaften und Kirche, politisches Handeln sowie religiöses Engagement. Die Autorinnen und Autoren betrachten genau diese Themengebiete im Hinblick auf den mit der Reformation einhergehenden Umbruch. Dabei nehmen sie über die Kernregionen der ritterschaftlichen Reformation um Mittel- und Oberrhein, Sachsen und Thüringen hinausgehend weitere Gebiete des Heiligen Römischen Reiches in den Blick, insbesondere die Habsburgischen Erblande, Schleswig-Holstein und das Elsass. Aber auch Böhmen, Polen, Ungarn, Frankreich, Italien und Dänemark finden in den Beiträgen Berücksichtigung.
MIt BEIträgEn Von Steffen Krieb, Joachim Schneider, Christine Reinle, Matthias Schnettger, Matthieu Arnold, Wolfgang Breul, Mathias Müller, Kurt Andermann, Marc Lienhard, Berthold Jäger, Uwe Schirmer, Mikkel Leth Jespersen, Maciej Ptaszyński, Václav Bůžek, András Korányi, Arndt Schreiber, Lothar Vogel, Philip Benedict DIE HErausgEBEr Wolfgang Breul ist Professor für Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: frühe Reformationsgeschichte, Konfessionalisierung und Pietismusforschung. Kurt Andermann ist Honorarprofessor für Landesgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: südwestdeutsche und vergleichende Landesgeschichte, Verfassungs- und Sozialgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.
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Heidi Hein-Kircher
Lembergs „polnischen Charakter“ sichern Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie zwischen 1861/62 und 1914 BEIträgE zur staDtgEscHIcHtE unD urBanIsIErungsforscHung – BanD 21 2020. 404 Seiten mit 27 s/w-Abbildungen und 10 Tabellen 978-3-515-12694-6 gEBunDEn 978-3-515-12696-0 E-Book
Die Nationalisierungs- und Modernisierungspolitik der multiethnischen galizischen Hauptstadt Lemberg führte vor 1914 zur Eskalation des Nationalitätenkonfliktes zwischen Polen und Ruthenen. Hierbei konstruierten die kommunalpolitischen Akteure diskursiv den „polnischen Charakter“ der Stadt und dessen Gefährdung, um ihre politische Agenda vor Ort durchzusetzen und die jüdische und ukrainische Bevölkerung zu marginalisieren. Durch die Analyse zentraler Themenfelder der Stadtentwicklungs-, Kultur-, Bildungs- und Geschichtspolitik macht Heidi Hein-Kircher die grundlegenden Diskurse und Praktiken, Strategien und Visionen sowie Wertvorstellungen der Lemberger Kommunalpolitik sichtbar: Indem die kommunalpolitischen Akteure die notwendige Stadtentwicklung als ethnisch-nationales bzw. national-kulturelles Sicherheitsproblem für die eigene, d.h. polnische Gruppe, darstell-
ten, legitimierten sie ihre eigenen politischen Praktiken und Strategien und entwickelten daraus zugleich eine Vision, wie Lemberg als polnische und nicht als multiethnische Stadt zukünftig aussehen sollte. aus DEM InHalt Von der kommunalen Vermögensverwaltung zur beginnenden Politisierung der Gemeindeangelegenheiten | Die Arena erobern und sichern: kommunale Autonomie als Resonanzraum des polnischen Führungsanspruches | Die Vision umsetzen: Stadtentwicklung als Herausforderung und Modernisierungsversprechen | Den polnischen Charakter stärken: städtische Bildungs- und Kulturpolitik als polnisches Leistungsversprechen | Die multiethnischen Traditionen marginalisieren: städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung | Lembergs „polnischen Charakter“ sichern. Ein Fazit | Bibliografie | Register
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Michael Matheus (Hg.)
Weinkultur und Weingeschichte an Rhein, Nahe und Mosel MaInzEr VorträgE – BanD 22 2019. 184 Seiten mit 20 Farb- und 6 s/w-Abbildungen sowie 3 Karten 978-3-515-12386-0 kartonIErt 978-3-515-12387-7 E-Book
Mit insgesamt sechs Anbaugebieten (Rheinhessen, Pfalz, Mosel, Nahe, Mittelrhein und Ahr) und rund 64.000 Hektar Rebfläche gilt Rheinland-Pfalz als das Weinland Nummer 1 in Deutschland. Weinbau und Weinkultur können dabei auf eine 2000-jährige Geschichte zurückblicken. Seit der Antike hat der Wein in dieser Region Wirtschaft und Handel mit geprägt und in Kultur, Kunst, Sprache und Politik vielfältige Spuren hinterlassen. Die Autorinnen und Autoren nehmen in interdisziplinären und epochenübergreifenden Beiträgen ganz unterschiedliche Aspekte der Weingeschichte in den Blick: vom Weinbau in römischer Zeit über die jüdische Weinkultur am Rhein bis hin zum Weinhandel im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Mit Blick auf die spezifische Winzersprache oder die Gestaltung von Weinetiketten werden zudem sprach- und kunsthistorische Aspekte thematisiert. Aber auch die politischen Dimensionen der Weinkultur – etwa zur Zeit
des Nationalsozialismus – und nicht zuletzt literarische Bezüge – am Beispiel von Zuckmayers „Der fröhliche Weinberg“ – finden Beachtung. MIt BEIträgEn Von Margarethe König, Michael Matheus, Andreas Lehnardt, Michael Rothmann, Rudolf Steffens, Henning Türk, Christof Krieger, Pia Nordblom, Daniel Deckers, Martin Sachse-Weinert DEr HErausgEBEr Michael Matheus war von 1994 bis 2003 und ist seit 2012 wieder Professor für Mittlere/ Neuere und Vergleichende Landesgeschichte an der Universität Mainz sowie Leiter des Arbeitsbereichs III. Von 1994 bis 2003 und seit 2013 ist er erster Vorsitzender und Direktor des IGL. Von 2002 bis 2012 leitete er als Direktor das DHI Rom.
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Ein historisches Großbauprojekt im Geflecht der bundesdeutschen Politik Was passiert, wenn man ein dubiosees Projekt in die bundesdeutsche Politikk einspeist? Der Elbe-Seitenkanal war ein Testfall für ein politisches System, daas gemeinhin als langweilig, aber grundso olide gilt. Die alte Bundesrepublik entpupp pte sich dabei als System der organisiertten Verantwortungslosigkeit. Die Frage nach dem Sinn des Projekts löste sich in laangen Verhandlungen immer mehr auf, un nd als sich das Debakel abzeichnete, war pllötzlich niemand mehr verantwortlich – selb bst dann nicht, als der Kanal fünf Wochen nacch der Eröffnung eine Flutkatastrophe veru ursachte. Die Geschichte des Elbe-Seitenkanalls ist ein Menetekel für den bundesdeutscchen Politikbetrieb und ähnelt scheiternden Bauvorhaben in der deutschen Gegenwaart.
Frank Uekötter Der Deutsche Kanal Eine Mythologie der alten Bundesrepublik 330 Seiten mit 21 s/w-Fotos und 5 s/w-Abbildungen Gebunden mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-12603-8 ISBN 978-3-515-12610-6
F R A NZ S T E INE R V E R L A G
Jahrbuch für Regionalgeschichte
www.steiner-verlag.de Aufsätze Marcel Korge Ein Müßiggänger aber verdienet kein Zehr-Geld: Soziale Sicherung für ‚arbeitslose‘ Gesellen durch obersächsische Handwerkskorporationen in der Frühen Neuzeit Mark Häberlein Reformation, Konfessionalisierung und Region: Eine Nachlese zum Reformationsjubiläum
ISBN 978-3-515-12752-3
9 783515 127523