Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 3515135219, 9783515135214

Die aktuelle Ausgabe des Jahrbuchs für Regionalgeschichte liefert einen breiten Überblick über das gegenwärtige regional

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German Pages 248 [250] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Editorial
Aufsätze
Christian Porzelt: Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724
Lina Schröder: Einfluss durch Region und Stadtraum?
Jan Ocker: Große und kleine Betriebe, gute und schlechte Zahlen sowie der „Fall Broszeit“
Rezensionen
1. Epochenübergreifend
Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern
Nicole Stadelmann, Martina Sochin D’Elia, Peter Melichar (Hg.): Hüben & Drüben. Grenzüberschreitende Wirtschaft im mittleren Alpenraum
Peter Wegenschimmel: Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970
Martin Knoll, Katharina Scharf: Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung
Franziska Hormuth: Strategien dynastischen Handelns in der Vormoderne. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296–1689)
Ortwin Pelc (Hg.): Kriegsleiden in Norddeutschland vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg
Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit
Gabriele Viertel: Schule und Verfassung. Die Reform des Chemnitzer Schulwesens bis zur Eröffnung der Bürgerschule 1831 im Kontext der Reform der Stadtverfassung
Oliver Auge, Anke Scharrenberg (Hg.): Besonderes aus Ostholstein. Beiträge zur Geschichte der Region
Marita Krauss, Stefan Lindl (Hg.): Landschaft. Umwelt. Identität. Die Region Bayerisch-Schwaben im Vergleich
Nina Gallion, Martin Göllnitz, Frederieke Maria Schnack (Hg.): Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs
Armin Schlechter (Hg.): Gesammelt – zerstreut – bewahrt? Klosterbibliotheken im deutschsprachigen Südwesten
2. Mittelalter
Thomas Zotz, Andreas Schmauder, Johannes Kuber (Hg.): Von den Welfen zu den Staufern. Der Tod Welfs VII. 1167 und die Grundlegung Oberschwabens im Mittelalter
Peter Wolf u. a. (Hg.): Stadt befreit. Wittelsbacher Gründerstädte. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2020, Friedberg, Wittelsbacher Schloss, Aichach, FeuerHaus, 29. April–8. November 2020
André Stellmacher: Die Herrschaft Lindow-Ruppin im Spätmittelalter zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit. Mit einer Regestensammlung und einem Siegelkatalog
Carsten Goehrke: Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod
Maria Weber: Schuldenmachen. Eine soziale Praxis in Augsburg (1480 bis 1532)
Markus Retzer: Die Verwaltung des Herzogtums Niederbayern-Straubing-Holland
Arnd Reitemeier (Hg.): Klosterlandschaft Niedersachsen
Roland Deigendesch, Christian Jörg (Hg.): Städtebünde und städtische Außenpolitik – Träger, Instrumentarien und Konflikte während des hohen und späten Mittelalters. 55. Arbeitstagung in Reutlingen, 18.–20. November 2016
Josef Dolle (Bearb.): Papsturkunden in Niedersachsen und Bremen bis 1198
Peer Frieß: Zwischen Kooperation und Widerstand. Die oberschwäbischen Reichsstädte in der Krise des Fürstenaufstandes von 1552
Frederic Zangel: Castrum, curia, berchvrede. Die Burgen Holsteins und Stormarns in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Wahrnehmung (1134 bis 1534)
Kathrin Kelzenberg: Heiliglandfrömmigkeit im Nordwesten des Reiches. Die Herzogtümer Brabant, Geldern, Jülich und Kleve im späten Mittelalter
Wilhelm A. Eckhardt (Bearb.): Das Arnsburger Urbar
Peter Rückert, Anja Thaller, Klaus Oschema (Hg.): Starke Frauen? Adelige Damen im Südwesten des spätmittelalterlichen Reiches
Edwin Ernst Weber, Thomas Zotz (Hg.): Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit
Sigrid Hirbodian, Sabine Holtz, Petra Steymans-Kurz (Hg.): Zwischen Mittelalter und Reformation. Religiöses Leben in Oberschwaben um 1500
Grischa Vercamer: Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert
Daniel Ludwig: Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften des fränkischen Frühmittelalters. Vergleichende Untersuchung der Regionen Baiern, Alemannien und Lotharingien
Stefan Magnussen: Burgen in umstrittenen Landschaften. Eine Studie zur Entwicklung und Funktion von Burgen im südlichen Jütland (1232–1443)
3. Frühe Neuzeit
Konrad Krimm, Maria Magdalena Rückert (Hg.): Zisterzienserklöster als Reichsabteien
Renate Blickle: Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit. Hg. von Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner
Dieter Mertens: Humanismus und Landesgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Teil I und II. Hg. v. Dieter Speck, Birgit Studt und Thomas Zotz
Marco Polli-Schönborn: Kooperation, Konfrontation, Disruption. Frühneuzeitliche Herrschaft in der alten Eidgenossenschaft vor und während des Leventiner Protestes von 1754/55
Katharina Bechler, Dietmar Schiersner (Hg.): Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch
Sigrid Hirbodian, Tjark Wegner (Hg.): Aufstand, Aufruhr, Anarchie! Formen des Widerstands im deutschen Südwesten
Johannes Kraus: Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg
Andreas Behr: Diplomatie als Familiengeschäft. Die Casati als spanisch-mailändische Gesandte in Luzern und Chur (1660–1700)
Christophe Duhamelle: Die Grenze im Dorf. Katholische Identität im Zeitalter der Aufklärung
Monika Gussone, Hans-Werner Langbrandtner, Peter K. Weber (Hg.): Zwischen Macht und Ohnmacht. Spielräume adliger Herrschaft im frühneuzeitlichen Rheinland
Franz Dominic Esser: Der Wandel der Rheinischen Agrarverfassung. Der Einfluss französischer und preußischer Agrarreformen zwischen 1794 und 1850 auf die bäuerlichen Rechtsverhältnisse im Rheinland
Friedemann Scheck: Interessen und Konflikte. Eine Untersuchung zur politischen Praxis im frühneuzeitlichen Württemberg am Beispiel von Herzog Friedrichs Weberwerk, 1598–1608
Sophie-Luise Mävers: Reformimpuls und Regelungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Künstlerausbildung im nationalen und internationalen Vergleich
Johannes Altenberend, Burkhard Beyer (Hg.): Akzisestädte im preußischen Westfalen. Die Stadtrechtsverleihungen von 1719 und die Steuerpolitik König Friedrich Wilhelms I.
Johannes Bracht, Ulrich Pfister: Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert
Dominik Sauerländer: Die Reformation in den Freien Ämtern. Beispiel einer gescheiterten Landreformation
Stephan Dornheim (Hg.): Kultbild – Götze – Kunstdenkmal. Entsorgung, Umdeutung und Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum
Georg Ziaja: Lexikon der bedeutendsten Protestanten in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert
Georg Ziaja: Lexikon des polnischen Adels im Goldenen Zeitalter 1500–1600
Ivette Nuckel (Hg.): Faule Müßiggänger und „rechte“ Arme. Armen- und Bettelordnungen Bremens, Lübecks, Lüneburgs und Oldenburgs des 16. und 17. Jahrhunderts
Michael Rohrschneider (Hg.): Frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive
Martina Schattkowsky (Hg.): Adel – Macht – Reformation. Konzept, Praxis und Vergleich
Beate-Christine Fiedler, Christine van den Heuvel (Hg.): Friedensordnung und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721
4. 19. und 20. Jahrhundert
Simon Goeke: „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre
Hermann Kamp, Sabine Schmitz (Hg.): Erinnerungsorte in Belgien. Instrumente lokaler, regionaler und nationaler Sinnstiftung
Hans Hesse: … wir sehen uns in Bremerhaven wieder … Die Deportation der Sinti und Roma am 16./20. Mai 1940 aus Nordwestdeutschland. Gedenkbuch zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, Teil 1
Georg D. Falk, Ulrich Stump, Rudolf H. Hartleib, Klaus Schlitz, Jens-Daniel Braun: Willige Vollstrecker oder standhafte Richter. Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Zivilsachen 1933 bis 1945
Julia Noah Munier: Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert
Thies Schulze: Katholischer Universalismus und Vaterlandsliebe. Nationalitätenkonflikte und globale Kirche in den Grenzregionen Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen 1918–1939
Leonie Hieck: Die Bundeswehr im Spannungsfeld von Bundespolitik und Landespolitik. Die Aufstellung der Streitkräfte in Schleswig-Holstein
Robert Neisen, Heinrich Maulhardt, Konrad Krimm (Hg.): Kommunen im Nationalsozialismus. Verwaltung, Partei und Eliten in Südwestdeutschland
Christoph Brüll, Christian Henrich-Franke, Claudia Hiepel, Guido Thiemeyer (Hg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945–1995
Oliver Kann: Karten des Krieges. Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg
Michael Hirschfeld, Franz-Reinhard Ruppert: Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871–1918. Böhmen – Eichsfelder – Oberschlesier – Posener – Galizier in einer nordwestdeutschen Industriestadt
Michael Schäfer, Swen Steinberg, Veronique Töpel (Hg.): Sachsen und das Rheinland. Zwei Industrieregionen im Vergleich
Oswald Überegger: Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920
Christian Faludi, Marc Bartuschka (Hg.): „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920
Wolfgang Mährle (Hg.): Württemberg und die Deutsche Frage 1866-1870. Politik - Diskurs - Historiografie
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41
 3515135219, 9783515135214

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Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 41 · 2023 Franz Steiner Verlag

herausgegeben von Oliver Auge Unter Mitwirkung von Nina Gallion Mark Häberlein Martin Knoll Reinhold Reith Martin Rheinheimer Dorothee Rippmann Susanne Schötz Sabine Ullmann

Jahrbuch für Regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Abteilung für Regional­ geschichte, Olshausenstr. 40, D – 24118 Kiel, E-Mail: [email protected] Unter Mitwirkung von Nina Gallion, Mark Häberlein, Martin Knoll, Reinhold Reith, Martin Rheinheimer, Dorothee Rippmann, Susanne Schötz, Sabine Ullmann Redaktion Stefan Brenner, Felicia Engelhard, Christian Hoffarth, Stefan Magnussen, Jan Ocker E-Mail: [email protected] https://www.steiner-verlag.de/brand/Jahrbuch-fuer-Regionalgeschichte

Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 41 · 2023

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der BurgenStiftung Schleswig-Holstein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-8248 ISBN 978-3-515-13521-4 (Print) ISBN 978-3-515-13528-3 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515135283

Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Aufsätze Christian Porzelt Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724 Geschäftsbriefe als Ego-Dokumente und Quellen zur Regionalgeschichte . . . . . . . . . . . . . 17 LINA SCHRÖDER Einfluss durch Region und Stadtraum? Rathäuser und Kirchen als Beispiele vormoderner Infrastruktureinrichtungen im epochenübergreifenden Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Jan Ocker Große und kleine Betriebe, gute und schlechte Zahlen sowie der „Fall Broszeit“ Einblicke in die Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein (1920–1933) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Rezensionen 1. Epochenübergreifend Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern (Michaela Schmölz-Häberlein). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Nicole Stadelmann, Martina Sochin D’Elia, Peter Melichar (Hg.): Hüben & Drüben. Grenzüberschreitende Wirtschaft im mittleren Alpenraum (Lienhard Thaler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

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Inhalt

Peter Wegenschimmel: Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970 (Christian Ostersehlte) . . . . . . . . . . 94 Martin Knoll, Katharina Scharf: Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung (Julian Lahner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Franziska Hormuth: Strategien dynastischen Handelns in der Vormoderne. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296–1689) (Benjamin Müsegades) . . 98 Ortwin Pelc (Hg.): Kriegsleiden in Norddeutschland vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg (Jan Schlürmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Gabriele Viertel: Schule und Verfassung. Die Reform des Chemnitzer Schulwesens bis zur Eröffnung der Bürgerschule 1831 im Kontext der Reform der Stadtverfassung (Helmut Bräuer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Oliver Auge, Anke Scharrenberg (Hg.): Besonderes aus Ostholstein. Beiträge zur Geschichte der Region (Ortwin Pelc) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Marita Krauss, Stefan Lindl (Hg.): Landschaft. Umwelt. Identität. Die Region Bayerisch-Schwaben im Vergleich (Hansjörg Küster) . . . . . . . . . . . 110 Nina Gallion, Martin Göllnitz, Frederieke Maria Schnack (Hg.): Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs (Martin Knoll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Armin Schlechter (Hg.): Gesammelt – zerstreut – bewahrt? Klosterbibliotheken im deutschsprachigen Südwesten (Kerstin Schnabel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Mittelalter Thomas Zotz, Andreas Schmauder, Johannes Kuber (Hg.): Von den Welfen zu den Staufern. Der Tod Welfs VII. 1167 und die Grundlegung Oberschwabens im Mittelalter (Thomas Vogtherr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Inhalt

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Peter Wolf u. a. (Hg.): Stadt befreit. Wittelsbacher Gründerstädte. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2020, Friedberg, Wittelsbacher Schloss, Aichach, FeuerHaus, 29. April–8. November 2020 (Regina Schäfer) . . . . . . . . . 119 André Stellmacher: Die Herrschaft Lindow-Ruppin im Spätmittelalter zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit. Mit einer Regestensammlung und einem Siegelkatalog (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Carsten Goehrke: Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod (Anti Selart) . . . . . . . . . . . 125 Maria Weber: Schuldenmachen. Eine soziale Praxis in Augsburg (1480 bis 1532) (Regina Schäfer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Markus Retzer: Die Verwaltung des Herzogtums NiederbayernStraubing-Holland (Harm von Seggern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Arnd Reitemeier (Hg.): Klosterlandschaft Niedersachsen (Oliver Auge) . . . . . . 131 Roland Deigendesch, Christian Jörg (Hg.): Städtebünde und städtische Außenpolitik – Träger, Instrumentarien und Konflikte während des hohen und späten Mittelalters. 55. Arbeitstagung in Reutlingen, 18.–20. November 2016 (Heidrun Ochs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Josef Dolle (Bearb.): Papsturkunden in Niedersachsen und Bremen bis 1198 (Jörg Voigt) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Peer Frieß: Zwischen Kooperation und Widerstand. Die oberschwäbischen Reichsstädte in der Krise des Fürstenaufstandes von 1552 (Silke Schöttle) . . . 139 Frederic Zangel: Castrum, curia, berchvrede. Die Burgen Holsteins und Stormarns in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Wahrnehmung (1134 bis 1534) (Felix Biermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Kathrin Kelzenberg: Heiliglandfrömmigkeit im Nordwesten des Reiches. Die Herzogtümer Brabant, Geldern, Jülich und Kleve im späten Mittelalter (Volker Seresse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Wilhelm A. Eckhardt (Bearb.): Das Arnsburger Urbar (Gerald Schwedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhalt

Peter Rückert, Anja Thaller, Klaus Oschema (Hg.): Starke Frauen? Adelige Damen im Südwesten des spätmittelalterlichen Reiches (Regina Schäfer) . . . 149 Edwin Ernst Weber, Thomas Zotz (Hg.): Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit (Werner Rösener) . . . . . . 151 Sigrid Hirbodian, Sabine Holtz, Petra Steymans-Kurz (Hg.): Zwischen Mittelalter und Reformation. Religiöses Leben in Oberschwaben um 1500 (John Hinderer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Grischa Vercamer: Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert (Christina Bröker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Daniel Ludwig: Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften des fränkischen Frühmittelalters. Vergleichende Untersuchung der Regionen Baiern, Alemannien und Lotharingien (Daniel Schumacher) . . . . . . . . . . . . . . . 157 Stefan Magnussen: Burgen in umstrittenen Landschaften. Eine Studie zur Entwicklung und Funktion von Burgen im südlichen Jütland (1232–1443) (Vivian Etting) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Frühe Neuzeit Konrad Krimm, Maria Magdalena Rückert (Hg.): Zisterzienserklöster als Reichsabteien (Katja Hillebrand) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Renate Blickle: Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit. Hg. von Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner (Rainald Becker) . . . . . . . . . . . . . . 164 Dieter Mertens: Humanismus und Landesgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Teil I und II. Hg. v. Dieter Speck, Birgit Studt und Thomas Zotz (Detlev Kraack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Marco Polli-Schönborn: Kooperation, Konfrontation, Disruption. Frühneuzeitliche Herrschaft in der alten Eidgenossenschaft vor und während des Leventiner Protestes von 1754/55 (Olaf Mörke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Inhalt

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Katharina Bechler, Dietmar Schiersner (Hg.): Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch (Wolfgang Wüst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Sigrid Hirbodian, Tjark Wegner (Hg.): Aufstand, Aufruhr, Anarchie! Formen des Widerstands im deutschen Südwesten (Sabine Wüst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Johannes Kraus: Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg (Frank Göse) . . . . . . . . . . . . . 175 Andreas Behr: Diplomatie als Familiengeschäft. Die Casati als spanischmailändische Gesandte in Luzern und Chur (1660–1700) (Samuel Weber) . . . . 177 Christophe Duhamelle: Die Grenze im Dorf. Katholische Identität im Zeitalter der Aufklärung (Johannes Staudenmaier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Monika Gussone, Hans-Werner Langbrandtner, Peter K. Weber (Hg.): Zwischen Macht und Ohnmacht. Spielräume adliger Herrschaft im frühneuzeitlichen Rheinland (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Franz Dominic Esser: Der Wandel der Rheinischen Agrarverfassung. Der Einfluss französischer und preußischer Agrarreformen zwischen 1794 und 1850 auf die bäuerlichen Rechtsverhältnisse im Rheinland (Ralf Banken) . . . . . 185 Friedemann Scheck: Interessen und Konflikte. Eine Untersuchung zur politischen Praxis im frühneuzeitlichen Württemberg am Beispiel von Herzog Friedrichs Weberwerk, 1598–1608 (Wolfgang Wüst) . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Sophie-Luise Mävers: Reformimpuls und Regelungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Künstlerausbildung im nationalen und internationalen Vergleich (Lisa-Maria Pregitzer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Johannes Altenberend, Burkhard Beyer (Hg.): Akzisestädte im preußischen Westfalen. Die Stadtrechtsverleihungen von 1719 und die Steuerpolitik König Friedrich Wilhelms I. (Tobias Schenk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Johannes Bracht, Ulrich Pfister: Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert (Jonas Bechtold). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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Dominik Sauerländer: Die Reformation in den Freien Ämtern. Beispiel einer gescheiterten Landreformation (André Holenstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stephan Dornheim (Hg.): Kultbild – Götze – Kunstdenkmal. Entsorgung, Umdeutung und Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (Johannes Ehmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Georg Ziaja: Lexikon der bedeutendsten Protestanten in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert (Paul Srodecki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Georg Ziaja: Lexikon des polnischen Adels im Goldenen Zeitalter 1500–1600 (Paul Srodecki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Ivette Nuckel (Hg.): Faule Müßiggänger und „rechte“ Arme. Armen- und Bettelordnungen Bremens, Lübecks, Lüneburgs und Oldenburgs des 16. und 17. Jahrhunderts (Stefan Beckert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Michael Rohrschneider (Hg.): Frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive (Anuschka Tischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Martina Schattkowsky (Hg.): Adel – Macht – Reformation. Konzept, Praxis und Vergleich (Laura Potzuweit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Beate-Christine Fiedler, Christine van den Heuvel (Hg.): Friedensordnung und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721 (Jens E. Olesen) . . . . . . . . . . . 210 4. 19. und 20. Jahrhundert Simon Goeke: „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre (Heike Knortz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Hermann Kamp, Sabine Schmitz (Hg.): Erinnerungsorte in Belgien. Instrumente lokaler, regionaler und nationaler Sinnstiftung (Tobias Dewes, Vitus Sproten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Hans Hesse: … wir sehen uns in Bremerhaven wieder … Die Deportation der Sinti und Roma am 16./20. Mai 1940 aus Nordwestdeutschland. Gedenkbuch zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, Teil 1 (Frank Reuter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Georg D. Falk, Ulrich Stump, Rudolf H. Hartleib, Klaus Schlitz, Jens-Daniel Braun: Willige Vollstrecker oder standhafte Richter. Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Zivilsachen 1933 bis 1945 (Franz Hederer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Julia Noah Munier: Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert (Alexander Zinn) . . . 222 Thies Schulze: Katholischer Universalismus und Vaterlandsliebe. Nationalitätenkonflikte und globale Kirche in den Grenzregionen Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen 1918–1939 (Klaus Fitschen) . . . . . . . . 225 Leonie Hieck: Die Bundeswehr im Spannungsfeld von Bundespolitik und Landespolitik. Die Aufstellung der Streitkräfte in Schleswig-Holstein (Stefan Maximilian Brenner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Robert Neisen, Heinrich Maulhardt, Konrad Krimm (Hg.): Kommunen im Nationalsozialismus. Verwaltung, Partei und Eliten in Südwestdeutschland (Clara Sterzinger-Killermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Christoph Brüll u. a. (Hg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945–1995 (Tatjana Mrowka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Oliver Kann: Karten des Krieges. Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg (Dariusz Gierczak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Michael Hirschfeld, Franz-Reinhard Ruppert: Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871–1918. Böhmen – Eichsfelder – Oberschlesier – Posener – Galizier in einer nordwestdeutschen Industriestadt (Anda Nicolae Vladu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Michael Schäfer, Swen Steinberg, Veronique Töpel (Hg.): Sachsen und das Rheinland. Zwei Industrieregionen im Vergleich (Dieter Ziegler) . . . . . . . 239 Oswald Überegger: Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920 (Nikolaus Hagen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

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Christian Faludi, Marc Bartuschka (Hg.): „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920 (Michael Hecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Wolfgang Mährle (Hg.): Württemberg und die Deutsche Frage 1866–1870. Politik – Diskurs – Historiografie (Jan Ocker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Editorial Der 41. Band unseres Jahrbuchs für Regionalgeschichte, den wir im Jahr 2023 der interessierten Fachöffentlichkeit zur Lektüre vorlegen dürfen, weist – wie stets – eine erfreulich große thematische Bandbreite in Form wissenschaftlicher Aufsätze und mittels eines beachtlichen Spektrums von ausführlichen Buchbesprechungen auf. Lina Schröder fragt in ihrem Beitrag im innovativen wie anspruchsvollen epochenübergreifenden Vergleich nach dem Einfluss von Region und Stadtraum auf Rathäuser und Kirchen als Beispiele vormoderner Infrastruktureinrichtungen. Sie untersucht konkret anhand der Städte Seßlach und Kleve, welche Rolle die „Eigenlogik von Stadt und Region“ für die dortigen Rathäuser und Kirchen spielte. Auf Basis der 35 Briefe umfassenden Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac mit Hofbeamten und Angehörigen des fränkischen Adels aus den Jahren 1712 bis 1723 stellt darauf Christian Porzelt frühneuzeitliche Geschäftsbriefe als EgoDoku­mente und als Quellen zur Regionalgeschichte vor. Die Briefe gewähren wertvolle Einblicke in Isaacs Geschäfts- und Handelspraktiken, seine Vernetzung mit und in der Region und sein markantes Selbstverständnis als Mitglied einer jüdischen Wirtschaftselite. Zum Dritten erlauben die Ausführungen von Jan Ocker tiefergehende Einsichten in die Geschichte der Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer für die preußische Provinz Schleswig-Holstein zwischen 1920 und 1933. Sowohl für die agrarischen Großbetriebe im Rahmen des Gutssystems als auch für kleinbäuerliche Hofstellen war diese Zeitspanne eine ökonomisch herausfordernde Situation, in der eine professionelle Buchführung gegen Bezahlung große Vorteile bieten konnte. Das Schicksal, das der Geschäftsführer der Buchstelle 1933 erlitt, ist kein einzelnes, stimmt aber nach wie vor mehr als bedenklich. Ein ausführlicher Besprechungsteil bildet als gewohntes Markenzeichen unseres Jahrbuchs den zweiten seitenstarken Schwerpunkt des Bandes. Insgesamt handelt es sich diesmal um die stattliche Zahl von 69 Besprechungen, wovon sich 19 auf Veröffentlichungen zum Mittelalter beziehen, 23 auf Beiträge zur Frühen Neuzeit und 15 auf Publikationen, die sich mit Themen des 19. und 20. Jahrhunderts befassen. 12 widmen sich Erträgen der Forschung mit einem epochenübergreifenden Zugriff. Mit diesem neuen Band erweist sich das Jahrbuch für Regionalgeschichte unter den entsprechenden Periodika ohne Zweifel ein weiteres Mal als das Flaggschiff der regio-

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Editorial

nalhistorischen Forschung in Deutschland, auf dem sich altgediente Kenner der Materie und der wissenschaftliche Nachwuchs einträchtig im synergetischen Bemühen um die Sache die Hand reichen. Dem Kieler Redaktionsteam wie dem Franz Steiner Verlag sei auch diesmal für die professionelle Zusammenarbeit gedankt. Außerdem gilt ein ausdrückliches Dankeschön selbstredend unserem generösen Mäzen Klaus Dygutsch. Oliver Auge Kiel im Oktober 2023

Aufsätze

Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724* Geschäftsbriefe als Ego-Dokumente und Quellen zur Regionalgeschichte Christian Porzelt Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 17–42

The Correspondence of the Jewish Merchant Jonas Isaac between 1712 and 1724 Business Letters as Ego Documents and Sources for Regional History Kurzfassung: Die vorliegende Studie bietet anhand der Geschäftsbriefe des Jonas Isaac einen Einblick in den Lebensalltag eines jüdischen Kaufmanns in Franken in der Vormoderne. Den Ausgangspunkt stellen insgesamt 35 autografische Schreiben dar, die dieser mit verschiedenen Hofbeamten und Vertretern des fränkischen Adels in den Jahren zwischen 1712 und 1723 austauschte. Die Korrespondenz des Kaufmanns gibt Hinweise auf seine Geschäfts- und Handelspraktiken, die regionale Vernetzung sowie auf sein ausgeprägtes Selbstverständnis, das er als Vertreter der jüdischen Wirtschaftselite besaß. Zugleich spiegelt sich in ihnen die hohe schriftsprachliche Kompetenz wider, die Mitglieder der jüdischen Oberschicht zu Beginn des 18. Jahrhunderts besaßen. Schlagworte: Jüdische Geschichte, Briefforschung, Franken, Reichsadel, Kommunikation Abstract: Based on the business letters of Jonas Isaac, this study offers an insight into the everyday life of a Jewish merchant in Franconia in the pre-modern era. The starting point is a total of 35 autograph letters that he exchanged with various court officials and representatives of the Franconian nobility in the years between 1712 and 1723. The merchant’s correspondence provides clues to his business and trade practices, his regional network, and the distinct self-image he possessed as a representative of the Jewish economic elite. At the same time, they reflect the high level of *

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Fraktalität und die Dynamik jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert“, SCHM 3469/4-2.

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literary competence that members of the Jewish upper class possessed at the beginning of the 18th century. Keywords: Jewish history, Epistolary Studies, Franconia, Imperial Knights, communication

1. Der Besuch im Schloss zu Mitwitz Am 25. Mai 1728 reiste der jüdische Kaufmann Jonas Isaac (circa 1685–1743) aus Kro­ nach, einer fränkischen Amtsstadt im Norden der Fürstbistums Bamberg, in das nur etwa zehn Kilometer entfernt gelegene Mitwitz. Das ritterschaftliche Pfarrdorf, das zu diesem Zeitpunkt etwa 70 Haushalte umfasste,1 bildete den Mittelpunkt einer für die Region charakteristischen adeligen Kleinherrschaft.2 Gemeinsam mit seinem in Mitwitz ansässigen Glaubensgenossen Seligmann Alexander (1685– nach 1760),3 der unter dem Schutz Georg Heinrich Wilhelm von Würtzburgs (1679–1724) im Ort lebte4 und ein enger Vertrauter der Adelsfamilie war, suchte er das Obere Schloss auf, wo beide im Tafelzimmer5 empfangen wurden. Grund für seinen Besuch bei dem dort lebenden Freiherrn Johann Ludwig von Würtzburg (1688–1751) war ein fälliger Wechsel über 500 Taler.6 Nachdem Jonas Isaac allerdings auf das Thema zu sprechen kam, erklärte der Adelige und seine ebenfalls anwesende Ehefrau Magdalena Barbara (1703–1780),7 daß Sie den erst gedachten Wechsel hiemit vor null und nichtig declarirt[en], weiln bekannten Rechtens, daß eine weibl[iche] Persohn keinen Wechsel ausstellen könnte.8 Der jüdische Kaufmann bestand dagegen auf der Gültigkeit des Schuldscheins, der mit der Unterschrift der Baronin versehen war, und verwies auf eine Vollmacht, die ihr der Ehemann zuvor ausgestellt hatte. Johann Ludwig von Würtzburg hatte weder die Absicht, die Schuldforderung anzuerkennen, noch war er bereit, die geforderte Summe zu zahlen. Stattdessen machte er das Gegenangebot, gegen Extradirung des vor null und nichtig erkannten Wechsels 130 Taler zu bezah1 2

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Staatsarchiv Bamberg (StABa), G 58, G II, Nr. 1102. helmut demattio: Kronach. Der Altlandkreis (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken I.32), München 1998, 404 f.; siegfried kullen: Reichsritterschaft und Siedlungsbild. In: franz quarthal (Hg.): Zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb. Das Land am oberen Neckar (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 52), Sigmaringen 1984, 221–270. StABa, G 58, H II, Nr. 13141; ebenda, Nr. 6523. Sein Testament stammt vom 12. Mai 1760: Ebenda, Nr. 13122. Nach dessen Tod stand er unter dem Schutz seiner Söhne: Ebenda, H IV, Nr. 184, fol. 15r. Vermutlich ist hier das Speisezimmer gemeint. Zu seiner Person wilhelm hotzelt: Familiengeschichte der Freiherren von Würtzburg, Freiburg/Breisgau 1931, 565–586. Zu ihrer Person horst heldmann: Moritz August von Thümmel. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Erster Teil: 1738–1783, Neustadt/Aisch 1964, 316 f.; carl friedrich schilling von canstatt: Geschlechts Beschreibung derer Familien von Schilling, Karlsruhe 1807, 307. StABa, G 58, H III, Nr. 377: Protokoll vom 25. Mai 1728 (auch nachstehend).

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len, wobei er demonstrativ den Betrag zusammen mit einer Abrechnung auf dem Tisch platzierte: Jud Jonas wolte [!] erstl[ich] die Berechnung nicht acceptiren, endlich nahme er solche und durchlase [!] selbe, so dann legte er diese wied[er] uff die Taffel mit diesen Wortten, daß er sich voriezo zu diesen nicht resolviren [= entschließen] könnte. Somit wurde dieser Actus beschloß[en] und Jud Jonas nebst den Jud Seeligmann giengen wieder ihren weeg. Das Ereignis, das durch ein Protokoll des wohl ebenfalls anwesenden Amtmanns Johann Julius Baumann überliefert ist, beleuchtet schlaglichtartig eine Auseinandersetzung um einen Schuldposten von insgesamt etwa 2.000 Talern, die bereits seit Längerem zwischen den beiden Parteien geführt wurde. Erst nach Jahren des ständigen Bittens und Verhandelns reichte Jonas Isaac schließlich vor dem zuständigen Gericht des Ritterkantons Gebürg Klage gegen den Adeligen ein. Im Zuge des Rechtsstreits gelangte auch eine Reihe von Briefen in den Prozessakt, der im Archiv der Familie von Würtzburg – heute als Depositum im Staatsarchiv Bamberg – überliefert ist und die Grundlage für den vorliegenden Beitrag bildet. Die Tatsache, dass sich neben diesen Briefen auch zahlreiche andere Schriftstücke erhalten haben, ermöglicht eine detaillierte Kontextualisierung des Briefbestands, was im Nachfolgenden zunächst auf formaler und anschließend auf inhaltlicher Ebene erfolgen soll. Die Analyse orientiert sich dabei an zwei Perspektiven: Erstens wird die Korrespondenz des Kaufmanns auf ihren Charakter als Ego-Dokumente hin untersucht, und zweitens betrachtet der folgende Beitrag sie als Quellen zu den Geschäftspraktiken eines jüdischen Händlers in einer territorial fragmentierten Region im Norden Frankens. 2. Briefe als Ego-Dokumente Die kulturelle Praxis des Briefeschreibens erfuhr zu Beginn der Frühen Neuzeit einen grundlegenden Wechsel. Einerseits kam es durch den Ausbau des Verkehrs- und Botenwesens zu einem Anstieg des Postverkehrs und damit einhergehend zu einer Verdichtung der Kommunikation.9 Vorangetrieben von der zunehmenden Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten vollzog sich ein sprachlicher und stilistischer Wandel.10 Die im Mittelalter noch weitgehend in lateinischer Sprache verfassten Schreiben wurden zunehmend durch Mitteilungen in der jeweiligen Landessprache abgelöst, während man sich innerhalb der adeligen Briefkultur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 9

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wolfgang behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003; heiko droste: Briefe als Medium symbolischer Kommunikation. In: marian füssel, thomas weller (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, 239–256, hier 239. werner faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700) (Geschichte der Medien 3), Göttingen 1998, 48–68; georg steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Zweiter Teil, Berlin 1891, 121.

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am Französischen orientierte.11 Form, Sprache und Inhalt der Briefe richteten sich stets nach der gesellschaftlichen Position des Autors wie des Empfängers und waren zugleich an eine konkrete Kommunikationssituation gebunden.12 Innerhalb der Geschichtsforschung zählten Briefe lange Zeit zu den weniger beachteten Quellengattungen.13 Erst im Zuge der Beschäftigung mit Ego-Dokumenten fanden sie ein gesteigertes Interesse, da die meisten Schreiben direkt oder indirekt persönliche Eindrücke des Verfassers widerspiegeln und auf diese Weise Rückschlüsse auf dessen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Empfindungen ermöglichen.14 Zugleich erkannte man ihren Wert für die Sozial- und Alltagsgeschichte.15 Eine grundsätzliche Herausforderung stellt dabei die Überlieferungssituation dar. Während Briefe prominenter Persönlichkeiten wie Herrscher, Theologen oder Gelehrte bereits zu Lebzeiten von Zeitgenossen gesammelt und damit gezielt der Nachwelt überliefert wurden, hat sich die Privatkorrespondenz breiter Bevölkerungsschichten oft nur durch Zufall erhalten, etwa weil sie im Zuge von Gerichtsprozessen konfisziert wurde.16 Diese Quellenproblematik zeichnet sich noch deutlicher innerhalb der jüdischen Geschichtsforschung ab. Aus unterschiedlichen Ursachen, wie dem geringeren Bevölkerungsanteil sowie der bewussten Zerstörung von jüdischem Schriftgut während der Zeit des Nationalsozialismus, steht hier deutlich weniger Material zur Verfügung, das als Grundlage einer empirischen Forschung dienen könnte.17 Ein weiteres Hindernis

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Beispielhaft etwa elisabeth lobenwein: Adelige Briefkultur am Beispiel der Privatkorrespondenz der Brüder Hieronymus (1732–1812) und Gundaker (1731–1807) Colloredo. In: gerhard ammerer, elisabeth lobenwein, martin scheutz (Hg.): Adel im 18. Jahrhundert. Umrisse einer sozialen Gruppe in der Krise (Querschnitte 28), Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 318–342. gabriele jancke: Jüdische Selbstzeugnisse und Egodokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Eine Einleitung. In: birgit e. klein, rotraud ries (Hg.): Selbstzeugnisse und EgoDokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte (Minima Judaica 6), Berlin 2011, 9–26, hier 15. droste: Briefe, 240. gunilla budde: Geschichtswissenschaft. In: marie isabel matthews-schlinzig, jörg schuster u. a. (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 1: Interdisziplinarität  – Systematische Perspektiven  – Briefgenres, Berlin/Boston 2020, 61–80, hier 66; winfried schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ‚Ego-Dokumenteʻ. In: Ders. (Hg.): Ego-Dokumente, Berlin 1996, 11–30. Gerhard Jaritz ordnet Briefe der Gruppe von Quellen, aus denen sich eine „vermeintliche Realität“ erkennen lässt, zu: gerhard jaritz: Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien/Köln 1989, 15–25. Ein Beispiel hierfür stellen die Briefe der Augsburger Familie Endorfer dar: mark häberlein, hans-jörg künast, irmgard schwanke (Hg.): Die Korrespondenz der Augsburger Patrizierfamilie Endorfer 1620–1627. Briefe aus Italien und Frankreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Augsburg 2010; alfred landau, bernhard wachstein (Hg.): Jüdische Privatbriefe aus dem Jahre 1619 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 3), Wien/Leipzig 1911. rüdiger kröger: Die geschäftlichen Aufzeichnungen des Jobst Goldtschmid aus Hameln. In: gisela brandt (Hg.): Historische Soziolinguistik des Deutschen V. Soziofunktionale Gruppe

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bildet für Historiker oftmals der sprachliche Zugang, da Dokumente, die der innerjüdischen Kommunikation dienten, üblicherweise in westjiddischer – in Gelehrtenkreisen auch in hebräischer – Sprache unter Gebrauch hebräischer Kursivlettern verfasst wurden.18 Aus dieser Problematik ergibt sich die Tatsache, dass sich die bisherige Forschung zu jüdischen Ego-Dokumenten auf einige zentrale Werke konzentriert hat.19 Ergänzt wurde dieser Kanon durch weitere, vermeintlich autobiografische Quellen, etwa die Konversionsberichte getaufter Juden, die nicht nur hinsichtlich der Autorschaft, sondern auch in Bezug auf ihre Authentizität allerdings kritisch zu betrachten sind.20 Die Analyse von deutschsprachigen Autografen sowie Sach- und Bildquellen jüdischer Provenienz beschränkt sich bislang noch auf wenige Einzeldarstellungen.21 Während Untersuchungen zu Privatbriefen bereits vorliegen,22 wurden Geschäftsbriefe jüdischer Händler mit christlichen Auftraggebern bislang noch nicht systematisch untersucht.23 Vor diesem Hintergrund bildet die Korrespondenz eines jüdischen

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und sozialer Status als Determinanten des Sprachgebrauchs (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 398), Stuttgart 2001, 115–127, hier 116; rotraud ries: Individualisierung im Spannungsfeld differenter Kulturen. Positionsbestimmungen und experimentelle Neudefinitionen in der jüdischen Minderheit. In: kaspar von greyerz (Hg.): Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 68), 79–112, hier 86. landau, wachstein: Jüdische Privatbriefe; kröger: Aufzeichnungen, 115. Als herausragende Dokumente seien hier die Memoiren der Glikl bas Judah Leib, genannt Glückel von Hameln (circa 1647–1724), und der Reisebericht des Abraham Levies (1702/03–1785) genannt: bertha pappenheim (Hg.): Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen übersetzt, Weinheim 2005; monika richarz (Hg.): Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit. Hamburg 2001; shlomo berger (Hg.): Travels among Jews and Gentiles. Abraham Levie’s Travelogue. Amsterdam 1764. Edition of the Text with Introduction and Commentary (Hebrew Language and Literature Series 3), Leiden/Boston/Köln 2002. Zum Phänomen auch jancke: Jüdische Selbstzeugnisse, 21. bernd ulmer: Die autobiographische Plausibilität von Konversionserzählungen. In: walter sparn (Hg.): Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1998, 287–295; rotraud ries: Beziehungen und Beziehungskonstruktionen an der Grenze zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft: Perspektiven von Konvertiten in der Frühen Neuzeit. In: jörg r. müller (Hg.), Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der Juden A 20), Hannover 2008, 289–304; nathanja hüttenmeister: Eine jüdische Familie im Spannungsverhältnis zwischen Judentum und Christentum, Der Konvertit Christian Gerson im Konflikt mit seiner jüdischen Verwandtschaft. In: Vestische Zeitschrift 99 (2002), 47–59. ries: Individualisierung; kröger: Aufzeichnungen; Ders.: Deutschsprachige Literalität in Familie und Umfeld von Jobst Goldschmidt alias Josef Hameln. In: klein, ries (Hg.): Selbstzeugnisse, 119–137. landau, wachstein: Jüdische Privatbriefe; günter marwedel: Zu jiddischen Briefen aus der Zeit und Umwelt Glückels von Hameln. In: hermann-josef müller (Hg.): Fragen des älteren Jiddisch (Trierer Beiträge. Sonderheft 2), Trier 1977, 46–56. Ansätze bei kröger: Aufzeichnungen; Ders.: Literalität; sabine ullmann: Kredit unter Juden und Christen während der Frühen Neuzeit im Kraichgau. In: kurt andermann, gerhard fouquet (Hg.): Zins und Gült. Strukturen des ländlichen Kreditwesens in Spätmittelalter und

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Kaufmanns aus der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts einen besonders wertvollen Quellenfund, der im Nachfolgenden anhand ausgewählter Aspekte untersucht werden soll. Im folgenden Abschnitt wird kurz auf den Quellenbestand sowie die Sprache und Stilistik der Briefe eingegangen, ohne den Anspruch auf eine sprachwissenschaftliche Analyse zu erheben. In einem weiteren Schritt erfolgt die Vorstellung der beteiligten Akteure und ihre Verortung im regionalen Kontext, wobei der Schwerpunkt auf der Person Jonas Isaacs und weniger auf der seines adeligen Kunden und Briefpartners liegt. Die Untersuchung der Briefe orientiert sich an kultur- und alltagsgeschichtlichen Aspekten. Zentrale Fragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll, sind hierbei: Welchen Aussagewert besitzen die Briefe hinsichtlich der Selbstwahrnehmung beziehungsweise Selbstbeschreibung des Verfassers? Welche Beziehung lässt sich zwischen den beteiligten Akteuren rekonstruieren und wie drückt sich dieses Verhältnis auf sprachlicher Ebene aus? Auf welche Weise spiegeln die Briefe die besonderen Lebensumstände eines jüdischen Kaufmanns in einer herrschaftlich fragmentierten Region abseits der großen Handelszentren wider? 3. Das Quellenkorpus Die insgesamt 35 eigenhändigen Schreiben und Schriftstücke, die den Kern des vorliegenden Beitrags bilden, decken einen Zeitraum von rund zwölf Jahren ab. Das erste Schreiben vom 17. September 1712 entstand nur wenige Wochen nach dem Beginn der Geschäftsbeziehungen im August des gleichen Jahres.24 Der Großteil der erhaltenen Briefe stammt aus den frühen 1720er Jahren. So finden sich insgesamt neun Schreiben aus dem Jahr 1722 und elf aus dem Folgejahr. Die Eigenhändigkeit der Zeilen ist durch einen Vergleich der Schrift mit Unterschriften, die Jonas Isaac im Zusammenhang mit Warenlieferungen oder Vertragsabschlüssen leistete, gesichert.25 Zudem sind Sprache und Schriftbild in den Briefen durchweg einheitlich.

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Frühneuzeit, Epfendorf 2016, 111–131. Einige innerjüdische Geschäftsbriefe des 19.  Jahrhunderts wurden bereits ediert und analysiert: andreas angerstorfer: „Herbstmarder gelten nicht viel“. Ein Brief des Fellhändlers Michael Lindner, gefunden in der Geniza von Altenkunstadt. In: Vom Main zum Jura 6 (1991), 135–147; Ders.: Der Brief eines jüdischen Hopfenhändlers aus Hüttenbach (Mfr.) an einen Geschäftspartner in Floß (Opf.). In: zweckverband fränkischeschweiz-museum (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Franken 2 (Schriften des FränkischeSchweiz-Museums 5), Tüchersfeld 1998, 11–18. StABa, G 58, H III, Nr. 377. Das Schreiben ist allerdings nur abschriftlich überliefert. Das früheste autografische Dokument datiert vom 11. November 1712. Die späteste erhaltene Unterschrift Jonas Isaacs findet sich auf einem Vertrag vom 19. September 1738: Stadtarchiv Kronach (StadtA KC), U 152. Juden, die der deutschen Schrift nicht mächtig waren, quittierten in der Regel auf Hebräisch, wie zahlreiche Fälle aus dem Archiv der Freiherren von Würtzburg belegen: StABa, G 58, G II, Nr. 258. In diesem Gerichtsbuch aus den Jahren 1741 bis 1747 findet sich nur ein einziger Jude, der seine Unterschrift nicht in deutscher Sprache leistete.

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Abb. 1 Frühestes autografisches Schreiben Jonas Isaacs vom 11. November 1712; Staatsarchiv Bamberg.

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Der Umfang der Schreiben ist in einigen Fällen recht knapp und umfasst oft nur eine Seite. Während die frühen Briefe in erster Linie dem Zweck dienten, wenige, meist sachlich gehaltene Informationen „zu finanziellen Transaktionen und Geschäftsabläufen sowie Ankündigungen des Transits von Menschen und Gütern“26 auszutauschen, folgen später überwiegend Zahlungserinnerungen sowie Mitteilungen zu einer geplanten, letztendlich aber gescheiterten Finanztransaktion. Adressat der Schreiben war nicht ausschließlich Johann Ludwig von Würtzburg, sondern – vor allem nach 1720 – dessen Verwalter Lorenz Leupold und in einigen Fällen die zweite Ehefrau Johann Ludwigs, die Hauptmannstochter Magdalena Barbara von Schilling.27 Dass sich Jonas Isaac in seinen Briefen auch an die Frau des Adeligen wandte, hatte vor allem mit der Abwesenheit ihres Manns zu tun, der in den 1720er Jahren mehrere Reisen nach Wien unternahm, wo er am Reichshofrat einen Prozess um das Erbe seines Schwiegervaters, des kaiserlichen Generalfeldwachtmeisters Heimard Johann von Schilling (gestorben 1716), führte.28 Zudem versuchte Jonas Isaac, über Magdalena Barbara auf deren Gemahl einzuwirken, nachdem dieser ihn nicht mehr persönlich empfing und seine Schreiben nur noch über seinen Beamten beantworten ließ.29 Als der Konflikt um die ausstehenden Schulden zunehmend eskalierte, beschränkte sich die Kommunikation schließlich ganz auf den Verwalter. Zwischen 1721 und 1724 haben sich mindestens 20 dieser Briefe erhalten. Auch wenn im 18. Jahrhundert reichsweit ein nahezu flächendeckender Waren- und Briefversand möglich wurde, bestand zwischen der bambergischen Amtsstadt Kronach als Wohnort Jonas Isaacs und dem – nach zeitgenössischen Maßstäben – eine Landmeile entfernt gelegenen Pfarrdorf Mitwitz keine fest installierte Postverbindung. Der Versand und die Zustellung der Briefe erfolgten daher über eigene Boten. Diese Form der Übermittlung mittels eines Expressen30 spricht Jonas Isaac in einigen

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verena kasper-marienberg, joshua teplitsky: Juden in den böhmischen Ländern in der Frühen Neuzeit. In: kateřina čapková, hillel j. kieval (Hg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 140), Göttingen 2020, 29–81, hier 52. StABa, G 58, H III, Nr. 377. Die fünf überlieferten Schreiben datieren vom 19. April 1722, 24. Mai 1723, 19. Oktober 1723, 26. Oktober 1723 und 17. Oktober 1724. hotzelt: Familiengeschichte, 574 und 579 f. Heimard Johann von Schilling war in der Schlacht von Peterwardein am 5. August 1716 verwundet worden und starb am 21. Dezember des gleichen Jahres: andreas lutz: Das Prinz-Eugen-Lied und die Schlacht bei Belgrad (1717). In: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse 79 (1942), 129–164, hier 153. StABa, G 58, H III, Nr.  377: Schreiben von Jonas Isaac an Magdalena Barbara von Würtzburg, Kronach, den 17. Oktober 1724. Johann Heinrich Zedler definiert einen „Expresser“ als jemanden, „der zu einer gewissen Sache besonders befehliget und abgeschicket worden [ist]“: Artikel „Expresser“ In: johann heinrich zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 8, Halle/ Leipzig 1734, 1205.

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Fällen explizit an.31 Nur auf diese Weise erklärt sich die teilweise sehr dichte Kommunikation: So sandte Jonas Isaac am 12. März 1723 ein Schreiben nach Mitwitz. Bereits am folgenden Tag verfasste der Verwalter ein Antwortschreiben, das noch am gleichen Tag durch den Kaufmann erwidert wurde. Nur wenige Wochen später datieren drei eng getaktete Schreiben Jonas Isaacs vom 24., 27. und 30. Mai. In einem seiner Briefe kündigt er an, dass er seinen Boten, möglicherweise einen bei ihm angestellten Diener, mit nach Bayreuth nehmen wolle, um ihn umgehend mit wichtigen Dokumenten zurück zu seinem Vater nach Kronach schicken zu können.32 Obwohl Jonas Isaac zur Übermittlung seiner Schreiben vermutlich auf Angehörige oder Angestellte zurückgriff, siegelte er seine Geschäftskorrespondenz, um sicherzustellen, dass die Briefe ungelesen den Adressaten erreichten.33 Eines der frühesten Schreiben aus dem Jahr 1715 zeigt das Siegel mit einer Henkelkanne in einem runden Schild – ein Hinweis auf die levitische Abstammung des Schreibers.34 Umgeben wird das Ganze von einem Helm mit Helmdecke, der von einem Kaufmannszeichen bekrönt wird. Dieses erste Siegel lehnt sich in seiner Gestaltung stark an heraldische Vorbilder an, während das zweite, deutlich häufiger verwendete Siegel, wesentlich schlichter gehalten ist. Dieses zeigt lediglich die Initialen des Absenders („I I“), die durch eine Hausmarke oder ein Kaufmannszeichen in Form eines Doppelhakens voneinander getrennt werden. Umgeben ist das Siegelbild von einem ovalen Laubkranz, der zusätzlich von einem Perlkreis gerahmt wird. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Siegeln, die sich in der Regel durch den Gebrauch hebräischer Zeichen oder Inschriften von denen der christlichen Bevölkerung unterschieden, verzichtete Jonas Isaac auf die Verwendung hebräischer Buchstaben, durch die Rückschlüsse auf seine Religion möglich gewesen wären.35

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StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben Jonas Isaacs an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 21. November 1717 und 28. Juni 1718, sowie Bayreuth, den 3. Juli 1718; ebenda: Schreiben Jonas Isaacs an Magdalena Barbara von Würtzburg, Kronach, den 17. Oktober 1724. Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 28. Juni 1718. angela standhartinger: Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit. In: matthewsschlinzig, schuster u. a. (Hg.): Handbuch Brief, 269–275, hier 271. StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 23. Januar 1715. Eine Kanne als Symbol für die Aufgabe der Leviten, vor dem Segen Wasser über die Hände des Priesters zu gießen, findet sich auch auf dem Grabstein seines Vaters Isaak Samuel (gestorben 1728), der sich noch heute auf dem jüdischen Friedhof bei Burgkunstadt erhalten hat. Eine historische Fotografie von Theodor Harburger (1887–1949) findet sich in josef motschmann, siegfried rudolph: „Guter Ort“ über dem Maintal. Der jüdische Friedhof bei Burgkunstadt, Lichtenfels 1999, 14. Zu jüdischen Siegeln siehe jüngst andreas lehnertz: Judensiegel im spätmittelalterlichen Reichsgebiet. Beglaubigungstätigkeit und Selbstrepräsentation von Jüdinnen und Juden (Forschungen zur Geschichte der Juden A 30), 2 Bde., Wiesbaden 2020 (zu Siegelinschriften bes. Bd. 1, 48–66).

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Abb. 2 und Abb. 3 Siegelabdrücke des Kronacher Kaufmanns Jonas Isaac auf Schreiben vom 21. November 1717 (Abb. 2) und 19. April 1722 (Abb. 3); Staatsarchiv Bamberg.

4. Die Akteure und ihre regionale Verortung Der im Zentrum der vorliegenden Darstellung stehende Kaufmann Jonas Isaac gehörte zu den wenigen Juden, die in der Amtsstadt Kronach den Schutz der Bamberger Fürstbischöfe genossen. Nachdem es im ausgehenden Mittelalter zu einer weitgehenden Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Hochstift Bamberg gekommen war, hatten mehr als zwei Jahrhunderte lang keine Juden in der Stadt gelebt.36 Erst während des Dreißigjährigen Kriegs waren viele von ihnen aus dem Umland hinter die Mauern der gut befestigten Stadt geflüchtet, wo es schließlich einzelnen, vermutlich vermögenden Haushaltsvorständen gelang, Schutzbriefe zu erhalten und sich mit ihren Familien dauerhaft niederzulassen.37 Aus einer solchen Familie stammte Jonas Isaac, dessen Vater Isaak Samuel (gestorben 1728) bereits ab 1695 als Hausbesitzer nachweisbar ist.38

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Germania Judaica II.1, 457; ebenda, III.1, 691 f. christian porzelt: Jüdisches Leben in der bambergischen Amtsstadt Kronach 1633–1802/03. In: michaela schmölz-häberlein (Hg.): Jüdisches Leben in der Region. Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Süden des Alten Reiches (Stadt und Region in der Vormoderne 7), Würzburg 2018, 219–247, hier 223 f. Ebenda, 227.

Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724

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Seine Geburt fällt in die letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts, wobei seine Lebensdaten nur grob umrissen werden können. Zunächst lebte er eine Zeit lang in Schnaittach bei Nürnberg, wo unter dem Schutz der Kurfürsten von Bayern eine bedeutende jüdische Gemeinde existierte.39 1706 konnte er einen Schutzbrief in seiner Geburtsstadt Kronach erhalten, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1743 wohnte.40 Jonas Isaac war dreimal verheiratet und hatte zahlreiche Kinder.41 Einen Einblick in sein familiäres Umfeld bietet ein Verzeichnis aus dem Jahr 1729. Zu diesem Zeitpunkt lebten in seinem Haushalt sechs Kinder. Sein ältester Sohn Seligmann hielt sich damals zum Studium in Prag auf.42 Den Söhnen Seligmann und Zacharias gelang es, sich später ebenfalls in Kronach niederzulassen, während Hirsch den Schutz in der Residenzstadt Bamberg erlangte.43 Dort lebten auch mehrere seiner Töchter, von denen Hanna mit dem Arzt Dr. Salomon Wolfsheimer, eine zweite, deren Name nicht überliefert ist, mit Marx (Mordechai) Hamburger verheiratet war.44 Ein dritter in Bamberg wohnender Schwiegersohn, Isaak Süßmann, war ein Sohn des Bamberger Hoffaktors Süßmann Moses Brillin.45 Da Heiratsverbindungen üblicherweise zwischen Vertretern der gleichen sozialen Gruppe geschlossen wurden,46 lässt das familiäre Umfeld seiner Schwiegersöhne bereits die Zugehörigkeit zur regionalen jüdischen Oberschicht vermuten, die ihr Zentrum in der fürstbischöflichen Residenzstadt hatte. Ein Blick auf

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georg fehn: Chronik von Kronach, Bd. 5, Kronach 1971, 76, dort als „des Isac Judens Sohn von Schnattach“ bezeichnet. Zur jüdischen Gemeinde siehe walter tausendpfund: Die jüdische Gemeinde von Schnaittach. Aus dem wechselvollen Leben der Juden im Herrschaftsgebiet Rothenberg, Nürnberg 1981. porzelt, Kronach, 225; StABa, A 231/IV, Nr. 33.471, fol. 84r. Nach seinem Tod ging der Schutz auf seinen Sohn Zacharias über: StadtA KC, B 19 (Ratsprotokollbuch 1744–1749), fol. 66: Eintrag vom 31. Juli 1744. Vgl. auch StABa, A 231/IV, Nr. 33.472, fol. 77r. Der Name seiner zweiten Frau war Esther: StABa, G 11, Nr. 3851. Ebenda, Hochstift Bamberg, Vogt- und Steueramt Kronach, Nr. 25: Eintrag 267 vom 13. April 1729. Es finden sich zahlreiche Hinweise, dass fränkische Juden in den Prager Jeschiwot ausgebildet wurden. Vgl. hierzu die Beispiele bei julia haarmann: Hüter der Tradition. Erinnerung und Identität im Selbstzeugnis des Pinchas Katzenellenbogen (1691–1767), Göttingen 2012; sowie michaela schmölz-häberlein: Jüdisches Leben in den Gemeinden Zeckendorf und Demmelsdorf. In: Dies. (Hg.): Jüdisches Leben, 267–320. fehn, Kronach, 78; porzelt, Kronach (wie Anm. 37), 226. Zacharias Jonas übersiedelte 1761 ebenfalls nach Bamberg. StABa, G 11, Nr. 3851. Ebenda, G 68, Belege zu den Reichmannsdorfer Amtsrechnungen 1738, Beleg Nr. 83 vom 13. April 1739. Zur Familie Brillin siehe michaela schmölz-häberlein: Juden in Bamberg (1633– 1802/03). Lebensverhältnisse und Handlungsspielräume einer städtischen Minderheit, Würzburg 2014, 118 f. friedrich battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), München 2001, 53; claudia ulbrich: Eheschließung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet (18. Jahrhundert). In: christophe duhamelle, jürgen schlumbohm (Hg.): Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 197), Göttingen 2003, 99–119.

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seine finanziellen Verhältnisse bestätigt dieses Bild. 1729 gab er sein Vermögen mit 11.500 Gulden an. Damit war er nach seinem Bruder Michael Isaac, der sich überwiegend in München aufhielt und dessen Besitz auf 13.500 Gulden beziffert wurde, der wohlhabendste unter den Kronacher Juden. Auch seine verwitwete Mutter Ella verfügte mit 9.500 Gulden noch über ein beträchtliches Vermögen.47 Das finanzkräftigste Mitglied seiner Familie war allerdings der in Mergentheim ansässige Noe Samuel Isaac (gestorben 1757), der als Hoffaktor und Finanzagent für verschiedene Reichsfürsten tätig war.48 Das Warenangebot von Jonas Isaac umfasste überwiegend Textilien und Luxuswaren; wie bereits sein Vater war er zudem mit Militärlieferungen betraut.49 Zeitweise war er Hoffaktor des Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth (1678–1726), wobei über seine genaue Tätigkeit in diesem Zusammenhang nur wenig bekannt ist.50 Während dessen 14-jähriger Regierungszeit agierte Jonas Isaac wie die aus Baiersdorf stammenden Brüder Veit und Salomon Samson sowie deren Schwager Moses Goldschmidt, ein Sohn Glikl von Hamelns,51 als Lieferant und Finanzagent des Fürsten. 1719 wurde er unter dem Vorwand, dass ein von ihm verfasster Brief mit gotteslästerlichem Inhalt abgefangen worden sei, zeitweise durch den Markgrafen in Haft genommen.52

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StABa, Hochstift Bamberg, Vogt- und Steueramt Kronach, Nr. 25, Eintrag Nr. 267 vom 13. April 1729. Zu Jonas Isaacs Mutter und deren Geschäftsaktivitäten siehe christian porzelt: Esther und ihre Töchter. Geschlechterrollen und Wirtschaftstätigkeit jüdischer Frauen in der Vormoderne. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 31.2 (2021), 297–324. Jonas Isaac und Noe Samuel Isaac waren vermutlich Brüder, wofür es mehrere Indizien gibt. Am auffallendsten sind die Parallelen zwischen Jonas Isaacs in Kronach ansässigem Bruder Michael Isaac, der sich zeitweise in München aufhielt, und dem später in Mergentheim ansässigen, gleichnamigen Bruder Noe Samuel Isaacs. Die Herkunftsbezeichnung „Cronach“ für Noe Samuel Isaac ist mehrfach belegt: Stadtarchiv Nürnberg, Deutscher Orden, Meistertum Mergentheim, Regierung 2659: Übersetzung eines hebräischen Protokolls, Mergentheim den 24. Oktober 1729; Stadtarchiv Ludwigsburg, B 287 Bü 107: Übersetzung eines Wechselbriefs an die Witwe Sara zu Igersheim, August 1743. Für Hinweise danke ich Maximilian Grimm, Eichstätt. In den Kronacher Quellen konnte Noe Samuel Isaac bisher nicht ermittelt werden. Zu Noe Samuel Isaac siehe heinrich schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 3, Berlin 1955, 45, 73, 181–183 und 192; ebenda, Bd. 4, Berlin 1963, 102, 108 und 187–191; wolfgang zorn: Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens. 1648–1870. Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums, Augsburg 1961, 106. StadtA KC, B 19 (Ratsprotokollbuch 1744–1749), fol. 60: Eintrag vom 23. Juli 1744. Vgl. porzelt: Kronach, 243. In den einschlägigen, jedoch stellenweise überholten Überblickswerken zu Hofjuden fehlt sein Name völlig: schnee: Hoffinanz; selma stern: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 64), Tübingen 2001. ilse sponsel: Hommage an eine ungewöhnliche Frau. Glückel von Hameln und ihre Beziehungen zu Baiersdorf. In: trägerverein jüdisches regionalmuseum mittelfranken in fürth und schnaittach e. v. (Hg.): Aus der jüdischen Geschichte Baiersdorfs. Baiersdorf/ Fürth 1992, 9–15. StABa, Hochstift Bamberg, Geheime Kanzlei, Nr. 1069, fol. 23: Schreiben vom 28. Januar 1719.

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In gleicher Weise hatte Georg Wilhelm bereits einige Jahre zuvor versucht, jüdische Gläubiger ruhigzustellen.53 Daneben lassen sich noch eine Reihe adeliger Kunden finden, die der fränkischen Reichsritterschaft angehörten. Zu seinen Schuldnern zählten unter anderem die Familien von Schaumberg zu Kleinziegenfeld und von Redwitz zu Theisenort.54 Der bambergische Militärbeamte Otto Philipp von Schrottenberg (1681–1738), seit 1715 Kommandant der bei Kronach gelegenen Festung Rosenberg,55 hatte bei Jonas Isaac ebenfalls beträchtliche Schulden. Als er 1734 nach Forchheim versetzt wurde und in diesem Zusammenhang einen in der Nähe von Kronach gelegenen Gutshof verkaufte, erwirkte Jonas Isaac einen Arrest auf den Kaufpreis, weil Schrottenberg ihm noch eine größere Summe Geld schuldete.56 Hinsichtlich seiner Forderungen verglich man sich drei Jahre später auf die Summe von 9.200 Gulden, die Jonas Isaac in den kommenden Jahren aus den Erträgen der Schrottenberg’schen Schlossökonomie in Reichmannsdorf einzog.57 Ob diese Schulden Warenkredite waren oder möglicherweise im Zusammenhang mit der Ausrüstung und Versorgung der Festungstruppen standen, ist nicht ersichtlich. Aus den Quellen ergibt sich somit das Bild eines Geschäftsmanns, dessen Handels- und Kreditbeziehungen sich auf mehrere Fürstenhöfe, adelige Haushalte und herrschaftliche Beamte im fränkischen Raum erstreckten. Dem lokalen Niederadel entstammte auch der eingangs genannte Hauptmann Johann Ludwig von Würtzburg, an den ein Großteil der Briefe und Mahnschreiben Jonas Isaacs adressiert war. Als letztes der sieben überlebenden Kinder Johann Veits IV. von Würtzburg (1638–1703) und seiner Frau Maria Cordula von Redwitz (1649–1696) wurde er in dem evangelischen Pfarrdorf Mitwitz geboren, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte.58 Der Ort bildete gemeinsam mit einigen umliegenden Orten eine reichsunmittelbare Kleinherrschaft, die als Teil des Ritterkantons Gebürg zum frän-

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Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth hatte bereits einige Jahre zuvor jüdische Gläubiger unter ähnlichem Vorwand inhaftiert: michaela schmölz-häberlein: Beziehungen und Kon­ flikte zwischen jüdischen Handelsgesellschaften und obrigkeitlichen Akteuren in Franken um 1700. Samson Salomons Erben und die Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth. In: sandra richter, guillaume garner (Hg.): „Eigennutz“ und „gute Ordnung“ (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 54), Wiesbaden 2016, 113–131. StABa, G 11, Nr. 3851. claus fackler: Stiftsadel und geistliche Territorien 1670–1803. Untersuchungen zur Amtstätigkeit und Entwicklung des Stiftsadels, besonders in den Territorien Salzburg, Bamberg und Ellwangen, St. Ottilien 2006, 88; benedikt maria scherer: Schloss Reichmannsdorf und seine Gärten, Bamberg 1997, 35 f. StadtA KC, A 1236, fol. 275, 275 ¼, 276. StABa, G 68, Reichmannsdorfer Amtsrechnung 1738/39, fol. 93r; ebenda, Belege zu den Reichmannsdorfer Amtsrechnungen 1738, Belege Nr. 83 und 84. hotzelt: Familiengeschichte, 565; johann gottfried biedermann: Geschlechts-Register Der Reichs-Frey-unmittelbaren Ritterschafft Landes zu Francken Löblichen Orts-Gebürg, Bamberg 1747, Tafel CCLXXXII.

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kischen Ritterkreis gehörte.59 Nach einer früh beendeten Militärkarriere und der mit seinen beiden älteren Brüdern vollzogenen Erbteilung ließ sich Johann Ludwig von Würtzburg im Alter von 24 Jahren auf den Gütern seiner Familie nieder, wo er mit der Errichtung eines Schlossbaus begann.60

Abb. 4 Porträt des Johann Ludwig von Würtzburg auf dem Epitaph im Chor der Pfarrkirche St. Jakob in Mitwitz; Aufnahme: Christian Porzelt, 2020.

5. Art und Umfang der Geschäftsbeziehung Etwa zeitgleich zu seiner Bautätigkeit setzten auch die Geschäftsbeziehungen mit Jonas Isaac ein. So kaufte Johann Ludwig 1712 von diesem ein Kreitz Mit demant, dan dero gleichen Ein bahr oren buettl mit 10 stein dero gleichen auch Ein schmir Kasten mit 5 stein; gemäß einer Garantieerklärung des Juden sollte es sich dabei durchweg um echte orientalsche demanten [handeln] Und keiner auß Cristall [sein].61 Ein Jahr später bestellte der Adelige in größerem Umfang „Silberwerk“, darunter zwei Leuchter, ein Dutzend Silberlöffel, ein Thee-Fläschlein sowie ein augspurger Lavor mit Kanne, für ins59 60 61

demattio: Kronach, 404–409. hotzelt: Familiengeschichte, 565–573; christian Porzelt: Zur Baugeschichte des Oberen Schlosses in Mitwitz. In: colloquium historicum wirsbergense (Hg.): Geschichte in Franken, Bd. 4 [im Druck]. StABa, G 58, H III, Nr. 377: Zertifikat des Jonas Isaac für die gelieferten Schmuckstücke, Mitwitz, den 14. August 1712 (Kopie). Zur Rolle jüdischer Kaufleute im Juwelenhandel vgl. kim siebenhüner: Die Spur der Juwelen. Materielle Kultur und transkontinentale Verbindungen zwischen Indien und Europa in der Frühen Neuzeit (Ding, Materialität, Geschichte 3) Köln/Weimar 2018, 272–284.

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gesamt rund 450 Gulden.62 Parallel dazu erfolgte auch der Kauf größerer Posten Kramwaren und Textilien, was – wie auch der Diamantschmuck – in Verbindung mit seiner Hochzeit mit Sophie Christine von Künsberg (1679–1715) stehen dürfte, die er am 27. Februar 1713 heiratete.63 Die Warenlieferungen, die noch andere Objekte wie ein Paar Pistolen oder ein Dutzend Kaffeeschälchen umfassten, weisen auf die demonstrative Zurschaustellung von Konsum als Teil der adeligen Repräsentation hin.64 Jüdischen Händlern kam in diesem Zusammenhang als Vermittler von Luxusgütern und Modeartikeln im 17. und 18. Jahrhundert eine besondere Rolle zu.65 Darüber hinaus übernahm Jonas Isaac in geringem Umfang Aufgaben eines Bankiers, indem er die Auslösung von versetzten Schmuckstücken besorgte oder offene Forderungen, etwa des Kronacher Kaufmanns Löw Koppel (1673/74–1745),66 beglich. Nach weniger als einem Jahr beliefen sich die Auslagen, die der Kaufmann für den Adeligen gemacht hatte, bereits auf 1.400 Taler.67 Hinzu kamen drei Wechselbriefe über insgesamt 450 Taler, die Johann Ludwig von Würtzburg im September 1712 zur Bezahlung des gelieferten Schmucks unterschrieben hatte. Der Kreditrahmen des Adeligen war damit offenbar ausgereizt, sodass sich Jonas Issac mit weiteren Lieferungen zunächst zurückhielt. Bis Ende des Jahres 1714 hatte Johann Ludwig von Würtzburg immerhin 520 Taler abgetragen, ehe die Tilgung ins Stocken geriet. Die Ereignisse der folgenden Jahre, aus denen sich kaum Briefe erhalten haben, sind nur bedingt rekonstruierbar. Fest steht, dass Jonas Isaac in kleinerem Umfang weiter Waren lieferte, ehe er im September 1717 eine endgültige Abrechnung präsentierte. Für die geforderte Summe stellte Johann Ludwig von Würtzburg am 25. Februar 1718 zwei Wechsel über 1.030 und 1.004 Reichstaler aus, die er versprach, in vier beziehungsweise acht Mona-

62 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Warenschein des Jonas Isaac, 24. Februar 1713 (Abschrift). 63 Vgl. hotzelt: Familiengeschichte, 570. Der Schmuck und verschiedene Silberobjekte lassen sich im Nachlass Sophie Christine von Künsbergs nachweisen: StABa, G 58, F II, Nr. 286. 64 gerhard ammerer, elisabeth lobenwein, martin scheutz: Adel im 18. Jahrhundert. Umrisse einer sozialen Gruppe in der Krise. Zur Einleitung. In: Dies. (Hg.): Adel im 18. Jahrhundert. Umrisse einer sozialen Gruppe in der Krise, Innsbruck 2015, 7–19, hier 8–10; beate spiegel: Adliger Alltag auf dem Land: Eine Hofmarksherrin, ihre Familien und ihre Untertanen in Tutzing um 1740 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 18), Münster 1997, 267–322. 65 robert liberles: Jews Welcome Coffee. Tradition and Innovation in Early Modern Germany, Waltham 2012; michaela schmölz-häberlein: Mittler zwischen Stadt und Land. Das Warenangebot jüdischer Händler zwischen Grundversorgung und modischen Accessoires. In: nathanael riemer (Hg.): Einführungen in die Materiellen Kulturen des Judentums, Wiesbaden 2016, 9–30; ullmann: Kredit, 123 f. 66 StABa, G 58, H III, Nr. 405: Protokolleintrag vom 7. Juni 1741 (Abschrift); StadtA KC, B 19 (Ratsprotokollbuch 1744–1749), fol. 215: Eintrag vom 3. Januar 1746. Zu ihm vgl. porzelt: Kronach, bes. 243–246. 67 Stand zum 24. Februar 1713. Johann Ludwig wollte später hiervon allerdings lediglich 1.252 Taler und 21 Groschen als gerechtfertigt ansehen: StABa, G 58, H III, Nr. 377: Berechnung vom 6. September 1725.

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ten in Coburg oder Nürnberg zu erlegen.68 Die Einlösung der Schuldscheine durch Isaac Wolf Gabriel, vermutlich ein Mitglied der mit Jonas Isaac verschwägerten Fürther Familie Fränkel, zu den gesetzten Terminen scheiterte allerdings.69 Nachdem die Auszahlung der Wechsel misslungen war, bediente sich der jüdische Gläubiger einer veränderten Strategie, um seinen Schuldner zusätzlich unter Druck zu setzen. Nur wenige Wochen später präsentierte er Johann Ludwig von Würtzburg eine Mitteilung des Bayreuther Geheimen Rats und Landschaftsdirektors Georg Ehrenfried von Nauendorf (gestorben 1734), der erklärte, Jonas Isaac habe die beiden Schuldscheine an die Bayreuther Landschaftskasse zur Bezahlung der Fränkischen Kreistruppen weitergeleitet, die nun ihrerseits die Summe einfordern wollte.70 Der Konflikt, der sich bis dahin zwischen zwei Akteuren völlig unterschiedlichen Standes abgespielt hatte, wurde damit auf die Ebene zweier – mindestens ebenbürtiger – Adeliger gehoben und gewann durch die Beteiligung einer Regierungsbehörde zusätzlich eine regionale politische Bedeutung. Hierdurch erhoffte sich Jonas Isaac wohl deutlich bessere Erfolgschancen, konnte aber auch in den folgenden Jahren keine Rückzahlung erreichen. Dass er sich weiterhin im Besitz der Wechsel befand, deutet wohl darauf hin, dass der oben erwähnte Brief des Bayreuther Landschaftsdirektors nur ein Vorwand gewesen war und die Abgabe der Wechsel nicht wirklich erfolgt war. Um erneut Zeit zu gewinnen, beauftragte Johann Ludwig von Würtzburg nun seinerseits Jonas Isaac damit, einen möglichen Kreditgeber ausfindig zu machen, bei dem er die geforderte Summe aufnehmen könnte. Der Großteil der überlieferten Korrespondenz bezieht sich auf eine geplante Kreditaufnahme bei dem Bayreuther Geheimen Rat Adam Christoph Siegmund von Benckendorff (1684–1745). Nachdem es über die Konditionen, die unter anderem eine Bürgschaft der beiden älteren Brüder von Würtzburg vorsahen, einige Unstimmigkeiten gegeben hatte, scheiterte dieses Umschuldungsprojekt jedoch ebenso wie wenig später eine Kreditaufnahme bei der Obristleutnantswitwe Erdmuthe Sophia von Gammersfeld.71 Die Forderungen gipfelten schließlich in dem genannten Prozess vor der Reichsritterschaft des Kantons Gebürg, in dem Jonas Issac auf die Zahlung seiner Schulden klagte, Johann Ludwig dem jüdischen Kaufmann dagegen Abrechnungsdifferenzen 68 69

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Ebenda, Bestätigungen des Notars Johann Peter Hirsch, Nürnberg, den 1. Juli und 31. Oktober 1718 (Kopie). Vermutlich handelt es sich bei ihm um einen Sohn Wolf Gabriel Fränkels. Levin Wolf Gabriel, der 1710/11 auf der Leipziger Messe genannt wird, war möglicherweise sein Bruder. Vgl. max freudenthal: Leipziger Messegäste. Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen in den Jahren 1675 bis 1764 (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 29), Frank­ furt a. M. 1928, 87. Isaak Samuel, der Vater Jonas Isaacs, spricht in einem Brief von seinem Tochtermann Fränkel: StABa, G 58, H IV, Nr. 1165. 1727 agiert er als Vertreter für die Erben Abraham Gabriel Fränkels in einer Schuldsache: Ebenda, Nr. 1191. StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Georg Ehrenfried von Nauendorf an Johann Ludwig von Würtzburg, Bayreuth, den 2. Juni 1718. Zu ihr vgl. auch Stadtarchiv Bayreuth, Akte 23216 b.

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und Handelsbetrügereien vorwarf.72 Der ohnehin bereits langwierige Prozess zog sich daraufhin noch fast zwei Jahrzehnte hin. Zur Urteilsverkündung durch die Ritterortskanzlei in Adlitz (Ahorntal) als Sitz des amtierenden Ritterhauptmanns Peter Johann Albrecht von Rabenstein (1671–1742)73 kam es erst im Jahr 1741. Die Liquidation der Schulden indes dauerte noch bis zum Tod Jonas Isaacs und wurde endgültig erst durch die Vormünder seiner Erben abgeschlossen.74 6. Formale und sprachliche Aspekte der Korrespondenz Die Geschäftsbriefe Jonas Isaacs zeigen, dass es sich bei ihm um einen geübten Briefschreiber handelte. Darauf verweist auch sein Umgang mit einer Reihe grundlegender Formalia. Obwohl die Schreiben nach keinem starr vorgegebenen Schema abgefasst wurden, beinhalten sie dem üblichen Briefzeremoniell folgend Anrede, Briefbestätigung sowie Schlussformel. Einige Erfahrung belegt außerdem die Verwendung von Abkürzungen wie „g. g.“ („gebe Gott“)75 oder „P. S.“ („Post Skriptum“).76 Trotz der stellenweise formelhaften Sprache lassen sich individuelle Formen erkennen. Besonders unkonventionell erscheinen in dieser Hinsicht die beiden frühesten Briefe, in denen sich Jonas Isaac gegen Vorwürfe wehrt, vor Dritten die Zahlungsmoral und somit den Ruf seines Kunden infrage gestellt zu haben.77 Inwieweit sind die Briefe Jonas Isaacs indessen typisch für jüdische Geschäftsbriefe zu Beginn der 18. Jahrhunderts? Wo liegen ihre Eigenheiten und wo lassen sie sich in der Forschung zu Briefen verorten? Grundsätzliche Voraussetzung für den brieflichen Austausch bildete eine auf beiden Seiten ausreichend vorhandene Lese- und Schreibkompetenz. Während diese auf Seiten der christlichen Briefpartner ihrem Stand entsprechend vorausgesetzt werden können, gehen die Einschätzungen zu den Kenntnissen der deutschen Sprache innerhalb der vormodernen jüdischen Bevölkerung auseinander.78 Stichhaltige Untersuchungen zur Alphabetisierung fehlen für das

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StABa, G 58, H III, Nr. 382 f. biedermann: Geschlechts-Register, Tafel CCCLXII. StABa, G 58, H III, Nr. 377; ebenda G 11, Nr. 3851. Ebenda, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 27. Dezember 1722. Ebenda, Schreiben Jonas Isaacs an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 21. November 1717; ebenda, Schreiben Jonas Isaacs an Magdalena Barbara von Würtzburg, Kronach, 17. Oktober 1724. Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 11. November 1712 und undat. [präs. den 19. November 1712]. So kommt die Judaistin Chava Turniansky zu der Feststellung, dass „bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die meisten aschkenasischen Juden keine lateinischen Buchstaben lesen konnten“: chava turniansky: Glikls Werk und die zeitgenössische jüdische Literatur. In: monika richarz (Hg.): Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2001,

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17. und 18. Jahrhundert bislang. Zeitgenössische Aussagen, wie sie 1689 von den Frankfurter Juden überliefert sind, erscheinen dagegen wenig glaubwürdig. Diese antworteten, nachdem sie behördlich aufgefordert worden waren, ihre Geschäftsbücher und Korrespondenz nicht mehr in hebräischer, sondern in lateinischer Schrift zu führen, dass nicht einmal zehn Juden unter ihnen Deutsch lesen und noch weniger Deutsch schreiben könnten.79 Erst für die Zeit um 1800 liegen für einen Teil der jüdischen Bevölkerung Studien vor, die vor allem anhand der Signierfähigkeit Rückschlüsse auf die Schreibkompetenz ziehen. Sie belegen – entgegen der Aussagen einiger Überblickswerke – vor allem bei den Männern eine überdurchschnittliche Alphabetisierungsrate sowie den Bildungsvorsprung, den städtische Gemeinden gegenüber ländlichen aufwiesen.80 Über den Erwerb dieser Kenntnisse ist nur selten etwas zu ermitteln. Schon im 17.  Jahrhundert ist vereinzelt der Besuch christlicher Schulen durch Juden belegt.81 Wesentlich häufiger wurden Kinder wohlhabender jüdischer Familien zu christlichen Privatlehrern geschickt.82 In Familien der Oberschicht, wo in vielen Fällen auch eine Fremdsprachenausbildung stattfand, ist zudem von gesicherten Kenntnissen des Deutschen auszugehen. Erst im Zuge der Aufklärung forderten jüdische Gelehrte wie

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69–90, hier 80; steven m. lowenstein: Anfänge der Integration 1780–1871. In: marion kaplan (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, 140–153, hier 154. Mordechai Breuer dagegen vermutet für einen Großteil der männlichen Juden zumindest rudimentäre Kenntnisse im Lesen und Schreiben der deutschen Sprache: mordechai breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: mordechai breuer, michael graetz (Hg.): Tradition und Aufklärung. 1600–1780 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit 1), München 1996, 83–247, hier 231; vgl. auch irmgard schwanke: Fremde in Offenburg. Religiöse Minderheiten und Zuwanderer in der Frühen Neuzeit (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 11), Konstanz 2005, 108. salomon adler: Die Entwicklung des Schulwesens der Juden zu Frankfurt am Main bis zur Emanzipation. In: Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft 18/19 (1927/28), hier Bd.  19, 237 f. Bei der 1808 vorgenommenen Namensfestlegung unterzeichneten in Köln von 72 Juden immerhin 43 Personen (circa 60 Prozent) in deutschen oder lateinischen Buchstaben: alwin müller: Die Geschichte der Juden in Köln von der Wiederzulassung 1798 bis um 1850. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte einer Minderheit, Köln 1984, 230 f.; cilli kasper-holtkotte: Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um 1800 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 3), Hannover 1996, 357–359. monika richarz: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974, 75. mordechai eliav: Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation ( Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland 2), Münster u. a. 2001 (hebräische Erstausgabe: Jerusalem 1960), 20–22. Gesine Carl nennt das Beispiel der 1748 getauften Petronella Moses  / Maria Lucia Rehburg (geboren 1723/24), die von ihren Eltern „in Ermangelung eines jüdischen Lehrmeisters“ in eine christliche Schule geschickt wurde, um Deutsch lesen zu lernen: gesine carl: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007, 91.

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der Altonaer Rabbiner Jacob Emden (1697–1776), die Vermittlung der lateinischen Schrift in den allgemeinen Unterricht jüdischer Schulen einzuführen.83 Während die deutsche Schrift meist nur im Umgang mit Christen verwendet wurde, fand die innerjüdische Kommunikation üblicherweise in hebräischen Lettern und auf Jiddisch statt.84 Dies thematisiert Jonas Isaac, indem er schreibt, er habe den Seligman alles auß fihrlich geschrieb[en] in deme in Täutschen Sprach nicht so, wie ich gerne wollte schreiben.85 Die wenigen überlieferten Briefe des Mitwitzer Juden Seligmann Alexander zeigen, dass dieser ebenfalls einen Teil seiner Korrespondenz auf Deutsch abwickelte.86 Jonas Isaac verfügte nicht nur über die nötige schriftsprachliche Kompetenz, sondern war auch mit den mitunter komplexen formalen Regeln vertraut. Das im deutschen Sprachraum übliche Titularwesen legte fest, dass Personen standesspezifisch adressiert und angesprochen werden mussten. Abhängig von Absender und Empfänger war die Eröffnung, das Vorbringen des Anliegens und die Schlussformel auszuwählen. Insbesondere die im 16. und 17. Jahrhundert entstandenen differenzierten Modelle unterschiedlicher Titel und Ehrenbezeichnungen („Curialien“)87 machten es mitunter schwer, die korrekte Form der Anrede zu wählen. Um Verstöße gegen die Anredekonventionen, die unter Umständen als schwere Beleidigung aufgefasst werden konnten,88 zu vermeiden, griff man auf Briefsteller zurück.89 Diese seit dem 15. Jahrhundert verbreiteten Lehrbücher boten detaillierte Anweisungen zum korrekten Abfassen 83

breuer: Tradition, 177 f.; ries, Individualisierung, 107; michael nagel: Deutsch-jüdische Bildung vom Ausgang des 17. bis zum Beginn des 19.  Jahrhunderts. In: notker hammerstein, ulrich hermann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, 169–187, hier 171 f.; robert liberles: An der Schwelle zur Moderne. 1618–1780. In: marion kaplan (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, 21–122, hier 70. 84 kröger: Aufzeichnungen, 115; landau, wachstein: Jüdische Privatbriefe; marwedel: Jiddische Briefe. Die Geschäftskorrespondenz der Rothschild-Bank wurde etwa noch bis nach 1840 auf Jüdisch-Deutsch geführt: lowenstein: Anfänge der Integration, 166. 85 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 10. August 1722. Ein weiterer Beleg für die briefliche Kommunikation zwischen Jonas Isaac und Seligmann Alexander findet sich ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kro­ nach, undat. [präs. den 19. November 1712]. 86 Einzelne Schreiben von Seligmann Alexander finden sich ebenda, F II, Nr.  935; ebenda, H IV, Nr. 1174 und 1081. 87 Artikel „Curialien“ In: johann georg krünitz: Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Bd. 8, 1776, 472. 88 werner besch: Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel. In: Ders. u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 3.2, Berlin/New York 2003, Art.-Nr. 177, 2599–2628, hier 2599. 89 carmen furger: Briefsteller. Das Medium „Brief “ im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2010; reinhard m. g. nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800), Göttingen 1971; inga k. kording: „Wovon wir reden können, davon können wir auch schreiben“. Briefsteller und

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verschiedenster Dokumente und beinhalteten auch Hinweise für die entsprechende Anrede in Briefen, Suppliken oder anderen Schreiben. Für die jüdische Bevölkerung erschienen entsprechende Brieflehrbücher in hebräischer Sprache 1659 in Hamburg oder 1691 in Fürth. Bis 1800 wurden knapp 20 derartige Werke aufgelegt.90 Alle he­ bräischen Titel betonen das rechte Wort und in diesem Zusammenhang eine „goldene Zunge“.91 Inwieweit diese Literatur allein für den innerjüdischen Gebrauch bestimmt war oder auch auf eine Kommunikation mit christlichen Geschäftspartnern und Herrschaftsträgern abzielte, muss in diesem Kontext allerdings unbeantwortet bleiben.92 Wie die Korrespondenz Jonas Isaacs zeigt, war dieser mit den einschlägigen Usancen vertraut. In seinen Briefen wählte er stets die korrekten Anredeformen und differenzierte die Schlussformel entsprechend nach Rang des Empfängers.93 So unterzeichnete er Briefe an seinen adeligen Geschäftspartner mit Gantz ghorsamer Knecht Jonas Jsaac Jud, während er sich in seinen an den Verwalter gerichteten Schreiben als Dinst Ergebenster diner Jonas Jsaac Jud empfahl. Für seine christlichen Geschäftspartner gestaltete sich die Wahl der Anrede in der Korrespondenz wesentlich diffiziler. Da Juden dem allgemeinen Verständnis nach außerhalb der Ständegesellschaft standen,94 fehlt ihre Nennung in den christlichen Briefstellern häufig ganz. Mitunter wird sogar empfohlen, ihnen die Höflichkeitsanrede ganz zu verweigern.95 Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert setzte sich für Mitglieder der jüdischen Oberschicht allerdings die Anrede mit „Herr“ durch. Dokumentiert ist dies etwa für den württembergischen Residenten Joseph Süß Oppenheimer (1698–1738) oder die Mannheimer Hoffaktoren Lemle Moses Reinganum (1666–1724), Michael May (gestorben 1737) und Elias Hayum (circa 1707–1766).96 Zudem wurde Rabbinern als Funktionsträgern der jüdischen Gemeinde in der Anrede eine gewisse Ehrbekundung zuteil. Den Rabbiner zu Burgkundstadt

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Briefknigge. In: klaus beyrer, hans christian täubrich (Hg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Frankfurt a. M. 1996, 27–33. Bibliographie der jüdischen Pädagogie. In: baruch strassburger: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts beiden Israeliten, Stuttgart 1885, 301 f. Vorgänger lassen sich allerdings bereits im 16. Jahrhundert in Venedig finden. Vgl. auch den Artikel „Letter-writing and letter-writers“. In: The Jewish Encyclopedia, Bd. 8, New York/London 1904, 15. Für Hinweise danke ich Maximilian Häberlein, Würzburg. Die entsprechenden Werke sind in der Bibliographie von Nickisch nicht genannt. Vgl. nickisch: Stilprinzipien. besch: Anredeformen. jakob katz: Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie. In: Ders.: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 1982, 1–82, hier 23. besch: Anredeformen, 2615. Zu Beginn der Frühen Neuzeit empfahlen Briefsteller „Feinde soll man überhaupt nicht grüßen, wie auch nicht Juden“: georg steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes, Bd. 1, Berlin 1889, 45. barbara gerber: Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18.  Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990, 75 und 115; britta wassmuth: Im Spannungsfeld zwischen Hof, Stadt und Judengemeinde. Soziale Beziehungen und Mentalitätswandel der Hofjuden in der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim am Ausgang

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grüßte der Mitwitzer Beamte Wolfgang Adam Reuther in einem Schreiben von 1738 beispielsweise mit Lieber Herr Rabiner!,97 während Johann Gutfeld, der Nachfolger Lorenz Leupolds als Amtmann, den Bamberger Oberrabbiner Nathan Utiz (gestorben 1742) mit Hochg[e]ehrter Herr Rabi anredete.98 In den vorliegenden Schriftstücken lassen sich mangels einer verbindlichen Regelung zur brieflichen Anrede für Jonas Isaac die verschiedensten Varianten finden. In den als Konzept erhaltenen Schreiben des Verwalters wird er anfangs noch mit Insonders Hochgeehrter Herr Hof Jud tituliert, während später die Anrede Sonders vielgeehrter Herr Jonas lautete. Wie überliefert ist, nahm Jonas Isaac nach dem Tod des Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth 1726 nicht mehr die Rolle eines Hoffaktors ein, was die veränderte Anrede erklären mag. Im Gegensatz dazu wählte Johann Ludwig von Würtzburg in seinen Briefen, die er an den Hochfürstl[ichen] Brandenburg-Bayreuthischen wohl meritirten Hof-Juden99 und in einem Fall sogar in Französisch, der Sprache des Adels und der Gebildeten, an Monsieur Jsaac Jud et Marchand tres renomme de S. A . S. [Son Altesse Sérénissime] S[érénissi]me de Saxen Meiningen a Cronach100 adressierte, deutlich intimere Anreden. Formulierungen wie Lieber Herr Isaac und Sonders geliebter Jonas sind nicht allein Beleg für ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen beiden, sondern wurden durchaus strategisch gewählt, denn üblicherweise bat der Adelige in seinen Briefen um einen Zahlungsaufschub.101 Davon unabhängig bezeugen auch die übrigen in diesem Kontext überlieferten Briefe eine allgemeine Wertschätzung, die man dem jüdischen Kaufmann entgegenbrachte. Der Bayreuther Geheime Rat Adam Christoph Siegmund von Benckendorff sprach Jonas Isaac etwa mit Monsieur an und richtete seine Schreiben stets an Monsieur Jonas Isaac, Juif de la Cour beziehungsweise Facteur de la Cour des

des Ancien Régime (Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim 32), Ludwigshafen a. R. 2005, 159 und 164. 97 StABa, G 58, H II, Nr. 13165: Schreiben von Wolfgang Adam Reuther an Gabriel Heyum, Mitwitz, den 10. und 15. März 1738. 98 Ebenda, H III, Nr. 386: Schreiben von Johann Gutfeld an Nathan Utiz, Mitwitz, den 22. Oktober 1734 (Konzept). Utiz war ab 1734 Rabbiner in Bamberg: schmölz-häberlein: Juden in Bamberg, 85; adolf Eckstein: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstbistum Bamberg, Bamberg 1898, 170 f. 99 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Lorenz Leupold an Jonas Isaac, Mitwitz, den 25. April 1722 (Konzept). 100 Ebenda, Schreiben von Johann Ludwig von Würtzburg an Jonas Isaac, Mitwitz, den 30. Mai 1717 (Abschrift). Kontakte Jonas Isaacs an den Hof des Herzogs von Sachsen-Meiningen konnten bisher allerdings nicht nachgewiesen werden. 101 Ebenda, Schreiben von Johann Ludwig von Würtzburg an Jonas Isaac, Mitwitz, den 30. Mai 1717, und Hassenberg, den 6. Juli 1718 (Abschriften). Eine ähnliche Taktik findet sich in den Briefen des Adeligen Johann Adam von Gemmingen gegenüber seinem jüdischen Gläubiger Baruch Weil: ullmann: Kredit, 114 f.

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Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth.102 Der Sekretär des Bayreuther Amtshauptmanns Christian Gramp wählte in seinem Schreiben dagegen die Anrede Hochgeehrter Herr Jonas.103 Die Anrede scheint durchaus dem allgemeinen Usus entsprochen zu haben, denn der Sachsen-Meiningische Rentmeister Johann von Hagen (gestorben 1764) titulierte im Jahr 1757 den Mitwitzer Juden Seligmann Alexander als Lieber Hofjude beziehungsweise Lieber Herr Hofjude.104 In dieser Hinsicht sind die Beziehungen von Hofjuden wie Jonas Isaac oder Seligmann Alexander sicherlich nicht nur als reine Geschäftskontakte zu beurteilen. Wie der Fall des braunschweigischen Hof- und Kammeragenten Alexander David (1687–1756) belegt, der sogar christliche Vertraute zu seinen Testamentsvollstreckern ernannte, konnten im Umfeld des Hofs enge, ja sogar freundschaftliche Beziehungen zwischen Mitgliedern des Hofstaats und einzelnen Juden entstehen.105 Jonas Isaac war sich seiner Rolle als Hoflieferant durchaus bewusst und verwies, wenn nötig, in seinen Briefen ausdrücklich auf die Anerkennung, die er vonseiten verschiedener Fürstenhöfe bereits erfahren hatte. Als Johann Ludwig von Würtzburg ihm den persönlichen Kontakt verweigerte, betonte er selbstbewusst seine Stellung: [Ich] [h]abe auch Zeit meines läbens in Unterschidliche Hochfürstl[en] Häfe [Höfe] zu handelen gehabt auch forderung. habe alle Zeit die genade gehabt auf meine Unter Thänigste bitte autientz zu haben.106 Wie Jonas Isaac mitunter in französischer Sprache tituliert wurde, bediente er sich ebenfalls eines höfischen Stils, der sich insbesondere im Gebrauch zahlreicher Fremdwörter manifestiert. Diese weisen allerdings stets eine eigenwillige Schreibweise auf, die zeigt, dass der Verfasser (wohl) keinen Bezug zum lateinischen Ausgangswort herstellen konnte, sondern nach Gehör schrieb. So oblischirt [obligiert] er sich, bietet eine prolincation seiner Wechsel an oder bittet um Confermation sowie um baldige Resulution. Seltener finden sich französische Einsprengsel wie Manir oder Gablirer [Kavalier].107

102 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Adam Christoph Siegmund von Benckendorff an Jonas Isaac, Bayreuth, den 20. September 1722 und 6. April 1723. 103 Ebenda, Schreiben von Christian Gramp an Jonas Isaac, Bayreuth, den 17. Oktober 1724. 104 Staatsarchiv Coburg, K Archiv 5026: Schreiben von Johann von Hagen an Seligmann Alexander, Meiningen, den 17. Juli und 8. August 1757. Zu Hagen siehe ulrich hess: Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Herzogtums Sachsen-Coburg-Meiningen 1680–1829, Bd. 3: Behörden und Beamtenschaft, überarb. Online-Ausgabe des maschinenschriftlich vorliegenden Textes von 1954, Meiningen 2010, 98. 105 ries: Individualisierung, 108; vgl. auch wassmuth: Spannungsfeld, 139 f. 106 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 13. März 1722. 107 jakob heinrich kaltschmidt: Allgemeines Fremdwörterbuch, Nördlingen 21852, 74.

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7. Die Briefe als Quelle zur Regional- und Alltagsgeschichte Neben den formalen Aspekten bieten die Briefe an vielen Stellen persönliche Einblicke in den Alltag des Verfassers. So wird in ihnen die hohe räumliche Mobilität thematisiert, die charakteristisch für die Lebensumstände vieler Juden in Franken wie in anderen Regionen des Alten Reichs in der Vormoderne war. Bedingt durch ihre Tätigkeit als Kaufleute, Hausierer oder Viehhändler hielten sich jüdische Händler oft die ganze Woche über nicht an ihrem eigentlichen Wohnort auf.108 Üblicherweise kehrten sie erst kurz vor Freitagabend nach Hause zurück, um den Sabbat im Kreis ihrer Familie verbringen zu können. So entschuldigte sich Jonas Isaac mitunter, er sei freytag spat nach hauß komen109 oder erst vor gangen freytag […] von bamberg nacher haus komen und sei bereits im Begriff, wieder nach Bayreuth abzureisen.110 An anderer Stelle gibt er als Grund für seine späte Antwort an, er müsse morgen […] wider in bayreuth sein, und heuthe habe [er] weg[en] der leipziger Mees vil zu thun.111 Der Besuch der Leipziger Messe war einer der zentralen Termine im Kalender des Kronacher Juden.112 Zwischen 1708 und 1737 besuchte er diese mindestens dreizehn Mal, um dort Waren zu kaufen beziehungsweise zu verkaufen.113 In einem Fall ließ er sich diese auf dem Postweg zu-

108 Siehe hierzu allgemein barbara rösch: Der Judenweg. Jüdische Geschichte und Kulturgeschichte aus Sicht der Flurnamenforschung ( Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 8), Göttingen 2009; wolfgang treue: In die Jeschiwe und auf den Jahrmarkt. Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit. In: rolf kiessling u. a. (Hg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007, 191–205; stefan litt: Mobilität und Reisen in Selbstzeugnissen aschkenasischer Juden in der Frühen Neuzeit. In: klein, ries (Hg.): Selbstzeugnisse, 103–118. 109 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 9. August 1722. 110 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 21. November 1717. 111 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 27. Dezember 1722. 112 Zur Bedeutung der Handelsmessen vgl. jonathan israel: Handelsmessen und Handelsrouten. Die Memoiren der Glikl und das Wirtschaftsleben der deutschen Juden im späten 17. Jahrhundert. In: monika richarz (Hg.): Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2001, 268–279. 113 freudenthal: Leipziger Messegäste, 153. Vgl. auch werner heymann: Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen in den Jahren 1675–1764 aus Bayern. In: rainer hofmann (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Franken 2 (Schriften des Fränkischen Schweiz-Museums 5), Tüchersfeld 1998, 29–36, hier 31. Eine projektierte Reise zur Leipziger Frühjahrsmesse 1722 musste dagegen unterbleiben, weil Jonas Isaac nach eigenen Angaben das nötige Kapital nicht aufbringen konnte: StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Magdalena Barbara von Würtzburg, Kronach, den 19. April 1722; vgl. auch sein Schreiben an Lorenz Leupold vom gleichen Datum.

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stellen.114 Andere Luxusprodukte wie Augsburger Silber vermittelten ihm hingegen Geschäftspartner in Bamberg.115 Der Kontakt zur christlichen Bevölkerung und zu adeligen Auftraggebern spielte sich nicht nur auf geschäftlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene ab. Hierzu gehörten regelmäßige Höflichkeitsbesuche im Schloss der Familie von Würtzburg, bei denen Jonas Isaac im sogenannten Tafelzimmer empfangen wurde, oder der Besuch des Mitwitzer Amtmanns im Wohnhaus des Juden.116 Mehrfach sind seine Besuche in Bayreuth belegt.117 Dort stand er im Kontakt mit hochrangigen Beamten wie dem Geheimen Rat Adam Christoph Siegmund von Benckendorff, dem Landschaftsdirektor und Landeshauptmann Georg Ehrenfried von Nauendorf (gestorben 1734)118 oder dem Brandenburg-Bayreuther Rat Johann Friedrich Frühauf (1681–1745), in dessen Haus der jüdische Kaufmann bisweilen anzutreffen war.119 Die Briefe lassen nicht nur Aussagen über das christliche Beziehungsnetzwerk von Jonas Isaac in der Region zu, sondern ermöglichen auch die Rekonstruktion seiner Geschäftspartnerschaft mit seinem Glaubensgenossen Seligmann Alexander. In mindestens sieben Schreiben erwähnt Jonas Isaac den Mitwitzer Schutzjuden, der in engem Kontakt zur Familie von Würtzburg stand. Er war in verschiedene Geschäftsaktivitäten Johann Ludwigs eingeweiht, den er auch in Finanzangelegenheiten beriet. Außerdem lieferte er regelmäßig Waren in das Schloss und gewährte Kredite. 1721 beliefen sich seine Forderungen auf mehr als 1.500 Taler.120 Seine herausgehobene Stellung wird besonders durch ein Schreiben deutlich, in dem Jonas Isaac ihn als dero [ Johann Ludwig von Würtzburgs] Hof Juden bezeichnet.121 Seligmann Alexander hatte offenbar den Kontakt zwischen Jonas Isaac und dem Adeligen vermittelt, wofür er sich im Gegenzug vertraglich eine Gewinnbeteiligung zusichern ließ.122 Die gemeinsame Religion mag ebenso ausschlaggebend für das Zustandekommen der Kooperation gewesen sein wie die Tatsache, dass bereits ihre Väter 114 StABa, G 58, H III, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 30. Mai 1724. 115 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 17. September 1712. 116 Ebenda, Schreiben von Lorenz Leupold an Jonas Isaac, Mitwitz, den 25.4.1722. 117 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Bayreuth, den 10. April 1720; ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Bayreuth, den 6. August 1724. 118 Ebenda, Schreiben von Johann Ludwig von Würtzburg an Georg Ehrenfried von Nauendorf, Mitwitz, den 10. Juni 1718 (Konzept). 119 Ad causam Fiscalis Imperialis Aulici contra Die Hoch-Fürstl. Bayreuth. Hof-Räthe Joh. Friedrich Frühauff und Joh. Albrecht Will […] o. O. 1721, unpag. (Beilage 4). Zu Frühauf siehe alfred dieterle: Johann Friedrich von Frühauf (1681–1745). Ein Geheimrat am Hofe der Fürsten zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort, der in Kleinheubach seine letzte Ruhe fand, Kleinheubach 1985. 120 StABa, G 58, H III, Nr. 378. 121 Ebenda, Nr. 377: Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 2. (?) März 1722. 122 Ebenda, Nr. 385.

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Isaak Samuel und Alexander Jakob umfangreichere Immobiliengeschäfte miteinander getätigt hatten.123 Die zunächst nur auf den Zeitraum der Warenlieferungen angelegte Zusammenarbeit setzte sich fort, als Seligmann Alexander von Johann Ludwig die Vollmacht erhielt, die notwendigen Abrechnungen mit Jonas Isaac durchzuführen.124 Im Rahmen der Verhandlungen um die Ablösung der Wechsel agierte er als Vermittler zwischen beiden Parteien. In diesem Zusammenhang traf Jonas Isaac regelmäßig mündliche Absprachen mit ihm, tauschte sich aber auch schriftlich mit ihm aus.125 Als die Begleichung der Forderungen durch Johann Ludwig immer fraglicher wurde und sich gleichzeitig innerhalb ihrer Partnerschaft Abrechnungsstreitigkeiten ergaben, kam es zum Bruch zwischen den beiden Kaufleuten. Bereits 1717 ließ Jonas Isaac verlauten, so wider verhofen mir nicht geholfen werde so bekombt der Seligman die greste verdrislichkeit mit mir.126 In einem weiteren Brief drohte er, in gleich[en] hath der Seeligmann Jud große obblication gegen mier so wohl Mindlich alß schriftlich gethan, welchen ich bey Jüdische Cermonie nehmlich bey Unser Rabiner schon bekomen [will].127 Diese Möglichkeit, außerhalb der christlichen Jurisdiktion zu seinem Recht zu kommen, bestand nur, wenn beide Streitparteien jüdisch waren.128 Seligmann Alexanders Rolle innerhalb dieses Konflikts war durchaus ambivalent, da er von beiden Seiten finanziell profitierte. Während Jonas Isaac vergeblich auf sein Geld wartete, nutzte er seinen Einfluss bei den von Würtzburg, um die eigene Bezahlung sicherzustellen. Eine Einschätzung Jonas Isaacs in dieser Hinsicht lautete jedenfalls: [D]er Ehrliche seligman ist halt die Erste stund Falsch mit mir gewesen [und] brenget mich zu all[em] diesen umb Gelick [Unglück].129 Trotz dieser klaren Worte und einer eventuellen Auseinandersetzung vor Gericht waren die beiden aufeinander angewiesen, wie das eingangs geschilderte Treffen im Jahr 1728 zeigt, das unter der Beteiligung Seligmann Alexanders stattfand.130

123 Ebenda, H II, Nr. 5995. 124 Ebenda, H III, Nr. 377: Abschrift der Vollmacht vom 1. September 1717. 125 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, undat. [präs. den 19. November 1712], den 29. Juni 1718 und 26. Dezember 1720; ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 9. August 1722. 126 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Johann Ludwig von Würtzburg, Kronach, den 21. November 1717. 127 Ebenda, Schreiben von Jonas Isaac an Lorenz Leupold, Kronach, den 30. Mai 1724. 128 monika preuss: „sie könten klagen, wo sie wollten“. Möglichkeiten und Grenzen rabbinischen Richtens in der frühen Neuzeit (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 43), Göttingen 2014; stefan rohrbacher: Jüdische Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit. In: Anja Amend-Traut, Alexander Denzler (Hg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 73), Köln/Weimar/Wien 2020, 241–259. Zum jüdischen Gerichtshof im Hochstift Bamberg vgl. schmölz-häberlein, Bamberg, 89–93. 129 StABa, G 58, H III, Nr.  377: Schreiben von Jonas Isaac an Magdalena Barbara von Würtzburg, Kronach, den 17. Oktober 1724. 130 Ebenda, Protokoll vom 25. Mai 1728.

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8. Resümee Die Geschäftsbriefe des Jonas Isaac ermöglichen einen eingehenden und vergleichsweise intimen Blick auf den Lebensalltag eines jüdischen Kaufmanns in Franken in der Vormoderne. Sie geben Hinweise auf seine Handelspraktiken und Geschäftsnetzwerke sowie auf sein ausgeprägtes Selbstverständnis, das er als Vertreter der jüdischen Wirtschaftselite besaß. Sie leisten somit einen Beitrag zur Regional-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts aus der Perspektive einer religiösen Minderheit. Zugleich spiegelt sich in ihnen die Bedeutung des jüdischen Warenhandels und Kreditwesens für den ritterschaftlichen Adel an der Peripherie des Reichs wider. Der Quellenwert der Korrespondenz geht jedoch über generelle Erkenntnisse zur Wirtschafts-, Finanz- und Konsumgeschichte hinaus. Die Briefe belegen nicht nur, dass selbst bei vergleichsweise geringer Entfernung der Austausch von Schriftstücken Teil der Kommunikation zwischen jüdischen Kaufleuten und ihren christlichen Kunden war, sondern zeugen auch von der ausgesprochen hohen schriftsprachlichen Kompetenz, die Mitglieder der jüdischen Oberschicht zu Beginn des 18. Jahrhunderts besaßen. In sprachlicher Hinsicht zeigt sich die Adaption eines höfischen Stils, während die variierenden Anredeformen die protokollarische Sonderstellung dokumentiert, die Juden im Umfeld des Hofs einnahmen. Zudem belegen sie den zunehmenden Akkulturationsprozess, den die jüdische Bevölkerung in dieser Zeit durchlief und der sich zunächst innerhalb der Eliten vollzog. Die vorgestellten Ergebnisse könnten durch weitere Forschungen sicherlich vertieft werden. Gerade unter sprachwissenschaftlichen Aspekten stellen die Briefe des Jonas Isaac einen wertvollen Einzelfund dar und bieten Potenzial für eine intensivere Beschäftigung. Eingehender zu untersuchen wäre auch die Bedeutung hebräischer Briefsteller, die noch kein Gegenstand der Forschung waren. Die hohe Zahl der bislang kaum erforschten und oftmals noch ungeordneten Adelsarchive lässt nicht zuletzt vermuten, dass künftig noch weitere Korrespondenzen zwischen jüdischen Kaufleuten und reichsritterschaftlichen Adeligen zutage gefördert werden und das bisherige Bild weiter ergänzt und differenziert werden kann. Zur Person: Christian Porzelt ist Mitarbeiter des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben. Von 2020 bis 2022 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Fraktalität und Dynamiken jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert“ und promoviert aktuell mit einer Arbeit zum vormodernen Judenschutz auf dem Gebiet der fränkischen Reichsritterschaft anhand der Herrschaft Mitwitz. Christian Porzelt M. A. Jüdisches Museum Augsburg Schwaben, Halderstr. 6–8, 86150 Augsburg, Deutschland, [email protected]

Einfluss durch Region und Stadtraum? Rathäuser und Kirchen als Beispiele vormoderner Infrastruktureinrichtungen im epochenübergreifenden Vergleich LINA SCHRÖDER Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 43–69

Influence through the Region and Urban Space? Town Halls and Churches as Examples of Pre-Modern Infrastructure Facilities in a Cross-Epochal Comparison Kurzfassung: ‚Region‘ und ‚Stadtraum‘ sind bezüglich ihrer Eigenlogik zwei mögliche Einflussfaktoren, die sich seit jeher auf infrastrukturelle Einrichtungen in Bezug auf ihren Standort, die mit ihnen in Verbindung stehende, mögliche Technik, ihre Architektur oder ihre Organisation auswirkten. Diese bisher kaum systematisch untersuchte Feststellung ist zentral, da gerade in der Vormoderne dem heutzutage funktionalen Charakter solcher Einrichtungen zugunsten ihrer Mehrzwecknutzung und einer auf Anwesenheit basierenden Gesellschaft scheinbar wenig Bedeutung zukam. Die gezielte Analyse diesbezüglicher Einflussmuster ermöglicht somit eine bessere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Einrichtungstypen in verschiedenen Städten und Regionen gerade auch in diachronen Kontexten. Zwei solcher Beispiele sind Rathaus und Kirche. Der Beitrag untersucht so anhand der Städte Seßlach und Kleve, welche Bedeutung die ‚Eigenlogik von Stadt und Region‘ im Hinblick auf die dortigen Rathäuser und Kirchen besaß. Schlagworte: Seßlach, Kleve, Infrastruktur, Eigenlogik (Stadt, Region), Rathaus, Kirche Abstract: ‘Region’ and ‘urban space’ are, with regard to their intrinsic logic, two possible influencing factors that have always affected infrastructural facilities in terms of their location, the possible technology associated with them, their architecture, or their organization. This finding, which has hardly been systematically investigated, is central, since especially in the pre-modern era the nowadays functional character of such facilities seemed to have little importance in favor of their multi-purpose use and a society based on presence. The targeted analysis of relevant patterns of

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influence thus enables better comparability of different types of institutions in different cities and regions, especially in diachronic contexts. Two such examples are the town hall and church. Using the cities of Seßlach and Kleve as examples, the article examines the significance of the ‘intrinsic logic of city and region’ with regard to town halls and churches. Keywords: Seßlach, Kleve, Infrastructure, intrinsic logic (city, region), city hall, church

Zu einigen Infrastruktureinrichtungen gibt es sie schon: die nach verschiedenen Regionen gegliederte Monographie. So existiert etwa eine solche über Rathäuser aus der Feder von Stephan Albrecht, mit Thomas Billers zweibändigem Handbuch eine zur mittelalterlichen Stadtbefestigung im deutschsprachigen Raum oder mit der noch deutlich früher entstandenen Überblicksdarstellung von Jannis C. Notebaart eine zu Windmühlen in der ganzen Welt.1 Als Einrichtungen der „Infrastruktur“ werden in vorliegendem Beitrag epochenübergreifend alle diejenigen verstanden, die Stabilität herstellen, indem sie den an einem bestimmten Ort lebenden Menschen einen Zugriff auf Menschen, Güter und Ideen ermöglichen. „Stabilität“ entsteht dadurch, dass sich diese Einrichtungen – abstrakt ausgedrückt – nicht selbst verbrauchen. Die Bezeichnung „Zugriff “ zielt auf die unterschiedlichen Sektoren innerhalb einer Gesellschaft ab, die sich um die Bereitstellung von „Gütern oder Ideen“ kümmern bzw. die Organisation der „Menschen“ auf engem Raum betreiben (damit ist zugleich der Vorgang der aktiven Produktion ausgeschlossen) – zum Beispiel Verkehr, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Sicherheit, Recht, Grundversorgung etc. Da die Sektoren in den einzelnen Siedlungen je nach gegebenen Bedingungen in verschiedenen Zeitepochen einen unterschiedlichen Stellenwert besaßen, ergibt sich darüber zwanglos der Bezug zum jeweiligen Siedlungsraum und zur Region. Die hier vorgelegte Beschreibung von „Infrastruktur“ stellt ein Resultat des sich zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags im Abschluss befindlichen Forschungsprojekts der Verfasserin dar. In diesem wurden siebzehn Einrichtungstypen aus dem Stadtinnenund -außenraum (Amtshäuser, Badestuben, Brücken, Bürgerwälder, Deich­anlagen, Friedhöfe, Getreidemühlen, Kanäle mit Hafenanlagen, Kirchen, Kommunalbrauhäuser, Marktplätze, Rathäuser, das innerstädtische Straßennetz, Stadtbefestigungen, die innerstädtische Wasserversorgung, Wirtshäuser und Ziegelhütten) aus zwei Städten 1

Jannis C. Notebaart: Windmühlen. Der Stand der Forschung über das Vorkommen und den Ursprung, Den Haag/Paris 1972. Der Autor nimmt unter anderem eine Analyse der geographischen Verbreitung der verschiedenen Windmühlentypen vor. Stephan Albrecht untergliedert seine Publikation unter anderem nach den Regionen südlicher Ostseeraum, Westfalen, Niedersachsen, Magdeburg/Brandenburg, Nieder- und Mittelrhein, Hessen, Sachsen/Thüringen, den Osten, Franken/Bayern, Schwaben, Oberrhein, Schweiz und dem Bodenseeraum. Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion, Darmstadt 2004; Thomas Biller: Die mittelalterliche Stadtbefestigung im deutschsprachigen Raum. Ein Handbuch, 2 Bde., Darmstadt 2016.

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(Seßlach, Kleve) aus zwei unterschiedlichen Regionen (Oberfranken, Rhein-MaasRaum) systematisch und epochenübergreifend vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg analysiert. Dabei wurde deutlich, dass es sich durchaus lohnt, die einzelnen Einrichtungstypen nicht nur hinsichtlich ihrer Architektur wahrzunehmen, sondern auch Aspekte wie Vernetzung, den Betrieb vor Ort, die Nutzzwecke etc. als Produkt differenter Einflussfaktoren aus Region und Stadtraum zu betrachten.2 Beispiele einer offenkundigen Einflussnahme regionaler Faktoren zeigen sich, wie die soeben erwähnten Publikationen nahelegen, dabei tatsächlich vor allem zunächst anhand der Architektur: etwa die so typischen Backsteinbauten im vormaligen Deutschordensland Preußen oder auch im Norden Deutschlands  – auf einen Mangel an Gestein in der Region zurückzuführen; die zahlreichen Grachten, Kanäle und Windmühlen in den Städten der Lage Landen (u. a. der heutige Beneluxraum) – sie verweisen auf die Unmengen von Wasser in dieser Region, oder die noch heute die Küste und das Seefahrergewerbe betonenden prächtigen Segelschiffsmodelle in den verschiedenen küstennahen Kirchen Dänemarks. Kommunalbrauhäuser, um an dieser Stelle auch einen Einrichtungstyp zu nennen, der nicht zur Infrastruktur gehört, sind wiederum in einigen Regionen nur in einer ganz veränderten Form oder mitunter auch gar nicht zu finden. Auch dieser Umstand deutet auf spezifische Regionalentwicklungen hin. Ebenso die Stadtgröße, Stadt-Umland-Beziehungen und die Bedeutung einer Stadt für die jeweilige vormoderne Obrigkeit an und für sich spielen bezüglich des Stadtraums als an die jeweiligen Verhältnisse angepasstes Resultat sesshafter Organisation eine wichtige Rolle.3 Die Soziologin Martina Löw spricht so zum Beispiel von der „Eigenlogik“ einer Stadt.4 In größeren Städten, in denen beispielsweise nicht nur eine Mühle, sondern zahlreiche solcher aktiv waren, entwickelten sich nicht selten um diese herum ganz neue Strukturen oder gar neue Einrichtungstypen (zum Beispiel Mühlendämme als zentrale Verkehrsachsen), wie etwa die Diskussionen im wissenschaftlichen Kolloquium zum Berliner Mühlendamm (2021) zeigten.5 Ein weiteres Beispiel im Kontext einer Mühle ist die „Große Mühle“ in Danzig. Sie galt mit ihren zwölf Rädern

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Titel: „Keine Infrastruktur in der Vormoderne? Eine transregionale Studie zur epochenübergreifenden Bedeutung und Abhängigkeit «gemeiner Einrichtungen».“ An der PLUS im März 2023 als Habilitationsschrift eingereicht und angenommen. Siehe hierzu den Sammelband Lina Schröder, Wolfgang Bühling (Hg.): Herrschaftlicher Anspruch und öffentlicher Nutzen. Die Rolle (städtischer) Einrichtungen und natürlicher Ressourcen im epochenübergreifenden Vergleich, Würzburg 2023. Martina Löw: Warum jede Stadt anders tickt. In: Spektrum – Die Woche 2016, Nr. 18, Open-Access: https://www.spektrum.de/news/warum-jede-stadt-anders-tickt/1408835 (letzter Zugriff: 02.07.2022). „Ältester Spreeübergang – Energielieferant – Verkehrsader: Der Berliner Mühlendamm“, Wissenschaftliches Kolloquium (30.4.2021); eine Publikation meines Vortrags ist in Vorbereitung und erscheint 2023.

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bereits bei ihrer Inbetriebnahme im 14. Jahrhundert als Europas größte Mühle.6 Auch die Bezeichnung ganzer Stadtviertel oder Straßenzüge nach einem Einrichtungstyp, etwa Mühlenviertel (zum Beispiel in Wertheim) oder Badstubengasse (Seßlach), zeugen davon. Das Zustandekommen des Erscheinungsbilds eines Einrichtungstyps wurde bisher von der Forschung noch nicht systematisch untersucht, auch im Rahmen der Infrastrukturgeschichte (ISG) nicht. Zwar wurden Einfluss nehmende Faktoren wie etwa Katastrophen und Krisen bzw. die gegebene oder fehlende Finanzierung oft als Ursachen wahrgenommen. Dabei standen jedoch Aspekte wie Region, Stadtraum oder Gesellschaftsorganisation bisher kaum im Fokus der Untersuchungen. Vorliegende Darstellung nimmt sich, ebenfalls auf Grundlage des beschriebenen Projektes, dieses Desiderates an. So wurden im Rahmen des Projekts, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zehn sogenannte „K-Faktoren“ herausgearbeitet. Sie werden zunächst hier vorgestellt (I) und anschließend anhand zweier Beispiele (Rathaus, Kirche) im Kontext mit den beiden Städtchen Seßlach (Oberfranken) und Kleve (Rhein-Maas-Raum) veranschaulicht (II). Ein Fazit (III) rundet die Darstellung ab. 1. Zehn K-Faktoren als Basis einer systematischen Untersuchung Bereits im Rahmen anderer Projekte wurden mit der Absicht einer heuristischen Erfassung möglicher Einflussfaktoren neun sogenannte K-Faktoren zusammengestellt.7 Sie werden an dieser Stelle vor dem Hintergrund der Projektergebnisse, die vor allem die (bisher von der Forschung eher vernachlässigte) Bedeutung von Region, Stadtraum und Gesellschaftsorganisation für städtische Einrichtungen deutlich machen, nicht nur inhaltlich weiter differenziert, sondern um einen weiteren ergänzt. Ins­gesamt sind es somit jetzt zehn K-Faktoren – auch sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit: (1) (klimabedingte) Katastrophenfälle, (2) Konflikte, (3) Krisen,

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Wolfgang Kling: Gdańsk – das neue Danzig: Stadt und Umgebung, Berlin 2005, 102; Thoralf Plath: Polnische Ostseeküste, 5. Aufl., Danzig/Ostfildern 2017, 63; Andrzej Januszajtis: Aus der Geschichte der Energiewirtschaft in Danzig. In: Gilbert H. Gornig (Hg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur (Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft 12), Marburg 2014, 15–29, hier 16; Steinbrecht, Conrad: Die Ordensburgen der Hochmeisterzeit in Preussen, Berlin 1920, 10. Für die folgenden Ausführungen siehe Lina Schröder: Herrschaft sichernde Massnahmen bezüglich Hafen und Siedlung Marktsteft im 18. und 19. Jahrhundert. Eine infrastruktur-historische Betrachtung. In: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej/Bulletin der Polnischen Historischen Mission 14 (2019), 285–342, hier 294 f., Open-Access: https://apcz.umk.pl/czasopisma//index.php/ BPMH/article/view/BPMH.2019.012/18154 (letzter Zugriff: 08.05.2023); Dies.: Allianzen und Intrigen im Europa der Könige. Leitrezension. In: Historische Zeitschrift 306 (2018), 430–447, hier 440.

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(4)  Konzept,8 (5) Kapital, (6) Kommando, (7) Konkurrenz, (8) Konstitution (Region/Siedlung), (9) Kultur und (10) Kooperativ. Sie werden im Folgenden kurz vorgestellt.

Abb. 1 Die K-Faktoren im Kontext eines beliebigen Einrichtungstyps (als Dreieck gezeichnet). Idee: Lina Schröder, Grafik: Stefan Magnussen.

Vor allem die ersten sechs K-Faktoren können einerseits Innovationen – auch aus der Not heraus  – hervorrufen, andererseits zur Zerstörung vorhandener Einrichtungen führen (zum Beispiel die Katastrophe). Die Wahrnehmung einer Katastrophe ist hier beispielsweise insofern von Bedeutung, als dass ein möglicher Wiederaufbau einer zerstörten Einrichtung etwas über ihre Relevanz aussagt. Zerstörungen ermöglichen bezüglich nicht selten bestehender Pfadabhängigkeiten (zum Beispiel im Kontext von Stadtbefestigung oder Brücke) außerdem niedrigschwellig eine Standortveränderung als Anpassungsvorgang an eine neue Situation oder Technik. Im Besonderen lenken militärische Konflikte (etwa der Dreißigjährige Krieg oder die Koalitionskriege) nicht selten von zivilen Projekten ab bzw. führen, zum Beispiel im Hinblick auf die Stadtbefestigung, zu Modifikationen und Aufrüstungen von Einrichtungen. Es ist hier also nicht der Konflikt im Rahmen des alltäglichen Betriebs gemeint. Auch Gesellschaftskrisen, wie ganz aktuell Corona-Pandemie, Energiekrise bzw. Klimawandel zeigen, können einerseits Anstoß für neue Entwicklungen, für die Modifikationen vorhandener oder gar für die Errichtung neuer Einrichtungstypen darstellen. Andererseits können sie auch den Zusammenbruch gegenwärtiger Einrichtungen zur Folge haben. 8

Dieser Faktor wurde in den soeben zitierten Publikationen noch als „Kontingenz“ bezeichnet, um darauf zu verweisen, dass es sich hier nicht immer um zwingende Diskurse handelt. Das wird hier jedoch jetzt eigens mit dem Faktor „Konstitution“ fokussiert, der regionale und lokale Unterschiede einfängt und systematisch thematisiert.

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Neue technische Entwicklungen (hier unter dem K-Faktor „Konzept“ geführt) sorgen zugleich für Alternativen mit gleichem oder ähnlichem Nutzzweck (zum Beispiel Eisenbahn versus Schifffahrt). Ebenso spielen gesellschaftliche Diskurse in Form sich wandelnder Erkenntnisziele (auch durch zum Beispiel neue Techniken wie etwa den Buchdruck, die Etablierung der Geldwirtschaft, die Erweiterung des Kreises Lesender und Schreibender, die Anonymisierung des Lesemarktes etc.), Kritikalitätszuschreibungen9 oder als naturwissenschaftliche, ideologische, architektonische respektive philosophische Diskurse im Zusammenhang mit „Konzept“ eine Rolle. Beispielsweise setzten im ausgehenden 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts überall in Deutschland und Europa große urbanistische Unternehmungen ein, die an die Erneuerung Roms anschlossen. Sie sind unter anderem an öffentlichen Profanbauten wie den Rathäusern erkennbar. Baustoffe wie Holz, Lehm, Ried und Stroh sind in den Idealstadt-Entwürfen des 16. Jahrhunderts kaum noch zu finden. Der in der Hierarchie der Materialien ganz oben platzierte Naturstein verdrängte so zunehmend Holz bzw. Fachwerk, denn die Architektur von Renaissance, Barock und Früh-Klassizismus bevorzugte Stein.10 Ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen gesellschaftlicher Diskurse auf einzelne Einrichtungstypen ist die Badestube. Schon in der Frühen Neuzeit galt der Baderberuf als ein krisenbedrohtes Handwerk. Seit etwa 1500 wurden so in vielen Gebieten die Badetage mit Blick auf die Rentabilität der Betriebe obrigkeitlich reduziert und Letztere sogar geschlossen.11 Die wichtigsten Gründe für die rückläufige Entwicklung werden von der Forschung in der Infektionsgefahr (seit 1500 unter anderem Verbreitung der Syphilis), der Sittenlosigkeit in den Bädern, im durch die Reformation bedingten Ende der Seelbäder für Arme, in den durch Holzverknappung ansteigenden Holzpreisen und der damit einhergehenden Erhöhung der ursprünglich niedrigen Eintrittspreise, nicht zuletzt in den im 17. Jahrhundert erfolgten Kriegszerstörungen gesehen.12 Weiterhin spielte die sich seit dem 16. und 17.  Jahrhundert vor allem von Frankreich aus verbreitende medizinische Lehrmeinung, dass durch die im Bad geöffneten Poren krankheitserregende Luft (Pesthauch) in den Körper eindringe, eine große Rolle. Auch wenn im 18. Jahrhundert wieder der Wassergebrauch propagiert wurde, galt diese Meinung vor allem für kalte Bäder im Sinn der Natürlichkeit und Abhärtung. Derartige Ideen der Aufklärung setzten sich allerdings zunächst in den größeren Städ-

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Zum Begriff der „Kritikalität“ siehe: Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann (Hg.): Was heißt Kritikalität? Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen, Bielefeld 2018. Reinhold Reith: Steinbau. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Open-Access: http://dx.doi. org/10.1163/2352-0248_edn_COM_358267 (letzter Zugriff: 10.07.2022). Sabine Sander: Bader. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Open-Access: http://dx.doi. org/10.1163/2352-0248_edn_COM_243636 (letzter Zugriff: 23.04.2021). Sander: Bader; Andreas Wacke: Bader, Badstube. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 2. Aufl. (2008), 402–404; Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2. Aufl., Köln 2012, 116.

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ten durch, den Dörfern blieben damit die Badestuben länger erhalten.13 Der K-Faktor „Konzept“ fasst also alle möglichen Ursachen für einen Bau aber auch mit diesem in Verbindung stehenden Veränderungen zusammen, die aus Gesellschaftsdiskursen und sich wandelnden Erkenntnisinteressen heraus entstehen. Der sechste K-Faktor „Kommando“ berücksichtigt indirekt die Stabilität politischherrschaftlicher Verhältnisse sowie die Herrscherpersönlichkeit selbst. Der K-Faktor bezieht dabei sowohl den städtischen Magistrat als auch die Landesherrschaft mit ein. Wenn sich beispielsweise eine Landesobrigkeit über einen längeren Zeitraum etablieren konnte, war auch entsprechend mehr Zeit vorhanden, im Rahmen eines vorhandenen Herrschaftsprogramms kontinuierlich für die Umsetzung geplanter Bauvorhaben zu sorgen bzw. im Fall einer anderen Interessenlage entsprechende Investitionen zu vernachlässigen. Die Auswirkungen ständig wechselnder Herrschaft wurde beispielsweise bezüglich der verzögerten Umsetzung des Marktstefter Hafenprojektes im 18. Jahrhundert offensichtlich.14 Insbesondere der Faktor „Kommando“ greift also van Laaks erwähnte Hypothese auf, dass Infrastruktur nicht das Ergebnis einer kohärenten Planung, sondern das Geflecht sehr unterschiedlicher und widersprüchlicher Interessen ist.15 Dabei ist zu beachten, dass Herrschaft und das dahinter stehende Konzept in verschiedenen Epochen unterschiedlich konnotiert ist.16 Eng mit dem K-Faktor „Kommando“ und zitierter Aussage van Laaks ist ebenso der siebte K-Faktor „Konkurrenz“ verknüpft. Denn auch hier stehen herrschaftliche (Prestige, zentrale Orte),17 aber etwa auch wirtschaftliche Aspekte (Zugriff, Rentabilität: Unterhalt, Nutzerströme) im Vordergrund – der Kreis möglicher, auf eine Einrichtung Einfluss nehmender Akteure wird hier entsprechend erweitert. Konkurrenz kann sich dabei auf Einrichtungen in unterschiedlichen Medien (zum Beispiel Wasser- versus Land- versus Luftweg), auf verschiedene Nutzzwecke (zum Beispiel Wassermühle versus Flussschifffahrt), verschiedene Techniken (zum Beispiel Wind- versus Wasser- versus Dampfkraft versus Elektrizität) oder den wechselseitigen Einfluss von Akteuren untereinander (zum Beispiel klerikal versus weltlich oder Fortschritt versus Status quo) beziehen. Auch hier führen im Besonderen militärische Interessen nicht selten zur Vernachlässigung ziviler Projekte. Der K-Faktor „Konstitution“ findet hier in doppelter Form Eingang: Einmal werden die eine Region beschreibenden strukturellen Gegebenheiten, zum Beispiel Agrar-, Kirchen-, Bevölkerungs- und politische Strukturen, aber auch geographische, verkehrs- und ressourcentechnische sowie topographische Gegebenheiten, zusammen13 Sander: Bader. 14 Schröder: Herrschaft, 318–323. 15 Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2018, 13. 16 Schröder: Allianzen, 424. 17 Vgl. Helmut Flachenecker: Zwei verschiedene Welten in Franken: Nürnberg und Würzburg zwischen Reichs- und Regionalbildung. In: Michael Gehler (Hg.): Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Hildesheim/Zürich/New York 2011, 493–514.

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gefasst.18 Regionale Unterschiede zeigen sich etwa mit Blick auf die angesprochenen Veränderungen der Baupraktiken im 16. Jahrhundert: Da Naturstein oft fehlte, wurde im Norden und Nordwesten Europas vor allem Backstein verwendet. In waldreichen Gegenden, zum Beispiel in Niedersachsen, Franken oder Hessen, dominierte weiterhin das Fachwerk. Wegen hoher Transportkosten wurde jedoch zumeist auf regional verfügbare Baustoffe zurückgegriffen. Beispielsweise wurde Natur- durch Backstein in Verbindung mit Gips bzw. Stuck substituiert.19 Im zweiten Fall bezieht sich „Konstitution“ auf die Siedlungstopographie, das heißt der Stadtraum mit seiner Eigenlogik wird hier zum Beispiel als eigene Bezugs- und Einflussgröße hinsichtlich der Einrichtungen analysiert. Neben den Agrar-, Kirchen-, Bevölkerungs-, politischen, geographischen, verkehrs- und naturräumlichen sowie topographischen Strukturen „im Kleinen“ – also im Stadtraum selbst – spielen beispielsweise der Standort, die Anzahl von Einrichtungen gleichen Typs, konkurrierende Einrichtungen oder das Zusammenwirken verschiedener Einrichtungstypen miteinander eine Rolle. Ferner wirken sich regionale oder stadträumliche Rahmenbedingungen unmittelbar auf den Aspekt der Öffentlichkeit aus: Wie oft kann etwa eine Badestube in der Woche besucht werden, was läuft dort sonst noch, wie variabel sind Öffnungsund Schließzeiten der Stadttore, wie oft trifft sich der Stadtrat in der Woche, wann schließen die Wirtshäuser etc. Bezüglich der „Kultur“ nimmt beispielsweise die Religion direkten Einfluss darauf, ob in einer Region etwa Tempel mit Opferstätten, Synagogen, christliche Kirchen oder Moscheen dominieren. Sie wirkt sich ferner auf den Umgang mit Wasser,20 gleichfalls auf die Nutzungsbedingungen und zugelassene Nutzerschaft (zum Beispiel Rolle und Position der Frau) der Einrichtungstypen aus. Der K-Faktor „Kooperativ“ bezieht sich schlussendlich auf die gesellschaftliche Organisation (= Differenzierung) und die in ihr verankerten Rechte und Pflichten, etwa das Recht auf Schutz (Stadtbefestigung), das Recht auf Zugang zum Wasser (Brunnen), das Recht auf politische Mitverwaltung (Rathaus), die Pflicht, den Gottesdienst zu besuchen (Kirche), die Pflicht, nur bei der zugewiesenen Mühle das Getreide mahlen zu lassen (Mahlzwang) etc.21 Denn schon 18 19 20

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Zum Einfluss topographischer Faktoren siehe auch Lina Schröder: Die Willigisbrücke in ihrer regionalen Verankerung. In: Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes 34 (2020), 9–54. Reith: Steinbau. Siehe etwa Klaus Knoblich: Mensch und Wasser Eine elementare Kulturgeschichte, Linden 2018; Sibylle Selbmann: Mythos Wasser. Symbolik und Kulturgeschichte, Karlsruhe 1995; Sitta von Reden, Wieland Christian (Hg.): Wasser. Alltagsbedarf, Ingenieurskunst und Repräsentation zwischen Antike und Neuzeit (Umwelt und Gesellschaft 14), Göttingen 2015; Kurt Andermann, Gerrit J. Schenk (Hg.): Wasser. Ressource – Gefahr – Leben (Kraichtaler Kolloquien 12), Ostfildern 2020. Vgl. dazu den Beitrag Lina Schröder: Städtische Einrichtungen als Indikatoren für Zugehörigkeit in der Vormoderne? Überlegungen am Beispiel des oberfränkischen Seßlachs. In: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej/Bulletin der Polnischen Historischen Mission 17 (2022),

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1971 stellte Walter Martini im Rahmen seiner Arbeit über den Lehnshof der Mainzer Erzbischöfe im späten Mittelalter fest, dass das Spätmittelalter „eine Übergangszeit war, in der die Grundlagen des modernen Staates gelegt wurden, wo der ‚Personenverbandsstaat‘ langsam dem ‚institutionellen Flächenstaat‘ weicht.“22 Mit dem „Kooperativ“ ist entsprechend nicht der grundsätzliche Bestand existierender Möglichkeiten und Verpflichtungen im Kontext der Einrichtungen angesprochen. Für die Erfassung einer „Kooperativ“-bedingten Einflussnahme ist stattdessen zunächst zu klären, welche gesellschaftlichen Möglichkeiten und Verpflichtungen für wen in welcher Abstufung zu einem bestimmten Zeitpunkt, eben etwa im Rahmen des Übergangs zum „institutionellen Flächenstaat“, im Kontext eines bestimmten Einrichtungstyps konkret umgesetzt wurden. Einfach formuliert: Welches Erscheinungsbild ergibt sich aus diesen Möglichkeiten und Verpflichtungen und wer hat unter welchen Voraussetzungen Zugang zur Einrichtung? Der K-Faktor „Kooperativ“ kann hier dann einerseits eine Zu- oder Abnahme der Anzahl der Nutzzwecke im Fall einer Mehrzwecknutzung oder andererseits eine mögliche Modifizierung bestehender Möglichkeiten und Verpflichtungen bezüglich der Nutzerschaft (zum Beispiel Zugangsrechte) beschreiben. Er ist so unter anderem Ursache einer Ausdifferenzierung der erwähnten Sektoren, etwa in Bezug auf die Religion (Reformation), den Verkehr (Bedürfnis nach steigender Mobilität), die Wirtschaft (Industrialisierung), die Politik (französische Revolution, Säkularisierung) oder führt zu Modifizierungen bestehender Möglichkeiten und Verpflichtungen (politische Beteiligung des Bürgertums, Frauenbewegung). Ergebnis können entsprechend neue Einrichtungstypen oder die Abschaffung Bestehender sein. Alle genannten K-Faktoren integrieren automatisch unterschiedliche Räume, denn es wird davon ausgegangen, dass Letztere gleichermaßen in ihrer Wirkung auf die verschiedenen Einrichtungstypen der Infrastruktur Einfluss nehmen.23 Sie dienen, das sei hier ausdrücklich erwähnt, nicht einer neuen Theoriebildung, sondern lediglich der Systematisierung vorzunehmender Untersuchungen (beispielsweise mit dem Ziel ei-

129–181, Open-Access: https://apcz.umk.pl/BPMH/article/view/40283/33342 (letzter Zugriff: 20.12.2022). 22 Walter Martini: Der Lehnshof der Mainzer Erzbischöfe im späten Mittelalter, Mainz 1971, 2; siehe auch Michaela Hrubá: Bürgerinnen und Bürger in den Kommunikationsnetzwerken der frühneuzeitlichen Stadt. In: Dies., Martin Holý, Tomáš Sterneck (Hg.): Die frühneuzeitliche Stadt als Knotenpunkt der Kommunikation (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 57), Berlin 2019, 191–207, hier 194 f. Für Franken trifft das allerdings nicht zu, das heißt hier muss stets auf die regionale Entwicklung geschaut werden. 23 Vgl. Frank Göttmann: Zur Bedeutung der Raumkategorie in der Regionalgeschichte. OpenAccess: http://digital.ub.uni-paderborn.de/ubpb/urn/urn:nbn:de:hbz:466:2-795 (letzter Zugriff: 08.05.2023); bezüglich der Übertragung des von Göttmann beschriebenen räumlichen Kontextes „Mikro/Meso/Makro“ auf Einrichtungen siehe: Lina Schröder: Der Rhein-(Maas-)ScheldeKanal als geplante Infrastrukturzelle von 1946 bis 1985. Eine Studie zur Infrastruktur- und Netzwerk-Geschichte (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 28), Münster 2017, bes. Kap. 1.2.4, 47–51, sowie Kap. 1.3.1, 58–64.

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nes transregionalen Vergleichs). Die K-Faktoren werden hier außerdem hinsichtlich ihrer Auswirkungen – damit wird erneut eine Beobachtung aus der ISG aufgegriffen – im Sinn von Pfadabhängigkeiten interpretiert: Die hier anhand der K-Faktoren erläuterten Gegebenheiten im Kontext der Einrichtungstypen beziehen sich zwar oftmals auf jeweils spezifische Zeitmomente – gehen also immer von einem aktuellen Status quo aus, haben jedoch zumeist insgesamt dann eine länger anhaltende Wirkung. Im Folgenden sollen die theoretischen Überlegungen am Beispiel von Rathaus und Kirche veranschaulicht werden. Beide Einrichtungstypen werden an dieser Stelle epochenübergreifend der Infrastruktur zugerechnet: Das Rathaus ermöglichte so der vor Ort lebenden Bürgerschaft die Partizipation am Sektor Politik (Zugriff auf Menschen [im Sinne der Organisation und Verwaltung] und Ideen [zum Beispiel politisches Mitspracherecht], aber auch Kontrolle der Güter). Die Kirche hingegen erlaubte der Bewohnerschaft eines Ortes die Teilnahme am Sektor Religion (auch hier der Zugriff auf Menschen [Kirche als Ort der Zusammenkunft] und Ideen [zum Beispiel das Seelenheil]). 2. Einfluss durch Region und Stadtraum im Kontext von Rathaus und Kirche am Beispiel Seßlachs und Kleves Für die vergleichende Analyse werden zwei Beispiele vorgeführt: Rathaus und Kirche. Ihre Analyse kann an dieser Stelle lediglich kursorisch erfolgen. Insbesondere das Beispiel Kirche wird aus Platzgründen hier knapp behandelt. Gleiches gilt auch für die K-Faktoren selbst, denn freilich lassen sich anhand dieser Beispiele nicht (immer) alle zehn K-Faktoren abarbeiten. Die getroffene Auswahl dient hier demnach vor allem der Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen, nicht einer vollständigen Analyse.24 Besonders im Vordergrund sollen hier die beiden K-Faktoren „Konstitution“ und „Kooperativ“ stehen, da sie es sind, die bisher in der Forschung die wenigste Beachtung bezüglich ihrer Einflussnahme fanden. Um die herausgegriffenen Beispiele nachvollziehbarer zu machen und sie besser einordnen zu können, werden dabei  – ebenfalls kursorisch – jeweils immer auch allgemeine, dem Forschungsstand nach bekannte Aspekte in Bezug auf die K-Faktoren integriert. Zunächst folgen ein paar kurze, einleitende Bemerkungen zu den beiden Städten. Seßlach erhielt als würzburgische Amtsstadt gemeinsam mit den in der Region gelegenen Amtsstädten Ebern und Eltmann im Jahr 1335 Stadt- und Befestigungsrecht. Bis zur Säkularisierung war der Würzburger Bischof, von wenigen Verpfändungen abgesehen, auch Stadtherr.25 Alle drei Ämter lagen an der östlichen Grenze des Hochstifts, 24 25

An dieser Stelle muss erneut auf die sich im Abschluss befindliche Studie verwiesen werden. Stefan Nöth: Die Stadtbücher von Seßlach (CHW-Monographien 6), Lichtenfels 2005, 10; Erich Keyser, Heinz Stoob: Bayerisches Städtebuch 1 (Deutsches Städtebuch 5,1), Stuttgart u. a. 1971, 531–533, hier 531.

Abb. 2 Links die drei Würzburger Amtsstätte Seßlach, Ebern und Eltmann im Hochstift Würzburg. © Damian Dombrowski, Josef Markus Maier, Fabian Müller (Hg.): Julius Echter. Patron der Künste. Konturen eines Bischofs der Renaissance, Berlin/München 2017, 27; rechts die Stadt Seßlach am Fluss Rodach: Urkarte 1851. Bayern Atlas, Open-Access: https://geoportal.bayern.de/ bayernatlas/?lang=de&topic=ba&bgLayer=historisch&catalogNodes=11&E=631559.26&N=5561097.72&zoom=13 (letzter Zugriff: 08.05.2023).

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an der sich unmittelbar das 1007 entstandene Bistum Bamberg sowie das Kurfürstentum Sachsen anschlossen. Die bei Seßlach eine Linkskurve vollziehende Rodach fließt direkt an der Stadt vorbei. Eine Möglichkeit für Handel scheint sich aus der Flusslage nicht ergeben zu haben. Auch bezüglich der Landverkehrsverbindungen befand sich Seßlach exakt zwischen zwei größeren durch die Region führenden Handelsstraßen.26 Eine Uraufnahme von 1851 zeigt die Nord-Südausrichtung der Stadt: Im Norden beim Stadttor innerhalb der Stadtbefestigung die Kirche, nach dem Südtor hinaus, außerhalb der Stadtbefestigung, die Burg auf dem Geiersberg (= Sitz der Würzburger Amtmänner). Vier Stadtviertel lassen sich dem Stadtinnenraum zuordnen: das Markt-, Rosen-, Frosch- und das Oberviertel. Das Rathaus befand sich im Marktviertel, die Kirche unmittelbar daneben im Rosenviertel. Kleve liegt am Niederrhein in unmittelbarer Nähe zum Rhein und zu den heutigen Niederlanden. Für die Veranschaulichung des Klever Stadtraums wird für eine erste Orientierung auf die Karte von Geometer Buyx aus dem Jahr 1829 zurückgegriffen: In Kleve wurde zuerst der Berg mittels einer Burganlage (= Schwanenburg) besiedelt. Im Süden der Anlage entstand eine Kirche mit einer Siedlung. 1242 kam es zu einer zweiten Siedlungsgründung: Im Westen der Burg gründeten die Grafen von Kleve eine Stadt und statteten sie mit dem Klever Stadtrecht aus.27 Die Neugründung wuchs derart, dass auch der ursprüngliche Marktflecken 1341 in das Stadtgebiet integriert wurde.28 Im Unterschied zu Seßlach ist die Schwanenburg damit ebenfalls Teil des Stadtinnenraums. Ähnlich wie Seßlach – allerdings spiegelverkehrt – liegt auch Kleve an einem Fluss. Es handelt sich um einen Altarm des Rheins, im Gegensatz zur Rodach wurde er bereits zur Wende des 14. zum 15. Jahrhundert schiffbar gemacht (Spoy-Kanal).29 Auch bezüglich der Landwege befand sich Kleve im Mittelpunkt verschiedener regional bedeu­tender Fernwege. In Kleve entstanden drei Stadtviertel: (1) die Neustadt. Sie enthielt unter anderem Marstall, Ochsen- und Schafstall und damit einen Großteil des Wirtschaftsteils der Burg, (2) mit der vormaligen Marktsiedlung das Oberviertel sowie (3) das Heidebergsche Quartier oder Marktviertel – im Wesentlichen die neu gegründete Stadt. Das Rathaus befand sich zunächst im Marktviertel, mehrere Kirchen verteilten sich nach und nach auf alle drei Viertel.

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Daniel Zuber: Versuchen wir, unsere hektische Zeit zu verstehen. Aus eintausendzweihundert Jahren Seßlacher Geschichte, Seßlach 2000, 12. Irmgard Hantsche: Atlas zur Geschichte des Niederrheins 1 (Schriftenreihe der NiederrheinAkademie 4), Bottrop 1999, 36; Hans P. Hilger: Kleve (Die Denkmäler des Rheinlandes. Kreis Kleve 4), Düsseldorf 1967, 9; Wolfgang Herborn: Kleve, Stadt. In: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 1213 f. Friedrich Gorissen: Historische Topographie der Stadt Kleve. Von den Anfängen bis zu Beginn der brandenburgischen Zeit, Kleve 1992, 25. Ebenda, 157 (FN 3).

Abb. 3 Doppelgrafik, links die Stadt Kleve im Herzogtum Kleve. Die unterschiedlichen Farben geben den Erwerbszeitraum der verschiedenen Besitztümer an, © Hantsche, Irmgard: Atlas zur Geschichte des Niederrheins (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie 4). Bottrop/Essen 22004, 37, mit freundlicher Genehmigung; rechts die Stadt Kleve an einem Abzweig des Altarms vom Rhein, als Kartengrundlage dient eine Aufnahme Cleves (1:25000) des Reichsamts für Landesaufnahme (1892/94), Open-Access: https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054282/df_dk_001 0001_4202_1894 (letzter Zugriff: 08.05.2023).

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(I) Das Rathaus – Sinnbild für die Modifikation schichtenspezifischer Rechte In vielen Städten gab es bereits vor der Entstehung des Rates ein Verwaltungsgebäude.30 Der Bau eigener Rathäuser entsprang laut Stephan Albrecht daher nicht unbedingt einer funktionalen Notwendigkeit, sondern einem repräsentativen Willen zur Selbstdarstellung des Rates. Beim Bau des Rathauses handelt es sich insgesamt also um einen politischen Akt, oftmals in Verbindung mit dem Erwerb der Niedergerichtsbarkeit.31 Der Vorgang bedurfte der Unterstützung des Stadtherrn,32 was das damals vorherrschende, hierarchische Gesellschaftsverständnis verdeutlicht (→  K-Faktor Kommando). Anders als Burgen, Schlösser und Residenzen adeliger Herrschaft dienten Rathäuser allein öffentlichen Aufgaben, in der Regel wohnten dort keine Herrschaftsträger (wohl aber Personen wie zum Beispiel Hausmeister oder Ratskellerwirte). Susanne Rau und Gerd Schwerhoff verweisen zu Recht darauf, dass dieser Umstand bisher von der Forschung noch nicht ausreichend gewürdigt wurde.33 Denn gerade diese Tatsache zeigt einmal mehr, dass es hier nicht um den Ausdruck der Präsentation einer personalisierten Herrschaft (→ K-Faktor Kommando) ging, sondern um eine mit der Zeit modifizierte Möglichkeit in Verbindung mit der Bürgerschaft (→ K-Faktor Kooperativ). Das Rathaus ist so ein schönes Beispiel dafür, dass im Zuge modifizierter Möglichkeiten und Verpflichtungen auch neue Einrichtungstypen entstehen konnten. Die mit dem Bauwerk verknüpften Möglichkeiten und Verpflichtungen lassen sich auch am Beispiel des Seßlacher Rathauses veranschaulichen. Zunächst verkörpert es die Möglichkeit der Bürgerschaft, aktiv und eigenständig an den die Stadt Seßlach betreffenden wirtschaftlichen und juristischen Vorgängen zu partizipieren, sowie ihre Möglichkeit, Steuern und Abgaben im Kontext mit der Stadt Seßlach einzuziehen. Damit einhergehend lässt sich daran zugleich auch die Verpflichtung der Seßlacher Bewohnerschaft ablesen, solche Abgaben zu entrichten bzw. sich mit wirtschaftlichen und juristischen Anliegen an den Rat und damit an das Rathaus zu wenden. Die Stadtbücher belegen etwa, dass die Bürgerschaft dort im Beisein des Rates oder der Bürgermeister Grundstücke gegen Bezahlung (Nachlass) erhielt, Kaufgeschäfte abwickelte oder Auszahlungen entgegennahm.34 Die vorhandene Unterkellerung und die Waage verweisen zugleich auf die aktive Partizipation der

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Albrecht: Rathäuser, 11. Ebenda, 25 f. Ebenda, 27. Susanne Rau, Gerd Schwerhoff: Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfelds. In: Dies. (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 21), Köln/Weimar/Wien 2004, 11–52, hier 40. 34 Stefan Nöth: Ort der Vergabe von Grundstücken gegen Bezahlung (Nachlass): Stadtbuch II, fol. 73/112 (1557); Rathaus als Auszahlstelle: Stadtbuch II, fol. 96’/128 (1587), fol. 99/130 (1594), z. B. Verkauf eines Wirtshauses: Stadtbuch II, fol 96’/128 (1587).

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Stadt als solche am wirtschaftlichen Leben. Auch für Kleve findet sich etwa für 1437 in den Stadtrechtshandschriften eine Notiz, dass in diesem Jahr einige Weber und andere Handwerker auf das Mitteltor, in dem das, wie noch zu zeigen ist, Klever Rathaus untergebracht war, gekommen waren, um gegen die Beginen beschwerde einzulegen: Hierna in den jair onss hern dusent vierhondert ende sevenenddartich geschieden op den vijdach na dartiendach, dat sommige van den weveren ende ambochtsluden quamen op die middelporte krovende op die susteren voirscreven, dat sie oers selves doeck selve weveden ende deergelijke.35 Die Beschwerde erfolgte auch in Kleve in Anwesenheit von Bürgermeister, Rat und Schöffen.36 Bereits hier zeigt sich, dass das Rathaus ein Ort mit zahlreichen Nutzzwecken war. Es konnte zugleich Regierungsgebäude, Gerichtshaus,37 die wichtigste Kaufhalle, Ort der Waage, Festhaus, Lagerraum für Waffen, Archivalien und Verträge oder Gefängnis (Arrestzellen) für Personen aus der Bürger- und Nichtbürgerschaft sein.38 Der Fastnachtstanz und vor allem Hochzeiten gehörten zu den wichtigsten Anlässen für Feste im Rathaus.39 Der zentrale Nutzzweck dieser Einrichtung bestand freilich darin, dem Rat als Versammlungsstätte zu dienen. Seßlach, aber auch Kleve reihen sich auch hier in die diesbezügliche Überlieferung ein.40 Der Ratssaal des Seßlacher Rathauses befand sich so seit jeher im Obergeschoss.41 Einen Hinweis auf die dort wohl regelmäßig durchgeführten Ratsversammlungen, also die Ausübung ihrer Möglichkeit einer gewissen politischen Eigenständigkeit, zugleich jedoch auch der stattgefundenen Kontrolle, findet sich in einem, dem ersten Stadtbuch beigebundenen Mandat von 1626 des Würzburger Bischofs Philipp Adolf von Ehrenberg, in dem er unmissverständlich deutlich machte, dass Ratsversammlungen nicht ohne Vorwissen des Vogtes stattfinden sollten und dass über vollzogene Beschlüsse Protokoll zu führen war.42

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Wolf-Rüdiger Schleidgen: Die ältesten Klever Stadtrechtshandschriften (Klever Archiv 10), Kleve 1990, Stadtbuch I, fol. 46/194 (1441/48?). 36 Ebenda. 37 Seit Einführung des römischen Rechts musste Gericht nicht mehr unter dem freien Himmel tagen: Albrecht: Rathäuser, 34; Rau, Schwerhoff: Räume, 41. 38 Lukas Morscher, Martin Scheutz, Walter Schuster (Hg.): Der Ort in der Stadtgeschichte am Beispiel von Vergesellschaftung, Verkehr und Versorgung. In: Dies. (Hg.): Orte der Stadt im Wandel vom Mittelalter zur Gegenwart. Treffpunkte, Verkehr und Fürsorge, Innsbruck u. a. 2013, 11–36, hier 18; Albrecht: Rathäuser, 13. 39 Albrecht: Rathäuser, 21. 40 Ferdinand Opll: Kommunikationsknotenpunkte innerhalb des Stadtgefüges. Das Beispiel des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Wien. In: Holý, Hrubá, Sterneck (Hg.): Stadt, 15–38, hier 28; Albrecht: Rathäuser, 13; Günther Binding: Rathaus. In: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), 455–457; Rau, Schwerhoff: Räume, 40 f. 41 Karl-Ludwig Lippert: Bayerische Kunstdenkmale. XXVIII: Landkreis Staffelstein, München 1968, 194–218, hier 209. 42 Nöth: Stadtbuch I, fol. 135/86 (1626).

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Abb. 4 Das Mitteltor als erstes Klever Rathaus. Karte: Stefan Magnussen, nach: Thissen, Bert: Zur Geschichte der Klever Fischmärkte vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. In: Kalender für das Klever Land 57 (2007), 31–42, hier 33.

In der Regel besaßen Städte nur ein Rathaus. Falls es doch mehrere Rathäuser gab, lässt sich das laut Albrecht zumeist auf die Gründung von Doppel- und Mehrfachstädten zurückführen (→  K-Faktor Konstitution Region).43 Wenn Rathäuser bei der Gründung einer Stadt direkt mit geplant wurden, erhielten sie ihren Standort mitten auf dem Marktplatz. Wurde dagegen eine solche Einrichtung erst nachträglich hinzugefügt, mussten bereits bestehende Gebäude diesbezüglich umfunktioniert werden (→ K-Faktor Konstitution Stadt). Sie wurden dann je nach Möglichkeiten am Rand des Marktplatzes oder an einer zentralen Straße platziert. Das trifft auch auf Seßlach zu, wo sich das Rathaus seit jeher am Marktplatz befand. Das Klever Rathaus hingegen wurde nach dem noch anzusprechenden Umzug aus dem Mitteltor in ein an der zentralen Hauptstraße befindliches Gebäude in der Neustadt umquartiert.44 Spielte zudem

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Albrecht: Rathäuser, 28. Ebenda, 143.

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die wirtschaftliche Funktion des Rathauses eine untergeordnete Rolle – die Rathäuser der großen Städte am Mittel- und Niederrhein unterschieden sich von den meisten zeitgenössischen Bauten dadurch, dass sie keine Marktfunktion besaßen –,45 wurde auch auf periphere Grundstücke zurückgegriffen. Manche Rathäuser standen auch auf Rechtsgrenzen (→ K-Faktor Konstitution Stadt: zum Beispiel bei Doppelstädten oder in Bezug auf kirchliche versus städtische Immunität).46 Ein solches Beispiel ist das Klever Rathaus, denn hier wurde das vormalige Stadttor, genannt Mitteltor, das die von den Klever Grafen gegründete neue Stadt nach Süden hin öffnete, zunächst zum Rathaus deklariert. Nicht nur war das Mitteltor durch das Zusammenlegen der beiden Städte in seiner ursprünglichen Funktion überflüssig geworden (es lag nun inmitten der Stadt). Auch bedurfte es wahrscheinlich nach der Zusammenlegung beider Siedlungen zunächst eines neutralen Ortes für die politische Verwaltung, weshalb sich das auf der Grenze zwischen Neustadt und Oberviertel befindliche Mitteltor anbot. Das Anbringen der städtischen Sturm- und Brandglocke stützt diese Argumentation, sie wurde hierhin wahrscheinlich bald nach der Stadterweiterung von ihrem vormaligen Standort, dem Kloppberg, umgesetzt.47 Eine Verlegung der Rathäuser fand meist dann statt, wenn der alte Bau nicht mehr den verwaltungstechnischen und repräsentativen Bedürfnissen entsprach oder ein neuer Markt entstanden war (→ K-Faktor Konstitution Stadt).48 Ersteres scheint auf Kleve zugetroffen zu haben: Im Jahr 1500 oder wenige Jahre früher erwarb die Stadt Kleve ein Haus unterhalb des Mitteltores an der Westseite der Großen Straße, die frühere Münze. Dieses Haus wird dann 1505 zum ersten Mal, ein weiteres Mal 1533 als Rathaus erwähnt, dem Gebäude fiel diese Aufgabe bis weit nach dem Ende des Alten Reichs zu.49 Auf der Basis einer Teilansicht aus dem Jahr 1653 lassen sich für den ersten Stock spätgotische Fenster erkennen. Über dem zweigeschossigen Haus erhebt sich ferner ein einfacher Renaissancegiebel. Nach einer Zeichnung aus dem 18. Jahrhundert führte eine in der Mitte der Stirnseite gelegene Freitreppe in das Haus. Reste eines Spitzbogenfrieses unter der Traufe an der der ehemaligen Rathausgasse zugewandten Seite entdeckte Friedrich Gorissen beim Abbruch des Gebäudes 1938.50 Der Vorgang der Verlegung weist zugleich darauf hin, dass die vormaligen „Stadtgrenzen“ aus zeitgenössischer Perspektive nun offensichtlich ihre Bedeutung verloren hatten. Auch das Mitteltor als gemauertes Gebäude behielt bezüglich der Verwaltung der Stadt noch seine Bedeutung. Denn noch im Jahr 1568 wurden offensichtlich Prozessakten inder

45 Ebenda. 46 Ebenda, 29 f. 47 Gorissen: Topographie, 78, 81, 142, 146; Hilger: Kleve, 9. 48 Albrecht: Rathäuser, 30. 49 Gorissen: Topographie, 80, 172. Der allerneueste Standort am Minoritenplatz nimmt auf die Stadtentwicklung keine Rücksicht mehr. 50 Gorissen: Topographie, 172.

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schepenkast op die myddelport51 aufbewahrt. Auch die Lage des neuen Rathausgebäudes war günstig an der verkehrsreichsten Straße der Stadt gewählt und befand sich nach der Zusammenlegung unmittelbar in ihrem Mittelpunkt.52 Wie eingangs dargestellt, handelt es sich beim Rathaus um eine Einrichtung, deren Gründung sich zumeist im Spätmittelalter abspielte. Die Entstehungszeit der deutschen Rathäuser variiert dabei von Region zu Region und wahrscheinlich auch von der Stadtgröße (→ K-Faktor Konstitution Region und Stadt). Laut Albrecht gab es am Niederrhein im Vergleich zu anderen Regionen schon früh Rathäuser (für Köln beispielsweise bereits 1330 belegt).53 Kleve passt hier allerdings nicht ganz in das Bild, was sicherlich im Vergleich zu Köln unter anderem auch mit der Größe der Stadt sowie dem Umstand, dass es Residenzort einer insgesamt eher kleineren Herrschaft war, zusammenhängt. Denn inwieweit es bereits vor dem Mitteltor in Kleve ein festes Rat­ haus gegeben hat, ist fraglich. In den ältesten Klever Stadthandschriften heißt es lediglich, dass am Tag nach der Neuwahl Schöffen und Bürgermeister an „gewohnter Stelle“ zusammentreten sollten.54 Die Ratswahl selbst fand nach einer Messe in der vormaligen Stadtkirche St. Mariä Empfängnis der neu gegründeten Stadt Kleve, nach der Zusammenlegung beider Siedlungen eine Klosterkirche (Minoriten), im dortigen Klostergarten statt, hier wurde auch der Schwur abgelegt.55 Gorissen geht entsprechend davon aus, dass zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch kein festes Rathaus existierte.56 Eine erste schriftliche Erwähnung des Mitteltors als Rathaus ist auch erst für 1437 belegt.57 Für den Südosten Deutschlands ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Die Gründe liegen nach Albrecht zum einen in der individuell unterschiedlichen historischen Situation der Städte (→ K-Faktor Konstitution Stadt), zum anderen aber auch am unterschiedlichen Grad ihrer archäologischen Erforschung.58 Insgesamt hält er für diesen Raum als Entstehungszeit der Rathäuser das 14. und 15. Jahrhundert fest, wobei die kleineren Städte ihr Rathaus fast alle erst im 15. Jahrhundert errichteten.59 Seßlach reiht sich sogar noch später ein: Die früheste Erwähnung des Rathauses in den Stadtbüchern fällt in das Jahr 1519.60 Das deckt sich mit den Angaben eines kunsthistorischen 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Klaus Flink (Hg.): Klevische Städteprivilegien (1241–1609) (Klever Archiv 8), Kleve 1989, 88. Gorissen: Topographie, 172. Albrecht: Rathäuser, 143. Schleidgen: Rechtsbuch, fol. 4/13 (1430?), Stadtbuch I, fol. 13’/157 (1441/48?). Hilger: Kleve, 77; Gorissen: Topographie, 175; Schleidgen: Stadtbuch I, fol.  9/152 (1441/48?). Gorissen: Topographie, 171. Ebenda, 172. Albrecht: Rathäuser, 194. Ebenda, 25 f. Hie vindet man verzeychnet der stat zins von hewsern genomen aus den alten registern 1519. Das nechst haws under dem rathaus (anjezo Hans Jacob Simon, Schlundtwirth – nunc Niclaus Müller jun. Erkauft) zinst jerlich 4 lb […]. Nöth: Stadtbuch I, fol. 23/46 (1542).

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Inventars, das für das Erdgeschoss noch sechs mächtige Eichenpfosten mit profilierten Geschossbalken aus dem 16. Jahrhundert aufführt.61 Regionale Unterschiede werden ebenfalls bezüglich der Außenarchitektur sichtbar. Zu den wichtigsten Symbolen städtischer Obrigkeit zählt Albrecht hier Freitreppe, Laube oder Glockenturm.62 Die Laube war dabei vor allem in der nördlichen Hälfte Deutschlands verbreitet, so im Ostseeraum, in Niedersachsen, Westfalen, Brandenburg und im Rheinland. Seit der Mitte des 15.  Jahrhunderts wurden jedoch immer weniger Rathäuser mit Lauben versehen. Sie dienten unter anderem der öffentlichen Verkündigung von Beschlüssen und der Repräsentation. Auch die Freitreppen fanden vermutlich ihren Ursprung in der Repräsentation, sie werden vor allem mit den Bischofspfalzen in Verbindung gebracht, wo sie der Verkündigung hoheitsrechtlicher Beschlüsse dienten.63 In den frühen Rathäusern des 13. Jahrhunderts fehlte dieses Bauelement laut Albrecht jedoch.64 Türme tauchen offensichtlich dort auf, wo es keine Lauben gab,65 zu nennen sind hier zum Beispiel viele Rathäuser im Osten, in Sachsen, Franken und Bayern. Auch das Seßlacher Rathaus reiht sich hier ein: Inventar und Denkmalliste ist zu entnehmen, dass es sich um einen zweigeschossigen Halbwalmdachbau mit hölzernem Dachreiter, Fachwerk und einer Freitreppe aus Sandstein mit einer Löwenfigur handelt.66 Eine Radierung (um 1810) zeigt zudem das Rathausdach mit einem kleinen Türmchen und einem Glöckchen – es ziert auch heute noch das Bauwerk.67 Insbesondere in Bayern und Franken handelt es sich bei den Rathausbauten meistens um übernommene Reste von Vorgängerbauten.68 Während das aus bekannten Gründen, wie gezeigt, auch im rhein-maasländischen Kleve der Fall war, ließ es sich für Seßlach bisher noch nicht überprüfen. Seit dem 19. Jahrhundert dienten Rathäuser zunehmend als „Signet der städtischen Selbstverwaltung, als Zeichen von Modernität wie städtischer Funktionalität sowie als politisches Zentrum einer Stadt.“69 Kontinuität wird hier mit Blick auf die longue durée anhand der Etablierung dieser Einrichtung und seiner Gremien (zum Beispiel 61 Lippert: Kunstdenkmale, 209. 62 Albrecht: Rathäuser, 27; Rau, Schwerhoff: Räume, 44. 63 Albrecht: Rathäuser, 35; Rau, Schwerhoff: Räume, 42. 64 Albrecht: Rathäuser, 35. 65 Ebenda. 66 Die Löwenfigur existiert laut Hartig wohl erst seit 1796 (dem muss noch nachgegangen werden): Konrad Hartig: Seßlach und seine Geschichte, Staffelstein 1934, 21; Lippert: Kunstdenkmale, 209; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege/Regierungsbezirk Oberfranken (Hg.): Liste der Baudenkmäler in Seßlach, 14, Open-Access: https://geodaten.bayern.de/ denkmal_static_data/externe_denkmalliste/pdf/denkmalliste_merge_473165.pdf (letzter Zugriff 19.05.2019); Keyser, Stoob: Städtebuch, 531. 67 Historischer Verein von Oberbayern: Stadtansicht von Südwesten her um das Jahr 1810. Bildersammlung (Signatur: DE-1992-HV-BS-B-1-64); es handelte sich um ein Irrglöckchen: Hartig: Seßlach, 21. 68 Albrecht: Rathäuser, 36. 69 Morscher, Scheutz, Schuster (Hg.): Ort, 18.

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des Rates) deutlich. Einflüsse werden zunächst vor allem anhand der Bestimmungen, wer etwa am Rat partizipieren durfte, sichtbar. Außerdem zeigt er sich langfristig anhand neuer Gremien und Fachreferate – architektonisch im Inneren sichtbar anhand neuer Amtsstuben – sowie anhand der Abnahme der Anzahl (zum Beispiel durch Auslagerung an andere Orte) bis dato etablierter bzw. der Hinzufügung neuer Nutzzwecke (→ K-Faktor Kooperativ). An anderen Orten im Stadtraum entstanden etwa im Rahmen der Ausdifferenzierung einzelner Sektoren (zum Beispiel Recht, Wirtschaft, Versorgung etc.) eigene Gerichts- und Gefängnisgebäude70 (in Seßlach zum Beispiel das Amtsgericht im vormaligen fürstbischöflichen Amtshaus bzw. das Amtsgefängnis im früheren würzburgischen Getreideschüttboden), eigene Kaufhäuser, eigene Festhäuser (oftmals in Verbindung mit den Wirtschaften), eigene Archive für Archivalien (in Seßlach nicht). Die Waage wurde abgeschafft, ebenfalls wurden die Waffenlager aufgegeben. Auch an dieser Stelle sind vermutlich regionale und vor allem lokale Unterschiede zu beachten, vor allem mit Blick auf die Stadtgröße: Je kleiner die Ortschaft, so die Vermutung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine größere Diversität in der Mehrzwecknutzung vorherrscht(e) (→ K-Faktor Konstitution Stadt). Für Seßlach ist beispielsweise belegt, dass im Jahr 1800 zwischenzeitlich (bis etwa 1877/78) die beiden Schulen für Jungen und Mädchen (vorher Haus Nr. 12 hinter dem Rathaus) im Rathaus einquartiert waren.71 1856 wurde außerdem eine Bibliothek eingerichtet, 1934 gab es einen Raum für Feuerwehrgeräte.72 Auch für Kleve lassen sich diesbezügliche Veränderungen erkennen: 1851 wurde beispielsweise das Rathausgebäude mit einem oberhalb der Gasse gelegenen Haus vereinigt und überbaut.73 Ausschlaggebend für diese Entscheidung war der in den öffentlichen Blättern (10. November 1851) zum Verkauf stehende Gasthof „Hôtel de Hôllande“ (Haus Nr. 464). Er gehörte dem Rentier Commer und wurde vom Wirt Baumann bewohnt. Besagter Gasthof besaß bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Rathaus eine gemeinschaftliche Auffahrt. In einem eigenen Antrag in der Ratssitzung vom 30.  Oktober 1851 führte ein Ratsmitglied nun aus, dass außer dem Rathaus kein öffentliches Kommunalgebäude über einen großen Saal verfügte, daher der Sitzungssaal auch immer wieder für andere Festivitäten hergegeben werden müsste. Ferner verwies

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Das eigentliche Gefängnis befand sich in Seßlach bis Mitte des 19. Jahrhunderts im Brückenturm. Allerdings gab es, wie auch anderswo, in Seßlach das sogenannte Narrenhaus, dass sich unmittelbar beim Rathaus befand: Archiv der bayerischen Denkmalschutzbehörde Bamberg, 8601 Seßlach. Stadt Seßlach, 8630 Lkr. Coburg, Stadtmauer 1950–1975, Zeitungsartikel: Für den Schuldturm braucht man Moneten (ohne Angaben des Zeitungsorgans, Nr., Datum); SAS, Stadt Seßlach, Nr. 70, Zeitungsartikel „Mehr Heimatpflege in Seßlach!“. In: Bamberger Tagblatt (9.9.1927, Nr. 206) und Schreiben vom Franken-Bund e. V. an den Seßlacher Bürgermeister (2.4.1935); Keyser, Stoob: Städtebuch, 531. Hartig: Seßlach, 11, 20. Ebenda, 21. Gorissen: Topographie, 80, 172.

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es auf die angekündigte (jedoch offensichtlich noch nicht umgesetzte) preußische Verordnung vom 9. Februar 1849 bezüglich der Errichtung von Gewerberäten, Gewerbegerichten und Innungen: Sollte diese zur Ausführung kommen, hätte die Gemeinde für die Beschaffung eines Lokals zu sorgen, da ein königliches Lokal, das dazu verwendet werden dürfte, nicht vorhanden war, das Rathaus wiederum keinen Raum hatte und ein weiteres kommunales Gebäude in Kleve nicht vorhanden war. Nicht zuletzt, so seine Argumentation, wäre Kleve ein Bade- und Vergnügungsort, wo auch Konzerte, Theatervorstellungen, Ausstellungen etc. geboten werden müssten (→ K-Faktor Konstitution Stadt). Aus diesen Gründen plädierte das Ratsmitglied zum Ankauf des Gasthofes durch die Stadt.74 Dem Antrag wurde stattgegeben: Der vordere Teil des besagten Hauses sollte in einen wohnlichen Zustand gebracht, der hintere Teil zu einem Theaterlokal ausgebaut werden .75 1854/55 war das Obergeschoss mit dem für sechshundert Zuschauer eingerichteten Theatersaal (Schwanensaal) fertig. Neben dem Rathaus wurde ein neues Gebäude errichtet und an das vormalige Hôtel angebaut und mit diesem verbunden. Im Erdgeschoss gab es eine Weinwirtschaft, ein Wachlokal sowie Zellen für Polizeigefangene. Das Obergeschoss enthielt den Theatersaal, den Blauen Saal (der Singverein probte hier), den Weißen Saal bzw. die Ruhmeshalle. Hier handelte es sich um den Sitzungssaal und den Saal für Ziviltrauungen, geschmückt mit Gemälden und Büsten „berühmter Söhne der Stadt Kleve“.76 (II) Möglichkeiten verändern sich: Kirchen in Seßlach und Kleve Wie bereits angekündigt, wird der Abschnitt über die Kirchen an dieser Stelle knappgehalten. Es geht auch hier im Wesentlichen darum, die Auswirkungen der beiden K-Faktoren „Konstitution“ und „Kooperativ“ auf den Einrichtungstyp „Kirche“ zu veranschaulichen. Insbesondere anhand des Letzteren soll deutlich gemacht werden, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht erst ein Merkmal der Moderne waren. Denn die Reformation und die mit ihr verknüpften Veränderungen dürfen durchaus als eine solche bezeichnet werden, wenngleich sie nicht eine unmittelbare Umstellung gesellschaftlicher Differenzierung zur Folge hatte. In der Forschung wurde jedoch aus systemtheoretischer Warte zu Recht darauf verwiesen, dass sich bereits hier erste Anzeichen für eine gewisse Ausdifferenzierung des Religionssystems bemerkbar machen, da im Kontext der Reformation erstmals Glauben und Religion als öffentlich

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Ders.: Geschichte der Stadt Kleve. Von der Residenz zur Bürgerstadt, von der Aufklärung bis zur Inflation, Kleve 1977, 245. Ebenda, 245. Ebenda, 247.

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verhandelbare Themen auftraten.77 Die Vorgänge mündeten zugleich im, dabei noch der alten Gesellschaftsdifferenzierung folgenden und an den Landesherrn geknüpften Privileg, im Herrschaftsgebiet entweder den katholischen oder den evangelischen Glauben lutherischer Auslegung festzulegen (Augsburger Religionsfrieden 1555). Darüber wurden zugleich Maßnahmen einer Gegenreformation rechtlich abgesichert. Für die Bewohnerschaft folgte daraus die Verpflichtung, dem von der jeweiligen Obrigkeit vorgegebenen Glauben zu folgen oder auszuwandern. Letztere Möglichkeit bezeichnet Bernd Christian Schneider als „eines der ersten grundgesetzlich geschützten Individualfreiheitsrechte überhaupt.“78 Die Auswirkungen auf den Einrichtungstyp „Kirche“ zeigen sich hier vor allem anhand des Kircheninnenraums, der entweder typisch katholisch oder eben lutherisch ausgestattet war. Die Reformation ist zugleich ein treffendes Beispiel bezüglich regionaler Faktoren (→ K-Faktor Konstitution) bzw. auch hinsichtlich der Bedeutung des Einflusses einer Obrigkeit (→ K-Faktor Kommando). Beides wird auch anhand von Seßlach und Kleve sichtbar. Bei der Seßlacher Stadtkirche St. Johannes des Täufers handelt es sich um eine spätgotische dreischiffige Staffelhallenkirche mit stark eingezogenem Chor und viergeschossigem Turm.79 Zum Hochstift Würzburg gehörend waren hier, anders als in Kleve, Stadtherr und Kirchenoberhaupt identisch. Insgesamt dominierte aus der Perspektive ex post die „Nutzung nach katholischer Auslegung“, nur während einer Zeit der Verpfändung Seßlachs an die Herren vom Lichtenstein zwischen 1554 und 1573/74 gewann der Protestantismus die Oberhand.80 Der Wechsel der Religionszugehörigkeit mag mit dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass sich die Würzburger Bischöfe (diesmal) schon nach zwanzig Jahren um den Rückerwerb Seßlachs bemühten, zumal sie eifrige Verfechter der Gegenreformation waren (→ K-Faktor Konstitution Region). Da Konrad von Bibra (1540–1544) mehr mit der Reichspolitik als mit der Kirchreform beschäftigt war, begann laut Albrecht Schübel „unter ihm allgemein die Auflösung der kirchlichen Ordnung“81 im Hochstift Würzburg. Während auch sein Nachfolger Freiherr Melchior Zobel von Guttenberg mehr Nachsicht als hartes Durchgreifen im Sin-

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Vgl. hierzu u. a. Niklas Luhmann, André Kieserling (Hg.): Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, 204 f.; Lina Schröder: Schnittstelle Niederrhein. Die Gründung der niederländischen Republik. Eine systemtheoretische Betrachtung, Kleve 2013, 48. Besagtes Projekt, auf dem hiesige Ausführungen basieren, verwendet im Kontext der dort noch weitaus komplexeren Fragestellungen einen systemtheoretischen Zugang, der in diesem Beitrag jedoch bewusst nicht in den Vordergrund gestellt wurde. Bernd C. Schneider: Ius reformandi. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Open-Access: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_286377 (letzter Zugriff: 09.06.2022). Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege/Regierungsbezirk Oberfranken (Hg.): Baudenkmäler, 12; Heinrich Mayer: Die Kunst des Bamberger Umlands, Bd. 1 (West), Bamberg 1930, 196. Isolde Maierhöfer: Ebern (Historischer Atlas von Bayern. Franken Reihe I/15), München 1964, 48. Albrecht Schübel: Das Evangelium in Mainfranken, München 1958, 31.

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ne einer Wiederherstellung der alten Verhältnisse übte, änderte sich das unter seinem Nachfolger Fürstbischof Friedrich von Wirsberg (1558–1573). Unter seiner Herrschaft erfolgten die ersten Weichenstellungen für die Durchsetzung der Gegenreformation im Hochstift. 1559, ein Jahr nach Amtsantritt, regte von Wirsberg so die Gründung eines Jesuitenkollegs in Würzburg an. 1563 erfolgte die Beauftragung eines Predigers, 1569 ließ er alle Klöster streng visitieren. Trotz seiner Bemühungen erreichte er laut Rezeption insgesamt nur wenig.82 An Bedeutung gewann die Gegenreformation unter seinem Nachfolger, Fürstbischof Julius Echter (1573–1617). Echter verfolgte dieses Ziel eifrig, nicht lange nach seinem Amtsantritt löste er Seßlach aus, die Stadt wurde wieder katholisch. Auch er griff spätestens ab 1585 zum Mittel regelmäßiger Visitationen der Landstädte, um die Gegenreformation auch in den Städten und Dörfern des Hochstiftes durchzusetzen – 1585 und 1586 nahm Echter persönlich an den Visitationen teil.83 Unter anderem für Arnstein, Dettelbach, Fladungen, Gerolzhofen, Gemünden, Haßfurt, Karlstadt, Münnerstadt, Neustadt an der Saale und Volkach ist sein direktes Eingreifen dokumentiert.84 Die Visitationen vollzogen sich immer nach dem gleichen Muster: Geistliche, Ratsherren und Bürgermeister wurden vorgeladen und über die Reformvorstellungen informiert. Nach Gewährung einer kurzen Bedenkzeit hatten sie sich öffentlich durch den Besuch der Messe und die Teilnahme an der Kommunion wieder zur katholischen Kirche zu bekennen. Erfolgte dies nicht, wurden Zwangsmaßnahmen ergriffen, den evangelischen Geistlichen blieb folglich nur die Wahl zwischen der Konversion oder der Vertreibung. Gleiches galt auch für Privatpersonen und die Bürgerschaft der Städte und Gemeinden.85 Bis 1587 wurden auf diese Weise zahlreiche Städte und Ortschaften, eben auch Seßlach, rekatholisiert. Anders verlief die Reformation in Kleve. Im Gegensatz zu Seßlach gab es in Kleve schon zu einem frühen Zeitpunkt mindestens zwei katholische Kirchen (Pfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt und die Stadtkirche St. Mariä Empfängnis)  – ein Umstand, der auf die doppelte Siedlungsgründung zurückzuführen ist (→ K-Faktor Konstitution Stadt). Aufgrund der Nähe Kleves zu den habsburgischen Niederlanden und der vehementen Bestrebungen der dort wirkenden spanischen Krone wider den Protestantismus (hier fand unter anderem vor allem der Calvinismus eine Ausbreitung) machte Kleve allein schon durch die vielen Glaubensflüchtlinge nachhaltig mit der Reformation und ihren Auswirkungen Bekanntschaft. Diesbezügliche Einflüsse gab es mit dem Kurfürstentum Sachsen-Coburg auch im Raum Seßlach.86 Die Herren vom Lichten-

82 Ebenda, 31 f. 83 Ebenda, 37; Keyser, Stoob: Städtebuch, 532. 84 Schübel: Evangelium, 42–52. 85 Ebenda. 86 Unter dem Herzog Johann Ernst von Sachsen-Coburg (1521–53) wurde die Reformation weiter verfestigt: Rainer Axmann: Herzog Johann Ernst von Sachsen-Coburg (1521–1553). In: Stefan

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stein fanden möglicherweise hier Anregungen hinsichtlich einer Konversion (→  KFaktoren Konstitution Region). Ähnlich wie in Seßlach die Herren vom Lichtenstein unterstützten auch die Herzöge von Kleve die Reformation (→ K-Faktor Kommando). Der erste lutherische Gottesdienst wurde zunächst noch in einem Raum der Klever Schwanenburg abgehalten, ein Zeichen dafür, dass die Landesherrschaft hinter der Reformation stand. Mit dem Aussterben des jülich-klevischen Herrscherhauses im Jahr 1609 erhob das Kurfürstentum Brandenburg Erbansprüche auf die im Verlauf der Jahrhunderte vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg.87 In der Folge wurden die vereinigten Herzogtümer unter zwei Erben aufgeteilt. Das Haus Brandenburg erhielt Kleve, Mark und Ravensberg und trat, da die Stände wie auch der größte Teil der Klever Bürgerschaft reformiert waren, vom Luthertum zum Calvinismus über. Das Haus Pfalz-Neuburg erbte Jülich und Berg und bekannte sich entsprechend der Konfessionszugehörigkeit der dortigen Stände zum Katholizismus (→ K-Faktor Kommando). In der Folge durfte die lutherische Gemeinde im Schloss keinen Gottesdienst mehr abhalten.88 1619 wurde so an der Stechbahn mit dem Bau einer kleinen Kirche begonnen, sie wurde am 4. Juni 1621 eingeweiht.89 Es handelt sich um einen einschiffigen gotisierenden Backsteinbau mit einem aus drei Seiten eines Achtecks gebildeten Chorschluss →  Architektur, Standort Verräumlichung.90 Mit Blick auf den neuen Landesherrn entstand in Kleve ebenfalls eine reformierte Kirche, ihr Bau wurde spätestens 1628 vollendet. Ihr Standort befindet sich an der Großen Straße, unmittelbar unterhalb der Schwanenburg gelegen und mit dieser durch einen Gang verbunden – erneut ein Beleg dafür, dass die Reformation in Kleve eine völlig andere Tragweite erlangte (→ K-Faktor Kommando).91 Hinzukommend zeigt sich hier auch Konkurrenz als K-Faktor noch einmal von einer anderen Seite. Denn hier ging es weniger um die Konkurrenz unterschiedlicher Einrichtungstypen zueinander (etwa Wassermühle versus Schiffsverkehr), sondern um eine Konkurrenz zwischen Einrichtungen, die im Grunde genommen das gleiche Ziel bezüglich des Nutzzwecks verfolgen, hier die Ermöglichung des Seelenheils im Kontext eines Transzendenzbezugs. Nicht zuletzt war Kleve, anders als Seßlach,92 ebenfalls Standort einer jüdischen Gemeinde. Die Alte Synagoge wurde 1671 von Elias Gompertz hinter seinem Wohnhaus

Nöth (Hg.): Coburg 1056–2006. Ein Streifzug durch 950 Jahre Geschichte von Stadt und Land, Coburg 2006, 13–42, hier 28 f. 87 Hantsche, Irmgard: 36. 88 Hilger: Kleve, 11, 93. 89 Ebenda, 93. 90 Ebenda. 91 Ebenda, 92. 92 Auch in Seßlach gab es zeitweise wohl jüdische Gemeindemitglieder, wie etwa die im Froschviertel gelegene „Judengasse“ nahelegt. Zum Bau einer Synagoge kam es offensichtlich jedoch nie. Vgl.

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am Gewin gebaut.93 Der Standort erhielt sich bis zum Beginn des 19. Jahrhundert, zumal es in unmittelbarer Nähe wohl auch mehrere jüdische Häuser gab.94 1817 erwarb die Gemeinde das durch den Abbruch der alten Kanzlei freigewordene Gelände und erbaute darauf die Neue Synagoge mit einer Schule.95 Ausgang war wahrscheinlich ein von der Hauptversammlung der aus den Departementen nach Paris entsandten Deputierten verfasster und durch kaiserliches Dekret vom 17. März 1808 gesetzlich verfügter Entwurf. Er sah vor, dass in jedem Departement mit mehr als 2.000 Anhängern der mosaischen Religion eine Synagoge erbaut und ein jüdisches Konsistorium errichtet werden musste (→ K-Faktor Kommando).96 Geltung und Stellenwert aller Kirchen für die Klever Einwohnerschaft wird im Rahmen der Herrschaftszeremonie Wilhelm III. im Jahr 1815 deutlich: Als dieser neuer Herrscher über Kleve wurde – die eigentliche Zeremonie fand allerdings nicht in Kleve, sondern in Aachen statt –, wurde der Ehrentag seiner Huldigung in seiner Abwesenheit auch in Kleve festlich begonnen: Am Pfingstmontag des Jahres 1815 gab es so zunächst um 10 Uhr einen Festgottesdienst in der reformierten, um 11 Uhr in der lutherischen und um 12 Uhr in der katholischen Kirche. Sowohl die jüdische als auch die damals existierende mennonitische Gemeinde konnten im Programm nicht berücksichtigt werden, wofür sich entschuldigt wurde.97 Auch hier ist abschließend festzuhalten, dass sich Kontinuität vor allem anhand der Etablierung dieses Einrichtungstyps und seiner tiefgreifenden Organisationsstrukturen an und für sich zeigt. Das Ergebnis verschiedener Einflussfaktoren wird hier vor allem zunächst an der Ausdifferenzierung der Einrichtung Kirche (Reformation) sowie ebenfalls anhand der veränderten Nutzungsvorgaben deutlich, beispielsweise wurde dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts irgendwann die Kirchenpflicht aufgehoben. Mit der Trennung von Staat und Kirche endete ebenfalls die gegenseitige politische Einflussnahme kirchlicher (etwa der Pfarrer), aber auch städtischer Akteure (zum Beispiel in Seßlach die Kontrolle durch die Heiligenmeister); festgelegte Abgabenpflichten an den Pfarrer entfielen. Ebenso lässt sich hier eine Abnahme der Anzahl bis dato etablierter Nutzzwecke beobachten: der Gottesdienst als zum Beispiel Verkündigungsort offizieller Nachrichten an das des Lesens unkundige Publikum, die Lagerung von Archivalien im feuersicheren Kirchenturm etc. wurde mit der Zeit obsolet.98 hierzu auch Daniel Zuber: Leben auf dem Land Heilgersdorf 1361–2011, Seßlach 2011, 9; Ders.: Zeit, 13; siehe auch Hartig: Seßlach, 13. 93 Gorissen: Kleve, 76. 94 Ders.: Topographie, 83. 95 Ders.: Kleve, 76. 96 Ebenda. 97 Ebenda, 65. 98 Vgl. hierzu etwa Opll: Kommunikationsknotenpunkte, 24 f.; Andreas Holzem: Die sieben Hauptkirchen Roms in Schwaben. Bildprogramm und Handlungskonzepte eines konfessionalisierten Kirchenraums. In: Renate Dürr, Gerd Schwerhoff (Hg.): Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9), Frankfurt a. M. 2005, 459–496, hier 460; Rau, Schwerhoff: Räume, 35 f.

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3. Fazit Zunächst wurde bezüglich der beiden Infrastruktureinrichtungen Rathaus und Kirche deutlich, dass sie in ihrem Ursprung auf spezifische menschliche Bedürfnisse (zum Beispiel nach Selbstverwaltung oder Ausübung des Glaubens) zurückgehen. Dabei ist festzuhalten, dass sich Rathäuser und Kirchen mithilfe der K-Faktoren vergleichend analysieren lassen. Die Ausführungen zu beiden Beispielen haben dabei gezeigt, dass neben den oftmals ganz offensichtlichen Einfluss nehmenden Faktoren, etwa naturbedingten Katastrophen, auch weitere Faktoren bei der Analyse der Einrichtungstypen zu berücksichtigen sind. Beispielsweise werden in Seßlach und Kleve im Kontext mit der Kirche unterschiedliche obrigkeitliche Interessen (→  K-Faktor Kommando) sichtbar. Während in Kleve die Herzöge und später auch ihre der niederländischen Republik nahestehenden Nachfolger die Reformation förderten, erfolgte in Seßlach unter der Regie der Würzburger Fürstbischöfe mit der Gegenreformation das genaue Gegenteil. Gerade hier zeigen sich jedoch auch regionale und lokale Einflüsse: die Nähe zur niederländischen Republik auf der einen, die unmittelbare Zugehörigkeit zum Hochstift Würzburg auf der anderen, der Stadtstatus „Residenzstadt“ auf der einen, der Stadtstatus „Amtsstadt“ auf der anderen Seite. Ebenso anhand des Rathauses wurden regionale und lokale Einflüsse bemerkbar, sei es bezüglich des Zeitpunkts der baulichen Verankerung einer solchen Einrichtung, sei es hinsichtlich des konkreten Standortes im Stadtraum (in Kleve nicht am Marktplatz) oder in Bezug auf die Nutzart im Verlauf der Jahrhunderte. Beide Einrichtungstypen, Kirche und Rathaus, waren durch die Obrigkeit (Landes-/Stadtherr und/oder Bischof) „genehmigungspflichtig“ und zeigten bezüglich ihrer Organisation (allgemeiner Zugang, aktiv beteiligte und Möglichkeiten ausübende Akteure etc.) ein gemäß der damaligen Gesellschaftsdifferenzierung konformes Erscheinungsbild. Ihre allmähliche Umstellung im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist dabei, so konnte mit dem K-Faktor „Kooperativ“ gezeigt werden, nur ein Ergebnis der von der Gesellschaft mit der Zeit modifizierten Möglichkeiten und Verpflichtungen im Verlauf der Jahrhunderte von vielen. Die sichtbar werdende Übernahme politischer Verantwortung durch die Bürgerschaft sowie die Erweiterung der Möglichkeiten, Religion zu praktizieren, haben gezeigt, dass die Ausdifferenzierung verschiedener Möglichkeiten bereits weit vor der Moderne einsetzte. Auch die im Kontext der Kirche angesprochenen Erkenntnisse, den K-Faktor „Konkurrenz“ betreffend, sind insofern interessant, als dass sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt auf ein Problem verweisen, das seit dem 19. Jahrhundert bezüglich des Verkehrs noch einmal eine ganz neue Dimension erhielt. Beispielsweise basieren die geführten Diskussionen bezüglich der Eisenbahn versus die Flussschifffahrt letzten Endes auf genau dem gleichen Kernproblem, denn es handelt sich in beiden Fällen um Einrichtungstypen, die exakt das gleiche Ziel bedienen: im Fall der Verkehrseinrichtungen die Mobilität von Gütern und

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Menschen, im Fall der hier vorgestellten verschiedenen Kirchen die Vermittlung und Praktizierung von Transzendenz und Immanenz.99 Zur Person: Lina Schröder, Dr., Promotion (Universität Duisburg-Essen) zu einem infrastrukturhistorischen Thema. Seit 2016 Lehrbeauftragte am ‚Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte‘ der JMU Würzburg und seit 2022 auch Gastdozentin an der ‚Paris Lodron Universität Salzburg‘ (PLUS). März 2023 Einreichung Habilitationsprojekt an der PLUS; seit 2021 Mitherausgeberin der Reihe ‚Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas‘. Forschungsschwerpunkte: Europäische Regional- und Landesgeschichte (epochenübergreifend und interdisziplinär), InfrastrukturGeschichte, Stadtgeschichte, Kultur- und Technikgeschichte des 19./20.  Jahrhunderts sowie die Geschichte der Lage Landen. Dr. Lina Schröder JMU Würzburg (Deutschland)/Plus (Österreich), [email protected], Homepage: lina-schroeder.wg.vu

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Vgl. hierzu Lina Schröder: Warum war die deutsche Binnenschifffahrt nicht am Rhein-Maas(Schelde-)Kanal interessiert? Der Versuch einer systemtheoretischen Betrachtung von Infrastruktur. In: Geschichte im Westen 36 (2021), 71–92.

Große und kleine Betriebe, gute und schlechte Zahlen sowie der „Fall Broszeit“ Einblicke in die Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein (1920–1933) Jan Ocker Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 70–88

Large and Small Companies, Good and Bad Numbers, and the “Broszeit Case” Insights into the Accounting and Tax Advisory Office of the Chamber of Agriculture for the Province of Schleswig-Holstein (1920–1933) Kurzfassung: Im Königreich Preußen wurde 1896 die Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein begründet, die nicht zuletzt im Kontext der Steuerreformen nach dem Ersten Weltkrieg eine Buchführungs- und Steuerberatungsstelle (Buchstelle) einrichtete. Vorsteher der ab 1920 in Kiel angesiedelten Abteilung wurde der aus Ostpreußen stammende Otto Broszeit (1884–1962), der in der ökonomisch schwierigen Phase der 1920er und frühen 1930er Jahre bestrebt war, sowohl die (großen) Gutsbetriebe als auch die (klein-)bäuerlichen Hofstellen von dem Nutzen einer gegen entsprechende Bezahlung angebotenen Buchführung zu überzeugen. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung der Buchstelle nach und widmet sich dem Geschäftsführer Broszeit, der 1933 im Kontext des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zunächst beurlaubt, dann in den einstweiligen und schließlich in den endgültigen Ruhestand versetzt wurde. Schlagworte: Buchführung, Landwirtschaftskammer, Schleswig-Holstein, Preußen, Weimarer Republik Abstract: In the Kingdom of Prussia, the Chamber of Agriculture for the Province of Schles­ wig-Holstein was founded in 1896, which established an Accounting and Tax Advisory Office (Accounting Office), not least in the context of the tax reforms after World War I. Otto Broszeit

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(1884–1962), a native of East Prussia, became the head of the department in Kiel in 1920. During the economically difficult period of the 1920s and early 1930s, he endeavored to convince both (large) estates and (small) farms of the benefits of accounting services offered in return for payment. The article traces the development of the Accounting Office and focuses on the managing director Broszeit, who was first suspended in 1933 in the context of the “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” (“Law for the Restoration of the Professional Civil Service”), then put into temporary and finally into permanent retirement. Keywords: Accounting, Chamber of Agriculture, Schleswig-Holstein, Prussia, Weimar Republic

1. Die schleswig-holsteinische Landwirtschaftskammer und ihre Buchstelle zwischen 1920 und 1933 – eine Vorbetrachtung In der Agrarwirtschaft haben sich viele traditionelle Strukturen des Mittelalters1 noch bis zum Ende der Frühen Neuzeit – und häufig auch darüber hinaus – erhalten, sodass erst die bedeutsamen Reformen des 18. und 19. Jahrhunderts in den Herzogtümern Schleswig und Holstein zumindest allmählich für tiefgreifende Veränderungen sorgten.2 In diesem Rahmen differenzierte sich der niemals so ganz und gar homogene „Bauernstand“,3 das „Bauerntum“4 mit seinen einzelnen Vertretern,5 mehr und mehr aus; das Interesse an zunehmender Beratung6 und einer berufsständischen Vertretung7 führte dann allerdings nicht selten zu einer neuen Form freiwilliger (!) Zusammenschlüsse. Die nunmehr begründeten landwirtschaftlichen Vereine, die allerorten entstanden und in denen die beigetretenen Mitglieder, bei denen es sich zumeist doch um die Primi inter Pares handelte, intensiv über Ackerbau und Viehzucht diskutierten, sind

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enno bünz (Hg.): Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter (Vorträge und Forschungen 89), Ostfildern 2020. wolfgang prange: Die Anfänge der großen Agrarreformen in Schleswig-Holstein bis um 1771 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 60), Neumünster 1971. günther franz: Deutsche Agrargeschichte, Bd.  4: Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 21976; Ders. (Hg.): Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschich­te der Neuzeit 11), Darmstadt 21976. ders. (Hg.): Deutsches Bauerntum im Mittelalter (Wege der Forschung 416), Darmstadt 1976. – Zu verweisen ist hinsichtlich des Terminus und seiner Problematik etwa auf richard walther darré: Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse, München 1929. daniela münkel, frank uekötter (Hg.): Das Bild der Bauern. Selbst- und Fremdwahrnehmungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2012. peter vollrath: Landwirtschaftliches Beratungs- und Bildungswesen in Schleswig-Holstein in der Zeit von 1750 bis 1850 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 35), Neumünster 1957. thyge thyssen: Bauer und Standesvertretung. Werden und Wirken des Bauerntums in Schleswig-Holstein seit der Agrarreform (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 37), Neumünster 1958.

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Ausdruck dieses Prozesses.8 Wird der Blick wiederum auf den nordelbischen Raum gelenkt, rückt der 1834 geschaffene landwirtschaftliche Generalverein als gemeinsame Dachorganisation der bestehenden Lokalvereine in den Mittelpunkt. Nachdem die erste Kammer für Landwirthschaft 1849 in Bremen eingerichtet worden war,9 führte das 1894 im Königreich Preußen verkündete Landwirtschaftskammergesetz10 zum gleichen Resultat. In der seit 1867 zum preußischen Staat gehörenden Provinz Schleswig-Holstein fand am 20. März 1896 in Kiel die konstituierende Sitzung der Landwirtschaftskammer als Nachfolgerin des Generalvereines statt.11 Der Satzung zufolge hatte die Selbstverwaltungskörperschaft die gesetzliche Bestimmung, die Gesammtinteressen der Land- und Forstwirthschaft ihres Bezirks wahrzunehmen und zu diesem Behufe alle auf die Hebung der Lage des ländlichen Grundbesitzes abzielenden Einrichtungen, insbesondere die weitere korporative Organisation des Berufsstandes der Landwirthe und den technischen Fortschritt der Landwirthschaft zu finden.12

Im Schlusswort der 1929 vorgelegten und von ihrem Informationsgehalt wirklich beachtenswerten Schrift konstatierte die Landwirtschaftskammer nach mehr als 30 Jahren ihres Bestehens eindringlich: „Und gerade in der heutigen Zeit ist es wichtiger als je, das zu erreichen, was das Landwirtschaftskammergesetz will, nämlich die Landwirtschaft zu fördern, die Erträge auf eine möglichst große Höhe zu bringen und alle unrentablen Maßnahmen möglichst zu vermeiden.“13

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rainer loose: Die Centralstelle des Württembergischen landwirtschaftlichen Vereins. Die Erneuerung von Landwirtschaft und Gewerben unter König Wilhelm I. von Württemberg (1817– 1848) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Forschungen 221), Stuttgart 2018. Bekanntmachung des Gesetzes, die Kammer für Landwirthschaft betreffend. In: Gesetzblatt der freien Hansestadt Bremen (1849), 179–182. – Siehe dazu auch bremischer landwirtschaftsverband e. v. (Hg.): 150 Jahre Landwirtschaftskammer Bremen. 1849–1999, Bremen 1999. Gesetz über die Landwirthschaftskammern. Vom 30. Juni 1894. In: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten (1894), 126–133. Siehe zu den Jubiläen in unterschiedlichem Umfang: richard hedde: Die Tätigkeit der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, Kiel [1921]; landwirtschaftskammer schleswig-holstein: Landwirtschaftskammer. 100 Jahre Partner der Landwirtschaft, Kiel 1996; daniela rixen: 125 Jahre Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein. Das Gestern, Heute und Morgen, in: Landwirtschaftskammer SchleswigHolstein (https://www.lksh.de/aktuelles/nachrichten/news/artikel/show/125-jahre-landwirt schaftskammer-schleswig-holstein-das-gestern-heute-und-morgen/ [letzter Zugriff: 30.12.2022]). landwirthschaftskammer für die provinz schleswig-holstein (Hg.): Satzungen der Landwirthschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein, Kiel 1896, 13. Dies. (Hg.): Die Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein. Werdegang und Entwicklung in den Jahren 1896–1929 (Sonderwerksreihe über die Deutschen Landwirtschaftskammern 1), Kiel 21929, 132.

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Während die großen Entwicklungslinien der deutschen Agrargeschichte für das 20. Jahrhundert gezeichnet sind,14 einzelne Gebiete beleuchtet wurden15 und der 2020 erschienene Sammelband Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger16 einen relevanten Baustein zum (institutionellen) Verständnis liefert, fehlen allzu oft regionale Studien zu wichtigen Teilaspekten. Anders ausgedrückt: So mancher Gegenstand liegt tief im Boden und gelangt erst beim Pflügen – unscheinbar, unvollständig und wertlos anmutend  – an die Oberfläche. Zweifelsohne ist die Phase der Weimarer Republik sehr gut erforscht.17 Dies kann für die bei flüchtiger Betrachtung vielleicht lapidar oder unbedeutend wirkende Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein, die schon zeitgenössisch deutlich kürzer als Buchstelle bezeichnet wurde und zwischen 1920 und 1933 existierte, nicht gelten. Der vorliegende Beitrag will die Tätigkeit der Abteilung mit dem Engagement ihres gebürtig aus Ostpreußen stammenden Vorstehers Otto Broszeit verknüpfen, dessen Karriereende in Kiel nicht zufällig mit dem nationalsozialistischen Machtwechsel zusammenfiel, als an die Stelle der Landwirtschaftskammer die „Landesbauernschaft“ des „Reichsnährstandes“ trat.18 Der weitere Gang sei für die nachstehenden Anmerkungen knapp skizziert: Die Buchstelle verblieb, jetzt aber eben als Teil der „Landesbauernschaft“, im selben Gebäude, ehe die Abteilung 1935 gleichsam ausgegliedert und in den eigens ins Leben gerufenen „Verband buchführender Bauern und Landwirte“19 überführt wurde, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in „Landwirtschaftlicher Buchführungsverband“ (zunächst mit dem Zusatz „für Schleswig-Holstein und Hamburg“) umbenannte und 2020 das 100-jährige Jubiläum als (wirtschaftlicher) Verein begehen

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ulrich kluge: Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 73), München 2005. mario niemann: Beständiger Wandel. Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Mecklenburg von 1900 bis 2000, Rostock 22021. horst möller u. a. (Hg.): Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger, Berlin/Boston 2020. nadine rossol, benjamin zimmermann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021. Siehe zur schleswig-holsteinischen Landwirtschaft im Nationalsozialismus die (leider nicht zufriedenstellende) Abhandlung von nils cramer: Erbhof und Reichsnährstand. Landwirtschaft in Schleswig-Holstein 1933–1945, Husum 2013. Die Unterscheidung von Bauer und Landwirt geht hierbei zurück auf das Reichserbhofgesetz. Vom 29. September 1933. In: Reichsgesetzblatt (1933), Tl. 1, Nr. 108, 685–692. – Siehe zu diesem daniela münkel: Bäuerliche Interessen versus NS-Ideologie. Das Reichserbhofgesetz in der Praxis. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), 4, 549–580.

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konnte.20 Die Festschrift von 1970,21 die der durchaus bemerkenswerten Verbandsgeschichte überhaupt nur acht Seiten widmet und „Otto Broßeit“ zumal in falscher Schreibweise wiedergibt,22 findet hinsichtlich der spärlichen Angaben und der Frage, welches Schicksal den bisherigen Geschäftsführer 1933 ereilte, mit der Chronik von 1995 eine nahtlose, unreflektierte Fortsetzung.23 Indem neben den Beiträgen aus dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt für Schleswig-Holstein, das offizielles Publikationsorgan der Landwirtschaftskammer war, die archivalische Überlieferung aus Schleswig herangezogen wird, kann abseits der inhaltlichen Ebene überdies der „Fall Broszeit“24 konkret dargestellt und derart das politisch motivierte Handeln innerhalb der als unpolitisch eingestuften Buchführung am regionalen Beispiel belegt werden. 2. Die Kieler Kammerbuchstelle – Betriebe, Zahlen und der „Fall Broszeit“ Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts und somit vor der 1920 erfolgten Einrichtung der Buchstelle in Kiel spielte das landwirtschaftliche Buchführungswesen in SchleswigHolstein eine eher untergeordnete Rolle.25 Dies sollte sich mit der Erzberger’schen Steuerreform von 1919/20 ändern, da die Reichsabgabenordnung (1919), das Reichsumsatzsteuergesetz (1919) sowie das Reichseinkommensteuergesetz (1920) Regelungen beinhalteten, nach denen die Hofbesitzer unter bestimmten Voraussetzungen schriftliche Aufzeichnungen anfertigen mussten,26 ohne dass aber eine allgemeine

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Zum Jubiläum entstand eine verbandsinterne Chronik, die wissenschaftlich begleitet wurde von Oliver Auge und zu deren Autoren unter anderem der Verfasser des vorliegenden Beitrages gehört: dirk klaus andresen u. a.: 100 Jahre Landwirtschaftlicher Buchführungsverband. 1920–2020, [Kiel 2021]. 21 [landwirtschaftlicher buchführungsverband für schleswig-holstein und hamburg (Hg.):] Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Landwirtschaftlichen Buchführungsverbandes für Schleswig-Holstein und Hamburg in Kiel am 16. Januar 1970, [Kiel 1970]. 22 ernst sievers: 50 Jahre Buchführungsverband. In: [landwirtschaftlicher buchführungsverband für schleswig-holstein und hamburg (Hg.):] Festschrift zum 50-jährigen Bestehen, 11–18, hier 12. 23 peter vollrath: 75 Jahre Landwirtschaftlicher Buchführungsverband. 1920–1995, [Kiel 1995]. 24 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig (LASH), Abt. 721, Nr.  2454, Bericht des Untersuchungskommissars der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein über die Beweisaufnahme über den Fall Broszeit vom 19. und 20. Juli 1933. 25 Für 1912 lassen sich folgende Beiträge im Landwirtschaftlichen Wochenblatt für Schleswig-Holstein finden: fricke: Der Landwirt und die Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 62 (1912), 1, 11–13; clausen: Etwas über die Form der landwirtschaftlichen Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 62 (1912), 8, 154–158; rammelsberg: Welche Ursachen verhindern die Ausbreitung der landwirtschaftl. Buchführung? In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 62 (1912), 28, 580 f. 26 paul bockisch: Steuern des Bauern, Berlin/Regensburg 1932.  – Siehe dazu Stefan Bach, Marc Buggeln: Geburtsstunde des modernen Steuerstaats in Deutschland 1919/1920. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 100 (2020), 1, 42–48.

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Buchführungspflicht, wie manche Zeitgenossen meinten,27 bestand. Grundsätzlich galt vielmehr: Wer keine Bücher führte, konnte nach (deutlich unvorteilhafteren) Durchschnittssätzen zur Steuerzahlung herangezogen werden, sodass daraus gewissermaßen ein Buchführungsrecht statt einer Pflicht erwuchs. Ein kurzer Rückblick: 1873 erschienen Hermann Howards Landwirthschaftliche Rentabilitäts-Berechnungen mit Rücksicht auf Brauchbarkeit doppelter Buchhaltung in der Landwirthschaft, worin der Agrarökonom verschiedene Ansätze untersuchte und folgerte: Hier liegt aber die vermeintliche Unanwendbarkeit des Principes verborgen, hier gilt dasselbe, was vom Kaufmann gesagt wird: „Die Führung einer wohl eingerichteten exacten Berechnung ist nicht schwierig, wohl aber die Einführung; Viele sind im Stande wohl eingerichtete Bücher zu führen, aber nur wenige und mit der Theorie genau Vertraute Bücher für einen ganz neuen Geschäftsbetrieb zu schaffen.“28

Howard etablierte ein Ausbildungs- und Beratungsinstitut sowie mehrere Buchstellen und sorgte damit für eine erste Verbreitung der doppelten Buchführung in der Landwirtschaft. Neben verschiedenen privaten Anbietern setzte sich im späten 19. Jahrhundert zudem die 1885 gegründete Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft für das landwirtschaftliche Rechnungswesen ein. So gab der dortige Geschäftsführer Friedrich Aereboe 1896 im Auftrag der Gesellschaft das zügig zur Standardliteratur avancierende Werk Buchführung. Anleitung für den praktischen Landwirt heraus. Die landwirtschaftliche Buchführung solle „das Gedächtnis des Landwirtes unterstützen und ihm alle zu seinem Besitze gehörenden Vermögensstücke nach Art, Zahl, Menge, Geldwert u. s. w. zu überblicken ermöglichen“ – dies gar nicht aus steuerlichen Erwägungen heraus, sondern „um ihm dadurch Sicherheit in seinem Handeln zu geben und ihn in den Stand zu setzen, seine Maßnahmen immer gewinnbringender zu gestalten“.29 An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert reagierten die meisten Landwirte jedoch eher zurückhaltend bis ablehnend, wenn es um (Rechnungs-)Bücher und Zahlen ging. Während die Bereitschaft zur Buchführung bei den Gutsbetrieben aufgrund der gewachsenen Strukturen deutlich höher war, konnten Besitzer kleinerer Höfe nur selten von dem Gedanken überzeugt werden, im täglichen Dokumentieren des Betriebsgeschehens einen Nutzen zu ersehen. Eine gängige Auffassung bestand da­ rin, dass man erfolgreicher Landwirt auch ohne entsprechende Aufzeichnungen sein könne. Zu den Bestrebungen, diese Haltung zu ändern, gehörten vor allem Vorträge

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heinrich lemcke: Die Buchführungspflicht des Landwirtes. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 70 (1920), 38, 601 f. hermann howard: Landwirthschaftliche Rentabilitäts-Berechnungen mit Rücksicht auf Brauchbarkeit doppelter Buchhaltung in der Landwirthschaft, Leipzig 1873, 38 f. friedrich aereboe: Buchführung. Anleitung für den praktischen Landwirt (Anleitungen für den praktischen Landwirt 4), Berlin 1896, 1.

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und Kurse in den Landwirtschaftsschulen sowie die Herausgabe einschlägiger Anleitungen. Im Vorwort seines 1898 erstmals vorgelegten „Guts-Sekretärs“ schilderte Karl Petri, Lehrer an der Landwirtschaftsschule in der holsteinischen Gemeinde Hohenwestedt, ebenjenes Grundproblem: Es ist nicht zu leugnen und auch begreiflich, daß sich der Landwirt nicht allzugern mit schriftlichen Arbeiten befaßt, während ihm von Jahr zu Jahr mehr Ehrenämter, für welche er immer neue Arten von Schriftstücken abzufassen hat, aufgebürdet werden und auch in der eigenen Wirtschaft das Schreibwerk für Buchführung und Korrespondenzen fortwährend wächst.30

Möglich sei es selbstredend, eine ausgebildete Fachkraft zu beschäftigen: Die meisten Landwirte können sich aber in Anbetracht der schweren Zeiten die Anstellung eines eigenen Sekretärs nicht leisten, trotzdem ihnen die schriftlichen Arbeiten über den Kopf zu wachsen drohen. Hier mußte Wandel geschaffen und ein Buch verfaßt werden, welches als gedruckter Gutssekretär einen solchen aus Fleisch und Bein ersetzen kann.

2.1. Einrichtung der Buchstelle (1919/20) Auf der 191. Vorstandssitzung der schleswig-holsteinischen Landwirtschaftskammer, die am 22. Mai 1919 im Sitzungssaal des Provinzialausschusses in Kiel stattfand, wurde als Tagesordnungspunkt 19 die „Einrichtung einer Buchstelle“ verhandelt.31 Dies ist – nach möglichen Vorgesprächen, die es bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegeben haben soll – der erste schriftliche Beleg, der auf die projektierte Abteilung verweist. Der Vorsitzende der Landwirtschaftskammer, Hans Caspar Graf zu Rantzau-Breitenburg, bemerkte, dass aus der Sicht des Vorstandes „ein dringendes Bedürfnis besteht für die Einrichtung einer Buchführungs- und Wirtschaftsberatungsstelle“. Walter Asmis, der bis 1928 Direktor der Landwirtschaftskammer war, dem Syndikus Julius Rendtorff sowie den beiden Vorstandsmitgliedern Peter Jensen und Thies Hinrich Engelbrecht oblag nun die Aufgabe, als Kommission das Vorhaben zu konkretisieren und eine Vorlage für die über die Einrichtung der Buchstelle abstimmende Hauptversammlung auszuarbeiten. Die entscheidende Konferenz fand daraufhin am 30. September 1919 im großen Sitzungssaal im „Haus der Landwirte“ in Kiel statt. Mit Blick auf die Wahl betonte Jensen als stellvertretender Kammervorsitzender die elementare Bedeutung der zu grün-

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karl petri: Der Guts-Sekretär. Praktische, durch Beispiele erläuterte Anleitung zur Abfassung aller schriftlichen Arbeiten des Landwirts in Beruf und Verwaltung, Berlin 31908, III (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). LASH, Abt. 380, Nr. 124, Niederschrift der 191. Vorstandssitzung am 22. Mai 1919 in Kiel, 30 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat).

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denden Abteilung: „Fast sämtliche deutsche Landwirtschaftskammern haben bereits Buchstellen zur Beratung der Landwirte in Buchführungs- und Steuerfragen eingerichtet.“32 Und so vertrete der Vorstand die Ansicht, „daß auch die schleswig-holsteinische Landwirtschaftskammer, wo jetzt wichtige Fragen der Wirtschaftseinrichtung und der Besteuerung an den Landwirt herantreten, sich dieser Aufgabe nicht länger entziehen kann“. Aufgaben seien „1. die Förderung des Buchführungswesens, 2. Steuerberatung, 3. Wirtschaftsforschung zugleich im Interesse der Wirtschaftsberatung durch Heranziehung örtlicher Sachverständiger“. Jensen fasste pointiert zusammen, „es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn er jetzt den Wert einer Buchführungs- und Steuerberatungsstelle noch eingehend begründen würde, denn diese Sache bedürfe keiner weiteren Begründung“.33 Alle anwesenden Herren der Hauptversammlung stimmten dem Antrag ohne Protest zu; die Kommission musste nun alle Vorbereitungen für die Realisierung treffen und einen geeigneten Abteilungsvorsteher/Geschäftsführer finden. Das Landwirtschaftliche Wochenblatt verkündete am 16. Januar 1920 die Einrichtung der Buchstelle. Erwin Sievers, Vorstandsvorsitzender des späteren Landwirtschaftlichen Buchführungsverbandes von 1945 bis 1971, urteilte in seinem (allzu) kurzen historischen Rückblick von 1970: „Dieser Tag kann wohl mit Fug und Recht als Geburtstag unseres Verbandes bezeichnet werden, und so können wir am 16. Januar 1970 auf eine 50-jährige Tätigkeit als landwirtschaftliche Buchstelle zurückblicken.“34 Dies stimmt allerdings nicht; korrigierend ist auf die Ausgabe vom 23. Januar 1920 zu verweisen, in der es zur Buchstelle heißt: „Diese hat am 15. Januar ds. Js. mit ihrer Tätigkeit begonnen.“35 Als Gründungstag der Abteilung, die zuerst ihren Platz im Gebäude der Landwirtschaftskammer im Kronshagener Weg hatte, ist im Sinne der geschäftlichen Inbetriebnahme folglich der 15. Januar 1920 zu betrachten. Nach einem vorangegangenen persönlichen Austausch mit Asmis auf der Plenarversammlung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft im November 1919 in Berlin36 ernannte der Vorstand auf Empfehlung der Kommission zum Abteilungsvorsteher Otto Broszeit, der „vor dem Kriege jahrelang die Buchführungszentrale der Landwirtschaftskammer für Kurland leitete und in letzter Zeit die Buchführungs- und Steuerberatungsstelle des Wirtschaftsverbandes Züllichau-Schwiebus in der Mark eingerichtet und geleitet hat“.37 Broszeit kam 1884 als Sohn eines Landwirtes im ost-

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Ebenda, Nr. 3, Manuskripte der Hauptversammlung am 30. September 1919 in Kiel, Tagesordnung, 1 f. (dort finden sich auch die beiden nachstehenden Zitate). Ebenda, Niederschrift der 47. Hauptversammlung am 30. September 1919 in Kiel, 16. sievers: 50 Jahre Buchführungsverband, 11. Dies wird von Vollrath nicht problematisiert: vollrath: 75 Jahre Landwirtschaftlicher Buchführungsverband, 4. O. N.: Eröffnung der Buchführungs- und Steuerberatungsstelle (Buchstelle) der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für SchleswigHolstein 70 (1920), 4, 60 f., hier 60. Siehe die Korrespondenz im LASH, Abt. 721, Nr. 2454. O. N.: Eröffnung der Buchführungs- und Steuerberatungsstelle, 60.

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preußischen Laugallen zur Welt.38 Von 1905 bis 1909 war er zunächst Buchhalter bei der landwirtschaftlichen Buchführungsgenossenschaft in Königsberg, anschließend Geschäftsführer der Sektion für landwirtschaftliche Buchführung der Kurländischen Ökonomischen Gesellschaft, Geschäftsführer der Gesellschaft für landwirtschaftliche Buchführung in Libau sowie Hauptbuchhalter im Vorschuss-Verein zu Insterburg, ehe er ab Oktober 1919 dem Wirtschaftsverband der Landwirte im damals brandenburgischen Kreis Züllichau-Schwiebus vorstand. Die Beteiligten einigten sich auf eine Anstellung ab Januar 1920. Während mit Broszeit ein berufserfahrener Mitarbeiter gewonnen werden konnte, gestaltete sich die Personalsituation in der Abteilung insgesamt recht schwierig, wie der Geschäftsführer 1930 rückblickend festhielt: In landwirtschaftlicher Buchführung vorgebildetes Personal gab es damals nur wenig, auch war dasselbe in fester Stellung. Nur mit großer Mühe gelang es mir, wenigstens einige langjährig vorgebildete Kräfte von der Mutter der meisten Kammerbuchstellen, der Buchstelle der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, Berlin, zu bekommen und damit den Grund zu legen für die Ausbildung des heranzuziehenden Personals.39

Weiterhin ließ er verlautbaren: Der Außenstehende kann sich kaum eine Vorstellung machen, was es heißt, innerhalb kurzer Zeit das Personal heranzubilden, welches in der Lage ist, die Buchführung von so vielen Betrieben zu bearbeiten. Nur durch äußerste Anspannung der leitenden Kräfte war es zu erreichen, daß den übernommenen Verpflichtungen nachgekommen werden konnte. Heute denkt man wie an einen bösen Traum an diese aufreibenden Jahre zurück.

Die Richtlinien sowie auch die von den künftigen Auftraggebern zu entrichtenden Tarife wurden im Landwirtschaftlichen Wochenblatt veröffentlicht und waren auf diese Weise offen einsehbar.40 Im Mai 1920 verfasste Broszeit einen Beitrag, in dem er informierte, für die gerade eingerichtete Buchstelle warb und den bisherigen Mangel an Buchführung kritisierte: [ J]etzt heißt es, sich aufraffen und die kleine Mehrarbeit, wie sie die Buchführung erfordert, auch noch zu leisten, um den Steuerbehörden bei etwaigen maßlosen Forderungen

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Siehe hierzu sowie zum Folgenden LASH, Abt. 721, Nr. 2454. otto broszeit: 10 Jahre Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 80 (1930), 5, 96–99, hier 97 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). 40 O. N.: Tarif der Buchstelle der Landwirtschaftsprovinz für die Provinz Schleswig-Holstein. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 70 (1920), 10, 146–149.

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nicht machtlos ausgeliefert zu sein. Ohne Buchführung hat man keine Beweise in Händen, und ohne Beweise muß man zahlen, was verlangt wird.41

Er wies auf den Nutzen der Abteilung hin, benannte präzise die Aufgaben und erinnerte hinsichtlich der vertraulichen Betriebszahlen auf den Datenschutz: Besonders betone ich noch, daß die Beamten der Buchstelle zur strengsten Geheimhaltung aller ihnen bekanntwerdenden Verhältnisse der Auftraggeber der Buchstelle verpflichtet sind und Nichtinnehaltung dieser Verpflichtung sofortige Entlassung zur Folge hat. Bei der Auswahl der Beamten wird äußerst sorgfältig vorgegangen.42

Um die Daten vor Missbrauch zu schützen, wurden beispielsweise die Rechnungsbücher nicht mit einem Namen, sondern lediglich mit einer Nummer versehen, sodass Außenstehende damit nichts anfangen konnten; intern ließen sich Zahlen und Höfe natürlich zuordnen. Die Buchstelle gewann zügig  – vielleicht auch gerade mit Verweis auf den angeprangerten Nachholbedarf in Schleswig-Holstein – Auftraggeber. So hatten bereits im Juni rund 30 (flächenmäßig größere) Guts- und etwa 100 (kleinere) bäuerliche Betriebe die „Beteiligungs-Erklärung“ ausgefüllt und sich der Abteilung angeschlossen.43 Um potenzielle Mandanten zu gewinnen, was allem Anschein nach erfolgreich war, da am Jahresende gut 90 Güter und fast 700 bäuerliche Betriebe zum Kundenstamm gehörten, warb die Landwirtschaftskammer aktiv: „Die geringen Kosten sollten keinen Landwirt vom Beitritt abhalten. Muß man 8.000 Mk. Lohn für einen Arbeiter ausgeben, so wird man auch einige hundert Mark für die Einrichtung und Ueberwachung einer geordneten Buchführung aufwenden können.“ 2.2. Etablierung der Buchstelle mit besonderer Herausforderung der Hyperinflation (1921–1925) Die sehr gute zahlenmäßige Entwicklung hinsichtlich der Auftraggeber sorgte innerhalb der Abteilung für ein Überdenken der bisherigen Strukturen. Dabei ging es vordergründig um die „Dezentralisierung unserer Buchstelle“.44 Neben der Hauptabtei41

otto broszeit: Landwirtschaftliche Buchführung und Buchführungspflicht der Landwirte. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 70 (1920), 20, 316–319, hier 317. 42 Ebenda, 319. 43 Siehe hierzu sowie zum Folgenden o. N.: Buchstelle der Landwirtschaftskammer. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 70 (1920), 26, 441 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). 44 Siehe hierzu sowie zum Folgenden die landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein: Buchstelle. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 71 (1921), 5, 78 f., hier 78.

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lung in Kiel wurden für eine bessere Betreuung vor Ort verschiedene Bezirksstellen in der gesamten Provinz Schleswig-Holstein eingerichtet. So gab es bereits im Februar 1921 jeweils einen Vertreter in den Gebieten Eiderstedt, Herzogtum Lauenburg, Husum, Insel Fehmarn, Kiel und Umgebung, Norderdithmarschen, Oldenburg, Pinneberg, Plön, Steinburg, Stormarn und Süderdithmarschen sowie jeweils zwei Vertreter in Bordesholm, Eckernförde, Rendsburg, Schleswig-Flensburg und Segeberg. Während die vor allem im Osten des Landes angesiedelten Gutsbetriebe mithilfe der Berichtsbuchführung zentral in Kiel bearbeitet wurden, galt bei den Bezirksvertretern das Prinzip der Hofbuchführung, bei der ein elementarer Bestandteil der regelmäßige Hofbesuch war. Den Mitarbeitern standen vertraglich „freie Unterkunft und Verpflegung“ zu.45 Der persönliche Austausch über alle finanziellen, dabei sowohl steuerlich als auch betriebswirtschaftlich relevanten Aspekte kennzeichnete den direkten Kontakt. Neben Hochdeutsch war es vor allem die niederdeutsche Sprache, die hier sprichwörtlich Tür und Tor öffnete und eine spezielle Vertrauensbasis schaffen konnte.46 Immerhin ging es um die „Erteilung von sachverständigem Rat in allen Buchführungsfragen“ und die „Beratung in Steuerangelegenheiten und Aufstellung von Steuererklärungen, soweit es die vorhandenen Unterlagen ermöglichen“.47 Der Aufwärtstrend hielt – mit bald 42 Vertretern, etwa 2.500 bäuerlichen Betrieben und ungefähr 150 Gütern – an, was wohl nicht zuletzt auch an Broszeits Bemühungen lag.48 Als stellvertretender Abteilungsvorsteher konnte 1921 überdies Karl Richter eingestellt werden.49 Geboren 1890 in Berlin, war dieser ab 1908 zunächst Lehrling und später Revisionsbuchhalter bei der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, ehe er 1920 Geschäftsführer der Buchstelle des Landes-Buchführungsvereines Oranienburg wurde und dann nach Kiel wechselte. Wie Broszeit trat auch Richter im Landwirtschaftlichen Wochenblatt in Erscheinung.50 Hatte sich die deutsche (Agrar-)Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg doch wieder verhältnismäßig gut erholt, stellte die Hyperinflation von 1923 einen erheblichen

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O. N.: Tarif der Buchstelle, 148. Siehe dazu jan ocker: „Wer het mi min Karf mit Flesch stahln?“ Schleswig-Holstein als niederdeutsche Sprachregion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: nina gallion, martin göllnitz, frederieke maria schnack (Hg.): Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs (zeit + geschichte 53), Göttingen 2021, 55–72. otto broszeit: Richtlinien für die Tätigkeit der Buchstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 70 (1920), 10, 143–146, hier 145. Ders.: Anerkennung der landwirtschaftlichen Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 71 (1921), 41, 726 f.; Ders.: Landwirtschaftliche Buchführung für den Mittel- und Kleingrundbesitz. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 72 (1922), 9, 174–177. Siehe hierzu sowie zum Folgenden LASH, Abt. 721, Nr. 7056. karl richter: Warnung vor Teilnahme an für Landwirte unzweckmäßigen Buchführungskursen. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 71 (1921), 40, 720.

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Rückschlag dar – auch für die Buchführung, die „fast wertlos geworden war“.51 Wegen zunehmender Raumprobleme zog die Buchstelle noch im Mai des denkwürdigen Jahres vom Kronshagener Weg ins „Haus Kiel“ in der Waisenhofstraße.52 An die von ihm als „Feuerprobe“ bezeichnete Phase erinnerte sich Broszeit später: Die Inflation mit den ins ungeheuerliche anwachsenden Zahlen nahm dem Landwirt zuletzt fast die Buchungsmöglichkeit und hat der Buchführung selbst auch in anderer Hinsicht außerordentlich geschadet. Mancher früher treue Anhänger der Buchstelle warf verzweifelt die Flinte ins Korn.53

Dies lässt sich unmittelbar anhand der Zahlen nachweisen: Von den bei Beginn des Geschäftsjahres vorhandenen 3.500 Teilnehmern der bäuerlichen Buchführung waren am 1. Januar 1924 nur noch 1.500 nachgeblieben. 2.000 Teilnehmer hatten den Kampf mit den Widerwärtigkeiten der Buchungszahlen in der Inflation aufgegeben. Von den Gutsteilnehmern waren von 180 am Anfang des Geschäftsjahres am 1. Januar 1924 noch 170 verblieben.

Nachvollziehbarerweise sprach auch Richter von „Jahre[n] angestrengtester Arbeit; zumal während der Inflationszeit“.54 Vollmundig und hoffnungsfroh, aber recht spekulativ und vielleicht sogar realitätsfern, verkündete Broszeit 1924 im Landwirtschaftlichen Wochenblatt stolz: „Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Buchstelle in den nächsten Jahren eine ungeahnte Entwicklung nehmen wird, zum Segen der Landwirtschaft der Provinz Schleswig-Holstein.“55 Die ökonomischen Folgen der „Geldentwertung“ waren jedoch weiterhin spürbar.56 Erst allmählich trat eine Besserung ein, sodass die Arbeit wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte und sich Kontinuität abzeichnete, wie Broszeit festhielt:

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otto broszeit: Landwirtschaftliche Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 74 (1924), 18, 354. die landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein: Verlegung der Diensträume der Buchstelle. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 73 (1923), 18, 339. broszeit: 10 Jahre Buchführungs- und Steuerberatungsstelle, 97 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). LASH, Abt. 721, Nr. 7056, Schreiben Karl Richters an den Vorstand der Landwirtschaftskammer vom 14. September 1927. otto broszeit: Landwirtschaftliche Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 74 (1924), 21, 478–480, hier 480.  – Siehe auch karl richter: Landwirtschaftliche Buchführung, ihre Bedeutung und ihr Arbeitsgebiet. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 74 (1924), 43, 946 f.; Ders.: Zur landwirtschaftlichen Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 74 (1924), 51, 1085–1089. landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein (Hg.): Geschäftsbericht der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein für das Rechnungsjahr 1924–25, [Kiel 1925], 121 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat).

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Im Personalwechsel ist eine gewisse Ruhe eingetreten. Jeder hält seinen Posten möglichst fest, weil Banken und kaufmännische Betriebe nicht aufnahmefähig sind. Dadurch ist es der Buchstelle möglich geworden, ihr gut vorgebildetes Personal fast vollständig zu behalten. Sie verfügt nunmehr über einen zum großen Teil schon selbst herangebildeten Beam­tenstand (abgesehen von den Abteilungsvorstehern), der jede Arbeit sachgemäß und schnell zu bewältigen in der Lage ist.

Da die Güter mit ihrer Konzentration im ostholsteinischen Raum von Beginn an eine Sonderrolle – bezogen auf die historisch gewachsene Organisation einer durch Gutsverwalter bereits etablierten Buchhaltung, ungleich größere Ländereien und daraus zwangsläufig resultierende höhere Gebühren – innehatten, reifte der Gedanke, dort eine Zweigstelle einzurichten, um die Entfernung zwischen Beratern und Hofbesitzern zu verringern. So eröffnete im Juli 1925 schließlich in Oldenburg in Holstein eine Niederlassung, deren Leiter der bisher in Kiel tätige Buchstellen-Oberinspektor Carl Mühlhausen wurde.57 Um darüber hinaus die Zahlen einzelner Gehöfte nicht nur den jeweiligen Landwirten, sondern der Landwirtschaft als Branche zugänglich zu machen, war die statistische Abteilung der Buchstelle indes damit betraut, die aus den Gutsbetrieben generierten Werte für eine Veröffentlichung vorzubereiten. So konnte erstmals eine Betriebsstatistik mit Zahlenmaterial von 152 Gütern für das Geschäftsjahr 1924/25 publiziert werden: Ferner wurden kleinere statistische Ausarbeitungen angefertigt als Grundlage für Beratungen mit dem Landesfinanzamt und dem Reichsbewertungsbeirat. Sämtliches statistisches Material wurde zur weiteren Verwendung der Betriebsstelle des Deutschen Landwirtschaftsrates überlassen.58

2.3. Die Buchstelle in den späten 1920er Jahren Im März 1926 äußerte sich Broszeit in seinem Beitrag Betriebsstatistik der Buchstelle der Landwirtschaftskammer ausführlich zu Sinn und Zweck besonderer Auswertungen, die er eben nicht nur in der steuerlichen Notwendigkeit sah. Der Geschäftsführer bedauerte den Umstand fehlender Daten; dass „die Landwirtschaft unserer Nordmark mehr auf Dornen als auf Rosen gebettet ist, weiß jeder schleswig-holsteinische Land57

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jan ocker: Güter, Gemarkungen und Getreide. Die Geschichte der Landwirtschaft in Ostholstein vom Mittelalter bis heute. In: oliver auge, anke scharrenberg (Hg.): Besonderes (aus) Ostholstein. Beiträge zur Geschichte der Region. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Kreises Ostholstein (Eutiner Forschungen), Husum 2020, 83–104, hier 94. landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein (Hg.): Geschäftsbericht der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein für das Rechnungsjahr 1925–26, [Kiel 1926], 154.

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wirt, aber eine Beleuchtung der trostlosen Lage durch einwandfreies Zahlenmaterial ist auch bis heute nicht erfolgt“.59 Und in die Richtung der Hofbesitzer sprach Broszeit daher deutlich: Es ist eine gänzlich falsche Ansicht, Buchführung nur zu Steuerzwecken zu betreiben, sondern der Hauptwert der Buchführung liegt darin, daß dem Betriebsleiter die Möglichkeit gegeben wird, sich über den Erfolg seines Schaffens auf Grund einer betriebswissenschaftlichen Auswertung seiner Buchführungsergebnisse zu informieren.60

Schließlich kam Broszeit mit dem ewigen Streben nach neuen Auftraggebern zu dem Resultat: Da bekanntlich der Wert der Statistik mit der Anzahl der Vergleichsbetriebe wächst, liegt es im Interesse eines jeden Landwirts, zum weiteren Ausbau derselben beizutragen, was jedoch nur durch Anschluß an unsere Buchführungs- und Steuerberatungsstelle geschehen kann, damit wir in die Lage versetzt werden, unsere Arbeitsbasis, die in der uns zur Verfügung stehenden möglichst großen Zahl von Buchführungsabschlüssen besteht, zu vergrößern.

Der Abteilungsvorsteher, der in seiner Position noch gefestigt schien und sich in jedem weiteren Beitrag im Grunde nur wiederholen konnte, da die Argumente seit 1920 unverändert blieben, bezog sich in Welchen Nutzen bringen die Kammerbuchstellen der Landwirtschaft? auf Carl Schieflers Schrift Der Kampf um die landw. Buchführung61 und warb nochmals eindrücklich: „Auch der schleswig-holsteinische Bauer sollte das alte Sprichwort: ‚Wer schreibt, der bleibtʻ, das für ihn heute mehr Bedeutung hat als je, sich zu eigen machen und danach handeln.“62 Mit der Eröffnung des neuen Gebäudes für die Landwirtschaftskammer in der Holstenstraße, das von dem Kieler Architekten Johann Theede entworfen wurde und dessen Goldlettern an die Zeit der Landwirtschaftskammer erinnern, änderte sich 1927 die Adresse des Hauptgeschäftssitzes der Kieler Buchstelle. Das „Haus Kiel“ wurde an die Druckerei Donath verkauft und im Zweiten Weltkrieg zerstört. In den neuen, großräumigen Büros ging die Arbeit der Buchstelle – nun wieder unter einem Dach vereint mit der Landwirtschaftskammer – in gewohnter Weise voran. Der Geschäftsbericht für das Rechnungsjahr 1927/28 hielt den Wert der Betriebsstatistik fest: 59

otto broszeit: Betriebsstatistik der Buchstelle der Landwirtschaftskammer. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 76 (1926), 19, 233 f., hier 233. 60 Ebenda, 234 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). – Darauf bezog sich möller: Betriebswirtschaftliche Ergebnisse. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 76 (1926), 19, 234 f. – Siehe auch theodor wölfer: Vom Segen der Buchführung. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 76 (1926), 48, 1143–1147. 61 carl schiefler: Der Kampf um die landwirtschaftl. Buchführung, Magdeburg 1926. 62 otto broszeit: Welchen Nutzen bringen die Kammerbuchstellen der Landwirtschaft? In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 76 (1926), 49, 1161–1164, hier 1164.

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Die steigende Inanspruchnahme zur Wirtschaftsberatung zeigt, daß sich in immer stärkerem Maße die Erkenntnis Bahn bricht, daß die Buchführung für den Landwirt nicht nur ein Barometer für die Höhe der steuerlichen Belastung ist, sondern daß sie in erster Reihe eine Biographie des Betriebes gibt, aus der jeder am Schluß eines Wirtschaftsjahres eine klare Antwort erhält auf die Frage: Wie ist das Resultat meines Schaffens und warum ist es so?63

Von der besonders an der schleswig-holsteinischen Westküste präsenten und hier lediglich kurz angerissenen „Landvolkbewegung“ (1928–1930),64 in deren Rahmen das 1929 von Jürgen Schimmelreiter (alias Peter Petersen) vorgelegte Werk Unter der schwarzen Bauernfahne. Die Landvolkbewegung im Kampfe für Deutschlands Befreiung65 erschien, blieb die Buchstelle weitgehend unberührt. 2.4. Der „Fall Broszeit“ von 1930 bis 1933 – mit Nachspiel Auf institutioneller Ebene kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit dem 1921 gegründeten Reichs-Landbund, der ebenfalls Buchstellen betrieb und in SchleswigHolstein großer Konkurrent der Kieler Kammerbuchstelle mit ihren Bezirksvertretern war. Es kann deshalb nicht verwundern, dass in dem 1932 publizierten Heft Die betriebswirtschaftlichen Arbeiten der schleswig-holsteinischen Versuchsringe Reklame beider Organisationen zu finden ist.66 Für Broszeit und dessen Wirken als Abteilungsvorsteher gab es hingegen 1930 infolge nachhaltiger Vorwürfe einen beruflichen Einschnitt; nachdem der Geschäftsführer 1927 noch die Amtsbezeichnung eines Landwirtschaftskammerrates erhalten hatte, geriet er in die Schussbahn und wurde 1933 Verlierer des Ränkespieles. Am 31. Januar 1930 veröffentlichte Broszeit zunächst im Landwirtschaftlichen Wochenblatt den Beitrag 10 Jahre Buchführungs- und Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer, wobei er zurückschaute und über „seine“ Abteilung urteilte: „Es ist hier in Schleswig-Holstein ein im Reich einzig dastehendes Ergebnis im Ausbau der 63 64

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landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein (Hg.): Geschäftsbericht der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein für das Rechnungsjahr 1927–28, [Kiel 1928], 215. Siehe zur „Landvolkbewegung“ exemplarisch, mit weiterführender Literatur, jan ocker: Arbeit, Friede, Brot? Die agrarische Kultivierung des Truppenübungsplatzes Lockstedt (1920–1930) (Kieler Werkstücke, Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 59), Berlin 2022, 81–86. jürgen schimmelreiter: Unter der schwarzen Bauernfahne. Die Landvolkbewegung im Kampfe für Deutschlands Befreiung, München 1929. arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinischer versuchsringe (Hg.): Die betriebswirtschaftlichen Arbeiten der schleswig-holsteinischen Versuchsringe (Arbeiten der Arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinischer Versuchsringe 2), Kiel 1932.

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landwirtschaftlichen Buchführung erzielt worden, und sicher nicht zum Schaden der Landwirtschaft der Provinz.“67 Die Buchstelle betreute rund 250 Güter und circa 2.150 bäuerliche Betriebe; das „Kind der Not“ reüssierte Broszeit zufolge im ausgefochtenen „Existenzkampf “.68 Der Geschäftsführer schloss mit der nationalistischen Formulierung: „Deutsche Tatkraft und deutscher Fleiß werden auch in Zukunft für sie die treibenden Faktoren bilden für ein Weiterstreben nach dem gesteckten Ziele, ein Helfer in der Not zu sein zum Segen und Nutzen der Landwirtschaft unserer meerumschlungenen Nordmark.“ Mehrere Monate vergingen, bis am 21. Juni desselben Jahres in der in Itzehoe gedruckten Schleswig-Holsteinischen Tageszeitung, die den Zusatz Amtliches Organ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei in Schleswig-Holstein hatte,69 auf der Titelseite (!) unter dem Hakenkreuz der aus unbekannter Feder stammende Artikel Mißstände in der Landwirtschaftskammer erschien.70 Darin wurde Broszeit – stark und neutral zusammengefasst  – die fachliche Inkompetenz, Vetternwirtschaft sowie die private Nutzung des Dienstfahrzeuges angelastet; der Autor monierte, bezogen auf die aus seiner Sicht falsch eingesetzten Finanzen, sogar „diese jüdischen Manieren“. Eine Entgegnung der Landwirtschaftskammer folgte prompt am 27. Juni im Landwirtschaftlichen Wochenblatt.71 Ohne an dieser Stelle auf alle Details einzugehen, die einer eigenen, lohnenden Betrachtung vorbehalten bleiben, seien die Vorgänge und das Resultat in reduzierter Form aufgezählt.72 Als Übermittler der Interna von der Landwirtschaftskammer zur Redaktion der Schleswig-Holsteinischen Tageszeitung wurde Werner Hobeck, Leiter der statistischen Abteilung bei der Buchstelle, identifiziert, von dem – ausgerechnet – keine Personalakte mehr im ansonsten umfangreichen Bestand zu existieren scheint. Während dieser Broszeit fehlenden Rückhalt beim Mitarbeiterstab unterstellte, wiesen unter anderem Franz Greffin,73 Gustav Franz Seemund74 und Hermann Vogel75 den Vorwurf zurück, um Hobeck als eigentlichen Aufrührer zu ent-

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broszeit: 10 Jahre Buchführungs- und Steuerberatungsstelle, 98. Ebenda, 99 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). Siehe zur Schleswig-Holsteinischen Tageszeitung nun julia starck: „Das Sprachrohr Hitlers in der Nordmark“. Die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung aus Itzehoe. In: miriam j. hoffmann, vivian vierkant (Hg.): „Heute marschieren wir alle geschlossen hinter dem Führer“. Itzehoe und der Kreis Steinburg 1933–1945, Itzehoe 2022, 47–67. 70 O. N.: Mißstände in der Landwirtschaftskammer. In: Schleswig-Holsteinische Tageszeitung (21. Juni 1930), 1 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). 71 landwirtschaftskammer für die provinz schleswig-holstein: „Mißstände bei der Landwirtschaftskammer“? Zurückweisung von Angriffen gegen die Buchstelle. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt für Schleswig-Holstein 80 (1930), 26, 520 f. 72 Siehe hierzu sowie zum Folgenden LASH, Abt. 721, Nr. 2454. 73 Ebenda, Nr. 2685. 74 Ebenda, Nr. 7170. 75 Ebenda, Nr. 7304.

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tarnen. Broszeit überstand die Phase, wurde allerdings nicht, wie vorgesehen, Oberlandwirtschaftskammerrat. Die Wogen hatten sich wieder einigermaßen geglättet, ehe das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eine neue rechtliche Grundlage schuf, die es ermöglichte, „nicht-arische“ oder auch dem politischen System gegenüber missliebige Personen willkürlich zu entlassen.76 Zur Disposition stand nicht die Leistung, sondern einzig die Gesinnung bezogen auf den Nationalsozialismus; das Gesetz traf zahlreiche Lehrkräfte und Bürgermeister, aber genauso Unternehmen und Organisationen, in denen Beamte arbeiteten. Der Abteilungsvorsteher Broszeit wurde – wohl als eigenwilliger Charakter, der vielen als Querulant galt – mit Wirkung vom 10. April beurlaubt.77 Mit Wirkung vom 1. August desselben Jahres zunächst in den einstweiligen und mit Wirkung vom 1. Januar 1934 in den endgültigen Ruhestand versetzt, endete die 1920 in Kiel begonnene Tätigkeit unfreiwillig. Alle Einwände des Mannes, der die Buchstelle maßgeblich mitaufgebaut hatte, waren vergeblich. Nachfolger wurde Richter als sein bisheriger Stellvertreter, der anfangs noch hinter seinem Vorgänger stand, dann aber vermutlich auch die sich ihm bietende eigene Chance erkannte. Beinahe bizarr mutet es an, dass sich Broszeit – nach unterschiedlichen beruflichen Stationen im Nationalsozialismus, ohne allerdings wirklich irgendwo Fuß fassen zu können – ab Juni 1945 wiederholt in Kiel meldete, um nun beim „Verband buchfüh­ render Bauern und Landwirte“ mit „Betr[eff] Wiedereinstellung“ darauf zu drängen, in seine alte Position als Geschäftsführer zurückkehren zu können.78 Das Vorhaben scheiterte; und hinsichtlich seiner von ihm angestrebten Rehabilitation wurde 1947 betont: „Auch sind in seinen Personalakten keine Angaben enthalten, aus denen geschlossen werden könnte, daß die Versetzung in den Ruhestand seiner Zeit aus politischen Gründen erfolgte.“79 Es müsse „vielmehr angenommen werden, daß die Zurruhesetzung lediglich aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung vorgenommen wurde“. Die Aussage bedarf keiner weiteren Kommentierung, da es sich um bekannte Argumentationsmuster handelt. Schließlich lehnte der Härteausschuss im Januar 1950 auch noch den Antrag auf Wiedergutmachung ab – ohne eine Möglichkeit, in Revision zu gehen. 1962 verstarb Broszeit im rheinländischen Kleve.

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Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom 7. April 1933. In: Reichsgesetzblatt (1933), Tl. 1, Nr. 34, 175–177. Siehe hierzu sowie zum Folgenden LASH, Abt. 721, Nr. 2454. Ebenda, Schreiben Otto Broszeits an den Verband buchführender Bauern und Landwirte vom 20./27. Juni, 9./15. Juli, 27. Oktober und 19. November 1945. Ebenda, Abt. 761, Nr. 5976, Schreiben des schleswig-holsteinischen Ministeriums des Innern an die Landesbauernschaft Schleswig-Holstein vom 12. Juni 1947 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat).

Große und kleine Betriebe, gute und schlechte Zahlen sowie der „Fall Broszeit“

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3. Die schleswig-holsteinische Landwirtschaftskammer und ihre Buchstelle zwischen 1920 und 1933 – ein Fazit und ein kurzer Ausblick Nachdem die Buchstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein 1920 eingerichtet worden war und sich abgesehen von der Phase der Hyperinflation prächtig entwickelte, wurde das Jahr 1933 mit Broszeits Beurlaubung und der Versetzung in den Ruhestand zu einer Zäsur. An die Stelle der Landwirtschaftskammer rückte die „Landesbauernschaft“ des „Reichsnährstandes“. Die Buchstelle war jetzt angesiedelt bei der Abteilung B („Grundlagen der Betriebsführung“) innerhalb der Hauptabteilung II der „Landesbauernschaft“: Die Abteilung B überwacht die „Grundlagen der Betriebsführung“ und läßt es sich daher angelegen sein, planmäßige Unterlagen für eine organische Wirtschaftsweise zu sammeln, auszuwerten und an die Stellen weiterzugeben, in deren Fachgebiet die besonderen Dinge bearbeitet werden.80

Und weiter: Der wirtschaftliche Erfolg wird in der Unterabteilung Buchführung festgestellt und daselbst auch die Steuer- und Versicherungsberatung ausgeübt. Ein Nebeneinander- oder gar Gegeneinanderarbeiten einzelner Stellen wird vermieden: So wie der landw. Betrieb ein organisches Ganzes ist, so muß auch die Verwaltung, die speziell den Betrieb zu betreuen hat, ein organisches Ganzes sein.

Dem Wochenblatt der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein von 1934 ist sodann zur Abteilung B zu entnehmen: „6. Buchstellenwesen. Arbeitsgemeinschaft der provinziellen Buchführungsinstitute. Die Buchstelle der früheren Landwirtschaftskammer ist hier angegliedert.“81 Eine weitere Änderung ebnete den künftigen Weg der Buchstelle: „Da der Reichsnährstand heute die Aufsicht über das gesamte landwirtschaftliche Buchführungswesen ausübt, braucht er diese Tätigkeit nicht mehr selbst auszuüben.“82 1935, als dann auch die landwirtschaftliche Buchführungspflicht eingeführt wurde,83 stand die seit 1920 aktive Buchführungs- und Steuerberatungsstelle vor der Auflösung/Zerschla-

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schulz: Die Aufgaben der Hauptabteilung II der Landesbauernschaft. In: Wochenblatt der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein 1 (1934), 18, 613 f., hier 613 (dort findet sich auch das nachstehende Zitat). alexander gloy: Grundlagen der landwirtschaftlichen Betriebsführung. In: Wochenblatt der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein 1 (1934), 19, 649 f., hier 649. O. N.: Das Buchführungs-, Betreuungs- und Schätzungswesen im Reichsnährstand. In: Wochenblatt der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein 1 (1934), 45, 1524. O. N.: Die Buchführungspflicht in der Landwirtschaft. In: Wochenblatt der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein 2 (1935), 31, 1127.

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Jan Ocker

gung  – die Idee der Vereinsgründung sicherte den Fortbestand der ursprünglichen und bis heute in dieser Form aufrechterhaltenen Struktur. Zur Person: Jan Ocker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er promoviert gegenwärtig zur preußischen Agrarpolitik und beschäftigt sich dabei speziell mit der „inneren Kolonisation“ und den „Rentengütern“ (1890–1918). Jan Ocker M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Rezensionen 1. Epochenübergreifend Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 89–91 Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.) Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 140), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 478 S., ISBN 978-3-525-36427-7, 70,00 EUR. Kateřina Čapková und Hillel J. Kieval haben sich zusammen mit einem internationalen Team aus drei Wissenschaftlerinnen und vier Wissenschaftlern das Ziel gesetzt, die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern seit dem 16. Jahrhundert darzustellen. Ihre Publikation richtet sich an eine internationale Leserschaft: Bei der deutschen Ausgabe handelt es sich um eine von Peter Groh vorgenommene Übersetzung des englischen Originals1; ferner ist eine tschechische Übersetzung 2022 erschienen2, eine hebräische geplant. Einleitend geben Kateřina Čapková und Hillel J. Kieval einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Handbuchs und umreißen den Untersuchungsraum. Daran schließt sich ein hervorragender Forschungsüberblick an, der die Meistererzählungen des 19.  Jahrhunderts, die Lokalgeschichten jüdischer Gelehrter und die Anfänge einer kritischen, auf archivalischen Quellen basierenden Rekonstruktion jüdischen Lebens in der Zwischenkriegszeit konzise darstellt. Einen ersten Höhepunkt der jüdischen Historiographie der böhmischen Länder markieren das von Samuel Steinherz (1857–1942) herausgegebene „Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte der Juden in der Čzechoslovakischen Republik“ sowie die seit 1930 in Brünn erscheinende „Zeitschrift für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei“ von Hugo Gold (1895–1974), die beide im Zuge der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei eingestellt wurden. 1965 erfolgte die Gründung der Zeitschrift Judaica Bohemiae, deren Schwerpunkt auf der Geschichte der böhmischen Juden in Mittelalter und Früher Neuzeit liegt. Während die internationale Forschung bis zum Fall des Eisernen Vorhangs die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern als ein mit dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossenes Projekt betrachtete, versuchte die tschechische Forschung, die jüdische Vergangenheit des Landes wieder stärker ins Bewusstsein der (Fach-)

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Öffentlichkeit zu rücken. In den letzten 30 Jahren schließlich erlebte die jüdische Geschichte der böhmischen Länder eine Renaissance und entwickelte interreligiöse, transregionale und transnationale Perspektiven auf Konfliktverhalten, soziale und ökonomische Verflechtungen. Die anschließenden sieben Überblickskapitel knüpfen an diese Perspektiven an. Jedes Kapitel beginnt mit dem Lebenslauf einer oder mehrerer Schlüsselfiguren der jeweiligen Epoche und stellt damit die historischen Akteure in den Mittelpunkt. Im Zentrum der von Verena KasperMarienberg und Joshua Teplitzky behandelten Periode vom 16. bis zum 18. Jahrhundert steht der aus Ostwestfalen stammende Abraham Levie (1702/03–1785), der zwischen 1719 und 1723 Europa bereiste und in seinem Reisebericht ausführlich über das jüdische Leben in Böhmen schrieb. Innovativ ist dieses Kapitel, weil es jüdisches Leben in einem rechtlich und demographisch fragmentierten Raum sowohl aus der Binnenperspektive jüdischer Gemeinden als auch im Hinblick auf die Interaktionen zwischen jüdischer Minderheits- und christlicher Mehrheitsgesellschaft betrachtet. Außerdem wird deutlich, dass Juden in den böhmischen Ländern sowohl spezifische regionale Identitäten ausbildeten als auch in transregionale und europäische Migrations- und Verflechtungsprozesse eingebunden waren. Michael L. Miller zentriert seinen Überblick über das späte 18. Jahrhundert um die Lebensgeschichte des Oberrabbiners von Prag, Ezechiel Landau (1713–1793). Die Judenpolitik Maria Theresias und ihres Sohnes Joseph II. spiegeln die veränderte obrigkeitliche Sichtweise auf diese religiöse Minderheit: Während die Ausweisung aus Prag 1744 die Vertreibung der Juden aus den böhmischen Ländern einläuten sollte, markierten die Toleranzpatente, die Joseph II. zwischen 1781 und 1785 erließ, eine deutliche Verbesserung ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Situation. Die Schlüsselfigur in Hillel J. Kievals Beitrag über die Periode zwischen 1790 und 1860 ist der Journalist und Staatstheoretiker Hermann Jellinek (1822–1848), der wie viele junge Juden in dieser Zeit die Grenzen der religiösen Tradition überschritt und neue rechtliche, kulturelle, religions- und bildungspolitische Optionen erprobte. Zugleich bestanden bis 1848 weiterhin rechtliche Barrieren wie das von Miller ausführlich behandelte Familiantengesetz, das die Zahl der jüdischen Männer, die sich in den habsburgischen Kronländern niederlassen durften, beschränkte. Das anschließende Kapitel von Michal Frankl, Martina Niedhammer und Ines Koeltzsch verknüpft den Zeitraum von der offiziellen Emanzipation der böhmischen Juden 1861 bis zur Gründung des tschechoslowakischen Nationalstaats 1917/18 mit den Memoiren von Šimon Wendele (Wels) (1853–1922) und seiner Familie. Die Geschichte der Wendeles exemplifiziert die Integration der jüdischen Minderheit in eine sich modernisierende Gesellschaft und die Herausbildung eines neuen (staats-)bürgerlichen Selbstverständnisses, aber auch die wachsenden Spannungen zwischen tschechischen und deutschen Nationalisten. Dasselbe Autorenteam behandelt sodann die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei zwischen 1917 und 1938, die durch eine liberale Nationalitätenpolitik geprägt war. Im Zentrum stehen hier zwei Frauen: die Germanistin und Kulturhistorikerin Wilma Iggers (geb. 1921) und die spätere israelische Diplomatin Ruth Klinger (1906–1989). Benjamin Frommer behandelt ausgehend von Emil Kafka (1880–1948), dem Vorsitzenden der Kultusgemeinderepräsentanz in Prag, die Schicksale tschechischer Juden während des Holocaust. Mehr als 8.000 böhmische und mährische Juden – darunter 649 unbegleitete Minderjäh-

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rige – konnten nach Großbritannien flüchten, während diejenigen, die blieben, zuerst rechtlich ausgegrenzt und ab September 1941 größtenteils ermordet wurden. Persönliche Berichte, Tagebucheinträge und Briefe werfen eindrückliche Schlaglichter auf individuelle Schicksale. Kateřina Čapková beschließt den chronologischen Überblick über die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern mit einem Kapitel über die Nachkriegszeit, in dessen Mittelpunkt die Lebensgeschichte von Chaja und Emil Davidovič steht, die Auschwitz überlebt, aber dort zwei ihrer Kinder verloren hatten. Prozesse der Um- und Neuansiedlung, der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden durch Überlebende des Holocaust und die Ausprägung einer spezifischen Erinnerungskultur werden umfassend beschrieben. Die ambivalente Rolle des Staates angesichts erneut aufkeimender antisemitischer Strömungen, aber auch dessen Beharren auf Religionsfreiheit und Menschenrechten als Basis jüdischen Lebens verdeutlichen die Vielschichtigkeit der tschechoslowakischen Republik aus jüdischer Perspektive. Infolge des Zusammenbruchs der kommunistischen Herrschaft im Jahre 1989 und der damit verbundenen Umwälzungen, einschließlich der Teilung des Staatsgebietes in die Tschechische Republik und die Slowakei im Jahre 1993, eröffneten sich neue Möglichkeiten für die Entfaltung jüdischen Lebens. Abschließend rekonstruieren Helena Klímová und Lenka Matušíkova am Beispiel ausgewählter jüdischer Gemeinden die demographische Entwicklung dieser religiösen Minderheit zwischen 1500 und 2018. Die demographische Entwicklung war maßgeblich von territorialen und rechtlichen Veränderungen geprägt, welche sich auf die Ansiedlungschancen von Juden auswirkten. Das als moderner Überblick über die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern konzipierte Werk zeigt überzeugend kulturelle und gesellschaftliche Muster auf, rekonstruiert Interaktionen zwischen Christen und Juden in zahlreichen Lebensbereichen und betrachtet Juden konsequent als Akteure der Geschichte. Für alle, die sich mit der Geschichte der böhmischen Länder sowie mit der jüdischen Geschichte im Allgemeinen beschäftigen, ist die Lektüre dieses Bandes ein großer Gewinn. Er kann somit als Beispiel für eine zeitgemäße Darstellung der Geschichte jüdischen Lebens in Europa dienen. 1 2

Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.): Prague and Beyond: Jews in the Bohemian Lands, Philadelphia 2021. Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.): Židé v českých zemích: Společná cesta dějinami, Prag 2022

Prof. Dr. Michaela Schmölz-Häberlein Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Fischstr. 5–7, 96045 Bamberg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 92–94 Nicole Stadelmann, Martina Sochin D’Elia, Peter Melichar (Hg.) Hüben & Drüben. Grenzüberschreitende Wirtschaft im mittleren Alpenraum (Schriftenreihe des Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraumes 5 / Vorarlberg Museum Schriften 48), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2020, 240 S., 35 Abb., 3 Tab., 4 Karten, ISBN 978-3-7030-1051-4, 24,90 EUR. Grenzüberschreitung war zuletzt pandemiebedingt selbst im Schengenraum wieder ungewohnt spürbar. Der Arbeitskreis für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraums (AIGMA) konnte 2018 freilich nicht ahnen, dass zwei Jahre später ausgerechnet Seuchenbekämpfung die Grenzbalken sinken lassen und ungekannte ökonomische Herausforderungen mit sich bringen würde. Entsprechend spielten seuchenbedingte Grenzschließungen weder bei der Tagung „Hüben und Drüben. Wirtschaft ohne Grenzen“, noch im entsprechenden Sammelband eine größere Rolle. Das Feld, das in den neun Beiträgen abgesteckt und beackert wird, ist aber ohnedies überaus weit. Zeitlich wird der Bogen vom 9. bis zum 20. Jahrhundert gespannt. Den räumlichen Mittelpunkt der Ausführungen bildet das Alpenrheintal, eine Region zwischen Chur und dem Bodensee. Einst ganz der römischen Provinz Rätien zugehörig, wurde das Tal seit dem Frühmittelalter politisch aufgeteilt. Grenzziehungen prägen die heute teils dem österreichischen Bundesland Vorarlberg, teils Liechtenstein und teils den Schweizer Kantonen St. Gallen und Graubünden zugehörige Region seitdem in unterschiedlicher Weise und Intensität. Die einzelnen Beiträge sind vielgestaltig und vielfältig. Protagonisten, Quellen, Methoden und zeitliche Schwerpunktsetzungen unterscheiden sich erheblich. Aus Urbaren, Alpsatzungen, Rod­ ordnungen, Melkeimerbödeli, Polizei- und Zeitungsberichten, Fotos oder transkribierten Interviews werden Leben und Wirtschaften unterschiedlichster Menschengruppen, von Mönchen des 9. bis zu Gastarbeiterinnen des 20. Jahrhunderts, mit und jenseits der Grenze herausgearbeitet. Es geht einerseits um Strukturen, etwa um die Einnahmequellen des Klosters Pfäfers, die grenzüberschreitende Arbeitsteilung zwischen den Metzgern von St. Gallen, den Weber-Heubauern von Ausserrhoden und den Vorarlberger Sennern oder jene zwischen eidgenössischen Webern, Ferggern und Vorarlberger Heimstickerinnen. Almwirtschaft und Textilindustrie werden ebenso abgehandelt wie Rodfuhrwesen und Zollpolitik. Andererseits kommen auch die Figuren nicht zu kurz, etwa folkloristisch verklärte Sennen und Schmuggler, heimatlose Vagabundenfamilien, verzweifelte Flüchtlinge, zwielichtige Unternehmer oder arbeitswillige Jugendliche, die in der Ferne ihr Glück suchten. Es geht um Reichtum und Armut, Produktion und Handel, Legalität und Kriminalität, Mobilität und Sesshaftigkeit. Fokussierte Detailstudien stehen neben Jahrhunderte resümierenden Überblicken. Aus dieser Heterogenität ein kohärentes Gesamtbild der Region und ihrer ökonomischen Spezifika zu gewinnen, gestaltet sich schwierig, denn der thematische rote Faden ist dünn. Wenige Aspekte, etwa die Alpwirtschaft, werden mehrfach angesprochen, vieles wird nur en passant erwähnt, beispielsweise der grenzüberschreitende Tourismus. Das Gastgewerbe kommt schon in der Klostergeschichte von Pfäfers vor: Bereits im 14. Jahrhundert besaß die Mönchsgemeinschaft

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ein frühes ‚Wellnesshotel‘, ein Gasthaus mit Thermalquelle. Obwohl der Tourismus auch noch für die in Schweizer Hotels beschäftigten Italienerinnen wirtschaftliche Lebensgrundlage war, steht die Gastronomie in keinem der neun Beiträge im Vordergrund. Das könnte mit besonderen Charakteristika der Region zusammenhängen, die ökonomisch eher von Landwirtschaft und Gewerbe geprägt gewesen zu sein scheint als vom Tourismus. Diesen Eindruck vermitteln zumindest die Beiträge. Um die Besonderheiten des Alpenrheintals klarer zu sehen, böten sich Vergleiche mit Nachbarregionen an: Hierfür eignete sich beispielsweise das nahegelegene Tirol, wo Landwirtschaft, Bergbau und Tourismus, aber auch das im Alpenrheintal ebenfalls präsente Rodfuhrwesen wirtschaftlich bedeutsam waren. Andererseits gilt: Variatio delectat. Die Vielfalt macht den besonderen Reiz des Bandes aus. Die gesammelten historischen Fallbeispiele sind aber nicht nur unterhaltsam, sondern können auch im Hinblick auf aktuelle Probleme und Diskussionen lehrreich sein. Inhaltlich geht es nämlich um Brisantes und Relevantes, um Flucht, Arbeitsmigration, Steuerhinterziehung, Zollschranken und Grenzschließungen. Heute beziehen Grenz- und Zollbeamte aufgrund von Brexit und Covid-19 an ehemals überaus durchlässigen Grenzen wieder ihre Posten. Im Alpenrheintal traten diese Zeitgenossen seit dem 18. Jahrhundert in den Vordergrund. Vordem waren die Grenzen dort ebenfalls durchlässig und wenig gesichert. Harte politische Grenzen waren und sind also weder historisch selbstverständlich noch zwingend mit der Ausdehnung ökonomischer Räume deckungsgleich. Wie die gegenwärtigen Grenzbevölkerungen auf die politische Trennung wirtschaftlich zusammenhängender Regionen reagiert haben werden, wird sich erweisen. Die im Band vorgestellten Grenzbewohner der Neuzeit scheinen zumindest im Alpenrheintal wenig begeistert von den Grenzposten und Zollstationen gewesen zu sein: Sie bemühten sich um Erleichterungen und Privilegien für den Grenzverkehr oder spezialisierten sich auf den illegalen Grenzübertritt. Zollfreie Zonen blühten auf, Schmuggler (oder ‚Schwärzer‘) kamen zu Geld und wurden zu Widerstandskämpfern stilisiert, während Grenzer und Zöllner als Agenten einer willkürlichen und ungerechten Staatsgewalt portraitiert wurden. Die Flucht vor politischer Verfolgung hatten durchlässige Grenzen verhältnismäßig leicht gemacht. Mit der zunehmenden Kontrolle und Bewachung wurde Abschiebung leichter und Flucht schwieriger. Die Grenze schränkte also vor allem ein. Grenzkontrollen und Zollschranken werden auch in den einzelnen Beiträgen des Bandes tendenziell negativ bewertet. Kaum zu Wort kommen hingegen die Grenzprofiteure: Nicht nur Staaten und Beamtenschaft hatten wirtschaftlich Interesse an Grenzen, sondern auch Grenzpendler oder Unternehmer, die auf Outsourcing in Billiglohnländer (etwa Vorarlberg im Vergleich zur Schweiz), Steuerparadiese und zollfreie Zonen setzten, sowie Schmuggler und Fluchthelfer. Der Band ist nicht nur lesenswert, weil die einzelnen Beiträge zeigen, auf welch unterschiedliche Weise man sich wissenschaftlich mit den Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Grenze auseinandersetzen kann und weil sich darin vielfältige Anregungen für künftige Forschungen finden lassen. Das Buch lädt auch zur geistigen Grenzüberschreitung und zur mentalen Reise in die Vergangenheit einer Region ein, deren Bewohnerinnen und Bewohner gelernt haben, mit, von und politischen Trennlinien zum Trotz zu leben und zu wirtschaften.

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Mag. phil. Lienhard Thaler Universität Innsbruck, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Innrain 52d, 6020 Innsbruck, Österreich, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 94–96 Peter Wegenschimmel Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 33), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2021, 265 S., 10 Abb., 5 Tab., ISBN 978-3-11-073937-4, 59,95 EUR. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ im kommunistischen Osteuropa eine eindrucksvolle Schiffbauindustrie. Sie diente nicht nur dem Aufbau staatlich dirigierter Handelsflotten, sondern auch dem sowjetischen Importbedarf für eine ansehnliche Bandbreite unterschiedlicher, technisch interessanter Schiffstypen. Sie wurden von der maritimen Handelsorganisation Sudoimport bestellt und dann – zweifellos nach heftigen Verteilungskämpfen innerhalb der sowjetischen Staats- und Parteibürokratie – auf diverse Endabnehmer – Staatsreedereien und Behörden – verteilt. Dies galt nicht nur für die engen Verbündeten der UdSSR im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON), sondern auch für das blockfreie, aber sozialistische Jugoslawien unter Tito, das sich 1955 mit Chruschtschow ausgesöhnt hatte und seit 1964 zumindest lose am COMECON angebunden war. Neben dem Bedarf für die eigene maritime Wirtschaft sowie die mannigfaltigen sowjetischen Bedürfnisse wurden im zunehmenden Maß auch westliche Reedereikunden für begehrte Devisen interessant. Doch hinter der imposanten Fassade großflächiger, wohl nicht immer moderner Werftanlagen, umfangreicher Personalbestände auf Vorkriegsniveau, komplexer interner Sozialeinrichtungen, nicht zuletzt einer eindrucksvollen Armada abgelieferter Neubauten ergaben sich schon vor 1989 interne Widersprüche und Wirtschaftlichkeitsprobleme. Nach dem Ende des Kommunismus stellte sich in Osteuropa infolge der komplexen wirtschaftlichen Transformationen die Frage nach der Zukunft der dortigen Schiffbauindustrie. Beginnend um etwa 1960, hatte ihr marktwirtschaftliches westeuropäisches Pendant einen schmerzhaften Schrumpfungs- und Konzentrationsprozess durchlaufen, was vor allem am kometenhaften Aufstieg des ostasiatischen Schiffbaus – zunächst Japan, dann Südkorea und schließlich China – lag. Im wiedervereinigten Deutschland wurde nach 1990 in etwa die Hälfte des einstigen DDR-Schiffbaus mit vielen öffentlichen Geldern modernisiert, die andere Hälfte stillgelegt. Nicht zuletzt aus deutscher Sicht wirft das die Frage nach dem einschlägigen Umbruch in den anderen früheren COMECON-Ländern auf, und hierzu liefert die vorliegende exemplarische Untersuchung einige wertvolle Bausteine. Der Verfasser ist Wirtschaftshistoriker mit zusätzlichem slawistischem sowie soziologischem Hintergrund und hat sich zwei Fallbeispiele herausgesucht: Zum einen die Uljanik-Werft in Pula

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auf der kroatischen Halbinsel Istrien, zum anderen die polnische Großwerft „Pariser Kommune“ in Gdynia. Nach langem Hin und Her und vielen Experimenten und Stützungsversuchen ging die polnische Werft 2009 in die Liquidation, zehn Jahre später folgte ihr kroatisches Pendant in Pula. Auch nach dem Ende des polnischen Kommunismus und des spezifischen jugoslawischen Selbstverwaltungs-Sozialismus hatte es von staatlicher Seite viele Versuche gegeben, diese Betriebe am Leben zu erhalten. Die EU-Beitritte von Polen 2004 und Kroatien 2013 setzten jedoch einen Schlusspunkt, da Brüssel mit einigem Recht staatliche (Über-)Subvention mit scheelen Augen ansieht. Das Verdienst der vorliegenden Arbeit besteht aus der Erschließung zahlreicher zeitgenössischer archivalischer und publizistischer Quellen aus Polen und Ex-Jugoslawien, die durch Interviews mit Zeitzeugen angereichert wurden. Es hat sich herausgestellt, dass auch schon unter sozialistischen Vorzeichen kritische Fragen zur Wirtschaftlichkeit aufgeworfen wurden, danach den post-kommunistischen Staaten und Gesellschaften trotz eines zumindest postulierten Übergangs in eine Marktwirtschaft zahlreiche Stützungsversuche mit Staatsgeldern keineswegs fremd waren. Verschiedenerlei Entscheidungsprozesse und -träger kommen dabei zum Vorschein. Die äußere Form der Darstellung fordert jedoch Kritik heraus. Wissenschaftliche Stilistik ist zweifellos eine subjektive Geschmackssache und vom jeweiligen Hintergrund eines Autors beeinflusst. Doch stellt die Lesbarkeit des vorliegenden Textes über weite Strecken auch für akademisch vorgebildete Leser eine Herausforderung dar. Der hier angewandte akademisch gestelzte Schreibstil, verbunden mit einer theorielastigen und strukturalistischen Betrachtungsweise, ist nicht gerade dazu angetan, ohnehin äußerst verwickelte Vorgänge verständlich zu machen. Vereinzelt eingestreute Szenen und saloppe Ausdrücke ändern nichts an diesem Gesamteindruck. Bei manchen Textstellen fragt man sich, ob trotz der verdienstvollen Erschließung mit ihrem quellengesättigten Materialreichtum ein substanzieller, zumindest aber besser verständlicher Erkenntniszuwachs erzielt wurde. Nur eine Kostprobe: „Die Differenzierung zwischen Unternehmen und Betrieb erweist sich nicht nur als produktiv, wenn es Reformerinnen und Reformern darum geht, einen sauberen Schnitt zwischen dem Unternehmen und seiner staatlichen Umwelt zu setzen, sondern auch für eine Analyse, die die Durchlässigkeit der Grenze mit ihren ´einschränkenden und gleichzeitig ermöglichenden Dimensionen´ bestimmen will. In dieser Sichtweise war die Werft Pariser Kommune als Unternehmen beziehungsweise als Betrieb über zwei verschiedene Membranen mit ihrer Umwelt verbunden. Während sich die Werksmauer, die von den Beschäftigten beim Ein- und Austritt durchquert werden konnte, als Einfallstor der lokalen Gemeinschaft beschreiben lässt, macht die Rechtshülle das Unternehmen anschlussfähig für staatliche Einflussnahme. Als Membranen regulierten und gestalteten Werksmauer und Rechtshülle die Art, wie die Werft ihre Umwelt integrierte“ (198 f.). Wer wie der Rezensent tagtäglich ein Werfttor auf dem Weg zur Arbeit passiert hat, beziehungsweise noch heute passiert, kann sich des Eindrucks eines aufgeblasenen Wortgeklingels um banale Sachverhalte ohne wirklichen interpretativen Mehrwert sowie einer lebensfernen Theoretisierung um ihrer selbst willen nicht ganz entziehen. Hinzu kommt eine Textstruktur mit teilweise etwas kryptisch formulierten Überschriften wie etwa „Verhandelte Beihilfen – die Unschärfen der Legitimität“, die dem Leser das vom Thema

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vorgegebene Problemknäuel nicht ohne weiteres entwirren. Eine andere, womöglich chronologische Gliederung und zumindest das Bemühen um eine dem lebensnahen Thema angemessenere, praxisnähere und damit anschauliche Sprache hätte den Zugang zu den einschlägigen Forschungsergebnissen erheblich erleichtert. Das Schlussfazit (223–237) liest sich dagegen wesentlich eingängiger, das sauber aufgeführte Quellen- und Literaturverzeichnis (239–255) weist auf einen verdienstvollen Fundus hin, dessen Ergebnisse eine besser verständliche und damit angenehmer zu lesende Präsentation verdient hätten. Dr. Christian Ostersehlte Archivar der Lürssen-Werftgruppe in Bremen und Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, Hans-Scharoun-Platz 1, 27568 Bremerhaven, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 96–98 Martin Knoll, Katharina Scharf Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung (utb 5624), Wien/Köln: Böhlau Verlag, 2021, 236 S., 18 sw. Abb., ISBN 978-3-8252-5642-5, 24,00 EUR. Angesichts einer noch immer lebendigen Landesgeschichtsschreibung stellt sich für den Rezensenten eingangs die Frage nach der Notwendigkeit einer theoretischen Einführung zur Europä­ ischen Regionalgeschichte. Den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen der Landesgeschichte und einer Europäischen Regionalgeschichte, „verstanden als Zugang der vergleichenden historischen Untersuchung von und in Regionen, der sich einem gesamteuropäischen Problemhorizont verpflichtet weiß“ (7), gehen Martin Knoll und Katharina Scharf in den ersten beiden Kapiteln (16–38) nach. Das Ergebnis dieser einleitenden Kapitel, „wonach sich die wissenschaftliche Debatte um Landesgeschichte und Regionalgeschichte weitgehend erschöpft habe und sich die beiden Ansätze in der Forschungspraxis kaum mehr voneinander trennen lassen“ (8), fällt dementsprechend ernüchternd aus. Aufgrund dessen plädieren die Autoren für „eine am europäischen Problemhori­ zont orientierte, vergleichende historische Regionalforschung“ (22) und zeigen drei mögliche Ansätze für spezifisch regionalhistorische Forschungen auf: Eine materialistische Zugangsweise verbinde die gesellschaftlichen Entwicklungen der Menschheitsgeschichte mit ihrer unmittelbar materiellen Natur, zum Beispiel zur Herausarbeitung regionaler Eigenheiten bestimmter Industrieentwicklungen. Ein konstruktivistischer Ansatz hingegen beschäftige sich hauptsächlich mit der  (Re- beziehungsweise De-)Konstruktion „ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten“  (23), um beispielsweise Ursprung, Inhalt und Bedeutung von Traditionen und Brauchtümern zu identifizieren. Demgegenüber verfolge ein juridisch-institutioneller Ansatz neben der Untersuchung verschiedenartiger Rechtsordnungen auch Körperschaften politischen und kirch-

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lichen Rechts, so etwa der geistlichen Landesherrschaften. Diese beiden Formen hätten die „politische Definition von Regionalität“ (23) in Europa wesentlich geprägt und gestaltet. Eine Arbeitsdefinition von „Region“ stellen Knoll und Scharf dem Hauptkapitel „Regionalgeschichte: Gegenstände, Perspektiven, Herausforderungen“ (39–165) voran, in der sie auf Konstitution, Ausdehnung und zentrale Akteurinnen und Akteure von Region eingehen: Eine Region konstituiert sich einerseits als „erkenntnistheoretisches und historisch-soziales Konstrukt“ (36), andererseits aus „konkreten räumlich-materiellen Faktoren“ (36). Räumlich lassen sich unterschiedlich große Regionen konstruieren, die über den Nationalstaat hinausgehen, sich aber auf sehr kleine Einheiten beschränken können. Getragen, oder besser „konstruiert, gestaltet, inszeniert, gepflegt und gelebt“ (36) wird die Region von diversen Akteurinnen und Akteuren, die sich kollektiv oder individuell organisieren und die dabei mitunter bestimmte (Macht-)Interessen verfolgen. Da alle historischen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaften in irgendeiner Weise regionalhistorisch arbeiten, stellen Knoll und Scharf im Hauptteil (39–161) den regionalhistorischen Bezug von insgesamt 13 geschichtswissenschaftlichen Fachbereichen vor: Politikgeschichte, Mikrogeschichte, Globale und Transterritoriale Geschichte, Wirtschaft- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Umweltgeschichte, Stadtgeschichte, Religions- und Konfessionsgeschichte, Tourismusgeschichte, Migrationsgeschichte, Geschichte von Einzel- und Gruppenbiografien, Frauen- und Geschlechtergeschichte und Aspekte im Schulunterricht. An dieser Stelle soll das Kapitel „Regionalgeschichte als Religions- und Konfessionsgeschichte“ (104–111) exemplarisch herausgegriffen werden, um den dargestellten Konnex zwischen Religion/Konfession/Kirche und Region/Raum an einigen Punkten festzumachen: Darin wird unter anderem eine These von Barbara Stambolis innerhalb der Mental Geographies vorgestellt, die besagt, dass die mentale Vorstellung eines geographischen Raumes, sie nennt es Raumbewusstsein, stark durch Konfession(en) geformt und geprägt sein könne. Das führe dann dazu, dass sich die Paderborner Volksbank aufgrund der fortexistierenden Selbstwahrnehmung Paderborns als katholisches Land, ein ehemaliges geistliches Fürstbistum, in dem rund 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, selbst als „Hochstifts-Bank“ bezeichnet. In weiterer Folge werden noch einige kirchenhistorische Quellengattungen und Archive unter besonderer Berücksichtigung ihrer Relevanz für regionalhistorische Forschungen thematisiert. Dazu zählen Kirchenbücher, Seelsorgeberichte oder Kriegsflugblätter und -schriften, ebenso wie die geradezu unbekannten Missionarsarchive. Ein jedes dieser Hauptunterkapitel schließt mit einem Fazit und gezielten Literaturhinweisen. Probleme und Herausforderungen rund um die Regionalgeschichte werden im letzten Kapitel des Hauptteils (162–165) angerissen. Was die Regionalgeschichte auszeichnet, ist Knoll und Scharf zu Folge „die Erforschung dessen, was den Raum überhaupt zum Raum macht“ (162). Das bedeutet, dass Region als ein heuristisch forschendes Konzept entsteht. Sie liegt nicht vor! Sie war und ist ein Konstrukt der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen oder eben der Historikerin und des Historikers, die sie erforschen. Der verdienstvolle Einführungsband von Martin Knoll und Katharina Scharf über die Europäische Regionalgeschichte bietet einschließlich des ausführlichen Literatur- und Quellenverzeichnisses am Ende (190–221) einen erleichterten Zugang, um die Region(-algeschichte) in diesem Sinne zu erforschen.

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Mag. Dr. Julian Lahner Gymnasiallehrer für Geschichte, Philosophie und katholische Religion und Historiker, Naturns, Südtirol/Italien, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 98–100 Franziska Hormuth Strategien dynastischen Handelns in der Vormoderne. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296–1689) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 5), Kiel/Hamburg: Wachholtz Verlag, 2020, 442 S., ISBN 978-3-529-03605-7, 39,30 EUR. Die Erforschung des vormodernen Adels und seiner Höfe im römisch-deutschen Reich hat in den letzten 30 Jahren einen beachtlichen Aufschwung erfahren. Dabei wurden auch verstärkt einzelne fürstliche Familien und Häuser unter sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen in den Blick genommen. In diesem Kontext zu verorten ist auch die Studie von Franziska Hormuth zu den Herzögen von Sachsen-Lauenburg, die aus einer von Oliver Auge an der Universität Kiel betreuten Dissertation hervorging. In ihrer Untersuchung zu diesen in neueren Arbeiten nur selten behandelten norddeutschen Reichsfürsten überschreitet die Autorin die sonst häufig recht strikt eingehaltene Epochengrenze um 1500 deutlich und nimmt den Zeitraum vom späten 13. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in den Blick. Ziel der Untersuchung ist es, Strategien dynastischen Handelns bei den askanischen Herzögen zu erschließen, die vor allem ein Gebiet im Südosten des heutigen Bundeslandes Schleswig-Holstein beherrschten. Die insgesamt heterogene Quellenlage macht ein solches Unterfangen schwieriger als bei anderen hochadligen Dynastien, ist doch das herzogliche Archiv verloren, weshalb weitestgehend auf die in anderen Kontexten auf uns gekommene Gegenüberlieferung zurückgegriffen werden muss. Dabei ist es im Folgenden nicht möglich, die vielen wichtigen Detailfunde der insgesamt überzeugenden Untersuchung in extenso zu referieren. Stattdessen wird der Blick vor allem auf die Gesamtstruktur und die zentralen Ergebnisse von Hormuths Studie gelenkt. Gegliedert ist die Arbeit nach der Einleitung (13–38) in insgesamt sechs thematische Kapitel. Eingangs werden „Grundlagen“ (39–68) zu den politischen, dynastischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Herzogtums geboten, das 1296 aus einer Teilung entstand und dessen letzter askanischer Vertreter im Jahr 1689 söhnelos verstarb. Im dritten Kapitel „Erben – vererben“ (69– 115) nimmt die Autorin Strategien der Herrschaftsweitergabe sowie die Rollen der Familienmitglieder in den Blick. Da jedem Nachkommen eine standesgemäße Versorgung zustand, aber die Ressourcen der Sachsen-Lauenburger – wie auch der meisten anderen Reichsfürsten – begrenzt waren, mussten für Söhne Wege neben Herrschaftsteilhabe und Verheiratung sowie für Töchter

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Möglichkeiten außerhalb der vielfach kostspieligen Eheprojekte gefunden werden, ohne dass dabei der Bestand der Dynastie beeinträchtigt wurde. Zwar gab es Anfang des 14. Jahrhunderts eine Landesteilung, jedoch blieb diese auf lange Sicht gesehen die Ausnahme. Zudem hatte sie durch das Aussterben der Linie Bergedorf-Mölln im Jahr 1401 nicht dauerhaft Bestand. Gelegentlich lässt sich die gemeinsame Regierung mehrerer Brüder fassen. In der Frühen Neuzeit etablierte sich hingegen stärker die Praxis, dass einzelne männliche Mitglieder als ‚abgeteilte Herren‘ in begrenztem Maße Zugriff auf kleinere Gebiete erhielten oder männliche Familienangehörige in den militärischen Dienst anderer Herrscher traten, wobei die Primogenitur faktisch wohl erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingeführt wurde. Die Möglichkeit zur Eheschließung wurde allerdings bereits im späten Mittelalter häufig auf den für die Regierung vorgesehenen Bruder beschränkt. Wie stark der biologische Zufall steuerte, wer schlussendlich zur Herrschaft gelangte, wird daran deutlich, dass von 21 Herzögen, die in den fast 400 Jahren des Untersuchungszeitraums regierten, sieben ursprünglich gar nicht hierfür vorgesehen gewesen waren. Eng mit den vorangehenden Ausführungen verbunden ist das Kapitel „Sorgen  – versorgen“ (116–187). In diesem Rahmen bearbeitet die Autorin die in der Adelsforschung der letzten Jahrzehnte intensiv diskutierte Frage, welche dynastischen, ökonomischen und sozialen Faktoren und Entwicklungen die Rollen einzelner Akteure beeinflussten. Ehefrauen war neben ihrer zentralen Rolle als Mütter zukünftiger Herzöge und Herzoginnen keine offizielle Rolle bei der Ausübung von Herrschaft zugewiesen. Allerdings lässt sich auch bei den Sachsen-Lauenburgern nachvollziehen, dass diese durchaus als Urkundenausstellerinnen oder im Fall von Vormundschaften als Regentinnen auftraten sowie Korrespondenznetzwerke unterhielten. Der weit überwiegende Teil der Nachkommen blieb auch im Mittelalter weltlich. Deutlich herausgearbeitet wird aber, dass gerade jene Söhne, die im späten Mittelalter in eine geistliche Laufbahn abgeschichtet wurden, als Bischöfe in Kammin, Münster und Hildesheim durchaus beachtliche Höhen innerhalb des Reichsfürstenstands erklommen. Entsprechende Karrieren kamen jedoch, wie auch der Lebensweg von Töchtern als Nonne oder Stiftsdame, vergleichsweise selten vor. Von 91 legitimen Kindern regierender Fürsten blieben gerade einmal zwölf nicht weltlich, davon nur vier Töchter. Dem Konnubium ist das fünfte Kapitel der Arbeit gewidmet (188–237). Hormuth kann hier herausarbeiten, dass die Sachsen-Lauenburger vor allem im norddeutschen Umfeld heirateten, wobei der überwiegende Teil der Ehen, insbesondere in der Frühen Neuzeit, mit anderen fürstlichen Dynastien geschlossen wurde. In diesem Kontext, wie auch in der gesamten Arbeit, bieten farbige Diagramme gute Übersichten und visualisieren die Ergebnisse äußerst leserfreundlich (zum Beispiel 195 f., 201 f., 206 f.). Mit dem umfangreichen Kapitel „Präsentieren – repräsentieren“ (238– 329) setzt die Autorin dann noch einen weiteren umfangreichen thematischen Schwerpunkt. Siegel- und Münzbilder, die Bedeutung von Residenzen und Archiv sowie Grablegen und Stiftungen werden hier umfassend dargestellt. Das letzte ausführliche Kapitel behandelt die Aspekte „Sterben – aussterben“ (330–374). Es ist schwerpunktmäßig dem Umgang mit dem Tod bei den Sachsen-Lauenburgern gewidmet, wobei durch das Aussterben im Mannesstamm 1689 der Umgang mit der „Dynastie ohne Dynas-

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ten“ (363) spezielle Aufmerksamkeit findet. Besonders ergiebig ist ein letztes kurzes Kapitel mit dem passenden Titel „(Re)agieren – konstruieren“ (375–385), in dem die Ergebnisse der Arbeit noch einmal in der neueren Adels- und Hofforschung verortet werden. Wie für andere Dynastien galt auch im hohen Norden: „Das Wissen um die Auswirkungen, die Zufälle auf das Schicksal einer Dynastie haben konnten, zwang die Herzöge zu einer dynamischen Anpassung der Strategien für den Erhalt der Dynastie“ (385). Abgerundet wird die Arbeit durch ein Fazit (386–392), ein Personen- und ein Ortsregister (419–427) sowie hilfreiche tabellarische Überblicke zu den einzelnen Fürsten und Fürstinnen (430–442). Franziska Hormuths Studie besticht durch die tiefgehende Analyse der verstreuten Überlieferung, die Fähigkeit zum Bändigen der mittlerweile stark angeschwollenen Literatur zu den Themenfeldern Adel und Hof sowie immer wieder den Willen zur Synthese. Das gelegentlich exzessive wörtliche Zitieren längerer Literaturpassagen schmälert dabei das Lesevergnügen dieser gelungenen Studie, die Ausgangspunkt aller weiteren Untersuchungen zu den Herzögen von Sachsen-Lauenburg sein wird, nur peripher. Es bleibt zu hoffen, dass auch zu anderen bisher wenig beachteten Vertretern des Hochadels wie den gefürsteten Grafen von Henneberg oder den pfälzischen Nebenlinien bald ähnliche Studien für die Vormoderne in Angriff genommen werden. PD Dr. Benjamin Müsegades Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 100–102 Ortwin Pelc (Hg.) Kriegsleiden in Norddeutschland vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 57), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2021, 345 S., 55 sw. Abb., 27 sw. Tab., 1 sw. Karte, ISBN 978-3-515-12956-5, 56,00 EUR. Lange musste die schleswig-holsteinische Landes- und Regionalgeschichte auf einen Sammelband der renommierten „Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ warten, der sich eines militärgeschichtlichen Themas annimmt. Nun hat Ortwin Pelc als Herausgeber diese verdienstvolle Aufgabe übernommen und diesen Band wiederum unter eine bisher stark vernachlässigte – und leider wieder tagesaktuelle – Fragestellung der Militärgeschichte gestellt: es geht um das Leid der Menschen durch den Krieg und seine Folgen. Der Band stellt Beiträge mit sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Herangehensweisen und Fragestellungen in einer chronologischen Reihenfolge von der Vorgeschichte (hier weicht der Inhalt vom Titel des Werkes ab) bis zum Ersten Weltkrieg zusammen. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Ralf Wiechmann behandelt die „Kriegsleiden in Vorgeschichte und Mittelalter aus archäologisch-historischer Sicht“. Anhand von sieben ausgewählten Gra-

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bungen in Norddeutschland (Thorsberger Moor, Hemmingstedt, Harsefeld, Kalkriese, Harzhorn, Tollense Tal und Papendorf) zeigt Wiechmann exemplarisch, wie die moderne Archäologie schriftliche Quellen verifizieren kann oder – im Falle der vorzeitlichen Funde – überhaupt erst Aussagen über die Kriegsführung und die soziale Stellung von Kriegsteilnehmern ermöglicht. In dem hervorragenden Beitrag von Günther Bock gelingt es eindrucksvoll, ein regionales mittelalterliches Kriegsgeschehen – den Fehdekrieg der Hamburger gegen die Grafschaft HolsteinPlön im Jahre 1342 – und dessen wirtschaftliche Folgen akribisch zu rekonstruieren und durch zahlreiche Karten und Tabellen anschaulich zu machen. Stephan Selzer analysiert typische mittelalterliche Quellen (Chroniken, Selbstzeugnisse, Verwaltungsschriftgut, Urfehden) auf ihren Aussagewert hinsichtlich der Frage, inwieweit sie eine Perspektive auf Kriegsopfer sichtbar machen. Gewaltsamen Widerstand der Zivilbevölkerung gegen Übergriffe des Militärs während der Kriegszeit 1625–1660 in den Herzogtümern Schleswig und Holstein thematisiert Jörg Rathjen in seinem Beitrag. Eine interessante Detailstudie über die finanziellen, wirtschaftlichen und demographischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges liefert Antje Zeiger anhand des Beispiels der Stadt Wittstock – ein Ort, der sich bereits durch aufsehenerregende Ausgrabungen als wichtiger Baustein zum Verständnis frühneuzeitlicher Kriegsereignisse erwiesen hat. Den Kriegsfolgen des „Großen“ Nordischen Krieges widmet Stefan Kroll anhand einer Studie über Schwedisch-Vorpommern in den Jahren 1711 bis 1715 seine Aufmerksamkeit. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Beitrag von Nils Jörn. Er verknüpft darin die Geschichte der Stadt – und Festung – Wismar zwischen 1716 und 1813 mit Fragestellungen über den Bedeutungsverlust einer städtischen Gemeinde durch die Entfestigung; das eigentliche Thema des Sammelbandes, die „Kriegsleiden“ der Zivilbevölkerung, finden eher marginale Berücksichtigung – was dem hervorragend geschriebenen Aufsatz allerdings keinen Abbruch tut. Den Belastungen der Zivilbevölkerung einer schleswig-holsteinischen Festungsstadt im Kriegswinter 1813/14, der Festung Glückstadt, widmet sich ein Beitrag des viel zu früh verstorbenen Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, dessen außerordentliche Bedeutung und Verdienste für die norddeutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit diesem Beitrag noch einmal zum Ausdruck kommen. Das Kriegsjahr 1813/14 ist auch das Thema des Aufsatzes von Antjekathrin Grassmann, die sich mit den Folgen der Vertreibung der Lübecker Bürger durch die Franzosen beschäftigt, sowie des Beitrages von Sylvia Zander, die das Kriegsleiden der Zivilbevölkerung in Oldesloe thematisiert. Der anschließende Beitrag von Detlev Kraack über das Gefecht von Eckernförde im Jahre 1849 bedarf einer kritischen Bemerkung. Das Gefecht war, wie auch der Autor einräumt, ein herausragendes, um nicht zu sagen, ein singuläres Ereignis des Krieges von 1848–1851. Dass die tragische Explosion eines Linienschiffes (dessen Ursache letztlich ungeklärt ist) mit zahlreichen militärischen Opfern ein wirklich treffendes und repräsentatives Beispiel für Kriegsleiden und Kriegsfolgen ist, ist aber zu bezweifeln. Viele andere Aspekte des Krieges von 1848–1851 hätten sich hier als Thema angeboten, aber es hat sich dafür offenbar kein Autor finden lassen. Den Blick auf die Kriegsleiden im zweiten deutsch-dänischen Krieg von 1864 wirft Gerd Stolz mit seinem Aufsatz über die freiwillige Verwundetenpflege – ein ergiebiges und vor allem bisher vernachlässigtes Thema. In seinem eigenen Beitrag stellt der Herausgeber Ortwin Pelc die Kriegsleiden in Hamburg 1870/71 vor; tatsächlich greift dieser Titel aber viel zu kurz, denn der Autor entwickelt ein ganzes Panorama an Aspekten, das von der Diplomatie-

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geschichte über Militär-, Wirtschafts- bis zur Rezeptionsgeschichte des Krieges von 1870/71 mit Blick auf die Hansestadt reicht. Besonders lesenswert ist der anschließende Beitrag von Olaf Matthes über Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg in Hamburg. Ebenfalls mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen sich abschließend die Beiträge von Martin Rackwitz über die wirtschaftlichen und politischen Massenproteste in Kiel, die schließlich auch ursächlich für den Matrosenaufstand waren, sowie die Studie von Axel Attula über Mecklenburgs Feldgeistliche im Weltkrieg und ihre Wahrnehmung und Verarbeitung ihrer Kriegserlebnisse. Der vorliegende Sammelband stellt Beiträge höchst unterschiedlicher Struktur und Qualität zusammen, die allerdings in ihrer Gesamtheit durchaus dem hohen Anspruch genügen, ein bisher vernachlässigtes Thema der Militär- und auch der Sozialgeschichte in einem regionalen Kontext ins Licht des Interesses gerückt zu haben. Ortwin Pelc hat einen sehr lesenswerten Band der Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins herausgeben, der sich fruchtbarerweise eben nicht allein an engerer schleswig-holsteinischer Geschichte abarbeitet, sondern einem wirklich norddeutschen Ansatz verpflichtet ist. Dr. Jan Schlürmann Verwaltung des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Referatsleiter für Reden und Parlamentsgeschichte, Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 102–105 Annette Kehnel Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit 4. Aufl., München: Karl Blessing Verlag 2021, 488 S., sw. Abb., ISBN 978-3-89667-679-5, 24,00 EUR. Der Begriff der Nachhaltigkeit ist buchstäblich in aller Munde und dies umso mehr, seitdem sich die Fridays for Future-Bewegung unter dem Eindruck eines immer rasanteren Klimawandels nahezu weltweit für den verstärkten Klimaschutz starkmacht und Umweltkatastrophen, Extremwetterereignisse sowie Energiekrise die Tagesnachrichten laufend dominieren. Es war angesichts dessen eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann auch die Historikerzunft das Nachhaltigkeitsthema als ein historisches Untersuchungsfeld für sich entdecken würde. Das Jahrbuch für Regionalgeschichte ging hier bekanntlich wegweisend voran, indem sein 32. Jahrgang von 2014 (erschienen 2015) den Themenschwerpunkt Nachhaltigkeit mit insgesamt fünf Beiträgen präsentierte.1 Die betreffenden Aufsätze gingen wiederum aus einer Sektion hervor, die die Kieler Abteilung für Regionalgeschichte auf dem Mainzer Historikertag 2012 unter der Überschrift „Nachhaltigkeit im Energieverbrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit? Interdisziplinäre Zugänge zu einem aktuellen Thema“2 organisiert hatte. Nun hat Annette Kehnel das Thema auch für sich ent-

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deckt und 2021 zu einem Buch ausgearbeitet, das bereits in kurzer Zeit mehrfach aufgelegt und sogar mit dem NDR-Sachbuchpreis 2021 prämiert worden ist. Auch ihre zahlreichen Interviews, unter anderem mit dem aus Rundfunk und Fernsehen bekannten Eckart von Hirschhausen, und die lebhafte Resonanz, auf die ihr neues Buch in der Presse bis hin zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung stößt, zeigen, dass Kehnel den Nerv der Zeit getroffen und ein Thema historisch in Augenschein genommen hat, das gerade mehr als bloß en vogue ist und sein muss. Kehnel legt dabei ihr Kernanliegen offen dar: „Wir stehen an einer Zeitenwende. Die Begrenztheit der Ressourcen, das Ende der Konsumgesellschaft, wachsende Ungleichheit, Globalisierung, digitale Beschleunigung, Klimawandel und schließlich die zunehmende politische Verunsicherung der Menschen“ würden zeigen: „Es muss sich was ändern. Das ist allen klar“ (11). Doch die Konzepte der mittlerweile in die Jahre gekommenen Moderne haben Kehnel zufolge ausgedient. In bester Historikermanier möchte sie daher jetzt mit dem Blick zurück in die Geschichte dazu beitragen, dass die gegenwärtigen Menschen bei der Lösung der globalen Problem-Gemengelage aus ihrem „Käfig der Alternativlosigkeit“ (389) herauskommen und mit einem historisch angereicherten Vorstellungshorizont Handlungsspielräume für die Zukunft erlangen und ihre allwaltende Zukunftsangst überwinden können. Ihr konkretes Rezept lautet, darauf zu schauen, wie Verhältnisse in der (vornehmlich) mittelalterlichen Geschichte aussahen, die ein nachhaltiges Wirtschaften und Haushalten ermöglichten, was wiederum „Anregungen auf unserer Suche nach zukunftsfähigen Wirtschaftsmodellen“ vermitteln soll (18). Dementsprechend setzt ihre Darstellung nach einer Einleitung, in der kurz die aktuelle Ausgangssituation beschrieben und das Buch in seinem Aufbau vorgestellt wird (11–24), mit einem Kapitel zur Frage ein: „Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus?“ (25–46). Darin entlarvt Kehnel erstens die Fortschrittsgeschichte der Menschheit als eine klassische Meistererzählung, sie rückt zweitens die Vorstellung gerade, früher hätten die Menschen von morgens bis abends gearbeitet, und drittens liefert sie noch „ein paar Daten und Zahlen“ zum Europa des hohen und späten Mittelalters, damit die Leserschaft nachgehend Bescheid weiß, um welche Welt es eigentlich in dem Buch geht. Im zweiten Kapitel schreitet Kehnel dann medias in res mit Ausführungen zu Sharing communities im Mittelalter am Beispiel der Klöster, mittelalterlicher Gemeinwirtschaft bei den Haingeraiden im Elsass und der Südpfalz, der Bodenseefischerei oder der alpinen Fernweidewirtschaft sowie zuletzt des weit verbreiteten Instituts der Beginen (47–120). Mit Recycling ist das nächste Kapitel überschrieben, worin dann mittelalterliche Reparaturberufe und Secondhandmärkte, die Papierherstellung sowie die Wiederverwertung antiker Baumaterialien zur Sprache kommen (121–176). Mikrokredit lautet das Thema von Kapitel 4 (177–243): Mikrokreditbanken gab es in italienischen Städten, Kleinkredite allerorten mit Kerbhölzern als den „Bitcoins der Vormoderne“ (224), Viehverstellung als Kreditgeschäft, wie man unter anderem hier nachlesen kann. Von „Spenden und Stiften“ schreibt Kehnel dann im fünften Kapitel (245– 301). Sie stellt Spenden für Gemeinschaftsprojekte vor wie den Pont Saint-Bénézet in Avignon, umreißt die enorme Bedeutung des Ablasshandels unter anderem auch für die Kulturförderung im Mittelalter und führt den sozialen Wohnungsbau der Fugger in Augsburg näher vor Augen. Sechstens stellt Kehnel mit dem Blick auf Diogenes von Sinope, ausnahmsweise einem antiken Beispiel, Franz von Assisi und Petrus Johannis Olivi Verfechter von zukunftsträchtigen Minima-

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lismusmodellen der Vergangenheit vor (303–376). Im siebten und letzten Kapitel zieht sie dann nochmals für die Zukunft konzise Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit (377–403): Mit dem Wissen um Nachhaltigkeit in der Geschichte soll „statt ‚Nach mir die Sintflut‘ […] künftig die Devise ‚Nach mir die Zukunft‘“ gelten (400). Ein kurzer Dank (403 f.), die Anmerkungen zum Text (405–448), ein Abbildungsverzeichnis (449–453) sowie eine umfängliche Bibliografie (455–481) und eine Auflistung der benutzten Onlinequellen (483–487) beschließen den Band. Eine „kurze“ Geschichte der Nachhaltigkeit, wie Kehnel im Untertitel zu ihrem Buch und auf dessen Seite 401 schreibt, liefert sie mit insgesamt bald 500 Seiten bestimmt nicht, aber eine durchaus inspirierende. Kehnel macht der Historikerzunft durch ihr selbstbewusstes Pochen auf die wichtige Rolle der Geschichtsforschung bei der Lösung von Gegenwartsproblemen nebenbei auch weiter Mut bezüglich der Relevanz des Faches, ohne die Leistungen der Geschichtswissenschaft an irgendeiner Stelle ihres Werks zu stark zu strapazieren (zum Beispiel 387). Und sie gewinnt durch ihre flotte Schreibe im angedeutet zeitgemäßen, aber nie anbiedernd modernistischen Sprachduktus gewiss eine breite Leserschaft, worunter dann auch viele Leute gehören, die außerhalb des sprichwörtlichen akademischen Elfenbeinturms stehen und die sich bisher womöglich für alles andere als Geschichte interessierten. Eingefleischte Cineasten werden zum Beispiel zu diesem Buch greifen, weil sein Titel sie an einen wunderbaren Film erinnert und neugierig macht. Das ist die Realisierung der dritten akademischen Mission, wie man sie sich wünscht! Zum Sprachstil am Puls der Zeit kommt die lobenswert übersichtliche Gliederung des Textes: Jedes mit einem prägnanten Stichwort („Sharing“, „Recycling“ usw.) überschriebene Kapitel setzt sich aus genau drei Abschnitten zusammen. Schwarzweiße Abbildungen lockern den locker geschriebenen Text weiter auf. Selbiger ist vorbildlich redigiert. Was man freilich unbedingt monieren muss, ist das Fehlen jedweder theoretischen Reflexion zum Begriff Nachhaltigkeit: Kehnel übernimmt das durchaus auch verschriene ‚Plastikwort‘ und operiert mit ihm überaus virtuos, ohne sich an irgendeiner Stelle ihres Werks zu fragen, ob sie eigentlich über Nachhaltigkeit schreibt oder nicht doch über etwas Anderes. Sie ist damit natürlich bloß ein Kind unserer Zeit, in der der Gebrauch des Terminus selbst nachhaltig geworden ist. Was Kundige bei der Durchsicht der Bibliografie zudem irritieren wird, ist der Sachverhalt, dass Kehnel trotz ihrer im Dank aufgeführten zahlreichen Helferschar ganze Veröffentlichungscluster zum Thema in ihrer umfänglichen Bibliografie außen vor und unberücksichtigt gelassen hat. Einschlägige Publikationen etwa des Rezensenten zum Thema „Nachhaltigkeit“ nahm sie nicht zur Kenntnis.3 Nun könnte man entschuldigend einwerfen, dass Schleswig-Holstein so klein und unwichtig ist, dass seine Berücksichtigung in einer „kurzen“ Geschichte der Nachhaltigkeit nicht nottut (was allein schon deswegen nicht stimmt, weil Kehnel auch mit Beispielen aus Lübeck operiert). Doch auch das eingangs genannte 32. Jahrbuch für Regionalgeschichte mit seinem markanten Themenschwerpunkt zur Nachhaltigkeit hat sie sträflich ignoriert. Und weitere Beispiele ließen sich anführen. Da man der Verfasserin nun ein solches Maß an Professionalität unterstellen darf, um hinreichend für ein Thema bibliografieren zu können, entsteht zwangsläufig der schale Eindruck, dass hier die aus der ‚Ricola‘-Werbung bekannte Frage des „Wer hat’s erfunden?“ im Nebulösen gelassen werden sollte. Kehnel hat jedenfalls gewiss nicht als erste auf nachhaltiges Wirtschaften im Mittelalter hingewiesen, was in einem solchen Buch doch auch gesagt werden darf. Aber sie hat in jedem Fall

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ein lesenswertes Buch daraus gemacht, das auf seine Art einen schönen Beitrag zur laufenden historischen Nachhaltigkeitsdebatte leistet. Die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens („Schreiben musste ich dieses Buch, weil es mir ein Anliegen ist, die Fridays-for-Future-Generation mit Rückenwind aus der Vergangenheit zu unterstützen, im gemeinsamen Kampf für die Zukunft unseres wunderbaren Planeten“ [404]) nimmt man Kehnel sowieso ohne Zweifel ab. Nur sollte sie vor ihrem nächsten Buch doch erst einmal mehr im Jahrbuch für Regionalgeschichte lesen! 1 2

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Themenschwerpunkt Nachhaltigkeit. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 32 (2014), 45–120 mit Beiträgen von Oliver Auge, Frank Müller, Arne Paysen, Thomas Ludemann sowie Bernd Herrmann. Vgl. das betreffende Programm unter https://www.histsem.uni-kiel.de/de/das-institut-1/abtei lungen/regionalgeschichte-mit-schwerpunkt-schleswig-holstein/tagungen/fruehere-tagungen/ tagungen_alt/Nachhaltigkeit (letzter Zugriff: 14.03.2023) und den Sektionsbericht von Martin Göllnitz: HT 2012: Nachhaltigkeit im Energieverbrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit? Interdisziplinäre Zugänge zu einem aktuellen Thema. In: H-Soz-Kult, 18.10.2012, www.hsoz kult.de/conferencereport/id/fdkn-123040 (letzter Zugriff: 14.03.2023). Oliver Auge: Sustainability Prior to Carlowitz’s Sylvicultura? A Study based on cases from Schleswig-Holstein. In: Abigail P. Dowling, Richard Keyser (Hg.): Conservation’s Roots: Managing for Sustainability in Preindustrial Europe, 1100–1800, New York 2020, 282–303; Ders., Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit? Ansätze zu Ressourcenschutz und Ressourcenregeneration im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schleswig-Holstein. In: Günther Schulz, Reinhold Reith (Hg.): Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 233), Stuttgart 2015, 31–51; Ders., Nachhaltigkeit als historisches Thema: Das Beispiel Schleswig-Holstein in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Natur- und Landeskunde. Zeitschrift für SchleswigHolstein, Hamburg und Mecklenburg 120 (2013) 10–12, 141–149.

Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 105–108 Gabriele Viertel Schule und Verfassung. Die Reform des Chemnitzer Schulwesens bis zur Eröffnung der Bürgerschule 1831 im Kontext der Reform der Stadtverfassung Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2021, 402 S., ISBN 978-3-96023-398-5 (Hardcover), 978-3-96023-399-2 (Broschur), 44,00 bzw. 29,00 EUR. Die anzuzeigende Publikation ist als Promotionsschrift der Autorin von Reiner Groß, Gerhard Dohrn van Rossum und Andreas Pehnke betreut, an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz im Sommer 2019 eingereicht und am 1. September 2020 in einer Online-Veranstaltung verteidigt worden.

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Angesichts der Umstände, unter denen die Arbeit geschrieben wurde, sind zunächst einige Bemerkungen zur Entstehung der Abhandlung und zum beruflichen Werdegang der Verfasserin zweckvoll. Gabriele Viertel, geboren 1951, durchlief die Archivarsausbildung vom Archivlehrling über den Facharchivar mit Diplom bis zur Chemnitzer Stadtarchivdirektorin – stets in Anlehnung an die Berufsauffassung und die Verantwortungsethik von Rudolph Strauß. Das prägte ihre Haltung zur Quellenüberlieferung, zugleich aber auch ihre Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen der Einrichtung. So entstand ein beispielhaftes Arbeitsklima. Die berufliche Arbeit und ihre ständige Nähe zu Urkunden und Akten förderten die eigenen Forschungen, wie sie sich unter anderem in Untersuchungen zu Fabrikschulen (1998), Handwerkerschulen (2006), der Realschule (2007) oder einer Bürgerschule (2018), aber auch zu allgemeinen Themen der Chemnitzer Stadtgeschichte (etwa 2002, 2011, 2018) niederschlugen. Dass eine Frau sich gegen Ende ihrer Berufslaufbahn den Anforderungen einer Doktorarbeit stellte, verdient per se bereits Respekt, verlangt aber unter den oft unwägbaren (äußeren) Bedingungen der Pandemie-Zeit spezielle Hervorhebung. Sie wirkte daneben im Dienst des Chemnitzer Geschichtsvereins ebenso wie sie Aufgaben des Vereins deutscher Archivare wahrnahm, die weit über die Chemnitzer lokale Sphäre hinausreichten. Auf diese Weise erweiterten sich ihr archivisch-archivarischer Blick und ihre historischen Forschungskompetenzen. Auf dieser Basis entwarf sie das strategische Konzept ihrer Arbeit: Schulgeschichte – unter Zurückdrängung des traditionellen Kircheneinflusses – als ökonomischen, sozialen und verfassungspolitischen Bildungsbedarf zu verstehen und zu fixieren. Das entsprach in vollem Umfang den Notwendigkeiten, die die Industrialisierung der wachsenden ‚Arbeits-Stadt‘ unter den sächsischen Kommunen formulierte. Damit steht die Abhandlung mitten in der sächsischen Landesgeschichte. Zunächst gibt die Autorin einen Überblick über das Chemnitzer Schulwesen bis 1765, verweist auf den ersten Schulmeister (1399) und würdigt dann die Rolle des Humanisten Paulus Niavis. Mit der Reformation im albertinischen Sachsen beginnt eine ‚lutherisch‘ geprägte Lateinschulentwicklung (Adam Siber), an deren Seite Mädchen- und Knabenbildung stehen, die die Bedürfnisse nach unmittelbarer ‚Alltagsbildung‘ und ausgeprägter Anleitung zur Lebenspraxis abdeckten. Sogenannte Winkelschulen waren de facto Notbehelf, Konkurrenz der Stadtschulen, aber auch ‚verbotene‘ Einrichtungen. Mit Kapitel 4 setzt die Präsentation der Probleme der Industrialisierungsentwicklung und der entsprechenden Zusammenhänge und Verbindungen mit der Schulentwicklung ein. Dabei skizziert die Autorin die typischen Kennzeichen der Manufaktur- und Fabrikentwicklung, verweist auf die Rolle der Textilproduktion, des später nachfolgenden Textilmaschinenbaus und lässt die dabei führende Position der Stadt innerhalb Sachsens hervortreten. Dass dies tiefgreifende soziale Einschnitte zur Folge hatte, versteht sich. Proletarische Verelendung durch Ausbeutung. Diese Momente werden besonders drastisch durch Kinderarbeit in den Spinnereien charakterisiert. Die sozialökonomischen Vorgänge, die sich tiefgreifend auf die gesamte Bürgerschaft auswirkten, hätten aber deren aktive Mitwirkung verlangt. Dazu war jedoch die traditionelle Ratsverfassung unfähig, weil sie ihr Fundament in den „alten Eliten“ hatte, die nichts von ihrer unfruchtbar

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gewordenen Machtstellung preisgeben wollten. Von den „Unternehmer-Bürgern“ und den sächsischen Mittelbehörden (Kreis- und Amtshauptmannschaft) gingen um die Mitte der 1820er Jahre Impulse aus, die an die Dresdner Behörden auf eine „Verfassungsreform“ gerichtet waren. Damit tat sich Dresden schwer. Die Verfasserin sieht hier eine Konkurrenzsituation Dresden-LeipzigChemnitz, die erst im Zuge der revolutionären Unruhen 1830 partiell aufgelöst wurde und bereits 1831 zu einer neuen Chemnitzer Stadtverfassung führte, die die Stellung der Bürgerschaft (gewählte Kommunrepräsentanten, fördernde Rolle von Moritz August Richter) verfassungs- und finanzpolitisch stärkte. Damit spielte Chemnitz im Lande eine bislang von der Forschung ungenügend beachtete Vorreiterrolle, denn die sächsische Städteordnung folgte erst ein Jahr später. Auf dieser Folie versteht die Autorin zu Recht die Position der Schulentwicklung. Sie war in den Jahren um 1800 führungsstrukturell, baulich-finanziell, personalpolitisch und hinsichtlich des Bildungszuganges der Kinder und des Unterrichtsinhaltes weit hinter den stadtgesellschaftlichen Bedürfnissen zurückgeblieben. Die mannigfachen Bemühungen um Reform und „Reformierung“ des Schulbetriebes von Gottlieb Merkel (seit 1778 Chemnitzer Superintendent und damit neben dem Rat der Stadt oberste Schulbehörde) stießen auf Widerstände oder verliefen sich in Halbheiten, weil es an Partnern mangelte. Am drastischsten wird das wohl mit der Bemerkung der Autorin gekennzeichnet, dass noch um 1820 das Schulgeld unkontrolliert von den Lehrern eingesammelt wurde (365). Spannende Auseinandersetzungen boten die Jahre nach 1826 zwischen dem Verein für eine Bürgerschule und den kirchlichen „Obergremien“, die sich gegen das bürgerliche Mitspracherecht auf Inhalt und Gestaltung des Unterrichts ergaben. Die lange Jahre umkämpfte Bürgerschule wurde 1831 eröffnet und Naturkunde, Geographie/ moderne Sprachen, Rechnen/Geometrie und technisches Zeichnen wurden zu neuen Signalements, während  – neben Zwischenlösungen für den altsprachlichen Unterricht  – das Lyzeum 1835 geschlossen wurde. Wenn man diesen Prozess auf seine Grundlinien verkürzt, könnte man sagen: Es war der Sieg der neuen, zugkräftigen kapitalistischen und profitorientierten (und partiell demokratischen) Kräfte gegen die traditionelle Dominanz des kirchlichen Diktats auf die Schule. Frau Viertel hat – ein berufsbedingter Zuschnitt – einen erfreulich guten ‚Nerv‘ für Details. So erfährt der Leser, welche finanziellen Mittel zu unterschiedlichen Zeiten nötig waren, die Schule zu unterhalten, welchen sozialen Kategorien die Eltern der Schüler angehörten, welche Schulbücher benutzt/gebraucht wurden, welche Vorstellungen über die Klassenzimmerausstattungen existierten, wie die Stundentafel respektive die Fächerverteilung aussah, welche Lehrer welchen Unterricht erteilten und wie sie besoldet wurden etc. Dass die Autorin schließlich das Schulwesen anderer sächsischer Städte zum Vergleich aufführt (Schneeberg, Zwickau, Freiberg, Dresden, Leipzig, Meißen) dient, auch wenn es nur in kurzen Zügen geschieht, dem ‚sächsischen Blick‘. In einer abschließenden perspektivischen Orientierung verweist sie auf die Notwendigkeit der detaillierten Untersuchung der verschiedenen Schulformen der Stadt. Zwei Aspekte scheinen mir dabei vordergründig zu sein, die die Autorin zu Recht betont: Untersuchungen zur technischen Bildung und Mädchenbildung seit Beginn der frühen Neuzeit.

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Das obligatorische Literatur- und ein imposantes Quellenverzeichnis schließen die Arbeit ab. Ein Vor- beziehungsweise Nachsatzblatt (bearbeitet von Stephan Weingart), das die Chemnitzer Innenstadt um 1828 und die Lage der Schulgebäude zeigt, ergänzt das Werk. Prof. i. R. Dr. Helmut Bräuer Leipzig, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 108–109 Oliver Auge, Anke Scharrenberg (Hg.) Besonderes aus Ostholstein. Beiträge zur Geschichte der Region (Eutiner Forschungen, Sonderband), Husum: Husum Verlag, 2020, 211 S., Abb., ISBN 978-3-96717-016-0, 24,95 EUR. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Kreises Ostholstein veranstalteten die Eutiner Landesbibliothek und die Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2020 eine Vortragsreihe zur Geschichte der Region Ostholstein seit dem Frühmittelalter, deren Referate nun auch – mit weiterführenden Quellen- und Literaturhinweisen – schriftlich vorliegen. Ulrich Müller gibt mit seinem Beitrag „Die Slawen im östlichen Holstein“ (13–41) einen mit informativen Karten illustrierten Überblick zu den aktuellen Forschungen über die Wagrier, deren Einwanderung er spätestens in das 9. Jahrhundert datiert. Er geht auf die 150-jährige Forschungsgeschichte, die archäologischen Quellen, die schriftlichen Nachrichten und die Namenskunde ein, betrachtet Burgen, Städte, Seehandelsplätze und die ländlichen Siedlungen, den Hausbau, die Landwirtschaft, den Handel, Bestattungsformen, Religion sowie schließlich Mission und den Landesausbau im hohen Mittelalter. Katja Hillebrand untersucht kenntnisreich „Romanik und Gotik in Ostholstein. Die Kirchen und Klöster bis zur Reformation“ (43–63) vom ersten Kirchenbau im 10. Jahrhundert über die Rund- und Feldsteinkirchen des 12. Jahrhunderts bis zur Verbreitung der Gotik mit dem Backsteinbau seit dem 13. Jahrhundert und dessen engen Verbindungen nach Lübeck. Auf den letzten Kirchenneubau 1328 in Ahrensbök folgten im Spätmittelalter nur noch schmückende Ausbauten, wobei Fehmarn eine Sonderentwicklung verzeichnete. Anke Scharrenberg befasst sich in ihrem Aufsatz „Von der Reformation bis zum Ende des Alten Reichs. Eutin unter fürstbischöflicher Regierung“ (65–81) mit dem ungewöhnlichen Fortbestand des Bistums Lübeck als Fürstbistum vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und seiner Bedeutung für das Haus Schleswig-Holstein-Gottorf insbesondere dessen Ehepolitik. Jan Ocker spricht in seinem Beitrag „Güter, Gemarkungen und Getreide. Die Geschichte der Landwirtschaft in Ostholstein vom Mittelalter bis heute“ an und geht mit Hinweisen auf die Forschungslage auf die slawische und deutsche Wirtschaftsweise des Mittelalters, auf die Gutsherrschaft der Frühen Neuzeit, die Technisierung des 19. Jahrhunderts, das 20. Jahrhundert mit der Agrarkrise der 1920er Jahre, der Wirtschaft der NS-Zeit sowie die sich wandelnde Viehhaltung, den Getreide- und Feldfruchtan-

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bau nach 1945 und schließlich die Krisen (BSE, Vogelgrippe, Schweinepest) sowie Erfolge (Weizen- und Rapsanbau, Schweinemast) der letzten 20 Jahre ein. Mit seiner Betrachtung „Literatur in Ostholstein. Sechs Highlights aus neun Jahrhunderten“ (105–133) behandelt Axel E. Walter eine Auswahl von Autoren in der Region und deren Werke in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext, von Helmold von Bosau im 12. Jahrhundert über Johannes Stricker (1584), Johann Georg Pellicer (1674) bis zu Johann Heinrich Voss (1795). Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“ von 1882 spielt in Heiligenhafen, die Gruppe 47 traf sich 1952 in Niendorf und heute erscheinen mit regionalem Bezug unter anderem Krimis und historische Romane. Frank Baudach untersucht „Die Anfänge des Tourismus in Ostholstein“ (135–152), der mit rund 30 Millionen Touristen bei nur 200.000 Einwohnern im Kreis im Jahr 2017 eine beträchtliche wirtschaftliche Rolle spielt. Voraussetzungen für Tourismus waren die beginnende Naturbegeisterung im 18. Jahrhundert für die ‚Holsteinische Schweiz‘, dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erschließung der Region durch den Nahverkehr. Der Seebädertourismus an der Lübecker Bucht folgte nach dem Vorbild von Travemünde von 1802 mit ersten Badegästen in Haffkrug 1810 und in Scharbeutz in den 1830er Jahren. Tomke Jordan untersucht anhand bemerkenswerter Besonderheiten „Nationalsozialismus in Ostholstein. Schlaglichter am Beispiel Eutins“ (153–170). Der heutige Kreis bestand zu Beginn der NS-Herrschaft aus dem Kreis Oldenburg in Holstein und dem Landesteil Lübeck des Freistaates Oldenburg, der durch das Groß-Hamburg-Gesetz 1937 zum Kreis Eutin wurde. Interessant ist das unterschiedliche Wahlverhalten in beiden politischen Einheiten. Im oldenburgischen Landesteil Lübeck kamen bereits im Mai 1932 Nationalsozialisten an die Macht und in der NSHochburg Eutin wurde in propagandistischer Aneignung des historischen Vorbildes ein „Eutiner Dichterkreis“ gegründet. Zu den tragischen Ereignissen am Kriegsende in der Region gehören die Versenkung der Cap Arcona und der Thielbek mit über 7.000 Gefangenen an Bord. Eine unmittelbare Folge der NS-Herrschaft waren „Geflüchtete in Ostholstein nach dem Zweiten Weltkrieg“ (171–182), mit deren Unterbringung, Versorgung und Arbeitssituation sich Karoline Liebler befasst. Laura Potzuweit geht auf ein regionales Phänomen der späten 1950er bis 1990er Jahre ein: „Der (Zeit-)Geist von Malente. Werden und Rezeption eines Fußballmythos“ (183–196). Sie kann feststellen, dass es diesen Mythos des Trainingsortes der Fußball-Nationalmannschaft bereits seit den späten 1970er Jahren gab und er mitunter bis heute noch präsent ist. Abschließend untersucht Antonia Grage „Die Landräte der Kreise Eutin und Oldenburg im Spiegel der schleswigholsteinischen Landratsgeschichte zwischen 1950 und 1970“ (197–209). Sie recherchierte deren unterschiedliche Biografien und vergleicht diese vier wichtigen Verwaltungsbeamten mit den 30 zeitgleichen Landräten in anderen Kreisen des Bundeslandes. Mit jedem der Beiträge dieses Bandes werden interessante Ein- beziehungsweise Überblicke zu einem Thema der Geschichte Ostholsteins geboten, Besonderheiten der Region herausgestellt oder auch mit anderen Regionen Vergleiche ermöglicht. So bieten sich informative neue Erkenntnisse wie auch anregende Fragen weit über den Anlass dieser Vortragsreihe hinaus. Dr. Ortwin Pelc Hamburg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 110–112 Marita Krauss, Stefan Lindl (Hg.) Landschaft. Umwelt. Identität. Die Region Bayerisch-Schwaben im Vergleich München: Volk Verlag, 2021, 288 S., 22 sw. und 53 farb. Abb., ISBN 978-3-86222-390-9, 29,00 EUR. „Landschaft“ hält man für einen geographischen Begriff, „Umwelt“ für einen aus der Ökologie. Aber das ist nicht korrekt. Landschaft war vielmehr im 18. Jahrhundert von der Idee eines Malers geprägt, die dieser auf eine Leinwand projizierte, und Umwelt kann genauso ein soziologischer Begriff sein. Wenn sich Wissenschaftler aus den Gebieten der Regional- oder Landesgeschichte mit diesen Begriffen befassen, mag das für manchen ungewöhnlich sein. Es geht dann aber auch um die ursprünglicheren Bedeutungen der Begriffe, die keineswegs naturwissenschaftlich festgelegt, sondern aus der Perspektive von Menschen bestimmt sind. Die Region Bayerisch-Schwaben hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders rasch entwickelt, wobei sich auch die Perspektive der Menschen verändern musste. Der Bau moderner Verkehrswege führte zu immer deutlicheren Landschaftsveränderungen, wie Simone Eitzenberger am spektakulären Beispiel der Bahn von Augsburg nach Lindau darstellt. Aber man musste um die Einbindung in Verkehrsnetze kämpfen und viele Verkehrswege entstanden erst in jüngster Zeit (Marita Krauss). Bei der Betrachtung zum Bau eines Gewerbeparks in Biessenhofen fragt Brigitte Salenz-Hetzer, ob dadurch beeinträchtigte Sichtbeziehungen zwischen Kapellen höher zu bewerten sind als Arbeitsplätze, die auf dem Land angesiedelt wurden. Die Frage kann wohl nicht beantwortet werden, aber es ist wichtig, sie zu stellen. Es ist nicht auszuschließen, dass man eine Industrielandschaft ebenso schätzen lernt wie diejenige mit Kapellen und Löwenzahn, der auch nicht ‚immer da‘ war, sondern erst die Wiesen massenhaft gelb färbte, als man dank Düngung schon im Mai mähen konnte. Da fand dann fast nur der Löwenzahn genügend Zeit zum Wachstum. Die dabei angerissene Frage der Identität greift Stefan Lindl auf, der das Leitbild der „Authentischen Stadt“ formuliert: „Durch den Erhalt von Baubestand ist Klimaschutz gewährleistet, aber es entsteht gleichzeitig ein einzigartiger, geschichtsträchtiger, nicht reproduzierbarer urbaner Raum, den wir authentisch nennen könnten“ (111). Daraus kann sich ein Zukunftsmodell einer Stadtentwicklung ableiten, die leider im Falle des ohne jeglichen Bezug zur ursprünglichen Bebauung konzipierten Kaiserviertels in Augsburg nicht beachtet wurde (Stefanie Kinz). Andere Identitäten wurden neu geschaffen, die vielen für die Energiegewinnung genutzten Landschaften Schwabens (Stephan Bosch) prägen sie ebenso wie die für die Olympischen Spiele 1972 geschaffene künstliche Wildwasserlandschaft am Lech (Franca Tanzer), heute Teile des UNESCO-Welterbes „Augsburger Wassersystem“. Magdalena Schmid stellt die Landschaftspflegeverbände vor, in denen Landnutzer und Landschützer zusammengeführt werden – ein in Bayern erfolgreiches Modell, in dem immer beachtet werden muss: „der Mensch [ist] als Landnutzer in der jeweiligen Landschaft verankert und wirkt als sie konstituierendes Element“ (60). Landschaft ist also keineswegs mit Natur gleichzusetzen. Sie wird aber immer wieder neu bewertet. Flora Dittmann zeigt dies an einer Staustufe mit Kraft-

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werk und Poldern an der Donau, die vor Überflutungen schützen sollen. Der Stausee wurde zu einem Aufenthaltsort zahlreicher Vogelarten, was begrüßt wurde, aber er versandete auch, was zum Problem wurde. Auch die Polder stießen auf Ablehnung. Immer wieder bildet sich ein neues Miteinander von Menschen. In Schwaben wurden sie an eine zentrale Trinkwasserversorgung angehängt. Damit und mit einer Vergleichsstudie aus der Bukowina befasste sich Stefanie Schmid: Da werden Gegensätze deutlich. Am Brunnen treffen sich die Menschen, aber das Miteinander funktioniert nur unmerklich in der Versorgung durch Leitungen, die erheblich besseres Wasser liefern. Ähnliche Unterschiede gibt es beim Müll (Benedikt Schäferling). In Schwaben wird er zentral eingesammelt und entsorgt; in der Bukowina stößt man auf wilde Müllkippen. Aber wohin die Entwicklung führt, ist klar, Kommunalpolitiker aus Rumänien informierten sich dazu im Augsburger Umland und berichten in Interviews über ihre Erfahrungen. Müll wurde bei Augsburg sogar zur Formung einer neuen Landschaft zusammengetragen (Nadja Hendriks). Mit interessantem Fotomaterial ist dokumentiert, wie eine Kiesgrube sich zu einem Müllberg wandelte. Zu einem besonderen Abfallproblem im weiteren Sinne wurde das Waldsterben, mit dem sich Sarah Herbst befasst. In Augsburg war das besonders brisant, ist die Stadt doch der zweitgrößte kommunale Waldbesitzer in Deutschland. Besonders früh kam es dort zu Aktionen gegen die drohende Vernichtung der Wälder. Im letzten Teil des Buches finden sich einige Beiträge aus Gebieten östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Da besteht das Problem der verlorenen Identität von Landschaft in besonderer Weise. Matěj Spurný stellt das sehr eindrückliche Beispiel der Zerstörung und des Neubaus der nordböhmischen Stadt Most vor. Die Stadt verlor jeglichen Bezug zu ihrer Vergangenheit, auch wenn die spätgotische Kirche Mariä Himmelfahrt versetzt und so bewahrt wurde. Aber die landschaftliche Einbindung ging doch verloren, denn die Kirche steht nun nicht mehr mitten in der Stadt. Der Band erschien wenige Monate vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022. Er enthält einen unmittelbar davor geschriebenen, facettenreichen Beitrag über den Landschaftswandel in der Region um Czernowitz von Andrii Rymlianskyi. In dieser Region bietet sich nun ein weites Feld für Anwendungen von Erkenntnissen aus dem interessanten Band. Hoffentlich kommt es dazu. An der Universität Augsburg könnte ein Schwerpunkt zum Thema Landschaft gebildet werden, denn gerade sind auch sehr interessante geographische Darstellungen über Bayerisch Schwaben erschienen, unter anderem zwei von Thomas Schneider edierte vorzügliche Exkursionsführer in der Reihe Geographica Augustana1 und der prachtvolle Band Bedeutsame Kulturlandschaften in Bayerisch Schwaben von Hans Frei und Fritz Stettmayer.2 Die Bücher ergänzen sich aufs Beste und regen dazu an, zwischen den Zeilen weiterzulesen. Landschaft braucht Blicke aus vielen Richtungen. Dabei ist angestrebte Objektivität nur eine Möglichkeit, zum Verständnis von Landschaft zu gelangen. Der andere Blick geht von immer wieder anderen Standpunkten aus. Landschaft ist immer wieder anders, sie entsteht immer wieder neu im Kontakt mit den Menschen, die in ihr leben. Das ist der zentrale Eindruck, den man nach der Lektüre des Bandes „Landschaft. Umwelt. Identität“ mitnimmt.

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Rezensionen Thomas Schneider (Hg.): Geographische Exkursionen im näheren und weiteren Umland von Augsburg (Geographica Augustana 34), Augsburg 2022; Ders. (Hg.): Geographische Exkursionen in Augsburg und weiterer Umgebung (Geographica Augustana 30), Augsburg 2019. Hans Frei, Fritz Stettmayer (Hg.): Bedeutsame Kulturlandschaften in Bayerisch Schwaben. Naturraum – Kulturerbe – Schutzgut, Weißenhorn 2021.

Prof. em. Dr. Hansjörg Küster Hannover, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 112–114 Nina Gallion, Martin Göllnitz, Frederieke Maria Schnack (Hg.) Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs (zeit + geschichte 53), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, 552 S., 25 sw. Abb., 4 Tab., ISBN 978-3-525-31726-6, 70,00 EUR. Der vorliegende Band sondiert Potentiale des historischen Raumbezugs, wie ihn die deutschsprachige Regionalgeschichte in theoretisch zunehmend reifer und perspektivisch gesicherter Manier herstellt. Die gebotene Sondierung ist sehr ertragreich und kann in der Breite und Tiefe der hier erörterten konzeptionellen, methodischen und perspektivischen Fragen, aber auch durch die Qualität und Substanz der Fallstudien als Leistungsschau einer zeitgemäßen Regionalgeschichte gelten. Der Einleitung aus der Feder der Herausgeber*innen folgen 21 Beiträge, die fünf Kapiteln zugeordnet sind: Potentiale einer Perspektive des Raums, Quellen der Regionalgeschichte, Räume der Regionalgeschichte, Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte, Akteure in der Regionalgeschichte. Diese Gliederung überzeugt, geleitet sie die Lesenden doch vom Allgemeinen der – freilich nie abstrakt geführten – konzeptionellen und methodischen Reflexion hin zu der Konkretion der Fallstudien. Wie stets bei derlei Sammelwerken ließe sich die Zuordnung des einen oder anderen Beitrages zum einen oder anderen Kapitel diskutieren, was angesichts der Mehrdimensionalität der erzählten Geschichten kaum verwundern wird. Auch der geografische Schwerpunkt des Bandes, der hauptsächlich norddeutsche Regionen in den Blick nimmt, muss nicht überraschen, ist das Werk doch Oliver Auge gewidmet, der seine Kieler Wirkungsstätte zum ebenso aktiven wie innovativen Zentrum für regionalhistorische Forschung gemacht hat. Wollte man im thematischen Repertoire des Bandes einen blinden Fleck finden, so wäre es einzig das Fehlen der Kategorie Umwelt. Längst als „geschichtswissenschaftliche Grundkategorie“ (Freytag/Piereth) unstrittig, steht Umweltgeschichte zur Regionalgeschichte in einem gewachsenen Nahverhältnis, das auch im interdisziplinären Kieler Umfeld kultiviert wird. Die Publikation kommt, so die Diagnose der Herausgeber*innen, zu einer Zeit, in der „sich der Pulverdampf der Grabenkämpfe“ (14) zwischen Landes- und Regionalgeschichte längst verzogen habe und viele Differenzen über 30 Jahre hinweg überbrückt worden seien. Auch „genuine

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Landeshistoriker*innen“ bedienten sich nunmehr einer regionalhistorischen Methodik; gleichwohl warnen die Autor*innen davor, „die Konvergenz zwischen klassischer Landes- und moderner Regionalgeschichte“ überzubetonen (15). Und so gelingt den Herausgeber*innen zweierlei: eine klare konzeptionelle Positionierung in der Regionalgeschichte bei gleichzeitiger Offenheit für klassisch landeshistorisch agierende Beiträge. Epochal reichen die Fallstudien vom Hochmittelalter bis zur Zeitgeschichte. Die Fülle des in dem Band Gebotenen zu referieren, würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Einige Eindrücke entlang des Gelesenen seien aber erlaubt. Vor allem für die ersten beiden Kapitel zu Potentialen und Quellen gilt, dass, wer immer eine einführende Lehrveranstaltung in das regionalhistorische Arbeiten vorbereitet, hier eine Fundgrube anschaulicher, teils einführender, teils vertiefender Texte für ein guided reading im Seminar finden wird. Dies gilt zum Beispiel für Martin Göllnitz‘ Skizze von Desideraten und Potentialen einer Polizeigeschichte als kritischer Zeitgeschichte, für die er überzeugend die Produktivität einer regionalen Perspektive erläutert. Dies gilt im selben Maße für Karen Bruhn, Thorge Petersen und Swantje Piotrowski, die sich mit Methoden, Formaten, Potentialen und Ansprüchen der Digital Humanities in der Regionalgeschichte beschäftigen. Sie tun dies nüchtern und präzise, mit hohem Konkretionsgrad und jenseits der sattsam bekannten Extreme – Digital Humanities als diffuser Topos unreflektierter Heilsversprechen versus strukturkonservative Verweigerung à la „Ich nutze meinen Computer nur als Schreibmaschine“. In sehr instruktiver Weise setzen sich die Beiträge des zweiten Hauptkapitels mit den Quellen und der Quellenarbeit der Regionalgeschichte auseinander. So bietet der Beitrag Jelena Steigerwalds einen sehr guten archivkundlichen Aufschlag für (regional-)historisch Forschende als Nutzer*innen. Sie skizziert die föderale Struktur der deutschen Archivlandschaft, Ordnungsprinzipien im historischen Wandel sowie die Implikationen der Digitalisierung für Archiv und Forschung. Sie betont den Einfluss der archivarischen Praxis und der Archivar*innen als Expertengruppe auf die Bedingungen und Ergebnisse historischer Forschung. Die Studien des Kapitels führen – auch dies mit hohem Lehrwert für Studierende – vor, wie präzise Autopsie verschiedener Quellentypen und deren kritische Bearbeitung zu innovativen Ergebnissen führen kann. So können manche in der regionalhistorischen Forschung unkritisch transportierte Mythen dekonstruiert werden (Beiträge Volquartz, Magnussen). Auch das spezifisch regionalhistoriografische Potential bestimmter Quellentypen wird ausgelotet, so geschehen zum Beispiel durch Marvin Groth am Beispiel von Entnazifizierungsakten der britischen Besatzungszone und hier konkret der Überlieferung zur Zulassungsprozedur von Studierenden an den Universitäten von Kiel und Hamburg. Groth schlägt eine statistisch-quantifizierende Methode als Lückenschluss für die mit qualitativen Zugängen nicht hinreichend auszuleuchtenden Sachverhalte vor. Auch Julia Liedtke präsentiert mit dem retrospektiven Feldtagebuch eines Soldaten aus Dithmarschen im Ersten Weltkrieg eine sehr aussagestarke Quelle. Einzig bleibt in ihrem Beitrag etwas im Dunklen, welchen Einfluss die regionale Herkunft des Protagonisten konkret auf sein Kriegserleben hatte. Dem Band gelingt es immer wieder, Aha-Momente zu erzeugen, so etwa, wenn im Kapitel über Räume in der Regionalgeschichte Jann-Thorge Thöming das Potential einer regionalisierten Perspektive auf die Geschichte der deutschen Teilung herausarbeitet. Er untersucht die schles-

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wig-holsteinischen Grenzübergänge als Aktionsfeld der DDR-Staatssicherheit. Im selben Kapitel handelt der Beitrag von Caroline Elisabeth Weber von der quasi-Enträumlichung eines nach Kriegszerstörung aufgelassenen Kieler Friedhofes. Einige Grabsteine des im Zweiten Weltkrieg zerstörten St. Jürgen-Friedhofs wurden in ein Areal des Parkfriedhofes Eichhof transloziert und sind in diesem neuen Kontext als Palimpsest im Grunde kaum mehr lesbar. Ein universitäres Lehrprojekt hat diese Lesbarkeit mit stadthistorischen und biografischen Recherchen sowie der Erarbeitung von Informationsmaterial wiederhergestellt und so im besten Sinne einen Beitrag zur Public History der Stadt geleistet. Im vierten Kapitel werden, inspiriert vom historiografischen Zugang Oliver Auges, Handlungsspielräume verschiedener individueller und kollektiver Akteur*innen ausgelotet. Wie schon erwähnt, bleiben Polyvalenzen hier nicht aus, etwa wenn Knut-Hinrik Kollex die Bedeutung der räumlichen Dimension für die Geschicke der Kieler Matrosenbewegung und der Freikorpsbewegung zwischen 1918 und 1920 herausarbeitet oder wenn Laura Potzuweit jenseits der Analyse von Handlungsspielräumen ein empathisches biografisches Portrait des verwitweten Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg (1755–1829) vorlegt. An anderer Stelle, im fünften, den Akteuren in der Regionalgeschichte gewidmeten Kapitel, arbeitet Nina Gallions Skizze der Geschicke Konrad Breunings als wichtigem politischem Akteur in der Tübinger Stadtelite des 16. Jahrhunderts gerade die strukturellen Rahmenbedingungen einer Territorialpolitik in konflikthaft zugespitzter Zeit heraus und betont das regionalhistorische Potential einer Sozialgeschichte der Stadt. Der gut lektorierte und mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie mit Registern für Orte und Personen abgerundete Band bietet auf rund 520 Seiten ein beeindruckendes Panorama aktueller regionalhistorischer Forschung und Debatte. Er besitzt – wie schon eingangs vermerkt – großes Potential für den Einsatz in der universitären Lehre und leistet für die Arbeit am wissenschaftlichen Selbstverständnis der Subdisziplin einen wichtigen Beitrag. Prof. Dr. Martin Knoll Paris Lodron Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, Rudolfskai 42, 5020 Salzburg, Österreich, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 114–117 Armin Schlechter (Hg.) Gesammelt – zerstreut – bewahrt? Klosterbibliotheken im deutschsprachigen Südwesten (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 226), Stuttgart: Kohlhammer, 2021, 307 S., 10 farb. Abb., zahlreiche sw. Abb., ISBN 978-3-17-037425-6, 28,00 EUR. Als Ergebnis der Tagung „Gesammelt – geplündert – gerettet. Zur Geschichte der Klosterbibliotheken in Südwestdeutschland“ im Jahr 2015 erschien nun der Sammelband. Ein Aufsatz wurde

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nachträglich ergänzt. Nach Vorwort und Einleitung des Herausgebers widmen sich sechs Beiträge in einem ersten, übergreifenden Teil verschiedenen Aspekten der Klosterbibliotheken. Behandelt werden die mittelalterliche Schriftproduktion, die frühneuzeitlichen Sammlungsstrategien, die deutschen Handschriften, die Inkunabeln sowie der Umgang mit Klosterbeständen in den evangelischen Reichsstädten und in Baden. In weiteren sechs Beiträgen des zweiten, speziellen Teils werden einzelne Bibliotheken behandelt: Wertheim, Neustadt am Main, Bronnbach, Triefenstein und Grünau, St. Georgen, Mergentheim, Weingarten, Irsee und St. Gallen. Beigegeben sind ein Verzeichnis der Autoren sowie ein Orts- und Personenregister (12 Seiten). Ausschließlich mit mittelalterlichen Beständen befassen sich die ersten drei Beiträge. Die Leitfrage richtet sich nach der Veränderung von Schriftlichkeit innerhalb der jeweils definierten Grenzen von Zeit und Raum. Peter Rückert betrachtet die Entwicklung hoch- und spätmittelalterlicher Schriftproduktion in den südwestdeutschen Klöstern der Benediktiner und Zisterzienser mit ihren Auf- und Abschwüngen sowie die Auswirkungen ihres Anwachsens im Zeitalter der Klosterreformen auf Bibliotheken und Archive, etwa die Errichtung neuer Bibliotheksgebäude, das Betreiben von Buchbindewerkstätten oder das Aufkommen neuer Formen pragmatischer Schriftlichkeit. Wenn auch die Ergebnisse nicht neu sind, so ist es doch die Auswahl der Quellen, an denen sie exemplarisch vorgeführt werden. Besonders die Aufzeichnungen des wandernden Schreiblehrers Leonhard Wagner verdienen Beachtung. Den deutschen Handschriften aus dem Südwesten vom 8. bis ins 14. Jahrhundert widmet sich Jürgen Wolf. Das zunächst nur aus der Mitüberlieferung bestehende kleine Corpus althochdeutscher Literatur aus St. Gallen und seinem Umfeld wächst im Lauf der Zeit heran bis zur seriellen Herstellung eigenständiger Gebrauchshandschriften in Klosterskriptorien, deren genaue Entstehungsorte sich jedoch nur vermuten lassen. Wolf führt beispielhaft eine Reihe von Handschriften auf, bei denen die mediävistische Forschung ganz unterschiedlich geartete Hinweise zusammengetragen hat, um der primären Provenienz näher zu kommen. Doch kann es sich dabei – so Wolf – nur um einen Indizienprozess handeln. Erkenntnisse über Inkunabelsammlungen aus Klosterbibliotheken in Baden und der Pfalz liefert Armin Schlechter, und damit gelingt ihm ein guter Überblick über Verlust und Bestand besonders in den heutigen Landes- und Universitätsbibliotheken. Keineswegs alle Klöster legten mit dem Aufkommen des Buchdrucks derartige Sammlungen an, manche erwarben erst in der frühen Neuzeit entsprechende Werke, teils um sie vor der Zerstörung andernorts zu bewahren, teils aus bibliophilem Eifer oder tatsächlichem Leseinteresse und zum eigenen Bibliotheksaufbau. Handschriften und Inkunabeln wird in dem Band ein hoher Stellenwert als besonders wertvolles Sammlungsgut beigemessen, die Darstellung der neuzeitlichen Bibliotheksgeschichte dient oft, aber nicht ausschließlich als Rahmen für die Überlieferung von älterem Schriftgut. In der Einleitung werden die Klosterbibliotheken als Tradierungsorte bezeichnet. Magda Fischer stellt hingegen die neuzeitlichen Bibliotheken anhand von Bücherverzeichnissen in den Mittelpunkt. Sie differenziert die Verzeichnisüberlieferung nach ihrer Herkunft aus Frauen- und Männerklöstern und hier noch einmal nach den Orden („Schul- und Seelsorgeorden“ und „gelehrte Orden“) und gibt kursorisch Auskunft über Umfang, Profil, Anschaffungsbefugnis, Ordnung, Erschließung, Nutzung und schließlich die heutige Überlieferungssituation. Die Bibliotheksgrößen divergier-

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ten stark, bei den Frauen zwischen weniger als hundert und einzelnen Einrichtungen mit über 1000 Bänden, bei den Männern waren es in der Spitze 50–60.000 Bände. Die Literaturauswahl oblag ausschließlich dem Abt beziehungsweise den betreuenden Männergemeinschaften. Weit war auch das inhaltliche Spektrum von mehrheitlich erbaulichen Schriften bei den Frauen über Predigt- und Seelsorgeliteratur, die in den entsprechenden Orden Schwerpunkte bilden konnten, bis hin zur universalen Gelehrtensammlung. Die beiden folgenden Aufsätze thematisieren die Umwälzungen nach der Reformation zum einen und der Säkularisation zum anderen. Infolge der unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtung der Territorien rangierten die Klosterbibliotheken zwischen Auflösung und Fortbestand. Christine Sauer stellt dies für die protestantischen Gebiete dar. Den Aushandlungsprozess zur Weiternutzung der Bestände aus säkularisierten Klöstern in Baden beobachtet Christoph Schmider anhand zweier Beispiele aus Konstanz und Freiburg. Der zweite Teil verschreibt sich der Rekonstruktion einzelner Bestände. Methodische Reflexionen oder neue Forschungsperspektiven sind dabei nicht intendiert. Es geht vielmehr darum, Ergebnisse der Auswertung historischer Kataloge und archivalischer Quellen sowie der Prove­ nienzermittlung durch Exemplarerschließung und der Handschriftenkatalogisierung zu präsentieren. Drei Beiträge seien aufgrund der unterschiedlichen Hauptquellen (Kataloge, Handschriften, Drucke ab 1501) näher vorgestellt. Udo Wennemuth gründet seine Abhandlung zur Genese und Bestandsentwicklung der Stiftsbibliothek Wertheim auf eine 1984 erschienene Dissertation von Wilhelm Stoll,1 setzt aber eigene Akzente. Anhand mehrerer Verzeichnisse besonders aus dem 16. Jahrhundert werden Zuwächse und Verluste nachgezeichnet sowie auf den heutigen Erhaltungsstand projiziert. Die durch die Stiftung eines Theologieprofessors an die Pfarrkirche Wertheim 1448 entstandene mittelalterliche Handschriftensammlung wandelte ihre Ausrichtung durch weitere Legate zu einer evangelischhumanistischen Bibliothek mit gedruckter Literatur. 1561 erfolgte die Übernahme von 155 Bänden aus der aufgelösten Kartause Grünau, wovon 58 erhalten sind. Insgesamt haben jedoch nur wenige Handschriften der ursprünglichen Stiftung sowie aus der Kartause überdauert. Mit der wechselvollen Bibliotheksgeschichte des Benediktinerklosters St. Georgen im Schwarzwald, die einem kontinuierlichen Sammlungsaufbau entgegenstand, befasst sich Annika Stello. Im Zuge der Aufhebung des Klosters konnten immerhin noch 112 Handschriften, die im 17. Jahrhundert aus ganz unterschiedlichen Provenienzen zusammengetragen wurden, in die Badische Landesbibliothek nach Karlsruhe überführt werden. Sie werden derzeit digitalisiert und erschlossen. Kenntnisreich und detailliert schildert Helmut Zäh die Rekonstruktion und Erforschung des Buchbestandes von Kloster Irsee in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Er wertet Provenienzmerkmale aus, ermittelt Vorbesitzer und stellt die verschiedenen Wege von Erwerb und Verlust zwischen Bauernkrieg und Aufhebung des Klosters dar. 1

Wilhelm Stoll: Geschichte der Kirchenbibliothek Wertheim (Mainfränkische Studien 31), Würzburg 1984.

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Dr. Kerstin Schnabel Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Lessingplatz 1, 38304 Wolfenbüttel, Deutschland, [email protected]

2. Mittelalter Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 117–119 Thomas Zotz, Andreas Schmauder, Johannes Kuber (Hg.) Von den Welfen zu den Staufern. Der Tod Welfs VII. 1167 und die Grundlegung Oberschwabens im Mittelalter (Oberschwaben, 4), Stuttgart: Kohlhammer, 2020, 304 S., 59 Abb., 1 Tab. und 7 Karten, ISBN 978-3-17-037334-1, 29,00 EUR. Dynastische Einschnitte sind bekanntlich regelhaft auch politische Zäsuren. Im Falle des Todes des letzten Welfen Welf VII. im Jahr 1167 gilt das ganz besonders, ging sein Erbe in dem Bereich, den man Oberschwaben zu nennen sich angewöhnte, doch an die langjährigen territorialen Konkurrenten, die Familie der Staufer. Der vorliegende Sammelband, der auf eine 2017 abgehaltene Tagung in Weingarten zurückgeht, nimmt sich dieses Einschnittes an. Er setzt – wie durch die neuere Forschung seit Hechberger 1996 nahegelegt wurde, für den übrigens Welf VII. kein Gegenstand war – endlich nicht mehr einen vermeintlichen staufisch-welfischen Gegensatz als Kampf zwischen Familien voraus, sondern die Beiträge gehen von schlichten, wenngleich tiefgreifenden Interessengegensätzen aus und analysieren sie. Das ist eine vernünftige Entscheidung und sie kann auf einer Reihe Vorarbeiten aufbauen, die Andreas Schmauder und Thomas Zotz in ihrer Einführung charakterisieren (9–14). Matthias Becher stellt in sicherem biografischem Zugriff Welf VII. vor (15–34), dies ausgehend von der Historia Welforum als „eine[m] einzigartige[n] Zeugnis einer historischen Umbruchsituation“ (34). Dann wenden sich die Beiträge den staufischen Aktivitäten in Oberschwaben zu. Zotz untersucht Barbarossas Hausmachtpolitik (35–52), Heinz Krieg weniger, was der Titel nahelegt, den „Übergang des süddeutschen Welfenerbes an die Staufer“, als vielmehr – gemäß dem Untertitel – „Die Präsenz der neuen Herren vor Ort“ (53–74). Wolfgang Stürner liefert einen magistralen Überblick über „Kaiser Friedrich II. und Oberschwaben“ (75–90), aus dem erhellt, dass jenseits regelmäßiger Aufenthalte in diesem Raum und einer aktiven Städtepolitik wenig auszumachen ist. Harald Derschka und Karel Hruza nehmen sich zwei der bekanntesten Ministerialenfamilien vor, die in unterschiedlich nahem Verhältnis zu den Staufern standen: die von Tanne/Waldburg/Winterstetten (Derschka, 91–108) und die von Wallsee (Hruza, 109–136). Die Städtepolitik der Staufer bildet einen zweiten, geschlossenen Block des Bandes: Nina Gallion gibt einen gelungenen Überblick, der stark auf die wirtschaftliche Bedeutung der Städ-

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te ausgerichtet ist (137–156), knapp behandelt Andreas Schmauder Ravensburg (157–166), Rolf Kiessling nimmt sich Memmingen vor (167–182), dabei auf eigene Vorarbeiten zurückgreifend. Drei Aufsätze zur Welfenmemoria, einem ergiebigen und oftmals behandelten Themenkomplex, folgen: Hans Ulrich Rudolf geht den Spuren der Welfen in der Weingartener Memoria nach (183–213) und liefert besonders für das Spätmittelalter seit 1489 und die Zeit bis in das 19. Jahrhundert hinein instruktive Beispiele. Johannes Waldschütz untersucht die Welfenmemoria in Weißenau (215–236) und bietet dabei eine saubere Analyse der klösterlichen Acta sancti Petri in Augia aus dem 13. Jahrhundert. Franz Fuchs sucht in Steingaden und Rottenbuch (237–248) und hat sich mit einer ausgesprochen lückenhaften Überlieferung zu beschäftigen, die überwiegend nachmittelalterlich ist. Schließlich gehen zwei Beiträge ausgewiesener Sachkenner über den Rahmen der Tagung thematisch deutlich hinaus: Paul-Joachim Heinig fragt nach dem Verhältnis Oberschwabens zu den spätmittelalterlichen Herrschern, in Sonderheit zu Friedrich III. (249–274), und Franz Quarthal behandelt die Landvogtei Oberschwaben in der frühen Neuzeit (275–285). Der Band ist, was ausdrücklich hervorgehoben sei, durch hervorragende Karten von Axel Bengsch und durch eine Reihe von ebenso gut gelungenen und sorgsam ausgewählten Fotos illustriert, was auch in digitalen Zeiten ausdrückliches Lob verdient. Was nun ist der sachliche Ertrag der knapp 300 Seiten, die durch elf Druckseiten Register (294–304) komfortabel erschlossen werden? Der Sammelband vertritt den nicht seltenen Typus einer Bestandsaufnahme des Bekannten, mit nur gelegentlichen Ausflügen in wissenschaftliches Neuland. Dieses Neuland wird vor allem dort betreten, wo es um die zeitlich längere Perspektive der Welfenmemoria geht: Die Schriftquellen und das kunsthistorisch zu analysierende Material (von der Architektur bis zur Buchmalerei) über das Ende des Mittelalters hinaus zu verfolgen, ist offenkundig ertragreich und zeigt, dass sich die Erinnerung an die einstmals mächtigste Familie des oberschwäbischen Raumes bis mindestens in die Endphase geistlicher Territorien und Institutionen um 1800 herum erhielt. Mediävisten haben diese späten Memorialzeugnisse oft für unerheblich gehalten, Kunsthistoriker haben sie wegen des mangelnden Interesses der Historiker kaum behandelt und erst die Zusammenschau verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen bringt sie nun zum Sprechen. Nicht wenig trägt dazu auch die zunehmend bessere Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften bei. Es ist dieser Bereich, in dem der Rezensent mehr als in anderen Beiträgen methodisch auf andere Landschaften und Familien Übertragbares entdeckte. Dies ändert nichts an der durchweg hervorragenden Qualität aller Beiträge: Der deutsche Südwesten ist eine ungemein intensiv erforschte Region, auf die aus unterschiedlichsten Gründen spätestens seit Stälins legendär gewordener „Wirtembergischer Geschichte“1 in den 1840er-Jahren intensive Bemühungen der Geschichtswissenschaft gerichtet waren. Dabei dominierte über lange Zeit naturgemäß der Blick auf die Herkunftsregion der Staufer, auf den Aufstieg dieses europäisch so zentralen Geschlechts des ausgehenden Hochmittelalters. Die ebenso legendär gewordene Staufer-Ausstellung des Jahres 1977 zeigte diese Perspektive auf den deutschen Südwesten noch einmal überdeutlich. Im Grunde ist dieser Sammelband von seiner Fragestellung her diesen alten, deswegen aber keineswegs überholten Ansätzen verpflichtet, gewinnt ihnen freilich etliche neue Perspektiven ab und kann gewohnte Themen durch nochmalige Durchforschung aktualisieren,

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wie das etwa für Aufsätze von Derschka und Hruza gilt. Sie machen einmal mehr deutlich, wie dringlich eine Behandlung der Reichsministerialität der Salier und Staufer zwei Generationen nach Karl Bosls damals epochalem Werk2 geworden ist. Insofern und deswegen ist der Sammelband gelungen: als Bilanz des Bekannten, als Wegweiser in hinreichend weniger Bekanntes und in einigen seiner Beiträge als Weiterführung eines als defizitär erkannten Forschungsstandes. Das zu sagen, ist für einen Sammelband dieser Jahre ein großes Kompliment: Hier spielte nicht die Buchbindersynthese die zentrale Rolle, nicht der bloße Abdruck mehr oder weniger gelungener Tagungsvorträge, sondern eine zentrale Fragestellung, deren Behandlung von Aufsatz zu Aufsatz sichtbar durchgezogen wurde. Deswegen geht das Kompliment nicht zuletzt auch an die Herausgeber und Tagungsorganisatoren, die zu dem geschlossenen Bild des Bandes erheblich beigetragen haben. 1 2

Christoph Friedrich von Stälin: Wirtembergische Geschichte, 4 Bde., Stuttgart u. a. 1841– 1873. Karl Bosl: Die Reichsministerialität der Salier und Staufer. Ein Beitrag zur Geschichte des hochmittelalterlichen deutschen Volkes, Staates und Reiches, 2 Bde., (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 10), Stuttgart 1950–1951.

Prof. Dr. Thomas Vogtherr Universität Osnabrück, Historisches Seminar, Schloßstr. 8, 49074 Osnabrück, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 119–122 Peter Wolf u. a. (Hg.) Stadt befreit. Wittelsbacher Gründerstädte. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2020, Friedberg, Wittelsbacher Schloss, Aichach, FeuerHaus, 29. April–8. November 2020 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 69), Augsburg: Friedrich Pustet, 2020, 304 S., ca. 200 farb. Abb., ISBN 978-3-7917-3159-9, 24,00 EUR. Die Bayerische Landesausstellung stand 2020 unter einem schlechten Stern – einer der beiden geplanten Ausstellungsorte (Kloster Scheyern) stand nicht zur Verfügung, der Ausstellungstitel musste kurzfristig geändert werden und aufgrund von Corona konnte die Ausstellung erst im Juni 2020 statt im April eröffnen und musste zudem früher schließen. Mit dieser Landesausstellung wurde das neu renovierte Wittelsbacher Schloss in Friedberg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im FeuerHaus in Aichach wurde die mittelalterliche Stadt multimedial inszeniert und der Geschichte Aichachs als typische mittelalterliche Kleinstadt nachgegangen. Leider ist der Aichacher Teil der Ausstellung im Band nicht enthalten, sondern in dem parallel erscheinenden Magazin des Hauses der Bayerischen Geschichte.

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Der Band ist in drei Teile gegliedert. Einer knappen Einleitung schließt sich der in vier chronologische Abschnitte gegliederte Katalog an: „1180“, „Gründerfieber 1200–1350“, „Wie die Städte in die Höhe wuchsen 1350–1500“ und „Die Zierden des Landes 1500–2020“. Es folgen als dritter Teil 13 Essays, die auf Vorträge zurückgehen, die im Vorjahr im Rahmen des Wittelsbacher Heimattags in Aichach und Friedberg gehalten wurden. Der übliche Anhang beschließt den Band, wobei das sehr übersichtliche Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur zu loben ist. Der Ausstellungsteil enthält Texte und Abbildungen von rund 150 Ausstellungsstücken. Sie werden innerhalb der vier Zeitabschnitte unter thematischen Unterabteilungen eingeordnet. Diesen ist jeweils ein knapper Einleitungs-/Tafeltext vorangestellt. Der Schwerpunkt liegt auf den kleineren, wittelsbachischen Städten im Spätmittelalter, also dem zweiten und dritten Teil. Der chronologisch erste Ausstellungsteil soll die Brücke zur Herrschaft der Wittelsbacher schlagen, der letzte bietet einen Ausblick und vor allem die Stadtmodelle und Stadtbilder des 16. Jahrhunderts. Die frühneuzeitlichen Städtebilder der Hauptorte des Herzogtums Bayerns (Katalog-Nr. 131) sowie vor allem die zwischen 1568 und 1574 von Jakob Sandtner angefertigten Modelle der Städte München, Landshut, Ingolstadt, Straubing und Burghausen (Katalog-Nr. 129) bilden den Kern der Ausstellung. Besonders die Sandtner-Modelle ziehen sich als roter Faden durch den Katalog. Alle fünf Modelle finden sich vollständig abgebildet im Einleitungstext (10–17). Große doppelseitige Ausschnitte aus den Modellen trennen die verschiedenen Teile des Katalogs (20 f., 152 f., 228 f.), kleinere Abbildungen von Teilmodellen leiten die Kapitel ein (22, 50, 76, 132) und sind Randschmuck im Essayteil (155, 160, 165, 168, 173, 186, 191, 196, 205, 216, 220). Doch die Abbildungen sind allein Schmuck. Der Aufbau der Stadt, wie er sich anhand der Modelle erschließen lässt, wurde in der Ausstellung in einer 3D-Simulation am Beispiel Münchens in Aichach erlebbar gemacht. Im Katalog ist davon nichts aufgenommen. Zwar ist das Münchner Modell im Ausschnitt abgebildet (Katalog-Nr. 033, 52 f.), doch wohl irrtümlich, denn der Text bezieht sich auf Ingolstadt (51–54). Zudem fehlt das Modell der Stadt Landshut um 1310 (Katalog-Nr. 040), das beschrieben, aber nicht abgebildet wurde. Die Fotografien sind meist sehr gut, die erläuternden Objekttexte teils sehr lang. Hier verstecken sich mehrfach auch thematische Einführungen, die man an anderer Stelle erwartet und als Erläuterung der Konzeption auch benötigt hätte. So wird an der Figur Ludwig des Kelheimers (KatalogNr. 044) der wittelsbachische Herrschaftsaufbau erläutert. Die Beschreibung der Sammelhandschrift, welche die Annalen Hermanns von Niederaltaich enthält (Katalog-Nr. 045), führt einige Städte, um die es in der Ausstellung vor allem geht, mit ihrer Ersterwähnung an. Die Ausstellung hatte den Anspruch „dem gesamteuropäischen Phänomen der im Mittelalter entstandenen Städte anhand bayrischer Beispiele“ nachzugehen und dabei auch „das Entstehen des Städtelands Bayern nachzuzeichnen“ (18). Die beiden Titel der Ausstellung verweisen aber auf zwei andere Themen, denen man sich zuwenden wollte – der Städtefreiheit sowie den wittelsbachischen Gründungsstädten. Zwischen diesen Themen schwankt die Ausstellung. Das zeigt sich bereits im chronologisch ersten Teil, der mit der Übernahme des Herzogtums Bayern durch die Wittelsbacher nach der Absetzung Heinrichs des Löwen einsetzt. Hier geht es um einige Bischofsstädte im heutigen Bayern (Regensburg, Augsburg, Passau), um Rom und die idealtypi-

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sche Darstellung von Jerusalem, daneben stehen Handelswaren, Waffen und die Urkunde mit der Ersterwähnung der Burg Wittelsbach. Was die alten Bischofsstädte mit den wittelsbachischen Neugründungen der folgenden Ausstellungsabschnitte verbindet, wird nicht ersichtlich. Und erst wenn man den Aufsatz des Ausstellungsmitorganisators Marco Veronesi im Essayteil gelesen hat („Zensuale, Kaufleute und Ministerialen. Die ersten Bürger in den altbayrischen Gründerstädten“, 212–216), erkennt man, dass ein Brückenschlag versucht wird zwischen den Lübecker Kaufleuten und den ersten Händlern in München. Dem Ausstellungsort Friedberg als Gegenstadt zu Augsburg ist ebenfalls ein Aufsatz gewidmet (Hubert Raab: „Städte als Burgen“, 188–192), die Stadt wird im Katalog aber nicht in einem eigenen Abschnitt thematisiert. Regensburg, wo sich die Freiheitsbewegung auch gegen die Wittelsbacher zeigen ließe, wird nicht behandelt. Wieso aber stattdessen Schenkungen Friedberger Bürger an das Augsburger Spital (Katalog-Nr.  043) unter der Überschrift „Stadtluft macht frei“ präsentiert wurden, erschließt sich nicht. Die 13 Vorträge schließen viele Lücken der Ausstellung, sie stehen aber meist unverbunden neben dieser. Die Beiträge reichen von Essays mit kurzen Literaturverweisen bis hin zu ausgearbeiteten Aufsätzen mit Quellenapparat. Hier werden die Wittelsbacher Städte des Spätmittelalters auf knappem Raum (drei bis acht großformatige Seiten) und von Spezialisten ganz unterschiedlicher Disziplinen behandelt. Die Bandbreite der Themen ist groß. Erörtert werden der Aufstieg des Hauses Wittelsbach ( Jürgen Dendorfer), die Städtepolitik der frühen Herzöge (Gabriele Schlütter-Schindler) oder die Bedeutung des Stadtrechts (Hans-Georg Herrmann). Die Funktionen der Stadt als Gerichts- und Verwaltungsmittelpunkte (Maria Rita Sagstetter) wird ebenso diskutiert wie die Grauzone zwischen Markt und Stadt (Wilhelm Liebhart), Möglichkeiten und Aussagegrenzen der Stadtarchäologie ( Jochen Haberstroh), Fragen mittelalterlicher Stadtbaukunst (Achim Hubel), von Hausbau und Profanarchitektur (G. Ulrich Großmann) oder die Dichtung am Hof (Klaus Wolf). Weitere Aufsätze gelten den Städtebünden der Stauferzeit (Martin Kaufhold) und – als Kontrastpunkt zum Wittelsbacher Schwerpunkt – der Städtelandschaft im östlichen Franken und der Städtepolitik der Andechs-Meranier (Günter Dippold). Gerade der konzise Aufsatz von Günter Dippold zu den Städten in Ostfranken zeigt, was man im Ausstellungsteil vermisst – übergreifende und informierende Texte, beispielsweise zu den Motiven der Städtegründungen (die nicht auf wirtschaftliche Faktoren beschränkt waren) oder zur Präsenz der Herrschaft in den jeweiligen Städten, wie sie im Rahmen der Residenzenforschung thematisiert wird. Solche Texte meinte man wohl Ausstellungsbesuchern (und auch Katalog-­ Lesern) nicht mehr zumuten zu können. Gleiches gilt für – vermutlich altmodische – Zeittafeln, zum Beispiel mit Ersterwähnungen der Städte oder Stadtrechtsverleihungen. Zudem kommt der Band, der sich dem „Städteland Bayern“ (150) widmet, ohne jede Karte aus, obwohl doch Handels- und Verkehrswege als Hauptgründe für den mittelalterlichen Städteboom angeführt werden („Was die Hauptfunktion dieser Städte war, zeigt allein schon der Blick auf die Karte.“ [11]). Vermutlich sind Texttafeln und Karten einem ausgeklügelten Design zum Opfer gefallen. Der Band ist zweifellos sehr schön gestaltet und beim Durchblättern findet man immer mehr Gestaltungselemente. Für meinen Geschmack ist es zu viel des Guten. Es findet sich fast keine Seite, auf der schlicht zwei Spalten Text im Blocksatz enthalten sind. Stattdessen werden auf den Seiten, auf denen keine Bilder sind, die Spalten schräg gesetzt (zum Beispiel 180) oder mit einer run-

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den Aussparung aufgelockert (190), Zwischenüberschriften finden sich mal über dem Text (186), dann wieder in der Spalte, so dass der Blocksatz gebrochen wird (189). Im Aufsatzteil ist die erste Zeile jedes Absatzes eingerückt, im Katalogteil ist es umgekehrt und die erste Zeile des Absatzes ragt über den Block hinaus (zum Beispiel 88) und so weiter. So hat man einen schönen Band in Händen mit hervorragenden Abbildungen und interessanten Essays, der aber dennoch einiges zu wünschen übriglässt. Dr. Regina Schäfer Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar, Saarstr. 21, 55099 Mainz, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 122–124 André Stellmacher Die Herrschaft Lindow-Ruppin im Spätmittelalter zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit. Mit einer Regestensammlung und einem Siegelkatalog (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 73), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2020, XXIV + 615 S., 49 meist farb. Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-8305-3942-1, 83,00 EUR. Während die Entwicklung fürstlicher Herrschaft und Politik im spätmittelalterlichen Reich bereits vielfach, übergreifend oder am Einzelfall betrachtet, mit Gewinn untersucht worden ist, stellen die Handlungsspielräume der zahlreichen kleineren Adelsherrschaften größtenteils immer noch eine terra incognita dar. André Stellmacher hat sich dieses Desiderats im Rahmen seiner von keinem geringeren Kenner der brandenburgischen Landesgeschichte als Klaus Neitmann betreuten und im Sommersemester 2018 von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam angenommenen Dissertation am Beispiel der Arnsteiner Grafen angenommen. Seine Leitfrage lautet, auf welche Art und Weise es diesen gelang, ihre weitgehend unabhängige Herrschaft Lindow-Ruppin aufzubauen und über rund 250 Jahre hinweg zu behaupten (7). Nach einem kurzen Vorwort des Verfassers (IX) steuert genannter Klaus Neitmann gleich zu Beginn eine grundlegende Einführung zur Herrschaft Lindow-Ruppin und den politischen Existenzbedingungen kleiner Adelsherrschaften im Deutschen Reich des Spätmittelalters bei, die den Inhalt der Doktorarbeit kurz und bündig wiedergibt und würdigend in den Forschungsdiskurs einordnet (XI–XXIII). Die Würdigung bezieht sich – hier spricht Neitmann natürlich als Archivar – insbesondere auf die von Stellmacher besorgte Ruppiner Regestensammlung (1232–1598), worin sich insgesamt 973 Kurzregesten aus der überaus verstreuten Überlieferung zu den Grafen von Arnstein übersichtlich zusammengestellt wiederfinden, darunter übrigens etliche Neufunde. Auf diese Einführung folgt als Teil I Stellmachers eigentliche Untersuchung zu ebendieser Überlieferung unter der Überschrift „Zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit“ (1–277).

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Dazu beleuchtet der Verfasser in seiner eigenen Einleitung erst einmal den Forschungsstand. Zudem geht er hier kurz auf seine Regestensammlung und seinen Siegelkatalog als Quellengrundlage ein, erläutert seine Fragestellung und Vorgehensweise und legt zuletzt die Quellenlage dar  (3–12). In einem ersten Abschnitt behandelt er darauf die Grafen von Lindow-Ruppin als Familie und Dynastie, wobei er sich explizit den Formen ihrer Herrschaftsausübung und „Aufgabenteilung“, ihren Eheverbindungen und den dadurch geschaffenen Verbindungen, ihrem Alt Ruppiner Hof sowie den gräflichen Stiftungen, vor allem dem Zisterzienserinnenkloster Ruppin und dem Neuruppiner Dominikanerkloster widmet (13–80). Um herrschaftliche Besitzgrundlagen und -verhältnisse geht es anschließend im zweiten Kapitel, speziell um die Allodialgüter, den Pfand- und Lehnsbesitz, den Besitz in der weiteren Herrschaft Ruppin mit den Ländern und Ländchen Gransee, Wusterhausen, Neustadt und Goldbeck sowie die gräflichen Vasallen (81– 140). Das dritte und letzte Kapitel stellt die Beziehungen der Grafen und Grafschaft zu auswärtigen Mächten in den Mittelpunkt: die Markgrafschaft Brandenburg, die Bistümer Brandenburg, Havelberg und Lebus, die weltlichen Nachbarn im Norden und Süden und schließlich König und Reich (141–178). Eine knappe Zusammenfassung bündelt zum Schluss der Untersuchung deren wesentliche Erkenntnisse (179–187), gefolgt von einer Stammtafel zu den Arnsteinern als Grafen von Lindow-Ruppin, ihren Itineraren und den Zeugen ihrer Urkunden, einem Literatur- und Quellenverzeichnis und einem Orts- und Personenregister (189–277). An diesen darstellenden Teil schließt sich die bereits berührte Regestensammlung als Teil II der Dissertation an, untergliedert in Bemerkungen zu deren Gestaltung, die eigentliche, umfängliche Sammlung, Ausführungen zu relevanten Archivbeständen sowie ein Siglen- und Quellenverzeichnis und ein gesondertes Orts- und Personenregister (279–571). Teil III bildet der Ruppiner Siegelkatalog mit zahlreichen qualitativ hochwertigen Farbabbildungen der erhaltenen Siegel sowie Bemerkungen zum Siegelwesen der Grafen von Lindow-Ruppin (573–606). Ein Abbildungs-, ein Karten- und ein Abkürzungsverzeichnis beschließen den Band im eigentlichen Sinne (609–615). Die gewichtige, gründlich redigierte, vorbildlich illustrierte und übersichtlich gestaltete Arbeit wartet auf der Grundlage vieler erstmalig in dieser Verdichtung ausgewerteten Quellen mit zahlreichen relevanten Erkenntnissen auf: Die Grafschaft Lindow-Ruppin war eine Landesherrschaft „im Kleinen“, die in vielen Aspekten an die größeren Fürstenherrschaften erinnert. Besonders deutlich wird das bei Stellmachers Ausführungen zu ihrer Residenz in Alt Ruppin, den Besitzgrundlagen und ihren Vasallen. Die Arnsteiner konnten freilich nur eine überschaubar kleine Elite von 13 Adelsfamilien über längere Zeit an sich binden, wohingegen die Mehrheit des Niederadels ihnen als Landesherren fernblieb. Ähnlich beschränkt waren und blieben ihre Einflussmöglichkeiten im kirchlichen Bereich. Die Besitz- und Einkommenssituation der Grafen, die zum Beginn des 14. Jahrhunderts vom Machtvakuum in der Mark Brandenburg zu profitieren vermochten, war um 1500 „akut prekär“ (119). Der Entschluss zur Samtherrschaft bewahrte ihre Grafschaft immerhin vor der Gefahr, durch immer weitere Teilungen zur Kleinstherrschaft zu gerinnen, um dann ganz von der politischen Bühne zu verschwinden. Ein wichtiges Vehikel zur politischen Selbstbehauptung stellte, für die Zeit mehr als selbstverständlich, ein qualitativ hochwertiges Konnubium dar. Stellmacher charakterisiert die Arnsteiner Eheschließungen als „Rekonziliationsheiraten“ (53), die nicht auf territoriale Erwerbungen abzielten oder der Standeserhöhung

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dienten, sondern Absicherung und Friedenswahrung im Blick hatten. Das unterscheidet sie indes nicht vom Gros der zeitgenössischen Konnubien. Bezüglich der Beziehungen zu den Nachbarn Mecklenburg, Werle, Pommern, Anhalt und Sachsen macht der Verfasser eine „Nischenstrategie“ der Arnsteiner aus (167). Zum Königtum fehlte jedwede Nähe, wodurch wiederum dessen Unterstützung im Konfliktfall ausbleiben musste. Demgegenüber war das Verhältnis zur Markgrafschaft Brandenburg in den Außenbeziehungen geradezu überdominant, insbesondere als letztere im 15. Jahrhundert einen spürbaren machtpolitischen Sog entwickelte. Innerhalb dieser hier nur kurz zu skizzierenden Koordinaten konnte sich die Herrschaft der Arnsteiner zwischen politischer Selbstbehauptung und Autonomie einer- und dem Zwang zur politischen Anpassung andererseits im Verlauf ihrer gut 250-jährigen Geschichte entfalten. Auf der Basis seiner quellennah entwickelten Beobachtungen wagt Stellmacher zusammenfassend die Formulierung von „Maximen“ der gräflichen Politik als Voraussetzung für ihr vergleichsweise erfolgreiches Agieren „in der Nische“: „unbedingter Zusammenhalt des Grafenhauses, günstige Heiratspolitik, behutsamer Erwerb von Land und Rechten ohne Überdehnung der eigenen Möglichkeiten, Unterhalt einer Gefolgschaft, Vermeidung von Konflikten, gute Beziehungen zu den Nachbarn, flexible Bündnispolitik“ (182). Diese Maximen überzeugen und bieten der künftigen Forschung auf ihrer breit erarbeiteten Quellengrundlage in jedem Fall gute Ansatzpunkte, um unser Verständnis von den Handlungsspielräumen und -mechanismen adeliger Herrschaft im Spätmittelalter noch weiterzuentwickeln. Bedauerlich ist indes, dass Stellmacher ausweislich seiner kurzen Skizze des Forschungsstands (3–6) die über Lindow-Ruppin und Brandenburg hinausgehenden Arbeiten – gerade zur Frage der Handlungsspielräume – wenig bis gar nicht würdigen wollte, sodass für den eingefleischten Kenner der Materie die von Stellmacher vorgenommene Koordinatenanordnung von Familie/Dynastie, Besitz/Ökonomie und auswärtigen Beziehungen/Außenpolitik doch wie die sprichwörtliche zweite Erfindung des Rades daherkommt. Hier hätte eine stärkere theoretische Verzahnung mit vorhandenen Arbeiten gewiss nicht geschadet. Und wo Stellmacher relevante Literatur in der folgenden Untersuchung heranzieht, da erweist sich sein Umgang mit selbiger zumindest stellenweise als fehlerhaft (41, Fußnote 176) oder bezüglich deren Aussage verfremdend (zum Beispiel 46, Fußnote 210). Die Pommernfürsten zu den „bedeutendsten Familien des Reichs“ (21) zu rechnen, ist nebenbei bemerkt mutig. Unabhängig von diesen Monita, die den Gesamtwert von Stellmachers Untersuchung kaum schmälern können, sind seine Regestensammlung und sein Siegelkatalog von unbestreitbar bleibendem Wert. Allein mit dieser großen Fleißarbeit hat Stellmacher der weiteren Forschung zu Handlungsspielräumen adeliger Herrschaft im Spätmittelalter im Weiteren und zur Lindow-Ruppin-Brandenburger Geschichte im engeren Sinn unbedingt einen großen Dienst erwiesen. Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 125–127 Carsten Goehrke Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod Zürich: Chronos, 2020, 560 S., 42 Abb., ISBN 978-3-0340-1568-4, 78,00 EUR. Am Anfang des gelungenen Buches erinnert der Verfasser, der emeritierte Zürcher Osteuropaprofessor, an seinen akademischen Lehrer, den Deutschbalten Manfred Hellmann (1912–1992), der in den 1960er Jahren sein Interesse an der Geschichte des mittelalterlichen Nowgorods geweckt hatte. Die jetzige Publikation stellt somit eine Zusammenfassung langjähriger Beschäftigung dar, wo auch die persönliche Verbundenheit zur Region ihren Platz hat. Es handelt von der zusammenfassenden Leistung: eine Darstellung, die die wichtigsten Stoffe der Nowgoroder Geschichte vom 9. bis zum 15. Jahrhundert resümiert, wo notwendig, mit Einblicken in die historiografischen Debatten. Die Monografie ist klassisch aufgebaut. Zuerst werden die Quellen eingeführt, inklusive der Resultate archäologischer Ausgrabungen; es folgt der Überblick der relevanten Geschichtsschreibung. Zu Recht hat der Verfasser die außerordentliche Rolle des Moskauer Archäologen und Historikers Valentin Janin (1929–2020) für die Erforschung der Vergangenheit Nowgorods hervorgehoben. Ebenso begründet ist aber auch die kritische Einschätzung der Forschungsresultate Janins, der in seiner letzten Lebensperiode immer dogmatischer und unduldsamer hinsichtlich der Kritik wurde, dabei aber seine „Generalsposition“ in der Maschinerie der russländischen Nowgorodforschung bewahrt hatte. Weiter stellt Goehrke die Sprache Nowgorods, die Geografie des Landes, die Topografie der Stadt und die ethnische Karte des Gebietes vor. Der Hauptteil des Bandes ist chronologisch-thematisch aufgebaut. Beleuchtet werden alle Facetten der Nowgoroder Geschichte. Der Schwerpunkt liegt aber deutlich auf der Sozial- und Verfassungsgeschichte. Gerade in diesem Feld sind die persönlichen Forschungsleistungen des Verfassers und die andauernden Debatten besonders deutlich sichtbar. Entgegen Janin vertritt Goehrke die Meinung, dass der Großgrundbesitz in Nowgorod erst ziemlich spät, seit dem 13. Jahrhundert, herausgebildet wurde, dass also die frühere Elite eher kaufmännisch gebildet wurde. Detailliert, mit zahlreichen übersetzten, treffend ausgewählten Quellenausschnitten wird der Alltag des hansischen Handels mit Nowgorod beschrieben. Ein relevanter Exkurs wird sogar in belletristischer Form dargeboten: Der Besuch eines fiktiven Lübecker Kaufmannes in Nowgorod Anfang des 15. Jahrhunderts. Die Einschätzung, dass die Deutschen in Nowgorod „geduldet, aber selten geschätzt“ (315) waren, scheint dennoch zu überspitzt formuliert. Man sollte in Betracht ziehen, dass in einer Welt der überwiegend mündlichen Kommunikation gerade die Konflikte zum Schreiben Anlass gaben. Die friedlichen „Normalsituationen“ sind in den Quellentexten, die den modernen Historikerinnen und Historikern zur Verfügung stehen, wahrscheinlich sehr stark unterrepräsentiert. In der Darstellung des späteren Mittelalters behandelt der Verfasser eingehender die Beziehungen Nowgorods zu den Nachbarterritorien Schweden, Livland, Tver, Litauen und Moskau.

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Das 15.  Jahrhundert gilt dabei als eine Periode des Niedergangs, wo auch die kulturellen und kirchlichen Initiativen des Erzbischofs Evfimij die Krisen nicht dauernd heilen konnten. Der Unterwerfung Nowgorods durch den Großfürsten Ivan III. von Moskau in den 1470er Jahren ist eine detaillierte Abhandlung gewidmet, ebenso dem „Nachspiel“ wie den Massenzwangsumsiedlungen der 1480er Jahre. Zur Geschichte der Nowgoroder Häretiker um 1500, die die „Judaisierenden“ genannt wurden, sei hier nur bemerkt, dass die vor Kurzem erschienene Publikation von Michail Pečnikov, die der Verfasser eigentlich in den Anmerkungen erwähnt hat, überzeugend beweist, dass es sich dabei um ein historisches Phantom handelt: es war die nicht besonders starke lokale kirchliche Opposition gegen die Einführung der Moskauer Erneuerungen, deren Unterdrückung der ebenso aus Moskau stammende Erzbischof Gennadij als Häresiebekämpfung stilisieren konnte. Dass das Schicksal Nowgorods im Kontext der russischen Geschichte eine spezifische, ideologiebelastete Bedeutung hat, kommt schon in der Fragestellung zum Ausdruck, ob „Groß-Nowgorods Untergang unvermeidlich“ gewesen sei (376). In der russischen Geschichtsideologie hat man, um die Extreme zu nennen, Nowgorod als die (positive) demokratische, „europäische“ Alternative zur Moskauer Despotie dargestellt, oder als den (negativen) eigensinnigen und eigennützigen Verräter der gesamtrussischen Sache und des rechten Glaubens wahrgenommen. In der Diskussion über das Wesen des Nowgoroder Staats neigt Goehrke eher zu den Autoren, die den direkten Vergleich mit westeuropäischen Städten nicht annehmen, weil in Nowgorod sowohl Ratsverfassung als auch Kommune fehlten. Neben der eigentlichen Stadt werden in der Monografie auch die Beistädte wie Ladoga oder Toržok behandelt. Unter denen wird kurz auch die Geschichte von Pleskau behandelt, wobei dem Leser auch klargemacht wird, dass die Beziehungen zwischen Nowgorod und Pleskau viel komplizierter waren. Während die Behandlung Nowgorods immer auf dem sehr gründlich recherchierten, allerneuesten Stand der Forschung basiert, dient hier die vor etwa dreißig Jahren erschienene Dissertation von Gertrud Pickhan als Hauptgrundlage. Eine wichtige Ergänzung des Haupttextes sind die Anhänge, vor allem die Übersetzung von zehn Quellentexte aus der Zeit vom 11. bis ins 15. Jahrhundert. Auch die Tabelle der Kirchengründungen und -gründer informiert bildlich über die Wandlungen der Sozialstruktur Nowgorods. Hilfreich sind zudem die Liste der Possadnikdynastien, das Glossar und die Zeittafel. Die Diskussionsmomente, in denen der Verfasser die eine oder andere Position aufgegriffen hat, sind stets gut begründet und klar argumentiert, informieren aber auch über abweichende Meinungen. Einige kleinere Flüchtigkeitsfehler seien hier dennoch erwähnt. Die Langhügelgräber werden schon längst nicht mehr mit dem Stamm der Kriviči in Verbindung gesetzt (55). Die Paraskeva Pjatnica-Kirche am Markt war nicht dem Karfreitag (153), sondern der heiligen Para­ skeva aus Ikonion gewidmet. In der Stralsunder Nikolaikirche befindet sich der Kirchenstuhl der Rigafahrer mit den Szenen der russländischen Pelzjagd (nicht der Nowgorodfahrer, wie übrigens früher oftmals behauptet worden ist, 157). Die Vermutung, dass die Hanse schon in den ersten Phasen ihrer Existenz im Russlandhandel bewusst die Rohstoffe und nicht die Fertigprodukte bevorzugt habe (229), hat keinen Beleg in den Quellen. Übrigens wurde auch das Waffenhandelsverbot erst im 15. und 16. Jahrhundert akut. Das Foto des gotischen Facettenpalasts (348) stammt

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leider aus der Zeit vor der gründlichen Renovierung des Gebäudes in den Jahren 2006–2013 – eine jüngere Aufnahme hätte das Backsteingewölbe viel deutlicher gezeigt. Insgesamt handelt es sich um eine sehr empfehlenswerte Publikation, die sowohl als Einführung wie auch als Lehrbuch verwendet werden kann, aber auch zu den laufenden wissenschaftlichen Diskussionen Eigenes und Originelles zu sagen hat. Prof. Dr. Anti Selart Universität Tartu, Institut für Geschichte und Archäologie, Ülikooli 18, 50090 Tartu, Estland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 127–129 Maria Weber Schuldenmachen. Eine soziale Praxis in Augsburg (1480 bis 1532) (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven 7), Münster: Aschendorff, 2021, 334 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-402-14667-5, 54,00 EUR. Schulden ersetzten in der Vormoderne weitgehend das Bargeld als Währung. Ausgehend von dieser These wählt Maria Weber einen praxeologischen Ansatz, um sich dem Thema des Schuldenmachens zu widmen. Quellenbasis der Studie sind die umfangreichen Gerichtsprotokolle der Reichsstadt Augsburg, die erst 1480 einsetzen. Diese ergänzt sie um weitere Quellen, insbesondere Gerichtsordnungen, das Schuld- und Rechnungsbuch des Augsburger Webers Jörg Öttl (1506–1534), die Missivbücher und Ratsprotokolle. In den behandelten 50 Jahren zwischen 1480 und 1532 erblühte Augsburg zu einem der europäischen Handels- und Finanzzentren. Die Bücher dokumentieren Nachwirkungen dieser internationalen Netzwerke, wie etwa den Fall des Höchstetter-Bankrotts. Vor allem aber waren es die Schulden der ‚kleinen Leute‘, die sich in den hochgerechnet 30.000 Klagen mit 80.000 Namen in den Gerichtsbüchern spiegeln. Die schiere Masse der meist knappen Einträge wertet Weber quantitativ und qualitativ aus. Dafür verkleinert sie ihr Sample immer wieder in unterschiedlicher Weise: Sie bildet neue Korpora aus wenigen Gerichtsbüchern (jedes 5. Jahr, dann erneut verkleinert auf insgesamt fünf bewusst ausgewählte Bücher) oder eine Auswahl aus den Personennamen (Buchstaben A, H, J, U). Zudem sortiert sie die verschiedenen Gerichtseinträge in sechs Gruppen, ausgehend von den in den Quellen verwandten Verben, die auf bestimmte Verfahren verweisen: clagen, wetten (Schuldanerkenntnis), verganten (Pfändungen), alle Recht erlangt, einschreiben und bekennen (Verträge/ Zahlungsbekenntnisse). So vermag sie die Veränderungen innerhalb des behandelten Zeitraums darzustellen. Es zeigte sich, dass die Anzahl der Verfahrensschritte im Einzelverfahren zunahm, die Anzahl der Klagen aber abnahm. Vor allem die verschriftlichten und in das Gerichtsbuch eingeschriebenen Schuldenbekenntnisse werden immer wichtiger. Waren 1480 noch mehr als zwei Drittel der Einträge Klagen, so waren 1532 mehr als die Hälfte der Einträge Zahlungsbekennt-

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nisse (48). Für Weber ist dabei nicht die Verschriftlichung die entscheidende Veränderung – zumal mündliche Elemente weiterhin eine Rolle spielten, – sondern das Hineintragen der privaten Schuldbeziehungen in den öffentlichen Raum (106). Damit kam es auch zu einer Ausformung des Gerichtsverfahrens. Der Richter wurde zum Vermittler zwischen den Schuldparteien, das Gerichtsverfahren selbst zum „Entscheidungsgenerator“ (104). Ob damit zugleich der Bereich der außergerichtlichen Aushandlung, das Infrajudiciaire an Bedeutung verlor, lässt sich anhand der Quellen nicht sicher sagen. Dass Schulden aus sehr unterschiedlichen Geschäften entstehen konnten (Darlehen, Pfandleihe, Warenkredit, Borgkauf usw.) führt Weber ausführlich an. Dabei lehnt sie den Kredit als Analysekriterium ab. Der Begriff tauche in den Quellen nicht auf, sei zu unscharf und könne für den praxeologischen Ansatz nicht nutzbar gemacht werden (129). Bargeldmangel und Münzverschlechterung waren zwar wichtige Gründe für die intensiv diskutierte Kreditabhängigkeit der vormodernen Menschen und die Alltäglichkeit von Schulden. Doch Weber betont, dass durch Schulden eine soziale Beziehung zwischen Menschen aufgebaut wurde, die sehr viel dynamischer war, als es ein Kaufverhältnis sein konnte, vielmehr ein „kontinuierliches Auf- und Abrechnen gegenseitiger Leistungen“ (211 f.). Die Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner bewegte sich „zwischen Aushandlung und Abhängigkeit“ (213). Diese Interaktionen beim Schuldenmachen stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Neben statistischen Auswertungen nutzt Weber ein breites Methodenarsenal auch aus sprach- und kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen und ergänzt die Analyse von Massendaten mit Fallbeispielen. Dabei kommt sie zu zahlreichen interessanten Ergebnissen. Gerade im Vergleich zu anderen gut untersuchten Städten wie Basel, Nürnberg oder Zürich lassen sich in Augsburg teils ähnliche Verhältnisse, teils aber auch deutliche Unterschiede beobachten. ‚Kredithaie‘ gab es in Augsburg anders als in Basel nicht. In Augsburg wurde für das Eintragen und Einklagen von Schulden eine Gebühr fällig, der Klagschatz, während die Verfahrenseröffnung in Basel den Forschungen Gab­riela Signoris zufolge kostenlos war.1 Kläger, Klägerinnen und Beklagte stammten aber auch in Augsburg aus allen sozialen Schichten. Frauen stellten weniger als zehn Prozent der in den Gerichtsbüchern verzeichneten Personen. Zunehmend agierten die Parteien vor Gericht durch Stellvertreter. Es zeigt sich, dass Geldbeziehungen oft (zu einem Drittel bis zur Hälfte) Kleinbeträge bis zu einem Gulden betrafen. Unter den Klagegründen lassen sich besonders häufig Lohnklagen und Klagen wegen Mietzinsen finden. Auch auf das Verlagswesen geht die Arbeit ein. Dabei macht die Verfasserin wahrscheinlich, dass um 1500 die meisten Weber eher in horizontalen Schuldverhältnissen verstrickt waren und sich die finanzielle Abhängigkeit vom Verleger in den Gerichtsbüchern noch nicht fassen lässt (207). Maria Weber hat in ihrer souveränen Studie methodisch vielfältige Wege zur Analyse der Massenquellen der Gerichtsprotokolleinträge beschritten. Sie geht dabei andere Wege als besonders Benjamin Hitz, der zeitgleich für die Baseler Gerichtsprotokolle die Netzwerkanalyse genutzt hat, um die soziale Schichtung in Kreditbeziehungen und die Bedeutung von Nachbarschaft herauszuarbeiten und ebenfalls bewies, wie reich und aussagekräftig die spröden Einträge sind.2 So bietet Webers Arbeit zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere, vergleichende Studien mit wirt-

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schafts- und sozialgeschichtlichen, landes- und regionalgeschichtlichen Fragestellungen; wobei gerade aus letzter Sicht das Fehlen von Registern zu bedauern ist. 1 2

Gabriela Signori: Schuldenwirtschaft. Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel (Spätmittelalterstudien 5), München 2015. Benjamin Hitz: Webs of credit and uses of civil justice. The case of 15th-century Basel. In: Stephan Nicolussi-Köhler (Hg.): Change and Transformation of Premodern Credit Markets. The Importance of Small-Scale Credits, Heidelberg 2021, 141–175.

Dr. Regina Schäfer Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar, Saarstr. 21, 55099 Mainz, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 129–131 Markus Retzer Die Verwaltung des Herzogtums Niederbayern-Straubing-Holland (Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte 26) Regensburg: edition vulpes, 2020, 540 S., ISBN 978-3-939-11288-4, 38,00 EUR. Gegenstand dieser mit einem Preis ausgezeichneten Regensburger Dissertation von 2016/17 ist eine detaillierte und profunde Verwaltungsgeschichte des von 1353 bis 1429 bestehenden Herzogtums Bayern-Straubing, deren Herzöge auch in den Grafschaften Holland, Seeland und Hennegau nachfolgten, die durch die 1324 geschlossene und mit mehreren Kindern gesegnete Ehe Kaiser Ludwigs des Bayern mit Margaretha, der Tochter Graf Wilhelms III. von Holland, an die Wittelsbacher geraten waren. Nach dem Tod ihres Vaters 1337 und dessen kinderlos gebliebenen Sohn Graf Wilhelms IV. 1345 erhielt Margaretha diese Länder durch ihren Mann, den Kaiser, als Lehen, was von Teilen des holländischen Adels nicht akzeptiert wurde, die stattdessen ihren Sohn Wilhelm – als holländischer Graf Wilhelm V. – als Nachfolger bevorzugt hätten. Über diese Frage kam es zu einer weit um sich greifenden Parteiung in der holländischen Führungsschicht zwischen den Kabeljauwen und den Hoeken, die auch die benachbarten Fürstentümer in Mitleidenschaft ziehen und mit all ihren Folgen bis in die 1490er Jahre andauern sollte. Die weitere dynastische Nachfolgeregelung der Wittelsbacher im Regensburger Vertrag 1353, Margarethas Tod 1356 und die durch Geisteskrankheit bedingte Regierungsunfähigkeit ihres Sohnes Wilhelm (virulent ab 1357) führten dazu, dass die Straubinger Herzöge sich ab 1356 beinahe ausschließlich in Holland beziehungsweise den Niederlanden aufhielten und hier meist von Den Haag aus regierten, während der Straubinger Landesteil für mehrere Jahrzehnte durch adlige, ja hochadlige Amtleute (Pfleger) verwaltet wurde. Solche sind Ulrich III. von Abensberg, Pfalzgraf Ruprecht I., Landgraf Johann I. von Leuchtenberg und schließlich Graf Etzel zu Ortenburg, die alle in Kap. 5.1 ihre biographische Skizze unter Einschluss der Familiengeschichte erhal-

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ten (75–127). Ihnen untergeordnet waren die Vitztume, aus dem rangniedrigeren regionalen Adel stammend, die ebenfalls in Kap. 5 mit derselben Methode behandelt wurden (127–194). Hinter der vordergründig spröden Verwaltungsgeschichte (so der Titel) verbirgt sich eine detaillierte Studie zum niederbayerischen Adel, sofern er sich in landesherrliche Dienste begeben hatte, was ihm die Möglichkeit bot, aus dieser Position heraus die Geschicke der eigenen Familie in günstigere Bahnen zu lenken (die Überlieferung erlaubt vor allem Blicke auf die Besitzgeschichte und die dynastischen Verbindungen), aber auch die Gefahr barg, in räumlich wegführende Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. In Kap. 5.2 wird die „mittlere Verwaltungsebene“ umfassend und in systematischer Weise dargelegt (210–296), indem für ein jedes der 17 Pflegämter nachgezeichnet wird, wie dieses in herzoglich-bayerischen Besitz kam, welch andere Herrschaftsträger untergeordnet wurden und wie die landesherrliche Personalpolitik aussah. Auch hier werden die Amtsträger vor ihrem familiären Hintergrund skizziert – was hervorzuheben ist, da dieses Vorgehen eine immense Dokumentation- und Sammlungstätigkeit erfordert. Dies erlaubt es bei einer vergleichenden Betrachtung überdies nachzuzeichnen, wie die Herzöge sich auch aus der Ferne um Einzelfragen kümmern konnten: Der Marktort Plattling wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt, wohl kurz nach Juni 1379, von einer Flutkatastrophe heimgesucht, woraufhin auf Vorschlag des Pflegers Johann I. von Leuchtenberg der Herzog seine Zustimmung gab, den Ort auf einen hochwassergeschützten Platz zu verlegen (228 mit Anm. 2090). Auf der lokalen, wenn man so will, „unteren Verwaltungsebene“ agierten die im 13. Jahrhundert entstehenden Kastner, die die Erträge der landesherrlichen Güter vereinnahmten und als Niederrichter über die herzoglichen Leute fungierten. Die Kastenämter verteilten sich unabhängig von den Pflegämtern über das Land, da sie ganz folgerichtig vor allem da eingerichtet wurden, wo es eine Häufung landesherrlichen Grundbesitzes gab, wie in wiederum systematischer, überlieferungsbedingt etwas kürzerer Weise für die 14 Kastenämter ausgeführt wird (Kap. 5.2.2, 296–310). Dass man von der Benennung einer fürstlichen Nebenlinie nicht unbesehen auf die Rolle der namensgebenden Stadt als Haupt- beziehungsweise Residenzstadt schließen darf, verdeutlichen die Ausführungen über die Stadt Straubing (272–286, Kastenamt 305–308): Die Herzöge waren faktisch nur sehr selten dort. Straubing war in erster Linie Aufenthaltsort der Pfleger, die im wahrscheinlich ab 1356 umgebauten „neuen“ Schloss ihren Sitz hatten. Durch Rechnungen ist belegt, dass Herzog Albrecht II. in den Jahren 1389 bis 1393 bei seinen Bayern-Aufenthalten Regensburg bevorzugte (335), wo es einen herzoglichen Stadthof gab und wo 1393 ein Turnier stattfand (336 f.). Der eigentlichen Untersuchung vorgeschaltet ist ein ereignisgeschichtlicher Überblick, in dem die dynastisch-politische Geschichte wiedergegeben wird. Deutlich wird, dass das Hauptaktionsfeld der Straubinger Herzöge (trotz ihrer Bezeichnung) nicht in Bayern, sondern in den Niederlanden lag, wo die Wittelsbacher schließlich von Herzog Philipp dem Guten zwischen 1429 und 1433 verdrängt wurden (Kap. 4, 29–54). Der Vollständigkeit halber fügt der Verfasser ein Kapitel über die Landesherrschaft in Holland und Zeeland und die dortigen Ämter an, das notgedrungen etwas knapp und skizzenhaft ausfällt (Kap. 6, 343–371). Hinweise zu einem kulturellen Austausch gibt es übrigens kaum. Die niederländischen und bayerischen Landesteile blieben autochthon, lediglich im direkten Umfeld der Herzöge kamen vereinzelt Vertraute aus Bayern nach Holland.

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Insgesamt hat der Verfasser eine Art Handbuch zur bayerisch-straubinger Verwaltungsgeschichte vorgelegt, wobei hervorzuheben ist, dass die Lokal- und Amtsgeschichte als integraler Teil der Landesgeschichte verstanden worden ist. Ein Ansatz, der überaus berechtigt ist. Ernst Schubert hat in einem grundlegenden Aufsatz gerade die Ämter als entscheidendes Kriterium für die Herausbildung der Landesherrschaft herausgestellt.1 Eine These, die durch die vorliegende, durch ein umfassendes Register der Orte, Personen und ausgewählter Sachen erschlossene Untersuchung, deutlich gestützt wird. Aufgefallen ist dem Rezensenten nur, dass ein Untertitel wie ¸prosopographische und ortsgeschichtliche Studienʻ (o. s. ä.) den thematischen Zuschnitt, das heißt die Funktionseliten und das grundherrschaftliche Substrat des Herzogtums, von vornherein näher erschlossen hätte. 1

Ernst Schubert: Die Umformung spätmittelalterlicher Fürstenherrschaft im 16. Jahrhundert. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 63 (1999), 204–263.

Prof. Dr. Harm von Seggern Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 131–133 Arnd Reitemeier (Hg.) Klosterlandschaft Niedersachsen (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 63), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2021, 608 S., 75 Abb., ISBN 978-3-7395-1263-1, 39,00 EUR. Klosterbücher haben zur Zeit Konjunktur. Woran es bislang noch weitgehend fehlt, ist die auf ihre Veröffentlichung folgende Erarbeitung neuer kloster-, ordens- und regionsübergreifender Forschungsfelder, was selbstverständlich erst auf der Vergleichsbasis machbar ist, die die Klosterbücher dankenswerterweise bereitstellen. Diesen sinnvollen wie notwendigen Schritt vollzieht der im Folgenden zu würdigende Tagungsband zur „Klosterlandschaft Niedersachsen“. Er vereint die Beiträge einer Tagung in sich, die Anfang Februar 2020 in Wöltingerode veranstaltet worden ist. Erstens war die Aufgabe gestellt, sich mit dem Forschungsstand „knapp ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Niedersächsischen Klosterbuchs“1 (7) kritisch auseinanderzusetzen, und zweitens sollten „Forschungsperspektiven zur Klosterlandschaft Niedersachsen ausgelotet“ werden (ebenda). Der Band beziehungsweise sein Herausgeber Arnd Reitemeier reagieren damit auch auf die teils harsche Kritik an dem betreffenden Klosterbuch, die sich unter anderem am weitgehenden Fehlen von Abbildungen, Indices und Passagen zur Archäologie, Denkmalpflege sowie Kunstgeschichte entzündete.2 Die konstatierten Defizite des Klosterbuchs waren nicht zu-

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letzt der kurzen Zeitspanne geschuldet, in der es erstellt werden musste, und sind obendrein auf die hohe Zahl der darin vorgestellten Institute (364) und die ambitionierte Untersuchungsdauer – nicht, wie regelmäßig bis zur Reformation, sondern bis 1810 – zurückzuführen. Diese kann der neue Sammelband nun zwar nicht zur Gänze beheben, doch verdeutlicht er immerhin die aufrichtige Sensibilität der niedersächsischen Landesforschung für diese Frage. Was der Rezensent nun aber seinerseits stark monieren muss, ist die jetzt immer noch vollkommen ausgeblendete transregionale Vergleichsoption, die die mittlerweile in der Nachbarschaft Niedersachsens realisierten Klosterbuchprojekte prinzipiell geboten hätten.3 Hier besteht weiterhin ein schmerzliches Desiderat – nicht nur, aber eben auch der niedersächsischen Klosterbucharbeit. Der Band beginnt mit einer buchstäblich (da gleich siebenmal vorkommenden, 10–15) ‚konzentriert‘ zurückblickenden und perspektivierenden Einführung des Herausgebers, in der die einzelnen Tagungsreferate vorgestellt werden (7–23). Nicht alle gelangten leider im Band zum Abdruck. Es folgen eine fundierte wie kritische Auseinandersetzung Hedwig Röckeleins mit der Zweckmäßigkeit des Landschaftsbegriffs für die Klöster Niedersachsens (25–43), eine umfänglichere Skizze Hans-Georg Aschoffs zu Ordenslandschaften (!) in Niedersachsen bis zur Reformation (45–114) sowie, gewiss nicht von ungefähr so prominent im Band platziert, ein Beitrag von Thorsten Albrecht zur Klosterforschung in Niedersachsen aus kunsthistorischer Sicht (115–140) und ein Aufsatz von Markus C. Blaich zur ebensolchen in archäologischer Perspektive (141–168). Spannend ist, wie unterschiedlich beide Disziplinen mit dem Landschaftsbegriff umgehen möchten oder können. Jörg Bölling setzt sich darauf, wie gewohnt kompetent, mit den Reliquien und Wallfahrten in den niedersächsischen Klöstern auseinander (169–194), worauf, nicht minder beacht­lich, Katharina Ulrike Mersch Klöster und Bildung in Niedersachsen zum Thema ihrer Betrachtung macht (195–231). Gleich zwei Beiträge widmen sich den Klosterbibliotheken: Thomas Haye untersucht sie als Reflexe intellektueller Diskurse (233–267), Kerstin Schnabel stellt Aspekte der Materialität in den Vordergrund ihres gleichsam seitenstärkeren Bemühens (269–324). Gudrun Gleba bringt sodann erwartungsgemäß fundiert klösterliche Wirtschafts- und Rechnungsbücher zur Sprache (325–337), worauf Thomas Vogtherr das Verhältnis von Konvent und Adel in Mittelalter und früher Neuzeit (339–352) ebenso souverän abhandelt wie Wolfgang Petke die Beziehungen zwischen den Klöstern und ihren Stifterfamilien (353–367). Daran schließt Christian Hoffmann sinnvoll mit seiner Untersuchung zum Verhältnis des landsässigen Adels zu den frühneuzeitlichen Klöstern an (369–392). Klosterkarrieren am Beispiel der Pröpste in den Frauenklöstern vor der Reformation wendet sich Wolfgang Brandis zu (393–420). Helmut Flachen­ ecker schreibt informativ über Klöster und Bischöfe in Niedersachsen (421–446), Karsten Igel über die Beginen in Niedersachsen und Bremen (447–465). Gudrun Pischkes mit anschaulichem Kartenmaterial unterlegtes Thema ist die Rolle der Klöster beim Landesausbau im welfischen Herrschaftsbereich vom 12. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (467–495), wohingegen Gabriel Zeilinger Kloster und Stadthof (497–507) beziehungsweise Werner Rösener Konversen und Lohnarbeiter im Umfeld der Zisterzienserklöster (509–523) prägnant zur Sprache bringen. Von den Bettelorden in Niedersachsen und ihrer Ökonomie der Armut erfährt man mehr im Aufsatz von Henning Steinführer (525–537). Gerald Schwedler steuert mit der Edition und Interpretation des Registrum Structurarorium Ecclesie Sancti Lamberti in Oldenburg von 1459 ein konkretes, im

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Detail packendes Beispiel zur Kirchenbaufinanzierung im Mittelalter bei (539–571). Zum Schluss ist Hans Ottes Beitrag über die Auflösung und das Nachleben der Klöster in den welfischen Territorien zu lesen (573–604). Statt einer angesichts der enormen Themenvielfalt und Erkenntnisfülle doch eigentlich erwartbaren Zusammenfassung, die die wesentlichen Erträge nochmals bündeln würde, und auch statt eines bei über 600 Buchseiten voll spannender Details mehr als hilfreichen Registers wird der Band an seinem Ende lediglich von einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren geziert (605 f.). Resümee wie Register hätten den wichtigen Tagungsband gewiss weiter aufgewertet und vor allem anschlussfähiger gemacht. Nichtsdestotrotz sind seine verschiedenartigen Aufsätze allesamt lesenswert, und ihre Lektüre bringt zum Lesegenuss auch vielseitigen Erkenntnisgewinn. Der gesamte Band ist löblich akkurat redigiert, sein Layout ästhetisch ansprechend gestaltet, sein Inhalt erfreulich vielseitig durch Fotografien, Karten oder Tabellen veranschaulicht. Frappierend bleiben am Ende die bestehenden Lücken im Hinblick auf Kunstgeschichte und Archäologie; auch Liturgie und Frömmigkeit scheinen einstweilen weiter eher vernachlässigt zu werden. Hervorstechend ist die hier zutage geförderte Rolle klösterlicher Netzwerke und von Frauenkommunitäten. Wie ein roter Faden durchzieht den Band die Diskussion um die Eignung des Begriffes Klosterlandschaft zur Umschreibung der niedersächsischen Verhältnisse. Auch wenn Reitemeier darauf pocht, dass dem Terminus „Potential innewohnt“ (21), muss man insgesamt doch konstatieren, dass in den Aufsätzen mit der einsamen Ausnahme der Archäologie doch eine kritisch-reservierte bis ablehnende Haltung vorherrscht. Niedersachsen als buntes Nachkriegsprodukt ist doch zu disparat, um alle Klöster des Raumes unter einem Landschaftsbegriff zu subsummieren. Für eine historisch kohärente Region wie Pommern mag dies vielleicht anders sein. Doch für Niedersachsen muss man wohl doch eher von Klosterlandschaften (!) sprechen. 1

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Josef Dolle (Hg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, 4 Bde. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 56), Bielefeld 2012. Siehe etwa – und stellenweise gewiss über das Ziel sinnvoller Kritik hinausschießend – die Bemerkungen von Klaus Graf unter https://archivalia.hypotheses.org/9024 (letzter Zugriff am 13.07.2022). Karl Hengst (Hg.): Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zu ihrer Aufhebung, 3 Tle. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 44), Münster 1992–2003; Heinz-Dieter Heimann u. a. (Hg.): Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde. (Brandenburgische historische Studien 14), Berlin 2007 (2. Aufl. 2010); Wolfgang Huschner u. a. (Hg.): Mecklenburgisches Klosterbuch, 2 Bde., Rostock 2016; Oliver Auge, Katja Hillebrand (Hg.): Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, 2 Bde., Regensburg 2019.

Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 134–136 Roland Deigendesch, Christian Jörg (Hg.) Städtebünde und städtische Außenpolitik – Träger, Instrumentarien und Konflikte während des hohen und späten Mittelalters. 55. Arbeitstagung in Reutlingen, 18.–20. November 2016 (Stadt in der Geschichte 44) Ostfildern: Thorbecke, 2019, 322 S., ISBN 978-3-7995-6444-1, 34,00 EUR. Die Städtebünde des Mittelalters gelten seit jeher als Ausweis der kommunalen Autonomie der beteiligten Städte und ihrer wachsenden Bedeutung im Rahmen der Reichspolitik. Nicht zuletzt aus diesen Gründen haben sie früh das Interesse der Forschung gefunden. Die überwiegend auf das Reich gerichtete Perspektive der Städtebundforschung – verbunden mit der Konzentration auf die durch die Bündnisurkunden dokumentierten normativen Setzungen – ließen die Außenpolitik der Städte als gemeinsam koordiniert und einheitlich erscheinen. Die Bünde würden in der Folge weiterhin – so Deigendesch und Jörg in ihrer konzisen Einleitung (1–17) – im Sinne des 19. Jahrhunderts als „geschlossene Blockbildungen“ (15) verstanden. Um ein differenzierteres Bild zu erhalten und dem Handeln der Bünde wie der einzelnen Städte gerecht zu werden, zielte die 55.  Jahrestagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, die vom 18. bis 20. November 2016 in Reutlingen stattfand, darauf, beide Aspekte und ihre jeweiligen Fragestellungen miteinander zu verschränken. Der Band versammelt in drei Sektionen die zwölf Beiträge der Tagung, denen die Einleitung sowie der Abendvortrag vorangestellt sind. Ein Verzeichnis der Autor:innen sowie ein Orts- und Personenregister beschließen den Band. Der öffentliche Abendvortrag von Deigendesch (19–44) über die Schlacht bei Reutlingen im Mai 1377 eröffnet den Band. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen Bewältigung und Deutung der Schlacht, die den Zeitgenossen „wegen ihrer Brutalität erklärungsbedürftig“ (20) schien und recht bald vielfältige Reaktionen und materielle Zeugnisse des Gedenkens hervorbrachte. In der spätestens im 16.  Jahrhundert einsetzenden Verschriftlichung der Erinnerung lässt sich erkennen, wie sie eine „Orientierung für das Selbstverständnis reichsstädtischer Eigenständigkeit“ (44) bot. Die erste Sektion widmet sich den „Städtische[n] Bünde[n] in Italien“. Dartmann (47–65) skizziert eine Neuausrichtung der Forschungen zum Lombardenbund, die in weiten Teilen noch durch die Deutungen des 19. Jahrhunderts geprägt seien, und diskutiert hierzu die „adelige Prägung der kommunalen Gesellschaft“ (51) sowie eine Einordnung des Bundes in das breitere Gefüge regionaler Kooperationen in Italien und im Mediterraneum. Das ermögliche, „den Wahrnehmungshorizonten und der politischen Praxis des Hochmittelalters besser gerecht zu werden“ (65). Wenig beachtet wurden bislang die Bündnisse der Städte Mittelitaliens im 13. Jahrhundert, denen der Beitrag von Abel (67–85) gewidmet ist. Am Beispiel des 1277 zwischen Perugia, Orvieto und Spoleto geschlossenen Bündnisses – einer von 115 societas der Städte der päpstlichen Provinzen des Dukats Spoleto und der Mark Ancona zwischen 1191 und 1300 – mit seiner exzellenten Quellenlage analysiert sie Praxis, Akteure und Schriftlichkeit im Prozess der Etablierung des Bundes.

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Die zweite Sektion befasst sich mit „Kommunikation und Konflikten. Grundlagen der Außenpolitik und Bündnisbeziehungen“. Am Beispiel des im Jahr 1293 geschlossenen Bundes der Städte Mainz, Worms und Speyer fragt Kreutz (89–102) nach den Möglichkeiten und Grenzen der gemeinsamen Politik anhand ausgewählter Konflikte. Das außenpolitische Handeln erweist sich dabei als abhängig von der innenpolitischen Situation in den Städten. Rückert (103–124) stellt den Schwäbischen Städtebund in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einen breiteren politischen Kontext und untersucht aus der Perspektive des Grafen von Württemberg Medien und Instrumentarien, die in Konflikten und Kooperationen eingesetzt wurden. Intensivierung der Schriftlichkeit und Präsenz vor Ort erscheinen hierbei als Formen der Konfliktkommunikation. Diplomatische und militärische Maßnahmen als Ausformungen von Kommunikation und Konflikt sowie als Bestandteil der Straßburger Außenpolitik im Rahmen des Rheinisch-Schwäbischen Städtebundes nimmt Liening (125–137) in den Blick. Er konzentriert sich auf die sogenannten Mahnungen als diplomatische Aufgabe, militärische Hilfe einzufordern, die gleichermaßen militärischen und diplomatischen Funktionen der Hauptleute und die daraus resultierenden innerstädtischen Entwicklungen und weist so die enge Verschränkung von Diplomatie und Krieg nach. Mit den Akteuren der städtischen Bündnis- und Außenpolitik beschäftigt sich auch Dirks (139–151) und geht der Rolle der Ratssendeboten in den städtischen Bündnissen des Hanseraumes nach. Deren zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung im 15. Jahrhundert ging mit stärker reglementierten Formen der diplomatischen Repräsentation einher. Die finanziellen Aspekte der bündischen Tätigkeiten und der Kommunikation darüber untersucht Hartich (153–186). Anhand der Esslinger Rechnungen (elf Stücke, die dem Beitrag als Edition beigegeben sind) und Korrespondenzen während des sogenannten zweiten Städtekrieges 1449/50 kann sie minu­tiös die Organisation der finanziellen Belange, die Kommunikationsstrukturen und die potentielle Langwierigkeit der Abrechnungen nachzeichnen. Die dritte Sektion ist den „Regionalen Bündnisstrukturen im Vergleich“ gewidmet. Eine klarere Konturierung des Züricher Bundes von 1351 mit einer Einordnung zwischen Landfrieden und Städtebund erarbeitet Huss (189–212), da sich „die Komplexität hoch- und spätmittelalterlicher Außenpolitik […] nicht immer adäquat über das Begriffspaar ‚Städtebund‘ und ‚Landfrieden‘ abbilden“ (190) lässt. Der Bund rücke, so ihr Fazit, „in die Nähe von zeitgleichen Städtebünden“ (212), weise aber dennoch Parallelen zu Landfrieden auf. Rüther (213–232) untersucht am Beispiel des Schwäbischen Bundes und des Städtekrieges in den Jahren 1376–1390, inwieweit die Gewalthandlungen im Rahmen der Bündniskriege koordiniert und organisiert wurden. Die gemeinsame Kriegsführung zeitigte einen höheren Grad an innerer Organisation, den Ausbau der städtischen Verwaltung sowie die Ausweitung der Schriftlichkeit. Ganz anderer Art sind die Bündnisstrukturen in Franken, denen sich Seyboth (233–259) zuwendet mit der Frage, warum die fünf Reichsstädte trotz vielfältiger gemeinsamer Interessen nie einen festen Bund gebildet haben und wie die intensiven Beziehungen dieser Städte charakterisiert werden können. Nürnberg, das die dominierende Position in der keineswegs homogenen Gruppe einnahm, war nicht an einem Bündnis gelegen, das seine Unabhängigkeit und Selbstständigkeit eingeengt hätte. Dennoch war das Verhältnis für alle Städte von Vorteil. Höhn (261–290) hinterfragt die Idee des Hanseraumes als „eines weitgehend einheitlichen, stabilen rechtlichen und ökonomischen Raums“ (262) und

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untersucht die räumliche und normative Gestalt der hansischen Außenpolitik. So plädiert er für eine neue Lesart, die die „Hanse als dynamischen Konfliktraum […], der durch eine Vielzahl verschiedener rechtlicher Regime geprägt war“ (262) deutet und dem rechtlichen Pluralismus eine integrative Wirkung zuweist. Haemers (291–310) fragt am Beispiel der brabantischen und flandrischen Städte danach, wie die Politik der Städtebünde in die Städte hineinwirkte und vor allem auf die innerstädtischen Auseinandersetzungen Einfluss nahm. Der Band hält, was er verspricht: Die Beiträge nehmen die städtische Außenpolitik und die Städtebünde in ihrem Bezug aufeinander in den Blick und untersuchen in einem „diachronen und regionalen Vergleich Entwicklung, Strukturen, Gegenstände und Handlungsspielräume von Städtebünden“ (15). Die gewählten Beispiele sind regional breit gestreut, denn, wenngleich der Schwerpunkt im oberdeutschen Raum (Elsass, Franken, Schwaben) liegt, werden auch die Hanse, Bünde in Flandern und Brabant sowie in der Schweiz behandelt. So bieten die Beiträge einen guten Eindruck von der Vielfältigkeit städtischer Kooperation, ihren Strukturen, Bedingungen und Grenzen und rücken manche thematische Engführung und Wertung zurecht. Einzig die Reihenfolge der Beiträge und auch die Strukturierung des Bandes durch die Sektionen – mit Ausnahme der ersten – erschließen sich der Rezensentin nicht, zumal in der Einleitung die Sektionen nicht erwähnt und die Beiträge mit anderen Schwerpunktsetzungen vorgestellt werden. Das aber schmälert den Ertrag des instruktiven und anregenden Bandes in keiner Weise. Dr. Heidrun Ochs Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 07, Historisches Seminar, 55099 Mainz, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 136–138 Josef Dolle (Bearb.) Papsturkunden in Niedersachsen und Bremen bis 1198 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 306), Göttingen: Wallstein, 2019, 348 S., ISBN 978-3-8353-3581-3, 39,90 EUR. Papsttum und Kurie spielen in der Mittelalterforschung seit jeher eine besondere Rolle – auch mit Blick auf die schriftliche Überlieferung. Die ‚Produkte‘ der päpstlichen Kanzlei betreffen das fast ganz Europa einbeziehende Gebiet der ecclesia romana; sie stehen im besonderen Fokus der Forschung und sind Grundlage für die Bearbeitung unterschiedlichster Themenfelder. Die Überlieferung der Papsturkunden ist gekennzeichnet durch die besondere Situation, dass bis zum Beginn des Pontifikates von Papst Innozenz III. 1198 beim Überlieferungsbildner selbst so gut wie keine Zeugnisse der Amtsgeschäfte erhalten sind, was sich dann durch den Erhalt der päpstlichen Registerserien im Archivio Apostolico Vaticano schlagartig ändert, die die Urkunden abschriftlich überliefern. Die Forschung muss sich somit für die Zeit bis zum Jahr 1198 auf die Empfängerüber-

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lieferung stützen – und hier fangen die Probleme an, denn wie lassen sich die teils weit gestreuten Dokumente so zusammenführen und aufbereiten, dass eine sichere Textgrundlage vorliegt? Angestoßen von Paul Fridolin Kehr (1860–1944), der 1896 der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen ein Gesamteuropa in den Blick nehmendes Erschließungsprojekt der Papsturkunden bis 1198 vorlegte, entwickelte sich das renommierte Göttinger Papsturkundenwerk der Pius-Stiftung, das regelmäßig Grundlagenwerke vorlegt, die den Inhalt der Papsturkunden in Regestenform wiedergeben. Andere Editionsvorhaben konzentrieren sich auf die Überlieferung einzelner Archive, wie die von Tom Graber im Rahmen des Codex Diplomaticus Saxoniae im Jahr 2009 vorgelegte Edition der Papsturkunden des Hauptstaatsarchivs Dresden (bis 1303; die Anschlussbände befinden sich in Bearbeitung). Das zweibändige Grundlagenwerk von Harald Zimmermann aus den Jahren 1984/85 hingegen setzt einen eigenen zeitlichen Schwerpunkt auf das frühmittelalterliche Papsttum mit einer Volledition aller Papsturkunden von 896 bis 1046. Aus niedersächsisch-bremischer Perspektive galt es dagegen, angesichts der geschilderten Überlieferungssituation und des bisherigen Bearbeitungsstandes der Papsturkunden – die bisherigen Editionen sind zum Teil veraltet und längst nicht immer verlässlich  – einen eigenen Weg zu finden. Dieser Ansatz ist jedoch aufgrund der erheblichen Kriegsverluste eine besondere Herausforderung, da ein Großteil der originalen Urkunden und der Kopialbücher (nebst Findmitteln) im Archiv in Hannover vernichtet wurde. Höchst beeindruckend ist daher, dass Josef Dolle innerhalb von nur zwei Jahren alle bekannten Papsturkunden aus dem Bearbeitungsgebiet zusammengeführt, mustergültig ediert und mit einem umfassenden textkritischen Apparat versehen hat. Angesichts der besonderen Problematik, dass die Texte zum Teil weit verstreut überliefert sind  – neben dem bereits genannten Vatikanischen Archiv wird man auch in England, Österreich, Frankreich und Dänemark fündig – und da bei kopialer Überlieferung zunächst die für die Edi­tion maßgebliche Leitquelle ausgemacht werden muss, wird die Leistung des vorliegenden Werkes noch zusätzlich unterstrichen. Dolle kann die Verluste an originaler und kopialer Überlieferung durch die im Nachlass von Albert Brackmann in Göttingen befindlichen Fotos der Papsturkunden kompensieren, was jedoch mit erheblicher Mühe verbunden ist  – ein Foto als Grundlage einer Edition verlangt dem Bearbeiter naturgemäß weit mehr ab als ein Original. Gerade hier zahlt sich die große Erfahrung von Dolle aus, der mittlerweile seit Jahrzehnten zu den herausragenden Editoren vor allem zur Überlieferung des niedersächsischen Raumes zählt. Besonders zum Tragen kommt dies auch bei der Klärung der Echtheitsfragen der einzelnen Papsturkunden. Für den Bearbeitungsraum sind es besonders die frühen Stücke, die im Kontext mit einer vermeintlichen Gründung eines Erzbistums Hamburg stehen, was bereits zu zum Teil intensiven Forschungskontroversen geführt hat. Von 38 Urkunden, in denen ein (Erz-)Bischof von [Hamburg-]Bremen genannt wird, sind mindestens 22 nun als Fälschung zu benennen. Zwei weitere könnten noch hinzukommen (13). Damit wird die für den norddeutschen und -europäischen Raum wichtige Frage nach der Gründung eines Erzbistums Hamburg durch Kaiser Ludwig den Frommen, die lange als gesichert galt und erst vor wenigen Jahren durch die Forschungen von Theo Kölzer neu aufgeworfen und als Fiktion dargestellt wurde, nun auch von editorischer Seite beleuchtet. Erst eine Urkunde aus dem Zeitraum um das Jahr 892 (Nr. 17) ist als echt anzusehen.

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Mit der Erkenntnis, dass die Gründung des Erzbistums Hamburg eine Fiktion ist, erhält auch die Kirchengeschichte Norddeutschlands und die Missionsgeschichte Nordeuropas durch das vorliegende Werk eine neue Grundlage, zumindest was die Rolle der Päpste betrifft. Ein weiteres wichtiges Ergebnis des vorliegenden Werkes ist die Beobachtung, dass ab der Mitte des 11. Jahrhunderts die Urkundenanzahl steigt. Dies hängt weniger mit einer günstigeren Überlieferungschance zusammen als mit den wachsenden Machtambitionen der Päpste im Konflikt mit den weltlichen Herrschaftsträgern, der sich nach der Synode von Sutri 1046 zuspitzte. Wichtig sind auch die Datierungen, die Dolle unter Einbeziehung der Forschungsliteratur und der Papstitinerare korrigieren, präzisieren beziehungsweise auch offener lassen kann  – so beispielsweise die littera Papst Hadrians IV. an die Benediktiner in Königslutter (Nr. 95). Mit Blick auf die Empfänger der insgesamt 163 bekannten Papsturkunden, unter denen sich auch fünf Legatenurkunden befinden, steht der (Erz-)Bischof von Bremen zusammen mit seinem Domkapitel mit 20 echten Urkunden an der Spitze, gefolgt vom Bischof von Hildesheim mit elf Urkunden an ihn und weiteren fünf an das Domkapitel gesandten litterae. Darüber hinaus treten die geistlichen Institutionen Loccum, Mariental, Rastede und Schöningen sowie das Michaeliskloster in Hildesheim hervor. Das vorliegende Buch ist somit eine kaum zu überschätzende Grundlage für alle zukünftigen Forschungen, nicht nur direkt zum Papsttum, das von den Erzbischöfen und Bischöfen durch die persönliche Verleihung von geistlichen Amtsinsignien oder ad-limina-Besuche zunehmend Bindung einforderte, sondern es bietet auch zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Kirchengeschichte, zur Entwicklung des kanonischen Rechts, zum kurialen Geschäftsgang und zur politischen Geschichte Norddeutschlands. Abgeschlossen wird diese Edition mit einem Verzeichnis der Incipits und einem Index der Personen und Orte sowie einem Index der Wörter und Sachen. Das vorliegende Werk bildet eine vorzügliche und verlässliche Grundlage, Papsturkunden bis zum Ende des 12. Jahrhunderts aus unterschiedlicher Perspektive unter den jeweiligen Fragestellungen auszuwerten und mit anderen Editionsprojekten zusammenzuführen. Damit und mit den Editionen von Brigide Schwarz1 und Tilman Schmidt2 liegen für Niedersachsen und Bremen nun sämtliche Papsturkunden bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts vor, was mit Blick auf andere Bundesländer einmalig ist. 1

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Brigide Schwarz: Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 1199–1417 (Index actorum Romanorum pontificum 7), Città del Vaticano 1988; Dies.: Regesten der in Niedersachsen und Bremen überlieferten Papsturkunden 1198–1503 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37), Hannover 1993. Tilman Schmidt: Die Originale von Papsturkunden in Norddeutschland (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein) 1199–1417 (Index actorum Romanorum pontificum 7), Città del Vaticano 2003.

Dr. Jörg Voigt Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Hannover, Am Archiv 1, 30169 Hannover, Deutschland [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 139–141 Peer Frieß Zwischen Kooperation und Widerstand. Die oberschwäbischen Reichsstädte in der Krise des Fürstenaufstandes von 1552 (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 2), Stuttgart: Kohlhammer, 2019, 256 S., 15 Abb., ISBN 978-3-17-036529-2, 29,00 EUR. Die Rolle der süddeutschen Reichsstädte innerhalb des Fürstenaufstandes von 1552 hat in reichs-, reformations- und stadtgeschichtlichen Darstellungen bisher kaum Beachtung gefunden, obwohl die Auseinandersetzung mit diesem bemerkenswerten Konflikt im Vorfeld des Augsburger Religionsfriedens anhält. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Entscheidungen und Aktionen von mehr als einem Dutzend Reichsstädten in Hinblick auf den Fürstenaufstand zu untersuchen, ist an sich schon ein mühevolles Unterfangen, unterscheiden diese sich in Bezug auf ihre Größe und Verfasstheit sowie ihre politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und konfessionellen Rahmenbedingungen doch erheblich voneinander. Erschwert wird eine vergleichende Untersuchung übergeordneter und gemeinsamer Werte, Reaktionen, Handlungsmuster und Strategien der Reichsstädte zusätzlich durch die heterogene, oft bruchstückhafte, in jedem Fall aber ganz unterschiedlich dichte Quellenlage in den einschlägigen Kommunalarchiven. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Peer Frieß anhand der Kombination vieler kleiner Überlieferungen dieser Aufgabe nicht nur gestellt hat. Der Autor hat es auf beeindruckende Weise auch geschafft, eine gemeinsame Einordnung der reichsstädtischen Außenpolitik im Kontext des Fürstenaufstandes vorzulegen und ganz nebenbei das Desiderat beseitigt, neben Kaiser und Fürsten überhaupt erst die Reichsstädte als Betroffene und Akteure dieses Konflikts in den Fokus zu nehmen. Wenn der Autor die diplomatischen Bemühungen der Reichsstädte mit der „Kunst des Möglichen“ beschreibt (116), so trifft das auch für seine akribische und keine Mühen scheuende Darstellung zu. Dazu passt, dass es sich bei der Studie ganz offenbar um einen nicht gesuchten, aber gefundenen Untersuchungsgegenstand handelt, an deren Anfang – wie der Autor selbst angibt – „ein paar zufällige Funde“ (9) standen. In der Einleitung entflechtet der Autor das Gefüge des Fürstenaufstandes, indem er die Reichsstädte zwischen Kaiser und Fürsten als Betroffene in den Blick nimmt und deren Dilemma konkret benennt: „Sollte man sich angesichts der fürstlichen Übermacht und des fast völligen Ausbleibens kaiserlicher Hilfe den aufständischen Fürsten anschließen und damit den Zorn Kaiser Karls V. heraufbeschwören? Oder sollte man den Fürsten trotzen und sich auf eine Belagerung einlassen, die zumindest das Umland der eigenen Stadt verwüsten, möglicherweise aber auch zahlreichen Bürgern im Kampf das Leben kosten könnte?“ (13). Der Autor entwickelt aus diesem doppelten Aspekt der außen- wie innenpolitischen Gefährdung der Reichsstädte die ebenso doppelte Fragestellung und fahndet dann einerseits nach den gemeinsamen Strategien im Konflikt zwischen Kaiser und Fürsten und andererseits nach der innerstädtischen Krisenbewältigung. Im ersten Teil der Studie untersucht Frieß die außenpolitischen Bemühungen der Reichsstädte Biberach, Buchhorn, Isny, Kaufbeuren, Kempten, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Pfullendorf,

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Ravensburg, Überlingen und Wangen. Mit den finanziellen Belastungen infolge des Schmalkaldischen Krieges, der Durchsetzung des Interims, der Aufhebung der Zunftverfassungen und einer prekären Schutzlosigkeit infolge des kaiserlichen Einungsverbots benennt der Autor die Gründe für die bereits vorhandene Schieflage vieler Städte im Vorlauf des Fürstenaufstands. Die großen Reichsstädte Ulm (Widerstand) und Augsburg (Kooperation) bilden in dieser Untersuchung den Bezugsrahmen für die Möglichkeiten der kleineren Reichsstädte, die unter dem Deutungsansatz der „Handlungs(spiel)räume“ (Rudolf Vierhaus und Albrecht Pius Luttenberger) untersucht werden. Der Autor vermag es dabei, das in der älteren Forschung vage Bild der einerseits als passiv und anderseits als fürstenfreundlich eingestuften Städte auf Basis der Quellen zu präzisieren: Alle Städte begannen infolge ihrer Bedrohung unmittelbar damit, aktiv ihren Handlungsspielraum zu erkunden, ihre Kommunikationsnetzwerke zu aktivieren, Vorbereitungen für den Kriegsfall zu treffen und Kontakte mit einflussreichen Nachbarn (in Ravensburg etwa mit dem habsburgischen Landvogt auf der Veitsburg) und mit dem kaiserlichen Hof aufzunehmen. Auf dem Augsburger Capitulationstag wurde gemeinsam auf Zeit gespielt. Der Kaiser wurde gleichzeitig beschwichtigt. Als gemeinsame Werte dieser diplomatischen Leistung eruiert Frieß die Maxime der Kaiser- und Reichstreue sowie die Wahrung der innerstädtischen Stabilität durch die Vermeidung kriegsbedingter Belastungen für die Bürger. Im zweiten Teil des Bandes untersucht Peer Frieß dann die innerstädtischen Prozesse während der Bedrohung durch den Fürstenaufstand. Die von unterschiedlichen verfassungsrechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und konfessionellen Aspekten geprägten Reichsstädte unter Einfluss einer Vielzahl an eigenständigen internen und externen Persönlichkeiten mit ebenso hete­rogenen Interessen, bringt der Autor im Sinne der soziologischen Theorie als ‚Komplexe Adap­tive Systeme‘ auf einen Nenner. Aufgrund der guten Quellenlage dient die Stadt Lindau als Referenzobjekt, an der jedoch gezeigt wird, dass einfache Ursache-Folgen-Modelle für die komplexen Systeme der Städte nicht greifen. Wohl aber kann festgestellt werden, dass dort, wo die Komplexität der Verhältnisse besonders hoch war, vermehrt partizipative Strukturen reaktiviert wurden, mit denen obrigkeitliches Entscheiden und Handeln legitimiert wurde. Die Reichsstädte erreichten so in höchster Bedrohung eine gewisse Flexibilität, anhand der sie ihre städtischen Gesellschaften stabilisieren und ihre Reichsstandschaft sichern konnten. Der Band in der Forschungsreihe „Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur“ der Gesellschaft Oberschwaben ist ansprechend farbig bebildert, hat ein sorgfältig ausgearbeitetes Orts- und Personenregister, Abbildungs-, Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis. Der Anhang enthält zudem eine Auswahl an edierten Einzelquellen, deren Auswahl begründet und deren Transkriptionsrichtlinien klar dargelegt werden. Das Ziel des Autors, mit einer Untersuchung der Rolle der süddeutschen Reichsstädte das Verständnis des Fürstenaufstandes einem Perspektivenwechsel zu unterziehen und damit um eine wichtige Komponente zu erweitern, ist nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch voll und ganz gelungen. Die doppelte Fragestellung und gleichzeitig quellenreiche Untersuchung außenpolitischer Handlungsmöglichkeiten und innerer Krisenbewältigung stellt einen wichtigen Beitrag zur Verfasstheit der Reichsstädte in der Mitte des 16. Jahrhunderts dar, von dem die stadtgeschichtliche Forschung auch über die beteiligten Städte hinaus profitiert. Denn deutlich wird

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in der Studie einmal mehr, von welch vielschichtiger Spannung, welch erheblichem Ringen und welch kommunikativer Anstrengung das Zusammenleben in den frühneuzeitlichen Stadtgesellschaften geprägt war. Dr. Silke Schöttle Stadtarchiv Ravensburg, Kuppelnaustr. 7, 88212 Ravensburg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 141–145 Frederic Zangel Castrum, curia, berchvrede. Die Burgen Holsteins und Stormarns in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Wahrnehmung (1134 bis 1534) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 6), Kiel/Hamburg: Wachholtz, 2021, 682 S., 12 Abb., 11 Tab, ISBN 978-3-529-03606-4, 56,00 EUR. Die Erforschung mittelalterlicher Wehrbauten erfolgt meist aus archäologischer, bau- und kunstgeschichtlicher Perspektive, die durch historische Forschungen eher ergänzt als bestimmt wird. Die Kieler Dissertation von Frederic Zangel, die im Rahmen eines von Oliver Auge geleiteten DFG-Projektes zu schleswig-holsteinischen „Kleinburgen als Phänomen sozialen und herrschaftsräumlichen Wandels“ am dortigen Historischen Institut entstand, wählt einen anderen Weg: Die hoch- und spätmittelalterlichen Burgen Holsteins und Stormarns werden im Wesentlichen auf der Grundlage der schriftlichen Überlieferung untersucht, während andere Zugänge eine Nebenrolle spielen. Selbst archäologische Ergebnisse, die für das Verständnis der von unscheinbaren Turmhügeln geprägten Burgenlandschaft der beiden Regionen von großer Bedeutung sind, fließen nur am Rande in die Untersuchung ein. Das tut Zangels Arbeit aber keinen Abbruch. Vielmehr erweist sich sein methodischer Ansatz als fruchtbar, um die Funktion der Burgen innerhalb der Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen seines Arbeitsgebietes zwischen 1134 – dem Zeitpunkt der Errichtung der Burg Segeberg auf Geheiß Kaiser Lothars von Süpplingenburg – und dem Jahre 1534 herauszuarbeiten, als die Lübecker in der sogenannten Grafenfehde nach Holstein einfielen. Im Zentrum stehen die zeitgenössische Wahrnehmung der Burgen und ihre Rolle im spätmittelalterlichen politisch-diplomatischen und militärischen Geschehen, das Zangel – orientiert an Peter Moraw – als Kräftespiel auffasst: Die Wehranlagen waren Instrumente von vielfältiger praktischer Bedeutung bei den Interaktionen der politisch bestimmenden Mächte, namentlich der Landesherren, des Niederadels, der Städte sowie bestimmter geistlicher Institutionen. Diese Ausgangshypothese seiner Studie belegt der Autor in überzeugender Weise. Das ist keineswegs eine triviale Prämisse angesichts von Tendenzen der jüngeren Forschung, Burgen in erster Linie als Machtsymbole zu betrachten.

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Auch wenn der Klappentext „zahlreiche[n] Abbildungen“ im Buch verspricht, so ist tatsächlich eher das Gegenteil der Fall: Auf fast 700 Seiten verteilen sich nur 12 Illustrationen, und zwar Karten, Grafiken und eine vom Autor stammende Kinderzeichnung. Nur das Titelbild zeigt eine der behandelten Burgen, ansonsten wird – ganz den althergebrachten Gepflogenheiten geschichtswissenschaftlicher Literatur entsprechend – auf dieses leserfreundliche, informationsstarke und den Text gliedernde Medium verzichtet. Es hätte sich jedoch gerade bei einer Burgenstudie empfohlen. Dass sich das Buch trotzdem gut erschließt, liegt an der straffen und leicht nachvollziehbaren Gliederung in vier Haupt- und zahlreiche Unterkapitel, sodass man das Werk im Ganzen wie auch handbuchartig zur Beantwortung spezieller Fragen verwenden kann. Die Einleitung klärt den Gegenstand und die Herangehensweise der Arbeit, definiert den verwendeten Burgenbegriff nach Günther Binding (die Burg ist ein bewohnbarer Wehrbau) und gibt einen Überblick zur Forschungsgeschichte. Das slawische Befestigungswesen klammert Zangel aus, obgleich einige Burgwälle dieses Kontextes in Ostholstein, beispielsweise die Oldenburg, während des 12./13. Jahrhunderts noch eine große Rolle spielten. Die in die Frühgeschichte zurückreichenden Fortifikationen ließen sich mit einem vorwiegend geschichtswissenschaftlichen Ansatz wohl auch nur unzureichend erfassen. Die Einführung befasst sich auch mit der Art und Aussagekraft der Quellen – gerade niederadlige Burgen entbehren nicht selten jeglicher zeitgenössischer Schriftnennung, die vorwiegend städtischen Chroniken nehmen eine urbane Perspektive ein. Zangel stellt heraus, dass kriegerische Konflikte, Besitzwechsel – meist im Rahmen von Kauf und Pacht – sowie die Nähe zu einer der großen Städte darüber entschieden, wie häufig eine Befestigungsanlage Eingang in die schriftliche Überlieferung fand. Manche Burgen „erreichten das für eine Erwähnung in einer weitgehend noch schriftlosen Zeit nötige Maß an Aufmerksamkeit eben nur selten oder nie“ (408). Weiterhin geht es um schillernde, da mehrdeutige Begriffe wie curia oder Berchvrede. Dass mit letzteren nicht immer Befestigungen gemeint waren, schließt Zangel unter anderem aus der Bestimmung eines Vertrages zwischen Hamburg und den Holsteiner Grafen von 1347, derzufolge nach der Zerstörung der Burgen von Stegen und Wohldorf die Errichtung von Berchvreden an der Alster weiterhin erlaubt sein sollte. Damit waren jedoch sicherlich Burgen, wenn auch von eher bescheidenem Ausbaugrad gemeint, nicht „unbefestigte Bergfriede“ (41). Vermutlich wurden unter Bergfrieden Turmhügel mit hölzerner Bebauung verstanden, deren Überreste – wie gesagt – das Bild der Burgen in Schleswig-Holstein heute bestimmen. Der erste Hauptabschnitt („Grundlagen“, 46) berührt rechtliche Aspekte des Burgenbaus, wobei es besonders darum geht, wer Befestigungen errichten und wer sie gegebenenfalls auch verbieten durfte. Die „Existenz eines landesherrlichen Burgenbauregals“ kann zwar „weder völlig ausgeschlossen noch […] als gesichert angesehen werden“ (58). Gleichwohl wird deutlich, dass es wiederholt Burgenbauverbote seitens unterschiedlicher hochadliger und städtischer Gewalten gab. Die Frage war allerdings, ob diese Bestrebungen durch ihre Initiatoren durchzusetzen waren oder nicht. „Ein Burgenbauregal […] bestand […] jedenfalls nicht losgelöst von den realen Kräfteverhältnissen, sondern musste gegen andere Akteure durchgesetzt und behauptet werden“ (56). Einer mächtigen Stadt wie Lübeck beispielsweise gelang es über lange Zeiträume, den Bau von Burgen in ihrer Umgebung ziemlich vollständig zu verhindern oder zumindest zu kontrollieren, und zwar durch Diplomatie und Geldzahlungen, mithilfe von Rechtstiteln ebenso wie durch Ge-

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walt. Diese Bemühungen waren aber nicht immer erfolgreich. So scheiterten offenbar Versuche der Stadt und des Landesherrn, den Ausbau der bei Travemünde gelegenen Burg Widdole durch die niederadligen Gebrüder Buchwald zu verhindern. 1336 hatte Graf Johann III. von HolsteinPlön entschieden, dass der dort im Bau befindliche Turm einzureißen sei und steinerne Bauten fürderhin zu unterbleiben hätten, doch die Zerstörung der Burg durch städtische Truppen im Jahre 1364 lässt „auf die Existenz einer eigentlich zuvor verbotenen Befestigung schließen“ (40). Für die Errichtung und die Gestaltung einer Burg war neben den Rechten des jeweiligen Bauherrn natürlich auch seine finanzielle Potenz ausschlaggebend, wie Zangel anhand schriftlicher Nachrichten verdeutlicht. Das zweite Hauptkapitel („Fundamente adliger Herrschaft“, 72) untersucht die Funktion der Wehranlagen für ihre hoch- und niederadligen Besitzer – hier geht es um Burgen als Kommunikations- und Konfliktorte, Stätten von diplomatischem Austausch, von Gastung und Beurkundung, Stützpunkte bei Fehden und Kampfhandlungen, Gefängnisse für Gegner oder Geiseln, als Gerichtsstätten, als administrative Zentren, Wirtschaftsbetriebe, als Objekte von Verpfändungen, als Wohnsitze beziehungsweise Residenzen, als Statussymbole und anderes mehr. Gestützt auf zahlreiche sorgfältig analysierte Quellen werden die mannigfaltigen funktionalen Facetten der Burgen und damit deren enorme Bedeutung für die sehr heterogene und von unterschiedlichen Interessen geleitete Adelsgesellschaft sowie deren politisches Kräftespiel herausgearbeitet. Dem entspricht die Vielfalt der Herrensitze, die von großen und stark ausgebauten Wehrbauten bis hin zu unbefestigten Höfen reicht. Die Anlagen erfuhren besonders dann schriftliche Erwähnung, wenn sie im Rahmen von Verkäufen, Verpfändungen oder anderweitigen Transaktionen den Besitzer wechselten. Es gibt aber auch eine überraschend große Zahl von urkundlichen und chronikalischen Nachrichten über Kampfhandlungen an Burgen  – ein Befund, den archäologische Forschungen zu bestätigen vermögen. Das gilt besonders, seitdem das Metallsuchgerät bei Ausgrabungen und Prospektionen zum Einsatz kommt und oftmals große Mengen von Armbrustbolzen sowie andere Militaria ans Tageslicht befördert. Auch von Belagerungs- und Trutzburgen beziehungsweise Anlagen, die im Rahmen und zum Zwecke militärischer Konflikte entstanden, ist in den Schriftzeugnissen wiederholt die Rede. In bestimmten Phasen des hohen und späten Mittelalters wurde das Kräftespiel von militärisch ausgetragenen Konflikten zahlreicher Akteure bestimmt, sodass verständlich wird, dass es in Stormarn und Holstein – wie auch darüber hinaus – so viele Burgen gibt. Sie künden von kriegerischen Zeiten, in denen Herrschaft und Interessen vielfach noch mit dem Schwert durchgesetzt oder ausgehandelt wurden. „Im 12. und 13. Jahrhundert“, so führt der Autor aus, „war das Herrschaftsgefüge im Untersuchungsgebiet wenig konsolidiert“, was zu „Auseinandersetzungen […] vor allem um die Burgen als feste Plätze“ führte, auch später waren sie Schauplätze der „Eskalation“, und „die Konflikte des 15. Jahrhunderts wurden […] zum Teil ebenfalls gewaltsam ausgetragen“ (109). Dass „die militärische Funktion der Burgen […] in ihrer Bedeutung hinter die wirtschaftlichadministrative zurück“ trat (234), wie Zangel gleichwohl meint, ist fraglich, denn dieser Befund dürfte vor allem mit der größeren schriftlichen Überlieferungschance letztgenannter Faktoren zusammenhängen; wie oben bereits erwähnt, treten Herrensitze oft bei Transaktionen, Verwal-

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tungsakten und ähnlichen Gelegenheiten ins Licht der Textzeugnisse. Desgleichen ist ungewiss, ob beim zeitweise grassierenden niederadligen Fehdewesen „die militärische Funktion der Anlagen von geringerer Bedeutung als deren Nutzung als Kommunikationsraum“ war (111). Sicherlich richteten sich Fehdeaktionen vielfach gegen die Dörfer und Bauern des Gegners, aber archäologische Funde zeigen, dass auch Turmhügel als übliche Niederadelssitze Objekte von Angriffen sein konnten, die wir in aller Regel mit dem Fehdegeschehen verknüpfen dürfen. Zumindest als „militärische Drohkulisse“ (183) hatten die Fortifikationen jedenfalls eine wichtige Rolle inne. Städte und Landesherren versuchten dem Fehdewesen und ähnlichem Treiben der gerade in Krisenzeiten sehr selbstbewusst agierenden Ritter und Knappen mit Landfriedensbündnissen entgegenzuwirken. Der Autor stellt zahlreiche Indizien für Räubereien, Entführungen und anderweitige, oft gegen Kaufleute gerichtete Gewalttaten seitens Niederadliger zusammen, teils im Rahmen regulärer Fehden und teils ohne solchen Deckmantel. Gleichwohl sei der „in der älteren Literatur postulierte Begriff des Raubrittertums […] äußerst zweifelhaft“ (122). Dem Rezensenten scheint der Ausdruck das Handeln dieser Männer, die die ihnen zu Gebote stehenden militärischen Mittel in Zeiten schwacher Landesherrschaft rücksichtslos, gewalttätig und mit allenfalls vagen Rechtstiteln zum eigenen Vorteil ausnutzten, hingegen durchaus treffend zu bezeichnen. Freilich ist zu differenzieren, zumal der Niederadel seinerseits eine sehr heterogene Gruppe bildete. Beispielsweise war er in den spätmittelalterlichen Bemühungen um den Landfrieden „nicht nur als Gegner beteiligt, sondern […] auch als Kooperationspartner“ (171). Im nächsten Hauptkapitel geht es um Burgen „im Spannungsfeld städtischer Politik“ (236). Mächtige Städte wie Lübeck und Hamburg nahmen starken Einfluss auf die Burgen in ihrem Umland, insbesondere jene des niederen Adels, zumal dieser von seinen Stützpunkten aus den Handel auf den Straßen und Strömen zu beeinträchtigen vermochte. Auch gab es Spannungen, da Städte beziehungsweise deren Einwohner im Umkreis Ländereien, Rechte und auch Burgen erwarben, was mit niederadligen Ansprüchen kollidieren konnte. Beispielsweise zerstörten die Lübecker im Jahre 1364 sechs buchwaldische Burgen unfern der Stadt. Anlass war unter anderem der Fall des Lübecker Bürgers Murkerke, der wegen eines Konflikts um Pfandbesitz von den Buchwalds gefangen genommen und misshandelt worden war, woran er – wieder in Freiheit – in der Stadt verstarb. Der Rat übergab daraufhin den Leichnam an die Niederadligen, die sich an diesem in archaisch-symbolhafter Weise schadlos hielten, indem sie ihn köpften und das Haupt auf einer Stange bei jenem Dorfe präsentierten, das Gegenstand der Zwietracht gewesen war. Bündnisse und Verträge untereinander sowie mit anderen, vor allem gräflichen Gewalten beinhalteten konkrete Maßnahmen der Städte zur Zerstörung bestehender Wehranlagen und zur Verhinderung ihrer Errichtung, zum Beispiel am 6. Oktober 1306 Lübeck und Hamburg gegen Arnesvelde, Wohldorf und Travemünde (und nicht gegen Stegen, wie Zangel auf 253 und 273 irrtümlich mitteilt). Es gab aber auch andere entsprechende Maßgaben: Eigene Bürger wurden zur Niederlegung von in ihrem Besitz befindlichen Befestigungen im städtischen Umfeld angehalten, städtischen Handwerkern untersagte man die Mitwirkung am Bau von Burgen im Umland, und 1448 wurde durch die Lübecker und Herzog Bernhard I. gar eine Mühle in Dutzow am Schaalsee gebrochen, die – anscheinend zwecks Umgehung existierender Burgenbauverbote – durch die Gebrüder Lützow befestigt worden war. Der finanzielle Aufwand der Städte für Kriegszüge gegen

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benachbarte Niederadelsburgen war erheblich, und sie hielten in der Regel auch die notwendigen Belagerungsgeräte vor, die sich andere Akteure nicht zu leisten vermochten. Dass es neben konfrontativen Begegnungen zwischen Städtern und Adligen auch Zusammenarbeit gab, versteht sich von selbst und wird auch herausgearbeitet. Im letzten Hauptteil, „Zwischen Burgmauer und Kirchturm“ (324), stehen geistliche Akteure und Befestigungen im Mittelpunkt, und zwar Burgen von Bischöfen und Domkapiteln, aber auch Stiftungen von Klöstern auf Burgstätten, die Reaktion von religiösen Gewalten auf fremden Burgenbau in oder bei ihrem Gebiet, Burgkapellen und weitere Aspekte dieses Themas. Vor allem im 13. und 14. Jahrhundert lässt sich wiederholt nachweisen, dass in geistlichen Besitz gelangte Burgen niedergelegt wurden, da sie „offenbar sowohl als militärische Gefahr als auch als Symbol adligen Wirkens und Herrschaftsanspruchs wahrgenommen“ wurden (402). Besonders die Bischöfe nutzten Burgen als Machtinstrumente. Für die Lübecker Bischöfe hatten außerhalb der Stadt gelegene Ansitze eine wichtige Funktion als Residenzen, etwa jener von Eutin; die Kirchenfürsten hielten sich im mittelalterlichen Reich oft außerhalb der Bistumsstädte auf, unter anderem weil es mit diesen ständig Konflikte gab. Burgen im Besitz von Klöstern lassen sich im Arbeitsgebiet nicht nachweisen. Das Buch schließen umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnisse, ein Orts- und Personenregister sowie nicht zuletzt ein Katalog der Burgen ab. Die Schrift ist gut formuliert und fast frei von Satzbau- und Rechtschreibfehlern. Insgesamt gelingt es Zangel, ein facettenreiches Bild des mittelalterlichen Burgenbaus in Holstein und Stormarn zu zeichnen, auch wenn er manche Aspekte des Themas übergeht beziehungsweise mit der von ihm gewählten Methodik nicht umfassend erschließen kann. Das gilt etwa für die Baugestalt und -geschichte der Burgen, ihre Rolle beim ostsiedlungszeitlichen Landesausbau in den slawischen Siedlungsgebieten, ihre Beziehung zum Wegesystem und in der Siedlungslandschaft oder ihre Funktion als Statusemblem und Bühne einer repräsentativen elitären Lebensführung. Die Bedeutung, Nutzung und Wahrnehmung der Burgen im Kräftespiel der zeitgenössischen Akteure wird aber instruktiv herausgearbeitet. Prof. Dr. Felix Biermann Uniwersytet Szczecinski, Instytut Historyczny, Krakowska 71–79, 71–017 Szczecin, Polen, [email protected], Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Richard-Wagner-Straße 9, 06114 Halle (Saale), Deutschland

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 145–147 Kathrin Kelzenberg Heiliglandfrömmigkeit im Nordwesten des Reiches. Die Herzogtümer Brabant, Geldern, Jülich und Kleve im späten Mittelalter (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 27), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2022, 399 S., 3 Abb., ISBN 978-3-8253-4835-9, 45,00 EUR.

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Zunehmend wird seit einiger Zeit europäische Religionsgeschichte als Teil der Kulturgeschichte verstanden beziehungsweise mit kulturhistorischen Perspektiven untersucht. Dazu tragen vor allem regional oder lokal begrenzte, vertiefte Untersuchungen bei, aber auch umfangreich angelegte Arbeiten zum Verständnis des lateinischen Christentums in Europa.1 Es versteht sich, dass dabei nach weit verbreiteten Gemeinsamkeiten gesucht wird, zugleich lokale und regionale Besonderheiten im Blick sind. In diesen Zusammenhang gehört die vorliegende Dissertation von Kathrin Kelzenberg zur niederrheinisch-niederländischen Region ( Jülich, Kleve, Geldern als Schwerpunkt, Brabant meines Erachtens etwas weniger berücksichtigt). Unter dem Titel und wohl neu geschaffenen Begriff „Heiliglandfrömmigkeit“ untersucht Kelzenberg, wie vor allem Leid und Tod Christi (neben Geburt und Auferstehung) im 14. und 15.  Jahrhundert eine Intensivierung in der Glaubenspraxis erlebten. Diese Intensivierung vollzog sich gerade nach dem Ende der politisch-militärischen Präsenz der Europäer im Vorderen Orient, also vor allem seit circa 1300, als Pilgerreisen ins Heilige Land erst recht die Ausnahme wurden. Die Intensivierung zeigte sich aber besonders darin, dass die in Palästina mit zentralem Geschehen der Evangelien verbundenen Orte im Glaubensbrauch der europäischen Heimat deutlich öfter wiedergegeben wurden. Neben Bethlehem war das vor allem das Jerusalem der Passion Christi. Kreuze und Kreuzaltäre mit entsprechenden Reliquien, Grabnachbauten, Kalvarienberge oder ähnlichem entstanden mehr und mehr, nicht selten in besondere Kapellen eingeweiht. In jedem Fall rückte das Nach-Erleben der Passion – auch außerhalb der Passionszeit des Kirchenjahrs – näher durch Schauen, Fühlen und Ort des besonderen Gebets. Dazu wurden manche, entsprechend gestaltete Kirchen Ziele von Pilgern der näheren Umgebung, zum Beispiel in Wesel und Roermond. Schließlich lassen die Quellen erkennen, wie sowohl Geistliche als auch Laien neue Gemeinschaften bildeten, deren Kern Kelzenberg treffend zusammenfasst: „Die Passion Christi war zentraler Bestandteil der christlichen Frömmigkeitspraxis.“ (224) Kelzenbergs Leistung besteht darin, natürlich unter Einbezug bisheriger Erkenntnisse, diese Entwicklung vor allem des 15.  Jahrhunderts vor allem für Jülich, Kleve, Geldern und mit dem Blick nach Brabant nachzuvollziehen. Durch ihre intensive Untersuchung und Zusammenfügung wird eine Region erkennbar, die sich im 15. Jahrhundert durch ein besonders ausgeprägtes Frömmigkeitsprofil auszeichnete, und zwar mit Heiliglandfrömmigkeit gekennzeichnet – so die anfangs formulierte „Hypothese“ (25), die sich weitgehend bestätigt. Der Autorin ist durchaus bewusst, dass die Quellen beziehungsweise fehlende Quellen an manchen Stellen nur begrenzte Aussagen erlauben, inklusive gewisser Unterschiede innerhalb der Region. Zu Recht betont Kelzenberg auch die Verbindung der Heiliglandfrömmigkeit mit der devotio moderna (223, 317), die bekanntlich gerade im Nordwesten des römisch-deutschen Reiches entstand und dort prägte. Die Arbeit ist von der Untersuchung her sinnvoll gegliedert und enthält nach der Einleitung und der Vorstellung der Region in der Zeit drei ungefähr gleich große Hauptkapitel (Pilgerreisen nach Palästina; Vergegenwärtigungsaktionen durch Reliquien, Altäre; geistliche Gemeinschaften) sowie ein konzentriertes Schlusskapitel. Sprachlich wie in formaler Hinsicht finden sich nur minimal Fehler. Gelegentlich überdecken meines Erachtens Details den roten Faden der Darstellung, aber das sind Ausnahmen.

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So liegt eine gelungene, gut lesbare Untersuchung vor. Die dafür ausgewählte, heute deutschniederländisch-belgische Region ist zwar vielen nicht vertraut. Bis weit in das 16. Jahrhundert hinein aber bestanden verschiedene Verbindungen, die eben nicht nur auf politischer und wirtschaftlicher Ebene bestanden, sondern sich gerade auch religions- beziehungsweise kulturgeschichtlich erfassen lassen. 1

Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg 2006; Michael Maurer: Konfessionskulturen. Die Europäer als Protestanten und Katholiken, Paderborn 2019. Am breitesten angelegt und am bekanntesten vermutlich der Ansatz des Theologen Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014.

Prof. Dr. Volker Seresse Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 147–149 Wilhelm A. Eckhardt (Bearb.) Das Arnsburger Urbar (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 54 = Hessische Urbare und Salbücher 2), Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2017, 780 S., Abb., ISBN 978-3-942225-36-6, 65,00 EUR. Wie ein Vermächtnis liegt der 808 Seiten starke Band der Edition des Arnsburger Urbars von Wilhelm A. Eckhardt vor. Es handelt sich dabei um das Ergebnis eines archivtechnisch wie editorisch langen Entstehungsprozesses, an dessen Ende der Herausgeber ein Jahrhundertprojekt zum Abschluss brachte. 1919 fand der Darmstädter Archivrat Fritz Herrmann im Fürstlich Solmschen Archiv in Schloss Lich im ungeordneten Urkundenbestand das aus zwei Teilen bestehende, bis dahin unbekannte Urbar des Klosters Arnsburg aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Nach der Abgabe an das Darmstädter Staatsarchiv stellte Ernst Widmann 1922 dessen Bedeutung fest und empfahl ein Editionsvorhaben. Dies war von Anfang an gerechtfertigt, da die ehemalige Zisterzienserabtei Arnsburg eines der bedeutendsten Zisterzienserklöster in Hessen darstellte. Nach Eberbach (1136) und Haina (1150) wurde Arnsburg 1174 gegründet und erwarb bis zur Säkularisation großen (verstreuten) Güterbesitz in Hessen. 1803 wurde dieser infolge des Reichsdeputationshauptschlusses zur Entschädigung des Gesamthauses Solms für verlorene linksrheinische Güter verwendet, Archivalien wurden unter den unterschiedlichen Linien aufgeteilt. Die Genese der Edition reißt der Herausgeber nur mit knappen Worten an. Kollationierung und Transkription erledigte Pfarrer Waldemar Küther in den Jahren ab 1964, doch trotz der zahlreichen Hilfestellungen durch die historische Kommission für Hessen (und den Herausgeber

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selbst) genügte diese nicht für den Druck in der Reihe der „Hessischen Urbare und Salbücher“. Erst nachdem Eckhardt 1994 als leitender Archivdirektor des Staatsarchivs Marburg in den Ruhestand verabschiedet worden war und zahlreiche weitere Editionsprojekte bearbeitet hatte, konnte er 2015 die Arbeit am Arnsburger Urbar aufnehmen und 2017 zum Abschluss bringen. Wilhelm A. Eckhardt verstarb 2019, doch würdigte das Hessische Landesarchiv seine Leistung am Arnsburger Urbar als „umfangreichste, sicher anspruchsvollste und inhaltlich wichtigste seiner Arbeiten“ (Nachruf Andreas Hedwig). Das nun edierte Urbar entstand von der Hand einer Vielzahl an klösterlichen Schreibern in einem längeren Zeitraum zwischen 1322 (1. Quaternio) bis 1438 (30. Lage aus drei Blättern). Es wurde nachweislich noch 1694 als rechtsverbindliche Verwaltungsgrundlage verwendet, was ein Eintrag über eine neu definierte Grundstücksgrenze zeigt (71, A. 1). Zu Beginn der Edition sind zwei mittelalterliche Indices abgedruckt, die auf den gewöhnungsbedürftigen Gebrauch schließen lassen, zumal für die Zusammenstellung eine Mischung aus geographischen, fiskalischen und chronologischen Aufzeichnungslogiken zum Zuge kam, die Zeitgenossen wie Editoren und auch künftige Forschende bei der Auswertung vor zahlreiche Probleme stell(t)en. Die Aufstellung auf S. VIII verweist darauf, wie kompliziert die Rekonstruktion durch unklare Anlage und spätere fehlerhafte Neuzusammenstellungen und Bindungen war. Der Herausgeber hatte zahlreiche Lagen beziehungsweise Einlagblätter neu zu bewerten und nach Kontext zuzuordnen. Manche vorsichtige Einordnung mag die spätere Forschung aufgrund einer filigraneren Auswertung der Personennamen (und auf Basis von breit angelegten Datenbanken) konsolidieren können. Der verzeichnete Besitz ist über ganz Hessen und darüber hinaus verstreut. Die mehreren hundert Einträge verzeichnen Größe und Lage der Einzelbesitzungen von ganzen Dörfern bis hin zu kleineren Wiesen, die nur wenige Ruten messen. Beispielsweise sei auf den Besitz um Frankfurt verwiesen, der konkret (43–45, 144–147) ausführlich beschrieben wird, jedoch mit über 50 weiteren Erwähnungen ergänzt wird. Manche Ortsangaben sind recht präzise, andere können nur Eingeweihten über die Lage der Äcker Auskunft geben (1 Joch bi dem estincwege ante portam versus Buckingheim. Sprachlich bestehen die Einträge aus einer lateinisch-deutschen Mischsprache, die sich zwischen 1322 und 1438 über die Jahrzehnte von einem Latein mit deutschen Fachbegriffen und Ortsnamen hin zu frühneuhochdeutschen Einträgen mit lateinischen Fachbegriffen wandelt. Nach den Heinemeyerschen Editionsrichtlinien für landesgeschichtliche Quellen wurde die Edition so nahe wie möglich an die diplomatische Abschrift angeglichen. Stichprobenweise konnten Lesungen an der auf S. XXVII beigegebenen Beispielabbildung von fol. 22r überprüft werden (17 f.). Für eine konkrete Auswertung der Orte, Erträge, Gebietsvorstellungen, Besitzpolitik eines Klosters, aber vor allem auch für neuere Fragestellungen nach Grenzziehungen, Raummarkierungen oder Raumwahrnehmungen steht also eine exzellente Textgrundlage zur Verfügung. Für Nutzer (Leser wird es nur wenige geben, die spröden Einträge sind alles andere als eingängige Lektüre) sind drei arbeitsaufwändige Indices (Orte und Gewässer; Personen; Sachen) beigegeben (670–780), die nun eine Erschließung für die unterschiedlichsten regionalhistorischen, kirchengeschichtlichen, ordenshistorischen, kulturgeschichtlichen sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen ermöglichen. Auf die Notwendigkeit der Erschließung der zahl-

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reichen Orte durch digitale Hilfsmittel, wie das vom Herausgeber selbst mitgestaltete Repertorium Lagis, wird direkt verwiesen. Allerdings ist die angegebene E-Mail-Adresse lagis.online@ uni-marburg.de (671) weniger hilfreich als der nicht genannte konkrete Link auf die Datenbank https://www.online.uni-marburg.de/lagis/mhfb/mhfb_xs.html (Letzter Zugriff: 08.05.2023). Sicherlich zu Recht kann Eckhard seine Leistung als Erfüllung der Verheißung Ernst Widmanns aus dem Jahre 1922 sehen: „Der Codex wartet nur auf berufene, fleißige Hände, die ihn aus seinem langen Schlaf neu erstehen lassen.“1 Eine mustergültige Edition liegt jetzt vor. Es gilt allerdings, diesen zu Tage geförderten Schatz nun auch zu nutzen. Dazu zählt nicht zuletzt, dass die Historische Kommission für Hessen diese Quelle langfristig auch digital zugänglich machen möge, um eine neue Stufe der Auswertung mit digitalen Möglichkeiten zu eröffnen, etwa über die Georeferenzierung der einzelnen Besitzungen oder über Personendatenbanken zur Analyse von Netzwerken. 1

Ernst Widmann: Die Descriptiones bonorum des Klosters Arnsburg. In: Quartalsblätter des Historischen Vereins für das Großherzogtum Darmstadt N. F. 6 (1922), 404–408, Zitat 408.

Prof. Dr. Gerald Schwedler Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 149–151 Peter Rückert, Anja Thaller, Klaus Oschema (Hg.) Starke Frauen? Adelige Damen im Südwesten des spätmittelalterlichen Reiches (Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg) Stuttgart: Kohlhammer, 2022, 292 S., ISBN 978-3-17-042251-3, 28,00 EUR. Margarethe von Savoyen (1420–1479) war dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das große Teile der Korrespondenz der Fürstin verwahrt, Anlass für eine große, aufgrund der Covid-19-Epidemie aber kaum für das Publikum geöffnete, Sonderausstellung. Hinzu kamen weitere begleitende Veranstaltungen, darunter eine Tagung im Oktober 2020, deren Ergebnisse nach weniger als zwei Jahren nun vorliegen. Der Titel des Buches ist ein wenig irreführend, liegt doch der Schwerpunkt eindeutig auf Margarethe von Savoyen – acht Aufsätze sind ihr und dem Herzogtum gewidmet, fünf nehmen schwerpunktmäßig andere „starke Frauen“ in den Blick. Zudem weisen Tagungsband und Ausstellungskatalog zwangsläufig einige Doppelungen auf. Dennoch ist der Band mehr als eine lohnende Ergänzung. Zunächst ist der europäische Zuschnitt zu loben – dem einstigen savoyischen Herzogtum entsprechend, das Regionen vereinte, die heute auf drei Länder aufgeteilt sind (Frankreich, Italien, Schweiz). Zusammenfassungen aller Aufsätze in Deutsch, Französisch und Italienisch tragen dem

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europäischen Zuschnitt Rechnung. Die Aufsätze wurden in Deutsch gehalten beziehungsweise ins Deutsche übersetzt. Zugleich wird in den Aufsätzen, welche sich jeweils stark auf die romanische oder die deutschsprachige Forschung stützen (die englischsprachige rezipieren alle) deutlich, wie stark die Sprachgrenze heute noch wirkt. Eva Pibiri, die Margarethe als „zentrale Figur auf dem Schachbrett der politischen Allianzen des Hauses Savoyen“ vorstellt, zieht die deutschsprachige Literatur nicht heran (85 Anm. 2). Gleiches gilt in die andere Richtung: Dass Savoyen frankophon war und blieb, mag ein entscheidender Grund dafür sein, dass Grafschaft und Herzogtum  – obwohl sie doch zweifellos dem Reich angehörten  – in der deutschsprachigen Forschung fast ein blinder Fleck waren, wie Klaus Oschema ausführt (18–45). Die Aufsätze binden Savoyen wieder in den Südwesten des Reiches ein. Ein Raum, der bewusst offen gewählt wurde. Der landes- und regionalgeschichtliche Ansatz in Verbindung mit dem Zugriff über Adels- und/ oder Geschlechtergeschichte vereint alle Autor:innen. Da wir immer noch sehr wenig über adelige Ehefrauen wissen, welche weit schlechter erforscht sind als Witwen, schließen die Beiträge auch hier eine Lücke. In drei Großkapiteln widmet sich der Band zunächst dem Haus Savoyen (Klaus Oschema, Thalia Brero, Elisa Mongiano), dann Margarethes Kindheit und ihren drei Ehen mit Ludwig III. von Anjou (Eva Pibiri), Ludwig IV. von der Pfalz (Erwin Frauenknecht) und Ulrich V. von Württemberg (Anja Thaller). Der dritte Teil nimmt „Handlungsspielräume und kulturelle Profile“ von Fürstinnen in den Blick. Die Herausgeber:innen hatten den Referent:innen vorgegeben, nicht nur auf die Handlungsspielräume der adeligen Frauen zu schauen, sondern auf „niederschwellige Phänomene und Formen der eigenständigen Lebensgestaltung“ zu achten (10). Daher nimmt die Sachkultur am württembergischen Hof (Ingrid-Sibylle Hoffmann, Julia Bischoff) und vor allem der Bücherbesitz und die literarischen Interessen der Fürstinnen und Gräfinnen eine wichtige Rolle ein (Martina Backes, Christa Bertelsmeier-Kirst). Dass die Sprachgrenze für eine spätmittelalterliche Fürstin keine unüberwindbare Hürde war, zeigt nicht nur die Korrespondenz Margarethes in mehreren Sprachen, sondern auch die literarischen Interessen anderer Gräfinnen und Fürstinnen, welche für den deutschen Adel den „Kulturtransfer aus welschen Landen“ vermittelten (167) und immer noch unterschätzte Gönnerinnen für Dichter waren (Martina Backes). Ob Margarethe „am Ende als ‚starke‘ Frau zu charakterisieren ist, bleibt (zum jetzigen Zeitpunkt) dahingestellt“, so bilanziert Jörg Peltzer etwas ernüchternd die Ergebnisse der Tagung (276). Das ist angesichts der reichen Ergebnisse des Bandes doch zu negativ. Deutlich wird immer wieder, wie stark der Status der Herkunftsfamilie und die Ausstattung auch die Situation der Frau in der „Ankunftsfamilie“ bestimmte (Thaller, 108). Dies galt entsprechend für geistlich gewordene Frauen, die auch in Kloster oder Stift in die Familienstrategie eingebunden blieben (Hirbo­dian). Schenkungen der Familien an die Nonnen und Stiftsdamen sind als „Zeichen der Zuneigung und der Wertschätzung, vornehmlich der Gebetsleistung“ für Familie und Stifterin zu verstehen (Hirbodian, 217). Christina Antenhofer bilanziert nach einer Betrachtung von zehn Habsburgerinnen des 15. Jahrhunderts pointiert: „Grundlegend bestimmt sich die ‚Agency‘ und Macht einer jeden Frau und Fürstin dagegen durch ihre Position im Familienverband, wo die weiblichen Mitglieder nicht minder zentrale Aufgaben innehatten als die männlichen.“ (204). Selbst eine Frau, welche sich der Familienräson widersetzte, wie Katharina von Württemberg

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„Gräfin und Kanonisse auf der Flucht“, konnte dies vor allem tun, weil sie „über eine ordentliche Rente verfügte und Grafentochter war“ (Kirkosian, 243). Wie sehr Fürstinnen oft um die ihnen einst zugesagte Mitgift und um Renten kämpfen mussten, wird an mehreren Beispielen ersichtlich (Bianca Maria Sforza, Margarethe von Savoyen). Das Leben der adeligen Frau war von „den Gefahren und dem Warten“ bestimmt (Pibiri, 85). Die Forschung ist sich einig, dass ein gutes Verhältnis der Eheleute der Fürstin zugutekam (Thaller, 121; Rückert, 144; Antenhofer 203 f.). In der älteren Forschung ließen die Erwartungen an die Landesmutter die bestehenden Bindungen an die Herkunftsfamilien aber in den Hintergrund treten. Dass man mit dieser Betonung des Ankunftslandes auch die diplomatische Tätigkeit der adeligen Frauen unterschätzte, welche sich hierfür auf die mitgebrachten Netzwerke stützten, zeigt der Band an mehreren Beispielen (Rückert, Thaller). Margarethe von Württemberg gelang es dank dieser Netzwerke nach Jahrzehnten, dass ihr Schwager René von Anjou ihr die Renten aus ihrer ersten Ehe zahlte (Thaller, 113) Persönliche Vorlieben und Interessen der Damen werden dann doch vor allem über die religiösen Stiftungen und die materiellen Spuren der Hofkultur sichtbar. Die beiden Germanistinnen Martina Backes und Christa Bertelsmeier-Kierst machen deutlich, wie viel sich hier über den Buchbesitz erschließen lässt. Er lässt Margarethe von Savoyen als eine Frau erscheinen, „der es weitgehend versagt blieb, ein Leben so zu führen, wie es ihr eigentlich in die Wiege gelegt war, die aber genug Realitätssinn besaß, das Machbare zu tun.“ (Bertelsmeier-Kierst, 181). Sie in den Kreis anderer Fürstinnen einzubinden, gelingt dem schön gestalteten Band. Dr. Regina Schäfer Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar, Saarstr. 21, 55099 Mainz, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 151–152 Edwin Ernst Weber, Thomas Zotz (Hg.) Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 5), Stuttgart: Kohlhammer, 2020, 300 S., ISBN 978-3-17-038328-9, 29,00 EUR. Der vorliegende Band vereinigt die Beiträge der Tagung „Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit“, die am 7. und 8. Oktober 2016 in Meßkirch von der „Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur“ veranstaltet wurde. Diese Tagung setzte sich zum Ziel, die frühe Geschichte des oberschwäbischen Raumes und seine Kultur intensiver zu erforschen. Die historischen Wurzeln Oberschwabens reichen in die Karolingerzeit zurück, als die aus der Merowingerzeit herrührende Alemannia ihre Konturen innerhalb des Regnum Francorum erhielt. Der Band beginnt mit dem Überblicksbeitrag von Matthias Becher zu „Alemannien

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in der Zeit der Karolinger“, der das Gebiet zwischen Donau, Bodensee und Iller in den größeren Raum Alemanniens und seiner Geschichte unter der Herrschaft der Karolinger einordnet und die Hauptaspekte der historischen Entwicklung klar herausarbeitet. Die naturräumlichen Grundlagen des nördlichen Bodenseeraumes als Lebenswelt der dort wohnenden Menschen sind Gegenstand des Beitrages von Andreas Schwab. Anschließend beschäftigt sich Christoph Morrissey mit den archäologischen Funden als Indikatoren der frühen Siedlungsstrukturen im nördlichen Bodenseeraum. Zu dieser Thematik gehören auch Hinweise auf die Verbreitung der Böden und die räumlichen Muster der wichtigsten Klimaelemente dieser Region. Dieter Geuenich befasst sich in seinem Beitrag mit dem Zeugniswert der Ortsnamen für die Erforschung der Siedlungsgeschichte im nördlichen Bodenseegebiet. Es zeigt sich dabei, dass eine fundierte Darstellung der Besiedlungsverhältnisse im nördlichen Bodenseeraum von der alemannischen Landnahme bis zur Karolingerzeit auf Grund der Ortsnamen nicht ohne weiteres möglich ist. Alfons Zettler analysiert in seinem Beitrag zu „Herrschaft und Adel im Bodenseeraum zur Karolingerzeit“ detailliert die Magnatenliste im Diptychon des älteren St. Galler Verbrüderungsbuchs. Thomas Zotz gibt einen überzeugenden allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Klöster zwischen Bodensee, Donau und Iller in der Karolingerzeit. Der behandelte Raum blieb auch über die Karolingerzeit hinaus eine reiche Klosterlandschaft, die im 10. und 11. Jahrhundert durch einige Neugründungen von monastischen Zentren fortwirkte. Clemens Regenbogen analysiert die ländliche Gesellschaft des nördlichen Bodenseeraums in der Karolingerzeit anhand von schriftlichen Quellen. Problematisch ist in dieser Skizze allerdings die Behandlung der Grundherrschaft, die in ihren vielfältigen Bezügen zur ländlichen Gesellschaft der Karolingerzeit zu gering eingeschätzt wird. Hervorragend ist der Beitrag von Ernst Tremp zum „Bistum Konstanz und d[en] Klöster[n] St. Gallen und Reichenau in der Karolingerzeit“, der grundlegende Untersuchungen zur historischen Entwicklung von St. Gallen, Reichenau und Konstanz in der Karolingerzeit übersichtlich zusammenfasst. Unter der Leitung herausragender Persönlichkeiten wie Waldo und Haito von Reichenau sowie Gozbert und Grimald von St. Gallen stiegen Reichenau und St. Gallen zu den bedeutendsten Königsklöstern im Karolingerreich auf. Zum Schluss des inhaltsreichen Bandes gibt Edwin Ernst Weber einen Gesamtüberblick über den Tagungsverlauf am 7. und 8. Oktober 2016. Meßkirch wurde als Tagungsort gewählt, weil dort seit 2014 das Langzeitprojekt Campus Galli angesiedelt ist, das den berühmten St. Galler Klosterplan von 820 in eine Klosterstadt umzusetzen versucht. In der Schlussdiskussion wurde von mehreren Teilnehmern bemängelt, dass in den Vorträgen der Fokus allzu einseitig auf den kirchlichen und adligen Eliten gelegen habe, dagegen die Breite der Gesellschaft der Karolingerzeit zu wenig in Erscheinung getreten sei. Ein ausführliches Orts- und Personenregister schließt diesen aufschlussreichen Band zur Geschichte des nördlichen Bodenseeraums in karolingischer Zeit ab. Prof. em. Dr. Werner Rösener Gießen, Deutschland

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 153–154 Sigrid Hirbodian, Sabine Holtz, Petra Steymans-Kurz (Hg.) Zwischen Mittelalter und Reformation. Religiöses Leben in Oberschwaben um 1500 (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 6), Stuttgart: Kohlhammer, 2021, 348 S., ISBN 978-3-17-039342-4, 29,00 EUR. Der vorliegende Sammelband versammelt Beiträge, die 2019 anlässlich der Tagung „Religiöses Leben in Oberschwaben um 1500“ in Weingarten entstanden sind. Ziel der Tagung – so artikulieren es die Herausgeberinnen in der Einleitung (9–13) – war es, das religiöse Leben in der Region Oberschwaben zwischen korrumpierter Kirche, ausgeprägter Frömmigkeitspraxis und reformatorischen Tendenzen interdisziplinär auszuleuchten. Dazu seien die Schwerpunkte Kloster, Stadt und Land gewählt worden (10). Auf diese Unterteilung wird jedoch weder typographisch noch inhaltlich an anderer Stelle eingegangen. Agnes Schormann (15–27) zeichnet das – vor allem durch liturgische Frömmigkeit geprägte – Klosterleben im spätmittelalterlichen Oberschwaben exemplarisch anhand der Stiftsdamen im Kloster Buchau am Federsee nach. Analog dazu fokussiert Edwin Ernst Weber (29–63) das Augustiner-Chorfrauenstift Inzigkofen in der Frühen Neuzeit, das in dieser Zeit ein striktes, von der Außenwelt abgeschirmtes Klosterleben etablierte und sich bis heute durch die dort entstandenen mystischen Handschriften auszeichnet. Wilfried Setzler (65–78) eruiert Elemente der kulturellen und ökonomischen Blüte des Klosters Zwiefalten um die Wende zum 16. Jahrhundert. Diese sei unter anderem auf den territorial geschlossenen „Klosterstaat“ oder die Beziehungen des Abtes Georg Fischer zur Tübinger Universität zurückzuführen. Auch die Armenfürsorge des Spitals zum Heiligen Geist in Biberach zeichnete sich bis circa 1500 durch ein reichhaltiges Frömmigkeitsleben aus, wie Andrea Riotte (79–129) beschreibt. Die Spitalordnungen zeigen allerdings, dass die Einrichtung auch auf ökonomische Veränderungen zu reagieren hatte. Eva Leistenschneider (131– 150) erläutert, wie sich die Stifter Ulms am Ausgang des Mittelalters in ihren Schenkungen verewigten. Während zunächst traditionelle Formen wie der kniende Stifter üblich waren, wurden die Stifterfiguren zunehmend in die Darstellung des Heilsgeschehens integriert. Ostschwäbische Beginenhäuser als bürgerliche Seelgerätstiftungen thematisiert Barbara Baumeister (151–166). Während es dort im 14. Jahrhundert noch Raum für spirituelle Entfaltung gab, wurde im 15. Jahrhundert die bürgerliche Memoria wichtiger, bis die Gemeinschaften spätestens durch die Reformation der städtischen Armenfürsorge angeschlossen wurden. Wiederum vom Tridentinum und den damit verbundenen interkonfessionellen Diskursen ist der Kirchenraum von St. Luzen in Hechingen beeinflusst, wie Lorenz Enderlein (167–203) zeigt. Hierin ist sowohl eine konzeptionelle Neuorientierung als auch die gegenreformatorische Stoßrichtung Graf Eitelfriedrichs IV. von Hohenzollern-Hechingen zu sehen. Jörg Widmaier (205–231) behandelt Oberschwaben als Kulturlandschaft, die von historischen Institutionen und damit Praktiken in Form von Denkmalen durchwirkt ist. Anhand der Kleindenkmale zeigt sich, dass deren religiöse Bedeutung in der katholisch gebliebenen Region zu ihrem Erhalt erheblich beitrug. Enno Bünz (233–310) nimmt das Frömmigkeitsleben in den ländlichen Pfarreien in den Blick, indem er sowohl deren Einbin-

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dung in die Bistümer Konstanz und Augsburg als auch die Personen(gruppen) rund um Pfarrei und Seelsorge herausarbeitet. Obgleich sich das religiöse Leben sicherlich in vielfältiger Weise entfaltete und die Pfarrei als eine historisch hochrelevante Institution gesehen werden muss, bleiben für die beiden Bistümer einige Forschungsdesiderate – sowohl hinsichtlich lokaler Fallbeispiele als auch in vergleichender und systematischer Perspektive. Speziell die Frömmigkeit schwäbischer Hochadelsfamilien beleuchtet schließlich Volker Trugenberger (311–339). Sie kam in für diese Zeit typischen Formen wie Altarstiftungen, Wallfahrten oder privater Frömmigkeit zum Ausdruck, wenngleich etwa repräsentative Bauten das Standesbewusstsein markierten. Der Band schließt mit einem handlichen Register für die erwähnten Orte und Personen. Insgesamt kann die Publikation einlösen, was sie in der Einleitung verspricht: Das religiöse Leben im Oberschwaben des Spätmittelalters wird interdisziplinär in den Mittelpunkt gerückt, wobei sie auch etwa von kunsthistorischen oder geographischen Zugriffen profitiert. Zahlreiche Abbildungen – vor allem zur Kirchenarchitektur sowie zu den behandelten Handschriften – veranschaulichen die Beiträge. Hervorzuheben ist der häufige Zugriff auf archivalische Quellen, was das Potential des Themas für künftige Forschungen ausweist. Einzig die Dreiteilung in Kloster, Stadt und Land hätte präziser artikuliert werden können. Insbesondere die Sektion „Land“ für die letzten drei Aufsätze scheint mir eigentlich nur zum Beitrag von Enno Bünz zu passen. Hierauf hätte in einem Resümee, auch in Kombination mit einem übergreifenden Fazit, eingegangen werden können. Nichtsdestotrotz liegt hier ein vielseitiger Beitrag zur Geschichte der spätmittelalterlichen Frömmigkeit vor, der gewinnbringende Fallbeispiele liefert und damit die Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Reformation in dieser Region aufzeigen kann. John Hinderer M. A. Ludwig-Maximilians-Universität München, Sonderforschungsbereich 1369 ‚Vigilanzkulturen‘, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 154–156 Grischa Vercamer Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert (Quellen und Studien. Deutsches Historisches Institut Warschau 37), Wiesbaden: Harrassowitz, 2020, XII, 792 S., 6 Abb., ISBN 978-3-447-11354-0, 98,00 EUR. Die 2016 in Frankfurt/Oder eingereichte Habilitationsschrift von Grischa Vercamer stellt einen ersten Schritt zur Erfassung europäischer Herrschaftsvorstellungen in der Vormoderne dar, um direkt mit dem Resümee der Studie zu beginnen (353). Mit dieser Aussage wird bereits deutlich, dass die Arbeit keine genaue Auflistung bestimmter guter und schlechter Kriterien für Herr-

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schaft anstrebt. Stattdessen muss zunächst die Grundlagenarbeit anhand der genauen Analyse der Historiographie geleistet werden. Die Studie bietet eine gute Einordnung der Tendenzen von Herrschaftsvorstellungen in der Praxis der Geschichtsschreibung und zeigt, wie individuell abhängig vom Chronisten die Ansichten dabei sein können. Während der Verfasser durch die Betrachtung nach narratologischen Aspekten bei Studien zu Kreuzzügen und Kriegsniederlagen anknüpft, ist der Blick auf Herrschaftspraktiken noch nicht erfolgt.1 Neu ist dabei auch der Vergleich zwischen dem Reich, England und Polen (9 f.). Vercamer arbeitet die Unterschiede dieser ‚Nationen‘ im 12./13. Jahrhundert heraus, um die Besonderheiten der Darstellung von Herrschaft in diesem „Jahrhundert[s] des Umbruchs“ (7) zu ergründen: „War etwas anderes sagbar, denkbar, machbar“ (9) in den einzelnen Kulturkreisen? Dazu untersucht er jeweils zwei historiographische Werke, die den unterschiedlichen Herrschern gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind, da sie mit dem Herrscherhaus durch ihre Anstellung verbunden waren oder in deren Auftrag geschrieben haben (63–77). Diese Quellen werden auf zweifache Art und Weise betrachtet: Im ersten Teil der Analyse (163– 273) stehen unterschiedliche „Tätigkeitsfelder der Herrschaftspraxis“ (163) im Mittelpunkt: Welchen Schwerpunkt legen die jeweiligen Chronisten auf den „Fürst als Krieger“ oder „als Richter“? Insgesamt wertet Vercamer acht dieser Kategorien jeweils quantitativ und qualitativ aus, hinterfragt wie die Chronisten diese Tätigkeitsfelder schwerpunktmäßig bewerten, und ob die jeweiligen Beschreibungen die Darstellung ‚guter‘ oder ‚schlechter‘ Herrschaft bezwecken (163–164). Der zweite Teil der Analyse (275–341) lenkt den Fokus auf die Erzählstrategien. Die einzelnen Chroniken werden mit Blick auf die Herrschaftsvorstellungen und narratologische Kategorien, wie den expliziten und impliziten Erzählmodus, Erzählperspektive, Stilmittel und die Ausführlichkeit der Stellen untersucht (275). Vercamer arbeitet mithilfe einer Datenbank, um die gesammelten Abschnitte aus den Quellen nach den genannten Aspekten zu strukturieren, und zeigt diese transparent in seiner Studie (61) sowie im großen Anhang mit Tabellen und Quellenausschnitten (355–703). Die ausführlichen Stellen der Chroniken wurden genau strukturiert und nach den genannten Herrschaftspraktiken geordnet sowie jeweils vermerkt, ob es sich um ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Herrschaft handelt, oder, dies ist ein Faktor, der die Betrachtung differenzierter werden lässt, um ‚gute‘ Herrschaft im schlechten Licht (oder andersherum) (59–60). Hierbei wird ein wichtiger Gesamteindruck auf das jeweilige Werk und dessen erzählerische und inhaltliche Absichten gewonnen, sodass für kommende Forschungen einzelne Abschnitte vor dem Hintergrund der Haltung des Chronisten besser interpretiert werden können. In diesem Kapitel werden auch die ‚nationalen‘ Ausprägungen durch Vergleich der Chroniken herausgearbeitet (für das Reich 338–341). Schließlich werden die analysierten typischen Elemente der Herrschaftsvorstellungen mit der zu Anfang der Arbeit erläuterten Forschungslage zu den unterschiedlichen Ländern verglichen, womit der quellenimmanente Bereich verlassen wird und zugleich die Bedeutung des Kontextes noch einmal hervorgehoben wird: Vercamer stellt fest, dass die Ausrichtung der Chroniken und die jeweilige ‚nationale‘ Schwerpunktsetzung sich mit den Ergebnissen der bisherigen Forschung zu Strukturmerkmalen deckt, womit er Vorteile und Nutzen der Methode zeigen möchte (3, England: 296 f.).

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Es stellt sich dabei die Frage, inwiefern die strikte Trennung in ‚Nationen‘ zu konstruiert ist. Zwar adressiert Vercamer die Problematik des Nationenbegriffs für das Mittelalter und versteht diesen im Sinne von „Kulturkreisen“ (4). Die Verwendung des Begriffes könnte aber noch stärker begründet werden, zum Beispiel indem betrachtet wird, inwiefern sich die Chronisten mit ihrer ‚Nation‘ identifizieren, was vor allem für England und William von Malmesbury passend wäre.2 Dann könnten im Hinblick auf die Analyse die Strukturmerkmale als Identifikationsmerkmale der Autoren gewertet werden. Gleichzeitig würden sich Chancen bieten, auch ‚transnationale Ansätze‘ miteinzubeziehen.3 Es bleibt zudem noch die Frage offen, wann denn letztendlich eine Herrschaft ‚gut‘ ist, wenn diese auch häufig im schlechten Licht erscheint. Ab wie viel Prozent negativer Beurteilung kann nicht mehr von guter Herrschaft gesprochen werden? Und braucht es überhaupt diese Kategorisierung? Vercamer merkt mit Blick auf die englischen Quellen an, dass diese die jeweiligen Herrscher ausgeglichener betrachten als die polnischen und römisch-deutschen. (296) Am Beispiel von Johann „Ohneland“ in der Chronik von Roger von Howden wäre dementsprechend nicht so klar von grundsätzlich ‚schlechter‘ Herrschaft zu sprechen (263).4 Zum einen, weil er mal gelobt, mal eher neutral betrachtet wird und zum anderen, weil Roger von Howden Johann im Vergleich zu Richard I. wenig Aufmerksamkeit schenkte. Trotz dieser genannten Fragen macht der genaue methodische Aufbau, der Blick auf narratologische Elemente der Quellen, der Gesamteindruck, den man von den jeweiligen Werken bekommt, sowie der vergleichende und erstmalige Blick auf die einzelnen Tätigkeitsfelder der Herrscher die Habilitationsschrift sowohl für die Herrschaftsgeschichte als auch für die Historiographiegeschichte zu einer Studie, die rezipiert und an die angeknüpft werden muss. 1

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Martin Clauss: Kriegsniederlagen im Mittelalter: Darstellung – Deutung – Bewältigung (Krieg in der Geschichte 54), Paderborn 2010; Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug: Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen Historiographie (Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship 5), Münster 2015. Zum Beispiel: Robert Bartlett: Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity, Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001) 1, 39–56. Er thematisiert auch den Nationsbegriff bei William of Malmesbury. Zur Frühen Neuzeit etwa Martin Krieger: „Transnationalität“ in vornationaler Zeit? Ein Plädoyer für eine erweiterte Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 1, 125–136. Dazu schon J. C. Holt: King John. In: Ders. (Hg.): Magna Carta and Medieval Government (Studies presented to International Commission for the History of Representative and Parliamentary Opinion 68), London/Ronceverte 1985, 83–109, hier 102.

Christina Bröker M. A. Universität Paderborn, Historisches Institut, Pohlweg 55, 33098 Paderborn, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 157–159 Daniel Ludwig Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften des fränkischen Frühmittelalters. Vergleichende Untersuchung der Regionen Baiern, Alemannien und Lotharingien (Besitz und Beziehungen. Studien zur Verfassungsgeschichte des Mittelalters 2), Ostfildern: Thorbecke, 2020, 404 S., 3 Abb. u. Tab, ISBN 978-3-799-5-9401-1, 49,00 EUR. Tausch im Frühmittelalter stellt ein überraschendes mediävistisches Forschungsdesiderat dar, für das Daniel Ludwig nun eine grundlegende Studie unter dem Titel „Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften des Frühmittelalters“ vorgelegt hat. Bei der 2020 erschienenen Monografie handelt es sich um die gedruckte und von Brigitte Kasten betreute Dissertation des Autors, die teils im Rahmen des DFG-Projekts „Die Bedeutung von Tausch als sozio-ökonomisches Phänomen in ländlichen Gesellschaften zur Zeit der Franken“ entstand. Konzeptionell folgt die Arbeit aktuellen Forschungstrends: Lokale, ländliche Gesellschaften werden in Fallstudien zu Lotha­ringien, Baiern und Alemannien dezidiert komparatistisch betrachtet. Eine rechtshistorische Sicht wird durch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen aufgebrochen. Insgesamt schließt die Studie nahtlos an die bestehende Forschung, insbesondere dem von Irmgard Fees und Philippe Depreux herausgegebenen Sammelband zu „Tauschgeschäft und Tauschurkunde“ an.1 Die Darstellung entwickelt zwei interpretative Grundlinien: Erstens arbeitet Ludwig das mittelalterliche Verständnis von Tauschgeschäften mithilfe eines begriffsgeschichtlichen Ansatzes heraus. Demgegenüber wurden allerdings alle herrscher- und privaturkundlich überlieferten Transaktionen gesichtet, um quantitative Aussagen zu treffen und weiteren Hinweisen auf (kommerzielle) Tauschakte nachzuspüren. Der doppelte analytische Anspruch zeigt sich beispielsweise darin, dass auch ‚Schenkungen‘ mit gleichzeitiger prekarischer Rückleihe an den Tradenten als „tauschähnliche Transaktion“ erfasst wurden (39 f.). Die damit verbundene Zielsetzung wird von Ludwig im ersten methodischen Teil in aktuelle Forschungsdiskurse eingeordnet, unter anderem bezüglich anthropologischer Konzepte zum Gabentausch, der Grundherrschaft, dem Lehnswesen oder der Frage nach Kontinuitäten respektive Brüchen zwischen Spätantike und Frühmittelalter (11–48). Zweitens ordnet Ludwig die zunehmende Verbreitung von Tauschgeschäften in die rechtsgeschichtlichen Entwicklungen zu ihrer Legalität und Legitimität ein (49–82). Beleuchtet werden daher die entsprechenden Regelungen der leges, wie auch die sich in den Kapitularien Ludwigs des Frommen widerspiegelnde Rezeption spätantiken bspw. justinianischen Rechts. Formulae wirken als Bindeglied zwischen diesen rechtsnormativen Quellen und den konkreten Urkundenbelegen. Beide Leitlinien strukturieren die drei anschließenden Fallstudien im Hauptteil: Zum einen wird der um die Mitte des 9. Jahrhunderts beginnende Anstieg der Tauschgeschäfte quantitativ allen überlieferten Transaktionsformen, wie Schenkung, Leihe und Kauf, gegenübergestellt. Zum anderen folgen tabellarische Abgleiche zwischen formulae und den verschiedenartig überlieferten Tauschurkunden. Im Kapitel über Lotharingien (83–148) wurden 403 Privaturkunden unter an-

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derem der Bischofskirchen Lüttich, Straßburg und der Klöster Stablo-Malmedy, Murbach, Echternach, Prüm und Gorze gesichtet. In der Fallstudie zu Bayern (149–230) wurden sogar 1974 Rechtsgeschäfte untersucht, wobei ein Großteil von diesen auf Freising und Regensburg, gegenüber den Klöstern Niederaltaich, Mondsee und den Bischofskirchen Passau und Salzburg entfielen. Schließlich wurden 733 Urkunden im Untersuchungsteil zu Alemannien (231–332), vor allem aus der sangallenser Überlieferung ausgewertet, welche durch diejenige der Klöster St. Felix und Regula (Zürich) sowie Rheinau ergänzt wird. Die Kapitel wurden einheitlich strukturiert und insbesondere die prägnante quellenkritische Einordnung der in ihrer Art sehr unterschiedlichen Urbare, Traditionsbücher, Güterverzeichnisse, etc. und ihrer Überlieferung ist hervorzuheben. Summa summarum gelingt der analytische Spagat zwischen einer seriellen Auswertung und der Präsentation markanter Einzelbeispiele. Das Fazit (und damit die komparatistische Auswertung der umfangreichen Bestandsaufnahme) fällt mit knapp vierzehn Seiten überraschend kurz aus (333–347), sodass die Ergebnisse kurz zusammengefasst werden können: Kritisch reguliert wurde vor allem der Umgang mit Kirchengut, wobei der König als legitimierende Autorität einbezogen wurde. Oft konnten besitzstrategische Arrondierungsabsichten erkannt werden. Eine Ausbreitung der rechtlichen Tauschpraxis wurde ausgehend von allgemeinen Tauschprivilegien Ludwigs des Deutschen, entlang der geistlichen Würdenträger seines Umfelds in den ostfränkischen Raum hinein festgestellt. Das bereits von Bigott herausgestellte Tauschprivileg für Lorsch (848) im Kontext der Versöhnungspolitik nach den fränkischen Bruderkriegen entlarvt der Autor als Präzedenzfall.2 Unzulänglichkeiten des Lektorats sollen an dieser Stelle weitestgehend ausgespart bleiben. Ärgerlich sind vereinzelte Namensverwechslungen, wie bspw. auf Seite 72 f. bei den Formulae Augienses (Reichenau, teils fälschlich als Rheinau) oder den Formulae Morbacensis (Murbach, nicht Marbach). Obwohl der Schlussteil die zentralen Ergebnisse der Arbeit erfrischend prägnant zusammenfasst, erscheinen einige spannende Einzelbeobachtungen innerhalb der Fallstudien nicht weniger bemerkenswert, wie der Scheinwiderspruch zwischen einer ideellen Gleichwertigkeit der Tauschgüter und einem mindestens symbolischen Vorteil der geistlichen Akteure. Insgesamt verzichtet die Arbeit aber auf tiefergehende Kontextualisierungsversuche zugunsten einer zurückhaltenden, quellennahen Argumentation, die auf Überlieferungslücken und bestehenden Hypothesen hinweist (vgl. 342). Ihr Mehrwert besteht in der systematischen, teils aber eben nicht nur begriffsgeschichtlichen Bestandsaufnahme von Tauschgeschäften, sodass unterschiedliche Facetten des Phänomens nebeneinander sichtbar werden. Ähnlich, wie bei den ‚tauschähnlichen‘ Schenkungen mit prekarischen Rückleihen, offenbart sich die bewusste Perspektivität von Ludwigs Ansatz im einleitenden Verweis, dass die von Tauschgeschäften strikt quellenterminologisch unterschiedenen ‚Schenkungen‘ (mit positiven Erwartungen für das Seelenheil) de facto ebenfalls reziproke Austauschformen darstellen (32 f., 42 f.). Könnten dann aber nicht auch umgekehrt einige der behandelten Tauschkonstellationen unter Berücksichtigung mittelalterlicher Vorstellungen als Schenkung interpretiert werden?

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Irmgard Fees, Philippe Depreux (Hg.): Tauschgeschäft und Tauschurkunde vom 8. bis zum 12. Jahrhundert / L’acte d’echange du VIIIe au XIIe siècle (Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde. Beiheft 13), Köln/Weimar/Wien 2013. Boris Bigott: Ludwig der Deutsche und die Reichskirche im Ostfränkischen Reich (826–876) (Historische Studien 470), Husum 2002.

Daniel Schumacher M. A. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstr. 15, 79085 Freiburg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 159–161 Stefan Magnussen Burgen in umstrittenen Landschaften. Eine Studie zur Entwicklung und Funktion von Burgen im südlichen Jütland (1232–1443) Leiden: Sidestone, 2019, 456 S., 62 Abb., ISBN 978-90-8890-867-5, 60,00 EUR (Paperback), 180,00 EUR (Hardback). Beim vorliegenden Werk handelt es sich um die Dissertation von Stefan Magnussen, die er 2018 zur Erlangung des Doktorgrades an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereicht hat. Mit der Entwicklung von Burgen im alten Herzogtum Schleswig behandelt es ein Thema, deren Erforschung stark unter den Grenzstreitigkeiten zwischen Dänemark und Deutschland gelitten hat. So befand sich auch das gewählte Thema im Spannungsfeld zwischen dänischer und deutscher Forschung, was grenzübergreifende Studien lange Zeit erschwerte. Somit ist es im höchsten Maße wertzuschätzen, dass Stefan Magnussen mit seinem Werk das Thema mit einer tiefgehenden Kenntnis sowohl der deutschen als auch dänischen Burgenforschung verfasst hat. Der Autor hat es vorgezogen, das Gebiet als Süderjütland (Sønderjylland) zu bezeichnen, im Gegensatz zur üblicherweise verwendeten Umschreibung als Herzogtum Schleswig. Damit bezieht er sich auf den ursprünglichen Namen, der auch 1232 verwendet wurde, als der Sohn König Valdemars II. von Dänemark, Abel, zum Herzog dieses Gebiets ernannt wurde. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts wurde diese Bezeichnung jedoch nach und nach durch den Bezugsnamen Schleswig ersetzt. Die zeitliche Grenze der Arbeit liegt zwischen dem Jahr 1232 und 1443, als König Christopher III. von Dänemark in Ribe gekrönt und Schleswig ein unabhängiges Erbherzogtum unter Graf Adolf VIII. von Holstein wurde. Geografisch wird das Gebiet im Norden durch den Fluss Königsau (Kongeå) und im Süden durch die Eider eingegrenzt, in Richtung Osten durch die Ostsee. Die an der Nordsee liegenden friesischen Marschlande werden in der Studie nicht berücksichtigt. Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, gefolgt von einem sehr ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Katalog und Index der verschiedenen Burgen. Das erste Kapitel bietet einen ausführlichen Rückblick auf die Forschung bis in die Gegenwart, der von der

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intimen Kenntnis des Autors sowohl der deutschen als auch der dänischen Burgenforschung in Geschichte und Archäologie zeugt. Es wird auf die Problematik einer genauen Definition des Burgenbegriffs hingewiesen, unter anderem, weil nur zwischen fünf und zehn Prozent aller Anlagen in Dänemark überhaupt je untersucht wurden. Das Werk unterteilt die Burgen in drei Gruppen: Lens-, Eliten- und Minderburgen. Der letztgenannte Begriff umfasst dabei in erster Linie temporäre militärische Befestigungen. Die politischen Entwicklungen spielen in dieser Arbeit eine entscheidende Rolle und es werden durchweg schriftliche Quellen wie Urkunden, Chroniken und Annalen verwendet. Das 1396 von Königin Margrete I. erlassene Verbot, Burgen zu bauen, hatte natürlich entscheidende Auswirkungen auf den Burgenbau im Königreich Dänemark. Es wurde erst mit der Urkunde von König Hans im Jahr 1483 wieder aufgehoben. Eine seltene Ausnahme in jenen Jahren war die Bischofsburg Gjorslev auf Stevns. Es ist jedoch nicht richtig, wenn der Autor auch die Bischofsburgen Hald und Spøttrup erwähnt, da diese erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts gebaut wurden. Im Allgemeinen scheint das Verbot jedoch keine Auswirkungen auf die Burgen im Herzogtum gehabt zu haben. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Lensburgen und deren Zusammenhang mit der administrativen und kommunalen Struktur des Gebietes. Eine besondere Stellung nimmt hierbei das Riberhus ein, das zwar im südlichen Jütland lag, dessen Burgbezirk jedoch zum Königreich gehörte. Als fürstliche Residenz spielt Gottorf natürlich eine zentrale Rolle, die der Autor aus dem Wunsch heraus, die Bedeutung der Burg sowohl anhand der schriftlichen Quellen als auch der archäologischen Funde zu analysieren, ausführlich behandelt. Leider fehlt jedoch eine ausführliche Beschreibung der Anlage anhand von Plänen und Bildern. So gibt es von Gottorf nur eine sehr kleine Abbildung eines Ausschnitts der Karte aus den Civitates Orbis Terrarum vom Ende des 16. Jahrhunderts. Dies gilt auch für die anderen in diesem Kapitel besprochenen Burgen wie etwa Tønderhus, Brundlund in Aabenraa, Tørning, Marienberg, Sønderborg. Andererseits finden sich wie im gesamten Buch eine große Anzahl ansehnlicher digitaler Landschaftsmodelle (LiDAR), ohne dass diese jedoch im Text näher besprochen werden. Kapitel 3 befasst sich mit den kirchlichen Institutionen, die nicht nur religiöse Zentren waren, sondern auch für den Bau zahlreicher Burgen verantwortlich waren. So besaß das Bistum Ribe mit dem Møgeltønderhus, Brink und Trøjborg gleich drei Burgen. Von diesen ist Brink aufgrund der von Bjørn Poulsen veröffentlichten detaillierten Register aus den Jahren 1388 und 1389 besonders interessant. Zwar erwähnt Stefan Magnussen die laufenden Diskussionen über die Burg, geht jedoch nicht auf die Register selbst ein. Die Meinungen über die Bedeutung von Brink gehen jedoch weit auseinander und reichen von der Charakterisierung der Burg als „typische Bischofsvogtei“ (Bjørn Poulsen) bis zu Rainer Atzbachs eher umstrittenem Vergleich der Burg mit königlichen Anlagen wie Vordingborg, Hammershus, Kalundborg und Nyborg. Stefan Magnussen nimmt zu dieser Diskussion jedoch nicht näher Stellung. In Kapitel 4 werden die sogenannten Eliteburgen im südlichen Jütland analysiert. Nicht weniger als 400 Wallanlagen sind hier registriert. Jedoch stehen bei weitem nicht alle in direktem Zusammenhang mit einer tatsächlichen Burg. Stefan Magnussen hat sich intensiv mit der Analyse dieser Anlagen beschäftigt, wobei er sich weitgehend von Martin Hanssons Konzept der „Aristo-

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cratic Landscapes“ (2006)1 hat inspirieren lassen. Er stellt fest, dass praktisch alle Elitenburgen in der Region auf das 15. Jahrhundert zurückgehen – ganz im Gegensatz zum Königreich Dänemark, wo das vorangegangene Jahrhundert gemeinhin als „Jahrhundert der Burg“ bezeichnet wird. Hierbei ist natürlich das genannte Burgenbauverbot von 1396 relevant. Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass selbst die bedeutendsten regionalen Adelsfamilien wie Lembek, Ahlefeldt und Krummediek nur wenige Burgen bauten oder erwarben. Kapitel 5 befasst sich mit der Rolle der Burgen in militärischen Konflikten, in denen Belagerungen und Eroberungsversuche zum Standardrepertoire der mittelalterlichen Kriegsführung gehörten. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen regionalen Konflikten und dem Bau von Burgen. Der Autor führt zahlreiche Beispiele für Burgbelagerungen an, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Er bezieht sich dabei auf ein breites Spektrum schriftlicher Quellen, darunter Saxo Grammaticus, den anonymen Presbyter Bremensis, die Lübecker Chronik von Detmar und Hermann Korners Chronica Novella. Hinzu kommen natürlich die diplomatischen Quellen, die ab dem 15. Jahrhundert sehr viel detaillierter werden. Im letzten Kapitel kommt Stefan Magnussen zu dem Schluss, dass aufgrund von Analysen der rund 400 erfassten Wallanlagen zwischen Eider und Königsau gerade einmal 58 eindeutig als Burgen identifiziert werden können! Dieses Ergebnis wurde durch eine Kombination von archäologischen Untersuchungen in Verbindung mit der Analyse des schriftlichen Quellenmaterials erzielt. Er kommt auch zu dem Schluss, dass neben den Burgen, die von den Königen, Bischöfen und Herzögen gebaut wurden oder sich in deren Besitz befanden, nur einige wenige Adelsfamilien wie die Lembek, Ahlefeldt und Krummediek überhaupt über die notwendigen Mittel und Besitztümer verfügten, um eigene Burgen zu bauen oder zu halten. Stefan Magnussen teilt die Entwicklung der Burgen in sieben Phasen ein, die mit begleitenden Karten illustriert sind und einen interessanten Überblick über die Zahl der Lensburgen, Elitenburgen und Minderburgen von der Mitte des 12. bis zum Ende des 15.  Jahrhunderts geben. Von besonderem Interesse ist dabei die Tatsache, dass die Zeit zwischen 1404 und 1431 im Herzogtum – im Gegensatz zum Königreich Dänemark – offenbar eine Blütezeit der Burgen war. Stefan Magnussen hat eine beeindruckende Dissertation verfasst, die einen guten Überblick über die Entwicklung der Burgen im südlichen Jütland während des Mittelalters gibt. Es ist ein Brückenprojekt zwischen der dänischen und deutschen Burgenforschung, das gleichzeitig die wissenschaftlichen Disziplinen der Geschichtswissenschaft, der Archäologie und die Naturwissenschaften verknüpft. Allerdings ist das Buch sehr textlastig und es fehlt vielfach an Bildern und Plänen der wichtigsten Standorte. Dennoch ist die Dissertation ein wichtiger Beitrag zur Burgenforschung in diesen ‚umstrittenen Landschaften‘. 1

Martin Hansson: Aristocratic Landscape. The Spatial Ideology of the Medieval Aristocracy (Lund Studies in Historical Archaeology 2), Stockholm 2006.

Vivian Etting Senior Scientist, ehem. Kuratorin, Dänisches Nationalmuseum, Kopenhagen, Dänemark, [email protected]

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3. Frühe Neuzeit Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 162–164 Konrad Krimm, Maria Magdalena Rückert (Hg.): Zisterzienserklöster als Reichsabteien (Oberrheinische Studien 36), Ostfildern: Thorbecke, 2017, 182 S., zahlreiche farbige und s/w Abb., ISBN 978-3-7995-7831-8, 34,00 EUR. Seit geraumer Zeit ist der Orden der Zisterzienser ein vielbearbeitetes Thema, dem eine Reihe von Forschungsprojekten, Tagungen und Publikationen in den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen gewidmet ist. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf den Anfängen des Ordens, seiner reformorientierten, geistlichen Ausrichtung, der damit einhergehenden innerstrukturellen Entwicklung und der raschen Ausbreitung, die ihn zu einem europäischen Phänomen machen. In diesem Kontext sei eine der letzten großen Ausstellungen zum Orden „Die Zisterzienser – Das Europa der Klöster“ von 2018 im LVR Landesmuseum Bonn zu nennen, die diesen Themenbereichen intensiv nachging und von einem opulenten Ausstellungs- und einem Tagungsband begleitet wurde. Die vorliegende Publikation, die in den Oberrheinischen Studien veröffentlicht wurde, widmet sich nun einem weiteren Zeithorizont, der in der Beschäftigung mit dem Orden bisher wenig Raum eingenommen hat: die Frühmoderne. Entstanden ist der Band aus einer 2010 ausgetragenen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein in Salem mit dem Titel „Kirchenfürsten und Reichsprälaten. Die Reichsunmittelbarkeit von Zisterzienserklöstern“. Die Herausgeber Konrad Krimm und Maria Magdalena Rückert haben in diesem Band sechs Beiträge aufgenommen, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln nähern. Den Auftakt macht Wolfgang Wüst mit seinem Aufsatz „Für Kaiser, Kreis und Reich? Orientierungslinien und Bezugsfelder süddeutscher Zisterzienser in der Frühmoderne“. Deutlich arbeitet er heraus, dass die Abteien Salem, Kaisheim und Ebrach bewusst eine Reichsunmittelbarkeit favorisierten, trotz Kontroversen mit regionalen Vogtei- und Territorialherren. Die Reichsunmittelbarkeit brachte grundlegende Vorteile in der Durchsetzung eigener territorialer Ansprüche, die immer wieder durch überarbeitete juristische Ausformulierungen der klösterlichen Privilegien abgesichert wurden. Reichsunmittelbares Agieren gehörte seit jeher zum Kernbestand einer Standortsicherung der Abteien (15). Und auch architektonisch wurde diesem Anliegen durch Neu- und Umbauten und mit einem aufwendigen Bild- und Figurenprogramm in der Ausgestaltung der Konventsräume Nachdruck verliehen. Der folgende Text von Uli Steiger stellt die Frage „Die Oberdeutsche Zisterzienserkongregation: Einschränkung der Eigenständigkeit oder Erhalt der klösterlichen Reichsunmittelbarkeit?“. Ende des 16. und schließlich im Laufe des 17. Jahrhunderts kam es im Orden zu einer strukturellen Neuordnung mit regional straff organisierten Klosterverbänden. In ihrer Kleinteiligkeit begünstigte die Neuordnung die notwendigen Reformvorhaben, die innerhalb des bisherigen Ordensaufbaus, mit

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dem jährlichen Treffen aller Äbte auf dem Generalkapitel in Cîteaux, nicht durchführbar waren. „Nur eine strukturelle Neuordnung konnte den Gesamtorden in Gänze letztlich funktionsfähig halten“ (35). Der Oberdeutschen Kongregation aus den Abteien in Bayern, Franken, Schwaben, Elsaß, der Schweiz und Tirol stand Salem vor, das bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts über ein Studienkolleg für die Abteien dieser Region verfügte und sich damit bereits als süddeutsches Reformzentrum etabliert hatte. Eine solche ordensinterne Festigung des Verbundes führte schließlich zu einer Stärkung der Abteien und damit auch zum nötigen Rückhalt gegen Eingriffe der Landesherren und Ortsbischöfe. Der Aufsatz von Ulrich Knapp „Kaisersäle reichsunmittelbarer Zisterzienserklöster“ zeigt auf, wie die einzelnen Abteien durch den Bau und die Einrichtung sogenannter Kaisersäle ihren Status auch architektonisch und ikonografisch untermauerten. Hier manifestierte sich wirkmächtig eine Haltung, die den eigenen Idealen nach Zurückgenommenheit, Kontemplation und Stille entgegenstand. Und so sind diese Kaisersäle grundsätzlich im Zusammenhang mit einem reichspolitischen Anspruch zu verstehen, wobei die Beziehung zu anderen Prachtsälen dieser Art in Stiftsabteien aber auch Rathäusern eng sind. Konrad Krimm thematisiert in seinem Beitrag „Der ferne und der nahe Kaiser. Die Reichsabtei Salem und Österreich“ das Verhältnis der Abtei Salem zum Kaiser und Vorderösterreich. Die Äbte reisten an den Kaiserhof, die Kaiser selber jedoch besuchten die Abtei nicht, der letzte kaiserliche Besuch ereignete sich 1485. Dafür war das Haus Habsburg durch Bilder und Statuen symbolisch präsent. Habsburg privilegierte das Kloster, forderte aber auch beispielsweise in Form von Bürgschaften hohes finanzielles Engagement von Seiten Salems. Auch strittige hoheitliche Rechte im direkten territorialen Umfeld der Abtei führten immer wieder zu Verwerfungen, denen das Kloster mit einer Reihe von rechtlichen und fiskalischen Zugeständnissen begegnete, waren doch Schutz und Schirm des Klosters durch den Kaiser ein überaus bedeutender Faktor. In ihrer Untersuchung „Frauenklöster unter Salemer Paternität: Handlungsspielräume zwischen Klausur und Reichsstandschaft“ erläutert Maria Magdalena Rückert die Stellung Salems als Vaterabtei von acht weiblichen Konventen. Deutlich arbeitet sie heraus, dass trotz der Reichsunmittelbarkeit von vier Frauenkonventen Salem konsequent auf ein hohes Maß an wirtschaftlichen und rechtlichen Einfluss bestand. Den zwischenzeitlichen Möglichkeiten der Nonnen im 16. Jahrhundert eigenständige ökonomische und verwaltungsinterne Entscheidung zu treffen, begegnete der Orden im 17. und schließlich 18. Jahrhundert mit Reformvorgaben wie der Durchsetzung einer strengen vita communis für die Nonnen. Hier ergab sich jedoch die Schwierigkeit, Weltabgeschiedenheit mit den Aufgaben einer auf Kontrolle der Besitzrechte und der Wirtschaftlichkeit ausgelegten Klosterführung in Einklang zu bringen. Eine Situation die zum Erstarken der Vormundschaft Salems über die acht Frauenkonvente führte. Jedoch wird aus den Interaktionen beider Seiten auch deutlich, dass es ein hohes Maß an Diplomatie von Seiten der Salemer Äbte im Umgang mit den Frauenkonventen bedurfte, da die Äbte in eigenen Krisensituationen auf die Fürsprache der Zisterzienserinnen und deren Wohlwollen angewiesen waren. Den Schlusspunkt im Aufsatzband macht Volker Rödel mit seinem Beitrag „Die Säkularisation von Zisterzienserabteien und die Weiternutzung ihrer Anlagen am Beispiel von Salem und Bronnbach“. An beiden Beispielen wird deutlich, dass die Zisterzienserabteien nach 1803 kaum am Fortbestand interessiert waren. Die Klosterinsassen erhielten eine Pension und das Inventar wurde neu errichteten Kirchenge-

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rätedepositorien übergeben. Die Bibliothek aus Salem ging auf in die Heidelberg Universitätsbibliothek. Die Bauten wurden umgenutzt und in beiden Fällen wurden die Bauten für die landesherrlichen Familien ausgebaut. Der Band bietet mit seinen sechs inhaltlich unterschiedlichen Untersuchungen einen guten Einstieg in die weitere, äußerst wichtige Ordensforschung zur Neuzeit. Kritisiert wurde, dass viele der hier aufgezeigten Vorgänge und Entwicklungen nicht unbedingt Spezifika des Zisterzienserordens beinhalten, sondern diese auch an anderen Orden wie den Benediktinern oder stiftischen Einrichtungen wie denen der Prämonstratenser und Augustiner-Chorherren in gleicherweise zu beobachten sind. Dieses stimmt, jedoch ermöglicht der exklusive Blick auf den Zisterzienserorden, der bis 1803 durch seine strukturelle Neuordnung in eine Oberdeutsche Kongregation ein recht geschlossenes Forschungsobjekt darstellt, eine detailreiche Analyse der ordensinternen Entwicklung. Die Beiträge schildern eindrücklich, wie sehr die Zisterzienser bemüht waren, nach der Reformation und den Beschlüssen des Trienter Konzils organisatorisch eine Neuausrichtung einzuleiten, die den Abteien ein höheres Maß an individuellen Ermessensspielräumen zugestand. Es zeigt sich, dass dieses Vorhaben nur noch bedingt gelang. Deutlich wird anhand des Beispiels der Zisterzienser, wie schwer es der Ordensführung fiel, mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen in der Zeit der Aufklärung umzugehen und man schließlich mit nur geringem Widerstand 1803 das eigene Ende beschloss. Gerade dieser Themenbereich, der Neuorientierung der Orden nach den tiefgreifenden kirchentheologischen und religionsphilosophischen Brüchen des 16. Jahrhunderts, zeigt in vielen Bereichen noch Forschungsdesiderate. Der gut redigierte und mit zahlreichen Abbildungen versehene Band bietet einen fundierten Einblick in bereits Geleistetes und noch zu Erbringendes. Und so ist dieser Band nicht nur eine wichtige Regionalstudie, sondern fordert zu weiteren Forschungen in diesem Bereich auf. Dr. Katja Hillebrand Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 164–166 Renate Blickle Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit. Hg. von Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 58), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2017, 226 S., ISBN 978-3-11-053910-3, 84,95 EUR. Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten, die Durchsetzung von Recht und Ordnung, aber auch der Widerstand gegen Unrecht und Willkür stehen im Mittelpunkt der hier vorzustellenden Publikation von Renate Blickle. Wie nur wenige aus der Zunft kann die Historikerin –

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Ehefrau und intellektuelle Weggefährtin des 2017 verstorbenen, auf gleichem Feld tätigen Peter Blickle – für sich beanspruchen, zu diesem Sektor der Frühen Neuzeit maßgebliche Beiträge geliefert zu haben. Zwar ist das Gros der in den 1980er, 1990er und während der frühen 2000er Jahre entstandenen Studien an prominenter Stelle erschienen, in internationalen Sammelbänden ebenso wie in renommierten Fachzeitschriften. Dennoch ist es eine weise Entscheidung der drei Herausgeberinnen Claudia Ulbrich, Michaela Hohkamp und Andrea Griesebner, den produktiven Ertrag der Erkenntnisse noch einmal in gebündelter Form  – gewissermaßen im Stil von „Kleinen Schriften“, jedoch in gezielter konzeptioneller Zuspitzung auf den Themenbereich der „politischen Streitkultur“ – dem Publikum vorzuführen. So werden Lektüren in Längs- und Querschnitten möglich. Linien und Zusammenhänge treten plastisch hervor. Die wiederabgedruckten Aufsätze – insgesamt neun an der Zahl – präsentieren sich als handbuchartige, regelrecht lexikalisch rezipierbare Kapitel: Die Vielfalt der dabei angesprochenen Aspekte oszilliert um Begriffe wie Leibeigenschaft und Eigentum, um Traditionen des politischen (bäuerlichen) Widerstands oder um Garantien der elementaren Subsistenzsicherung („Hausnotdurft“). Es finden sich Bemerkungen über die Rebellion vor dem Hintergrund des christlichen Naturrechts. Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit dem Problem der Frondienste (Scharwerk), aber auch mit den Partizipationsmöglichkeiten von Unterschichten (oder von Akteuren in herrschaftsferner Peripherie auf dem ‚Land‘) an den juristischen und administrativen Entscheidungsprozessen der Großen. Das Supplizieren, Remonstrieren und Demonstrieren treten als wirksame Mittel in den Vordergrund. Mit ihnen wusste sich der ‚Gemeine Mann‘ gegenüber den Mächtigen – den Räten und Beamten, aber auch gegenüber dem Fürsten in leibhaftiger Person – wirkungsvoll Gehör und Geltung zu verschaffen. Damit wird die zentrale Sinnrichtung der Beobachtungen sichtbar: Blickle geht es im Kern um die „gesellschaftlichen Ursprünge der frühen Menschenrechte“, und zwar am „Beispiel Altbayerns“ (91). Sie gewinnt ihre Einsichten aus mikrohistorischen Feldforschungen zu den Klosterherrschaften im Ammergau (Rottenbuch, Steingaden, Ettal) oder in den ‚kleinen‘ Hauptstädten des Herzog- und Kurfürstentums (etwa in Burghausen). Solche Beispiele liegen ihr wissenschaftsbiographisch äußerst nahe, hatte sie doch ihre akademischen Meriten am Münchner Institut für bayerische Landesgeschichte als Schülerin von Karl Bosl (1908–1993) erworben, unter anderem mit ihrer Doktorarbeit über die Herrschaftsstrukturen im niederbayerischen Landgericht Griesbach (in der Reihe des „Historischen Atlas von Bayern“). Es geht also um eine Untertanengeschichte der neuen und anderen Art – anstelle teleologischer Meistererzählungen, die ihr Material im hochgemuten Philosophendiskurs der Aufklärung finden, um dann ebenso zielsicher wie selbstgewiss den Höhepunkten der okzidentalen Menschenrechtsgeschichte zuzustreben (Amerikanische und Französische Revolution). Zugleich entzieht die quellengesättigte Analyse vulgärmarxistischen Vorstellungen vom ‚ewigen‘ Untertanendasein in Deutschland den Boden. Nüchtern-distanziert beschreibt Blickle die Handlungsspielräume zwischen den verschiedenen Grundherrn (Klöster, Adel) und deren Eigenleuten. Dabei treten Rechtsverhältnisse hervor, die stets komplex gefügt waren. Zwar brachten sie die Parteien nicht auf Gleichheit; wohl aber banden sie diese an Gegenseitigkeit. Über die longue durée – Blickle sondiert Entwicklungen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert – waren diese im gegenseitigen Interes-

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se immer wieder neu auszutarieren. Konnten derartige Verfahren des Aushandelns eine gewisse Stabilität garantieren, so mochten äußere Konfliktsituationen – etwa Kriegszeiten – die Balance radikal verschieben, meist zulasten der Untertanen. Kriege waren geschworene Feinde des partizipativen Prinzips. Sie spielten der Herrschaft oft den Vorwand für autoritäres Durchgreifen zu; freilich sah sich die Herrschaft hierbei ebenfalls durch das Recht dazu veranlasst. Denn sie hatte Sicherheit und Schutz des ‚gemeinen Volks‘ zu verantworten. Insgesamt gesehen, liegt mit dem handlichen Bändchen eine grundlegende Einführung in die frühneuzeitliche Rechts-, Sozial- und Strukturgeschichte der agrarischen Räume vor. Sie ergänzt die großformatige europäische Verfassungsgeschichte der Epoche um das unabdingbare landesund regionalgeschichtliche Detail – am aussagekräftigen und gut dokumentierten Beispiel Bayerns. Prof. Dr. Rainald Becker Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für bayerische Landesgeschichte, Alfons-Goppel-Straße 11, 80539 München, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 166–168 Dieter Mertens Humanismus und Landesgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Teil I und II. Hg. v. Dieter Speck, Birgit Studt und Thomas Zotz (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 218), Stuttgart: Kohlhammer, 2018, (2 Teilbde.), XIV u. 1042 S., 27 Abb., 1 Tab., ISBN 978-3-17-034359-7, 88,00 EUR. Die vorliegende Veröffentlichung umfasst in zwei voluminösen Teilbänden einschließlich der bislang unveröffentlichten Abschiedsvorlesung von 2004 insgesamt 32 Aufsätze aus der Feder des gelehrten Freiburger Mediävisten und Landeshistorikers Dieter Mertens (1940–2014). Diese gliedern sich inhaltlich in fünf Abschnitte, die den Hauptarbeitsfeldern des Verfassers Rechnung tragen: I. Humanismus und Universität, II. Habsburg und der Oberrhein, das Reich und Europa, III. Württemberg und Schwaben, IV. Geschichtsschreibung und Landesdiskurs sowie V. Kirchen- und Klosterreform. Ein Vorwort der Herausgeber sowie ein Verzeichnis der Erstveröffentlichungsorte, eine Ergänzung des bereits in einer Festgabe von 2014 abgedruckten Veröffentlichungsverzeichnisses1 für die Jahre 2014–2017 (Bd. II, 1013 f.) und ein Register der Orte und Personen fassen diese Aufsatzsammlung, die zweifellos dazu geeignet ist, „den wertvollen Ertrag eines intensiven und hingebungsvollen Forscherlebens exemplarisch zu dokumentieren“ (XIII f.), in einen würdigen Rahmen ein. Damit knüpft die Veröffentlichung an die bereits angesprochene Festgabe von 2014 und an eine Schrift mit den Beiträgen zur akademischen Gedenkfeier für Dieter Mertens an.2

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Aus Hildesheim gebürtig hatte Mertens in Freiburg i. Br. und in Münster studiert. An das Staatsexamen (1967) schlossen sich seine Freiburger Promotion über die intensive Rezeption der Werke des Erfurter Kartäusers Jakob von Paradies im Umfeld der religiösen Reformbewegung des 15.  Jahrhunderts (1971, betreut von Otto Herding) und seine Habilitation über das Reich und das Elsass zur Zeit Maximilians I. (1977) an. 1979 war Mertens Heisenbergstipendiat, 1980/81 übernahm er eine Lehrstuhlvertretung in Augsburg. Während der Jahre 1984–1991 lehrte er Mittlere und Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Landesgeschichte an der Universität Tübingen und war zugleich Direktor des Instituts für geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften ebendort. 1991 nahm er dann einen Ruf nach Freiburg i. Br. an, wo er bis 2005 als Professor für Mittelalterliche Geschichte wirkte. Bereits während seiner Tübinger Jahre wurde Mertens 1985 Mitglied in der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-­Württemberg, in der er 1995–2005 als stellvertretender Vorsitzender Verantwortung trug. Seit 1999 war er ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und wirkte seit 2001 überdies als Mitglied im Wolfenbütteler Arbeitskreis für Renaissanceforschung. Über seine Abschiedsvorlesung hinaus, die er am 11. Februar 2004 in Freiburg bezeichnenderweise zum Thema „Humanismus und Türken“ hielt (Bd. I, 189–206), blieb er Universität und Forschung eng verbunden. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden zweifellos die Ordensgeschichte, außerdem die Geschichte von Schule und Universität wie überhaupt die der Gelehrsamkeit und ihrer Träger im Zeitalter des Humanismus. Als Landeshistoriker des deutschen Südwestens hat Dieter Mertens sich immer wieder mit der Region des Oberrheins beschäftigt, den gelehrten Blick aber eben auch weit darüber hinaus schweifen lassen. Und vielleicht ist es gerade die Verbindung eines landes- und regionalhistorischen Ansatzes mit übergeordneten und epochenübergreifenden Themen und Gegenständen, die die besondere Qualität seiner Forschungen ausmachen. Auch die Beschäftigung mit den Herrschern des Hauses Habsburg und mit ihren Höfen war ihm stets ein Anliegen, und zwar nicht nur der von ihnen geförderten Intellektuellen wegen. Dass der eine oder andere dieser Intellektuellen in Anlehnung an antike Vorbilder oder auch und gerade im Wettstreit mit den zeitgenössischen Gelehrten Italiens zum Poeta laureatus gekrönt wurde, bot ihm selbst verschiedentlich Anlass, zur Feder zu greifen. Dies tat er stets quellennah und ebenso anschaulich wie eingängig. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Forschungen bildete die Rezeption der Antike und ihrer Kulturüberlieferung, einschließlich ihres Weiterlebens und ihrer Transformation an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Nicht zuletzt in Bezug auf die (Wieder-)Entdeckung und Instrumentalisierung der Werke des antiken Historikers Tacitus hat er grundlegende Forschungen vorgelegt. In der Summe eröffnen die im vorliegenden Zusammenhang versammelten Aufsätze von Dieter Mertens, die hier in einer feinsinnig zusammengestellten Auswahl aus Veröffentlichungen der Jahre 1976–2014 geboten werden, vielfältige Zugänge zu faszinierenden Themen und Gegenstände. Sie bieten einen Überblick über das bemerkenswerte Oeuvre eines Gelehrten, dessen wissenschaftliche Breite, Tiefe und Gedankenschärfe sich über die vorliegende Publikation auch Nachgeborenen trefflich erschließt.

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Nicht nur in der Synthese seiner Abschiedsvorlesung von 2004 reflektiert er über den Augenblick hinaus. So könne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und insbesondere die mit der Wahrnehmung historischer Protagnisten „auf Regeln und Bedingungen unseres eigenen heutigen Wahrnehmens und Urteilens aufmerksam machen“. Insbesondere könne „der Historiker verhindern helfen, daß wir zu Gefangenen der Geschichte werden.“ (206). In diesem Sinne wird die vorliegende Aufsatzsammlung über den Tag hinaus Wirkung entfalten und das intellektuelle Vermächtnis des Freiburger Gelehrten lebendig halten. 1 2

Sabine Holz, Albert Schirrmeister, Stefan Schlelein (Hg.): Humanismus edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart, Stuttgart 2014, 245–265. Jürgen Dendorfer, Birgit Studt (Hg.): Zum Gedenken an Dieter Mertens (Freiburger Beiträge zur Geschichte des Mittelalters 2), Freiburg i. Br. 2018.

Prof. Dr. Detlev Kraack Gymnasium Schloss Plön, Prinzenstr. 8, 24306 Plön, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 168–170 Marco Polli-Schönborn Kooperation, Konfrontation, Disruption. Frühneuzeitliche Herrschaft in der alten Eidgenossenschaft vor und während des Leventiner Protestes von 1754/55 Basel: Schwabe, 2020, 410 S., ISBN 978-3-7965-4084-4, 58,00 CHF. Selbst das politische System der modernen Schweiz birgt für Nichtschweizer manche Überraschung. Die Komplexität politischer Entscheidungsprozesse im Rahmen eines hochgradig föderalisierten Bundesstaates ist auch für Bürger des ebenfalls föderal organisierten nördlichen Nachbarn der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland, mitunter schwierig zu durchschauen. Wie sehr gilt das erst für die politische Kultur der bis 1798 existierenden alten Eidgenossenschaft. Der Verbund von vollberechtigten Stadt- und Landorten, von zugewandten Gebieten und von in je unterschiedlichen Abhängigkeiten stehenden Untertanenlanden ist nur als ein langfristig gewachsenes Konstrukt zu begreifen, dessen Kontinuität angesichts hochgradiger Konfliktanfälligkeit Erstaunen hervorruft. Es sind gerade kleinräumige Detailstudien, die Licht in die Funktionsweise des politischen Gebildes Alte Eidgenossenschaft bringen können. Das muss man auch von dem hier zu besprechenden Band erwarten, soll er mehr sein als bloß der minutiöse Bericht über einen Konflikt in einem Tal südlich des Gotthardpasses im heutigen Kanton Tessin, der Leventina. Um die Revolte von 1754/55, als man sich in der italienischsprachigen Talschaft gegen den unmittelbar nördlich des Gotthard gelegenen deutschsprachigen Kanton Uri erhob, der 1478 nach einer militärischen Aktion vom Herzogtum Mailand in den Besitz der Leventina gelangt war, gruppiert Polli-Schönborn eine umfassende Analyse des Verhältnisses zwischen der Urner Lan-

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desherrschaft und ihrem südlich gelegenen Untertanenland. Das kleidet er in einen überzeugenden Aufbau der Arbeit. In aller Knappheit skizziert er in der Einleitung sein Erkenntnisinteresse und führt in die einschlägigen Wissenschaftsdiskurse ein. An dieser Stelle hätte ich mir freilich eine stärkere Berücksichtigung der europäischen Perspektiven auf frühneuzeitliche Widerständigkeit gegen allfällige Verherrschaftlichungstendenzen gewünscht, wozu ja eine Vielfalt an Forschungsliteratur – etwa von und aus dem Umfeld von Peter Blickle – vorliegt. Dies hätte die An- und Verknüpfungspotenziale mit großräumigeren Entwicklungen, die der Fall der Leventiner Revolte vielfach anbietet, explizit gemacht und auch für diejenigen, die in dem Forschungsfeld nicht unbedingt zu Hause sind, nachvollziehbar profiliert. Dies kleine Manko ändert aber nichts an der grundsätzlichen Stimmigkeit des Untersuchungskonzepts. Auf die Einleitung folgend wird pointiert die verfassungsrechtliche Position der Talschaft am Vorabend des Protestes umrissen. Das erste Großkapitel erzählt den Konfliktverlauf samt seiner strafrechtlichen Aufarbeitung. „Die ‚Campagne von Leventina‘ war gleichsam eine letzte, innenpolitisch motivierte gesamteidgenössische Machtdemonstration im Ancien Régime mit dem Ziel, die Aufrechterhaltung der alten Herrschaftsordnung mit physischen Mitteln abzusichern“ (147). Diese Machtdemonstration war insofern erfolgreich, als „bis Ende des Ancien Régime 1798 […] auf der Alpensüdseite keine weiteren Protestbewegungen von vergleichbarer Tragweite in Gang gekommen“ sind. (148) Die beiden zitierten Sätze sind Teil des Abschnittes, mit dem der Autor die Ereignisgeschichte resümiert. Sie lassen die Antwort auf die Frage (noch) offen, ob es systemische Ermüdungserscheinungen waren, die dazu führten, dass es nicht zu weiteren Protestbewegungen kam, oder ob wir es hier noch einmal mit dem Ergebnis eines herrschaftlichen Intensivierungsprozesses zu tun haben, der sich im Handlungsrahmen des Ancien Régime bewegte. Diese Frage stellt Polli-Schönborn zwar nicht ausdrücklich. Sie schwingt aber letztlich immer mit, wenn in den beiden folgenden Kapitel sowohl nach den langfristigen Ursachen und Hintergründen des Konfliktes (151–232) als auch nach dessen kurzfristigen Ursachen und auslösenden Momenten (233–299) gefahndet wird. Es ist hier nicht der Platz, auf Details des dortigen Untersuchungsganges einzugehen. Es sei jedoch hervorgehoben, dass die kapitelorientierte Differenzierung in lang- und kurzfristige Ursachen sich als analytischer Vorteil erweist, selbst wenn es bisweilen zu konzeptbedingten Redun­ danzen kommt. Dem Leser ist es so möglich, die Beziehung zwischen langfristigen Strukturelementen, etwa der langen Widerstandstradition in der Eidgenossenschaft oder dem sozial- und politikgeschichtlich in der Frühen Neuzeit bedeutenden Militärunternehmertum, und der politisch-sozialen Krisenzuspitzung im unmittelbaren Vorfeld der Revolte kleinschrittig nachzuvollziehen und zu durchschauen. Gleiches gilt für die langfristige Entwicklung der Partizipationsrechte der lokalen Eliten sowie die vielfältigen Verflechtungen zwischen etlichen Elitefamilien der Leventina und Urner Magistratengeschlechtern. Dass einerseits Uri und andere eidgenössische Orte die Revolte als Angriff auf ihr Konzept der Verherrschaftlichung der Beziehung zu den Untertanenlanden sahen, dass andererseits die Opposition in der Leventina in ihrem Bestreben, die gewachsenen Partizipationsrechte gegen die Urner Herrschaftsoffensive zu verteidigen, nicht

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auf die ungeteilte Unterstützung maßgeblicher Meinungsträger in der eigenen Talschaft zählen konnte, zählt zu den wichtigen Gründen für die Niederschlagung des Protestes. All dies trägt zur Erklärung bei, warum ein frühneuzeitliches Gesellschafts- und Politiksystem wie das eidgenössische, dessen „normative Zentrierung“, hier adaptiert Polli-Schönborn stimmig einen analytischen Begriff des Reformationshistorikers Bernd Hamm, „in der ‚longue durée‘ mehr auf Ausgleich“ ausgerichtet „und weniger von konfrontationsgeleiteten Hauptakteuren geprägt war“ (26), im Fall der Leventina 1754/55 nicht mehr griff. Die Studie von Marco Polli-Schönborn verbindet quellensatten Detailreichtum, der dem Leser das Geschehen in der Leventina vor, während und unmittelbar nach dem Protest von 1754/55 in mikrohistorischer Perspektive nahebringt, mit ausgeprägter Anbindungsfähigkeit an die Geschichte der – im weitesten Sinn verstanden – politischen Kultur der alten Eidgenossenschaft, in der sich, wie unter einer Lupe verstärkt, Grundstrukturen der alteuropäischen Politikkultur Mitteleuropas profilieren. Die alte Eidgenossenschaft ist dann eben nicht jene exzeptionelle Exotin, als welche sie mitunter im Mainstream der nichtschweizerischen wie auch der älteren schweizerischen Frühneuzeithistoriographie erscheint. Vielmehr legt das Buch durchaus auch anderwärts beobachtbare Entwicklungen des frühneuzeitlichen Herrschaftssystems offen, ohne indes das Spezifikum des Leventiner Protestes aus dem analytischen Rahmen auszublenden. Prof. em. Dr. Olaf Mörke Kiel, Deutschland

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 170–173 Katharina Bechler, Dietmar Schiersner (Hg.) Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch Stuttgart: Kohlhammer, 2016, 456 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-3-17-030248-8, 29,99 EUR. Die oberschwäbische Kulturlandschaft, die in der Einführung (7–15) der beiden Herausgeber – Dr. Katharina Bechler ist Direktorin der Städtischen Museen Hanau, Prof. Dr. Dietmar Schiersner lehrt Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten – etwas einsilbig als Region zwischen Donau und Bodensee beziehungsweise zwischen Schwarzwald und Lech in vertikaler Sicht umschrieben wurde, zeichnet sich in der Tat durch ihre imposanten Barockbauten aus. Es leitet sich deshalb die berechtigte Frage ab, ob die europäische Aufklärung die regionalen oberschwäbischen Traditionen  – sie wurden aufmerksamkeitsheischend als „barocke Welt“ globalisiert! – die Zeit veränderte und das Land in eine nachhaltige Umbruchphase versetzte. Zum eingangs definierten Raumkonzept passen einerseits weder die im Aufklärungskontext zwar angebrachten, aber räumlich fehlgeschalteten „Exkurse“ unter anderem zu Augsburg – die ostschwäbische Reichs- und Handelsstadt findet sich trotz aus oberschwäbischer Sicht absoluter Grenzlage laut Register auf mehr als 45 Seiten –, zu München (9 Treffer), zu Luzern, Nördlingen,

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Nürnberg (7 Treffer) oder zu Köln. Das bayerische Allgäu und speziell die oberdeutschen Reichsstädte Memmingen und Kempten, die im Zentrum des Beitrags von Wolfgang Petz (Die bürgerliche Öffentlichkeit der Spätaufklärung in Allgäuer Reichsstädten: Medien, kommunikative Netzwerke und Sozietäten, 317–356) stehen, wurden im Raumkonzept der Herausgeber ebenfalls für Oberschwaben reklamiert. Andererseits befremdet bei einem Werk, das im Auftrag der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur sowie des Landkreises Ravensburg regional ausgerichtet sein sollte, die räumliche Vereinnahmung der Weltgeschichte des (ausgehenden) 18. Jahrhunderts. Zwanzig Autoren versuchten sich deshalb an der anspruchsvollen Aufgabe, den Mainstream europäischer Aufklärung auf kleinräumige Strukturen zu übertragen. Dabei ist insbesondere in den Beiträgen von Erich Franz (Die klassizistischen Bauten von Pierre Michel d’Ixnard in Oberschwaben: Französischer Import und regionale Anverwandlung, 133–146), Angelika Kauffmann (Von Oberschwaben in die Welt, 169–190) und Manfred Weitlauff (Ignaz Heinrich von Wessenberg: Sein reformerisches Wirken im Bistum Konstanz und seine Vorschläge für eine gesamtdeutsche Lösung der katholischen Kirchenfrage auf dem Wiener Kongress, 1814/15, 261–284) gelungen, grenzüberschreitende Netzwerke bereits im Titel zu manifestieren. Sicher würde es zu kurz greifen, die große Welt der Aufklärung im regionalen Zuschnitt ausschließlich über die Titeleien zu suchen. So ist es dem 2017 viel zu früh verstorbenen Berner Historiker und langjährigen Vorsitzenden der genannten Gesellschaft Oberschwaben Peter Blickle (Wieland trifft Rousseau: Politische Aufklärungsphilosophie aus der Erfahrung Oberdeutschlands, 19–32) gelungen, die oberschwäbische Leitfigur der Aufklärung, Christoph Martin Wieland (1733–1813), am werkimmanenten Erfahrungsaustausch mit Jean-Jacques Rousseau  (1712– 1778) in ausgewählten Werken zu messen und zu bewerten. Beispielhaft wurden, um Kultur- und Gesellschaftstransfers zu verdeutlichen und zu vergleichen, die Abderiten (1774 bis 1780 in Fortsetzungen erschienen) und der Contract Social (1762) gewählt. Ähnliches trifft auch für die primär kunsthistorischen ausgerichteten Beiträge des Bandes zu. Wolfgang Augustyn ( Januarius Zick: ein Maler im Zeitalter der Aufklärung in Oberschwaben, 147–168) stellt das Wirken des in München geborenen und in Ehrenbreitstein verstorbenen Malers und Architekten Januarius Zick (1730–1797) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Mit Oberschwaben verband ihn zunächst eine Maurerlehre in Schussenried in den Jahren 1745 bis 1749. Wichtiger für das Thema importierter Aufklärung war Zicks späteres Kunstverständnis nach seinen Pariser Jahren mit den Avantgardisten Jean-Baptiste Greuze und François Boucher. Die Ausmalung der oberschwäbischen Kloster- und Pfarrkirchen in Wiblingen, Zell bei Riedlingen und Elchingen zeugen davon. Inhaltlich gliedert sich der Band, der auf eine internationale Tagung in Ravensburg im November des Jahres 2012 (vier Jahre Abstand bis zur Drucklegung) mit dem Titel „Zwischen Wien, Weimar und Paris – das Zeitalter der Aufklärung in Oberschwaben“ zurückgeht, in die Makrobereiche 1) „Philosophie, Literatur und Bibliotheken“ mit den Beiträgen von Peter Blickle, Andrea Riotte, Katja Schneider, Magda Fischer und Franz Schwarzbauer, 2) „Kunst und Musik“ mit den Autoren Erich Franz, Wolfgang Augustyn, Bettina Baumgärtel und Michael Gerhard Kaufmann, 3) „Kirche und Pädagogik“ mit den Beiträgern Edwin Ernst Weber, Dietmar Schiersner, Manfred Weitlauff und Thomas Wiedenhorn, 4) „Reichsstädte“ – warum hat man hier die zahlreichen Re-

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sidenzstädte nicht zugeordnet? – mit den Verfassern Simon Palaoro, Wolfgang Petz und Barbara Rajkay und schließlich 5) „Territorien“ mit Brigitte Mazohl, Eberhard Fritz und Esteban Mauerer. Mit Blick auf die ausgreifende räumliche Zuordnung des interdisziplinär eruierten Aufklärungsgeschehens in Oberschwaben wäre es vielleicht besser gewesen, den ursprünglichen Tagungstitel beizubehalten. Sieht man auf die eben vorgestellte feinmaschige Gliederung, scheint der Klappentext des Buches seine volle Berechtigung zu haben. Der Werbetext kann durchaus auch als vage formuliertes Understatement verstanden werden. „Oberschwaben – für viele ist das eine in besonderer Weise vom Barock und von katholischer Frömmigkeit geprägte Landschaft. Der Band bietet ein Panoptikum der oberschwäbischen Welt des 18. Jahrhunderts im Umbruch, zwischen Aufklärung, rationalistischen Wertvorstellungen und Nützlichkeitsdenken des Zeitalters“. Wählen wir abschließend aus den noch nicht näher vorgestellten Makrobereichen exemplarisch je einen Beitrag, um die Tragweite aufklärerischen Agierens vor Ort zu klären. Sie stehen als partes pro toto für den durch ein Orts- und Personenregister gut erschlossenen und durch namhafte Zuschüsse der Förder- und Stiftungsträger – insbesondere der Fritz Thyssen Stiftung für die Tagung und der Stiftung Oberschwaben für die Publikation – reich ausgestatteten Tagungsband. Für das Bibliothekswesen geht Magda Fischer (Aufklärungstendenzen in oberschwäbischen Klosterbibliotheken, 89–112) der Frage nach, inwiefern die von ihr näher untersuchten, teilweise exzellent bestückten Kloster- und Stiftsbibliotheken am Vorabend der Säkularisation als Aufklärungsbibliotheken bezeichnet werden können. Im Ergebnis vermisst man in den Buchbeständen auf das Ganze gesehen eine systematische und flächendeckende Sammlung aufklärerischer Literatur, obwohl einzelne Konvente eine ausgesprochene Affinität zu den Vordenkern und Protagonisten europäischer Aufklärung entwickelten. Unbeantwortet bleibt die Frage, wie man mit den kirchenrechtlich indizierten libri prohibiti verfuhr. Polemisch überzogen dürfte aber die abwertende Bemerkung des evangelischen Theologen Johann Ferdinand Gaum (1738–1814) verstanden werden, der in seiner Streitschrift über das süddeutsche Mönchswesen beispielsweise behauptete: Die Benediktinerabtei Weingarten sei den Alten sehr ergeben und man kenne keine Bücher, auf deren Titelblättern etwas von Berlin, Leipzig oder Halle [als den Zentren der Aufklärung] vorkommt. (93). Prüfen wir abschließend den vorgegebenen Aufklärungsbefund an drei städtischen, dynastischen und territorialen Beispielen. Simon Palaoro (Politische Aufklärung in der Reichsstadt: Republikanismus, Gewaltenteilung und Aufklärungsgesellschaften in Ulm im späten 18.  Jahrhundert, 297–316). Aufklärung wird für die Jahrzehnte vor der Mediatisierung der schwäbischen Reichstadt Ulm – auch Ulm ist übrigens für Oberschwaben eine Grenzstadt – am Reformimpetus seiner Bürgerschaft gemessen. Die „Bürgerprozesse“ der Jahre 1794 bis 1802 dokumentieren die republikanisch ausgerichtete Rezeption der Französischen Revolution, die in ihrer gesellschaftlich egalisierenden Form die Zünfte zu einer Fundamentalkritik am städtischen Verfassungssystem und der „gottgegebenen Obrigkeit“ veranlasste. Wenn Aufklärung mit Kant wird auf die Befreiung „aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ reduziert wird, dann kann man die auch in anderen Reichsstädten (zum Beispiel Nürnberg) zu beobachtenden Zunftaufstände als späte Form der Aufklärung interpretieren. Spät ist sie jedenfalls in Ulm gekommen, wenn der protestantische Aufklärungsreisende Friedrich Nicolai über die protestantische Stadt Ulm noch 1781

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berichtet: Der Unterschied zwischen Patriciern und Bürgern, zwischen Ratsherren und Bürgern ist, bey allen Vorfällen des Lebens, in dieser Republik sehr einschneidend. (299). Eberhard Fritz (Das Haus Württemberg im Zeitalter der Aufklärung, 399–416) stellt in das Zentrum seiner Untersuchung eine differenziert Neubewertung des Regierungsstils unter Herzog Carl Eugen von Württemberg (1728–1793), der als zwölfter Landesherzog seit 1744 politisches Oberhaupt in Oberschwaben war. Der Herzog war in seinen späten Regierungsjahren sicher ein aufgeklärter Monarch. Er wandte sich der Agrarwissenschaft, der Kulturförderung und der Päda­ gogik zu. Auf die Gründung einer Académie des arts im Juni 1761 in Stuttgart folgte 1765 in Ludwigsburg – dort befand sich der Herzogshof – auf seine Initiative die öffentliche Bibliothek, die heutige Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, für deren Bestandsaufbau er beträchtliche Summen ausgab. 1767 installierte er sich selbst als Rector perpetuus der Tübinger Landesuniversität Eberhardina. Die ließ er bald in Eberhardo-Carolina umbenennen, womit er sich nach dem Gründer, Graf Eberhart im Bart (1445–1496) als zweiter Universitätsgründer installierte. Der Herzog nahm das Rektorenamt bis zu seinem Tod 1793 wahr. Esteban Mauerer (Die große Revolution: Bayerns Expansion nach Ostschwaben, 1802 bis 1808, 417–447) konzentriert sich unter Auswertung dichter, aber keinesfalls vollständiger und kaum oberschwäbischer Forschungsliteratur auf die expansiven Maßnahmen im Westen Bayerns unter dem ‚Radikalaufklärer‘ Maximilian Graf von Montgelas (1759–1838). Der Autor bedient als zentrale Felder den Militärdienst und die Religionspolitik des frühen 19. Jahrhunderts. Die Integration neubayerischer Gebiete westlich der Iller entlang alter Salzhandelswege konnte kaum unter Zwang gelingen, sondern brauchte Zeit, die weit über die Aufklärungsepoche in ihrer zeitlich weitest gehenden Fassung hinausging. War es oberschwäbisch und die Furcht vor Aufklärung, wenn der Pfarrer Magnus Scharpf aus Thalhofen im bayerischen Landkreis Ostallgäu 1802 von der Kanzel posaunte: Wir sind also bayerisch – Gott Gnade uns allen? Dieser aus dem Kontext gerissene Satz war wohl eher für die Integrationsprobleme Oberschwabens peripher, da die tatsächlichen Probleme im katholischen Teil Oberschwabens eher an der Arroganz zahlreich zwangsversetzter, protestantisch-pietistischer Pfarrer altwürttembergischer Provenienz als an den Folgen bayerischen Inselbesitzes festzumachen sind. Insgesamt entstand ein sehr lesenswerter, gut gegliederter und reich ausgestatteter Band, dessen Zielrichtung weniger darin lag, empirische Neuforschung zu präsentieren, als die Aufklärungsära in einem räumlich nicht überzeugend definierten Oberschwaben zu konkretisieren. Wenn dabei barocke Welten als Gegenpol – verblasst und binär – zur Aufklärung verstanden wurden, legt man die großen Kontinuitäten der frühen Neuzeit vorschnell zur Seite. Prof. em. Dr. Wolfgang Wüst Nürnberg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 174–175 Sigrid Hirbodian, Tjark Wegner (Hg.) Aufstand, Aufruhr, Anarchie! Formen des Widerstands im deutschen Südwesten (Landeskundig. Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte 5), Ostfildern: Jan Thorbecke, 2019, 264 S., 50 überwiegend farbige Abb., ISBN 978-3-7995-2074-4, 28,00 EUR. Der über eine derart vielfältige Zeitspanne führende Sammelband spricht durch die zahlreichen Themen sicher ein breites Publikum an. Die etwa 50 meist in Farbe dargebotenen Abbildungen lockern den Text in sehr ansprechender Weise auf. Eine Auswahlbibliographie am Ende jeden Beitrags lädt darüber hinaus zur weiteren Forschung ein. Die Forschungsbasis für diese ansprechende Veröffentlichung bilden einerseits die elf Vorträge des Tübinger Studium Generale, andererseits im Zuge des Jubiläumsjahrs 2018 sowohl das Revolutionsjahr 1848 als auch die Epoche der Studentenrevolte 1968. In Anbetracht der vielversprechenden Alliteration im Titel dieses Kompendiums historischer Studien sollte der Zeitraum bis auf das Hochmittelalter vordatiert werden. ‚Landeskundig‘ werden auf diese Weise also Spezifika einzelner Mikrokosmen, welche stellvertretend für makrokosmische Vorgänge stehen, dargeboten. Durch diesen Anspruch an die Beiträge entsteht ein reizvolles Komplet des aufständischen, aufrührerischen und anarchischen deutschen Südwestens von Hochmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Nach einer Einführung in die Thematik des Bandes durch die Herausgeber Sigrid Hirbodian und Tjark Wegner (7–10), beginnt Steffen Patzold mit „Aufruhr und Widerstand in der Zeit des sogenannten Investiturstreits“ (11–36) und macht für die Jahre zwischen circa 1075 und circa 1125 grundsätzlich drei Schlüsse fest: eine ahistorische Betrachtung kommt aus Gründen der äußeren Umstände nicht in Frage, um „Widerstand mit den Fäusten“ versus „mit der Feder“ (32) sowie eine Argumentation, den König als von Gott gewählten Stellvertreter anzusehen. Im Anschluss daran geht es bei Bernhard Kreutz um die „Zunftkämpfe in südwestdeutschen Städten“ (37–56). Ökonomisch motiviert gibt es im 13. Jahrhundert eine regelrechte Landflucht. Nicht zuletzt entstanden durch Steuern beeindruckende Stadtmauern und -tore. So schlossen sich demselben Gewerbe anhängige Personen, vor allem Handwerks- und Kaufleute in sogenannten Zünften zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen oder etwa eine Interessengemeinschaft zu bilden. Durch Steuerabgaben und die Verteidigung der Städte durch Wehrpflicht erhoben die Zünfte gleichwohl einen gewissen Machtanspruch. Gilt die Zunftbewegung also tatsächlich als wesentlicher Schritt in Richtung moderne Demokratie (54)? Tjark Wegner untersucht das Terrain von „Aufruhr in spätmittelalterlichen geistlichen Einrichtungen“ (57–78). Ein Aspekt – Vorwürfe gegen weibliche und männliche Geistliche – sicher auf die Gegenwart zu übertragen, denkt man an den aktuellen Synodalen Weg, findet hier seinen Platz. Danach sucht Axel Metz die Antwort: „Die Absetzung Herzog Eberhards II. von Württemberg (1498) – eine Frage des (Un)Gehorsams?“ (79–102). Gehorsam oder Ungehorsam spielen in der Diskussion zwar eine Rolle, doch eher eine untergeordnete, was auch im Horber Vertrag deutlich wurde, als Maximilian im österreichischen Horb die württembergische Regierungskrise beendete.

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Hinterher wechseln wir mit Andreas Schmauder den Schauplatz: „Bundschuh und Armer Konrad: Die beiden großen Aufstände in Südwestdeutschland vor dem Bauernkrieg von 1525“ (103–120). Bäuerlicher und städtischer Widerstand (103) einerseits und Bauern und Ackerbürger in den Territorialstaaten der Fürstbischöfe von Speyer und Straßburg sowie der Herzöge von Württemberg (105) auf der anderen Seite, zeigen hier den Korridor der Spannungen, die gleichzeitig viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Mit Georg M. Wendt tauchen wir in „Württembergs Bauernkrieg 1525: Freiheit, Fürst und Fremdherrschaft“ (121–140) ein. Nach einem Zeitsprung nimmt uns Stefan Knödler auf eine Reise durch die „Rebellische Dichtung in Württemberg vor der Französischen Revolution“ (141–164) mit. An dieser Stelle stehen sich Waffen- und Wortgewalt gegenüber, sowie der Ausdruck, an welchen Passagen Meinungsund Pressefreiheit zu erkennen sind. Wilfried Setzler zeigt an Hand der „bürgerlichen Revolution 1848/49 in Tübingen“ (165–194) den Grundsatz von kommunaler Selbstverwaltung, öffentlichem Tagen politischer Gremien oder der Herausbildung von Parteien (vgl. 191). Die Sonderrolle wird bei Frank Engehausen deutlich, indem er „Die Revolution von 1918/19 in Württemberg“ untersucht (195–216). Die Aufnahme bürgerlicher Politiker in die provisorische Regierung ließen die Spannungen zwischen Mehrheitssozialdemokraten und USPD wachsen. Es gab also insgesamt wenig Unterschiede zur Entwicklung im Reich. Ewald Frie stellt in seiner Studie die Gegebenheiten des 31. Januar 1933 in den Fokus, als es zum „Mössinger Generalstreik“ (217–238) infolge der Reaktion der örtlichen KPD auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kam. Der Band schließt mit einer Art Egodokument des damaligen jungen Professors und späteren Rektors der Universität Tübingen, Klaus von Beyme, der seine eigenen Erfahrungen schildert und fragt: „Che Guevara in Schwaben? Tübingen 1968“ (239–262). Durch den breit angelegten Facettenreichtum der einzelnen Aufsätze wäre am Ende ein ineinandergreifendes Resümee hilfreich gewesen, um die große Brücke zwischen Investiturstreit und Che Guevara besser überqueren zu können. Summa summarum ein sehr lesenswertes Buch! Sabine Wüst B. A. Beim Grönacker 34, 90480 Nürnberg, Deutschland

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 175–177 Johannes Kraus Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 27), Göttingen: V&R Unipress, 2021, 498 S., ISBN 978-3-8471-1261-7, 60,00 EUR. Der Dreißigjährige Krieg als eine Art Urkatastrophe der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte hat immer wieder zu eindrücklichen Synthesen, Sammelbänden oder quellensättigten monogra-

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phischen Darstellungen angeregt. Zur letzten Kategorie zählt auch die hier zu besprechende Studie von Johannes Kraus, die aus einer an den Universitäten Erlangen, Frankfurt a. M. und Konstanz entstandenen Dissertation hervorgegangen ist. Bis heute reicht die Vorstellungskraft kaum aus, um sich angesichts der großen Zerstörungen, demographischen Einbrüche und mentalen Traumatisierungen auszumalen, wie es überhaupt möglich schien, in den besonders von der Kriegsfurie heimgesuchten Regionen ein Mindestmaß an Normalität aufrechtzuerhalten. Gleichwohl sind bekanntlich für viele Landschaften des Reiches Quellenbefunde bekannt geworden, die dem Bild absoluter Destruktion zu widersprechen scheinen. Die hier untersuchte und zur Oberpfalz gehörende Landschaft zählte zu jenen Gebieten des Alten Reiches, die auf der sogenannten, vom Nordosten (Pommern, Mecklenburg) bis in den Südwesten (Württemberg, Elsaß) reichenden „Zerstörungsdiagonale“ lagen und eignet sich deshalb für die vom Verfasser verfolgte Fragestellung. Johannes Kraus möchte mit seiner Studie „administrative Praktiken im Krieg“ daraufhin untersuchen, „ob und wie sie bei den Untertanen Akzeptanz generierten und ihnen somit halfen, den Krieg erfolgreich zu bewältigen“ (13). Damit in Verbindung steht das Hinterfragen einer bis heute nachwirkenden Vorstellung, wonach die Zivilbevölkerung in Stadt und Land vornehmlich als bemitleidenswerte Opfer eines immer selbstherrlicher agierenden Militärs und willenlose Objekte des Trachtens der obrigkeitlichen Gewalten nach Abschöpfung immer höherer Abgaben gesehen wurden. Dass sich hierbei die Nutzung des schon des Öfteren erprobten Paradigmas von Aushandlungsprozessen zwischen landesherrlicher Obrigkeit und Untertanen als besonders erfolgversprechend anbot, erscheint einleuchtend. Die konzeptionelle Anlage der Studie, die in der Gliederung der drei Hauptkapitel ihren Niederschlag gefunden hat, beleuchtet jene Felder dieser Aushandlungsprozesse, in denen die Konflikte besonders markant ausgetragen wurden: die „Konfessionalisierung im Krieg“, das Einquartierungswesen, inklusive der damit verbundenen Kontributionserhebung und der Umgang mit deviantem Verhalten von Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung. Die Ergebnisse, zu denen der Verfasser auf Grund einer glücklichen Quellenüberlieferung, aber auch einer klugen Auswahl des Materials und seines analytischen Geschicks kommt, dürften wohl vor allem für diejenigen überraschend ausfallen, auf die die eingangs beschriebenen Vorstellungen absoluter Destruktion eine große Suggestivkraft ausüben. Vielmehr sind auf der Grundlage der vorgestellten Fälle viele Beispiele eines kooperativen Verhaltens zu beobachten, seien es die in Verbindung mit dem Einrücken bayerischer Truppen in die Oberpfalz unternommenen Bemühungen um eine katholische Konfessionalisierung, die eben nicht nur gewaltsam vorangetrieben wurde, sei es die flexible Handhabung der Steuererhebung, die häufig auch die Chance der Neuaushandlung der Lasten angesichts von Kriegsschäden einschloss oder seien es die zum Teil durchaus erfolgreichen Versuche der fürstlichen Lokalbeamten, um der Zivilbevölkerung einen minimalen Schutz vor Übergriffen des Militärs zu gewähren, auch wenn „die Präventions- und Strafverfolgungsmaßnahmen der landesherrlichen Behörden oft ins Leere zu laufen“ drohten (439). Somit versteht es die Studie zu verdeutlichen, „dass frühneuzeitliche Landesherrschaft selbst in der Extremsituation des Dreißigjährigen Krieges ihren Aushandlungscharakter“ zu wahren verstand (456). Zu bedenken hat man freilich, dass die hier gewonnenen Ergebnisse am Beispiel einer überschaubaren Kleinlandschaft gewonnen wurden. Der Verfasser hat aber in seinen ein-

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leitenden Erläuterungen aus nachvollziehbaren Gründen deutlich zu machen verstanden, dass sein Untersuchungsansatz sinnvoll nur über einen mikrohistorischen Zugang umgesetzt werden kann. Somit wird man mit Blick auf die Gesamtheit der besonders vom Krieg heimgesuchten Gebiete des Reiches sicher auch Beobachtungen ausmachen können, die dem hier vertretenen Interpretament entgegenzustehen scheinen. Es sind zum Beispiel Fälle aus den nordostdeutschen Reichsterritorien überliefert, in denen die Eigendynamik des Krieges, vor allem in seiner letzten Phase jegliche Rücksichten der Söldnerheere auf die regionalen Autoritäten vermissen ließen, seien diese landesherrlicher oder lokaler Provenienz. Jedoch handelte es sich dabei zumeist um besonders zugespitzte und temporär begrenzte Konstellationen, die damit dem von Kraus entwickelten Erklärungsansatz nicht generell widersprechen müssen. Für innovativ und weiterführend halte ich auch die am Ende des Buches formulierten Konsequenzen für die weitere Debatte des Paradigmas der ‚Staatsbildung‘. Entgegen dem klassischen, eher etatistisch-institutionsgeschichtlich verstandenen Modell wird hier ein Zugang favorisiert, der eher auf die „kriegsbedingte Herrschaftsverdichtung“ mit Blick auf längerfristige habituelle Veränderungen im Verhalten von Amtsträgern und Untertanen abhebt (458). Hervorheben möchte ich abschließend auch die Diktion der Untersuchung, die ein hohes intellektuelles Niveau mit dem Bemühen einer guten Lesbarkeit verbindet. Somit kann dieses Buch guten Gewissens auch all denjenigen zur Lektüre empfohlen werden, die sich abseits des ‚akademischen Elfenbeinturmes‘ – so etwa aus ortsgeschichtlicher Perspektive – mit dem Dreißigjährigen Krieg und seinen Wirkungen beschäftigen und weitere Antworten auf die durchaus immer noch spannende Frage zu finden suchen, wie die „Gemeinschaften des Durchkommens“  ( Jan Peters) unter den Extrembedingungen des Dreißigjährigen Krieges funktionierten. Prof. Dr. Frank Göse Universität Potsdam, Bereich Landesgeschichte, Campus Am Neuen Palais 11, 14469 Potsdam, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 177–180 Andreas Behr Diplomatie als Familiengeschäft. Die Casati als spanisch-mailändische Gesandte in Luzern und Chur (1660–1700) Zürich: Chronos, 2015, 383 S., ISBN 978-3-0340-1293-5, 52,00 EUR. Denkwürdiges trug sich Anfang 1681 zu: In einem Schreiben bat Luzern, traditioneller Vorort der katholischen Eidgenossenschaft, Karl II. von Spanien, er möge seinen Mailänder Untertan Carlo Casati als spanischen Botschafter in der Schweiz nominieren. Carlo sei der Sohn des kürzlich verschiedenen Alfonso Casati, der bis zu seinem Tod die Rolle als Vertreter des Katholischen Königs zur vollsten Zufriedenheit der Eidgenossen ausgeübt habe. Selbiges könne man von all den weite-

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ren Mitgliedern des Mailänder Grafengeschlechts behaupten, die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als Gesandte in der katholischen Eidgenossenschaft und den Drei Bünden aktiv gewesen seien. Die Dynastiebildung, die hier anklingt, ist ebenso erklärungsbedürftig wie das going native der Residenten, das im Bittschreiben des Luzerner Rats zum Ausdruck kommt und im Luzerner Bürgerrecht der Casati seine Bestätigung findet. Andreas Behr nimmt diese beiden Kuriosa zum Anlass, um im Sinne der Neuen Diplomatiegeschichte nach dem Eigensinn einer Gesandtschaft zu fragen, die modernen Lesenden auf den ersten Blick dysfunktional erscheinen muss. Sein erklärtes Ziel ist es, durch eine mikrohistorische Analyse der beiden letzten Residenten aus dem Haus Casati mehr über die Funktionsweise der spanischen Diplomatie in einem republikanisch regierten Randgebiet zu erfahren. Dass er sich dabei auf die Regierungszeit Karls II. (1665–1700) konzentriert, die von der Spanienforschung insgesamt bis vor Kurzem eher stiefmütterlich behandelt worden ist, gehört zu den besonderen Verdiensten dieser Studie. Nach einer Einleitung, die das Erkenntnisinteresse kurz zusammenfasst, und einem kontextualisierenden Kapitel zur spanischen Monarchie, Mailand, der Eidgenossenschaft und den Drei Bünden im 17. Jahrhundert gliedert sich der Hauptteil von Behrs Studie in zwei große Kapitel. Das erste geht der Frage nach, wie sich die Casati als Botschafterdynastie etablieren und abgesehen von einem kurzen Intermezzo in den frühen 1680er Jahren gut ein Jahrhundert lang in dieser Stellung halten konnten. Der Komplexität von Behrs Antwort kann in wenigen Zeilen kaum Genüge getan werden, sie lässt sich aber dahingehend zusammenfassen, dass die Etablierung der Casati als Gesandtendynastie allen vier beteiligten Akteuren gelegen kam. Nutznießer des Arrangements waren zuvorderst die Casati selbst, die dank des Ambassadorenpostens ihre soziale Stellung als Angehörige des Mailänder Patriziats wahren konnten. Nicht minder an dieser Kontinuität interessiert waren die Schweizer Magistratenfamilien, die im Mailänder Grafengeschlecht mehr oder weniger verlässliche Lieferanten jener spanischen Patronage sahen, die im Ressourcenkampf von materiellem wie symbolischem Nutzen war. Unverzichtbar waren Residenten, die sich als Kenner der undurchsichtigen Oligarchie jenseits der Alpen gerierten, auch für die spanischen Gouverneure in Mailand, die offiziell für die Pflege der Beziehungen des spanischen Königs zur Eidgenossenschaft und den Drei Bünden zuständig waren. Ebenso recht konnte die Besetzung des diplomatischen Außenpostens mit der Mailänder Grafenfamilie schließlich dem Monarchen selbst sein, für den es undenkbar war, einen Botschafter mit entsprechendem Titel und den dazugehörigen hochadligen Kredentialien in eine zweitrangige Republik zu entsenden. Nicht weniger interessant sind Behrs anschließende Ausführungen zu den finanziellen Grundlagen, welche den Casati einerseits ihren Status sicherten, andererseits ihr Auftreten als spanische Protektoren in Luzern und Chur ermöglichten. Voraussetzung dafür war nicht nur eine ausgezeichnete Vernetzung mit Kreditgebern im Gastland, welche die Wartezeit auf Mailänder Gelder überbrückten. Genauso zentral war die Bereitschaft in Mailand und Madrid, die Casati mehrmals mit Scheinämtern in der Mailänder Finanzverwaltung zu versorgen, deren Lohn ihnen mehr oder weniger umstandslos ausbezahlt wurde, ohne dass sie ihren Amtspflichten vor Ort nachkommen mussten. Die mühsame Beschaffung von Geld verweist bereits auf die Hauptfunktion der Casati in der Schweiz: Die Gesandten des Katholischen Königs traten dort in erster Linie als Gönner auf

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und hofften, so den geostrategischen Zielen Spaniens zum Durchbruch zu verhelfen. Das zweite Hauptkapitel wirft schlaglichtartig einen Blick darauf, wie die Casati neue spanisch-habsburgische Parteigänger akquirierten und bestehende Beziehungskanäle nutzten, um politische Ziele wie die Eindämmung des französischen Einflusses und das Ausheben von Söldnern zu erreichen. Die Korruptionsdefinition der modernen Institutionenökonomie kritisierend, verbittet sich Behr, dieses Vorgehen „per se als korrupt zu betrachten“ (257). Vielmehr mussten sich die Vertreter des spanischen Königs seiner Meinung nach der lokalen politischen Kultur unterordnen und sich langfristig in die eidgenössischen Netzwerke integrieren, um in einem zweiten Anlauf ihre politischen Ziele zu erreichen. Behrs Befunde stellen die Effizienz des Systems in Frage. Das Festhalten am Klientelismus wurde mitunter auch mit der Konkurrenz durch den französischen Ambassador gerechtfertigt, der beim Ausbleiben spanischer Zahlungen die Parteigänger der Habsburger in den eidgenössischen Orten auf seine Seite ziehen würde. Wie Behr aufzeigt, gelang es Frankreich im Untersuchungszeitraum wesentlich besser, mittels Klientelismus seine Basis auch auf protestantische Orte auszuweiten. Zaghafte spanische Versuche in diese Richtung scheiterten nicht nur an einem stärkeren Festhalten an konfessionellen Zielsetzungen: In den Drei Bünden, wo eine Akquirierung reformierter Klienten besonders lohnend schien, wurde sie von katholischen Magistraten hintertrieben. Die konfessionellen Einwände, die dagegen vorgebracht wurden, verdeckten allerdings eher schlecht als recht die eigentliche Befürchtung, dass bei einer solchen Ausweitung des Netzwerkes das ohnehin magere Patronagevolumen auf noch mehr Köpfe verteilt würde (297). Vielmehr noch als in den langen Dienstwegen und dem mangelnden Realismus in den spanischen Außenbeziehungen liegt in dieser Eigendynamik der Patronage der eigentliche Grund für das Stagnieren der Habsburger Partei und die offenkundigen Misserfolge der spanischen Diplomatie, etwa während der französischen Annexion der Freigrafschaft Burgund 1674, welche Behr überzeugend herausarbeitet. Gerade vor dem Hintergrund dieser Ausführungen stellt sich die Frage, ob der Patronagefluss aus Spanisch-Mailand nicht mehr Dysfunktionalitäten an den Tag legte, als der Autor mit seinem ethnologischen Blick auf den Eigensinn der beteiligten Akteure wahrhaben will. Ohne die Institutionenökonomie bemühen zu müssen, könnte selbst der zeitgenössische Denkrahmen auf Brüche im Gefüge hinweisen. Anders als Behr mit seinem alleinigen Fokus auf die Schweiz schlussfolgert (258), standen Eigennutz und Gemeinwohl in der spanischen Monarchie Karls II. in einem starken Spannungsverhältnis zueinander. Die diesbezüglichen Debatten, die in Elitekreisen in Mailand und Madrid geführt wurden, müssen sich auch auf die Casati ausgewirkt haben. Aussagen ihrer Prinzipale, wonach Eigennutz und Geldgier die einzige Antriebsfeder eidgenössischer Eliten seien (211), weisen auf ein othering hin, das aufhorchen lässt. Wurden damit Praktiken gerechtfertigt, die in der spanischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Verruf geraten waren? Immerhin gehörten die Casati genau jenem Konglomerat aus niederem Adel und sozialen Aufsteigern an, das der Mailänder Hochadel ab den 1670er Jahren unter dem Stichwort árbol del parentesco der systematischen Korruption bezichtigte. Könnte Behrs Erklärung für das Handeln der Casati vielleicht auch einfach Legitimierung nach außen gewesen sein? Klären könnte man dies nur abschließend, indem die Mailänder Erfahrungswelt der Casati stärker in die Analyse eingebunden würde. Allerdings bleibt eine solche Rückkopplung an den übergeordneten

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Kontext der spanischen Monarchie auch im Fazit aus, dessen Bündelung der Haupterkenntnisse ganz im Alpenraum verhaftet bleibt. Diese Überlegungen sind mehr als weiterführende Gedanken zu offenen Forschungsfragen denn als Monita zu verstehen, zumal bei einer kritischen Würdigung von Behrs Studie die Quellensituation nicht außer Acht gelassen werden darf: Das Familienarchiv der Casati, mit dem ihre Netzwerke wohl ebenso genau nachgezeichnet werden könnten wie ihre Selbstverortung in den zeitgenössischen Korruptionsdebatten, ist den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen. Zu seinen vor diesem Hintergrund umso beeindruckenderen Ergebnissen kommt Behr allein mittels der Auswertung der amtlichen Korrespondenz, welche die Casati mit den spanischen Gouverneuren führten, sowie der Schriften der Madrider Räte, mit denen die Residente jedoch nur äußerst selten direkt kommunizierten. Als Glücksfall für die Spanienforschung erweisen sich Behrs Kenntnisse der Schweizer Verhältnisse und der deutschen Sprache, welche ihm Zugang eröffnen zu eidgenössischen Quellen, aus denen er manch erstaunlichen Fund hebt. Angesichts dieses Zugriffs, der den meisten Spezialisten der spanischen Monarchie mangels Sprachkenntnisse verwehrt bleibt, wäre eine Veröffentlichung der wichtigsten Erkenntnisse dieser Studie in einer breiteren Kreisen zugänglichen Sprache umso wünschenswerter. Dr. Samuel Weber Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstraße 49, 3012 Bern, Schweiz, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 180–182 Christophe Duhamelle Die Grenze im Dorf. Katholische Identität im Zeitalter der Aufklärung (Religion und Politik 16), Baden-Baden: Ergon, 2018, 323 S., Karten, ISBN 978-3-95650-280-4, 48,00 EUR. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Übersetzung der 2006 eingereichten und vier Jahre später unter dem Titel La frontière au village. Une identité catholique allemande au temps des Lumières erschienenen Habilitationsschrift Christoph Duhamelles. Der Autor, inzwischen Professor an der renommierten École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, geht am Beispiel des heute in Thüringen und Niedersachsen gelegenen Eichsfelds der Frage nach, wie sich katholische Identität in der Epoche der Aufklärung definierte. Ausgangspunkt ist dabei die in der aufklärerischen Rhetorik wiederholt festzustellende Klage über die – katholische – Bevölkerung, die Reformen in ihrer „einfältige[n] Vorliebe zum Alten“ (37) ablehne und an alten, aus aufklärerischer Sicht oft abergläubischen Bräuchen festhalte. Das Eichsfeld eignet sich für eine solche exemplarische Untersuchung besonders gut, da es als zum Kurerzbistum Mainz gehörende Exklave von protestantischen, das heißt lutherischen und calvinistischen, Territorien wie dem

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Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg oder der Landgrafschaft Hessen-Kassel umgeben war und seine Bewohner gerade in Augen der Nachbarn als besonders rückständig, bäuerlich und ungebildet galten. Die Arbeit ist in vier recht gleichmäßig umfangreiche Teile á drei Kapitel strukturiert. Der erste Teil zu „Tradition, Aufklärung und Identität“ (31–84) verdeutlicht, dass die argumentative Dichotomie zwischen aufgeklärter Obrigkeit einerseits und „mit Ignoranz oder atavistischer Schwachsinnigkeit geschlagene[r] Volksmasse“ (83) andererseits nicht haltbar ist. Vielmehr fand ein beständiger Aushandlungsprozess zwischen allen Beteiligten darüber statt, welche Reformen angenommen und umgesetzt werden und welche Ideen unter Verweis auf das entscheidende Kriterium der possessio, das durch altes Herkommen bedingte konfessionelle Gewohnheitsrecht, abzuweisen waren. Dabei kann der Autor zeigen, dass nicht wenige der von den Aufklärern verurteilten herkömmlichen Praktiken gar nicht besonders alt waren. Vielmehr waren sie als spezielle „konfessionelle Marker“ erst im 16. und 17. Jahrhundert eingeführt worden, wie zum Beispiel der auf die Jesuiten zurückgehende Gebrauch von Amuletten (44). Wie der zweite Teil („Dorfgemeinschaft und konfessionelle Identität“, 85–150) verdeutlicht, erfolgte der Aushandlungsprozess meist zwischen der Gemeinde und dem Pfarrer vor Ort. Denn das als intermediäre Instanz zwischen dem Erzbischof in Mainz und den Eichsfelder Pfarreien für die geistlichen Angelegenheiten zuständige Erzbischöfliche Kommissariat war ebenso wenig wie die im Eichsfeld eingesetzte weltliche Regierung mit ausreichend Kompetenzen und Personal ausgestattet, um autonom und kraftvoll agieren zu können. Aus diesem Umstand sowie aus den unter den mittelbehördlichen Amtsträgern nicht selten auftretenden Uneinigkeiten wussten die Gemeinden im Streit mit ihren jeweiligen, mit der Umsetzung der Reformen beauftragten Pfarrern durchaus Vorteile zu ziehen. Sie nutzten dafür nicht nur Supplikationen, also an das Kommissariat gerichtete Bittschriften, die nur allzu oft Beschwerden und Denunziationen über den Pfarrer enthielten. Auch der Boykott des Pfarrers, verbunden mit einem „Beichtnomadismus“ (109) in andere Gemeinden, war ein beliebtes Mittel, um beispielsweise im Streit um die Einführung eines erneuerten Gesangsbuchs ein Zeichen zu setzen. Für solchen Widerstand identifiziert Duhamelle zunächst verschiedene innerhalb der Dorfgemeinschaft liegende Gründe, die über das Stereotyp der bäuerlichen Starrköpfigkeit hinausgehen. So gab es durchaus handfeste materielle Erwägungen, denn die Gemeinde zahlte über Stiftungen und ähnlichem weiterhin für Leistungen des Pfarrers, die nach und nach reduziert wurden, wodurch zusätzlich die soziale Funktion von beispielsweise Prozessionen und Feiertagen verloren ging. Die Stiftungen stellten zudem ein Pakt mit den verstorbenen Stiftungsgebern dar, der sich in den Augen der Nachkommen nicht einfach auflösen ließ. Und schließlich erzwang die Meinungsbildung in konfessionell-finanziellen Fragen einen gemeindlichen Konsens, der den dörflichen Zusammenhalt und das konfessionelle Zugehörigkeitsgefühl stärkte. Im dritten Teil („Grenze und Identität“, 151–216) zeigt sich, wie sich diese „Aneignung eines religiösen Gemeingutes durch die Gemeinde, das zum Kitt des sozialen Zusammenhalts geworden war“ (153), in der Interaktion an der Grenze zu den protestantischen Nachbarn auswirkte und durch diese verstärkt wurde. Denn nicht nur in den Augen der Protestanten versuchten die katholischen Aufklärer mit ihren Reformen, einen vermeintlichen Rückstand aufzuholen. Genau das

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führte aber bei der Dorfbevölkerung, die ihre Identität über Jahrhunderte gerade in Abgrenzung zu den andersgläubigen Nachbarn ausgebildet hatte, zu Unbehagen und Widerstand. Feiertage, Prozessionen und Wallfahrten sowie deren Verteidigung gegen den Spott der anderen dienten auch immer der Selbstvergewisserung und der Ehre des Dorfes. Eine von oben oktroyierte quantitative Reduktion dieser traditionellen Praktiken aus Erwägungen der eigentlich als protestantisch verdächtigten Rationalität bedeutete daher für die Bevölkerung einen massiven Eingriff in ihr Werte- und Identitätssystem. Gleichwohl verdeutlicht der Autor im vierten Teil („Identität und Diskontinuität“, 217–282), dass sich das vermeintlich starre System auch aufweichen ließ, wenn es individuell geboten schien. Dies war beispielsweise bei merkantilen Kontakten im Grenzraum der Fall oder in den Beziehungen zu den meist protestantischen Adeligen der im Eichsfeld zahlreich enklavierten Grundherrschaften. Der „konfessionelle Raum […] überschnitt sich hier mit weiteren – rechtlichen oder sozialen – Räumen, die anderen Logiken gehorchten“ (237). Auch im Jahres- beziehungsweise Lebensrhythmus wechselten Höhepunkte der konfessionellen Identität und Momente der Indifferenz oder Ambivalenz einander immer wieder ab, wenn es soziale Umstände erforderten. Seine Einbettung in die sozialen, politischen und rechtlichen Dimensionen der Fraktalität des Alten Reichs verbiete es daher, das Konfessionelle nur von der Doktrin her zu betrachten. Vielmehr stiftete es gerade im Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren die jeweilige konfessionelle Identität, und zwar am tiefgreifendsten in der dörflichen Gemeinde, da die in der Kleinräumigkeit des Reichs zu beobachtende „Allgegenwart der Grenze“ eine ständige Distinktion verlangte. Diese (auf die Aneignung der passend erscheinenden Riten und Bräuche durch die Gemeinde zurückzuführende) Erweiterung des Konfessionellen über den „kirchlichen und politischen Kern“ (286 f.) hinaus mache, so die Forderung Duhamelles, eine stärkere historische Fokussierung auf die Epoche der Aufklärung notwendig. Im Ergebnis überzeugt die vorliegende Studie Duhamelles durch ihren theoretisch innovativen Ansatz, die analytische Brillanz in der Interpretation des untersuchten Quellenmaterials sowie die überaus dichte und präzise Formulierung, die komplexe Sachverhalte prägnant zusammenfasst und auch in der Übersetzung Falk Bretschneiders, ebenfalls Professor am EHESS, nichts verliert. Die von Fremdwörtern durchdrungene Sprachgewalt geht allerdings teilweise zulasten der Lesbarkeit, die die Rezeption des Werks außerhalb eines engeren wissenschaftlichen Kreises deutlich erschweren dürfte. Auch hätte es der Rezensent (neben einem umfangreicheren Anmerkungsapparat) begrüßt, wenn im Rahmen der Übersetzung die Forschung zu Räumen und Grenzen seit 2006 zumindest partiell eingearbeitet worden wäre. Duhamelle selbst hat diese ja seither bis hin zum gemeinsam mit Bretschneider entwickelten Fraktalitätsmodell vorangebracht. Insgesamt aber seien dies nur Randanmerkungen zu einer Arbeit, die die Vorstellung und Bewertung von konfessionellen, sozialen, politischen und räumlichen Grenzen deutlich erweitert. Dr. Johannes Staudenmaier Staatsarchiv Bamberg, Hainstr. 39, 96047 Bamberg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 183–185 Monika Gussone, Hans-Werner Langbrandtner, Peter K. Weber (Hg.) Zwischen Macht und Ohnmacht. Spielräume adliger Herrschaft im frühneuzeitlichen Rheinland (Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e. V., Schriften 6), Bielefeld: Verlag für Regional­geschichte, 2020, 384 S., 16 Farb-Abb., ISBN 978-3-7395-1206-8, 29,00 EUR. (Handlungs-)Spielräume historischer Akteure interessieren die Geschichtsforschung immer wieder aufs Neue und ausweislich der Publikationen momentan sogar besonders stark. Vor allem die Gestaltungs- und Reaktionsmöglichkeiten des Adels als der beherrschenden Akteursgruppe der Vormoderne geraten dabei ins Blickfeld. Der hier zu besprechende Band reiht sich in diese mittlerweile stattliche Reihe von Veröffentlichungen zum Thema ein, auch wenn seine Aufsätze den allgemeinen theoretischen Unterbau und die Vergleichsmöglichkeiten, die die stetig wachsende Literatur bietet, unter dem regionalen Deckmantel des Rheinlands, abgesehen von drei Beispielen aus benachbarten Regionen, leider weitgehend ignorieren. Hier allein auf die wohlgemerkt überaus verdienstvollen Erkenntnisse von Peter Moraw zu verweisen, wie es etwa Iris Kwiat­ kowski macht (232), reicht beileibe nicht mehr aus. Der Band vereint zehn Fallstudien, die im Oktober 2017 auf einer von den mehr als 100 Vereinigten Adelsarchiven im Rheinland getragenen Tagung auf Schloss Wissen im niederrheinischen Weeze vorgestellt und diskutiert wurden, plus einen Zusatzbeitrag zwischen seinen Buchdeckeln. Die Beiträge kreisen allesamt selbstredend um Spielräume adliger Herrschaft „zwischen Macht und Ohnmacht“. Nach dem Geleitwort des Vorsitzenden und des Direktors der VAR (7), einer von den Herausgebern verfassten Einleitung, die allerdings keine wesentlichen Gedankenführungen zu adligen Spielräumen und Herrschaftspraktiken liefert, sondern im Wesentlichen lediglich kurze Vorstellungen der folgenden Beiträge (9–16), sowie einem hilfreichen Abkürzungsverzeichnis (17) setzt mit dem umfänglichen Aufsatz von Hans-Werner Langbrandtner die erste Beitragssektion mit der Überschrift „Der rheinische Adel und sein Handlungsspielraum (Singular!) zwischen Landesherrschaft und Untertanen“ ein (19–73). Langbrandtner „skizziert“ darin in wirklich souveräner Weise eine Typologie des rheinischen Niederadels, die es so vorher nicht gegeben hat. Letztlich handelt es sich um eine kompakte Geschichte des regionalen Adels vom späten Mittelalter bis zum 18.  Jahrhundert, die sinnvoll nicht zuletzt um die Klärung der divergierenden Begrifflichkeiten bemüht ist. Von den Herrschenden richtet danach Helmut Gabel seinen scharfen Blick auf die Beherrschten, wenn er den bäuerlichen Widerstand in rheinischen und maasländischen Herrschaften vor 1800 analysiert und die Bemühungen um eine einvernehm­ liche Kooperation zwischen Herrschaft und Untertanen thematisiert (75–90). Die adligen Kleinund Kleinstterritorien des Raumes hätten jedenfalls wesentliche Machtdefizite aufgewiesen. Mit „Adlige(r) In­strumentalisierung von Hexen- und Religionspolitik“ ist sodann die zweite Sektion überschrieben, an deren Spitze der (zusätzlich hinzugekommene) Aufsatz von Rita Voltmer zum adeligen Handlungsfeld „Hochgerichtsbarkeit“ abgedruckt ist (91–117). Die Hochgerichtsbarkeit diente ihrer überzeugenden Beobachtung nach der herrschaftlichen Verdichtung nach

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innen und außen, auch und gerade im Fall der adligen ‚Hexenpolitik‘. Konkret am Beispiel der Reichsherrschaft Wildenburg und der kurkölnischen Unterherrschaft Schönstein an der Sieg führt darauf Claudia Kauertz in ihrem gleichfalls sehr seitenstarken Beitrag „Hexenverfolgung als Herrschaftsinstrument“ vor Augen (119–194). Ungewöhnlich lange dauerte in beiden Territorien die ‚Hexenjagd‘. Dem Verfolgungsinteresse der adligen Gerichtsherren entsprach dabei der Verfolgungswunsch auf Seiten der Bevölkerung. Monika Gussone beschließt das Trio dieser Sektion mit ihrem auch oder vielleicht sogar besser an deren Anfang als an deren Ende anzusiedelnden, weiterführenden Aufsatz zur adligen Kirchenpolitik während der Reformation und Konfessionalisierung (195–229). Die Voraussetzungen für eine Einführung der Reformation seien grundsätzlich gegeben gewesen, da der regionale Adel den Diskussionen um die Reformbedürftigkeit der Kirche durchaus positiv gegenüberstand. Allerdings hätte der Einfluss der großen Territorien Kurköln und Jülich-Berg dann doch bewirkt, dass der rheinische Adel mehrheitlich altgläubig blieb. Die dritte Sektion stellt „Adelsherrschaften im niederrheinisch-maasländischen Raum“ vor, beginnend mit einer Untersuchung der bereits genannten Iris Kwiatkowski zu den „Herren von Bronckhorst-Batenburg zwischen Fürstendienst, Landstandschaft und autogener Herrschaftsausübung“ (231–254). Ihrer Einschätzung nach entschieden Handlungsspielraum (!) und Probleme der Familie „in erster Linie über Ausbau und Überleben des Kleinterritoriums“ (253). Das Familienhandeln war vornehmlich Reaktion, die zentrale familiale Strategie bestand im Aufbau von „Personennetzen“ (254). Anschließend betrachtet Peter Christoph Slawek die Erhebung der beiden klevischen Adelsherrschaften Wissen und Diersfordt zu (eigenständigen) Herrlichkeiten im Jahr 1497/98  (255–267). Diese war das Resultat eines multifaktoriellen Ursachengeflechts aus ökonomischen Zwängen und den Spielräumen der handelnden Akteure „zwischen Macht und Ohnmacht“ (267). Um Sonnenlehen als Spezialfall reichsunmittelbarer Kleinterritorien in der niederländischen Provinz Limburg geht es im aufschlussreichen Aufsatz von Jacques van Rensch (269–286). „[I]m Fall von Huldigung und Besitznahme [spielte] die Sonne in Ritualen und Rechtssymboliken eine Rolle“ (286). Die drei auch schon berührten Vergleichsbeispiele liefern in der letzten Sektion des Bandes schließlich Peter K. Weber mit dem Herzogtum Luxemburg (287–324, der Aufsatztitel ist mit seinem Akkusativ subiectio[nem] leider grammatikalisch gewöhnungsbedürftig, besser, da korrekt, die Version auf 320!), Antje Diener-Staeckling mit der westfälischen Herrlichkeit Lembeck (325–341) sowie, skizzierend am Exempel der betreffenden Landschaft, Wencke Hinz mit dem Fürstentum Lüneburg (343–367). Diese drei Beiträge sind auf ihre im Detail informative Weise auch deswegen wichtig für das Bandganze, weil sie die vorangehenden Erkenntnisse in einem breiteren Rahmen verorten helfen, auch wenn das die zu Rezensionsbeginn monierten allgemeinen Leerstellen nicht vollends ausgleichen kann. Wie eine Einleitung, die diesen Namen auch verdiente, so fehlt dem Band erst recht eine Schlussbetrachtung, in der die einzelnen Erkenntnisse nochmals im Sinn einer Typologie adliger Herrschaft und ihrer Spielräume in der frühen Neuzeit bündeln und strukturieren würde. Hier wurde mit Sicherheit eine gute Chance vertan, die für sich genommen überaus lesenswerten Erkenntnisse zum Rheinland inhaltlich an den allgemeinen Forschungsdiskurs anzuschließen. Lobend hervorzuheben sind immerhin die vorbildlich saubere Redaktionsarbeit, das visuell angenehme Layout und die den Band beschließende anschauliche farbige Bebilderung (368–384).

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Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 185–187 Franz Dominic Esser Der Wandel der Rheinischen Agrarverfassung. Der Einfluss französischer und preußischer Agrarreformen zwischen 1794 und 1850 auf die bäuerlichen Rechtsverhältnisse im Rheinland (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 32), Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2020, 270 S., ISBN 978-3-412-51703-8, 70,00 EUR. Nachdem sich die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Beschäftigung mit Themen der Agrargeschichte in den letzten Jahren erfreulicherweise wieder belebt hat, nimmt man interessiert die von Franz Dominic Esser vorgelegte rechtsgeschichtliche Züricher Dissertation über den Wandel der rheinischen Agrarverfassung vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1850er Jahre in die Hand, die sich dem Thema auf breiter archivalischer Quellengrundlage für den Fall der Jülich-Zülpicher Börde nähert. Ziel der Arbeit ist es, den Rechtszustand der bäuerlichen Bevölkerung vor 1789 konkret festzustellen und davon ausgehend detailliert anhand von Gesetzeslage und Fallbeispielen zu untersuchen, welche Auswirkungen die verschiedenen agrarreformerischen Maßnahmen in der Zeit der französischen Herrschaft und nach der preußischen Übernahme des Rheinlandes 1815 auf die landwirtschaftlichen Eigentums-, Besitz- und sonstigen Rechtsverhältnisse besaßen. Zudem bilden die Fragen nach der konkreten Umsetzung der Agrarreformen und deren Auswirkungen auf das Erbrecht nach 1815 sowie der Belastung mit Steuern, Abgaben und Diensten ein zentrales Interesse der Studie. Esser beschreibt die rheinische Agrarverfassung in drei chronologischen Hauptkapiteln, nämlich für die Zeit vor 1789, in der Zeit der französischen Herrschaft und nach 1815 anhand der lokalen Entwicklungen in den heutigen Kreisen Düren und Erft, die zuvor überwiegend zum Herzogtum Jülich und in Teilen zum Kurfürstentum Köln gehörten. Aufgrund der sehr guten Quellenlage konzentriert sich der Autor auf den Raum Nörvenich und hier insbesondere auf den kleinen Ort Poll sowie das adelige Landgut der Freiherren von Geyr zu Schweppenburg und die Besitzungen des Prämonstratenserklosters Füssenich. Diese Fallbeispiele werden durch Wirtschafts- und Tagebücher einzelner Familienbetriebe sowie durch zeitgenössische Erhebungen (Bevölkerungs-, Ackerbau-, Steuer, Dienste- und Abgabestatistiken) und Gesetzessammlungen ergänzt. Mit Hilfe dieser für die Rechtsgeschichte vergleichsweise breiten Quellenbasis arbeitet der Autor zunächst die Schichtung der ländlichen Bevölkerung heraus, die sich in freie Vollerwerbsbauern mit kleinen Höfen, die Land hinzupachteten, oder persönlich freie Jahrpächter beziehungsweise Halbwinner, die ihr Land überwiegend gepachtet hatten, sowie Kötter und Tagelöh-

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ner, die im Wesentlichen von Nebenverdiensten lebten, gliederten. Der größte Teil des Landes war dabei nicht in bäuerlichem, sondern in adeligem oder geistlichem Besitz, die wiederum ihr Land langfristig an die Bauern verpachteten. Wegen der geringen Bedeutung der Grundherrschaft und Dominanz von Pachtverträgen hatten die Bauern eine vergleichsweise geringe Abgabenlast und wenige Dienstverpflichtungen, wobei die Halbwinner – anders als die beiden anderen bäuerlichen Gruppierungen – steuerrechtlich privilegiert waren und große rentable Betriebe bei relativ geringen Abgabeleistungen bewirtschafteten. Erbrechtlich dominierte das Realteilungsrecht, wobei dies nicht auf das Pachtland zutraf, weshalb die großen, Pachtland bewirtschaftenden Betriebe infolge der Pachtbeziehungen dauerhaft und ungeteilt von einer Familie betrieben wurden. Nach der französischen Besetzung des Rheinlandes 1794 dauerte es vier Jahre, bis die französischen Agrargesetze auf die Region übertragen wurden. Schrittweise wurde nun das Lehnsystem abgeschafft, der Zehnte und die Dienste sowie die Reallasten – diese durch die Zahlung der 20 beziehungsweise 25-fachen Jahrespacht – abgelöst. Zudem wurden ab 1803 die früheren Domänen verkauft, wobei Bauern hiervon kaum profitieren konnten. Auch unterlagen die früher in adeligen und geistlichen Besitz befindlichen großen Höfe der Realteilung, was auch für die weiterhin bestehenden Adelsgüter galt, da der Fideikommiss ebenfalls aufgehoben wurde. Trotz des Verlustes von erheblichen Teilen ihres Landbesitzes sowie den zahlreichen Vor- (Steuerbefreiung etc.) und Grundrechten konnte der Adel aufgrund der weiterhin vorhandenen Landgüter seine wirtschaftliche Stellung halten, während sich die Lage der Bauern unterschiedlich darstellte: Während die Pächter früherer lehnrühriger Höfe aufgrund der ersatzlosen Streichung der Lehnsverfassung Eigentümer dieser Immobilien wurden und sich für die Pächter von Domänenland ebenfalls nichts änderte, sahen sich die Pächter geistlichen Landes nach dem Verkauf der Höfe und Ländereien privaten Eigentümern gegenüber, die keine Verpflichtung besaßen, das Land im Erbfall wie bisher abermals an die bisherige Bauernfamilie zu verpachten. Anders als im rechtsrheinischen Deutschland tasteten die preußischen Behörden die seit 1794 neugeschaffene Agrarverfassung nach 1815 nicht an und behielten selbst das französische Steuersystem bei. Detailliert zeigt Esser hier die gesetzliche Entwicklung sowie die Diskussionen und weitere Umsetzung der Regulierungen auf bestehender Gesetzeslage, durch die die Ablösung aller Grundrenten bis 1850 erfolgte und auch die von den Franzosen verkauften ehemaligen Domänen den Käufern verblieben. Esser konstatiert daher, dass es Eigentumsstruktur und Agrarverfassung auch den zuvor wenig privilegierten Bauern ermöglichte, durch gute Wirtschaftsführung einen durchaus beachtlichen Wohlstand zu erlangen. Insgesamt bietet die Dissertation Essers einen detaillierten Überblick über die rechtliche Entwicklung der linksrheinischen Agrarverfassung, wobei die deskriptive Darstellung und deren Ergebnisse weder in die neuere Forschung noch in die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung wie die in den späten 1820er Jahren einsetzende Agrarkonjunktur eingeordnet werden. Die besondere Bedeutung der bereits vor 1800 kaum noch grundherrlichen Strukturen und das vorherrschende Verpachtungssystem, das innerhalb Deutschlands schon vor der französischen Besetzung eine Ausnahme bildete und eher den ebenfalls stärker marktwirtschaftlich organisierten Agrarstrukturen der Niederlande ähnelte, wird deshalb ebenso wenig herausgearbeitet wie die Ursache, dass die französischen Gesetze nach 1815 weiter galten: Grund hierfür war unter an-

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derem, dass die preußischen Behörden wenig Grund sahen, diese zu ändern, da sie weitestgehend den Vorstellungen der wirtschaftsliberalen Reformer in Berlin entsprachen und für den Staatshaushalt äußerst lukrativ waren. Statt derartiger Einordnungen finden sich dagegen tendenziell überflüssige Ausführungen über die Entwicklung des Herzogtums Jülich seit dem Mittelalter oder über die ‚Ideologie‘ der Agrarreformen in Frankreich vor 1789. Auch wird den gewählten Fallbeispielen im Kapitel über die preußische Zeit kaum noch größerer Raum gewidmet und – anders als in den vorherigen Abschnitten – nicht mehr zwischen den Folgen der Agrarreformen für die verschiedenen bäuerlichen Gruppen unterschieden. Es bleibt daher festzuhalten, dass die Arbeit eine solide Darstellung der gesetzlichen Agrarreformen und deren verwaltungstechnische Umsetzung im Linksrheinischen bietet und damit eine gute Basis für weitere agrar-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Regionalstudien darstellt, die dann allerdings auch den Ursachen der andersartigen Agrarverhältnissen im Rheinland vor 1789 genauer nachgehen sollten. Prof. Dr. Ralf Banken Goethe-Universität Frankfurt, Historisches Seminar, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a. M., Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 187–189 Friedemann Scheck Interessen und Konflikte. Eine Untersuchung zur politischen Praxis im frühneuzeitlichen Württemberg am Beispiel von Herzog Friedrichs Weberwerk, 1598–1608 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 81) Ostfildern: Jan Thorbecke, 2020, 292 S., ISBN 978-3-7995-5281-3, 39,00 EUR. Das frühneuzeitliche europäische Weberhandwerk war bisher weniger bekannt durch zahlreiche marktsteuernde Eingriffe seitens der Territorialstaaten – dieser Vorgang lag auch dem württembergischen ‚Weberwerk‘ gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts zugrunde – sondern eher durch die Weberaufstände mit sozialpolitischer Brisanz. Weberaufstände, die vom Kölner Aufstand der Jahre 1369–1371 bis zu den Schlesischen Unruhen von 1844 reichen, um unter den ungezählten Revolten und Unmutsbekundungen nur die Eckpfeiler zu nennen, belasteten nicht nur die Textilgeschichte. Früh entstanden Monographien zu den Leistungen und Krisen im Weberhandwerk innerhalb der Strukturen des Alten Reiches, wie sie der deutsch-amerikanische Historiker Peter Claus Clasen bereits 1981 für die Reichsstadt Augsburg vorlegte (Die Augsburger Weber. Leistungen und Krisen des Textilgewerbes um 1600 als Band 17 der „Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg“). Die Sozialgeschichte der Vormoderne wäre ohne die Weber­ aufstände kaum vorstellbar. Umso wichtiger sind für die historische Gesamtbilanz der Weberei – hier der südwestdeutschen Leinenweberei – Arbeiten wie die Tübinger Dissertation – sie wurde von Sönke Lorenz (1944–2012) und Sigrid Hirbodian betreut  – von Friedemann Scheck. Der

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Autor hat in Heidelberg, Tübingen und Kalamazoo Geschichte und Archäologie studiert und ist seit seiner Promotion als Archivar tätig. Friedemann Schecks Darstellung zeichnet die (geplante) Neuordnung der Leinenweberei im Herzogtum Württemberg nach, die Landesherr Friedrich I. gegen den teils erbitterten Widerstand der Landstände und der lokalen Administrationen inszenierte. Mit der Landesreform waren Eingriffe in die rechtmäßige regionale und örtliche Autonomie der Untertanen verbunden. Der narrative Forschungsansatz („Ereignisschilderung“, 11) des Autors, der aus methodischer Sicht zunächst wie eine Rolle rückwärts anmutet, erweist sich angesichts der Quellennähe der Darstellung und der kommunikationsgeschichtlich kleinteiligen Vorgehensweise durchaus als tragbar. Die Intrigen um und die Widerstände gegen den herzoglichen Bevollmächtigten Esaias Huldenreich aus Urach, die Suppliken der Gegner und andere „Skandale“ (114) auf dem Weg der Implementierung des Weberwerks sprechen wie viele andere Einzelpunkte für eine detailgetreue Nachzeichnung der Zeitläufe. Der dominierende narrativer Ansatz des Autors wird aber beispielsweise in Kapitel 9 („Zur Einführung: das Weberwerk im Überblick“) durchbrochen, wenn dem Leser eine wohltuend analytische Orientierung zum Verständnis des Weberwerks an die Hand gegeben wird. Man erfährt in Kürze (fünf Punkte) Wichtiges über die Gesamtheit des Verwaltungsvorgangs mit gravierenden ökonomischen und rechtlichen Folgen. 1.: Es handelte sich beim Weberwerk um eine Einrichtung aus insgesamt fünf regionalen Zünften, die sich zu einer zentral privilegierten Zunftorganisation vereinen sollten, um sich landesweit neu aufzustellen. Neu waren dabei ständige Qualitätskontrollen durch die ‚Weber-Schau‘. Sie garantierten den rechtlichen und sozialen Rahmen, um qualifizierte Weber auch aus dem Ausland – zum Beispiel aus der Schweiz – anzuwerben. 2.: Ein obrigkeitlich vorfinanzierter Rohstoffeinkauf seitens des Herzogtums sollte es fortan auch ärmeren Webern ermöglichen, ihr Gewerbe wahrzunehmen und die Produktivität zu erhöhen. 3.: Mit Hilfe eines einheitlichen Verlagssystems sollte der Leinwandhandel in Württemberg mit ausländischen Kaufleuten im interterritorialen Rahmen positioniert werden. 4.: Ein Ausfuhrverbot für Rohstoffe begleitete die herzoglichen Maßnahmen im Weberwerk. Handelsverbote betrafen Flachs und Hanf sowie die im ‚Ländle‘ gesponnenen Garne. 5.: Das finanzielle Interesse des Herzogs am Weberwerk richtete sich prinzipiell gegen die Steuerrechte der Landstände. Diese direkte Steuereinnahme für die Kassen des Herzogs bestand vor allem aus dem sogenannten ‚Wirkheller‘. Diese Abgabe wurde pro Elle produzierter Leinwand erhoben. An dieser Stelle wäre ein Exkurs über Monopolbildungen und frühmoderne Steuermodelle in der von Gerhard Oest­ reich entwickelten Rasterung vom Domänen- und Steuerstaat angebracht gewesen. Trotz der erfreulichen Tatsache, dass mit der Arbeit aus der Feder von Friedemann Scheck das Verständnis für die Rahmenbedingungen frühneuzeitlicher Politik geschärft wurden und die entsprechende Verordnungs- und Policey-Tätigkeit (süd)deutscher Territorialfürsten nicht als top-down und bottom-up-Prozesse zu erklären sind, bleiben vor allem auf der Vergleichsebene Desiderate. Die Landesgeschichte lebt von der Vergleichsanalyse, sodass der Blick von Württemberg nach Bayern angebracht erscheint. In die oberdeutsche Textilregion war neben Württemberg auch das westliche Bayern eingebunden. Das kurfürstliche Kommerzienkollegium  – es wurde 1610 gegründet und war für das Marktgeschehen zuständig – erließ jedenfalls im Juli des Jahres

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1690 eine ähnliche Instruktion, mit der man zum wiederholten Male mit den Überreitern der Rentämter ausländische Textilimporte verhindern wollte. Dabey auch besagte uberreitter die visitation sowol zu wasser / als zu land / ihren pflichten gemäß / vorzunemmen: vnnd hierinnen ihnen die obrigkeiten möglichist zu assistiren schuldig seyn sollen. […] Allein sollen sie Oesterreichische handelsleuth ingleichen schuldig seyn / solch ihre auff die märckt hereinführende pallen tücher / an denen gränitzen: vnd dann beyr abfuehr widerumben / gebührend obsignieren: vnd blombiern zulassen / oder in befund eines widerigens  / es bey denen obrigkeiten vnverlängt anzuzaigen wissen. Allermassen weder gedachten sechs märckten / noch eintzig anderen incorporirten / weniger anderen außländern / aintzige abstossung / niderlag / oder einsetzung / im geringsten zuverstatten / sonder ihre tücher von denen märckten gleich â drittura wider nacher hauß zuführen seynd.1 Das kurfürstliche, wahrscheinlich wenig aussichtsreiche Bemühen um Marktabgrenzung zeigte nur für das ausgehende 17. Jahrhundert, dass sich der süddeutsche Textilmarkt seit längerem grenz- und zollüberschreitend organisieren ließ. Die Frage, wer und wann in den ungezählten über Heim-, Dorf- und Herrschaftsstruktur, Verlags- oder Zunftorganisation vernetzt betriebenen Weber- und Spinnstuben auf dem Land produzierte und absetzte, war entscheidend für überörtliche oder gar überregionale Marktstrategien. Die protoindustriell betriebene Tuch- und Garnfabrikation, die Woll-, Leinen- und Barchentweberei und die zahlreichen gewerblichen Sonderformen von der Strumpfwirkerei bis zur Seidenweberei waren wie kaum ein anderes Medium bereits zwischen dem 13. und 19.  Jahrhundert geeignet, territoriale und politische Grenzen zu sprengen, Handels- und Kommunikationswege zu intensivieren, Nahes mit Fernem zu verbinden. Das württembergische Weberwerk hatte an dieser grenzüberschreitenden Entwicklung seinen Anteil, sodass rein inländische Erklärungsmodelle nur eine Seite der Medaille widerspiegeln. In der renommierten Schriftenreihe zur Südwestdeutschen Landeskunde ist mit Friedemann Scheck ein wichtiges Werk zur württembergischen Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte entstanden. Der Band wird durch sorgfältig geführte Personen- und Ortsregister gut erschlossen. Das Quellenverzeichnis beeindruckt mit der Fülle ungedruckter wie gedruckter Nachweise für das relativ kurze Zeitfenster des Handlungsgeschehens. Im Literaturverzeichnis vermisst man aber trotz vieler Titel wegweisende Darstellungen zur Zunft- und Textilgeschichte in Süd- und Südwestdeutschland (Rolf Kießling, Anke Sczesny usw.). 1

Bayerische Staatsbibliothek, Bavaria 960, VI, 44 (Instruktion des Kurfürsten Maximilian II. Emanuel, München, 20. Juli 1690)

Prof. em. Dr. Wolfgang Wüst Nürnberg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 190–192 Sophie-Luise Mävers Reformimpuls und Regelungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Künstlerausbildung im nationalen und internationalen Vergleich (Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte 184), Darmstadt/Marburg: Selbstverlag der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen, 2020, 302 S., 48 Abb., ISBN 978-3-88443-339-3, 29,00 EUR. „Einmal geschrieben und seitdem weitgehend unverändert rezipiert – so lässt sich die bisherige (kunst-)historische Auseinandersetzung mit der Kasseler Kunstakademie zusammenfassen“ (7). In dieser Aussage bezieht sich Sophie-Luise Mävers auf die 1908 erschienene Überblicksdarstellung zur Kasseler Akademie Geschichte der Königlichen Kunstakademie zu Kassel von Hermann Knackfuß. Sie problematisiert diesbezüglich, dass Knackfuß weder Quellen offengelegt noch seine Ergebnisse einer komparatistischen Analyse im Kontext der Geschichte der Kunstakademien unterzogen habe (1 f., 7). Die spätere Forschung zur Kasseler Kunstakademiegeschichte behandelt Einzelaspekte und stützt sich dabei häufig auf Knackfuß’ Überblicksdarstellung als Grundlage (7 f.). Mävers nimmt dies zum Anlass, dieses Desiderat zu schließen. In der vorliegenden, zwölf Kapitel umfassenden Dissertation beleuchtet sie die Kasseler Kunstakademie von den frühen 1760er Jahren bis in das Jahr 1866 hinein aus einer „komparativ-überregional[en]“ Perspektive (3). Sie legt eine akribische, quellendichte Studie vor, in der sie die Entstehungsgeschichte, die historische Entwicklung, die Organisationsstruktur und Reformimpulse sowie wichtige Akteure und Netzwerke im nationalen wie internationalen Vergleich herausarbeitet. Dabei erschließt sie nicht nur eine große Menge bisher größtenteils unerschlossenen Quellenmaterials, sie gleicht die Ergebnisse ihrer Quellenforschung darüber hinaus stets mit der Forschungsliteratur zum jeweiligen Aspekt ab und stellt somit zahlreiche etablierte Forschungsthesen auf den Prüfstand. Grundlegend für das Verständnis der Kasseler Kunstakademie im Untersuchungszeitraum ist, so Mävers’ zentrale These, „das reziproke Austarieren zwischen innovativen Reformimpulsen und einer restriktiven Regelungswut als konstitutives Element […] zu begreifen“ (2). Ein künstlerischer Ausbildungszweig wurde am 1709 gegründeten Collegium Carolinum ab 1764 angeboten (14–17). Wie Mävers aufzeigt, unterbreitete Tischbein der Ältere die Idee einer autonomen Kunstakademie bereits zwei Jahre zuvor, nämlich 1762, dem Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel in Form eines Institutionsentwurfes, womit die Entstehungsgeschichte der Kasseler Kunstakademie früher beginnt als bislang kommuniziert (19–22, 27–29). Die Autorin zeichnet sodann im vierten Kapitel den institutionellen Autonomisierungsprozess der Kasseler Künstlerausbildung von einer Ausbildungsmöglichkeit am Collegium Carolinum zu einer eigenständigen kunstakademischen Ausbildungsstätte nach. Diese Autonomisierungsbemühungen sind nicht etwa dem Regenten Friedrich II. von Hessen-Kassel zuzuschreiben, sondern verschiedenen Künstlern und deren gemeinschaftlichen Initiativen, insbesondere in den Jahren 1767 und

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1768. 1777 führten diese dann mit der Verabschiedung der Reglemens de l’Academie de Peinture et de Sculpture de Cassel zur offiziellen Gründung der Kasseler Kunstakademie. Im dritten Kapitel widmet sich Mävers der Académie Royale de Peinture et de Sculpture de Paris und im fünften der Accademia Clementina di Bologna und untersucht deren möglichen Vorbildcharakter für die Kasseler Kunstakademie. Bereits der erste Entwurf Tischbeins des Älteren für eine Kasseler Kunstakademie von 1762 sowie der diesen widerspiegelnde finale Institutionsentwurf von 1777 orientierten sich deutlich an den Strukturen der 1648 gegründeten Pariser Académie Royale, so beispielsweise hinsichtlich des Protektorats durch den Regenten, eines spezifischen Aufnahmeverfahrens, der Personalstruktur, der Personengliederung, der Lehre, der Wettbewerbskultur, der Reisestipendien und einer Jahresausstellung (19–22, 27–29, 42 f.). Der Vergleich mit der Akademie von Bologna fällt hingegen negativ aus: Zwar schrieb Friedrich II. von Hessen-Kassel dem einstigen Vizepräsidenten der Kunstakademie von Bologna im Februar 1780, dass deren Reglements für die der Kasseler Akademien grundlegend seien (62), doch kann Mävers mittels einer ausführlichen Gegenüberstellung nachweisen, dass die beiden Akademien sich in ihrer Organisationsstruktur nicht ähneln, einziger Übereinstimmungspunkt sei die Aufnahme von Künstlerinnen (62–69). Die Situation von Künstlerinnen an Kunstakademien im 18. Jahrhundert ist Thema des sechsten Kapitels, das außerdem um das Fallbeispiel eines weiblichen Mitglieds der Kasseler Akademie, Christiane Louise von Solms-Laubach, im Kontext ihres Schaffens, seiner Netzwerke und seines Nachlasses erweitert wird. Bereits in den ersten Statuten der Kasseler Akademie von 1779 ist die Möglichkeit des Studiums für Frauen festgelegt. Erste künstlerische Erfolge vorausgesetzt konnten sie das Studium in Kassel aufnehmen und zudem die jährliche Akademieausstellung zur Präsentation ihrer Werke nutzen; die Möglichkeit des Aktstudiums blieb ihnen allerdings verwehrt. Zeitgenössische Ausstellungskritiken bezeugen die positive Wahrnehmung der Künstlerinnen. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts gerieten sie, wie Mävers betont, zunehmend in Vergessenheit – eine Schieflage, derer sich die jüngste Forschung schon vereinzelt annahm (72–76). In einem nächsten Schritt betrachtet die Autorin die Aufnahmemodalitäten für Künstlerinnen an unterschiedlichen (inter-)nationalen Akademien (75–83) und kommt zu dem Schluss, dass Kassel „zu den ersten Akademien [gehörte], die innerhalb Deutschlands Frauen das Recht einräumten, sich an Kunstakademien ausbilden zu lassen“ (82). Auch in diesem Kapitel präzisiert und revidiert sie bisher gängige Auffassungen. So widerlegt sie unter anderem die prominente These, die Reglements von 1781 implizierten ein allgemeines Zulassungsverbot von Frauen an der Kasseler Kunstakademie (78 f.). Die Hilfswissenschaften Anatomie, Perspektive und Kupferstich stehen im Fokus des siebten Kapitels. Bezüglich des Anatomieunterrichts mussten Schüler der Kasseler Kunstakademie bis zur Schließung des Collegium Carolinum auf dessen öffentlich zugängliches Angebot zurückgreifen. Umgekehrt profitierten die Lehrenden der Anatomie ebenfalls von den Schülern zur Anfertigung von Wissenschaftsillustrationen anatomischer Objekte (111–125). Obwohl der Maler Ernst Friedrich Ferdinand Robert auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis bedacht war, wurde sein Perspektivunterricht von der Kasseler Schülerschaft abgelehnt. Anhand weiterer nationaler Vergleichsbeispiele arbeitet Mävers die häufig kritische Haltung gegenüber

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dem Perspektivunterricht heraus (132–136). Während zahlreiche deutsche Kunstakademien sich aus Mangel um internationale Kupferstecher bemühten, gab es in Kassel Kupferstecher sowie notwendige Gerätschaften, man probierte sich in Reproduktionstechniken aus und publizierte hierzu. Trotzdem ließen Kasseler Professoren aus ökonomischen Gründen ihre Arbeiten zum Teil im Ausland stechen (143–152). Insbesondere am Beispiel des Kopienwesens (Kapitel 8) wird die im Titel der Studie benannte „Regelungswut“ deutlich. Die freie Zugänglichkeit der landgräflichen Gemäldesammlung zum für das Akademiestudium notwendigen Kopieren von Originalen stellte zur Zeit der Regentschaft Friedrich II. von Hessen-Kassel ein Alleinstellungsmerkmal dar. Unter Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel kam es ab 1795 indes zu einer die sammlungsbezogene Kopierpraxis stark einschränkenden Situation, gegen die sich Professoren wie Schüler zu Wehr setzten und die sogar zum Weggang von Schülern an Orte mit zwischenzeitlich offenen Sammlungen führten. Eine Reliberalisierung fand erst in den 1860er Jahren statt (155–159, 164–169). Im neunten Kapitel weist Mävers anhand einiger Fallbeispiele die Missachtung der Rahmenbedingungen für Reisestipendien von Seiten der Kasseler Akademie hinsichtlich des Bewerbungsprozedere, der Zielorte und der anschließenden Beschäftigung der Künstler nach. Die im Zeichen von Reformen stehende Situation an der Kasseler Kunstakademie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nimmt Mävers im zehnten Kapitel in den Blick. Zunächst wurden Reformen erfolglos unter französischer Fremdherrschaft gefordert und diskutiert, die nachfolgenden Jahrzehnte waren jedoch weiterhin von Reorganisationsbestrebungen geprägt. Besonders hartnäckig und langandauernd gestalteten sich die Reformverhandlungen der 1830er Jahre, die von tradierten Impulsen einerseits und kritischen andererseits geprägt waren und erst nach sieben Jahren, 1839, ihren Abschluss fanden. Zuletzt legt sie im elften Kapitel am Beispiel einer Gipsabgussmanufaktur und einer Gliederpuppenmanufaktur dar, „dass die Kasseler Kunstakademie in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts als Protektor ortsansässiger Manufakturen fungierte, die von ehemaligen Akademieschülern betrieben wurden und sich auf Kunstakademiebedarf spezialisierten“ (245). Die klar strukturierte, methodisch anspruchsvolle, materialreiche Studie stellt eine wichtige Grundlagenarbeit zur Kasseler Kunstakademie dar und schließt ein zentrales Desiderat. Positiv hervorzuheben ist außerdem der fortwährend kritische Umgang mit der Forschungsliteratur und dem Quellenmaterial. Mävers beschäftigt sich intensiv mit den relevanten Schriftquellen und legt die Materialgrundlage ihrer Ausführungen stets präzise dar. Lediglich wäre stellenweise eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem angeführten Bildmaterial wünschenswert gewesen. Die erkenntnisreiche Studie wird eine fruchtbare Basis für zukünftige Forschungen zur Akademiegeschichte bilden. Lisa Maria Pregitzer M. A. Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Kunstpädagogik, Karl-Glöckner-Straße 21 H, 35394 Gießen, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 193–194 Johannes Altenberend, Burkhard Beyer (Hg.) Akzisestädte im preußischen Westfalen. Die Stadtrechtsverleihungen von 1719 und die Steuerpolitik König Friedrich Wilhelms I. (Veröffentlichungen des Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge 57), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2020, 360 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-3-7395-1222-8, 29,00 EUR. 1719 verlieh Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. den in der Grafschaft Ravensberg gelegenen Ortschaften Borgholzhausen, Bünde, Enger, Halle, Preußisch Oldendorf, Versmold, Vlotho und Werther das Stadtrecht. Dieser Verwaltungsakt verband sich mit der Hoffnung, in den neuen Städten die Akzise erheben zu können, stand also in engem Zusammenhang mit der königlichen Fiskalpolitik, die auf einer steuerrechtlichen Trennung von Stadt und Land beruhte. Das runde Jubiläum des Jahres 2019 bildete den Anlass für eine vom Historischen Verein der Grafschaft Ravensberg und der Historischen Kommission für Westfalen veranstalteten Tagung, die den kurz- und langfristigen Folgen der Stadterhebungen gewidmet war und deren Beiträge der vorliegende Band vereinigt. Nach einer Einführung in die Überlieferungssituation im Geheimen Staatsarchiv Berlin und im Landesarchiv Münster (Mechthild Black-Veldtrup) folgt zunächst eine Sektion zu „Grundsätzen und Folgen der Reformen“. Werner Freitag skizziert die Integration Ravensbergs in den brandenburgisch-preußischen Staat im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Dass sich dieser Prozess weitgehend im Konsens vollzog, erklärt er mit der Schwäche der Ritterschaft und den Netzwerken lokaler bürgerlicher Eliten, denen die landesherrliche Verwaltung reizvolle Aufstiegsperspektiven bot. Sodann nimmt Sebastian Schröder Details der Reform in den Blick und liefert zugleich eine kommentierte Edition des Stadterhebungsedikts und des Akzisetarifs von 1719. Dabei gilt Schröders besonderes Augenmerk der an den etablierten Behördenstrukturen vorbei eingesetzten Kommission, auf deren Arbeit die konkrete Ausgestaltung der Reform maßgeblich zurückging. Nach Bereisung der Grafschaft entschied man sich dazu, jene Ortschaften zu „Akzisestädten“ zu machen, die als Standorte der Leggen (Leinenprüfanstalten) eine gewisse Vorrangstellung gegenüber ihrem Umfeld aufwiesen. Die neuen Städte sollten fortan nach dem Vorbild der mittleren preußischen Provinzen steuer- und wirtschaftspolitisch vom platten Land getrennt und die ländlichen Gewerbe zwecks besserer fiskalischer Abschöpfung in die Städte umgesiedelt werden. Im Anschluss weist Wilfried Reininghaus anhand der preußischen Gewerbestatistik des Jahres 1804 nach, dass diese Ziele in einem zentralen Punkt verfehlt wurden, denn eine Verdrängung des Landhandwerks ließ sich zu keinem Zeitpunkt durchsetzen. Einschneidende Folgen hatte die Reform allerdings für Teile der kleinen jüdischen Gemeinschaft Ravensbergs, wie dem Beitrag von Bärbel Sunderbrink zu entnehmen ist. In den Jahren nach 1719 wurden die Dorfjuden nämlich in die neuen Städte zwangsumgesiedelt, wo sie in der Folgezeit der insgesamt restriktiven preußischen Judengesetzgebung unterlagen, bis ihnen das napoleonische Königreich Westphalen 1808 die Emanzipation brachte. Anschließend setzt sich Stefan Gorißen am Beispiel der Kommunen in Kleve und Mark mit der älteren Forschungsmeinung auseinander, es sei dem Staat durch Eingliederung der städtischen Verwaltung in die landesherrliche Administration („rathäusliche

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Reglements“) eine effektive Zurückdrängung kommunaler Miss- und Vetternwirtschaft gelungen. Tatsächlich hätten lediglich die Nutznießer der städtischen Schuldenlast gewechselt, da die Zinszahlungen fortan an staatliche Einrichtungen gingen und es darüber hinaus zu einem breit angelegten Ämterkauf zugunsten der Rekrutenkasse kam. In vergleichender Perspektive schildert Christof Spannhoff sodann die Einführung der Akzise in der durch Preußen erst 1707 erworbenen Grafschaft Tecklenburg, wo es zur Stadterhebung von Lengerich (1727) und Westerkappeln (1738) kam. Die zweite Sektion des Bandes verfolgt „lokale Perspektiven“ und enthält Ortsbeiträge zu Bielefeld ( Jochen Rath), Halle (Katja Kosubek), Versmold (Rolf Westheider), Borgholzhausen und Enger (Sebastian Schröder), Bünde (Norbert Sahrhage) und Vlotho (Sebastian Schröder/Inge Wienecke). Die einzelnen Aufsätze setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, was in der Zusammenschau das Bewusstsein für die zahlreichen mit der Reform verbundenen Aspekte schärft. Mit Blick auf Bielefeld, das bereits seit dem Mittelalter über Stadtrecht verfügte, geht es um die mit dem Übergang von kommunaler Selbstverwaltung (Rat) zu landesherrlicher Auftragsverwaltung (Magistrat) hervorgerufenen Spannungen zwischen Staat und Bürgerschaft sowie um die Entwicklung des städtischen Haushalts im Laufe des 18. Jahrhunderts. Des Weiteren werden die Aufhebung der Gogerichte (Halle), die Entwicklung des Leinengewerbes (Versmold), die Verhandlungen zwischen lokaler Kaufmannschaft und der die Reform vorbereitenden Kommission (Borgholzhausen), Jurisdiktionskonflikte zwischen den neuen Städten und den das Land administrierenden Vogteien (Enger) sowie die Weserschifffahrt (Vlotho) thematisiert. In bester landesgeschichtlicher Manier basieren die einzelnen Beiträge auf einer intensiven Auseinandersetzung mit den archivalischen Quellen. Entstanden ist auf diese Weise ein Band, der über den historischen Raum der Grafschaft Ravensberg hinaus gehaltvolle Anregungen für die Erforschung der Integration der westfälischen Territorien Preußens in den Gesamtstaat bietet. Zwar war es grundsätzlich bereits bekannt, dass die Übertragung von in den mittleren Provinzen entwickelten steuer- und gewerbepolitischen Modellen auf den westfälischen Streubesitz zu zahlreichen Friktionen und Reibungsverlusten führte. Indem der vorliegende Band die Kommunikationsprozesse zwischen lokalen Eliten und landesherrlicher Verwaltung in den Blick nimmt, vermag er dem Thema jedoch neue Facetten abzugewinnen. Ertragreich erscheint etwa die Anregung Schröders, die neuen Städte, die mehrheitlich noch im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht einmal 1.000 Einwohner besaßen, als einen Herrschaftsraum besonderen Typs zu begreifen und nach dem Handlungsspielraum der ortsansässigen Bevölkerung gegenüber den staatlichen Institutionen zu fragen. Immerhin waren diese nach 1719 in Gestalt der Akziseverwaltung und der als Bindeglied zwischen den Magistraten und der Mindener Kriegs- und Domänenkammer fungierenden Steuerräten verstärkt vor Ort präsent. Fazit: Ein gelungener Band, der das Interesse der westfälischen Landesgeschichte und der Preußenforschung beanspruchen darf. Dr. Tobias Schenk Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Minoritenplatz 1, A-1010 Wien, Österreich, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 195–197 Johannes Bracht, Ulrich Pfister Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 247), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2020, 364 S., 57 Abb., 38 Tab., ISBN 978-3-515-12444-7, 63,00 EUR. Dass aus der langfristigen Entwicklung der Landpacht wirtschafts-, sozial- und politikgeschichtliche Ergebnisse gewonnen werden können, ist nur die erste überzeugend vorgelegte These der beiden Autoren der vorliegenden Studie. Sie beschäftigt sich mit der langfristigen Preisentwicklung der Miete für agrarisch genutzten Boden und deren marktwirtschaftlichen Kontext in der Frühen Neuzeit bis um 1900. Die Konstante für die Untersuchung in der longue durée bieten fünf Adelsgüter aus dem Rheinland und Westfalen (Anholt, Assen, Benkhausen, Nordkirchen, Wewer), deren Rechnungsbücher zur Landpacht die Autoren in serielle Quellen überführen und vergleichend auswerten. Sie beschreiben die Untersuchung des Pachtzinses als heuristische Chance, sich der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität im vorstatistischen Zeitalter angesichts der ansonsten methodisch und quellenkritisch unpraktischen Rekonstruktionsbemühungen zu nähern (16 f.), da die regelmäßige Zahlung der Landpacht Quellen erzeuge, die qualitativ neue Informationen für das Pächter-Eigentümer-Verhältnis verrieten als andere Quellen (12). So entwickeln die Autoren aus insgesamt 7.200 Pachtobjekten Pachtzinspreisreihen, die sie mit anderen erarbeiteten Indizes wie Lohnangaben oder Agrarproduktpreisen kombinieren. Das zweite Kapitel definiert in einem europäischen (Forschungs-)Überblick das Rheinland und Westfalen als Randgebiete einer Zone um den Ärmelkanal, die vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert bodenwirtschaftlich weitgehend von Pachtverhältnissen geprägt war. Aus diesem Raum werden im folgenden Kapitel die fünf untersuchten Adelsgüter, deren Bewirtschaftungsund Verwaltungszustände sowie Hintergründe zur Beteiligung des Adels oder anderer Funktions­ träger (Rentmeister) vorgestellt. Die Autoren machen deutlich, dass sich bei den Adelsgütern nicht von Agrarkapitalismus sprechen lässt, weil marktförmige Beziehungen in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen standen und keine profitmaximierenden Strategien formuliert wurden. Landbesitz war aber nicht nur Teil adeliger Identität, sondern das Einkommen aus der Pacht bildete über den Untersuchungszeitraum hinweg eine wichtige Konstante im Einkommensgefüge der Besitzgüter, so ein Ergebnis der Studie. In der Schilderung des rechtlichen Rahmens und der Entwicklung der Pachtbedingungen zu den einzelnen Gütern hätten noch ausführlichere Hinweise zu den jeweiligen Quellenkorpora und ihrer Überlieferungsdichte geholfen. Aus den Hinweisen zu den Überlieferungen ergibt sich eine erheblich ungleiche Quellenlage über den Zeitraum: So liegt für Assen erst ab 1653 auswertbares Material vor, für Nordkirchen schon um 1558, für Benkhausen, das Gut mit der kleinsten verpachteten Landfläche, aber erst ab den 1790ern (vgl. Tabelle 4.3, 101). Nicht zuletzt diese Quellenlage sorgt dafür, dass die Jahreszahl der meisten Beispiele mit einer 18 beginnt und sich entsprechend viele Ergebnisse auch auf das 19. Jahrhundert beziehen, in deren Kontrast und Konkordanz die Pachtentwicklung vor 1800 charakterisiert wird.

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Genauere Informationen zu den Korpora folgen in den Kapiteln 4 und 5, in denen die Quellen in statistisches Material überführt werden beziehungsweise dieser Prozess transparent gemacht wird. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Schriftquellen zu Pachtzinsen und den im 19. Jahrhundert zunehmend formalisierten Pachtverträgen in Kapitel 4, wohingegen das von erhellender Methodendiskussion geprägte Kapitel 5 einen Pachterlös-Index in Gramm Silber pro Hektar herausarbeitet, der auch die weitere Studie trägt und die „volkswirtschaftliche Bedeutung der Pacht“ (163) am besten erfasst. Anhand dieses Index können die Autoren ersehen, dass das Einkommen aus dem Pachterlös vom 17. zum 19. Jahrhundert nominal wuchs und somit die Rentabilität der Bodenvermietung langfristig stieg (174). Der nominale Pachtzins und dessen Entwicklung werden anschließend im sechsten Kapitel ins Verhältnis zur Entwicklung landwirtschaftlicher Produktpreise gesetzt und darum deflationiert. Auf Basis der Gerste-, Hafer-, Roggen- und Weizenpreise entwickeln die Autoren hierfür einen weiteren Index (nach 1828 auch für Blattfrüchte und Fleisch). Auf der Grundlage des erstellten Datenmaterials der fünf Adelsgüter bietet das siebte Kapitel datengestützte Beobachtungen zur Trägheit des Pachtzinses bis 1800 und die darauffolgende Flexibilisierung an Agrarproduktpreisen. Die Autoren stellen hierzu die Vermutung auf, „dass für die Zeitgenossen der Preis für die Miete von Land ein traditionell gesetzter, legitimer und damit nicht hinterfragter oder ausgehandelter Parameter der Austauschbeziehungen zwischen Bauern und Herren war“ (208). Entsprechend nahm die Volatilität des Preises zu, als sich die Qualität dieser Austauschbeziehungen um 1800 und danach veränderte. Zudem erfolgt durch die Studie eine klare Differenzierung der forschungsbestimmenden ricardinischen Bodenrententheorie an der Epochengrenze zum 19. Jahrhundert (Kap. 7.3). Die Autoren fordern hier überregionale Bedeutsamkeit ihrer Ergebnisse ein, weil „[a]nders als von den ökonomischen Klassikern postuliert und zum Teil auch von der modernen agrarhistorischen Forschung vertreten […], die ricardinische Rente in grundherrschaftlich geprägten Gebieten […] keineswegs in Gänze dem Faktor Land als Einkommen zu[fiel]“ (220). Das heißt ein Gutteil des Reinertrags aus dem Land ging an den Pächter als Unternehmerlohn und nicht an den adeligen Eigentümer. Das konnte nicht zuletzt Auswirkungen auf die Herrschaftsbeziehungen haben, die die Autoren aber – berechtigterweise – nur noch andeuten. Das zeigt sich im letzten Kapitel am Beispiel der Zusammenführung des Pachtzins-Index und des Produktpreis-Index für die Ermittlung eines realen Preises des Bodenguts. Besonders fassbar werden Rückgänge im Dreißigjährigen Krieg, durch den Bodennutzung und Pachtertrag um bis zu 50 Prozent zum Vorkriegsniveau sanken und eine Erholung erst um 1700 eintrat. Von Interesse können dabei die politikgeschichtlichen Konsequenzen sein, die die Autoren ziehen, denn sie sehen den kriegsbedingten Einschnitt in der Landpachtentwicklung als wichtigen Impuls für den Übergang zum „Steuerstaat“: „Die Entwicklung des Staats in der Frühen Neuzeit kam dem Finanzbedarf nach, indem jener Steuern und indirekte Abgaben auf gehandelte Güter einzutreiben begann. Besonders ausgeprägt war dieser Druck im und nach dem Dreißigjährigen Krieg“ (22, vgl. auch 279). Derartige Thesen und statistische Beweisführungen zum Staatsbildungsprozess im 17. Jahrhundert könnten gewinnbringend in politikgeschichtliche Überlegungen (wie bspw. von Johannes Burkhardt) eingeordnet werden.

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Dies kann nur andeuten, wie vielfältig sich mit dieser akribischen Studie arbeiten lässt, deren Datenmaterial über eine DOI im Quellenverzeichnis auch frei zur Verfügung steht. Jonas Bechtold M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Am Hofgarten 22, 53113 Bonn, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 197–199 Dominik Sauerländer Die Reformation in den Freien Ämtern. Beispiel einer gescheiterten Landreformation (Murensia 9), Zürich: Chronos-Verlag, 2021, 64 S., 19 Abb., ISBN 978-3-0340-1628-5, 12,00 EUR. Die im heutigen Schweizer Kanton Aargau liegenden sogenannten Freien Ämter spielten in der Geschichte der Alten Eidgenossenschaft aufgrund ihrer geopolitischen Lage eine bedeutende Rolle. Ursprünglich mit dem Hauskloster Muri zu den Kernlanden habsburgischer Herrschaft gehörend, wurden sie im Kontext des Reichskriegs gegen Herzog Friedrich IV. von Österreich 1415 von den eidgenössischen Orten erobert und von diesen bis 1798 als Kondominat (sogenannte Gemeine Herrschaft) regiert. Dank dieser Kollektivregierung wurde dieser auch landwirtschaftlich und verkehrsmäßig interessante Raum der Kontrolle durch einen einzelnen eidgenössischen Ort entzogen. Insbesondere neutralisierte diese Einrichtung vorab die Bestrebungen der drei großen Mittellandstädte Bern, Zürich und Luzern, die miteinander um die territorial- und machtpolitische Kontrolle des Gebiets rivalisierten. Für die kleineren Länderorte der Innerschweiz (Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug) war die Mitherrschaft über die Freien Ämter wiederum ein machtvolles Instrument, um die Machtposition ihrer städtischen Verbündeten im eidgenössischen Bündnissystem einzudämmen. Infolge dieser geopolitischen Ausgangslage wuchs den Freien Ämtern im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung zwangsläufig eine hervorragende strategische Bedeutung zu. Vorab die Stadt Zürich und der dortige Reformator Ulrich Zwingli mit ihrer aggressiven und expansiven Religionspolitik und die frühzeitig zu einem altgläubigen Block verbundenen sogenannten V Orte (Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug) suchten den Glaubensstand der Gemeinden und Menschen in den benachbarten Freien Ämtern in den 1520er und frühen 1530er Jahren in ihrem Sinne festzulegen. Welche Reichweite die religionspolitische Frage in den Freien Ämtern für das gesamte eidgenössische Bündnisgeflecht besaß, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die eidgenössischen Orte ihre religions- und machtpolitisch motivierten Kriege in der Frühen Neuzeit in den Freien Ämtern ausgetragen haben. In seiner schmalen, gehaltvollen, gut lesbaren, ansprechend illustrierten und auf dem aktuellen Forschungsstand aufbauenden Schrift beschreibt der dank eigener Forschungen mit dem Raum bestens vertraute Regionalhistoriker den Vorgang einer „gescheiterten Landreformation“. Er lässt es dabei nicht bei der turbulenten Ereignisgeschichte der 1520er Jahre bewenden, sondern nutzt

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die sehr gute regionalgeschichtliche Forschungstradition zu den Freien Ämtern ( Jean Jacques Siegrist; Anne-Marie Dubler) für eine weit ins Spätmittelalter ausholende Beschreibung der wirtschaftlichen, herrschaftlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse einer Landschaft, in der mehrere Klöster und weltliche Herren über bedeutende grund- und gerichtsherrschaftliche Rechte und Einkünfte verfügten und in der die eidgenössischen Orte als Herren vergleichsweise schwach präsent waren, zumal ihre Landvögte alle zwei Jahre aus einem anderen Ort stammten und in der Vogtei nicht einmal Wohnsitz nahmen. Im Anschluss an die Forschungen von Peter Jezler, Peter Blickle und Peter Kamber zeigt der Verfasser die großen Anstrengungen lokaler, kommunaler Kräfte um die Verbesserung der lokalen seelsorgerischen Betreuung in den Jahrzehnten vor der Reformation auf (Bau oder Erneuerung von Kirchen und Kapellen; Stiftung von Kaplaneien). Er beschreibt, wie  – unter dem Einfluss der Reformationsbewegung in der nahe gelegenen Stadt Zürich – Geistliche und Gemeindeangehörige auch in den Freien Ämtern Kritik an der römischen Kirche nicht nur als Verwalterin der Sakramente und Verkäuferin von Ablässen, sondern auch als bedeutende Empfängerin feudaler Einkünfte zu äußern begannen. Allerdings zwang wohl das Fehlen einschlägiger lokalgeschichtlicher Quellen den Verfasser in diesen wie auch in späteren Abschnitten dazu, wiederholt von den weit besser bekannten Entwicklungen und Konflikten auf der Zürcher Landschaft auf das Geschehen in den Freien Ämtern zu schließen. Die Herrschaftsform als eidgenössisches Kondominat warf sehr früh die folgenreiche Frage auf, wem in diesen sogenannten Gemeinen Herrschaften die Entscheidung über die Glaubensfrage zufallen sollte – den einzelnen Kirchgemeinden, wie dies Zwingli und die Stadt Zürich im Sinne des frühreformatorischen Gemeindeprinzips zu ihren Gunsten vertraten, oder der Mehrheit der im Kondominium regierenden eidgenössischen Orte, so wie dies die altgläubigen Orte im Sinne des bündischen Gewohnheitsrechts nicht zuletzt auch deshalb sahen, weil ihnen die Mehrheit auf der Tagsatzung sicher war und sie damit die Ausbreitung der neuen Lehre in den Gemeinen Herrschaften bekämpfen konnten. In der zweiten Hälfte der 1520er Jahre bekannte sich eine wachsende Mehrheit der Gemeinden in den Freien Ämtern zur neuen Lehre – eine Entscheidung, die der Verfasser in enger Anlehnung an Blickle mit deren Interesse an einer stärkeren kommunalen Kontrolle der Kirche und Seelsorge in Verbindung bringt. Allerdings hätte man auch dafür gerne mehr empirische Evidenz aus dem Mund beziehungsweise der Feder der Freiämtler selbst lesen wollen. In den späten 1520er Jahren drohte die Situation in den Freien Ämtern zu eskalieren, als mehrere Gemeinden die Altäre und Bilder aus ihren Kirchen entfernten und die altgläubigen Obrigkeiten mit Strafmaßnahmen reagierten. Die Entscheidung über die Glaubensfrage in den Freien Ämtern fiel – nach einem ersten Teilerfolg der reformatorischen Partei im Ersten Landfrieden von 1529, der das Gemeindeprinzip sanktionierte und die frühen Erfolge der evangelischen Bewegung in den Gemeinen Herrschaften legitimierte – 1531 auf dem Schlachtfeld. Während mit der Niederlage der reformierten Städte Zürich und Bern gegen die altgläubigen Orte und dem darauffolgenden Zweiten Landfrieden die reformatorische Bewegung in den Gemeinen Herrschaften der Eidgenossen allgemein stillgestellt wurde, zeigte die besondere Behandlung der Freien Ämter, wie sehr die Religionsfrage für das eidgenössische Bündnisgeflecht auch die Machtfrage stellte. Die Freien Ämter wurden bewusst aus dem Landfrieden ausgeklammert. Ihren Sieg gegen die reformierten Städte nutzten die Innerschweizer Orte vielmehr, um die Freien Ämter wieder dem alten

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Glauben zuzuführen und damit sicherzustellen, dass dieser strategisch bedeutsame Raum, der sich fortan wie ein katholischer Riegel zwischen die Herrschaftsgebiete der reformierten Städte Bern und Zürich schob, fortan unter ihrer Kontrolle blieb. So gesehen, handelt es sich bei der Reformation in den Freien Ämtern nur im eingeschränkten Sinne um eine „gescheiterte Landreformation“. Der Verlauf des Geschehens und die wichtigen Entscheidungen wurden nicht vor Ort, sondern maßgeblich von auswärtigen Akteuren bestimmt. Prof. Dr. André Holenstein Universität Bern, Historisches Institut, Länggass-Straße 49, 3012 Bern, Schweiz, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 199–201 Stephan Dornheim (Hg.) Kultbild – Götze – Kunstdenkmal. Entsorgung, Umdeutung und Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 41), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2021, 459 S., ISBN 978-3-96023-415-9, 49,00 EUR. Kunst ist ein Politikum – und das seit jeher. Der ‚Umgang‘ des selbsternannten Islamischen Staats mit fremdreligiösen Kunstdenkmälern in Syrien, der medienwirksame Sturz der Saddam-Statuen im Irak, die (offenkundig) bleibende Wertschätzung vieler Stalin-Denkmäler innerhalb der russischen Föderation (und weiterer ehemaliger Sowjet-Republiken!), der Umgang mit dem Phänomen der „Wittenberger Judensau“ oder auch der „blinden Synagoge“ an gotischen Kathedralen beweist die Tragweite der Dimensionen zwischen Historie und Ästhetik im religionspolitischen Diskurs. Der vorliegende Band – die (erweiterte) Dokumentation der Tagung „Götzenkammern. Entsorgung. Umdeutung und prämuseale Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (1518–1918)“ – präzisiert die Wahrnehmung des Themenkatalogs und grenzt ihn ein auf das Problemfeld ‚vorreformatorisch‘ (meist spätmittelalterlich) und ‚lutherisch‘. Es wäre zu billig, diese Präzisierung als unzulässige Einengung zu kritisieren. Arbeitsraum und Zielgruppe der beteiligten Institutionen begründen die Konzentration auf den mitteldeutschen und ostdeutschen Raum, womit ja tatsächlich das ‚Luthertum‘, und nicht etwa das „Reformiertentum“ oder das „Uniertentum“ des 19. Jahrhunderts (und des deutschen Westens beziehungsweise Südwesten) intendiert bleiben muss (zum Beispiel Luther-, eigentlich: Reformationsdenkmal in Worms 1868). Die bekannte Schwierigkeit, ein Sammelwerk von 15 Beiträgen angemessen zu würdigen, ist gerade für den vorliegenden Band nicht in den Griff zu kriegen. Es kann also nur ein Gesamteindruck geschildert werden: 1. Die Beiträge bieten (gewollt) „Bausteine aus dem Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde“  – so der Reihentitel. Sie bieten aber in jedem Falle präzise, oft liebevoll und äu-

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ßerst detailreiche Beschreibungen einzelner Werke beziehungsweise von Gesamtkunstwerken im obersächsischen Kulturraum. Hier sind Maßstäbe gesetzt beziehungsweise eben ‚Bausteine‘, auf denen kommunale Kulturpolitik aufbauen kann und meines Erachtens auch muss, indem einerseits die Mehrdimensionalität des Kunstwerks (religiös, ästhetisch, politisch) legitimiert und die evtl. gegebene Strittigkeit der drei Aspekte transparent gemacht wird. Dies ist ein offener Prozess: die Zerstörung von Kunstdenkmälern ist ein (allermeist) barbarischer Akt; sie kann aber auch selbst ein ‚künstlerischer‘ Akt sein. Der Kunstbegriff selbst umfasst beides, auch wenn dies musealen Interessen zuwiderläuft. Doch wäre dies ein Anachronismus. Wesentlich für die sogenannten Bilderstürme der Reformationszeit ist eben, dass es (mit wenigen Ausnahmen) im konsolidierten Luthertum keine gab, wohl aber obrigkeitlich gesteuerte Bilderentsorgung bis hin zum lukrativen Verkauf ins (katholische) Umland, wie bei manchen reformatorischen Freien Städten (bspw. Ulm) zu beobachten ist. 2. Dass fast jeder Beitrag teils explizit, teils implizit sich an Johann M. Fritz’ ‚Bewahrender Kraft des Luthertums‘1 (1997) abarbeitet, nimmt nicht wunder. Die Stärke der Beiträge liegt nun darin, dass die (auch von Fritz nicht intendierte) Einlinigkeit der Front: religiöse Entscheidung zum Schutz beziehungsweise zur Zerstörung von Kunstdenkmälern, die zuvor auch (oft unterschwellige) kontroverstheologische Debatten auslösen konnte, weiter aufgebrochen wird. 3. Eine Gesamtschau oder -deutung bietet auch die Einführung des Herausgebers Stephan Dornheim nicht. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich, zumal historiographische Bemerkungen und tendenziell hermeneutisch fruchtbare Erwägungen in den Beiträgen ganz unterschiedlich gewichtet sind. Den weitesten Blick bietet (und über den eigentlichen Titel seines Aufsatzes „Kirchenorganisation, Pfarrkirchenausstattung und Frömmigkeitspraktiken in Mitteldeutschland um 1500“[!] weit hinausführend) der Beitrag von Enno Bünz, indem Soziologie, Ästhetik (Kunst) und Frömmigkeit (Gemeinde) miteinander ins Spiel gebracht und bis ins frühe 19. Jahrhundert verfolgt werden. Dem Rezensenten tut sich somit eine Art „Diagramm“ auf, das der Band zumindest anbietet. Auf der Vertikalen käme die sozial-bürgerschaftliche des kommunalen oder dynastisch-territorialen Corpus Christianum, dem folgend die ästhetische, und dem im Luthertum bleibend gültige didaktische Funktion des Kunstwerks zu stehen. Auf der Horizontalen (Zeitschiene) die kultische, kultkritisch-voraufklärerische Funktion, die in die aufklärerisch-museale Funktion überführt wird, bevor in der romantischen Phase sowohl das Mittelalter als auch die kommunal-­ religiöse Funktion (auch die dynastische!) wieder entdeckt werden. Die Beobachtung erscheint mir auch deshalb plausibel, da die jeweiligen Koordinaten je nach Ort, Territorium und mentalem Fortschritt unterschiedliche Positionen einnehmen und sich von daher auch der ‚unterschiedliche‘ Umgang mit Kunst erklären lässt, wobei faktische Zerstörung oder Entsorgung von mittelalterlichen Kunstdenkmälern rein ästhetisch motiviert sein kann – in Parallelität etwa zur Barockisierung katholischer Kirchen aus Romanik und Gotik, wobei sich hier Ästhetisierung und kirchenpolitische Programmatik des Kirchenbaus selbst wieder berühren. Der Band ist höchst anregend. Er verdient weitere ‚Bausteine‘ methodischer Wahrnehmung, um auch weitere ortsgebundene Deutungsversuche zu generieren, will man zu einer Gesamttendenz fortschreiten. Das Buch ist sehr sorgfältig gestaltet; die teils umfangreiche Illustrierung von

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hoher Qualität. Hoch verdienstlich auch, dass ein Register den Zugang zu Orten und Personen erleichtert. Kritik kann allenfalls an der ansonsten gelungenen Übertragung aus dem Tschechischen geübt werden, wenn der ‚Utraquismus‘ – immerhin ein sprechender Latinismus (Abendmahl sub utraque) – bis in die Einführung hinein zum „Utrakvismus“ mutiert. Aber das mindert den Wert des gelungenen Bandes nicht. 1

Johann Michael Fritz: Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensburg 1997.

Prof. Dr. Johannes Ehmann Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 201–203 Georg Ziaja Lexikon der bedeutendsten Protestanten in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert Warszawa: Semper, 2016, 169 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-83-7507-199-3, 63,00 zł. Georg Ziaja Lexikon des polnischen Adels im Goldenen Zeitalter 1500–1600 Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2019, 297 S., ISBN 978-3-506-79234-1, 144,00 EUR. Die Vermählung des litauischen Großfürsten Jogaila (vor 1362–1434) mit der polnischen Königin Hedwig (1373/1374–1399) im Jahre 1386 bedeutete nicht nur den Anfang einer neuen Dynastie (die Jagiellonen). Die Personalunion der polnischen Krone mit dem Großfürstentum Litauen legte zugleich den Grundstein für ein weiträumiges Herrschaftskonglomerat, das (um die böhmischen und ungarischen Kronen ergänzt) den Jagiellonen den Aufstieg zu einem der mächtigsten Herrscherhäuser des spätmittelalterlich-renaissancezeitlichen Europa ermöglichen sollte. Tatsächlich wurde diesem mächtigen Herrscherhaus bisher in der westlichen Literatur nur (verglichen mit der reichen ostmitteleuropäischen Forschung zum Thema) recht wenig Beachtung geschenkt. So findet sich bisher keine explizite Geneagraphie auf Englisch oder Französisch zu den Jagiellonen; und auf Deutsch ist bisher (von vereinzelten Monographien und Sammelwerken zu speziellen, die Jagiellonen tangierenden Themenbereichen mal abgesehen) nur ein einziges die gesamte Geschichte der Dynastie zusammenfassendes Buch erschienen.1 Das mag allem voran im Hinblick auf den letzten Sprachraum sehr verwundern, zeichneten doch die Jagiellonen sozusagen für fast zwei Jahrhunderte für die Geschicke der unmittelbaren Nachbarschaft des Heiligen Römischen Reiches verantwortlich. Insbesondere die von den Jagiellonen bis zum Aussterben der Dynastie in männlicher Linie 1572 in Personalunion geführten Länder Polen und Litauen sollten neben

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der politischen Machtentfaltung und wirtschaftlichen Prosperität auch eine kulturelle Blüte erleben. Gerade in Bezug auf Polen hat sich spätestens mit den Anfängen der modernen polnischen Geschichtswissenschaft im 19.  Jahrhundert das Bonmot des Goldenen Zeitalters (Poln. Złoty wiek Polski) etabliert. Mit letzterem wird weitestgehend das 16. Jahrhundert und hier vor allem die Regierungsjahre der letzten zwei Jagiellonen auf polnischem Thron, Sigismund I. des Alten (1467–1548) und seines Sohnes Sigismund II. August (1520–1572), wie auch die ersten drei Jahrzehnte der 1569 gegründeten Rzeczpospolita, das heißt des fortan auch in Realunion geführten polnisch-litauischen Verbundstaates, bezeichnet.2 Darüber hinaus wird insbesondere in Polen die Jagiellonenzeit mit der Herausbildung des Parlamentarismus und der Emanzipation der Szlachta, des polnischen Adels, gegenüber der monarchischen Herrschaft verbunden. In der Einleitung werden alle möglichen Kriterien zur Auswahl der im Band vorgestellten Adeligen aufgelistet. Der Autor widmet sich zudem recht ausführlich den diversen Spezifika der polnischen Szlachta. Zu begrüßen ist auch, dass die Leser in alle eigentümlichen Termini eingeführt werden. Im Hauptteil skizziert Ziaja auf etwas mehr als 250 Seiten insgesamt 120 Biogramme der bedeutendsten Vertreter des polnischen Adels im 16. Jahrhundert. Jedem gründlich recherchierten Lebenslauf ist eine manchmal kürzere, manchmal längere Literaturliste beigefügt. Zudem bietet das Lexikon nützliche Tabellen, so beispielsweise zu altpolnischen Begriffen für die zahlreichen staatlichen Ämter und andere öffentliche Funktionen samt entsprechender deutscher Übersetzungen. Als sehr nützlich erscheinen dem Rezensenten auch die Auflistungen aller Gnesener Erzbischöfe, die zugleich das Amt des polnischen Primas bekleideten, aller Krakauer Kastellanen sowie aller Großkanzler und Großhetmane der polnischen Krone im 16. Jahrhundert. Ergänzt wird das lexikalische Werk durch die Abbildungen polnischer Wappen und ausgewählter Magnatenschlösser wie auch nicht zuletzt durch zwei einschlägige Karten zu den üppigen Besitzungen des polnischen Hochadels innerhalb der polnisch-litauischen Rzeczpospolita und der territorialen Ausdehnung letzterer im Jahre 1569. Mit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Blüte wie auch der Emanzipation der Szlachta gegenüber der monarchischen Zentralgewalt ging eine ausgeprägte konfessionelle Toleranz einher. Sowohl die räumliche Nähe zum Herzogtum Preußen, der ersten protestantischen Herrschaft in Europa, als auch die zahlreichen deutschsprachigen Minderheiten in den polnischen Städten, die dort oft eine führende Stellung einnehmen konnten, führten zu einer schnellen Verbreitung reformatorischer Lehren in Polen und Litauen. Allem voran der Calvinismus fand weite Verbreitung unter den polnisch-litauischen Eliten, so etwa bei dem Hochadelsgeschlecht der Radvila (poln. Radziwiłł). Mit dem bereits 2016 erschienenen „Lexikon der bedeutendsten Protestanten in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert“ liefert Georg Ziaja ein weiteres lexikalisches Werk, das mit insgesamt 80 Biogrammen einen guten Überblick zu den wichtigsten Vertretern der Reformation im polnisch-litauischen Verbundstaat bietet. Die unzureichende Redaktion des Lexikons ist zu monieren. Ungeachtet der eben aufgelisteten Monita eignen sich beide Lexika aber sehr wohl als Standardnachschlagewerke für ein breiteres deutschsprachiges Publikum. Insbesondere Historiker und Studenten, die sich mit der vormodernen Politik-, Eliten- und nicht zuletzt Religionsgeschichte des östlichen Mitteleuropas beschäftigen, werden aus beiden Bänden großen Nutzen

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ziehen können, bieten doch die soliden Biogramme einen schnellen Einstieg zu den wichtigsten politischen und religiösen Akteuren und Entscheidungsträgern des renaissancezeitlichen Verbundstaates Polen-Litauen. Die kurzgehaltenen Lebensläufe richten sich nach dem gewohnten und bewährten Stil biographischer Lexika. So werden stichpunktartig Lebens- und Herkunftsangaben, die mannigfaltigen und bewegten Karrieren der Protagonisten, wichtigste Errungenschaften und Hinterlassenschaften vorgestellt. Wer Ausführlicheres über die jeweiligen Personen erfahren möchte, wird auf weiterführende Literatur verwiesen. Insbesondere das umfangreichere der beiden Lexika („Lexikon des polnischen Adels“) kann als gelungen angesehen werden, begnügt es sich doch nicht nur mit der bloßen Auflistung biographischer Grunddaten, sondern besticht durch die informativen Tabellen und gelungenen Karten. 1 2

Almut Bues: Die Jagiellonen. Herrscher zwischen Ostsee und Adria (Urban-Taschenbücher 646), Stuttgart 2010. Zuweilen werden die Anfänge des polnischen Goldenen Zeitalters bereits mit der Thronbesteigung Kasimirs IV. 1447 angesetzt.

Dr. Paul Srodecki Flensburg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 203–205 Ivette Nuckel (Hg.) Faule Müßiggänger und „rechte“ Arme. Armen- und Bettelordnungen Bremens, Lübecks, Lüneburgs und Oldenburgs des 16. und 17. Jahrhunderts Kiel: Solivagus, 2021, 360 S., Abb., ISBN 978-3-943025-41-5, 48,00 EUR. Armen- und Bettelordnungen sind für die quellenarme Sozialgeschichte der frühneuzeitlichen Unterschichten von besonderer Bedeutung. Da von Armut betroffene Menschen nur in Ausnahmefällen schriftliche Zeugnisse hinterließen, richtet sich der Blick der Historikerin eher auf obrigkeitliche Dokumente. Diese dienten jedoch weniger der Dokumentation des Armenwesens, sondern vielmehr der Regulierung von Almosenzuteilungen oder der Kategorisierung von Armen in arbeitsfähig und bedürftig. Sie enthielten Bestimmungen zur Erteilung von Bettelerlaubnissen, der Finanzierung der Almosenkassen oder der Gewaltanwendung der städtischen Ordnungskräfte. Aus ihnen ergeben sich also Einblicke in die Rahmenbedingungen der städtischen Armen- und Bettelpolitik und den Gestaltungswillen der städtischen Obrigkeiten, nicht aber zwangsläufig in den Alltag der städtischen Armen. Ivette Nuckel hat nun für die Städte Bremen, Lübeck, Lüneburg und Oldenburg Armen- und Bettelordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts in einer Edition mit weiteren Quellenstücken zusammengestellt. Diese sind laut Editorin von besonderer Bedeutung, da die niederdeutschen

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Städte von der Forschung im Vergleich zu den Ordnungen Nürnbergs oder Straßburgs eher vernachlässigt werden. Die knappe Einführung erläutert konzise die frühneuzeitliche Perspektive auf Armut und Bettelei sowie die zeitgenössische Differenzierung der Bedürftigen nach Arbeitsfähigkeit und Fremdheit auf Grundlage der neuesten Literatur. Ergänzende Literaturempfehlungen wurden am Ende des Buches beigefügt. Wenngleich es für viele Fragestellungen nicht schwerwiegend erscheint, so ist doch zu monieren, dass keine Kontextinformationen zu den jeweiligen städtischen Besonderheiten und den Entstehungsbedingungen der Dokumente mitgegeben werden. Deutlich ärgerlicher ist, dass die Edition nicht, wie von Nuckel behauptet, die These belegt, in den niederdeutschen Städten wären Armen- und Bettelordnungen bereits vor Einführung der Reformation verschriftlicht worden. Die drei, von ihr auf um 1500 datierten Aktenstücke zur Ordnung der Armenkiste (Lüneburg, Nr. 1–3) enthalten Verweise auf die Braunschweiger Kirchenordnung  (1528!) sowie den Umgang mit den Pfründen gestifteter Kirchengüter nach der Gottesdienständerung (224 f.), also typische Folgeerscheinungen der städtischen Reformation. Die namentliche Erwähnung des niederdeutschen Reformators Johannes Bugenhagen (258–259) im Text belegt dann eindeutig den Entstehungskontext nach der städtischen Reformation. Der enorme Arbeitsaufwand der Editorin ist trotzdem sofort ersichtlich. Die ansonsten handwerklich einwandfrei erstellte Edition wurde nach den Transkriptionsrichtlinien der Marburger Archivschule angefertigt. Sie ist zugleich ein Ergebnis der noch laufenden Promotion Ivette Nuckels mit dem Titel ‚Arbeit und Beeinträchtigung. Eine Untersuchung am Beispiel städtischer Handwerker im norddeutschen Raum des 15. und 16. Jahrhunderts‘. Auch wenn die neuhochdeutsche Übersetzung von Aktenstücken auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, so weiß jeder, der zuvor bereits mit Mittelniederdeutsch konfrontiert war, diese Arbeitserleichterung zu schätzen. Man merkt der Übersetzungsarbeit Svenja Stoß’ die notwendige Sprach- und Quellenkenntnis an, auch wenn alternative Übersetzungsvorschläge wünschenswert gewesen wären oder die Übersetzung lateinischer Begriffe ins Hochdeutsche, wie etwa extraordinarie zu zusätzlich (60 f.), holprig daherkommen. Die Auswahl der Quellen wird nicht begründet. Die Nummerierung der Aktenstücke fehlt zudem im Inhaltsverzeichnis. Abgedruckt wurden in chronologischer Reihenfolge 47 Aktenstücke  (10 zu Bremen, 20 zu Lübeck, 15 zu Lüneburg und 2 zu Oldenburg), die in der Mehrzahl Ratsverordnungen, Mandate oder Korrespondenzen darstellen, die einen umfangreichen Zugriff auf das städtische Armenwesen ermöglichen, teils aber auch nur fragmentarische Einblicke gewähren. Überwiegend sind Ratsanordnungen enthalten, deren Verhältnis zu den im Titel versprochenen Bettel- und Armenordnungen leider nicht ersichtlich ist. In welchem Verhältnis beispielsweise eine Bremer „Proklamationen zur Aufnahme und Duldung von auswärtigen Leuten“ von 1583 (Bremen, Nr. 7) zu den Entwürfen einer Armenordnung von 1579 (Bremen, Nr. 4–6), der 1587 veröffentlichen Ordnung (Bremen, Nr. 8) und den nachfolgenden Verordnungen (Bremen, Nr. 10) stehen, bleibt unklar. Für Interessierte ohne entsprechendes Hintergrundwissen ist es so schwer nachvollziehbar, welche Bestimmungen zu einer bestimmten Zeit Geltung beanspruchen konnten. Auch warum mehrere Ordnungsentwürfe, die laut Editorin nur „inhaltlich kleine Unterschiede aufweisen“ (57), einzeln abgedruckt wurden, ist nicht nachvollziehbar.

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Die Edition besticht dafür durch andere Qualitäten: Wenngleich es nicht sofort ersichtlich wird, so sind die meisten der abgedruckten Aktenstücke handschriftliche Dokumente und bis auf Ausnahmen wie die Bremische Armenordnung Johannes Bugenhagens anderweitig nicht zugänglich. Neben den obrigkeitlichen Erlässen sind zudem weitere Quellen zur Sozialgeschichte enthalten, wie ein Testament (Bremen, Nr. 1), eine „Bittschrift gegen die Bettelei“ an den Lübecker Stadtrat (Lübeck, Nr. 5), diverse Vorschläge zum Umgang mit Bettelnden (unter anderem Lübeck, Nr. 17–19, Lüneburg, Nr. 8) oder Anweisungen an die Armenvögte (Lübeck, Nr. 7). Ein Schreiben eines Bremer Bürgers (Lübeck, Nr. 11) zeigt, wie die Suche nach den ersten Ordnungen in die Irre führen kann. Dieser berichtete auf Anfrage des Lübecker Stadtrates ausführlich über die Verteilung der Almosen und den Umgang mit Bettelnden, wusste aber gleich einleitend zu berichten, „es gibt hier keine besondere Ordnung für die Armen, die schriftlich verwaltet wird“ (171). Nicht selten scheinen die gesuchten Ordnungen also eine bisher nicht verschriftlichte Praxis nachträglich zu dokumentieren und zu fixieren. Zudem entstanden sie in Absprache mit anderen Stadträten, wie Nuckel an mehreren Schreiben dokumentieren kann (Lübeck, Nr. 17–20). Auch weitere Dokumente geben Einblick in die Praxis, sodass der Titel des Werkes etwas in die Irre führt: Anstatt ausschließlich Armen- und Bettelordnungen zu verzeichnen, vereint die Edition vielfältige städtische Quellen zur Armengeschichte mit Fokus auf der obrigkeitlichen Normenproduktion. Es bleibt festzuhalten, dass die kleineren Mängel und die mangelnde Kontextualisierung einer sinnvollen Nutzung der Edition nicht entgegenstehen und Frau Nuckel einen wichtigen Beitrag zur Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit geleistet hat. Die arbeitsaufwendige Edition sozialgeschichtlicher Quellen, die Einblicke in die Lebensbedingungen der Unterschichten der vorindustriellen Zeit ermöglichen, kann hoffentlich auch außerhalb der akademischen Welt Anklang finden. Stefan Beckert M. A. Technische Universität Dresden, Sonderforschungsbereich 1285 „Invektivität“, Chemnitzer Str. 48b, 01187 Dresden, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 205–207 Michael Rohrschneider (Hg.) Frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive (Rheinisches Archiv 160), Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2020, 327 S., 6 Abb., ISBN 978-3-412-51584-3, 50,00 EUR. Die Geschichte des Friedens wurde lange Zeit vor allem aus der übergeordneten Perspektive protostaatlicher Herrschaft und Diplomatie geschrieben. Friedensprozesse fanden jedoch – ebenso wie der Krieg – auch in den Regionen statt. Frieden wurde an konkreten Orten, oft jenseits der

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Haupt- und Residenzstädte, verhandelt. Die historische Bedeutung und überregionale Bekanntheit von Münster, Osnabrück oder Nimwegen sind ganz wesentlich mit bestimmten Friedensschlüssen verknüpft. Diese sind Teil der Identität und Erinnerungskultur der jeweiligen Städte. Mitunter verknüpft dies Orte, die wenig gemeinsam haben: Utrecht, Rastatt und Baden im Aargau sind dafür ein komplexes Beispiel, denn die verschiedenen Parteien des Spanischen Erbfolgekrieges schlossen 1713/14 Frieden in separaten Verhandlungen weit voneinander entfernt. Das dreihundertjährige Jubiläum machte die Verknüpfung in einem „multinationale[n] Ausstellungsprojekt“ erneut sichtbar: Renger E. de Bruin beschreibt anschaulich die Wechselwirkungen zwischen dem allgemeinen historischen Interesse, den regionalen Voraussetzungen und den oft ganz praktischen Problemen des Gedenkens vor Ort. Da Friedensverhandlung nicht nur gelingen, sondern auch scheitern, gibt es zugleich die verhinderten Friedensstädte: In Köln stellte 1579 der von Thomas P. Becker und Peter Arnold Heuser mit unterschiedlichem Fokus untersuchte Pazifikationskongress, der keine Pazifikation brachte, die Weichen in Richtung einer Unabhängigkeit der Niederlande. Michael Rohrschneider legt dar, wie in dem offenbar als besonders geeignete Kongressstadt geltenden Köln im 17. Jahrhundert immer wieder Verhandlungen begonnen oder geplant, aber nicht zu Ende geführt wurden. Die Stadt war damit ein Ort des Friedenshandelns, ohne ein Erinnerungsort eines Friedens zu werden. Der Blick auf den konkreten Ort der Friedensstiftung bietet vielfältige Einsichten, interagierten hier doch zwei Ebenen, die sonst selten längere Zeit aufeinandertrafen. So analysiert Guido Braun, wie sich „Alltagskontakte und mikropolitische Interaktion“ päpstlicher Gesandter bei verschiedenen Friedenskongressen gestalteten und die Gesandten dabei oft pragmatischer waren als auf der politischen Ebene. Die landesgeschichtliche Perspektive frühneuzeitlicher Friedensstiftung hat aber noch weitaus größere, strukturelle Dimensionen: Friedensschlüsse wurden in den Regionen umgesetzt. Da die Instrumente sich oft interpretationsfähiger Klauseln bedienten, war die Friedenspraxis entscheidend. Stephan Laux arbeitet für den Augsburger Religionsfrieden von 1555 die Bedeutung der regionalen beziehungsweise landesgeschichtlichen Perspektive heraus, die bislang hinter der reichsgeschichtlichen oder auch anderen, zum Teil anachronistischen, Perspektiven zurücksteht. Der Friede war darüber hinaus jenseits der großen Verträge eine regionale Praxis: Werner Freitag zeigt unterschiedliche Praktiken in westfälischen Städten während der Reformation, die deutlich machen, dass es – ganz im Sinne der „spätmittelalterlichen Konsensfindung und des Stadtfriedens“ (74) – immer darum ging, die Gemeinde als Gemeinschaft zu erhalten, was konfessionelle Konflikte überdecken konnte. In den großen Friedensverhandlungen spielten dann wiederum regionale Interessen auch jenseits der eigentlichen Konflikte eine Rolle. Das macht Maria-Elisabeth Brunert am Beispiel Pfalzgraf Wolfgang Wilhelms deutlich, der während des Westfälischen Friedenskongresses eine aktive Diplomatie und Kongresspolitik betrieb, nicht um die Friedensbestimmungen oder die Reichspolitik signifikant mitzugestalten, sondern um seine Territorien aus dem Krieg herauszuhalten, jedoch auch, um seine dynastischen Interessen zu sichern. Die meisten Beiträge des Sammelbandes kommen aus dem historischen Kontext des Alten Reiches und verweisen somit vor allem auf eines: Angesichts der föderalen Struktur des Reiches ist Reichsgeschichte immer auch Landesgeschichte. Das gilt für den Frieden in besonderer Weise,

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denn das Reich entwickelte mit dem Landfrieden ein spezifisch regionales Konzept von Friedenswahrung. Siegrid Westphal erläutert im ersten Kapitel zu „Tendenzen und Perspektiven der Forschung“ diesen Hintergrund einer frühneuzeitlichen Friedensforschung aus landesgeschichtlicher Perspektive. Das Gegenstück dazu bildet Indravati Félicités sehr instruktiver Blick auf die Situation in Frankreich, wo zum einen erst verschiedene Paradigmenwechsel – nicht zuletzt die Kritik am Begriff des Absolutismus – eine Fokussierung auf die Regionen als Akteure erlaubten, zum anderen aber historische Friedensforschung und Diplomatiegeschichte kritisch betrachtet werden. In Deutschland sind die Voraussetzungen insgesamt völlig andere. An der Universität Bonn ist die Zusammenarbeit von historischer Friedensforschung und Landesgeschichte mittlerweile durch die im Zuge von Sparmaßnahmen erfolgte Fusionierung der Bereiche Frühe Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte institutionalisiert. Dieser Sammelband, den Michael Rohrschneider als nunmehriger Vertreter der beiden Bereiche herausgegeben hat, ist ein Produkt der Fusion. Die dreizehn Beiträge sind nach dem ersten Kapitel chronologisch gegliedert und reichen von „Reformation und konfessionellem Zeitalter“ über „Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zeitalter Ludwigs XIV.“ hin zum „Zeitalter Napoleons“. Konzeptionell ist das nicht völlig überzeugend: Während verschiedene Themenbereiche sich wiederholen oder überschneiden, bleibt die Epoche zwischen Spanischem Erbfolgekrieg und Französischer Revolution ausgeklammert. Auch dominiert der Fokus auf die rheinische Landesgeschichte beziehungsweise den Westen des Reiches. Die Beiträge zeigen das Potential des Blicks auf frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive. Angesichts der zumeist internationalen Dimension des Friedens sollte eine landesgeschichtliche Perspektive diese aber stärker integrieren. Insbesondere die Beiträge von Indravati Félicité und Renger E. de Bruin geben einen Eindruck, wie lohnend dies sein kann. Prof. Dr. Anuschka Tischer Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland Süd, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 207–209 Martina Schattkowsky (Hg.) Adel – Macht – Reformation. Konzepte, Praxis und Vergleich (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 60), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2020, 506 S., ISBN 978-3-96023-258-2, 72,00 EUR. Anhand von insgesamt 15 Beiträgen, Ergebnisse der Tagung „Verhältnis von Adel und Kirche im Umfeld der Reformation“ am 7./8. September 2017 auf der Burg Gnandstein des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Schlössern, Bur-

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gen und Gärten Sachsen GmbH, dem Evangelischen Zentrum Ländlicher Raum und der Heimvolkshochschule Kohren-Sahlis, widmet sich der vorliegende Sammelband dem Forschungsfeld des Niederadels in der (nach-)reformatorischen Zeit, eine Thematik, die von Christoph Volkmar im gleichen Jahr als ein „historiografisches Niemandsland“1 bezeichnet wurde. Als roter Verbindungsfaden der Aufsätze miteinander dient nicht nur die personelle Einengung auf den Niederadel, sondern auch die kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten Drei-Phasen-Modell zu Adel und Reformation von Volker Press.2 Mit ihrer Einführung stellt Herausgeberin Martina Schattkowsky daher zunächst die Weichen für die nachfolgenden Texte. Als Ausgangpunkt dient unter anderem die 1520 veröffentlichte Schrift Martin Luthers ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘, worin er den Adel zum entscheidenden Handlungsträger der Reformation stilisiert und dementsprechend die Frage aufwirft, ob die Kirchenreform ohne diese Akteursgruppe überhaupt möglich gewesen wäre. Die Autorin greift an dieser Stelle dem Ergebnis von Tagung und Sammelband vor, indem sie die Rolle der Niederadligen als „maßgebend für die Verbreitung der neuen Lehre“ (25) bezeichnet. Durch ihre Position in den Herrschaften seien sie vor Ort präsenter als die jeweiligen Landesherren gewesen. Gerade auch an dieser Schnittstelle von „zentraler Fürstenmacht und lokaler Adelsherrschaft“ (26) sieht die Autorin das zukünftige Potenzial der Reformationsforschung. Zu Beginn des thematischen Abschnitts „Perspektiven und Stand der Forschung“ vertieft und ergänzt Alexander Jendorff diese einleitenden Gedanken und führt Gründe ins Feld, weshalb der Niederadel in der älteren Forschung gegenüber Bauern, Städten und Fürsten lediglich selten Berücksichtigung fand, obwohl Religiosität und Kirche als beliebte Handlungsfelder dieser Personengruppe galten. Besonders auf regionaler Ebene erzwang die neue Lehre in diesem Kontext ein Umdenken des Adels, zumal es galt sich gegen die Zunahme fürstlicher Ansprüche im Zuge der Reformation zu erwehren. „Für Martin Luther war der Adel ein Hoffnungsträger“ (83) beginnt Christoph Volkmar im Sinne Siegfried Sacks und Cyriakus Spangenbergs seinen anschließenden Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs um Landadel und Reformation. Bereits im schriftlichen Diskurs während der Lutherzeit wurde demnach die Rolle des Niederadels innerhalb von Kirche und Reformation, anders als von der älteren Geschichtsforschung angenommen, durchaus ambivalent diskutiert. Dieter Wunder betrachtet personenzentrierter die Anhänger Luthers in der reformatorischen Frühphase und kann überzeugend darlegen, dass weitaus mehr Adlige im Sinne des Reformators agierten als bisher von der Historiografie angenommen. Mit Beginn der zweiten Themensektion „Brüche und Kontinuitäten“ verengt sich der Betrachtungsfokus auf Sachsen. Enno Bünz beleuchtet in seinem Beitrag anhand von noch weitgehend unbeachteten Quellen aus dem Vatikan die vorreformatorischen Bemühungen sächsischer Adliger um beispielsweise Pfründe, Dispense und Indulte an der Römischen Kurie. Möglichkeiten und Hindernisse einer reformierten, adligen Minderheit im albertinischen Sachsen während der Regierungszeit des altgläubigen Herzogs Georg betrachtet Armin Kohnle am Beispiel der Einsiedel Brüder auf Gnandstein, des herzoglichen Rates Anton von Schönberg und der Familie von Hopfgarten. In ihrer Analyse betrachtet Ulrike Ludwig darauffolgend das Forschungsdesiderat des (vor-)reformatorischen Stipendienwesens am Beispiel der Universität Wittenberg. Gerade

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niederadlige Studenten profitierten durch im Zuge der Reformation frei gewordene geldliche Mittel aus geistlichem Besitz, mit denen zum Beispiel die Ernestiner zum Vorteil ihrer Landesherrschaft das Bildungswesen unterstützen. Der dritte Abschnitt „Reformation vor Ort“ beginnt mit Uwe Schirmers Betrachtung des kur­ sächsischen Patronatswesens, besonders anhand der Ämter Altenburg und Grimma in den 1520er Jahren. In einer Auflistung von 65 Kirchspielen weist der Autor detailliert die jeweiligen Besitzrechte nach. Fortführend untersucht Dirk Martin Mütze das engagierte Handeln des sächsischen Adels bei Kauf und Verkauf geistlichen Guts in der Frühphase der Reformation. Am Beispiel von Anarg Heinrichs von Wildenfels, eines in vielen Bereichen aktiven Mannes, und dessen proreformatorischem Agieren verweist Michael Wetzel schließlich auf Auswirkungen individuellen, niederadligen Engagements für den regionalen Erfolg der Reformation. In der letzten Sektion „Reformatorische Netzwerke“ setzt Martin Sladeczek die Reihe mikrogeschichtlicher Untersuchungen fort, indem er innerfamiliäre Unterschiede in der Einstellung zur Reformation am Beispiel der Familien von Wangenheim, von Berlepsch, Goldacker, von Hausen, von Heilingen und von Hopfgarten und vor allem ihres jeweiligen bauhistorischen Engagements untersucht. Lars-Arne Dannenberg, Josef Hrdlička und Martin Arnold erweitern das Spektrum regionaler Beispiele in ihren Beiträgen um die Oberlausitz, Mähren und Böhmen. Im Sinne eines Ausblicks für zukünftige Forschungsarbeiten beschließt Andreas Flurschütz da Cruz den Sammelband mit einem Vergleich zwischen dem kursächsischen, landsässigen Adel und dem reichsfreien fränkischen Adel. Ergänzt werden die zahlreichen und überaus umfangreichen Beiträge durch ein Personen- und Ortsregister. Die Bedeutung des Niederadels für die Durchsetzung der Reformation in den sächsischen Gebieten wird in den Beiträgen überdeutlich. Gleichzeitig zeigt die Lektüre, dass die Forschung zu diesem Thema noch sehr viel Potenzial beinhaltet: Nicht nur die Patronatslisten Uwe Schirmers, sondern auch Dieter Wunders Anmerkung, wonach „die Reformation das Ergebnis des regional unterschiedlichen Zusammenwirkens von Fürsten, Städten und Adligen“ (141) sei, laden zu tiefgreifenderen Analysen dieses regionalen Gleichgewichts im Sinne einer Verflechtungsgeschichte ein. 1

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Christoph Volkmar: Adlige Patronatsherren als Gestalter der Reformation in der Altmark. Das Beispiel Beetzendorf. In: Enno Bünz, Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann (Hg.): Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 20), Berlin 2017, 135–151, hier 138. Volker Press: Adel, Reich und Reformation. In: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 5), Stuttgart 1979, 330–383.

Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 210–212 Beate-Christine Fiedler, Christine van den Heuvel (Hg.) Friedensordnung und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721 (Veröffentlichungen des Niedersächsischen Landesarchivs 3), Göttingen: Wallstein, 2019, 375 S., 34 teils farbige Abb. und Karten, ISBN 978-3-8353-3588-2, 29,90 EUR. Das Thema „Friedensordnung“ ist noch heute hoch aktuell, um eine respektierte Friedenslösung nach Kriegen und Auseinandersetzungen zu etablieren. Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis einer Tagung im Niedersächsischen Landesarchiv in Stade und enthält insgesamt 16 überarbeitete und erweiterte Beiträge. Im Zentrum der Tagung im Februar 2018 standen das Erzstift Bremen und das Hochstift Verden. Beide Gebiete waren 1645 von der aufkommenden europä­ ischen Großmacht Schweden erobert worden. Als weltliche Herzogtümer Bremen und Verden wurden beide Reichsterritorien im Osnabrücker Friedensvertrag von 1648 der schwedischen Monarchie gemeinsam zu ewigem Reichslehen übertragen, verblieben verfassungsrechtlich jedoch im Verband des Deutschen Reiches. Der Sammelband analysiert aus mehreren Blickwinkeln und Perspektiven, was die Herrschaft Schwedens bis Ende des Großen Nordischen Krieges 1721 für den Elbe-Weser-Raum und für die Territorialstaaten im Nordwesten bedeutete. Anlass der Tagung war das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt einer Tiefenerschließung des im Niedersächsischen Landesarchiv Abteilung Stade verwahrten Bestandes „Schwedisches Regierungsarchiv (Rep. 5a).“ Dieser umfangreiche Bestand bildet, wie die Herausgeberinnen im Vorwort erläutern, den Kern der Überlieferung der schwedischen Verwaltung im Elbe-Weser-Raum für die Zeit zwischen 1645/48 und 1712/15 und enthält neben Archivalien zur inneren Verwaltung außerdem umfangreiche Quellen zur auswärtigen Politik der beiden Herzogtümer als Provinzen des Königreichs Schweden. Die Projektergebnisse bieten somit der Forschung die Möglichkeit, die schwedische Herrschaft in Bremen-Verden in neuer, wesentlich erweiterter vergleichender Perspektive unter Anwendung neuer Fragestellungen zu analysieren. Das Band ist in drei Teile unterteilt. Im ersten Teil beschäftigen sich sechs Beiträge mit „Schweden und de[m] Nordwesten des Reichs“, der zweite Teil mit fünf Aufsätzen trägt den Titel „Akteure und ihre Handlungsfelder“, während der dritte und letzte Teil fünf Beiträge zu „Forschungsperspektiven und Überlieferung am Beispiel ausgewählter Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs“ versammelt. In einer erhellenden und konzisen Einführung wurden von den zwei Herausgeberinnen die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721 sowie die wechselnden Mächtekonstellationen in Nordwestdeutschland umrissen. Auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen ergaben sich nach dem Westfälischen Frieden neue Herrschaftsund Bündniskonstellationen, auch vor dem Hintergrund der in den Ostseeraum vordringenden neuen Großmacht Russland. Von den veränderten Konstellationen konnten Bremen und besonders Hamburg erheblich profitieren.

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Im ersten Teil stellt Kersten Krüger die Auswirkungen der schwedischen Kriege in den deutschen Provinzen nach 1648 dar. Die militärischen Aufrüstungen belasteten die neugewonnenen Territorien erheblich. Schweden und Frankreich waren beide expansive Machtstaaten und betrieben dadurch auch eine Schwächung des Reichs. Die Folgen waren viele Kriege und Konflikte in den unter schwedischer Herrschaft stehenden norddeutschen Territorien. Für die Zeit von 1653–1721 gab es laut Krüger insgesamt 37 Kriegsjahre. Christine van den Heuvel untersucht die Ausgangssituation der nordwestdeutschen Territorien nach 1648 und betont sowohl Anpassung, Konsolidierung und Neuausrichtung. Besonders die regierenden Fürsten des jüngeren Hauses Braunschweig-Lüneburg zeigten politische und flexible Anpassungsfähigkeit an die neue Ordnung. Die Situation in Bremen nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde von Konrad Elmshäuser analysiert. Die Stadt war seit dem 16. Jahrhundert weitgehend calvinistisch geprägt, und der Westfälische Frieden brachte die volle Anerkennung der reformierten Konfession. Trotz Konsolidierung gegenüber dem Reich und der schwedischen Nachbarschaft wurde Bremen mit neuen politischen, konfessionellen und militärischen Herausforderungen konfrontiert, die besonders im zweiten Bremisch-Schwedischen Krieg 1666 eskalierten. Der Friedensvertrag mit Schweden war für die Reichsstadt ein harter Kompromiss, der aber einen weiteren Krieg vermeiden konnte. Der Gegensatz zwischen schwedennahen Lutheranern und stadttreuen Reformierten spielte jetzt keine wesentliche Rolle mehr. Die Diplomatie Schleswig-Holstein-Gottorfs um 1700 wurde von Indravati Félicité untersucht. Sie untermauert die sehr aktive Außenpolitik der Herzöge von 1648 bis zum Anfang des Großen Nordischen Krieges und diskutiert, ob und wie die Westfälischen Verträge zur Etablierung einer „neuen politischen Ordnung“ im Norden führten, besonders weil kleinere Reichsstände keine „Vollsouveränität“ (beide Zitate 109) besaßen. Besonders die Gottorfer Herzöge standen vor der Herausforderung, unter dem Druck von Dänemark und Schweden die Souveränität und die Neutralität ihres Landes stets erneut austarieren zu müssen. Die Frage, wie Schweden seine Reichsstandschaft gestaltete, wurde von Dorothée Goetze aufgegriffen. Denn die schwedische Krone war nicht nur ein Gegner des Reichs, sondern nach 1648 auch Reichsstand. Schweden erhielt durch die gewonnenen Territorien zunächst drei Voten im Fürstenrat, zu denen ab 1681 für Pfalz-Zweibrücken noch ein viertes Votum dazukam. Damit besaß Schweden nach Brandenburg die höchste Anzahl von Stimmen und hatte vielfältige Möglichkeiten, nachfolgende Reichsstände zu beeinflussen. Der Reichstag wurde zentral für die schwedische Außenpolitik. Alle Akteure im Großen Nordischen Krieg, abgesehen von Russland, besaßen die Reichsstandschaft. Die Reichsverfassung beinhaltete laut der These von Goetze das Potential, Konflikte zu verhandeln und damit auch integrativ für den Ostseeraum zu wirken. Sie geht der Teilhabe der evangelischen Reichsstände solide nach und dokumentiert am Beispiel des Corpus Evangelicorum den Konfliktverlauf im Ostseeraum. Die Inbesitznahme der Herzogtümer Bremen und Verden durch Dänemark 1712 und durch Kurhannover 1715 wurde hinsichtlich der Verwaltung vergleichend von Christian Hoffmann untersucht. Mit der dänischen Übernahme wurde der schwedischen Verwaltung ein Ende gesetzt. Nach der Übernahme 1715 durch das jüngere Haus Braunschweig-Lüneburg wurde allerdings in

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Hannover schnell klar, dass man für eine effektive Verwaltung der Herzogtümer auf die ehemaligen schwedischen Bediensteten nicht verzichten konnte. Die Folge war, dass die Verwaltungsorganisation aus der Schwedenzeit 1715/16 wiederhergestellt wurde. Im zweiten Teil des Buches wurde eine Reihe von wichtigen Akteuren in den Herzogtümern analysiert. Die Erbteilungspolitik Anton Günthers von Oldenburg nach 1648 wurde von Gerd Steinwascher akribisch untersucht. Die Gouverneure in den Herzogtümern Bremen und Verden als königlich-schwedische Statthalter wurden im Zeitraum 1648–1712 von Beate-Christine Fiedler solide nachgegangen. Sie untersucht vor allem Hans Christoph von Königsmarck und Nils Gyllenstierna und betont unter anderem, wie die schwedische Krone besonderen Wert auf persönliche Eigenschaften wie Erfahrung, Durchsetzungsvermögen und Zuverlässigkeit legte. Am Beispiel Alexander Erskein stellt Kathrin Zickermann die militärischen, politischen und diplomatischen Netzwerke vor, die unter den in den Herzogtümern Bremen und Verden verbliebenen Schotten nach 1648 bestanden. Gleich mehrere übernahmen als Kommandanten militärische Stützpunkte oder in der Verwaltung bedeutsame Aufgaben. Die schwedische Außenpolitik 1679–1692 wurde anhand des Kriegstagebuchs von 1691 des Oberst Carl Leonhard von der Lühnen untersucht (Michael Busch). Graf Friedrich Christian zu Schaumburg-Lippe (Regent 1681–1728) wurde von Stefan Brüdermann nachgegangen. Der dritte Teil beinhaltet Kurzbeiträge und Untersuchungen auf der Grundlage von Beständen im Niedersächsischen Landesarchiv: Die Korrespondenz des Osnabrücker Bischofs Franz Wilhelm von Wartenberg (Thomas Brakmann), Forschungsperspektiven zur Geschichte der Herzogtümer Bremen und Verden 1660–1680 (Bernhard Homa), die Außenpolitik Georg Wilhelms von Lüneburg im Kontext der Reichsexekution gegen Schweden in Bremen-Verden 1675–1680 (Christian Schlöder), die Politik von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel 1704–1711 (Roxane Berwinkel) sowie eine Untersuchung zur diplomatischen Praxis der ostfriesischen Gesandtschaft am Kaiserhof in Wien nach 1716 (Michael Hermann). Die vorliegende Publikation dokumentiert zusammen mit dem DFG-geförderten Quellenprojekt über das schwedische Regierungsarchiv im Niedersächsischen Landesarchiv eine Vielfalt von neuen Aspekten und Fragestellungen betreffend die Herzogtümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit von 1648 bis zum Ende des Großen Nordischen Krieges. Auch die Nachbarterritorien im Elbe-Weser-Raum haben in mehreren Bereichen an Profil gewonnen und zum besseren Verständnis der Herausforderungen und Probleme innerhalb der Zeitepoche geführt. Alles in allem eine wichtige und empfehlenswerte Veröffentlichung. Der Band beinhaltet mehrere Karten, Abstracts, eine Präsentation von Autorinnen und Autoren sowie ein nützliches Personenregister. Prof. em. Dr. Dr. h. c. Jens E. Olesen Universität Greifswald, Historisches Institut, Domstr. 9a, 17489 Greifswald, Deutschland, [email protected]

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4. 19. und 20. Jahrhundert Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 213–215 Simon Goeke „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre (Studien zur Historischen Migrationsforschung 36), Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2020, 386 S., ISBN 978-3-506-70295-1, 59,00 EUR. Die linker Betriebsagitation entlehnte Parole „Wir sind alle Fremdarbeiter“ im Titel seiner 2016 eingereichten, nun in überarbeiteter Fassung erschienen Dissertation steht für Simon Goekes Ziel, „die Wirkung migrantischer Kämpfe auf die Migrationspolitik, die Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre herauszuarbeiten“ (14). Indem die Bewegungsforschung widerlegt werden soll, die den Protesten von Migranten die Klassifikation als soziale Bewegung abspricht, bohrt Goeke ein dickes Brett: Ohne das System „soziale Bewegung“ zu Analysezwecken zu definieren, zerfällt die Arbeit sachlogisch in vier Untersuchungsfelder. Die damit einhergehende Breite geht dann allerdings auf Kosten der Tiefenschärfe. Im Ergebnis führt der Autor die heute noch existierenden autonomen migrantischen Gewerkschaftsgruppen, die kommunalen Ausländervertretungen sowie die antirassistische Bewegung auf Proteste von und für Migranten der 1960er Jahre zurück, wodurch diese also eine verändernde Kraft auf die bundesdeutsche Gesellschaft ausgeübt hätten. Der Teil zu Betrieb und Gewerkschaft gibt zunächst einen guten Einblick in migrantische Arbeits- und Lebenswelten, beleuchtet die Beziehungen der Migranten zu und deren Tätigkeit in den Gewerkschaften ebenso wie die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten in den Betrieben. Ein besonderes Augenmerk gilt den ‚wilden‘, außerhalb etablierter Regeln ablaufenden Streiks, alles ausdrücklich mit Bezug auf Migrantinnen, wie die ausführliche Darstellung des Streiks bei Pierburg in Neuss gegen die Entlohnung nach Leichtlohngruppen zeigt. Um die Wirkung wilder migrantischer Streiks einordnen zu können wäre es jedoch hilfreich gewesen, diese in einen größeren Kontext zu stellen. Immerhin verführte die Vollbeschäftigung der 1960er Jahre auch deutsche Arbeiter zu Bummelei, Abstinenz, hoher Fluktuation – und wildem Streik. Die Diskussionen um die Humanisierung der Arbeitswelt waren ja gerade eine logische Folge der Hochkonjunktur und keineswegs Ergebnis (ausschließlich) migrantischer Kämpfe. Eine kritischere, wirtschafts- und sozialhistorische Kontextualisierung wäre auch angebracht gewesen, um Schlussfolgerungen des Autors nachvollziehen zu können. Wenn die Forschung nachweist, dass sich Italien seiner Kommunisten durch Emigration entledigen wollte, ist es mit Blick auf Ängste vor Aktivitäten der Kommunistischen Partei Italiens in den Aufnahmeländern italienischer Migranten nämlich kaum nachvollziehbar, dass von „Phantasmen des Kalten Kriegs“ (76) gesprochen wird.

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Das folgende, die Perspektive wechselnde Kapitel über die Gewerkschaften und ihr Verhältnis zu den ausländischen Beschäftigten steht trotz großen Umfangs etwas isoliert da und wäre für die Argumentation insgesamt verzichtbar gewesen. Es soll zeigen, dass die Gewerkschaften trotz internationalistischen Anspruchs zu Beginn der 1970er Jahre – wie übrigens die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung – zu der Auffassung gelangten, die Grenze der Aufnahmefähigkeit sei erreicht. Diese auf ‚Abschottung‘ zielende Politik wurde allerdings durch Initiativen für eine bessere Integration bereits in der Bundesrepublik beschäftigter Migranten unterfüttert. Abschließend versucht Goeke, außerparlamentarische linke Protestbewegung und Migrations­ bewegung „zusammenzudenken“ (247), was insofern Sinn ergibt, als ausländische Studierende mit Protesten gegen Kolonialismus und Repression in ihren Heimatländern die westdeutsche linke Protestbewegung beeinflussten. Über exilpolitisch tätige Kommilitonen sei es dann auch zu einer engeren Verbindung zwischen Arbeiter- und deutscher Studentenschaft gekommen. Vor allem die sich nach 1968 bildenden linken Basisgruppen fokussierten – wenig erfolgreich – die innerbetriebliche Agitation und begriffen ausländische Beschäftigte als „revolutionäres Subjekt“ (299). Als Beispiel für betriebsinterventionistische Arbeit werden Aktionen der Münchner Gruppe „Arbeitersache“ nachgezeichnet, dabei aber ein ums andere Mal festgestellt, deren Einfluss sei „im Nachhinein nur schwer zu bewerten“ (313). Dabei folgten einer von der „Arbeitersache“ eskalierten Streikaktion bei BMW im Frühjahr 1972 fristlose Entlassungen italienischer Arbeiter, worauf die Gruppe die Betriebsinterventionen einstellte. Man kann sich des von der italienischen Gewerkschaft vorgetragenen Eindrucks, die italienischen Arbeiter seien von der „Arbeitersache“ „instrumentalisiert“ (318) worden, nicht verwehren. Insgesamt scheint Goeke nicht in Betracht zu ziehen, dass die ausländischen Arbeiter für linke Aktivisten eher Objekt denn Subjekt waren, was bei einigen Ausländern (nicht nur) in den Betrieben zu Abwehr führte. Schließlich folgen noch Skizzen migrantischer Selbstorganisation in Arbeitervereinen, zu Bahnhöfen als migrantischer Raumaneignung, zu kommunalen Ausländerbeiräten sowie zu den Häuserkämpfen im Frankfurter Westend, die die Migranten „in gewisser Weise sogar erst auslösten“ (331), deren Teil sie aber nie wirklich wurden. Eine Begründung dafür, dass die gescheiterte Bewegung gegen Mietspekulation und Verdrängung „nachhaltig stadtplanerische Strategien“ veränderte (337), bleibt der Autor ebenso schuldig wie für seine These, die in Folge diskriminierender Kindergeldkürzungen von ausländischen und linken Gruppen gegründeten Kindergeldkomitees könnten als wichtiger „Kristallisationspunkt“ der modernen antirassistischen Bewegung in der Bundesrepublik begriffen werden (343). Die den Migranten durch Goeke zugeschriebene Bereitschaft, eine avantgardistische Rolle in den „Klassenkämpfen der Bundesrepublik“ (349) zu übernehmen, konnte die Rezensentin summa summarum nicht erkennen. Und obwohl Goeke eine Heroisierung vermeiden wollte, stilisiert dieser die Migranten zu jenen, die den Wandel der fordistischen Arbeitswelt einleiteten, betrachtet die „Steinkühlerpause“ ebenso als Erfolg migrantischer Kämpfe wie die Abschaffung der Leichtlohngruppen. Auch wenn migrantische Streiks und Proteste dem Autor zufolge unmittelbar nur wenige positive Ergebnisse gezeigt hätten, hätten sie also Anstoß zu längerfristigem Wandel gegeben. Das möchte man gerne glauben, scheint aber im Kontext allgemeinen gesell-

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schaftlichen Wandels überzeichnet, zumal die Migranten nicht selten ungebetene Unterstützung durch außerparlamentarische linke Gruppen erhielten. Prof. Dr. Heike Knortz Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Institut für Politikwissenschaft, Bismarckstr. 10, 76133 Karlsruhe, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 215–217 Hermann Kamp, Sabine Schmitz (Hg.) Erinnerungsorte in Belgien. Instrumente lokaler, regionaler und nationaler Sinnstiftung (Histoire 144), Bielefeld: transcript, 2020, 270 S., ISBN 978-3-8376-4515-6, 40,00 EUR. Der Sammelband spiegelt die Ergebnisse einer in Paderborn im Oktober 2017 abgehaltenen Konferenz wider, die thematisch die Funktionen von Erinnerungsorten in Belgien diskutierte. Nach einem kurzen Vorwort folgt eine ausführliche methodologische Einleitung der beiden Herausgeber, die auch das Forschungsparadigma erläutert. Daran schließen sich elf Beiträge an, von denen sieben in französischer und vier in deutscher Sprache verfasst sind. Trotz einiger flämischer Autoren findet sich leider kein Beitrag in niederländischer Sprache im Buch wieder. Vermutlich aus redaktionellen Gründen – trotzdem wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeber darauf im Vorwort oder in der Einleitung hingewiesen hätten. Dennoch werden inhaltlich auch Themen aus der Region Flandern bearbeitet und relativieren damit die sprachliche Unwucht. In Anlehnung an die regionale Identität wird den drei Landessprachen Aufmerksamkeit zuteil. Jeder Beitrag wird durch ein niederländisches Resümee und, je nach Ausgangssprache, durch eine deutsche oder französische Zusammenfassung ergänzt. Die redaktionelle Entscheidung, Abbildungen nicht in den Text zu integrieren, erschwert die Verknüpfung von Beitrag und Bildmaterial. In Anlehnung an die hervorragend ausgearbeitete Einführung vermisst man allerdings ein beitragsübergreifendes Fazit der Herausgeber. Das von Pierre Nora entwickelte methodische Konstrukt der Erinnerungsorte wird in der Einleitung des Bandes, unter Beachtung neuerer Erkenntnisse, sorgfältig erläutert und durch die ausgewählten Beiträge stimmig auf Belgien übertragen. Insbesondere die Loslösung vom Ort als geographische Einheit hin zu einem Topos, der sich mit identitätsstiftenden und soziokulturellen Aspekten beschäftigt, ist beitragsübergreifend gelungen. Ebenfalls erweist sich die Mehrebenenentschlüsselung der Erinnerungsorte als neu und insbesondere in Bezug auf Belgien als erkenntnisfördernd. Damit erfüllt der Band auch ein bisher existierendes Forschungsdesiderat zu Erinnerungsorten, die sich bis dato eher auf den nationalen, regionalen oder europäischen Raum beschränken. Dass hierbei in den verschiedenen Kapiteln besonders der lokalen und nationalen Ebene Beachtung geschenkt wird und die Ebenen der Gemeinschaften und Regionen Belgiens nur da und dort Aufmerksamkeit erfahren, erscheint unter Berücksichtigung der behandelten

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Personen angebracht. Etwas kurz kommt hingegen in den Analysen der Einfluss der katholischen, liberalen und sozialistischen Säulen Belgiens auf diese Erinnerungsorte. Als Leitidee der Beiträge fungiert die Orientierung an Personen für die Themenwahl. Die Beiträge differenzieren aber deutlich zwischen kollektivem Gedächtnis, Wirken und Personenkult. Die teils ausführliche Vorstellung der behandelten Persönlichkeiten ist dabei als besonders leserfreundlich hervorzuheben, sodass auch die Verortung wenig vertrauter Personen gut erfolgt. Als kleines Manko erweist sich hierbei die Tatsache, dass bis auf einen Beitrag zu Georges Simenon kaum Personen und Figuren aus der belgischen Populärkultur – etwa Comicfiguren, Fußballer oder Sänger – Berücksichtigung finden. So greift Peter Quadflieg in seinem Beitrag die vorherrschende Identitätsthese der „besonders königstreuen Ostbelgier“ auf (passim). Generationenübergreifend analysiert er das Verhältnis und die Interaktion zwischen der Königsfamilie und Ostbelgien. Dabei setzt er zu unterschiedlichen Zeitpunkten an, um die Veränderung der Rolle der Königsfamilie als Identitätsstifter darzustellen. Er projiziert das Konzept der Erinnerungsorte auf die Königsfamilie, den Wandel und die Rezeption der Funktion dieses lieu de mémoire. Im Gegensatz dazu bedient Géry Dumoulin eine andere Ebene. In dem Beitrag zum französischen Wort sax werden sowohl physisches Objekt, Ort, Musik als auch Erfinder eng miteinander verschmolzen. Ziel dabei ist, ein Konglomerat zu präsentieren, das sich sowohl räumlich als auch zeitlich losgelöst innerhalb und außerhalb Belgiens verfestigt hat. Hervorzuheben sind ebenfalls die beiden Beiträge von Eric Bousmar zu den Herzögen von Burgund sowie von Daniel Acke zu Charles-Joseph de Ligne. Beide nehmen gekonnt Erinnerungsorte auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene in den Blick und eröffnen hierdurch erkenntnisreiche Einsichten in die Thematik. Die zwei Kapitel werden dem Anspruch einer Mehrebeneninterpretation der analysierten Persönlichkeiten zweifelsohne gerecht und tragen ebenfalls den Wandlungsprozessen, die diese Erinnerungsorte durchlaufen haben, Rechnung. Hierdurch schaffen die beiden Autoren auch immer wieder Verbindungen zwischen den Analyseebenen. Anhand der in ihren Kapiteln dechiffrierten Erinnerungsdiskurse können die Autoren überzeugend darlegen, dass sich nationale Erinnerungsorte in Belgien durch facettenreiche Zuschreibungen auszeichnen und nicht in feststehenden nationalen Kategorien gedacht werden können. Ähnlich einzuordnen ist der Beitrag von Thérèse de Hemptine, die über die Personen Peter von Amiens (der Einsiedler), Gottfried von Bouillon und Balduin I. (der Konstantinopolitaner) die Zeit der Kreuzzüge mit dem Gebiet des heutigen Belgiens verknüpft. Dabei spielt die gesellschaftliche Rezeption dieser Personen und Ereignisse eine ebenso wichtige Rolle wie der Wandel in der Wahrnehmung. Literarische Werke, Statuen, Gebäude und Gemälde verdeutlichen dabei gleichermaßen ein maßgebliches Verständnis für die durch diese drei Personen abgebildeten Erinnerungsorte. In der Gesamtschau stellt der Sammelband „Erinnerungsorte in Belgien“ einen aus belgischer Perspektive gelungenen Beitrag zur Thematik dar und bietet eine gute Ergänzung zum bisherigen Forschungsstand zu Erinnerungsorten. Das auf Personen ausgerichtete Grundkonzept des Sammelbandes erweist sich als interessant und zielführend umgesetzt. Dieser Fokus auf Personen trägt dazu bei, dass sich die Lektüre der einzelnen Kapitel als besonders lesbar gestaltet. Die viel-

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fältigen Perspektiven auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene erweisen sich als komplex und ansprechend. Diese Einblicke verweisen auf das wichtige Entwicklungspotenzial, das Pierre Noras lieux de mémoire noch immer innewohnt. Dr. Tobias Dewes Zentrum für Ostbelgische Geschichte V. o. G., Kaperberg 2–4, 4700 Eupen, Belgien, [email protected] Dr. Vitus Sproten Belgisches Staatsarchiv, Dienststelle Eupen, Kaperberg 2–4, 4700 Eupen, Belgien, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 217–219 Hans Hesse … wir sehen uns in Bremerhaven wieder … Die Deportation der Sinti und Roma am 16./20. Mai 1940 aus Nordwestdeutschland. Gedenkbuch zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, Teil 1 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bremerhaven 27), Bremerhaven: Stadtarchiv Bremerhaven, 2021, 193 S., 43 Abb., ISBN 978-3-923851-35-5, 21,90 EUR. Mit seinem neuen Band knüpft der Historiker Hans Hesse an eine gemeinsam mit Jens Schreiber publizierte Untersuchung über die NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus Bremen, Bremerhaven und Nordwestdeutschland an, die 1999 unter dem Titel „Vom Schlachthof nach Auschwitz“ erschien. Der Autor hat sein Werk bewusst als Gedenkbuch konzipiert, das eine dezidiert personalisierte Perspektive einnimmt. Ziel ist es, den Ablauf der ersten Deportation von Sinti und Roma aus dem Nordwesten ins besetzte Polen so präzise wie möglich zu rekonstruieren – einschließlich der beteiligten Akteure auf Täterseite – und insbesondere die Verfolgungswege der betroffenen Familien zu erhellen. Dies ist angesichts der schwierigen Quellenlage, die Hesse zu Recht herausstellt, kein einfaches Unterfangen. Da kaum Täterdokumente überliefert sind, bilden vom Autor ausgewertete Entschädigungsakten eine wesentliche Grundlage der Studie. Das Buch gliedert sich in vier Teile, die lose miteinander verbunden sind. Am Beginn steht ein Abriss der NS-Verfolgung der Sinti und Roma, ihrer ideologischen Grundlagen sowie ihrer organisatorischen Umsetzung durch spezialisierte lokale beziehungsweise regionale Apparate der Kriminalpolizei. Den zweiten und umfangreichsten Teil bilden ausgewählte Kurzbiografien von Angehörigen derjenigen Familien, die von der – über Hamburg erfolgten1 – Deportation ins „General­gouvernement“ im Mai 1940 betroffen waren. Daran schließt sich eine Auflistung der Deportierten aus Bremerhaven (dem Hauptdeportationsort mit 94 identifizierten Opfern), Bremen, Bremervörde und dem Weser-Ems-Gebiet an. Der abschließende Teil behandelt unterschiedli-

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che Aspekte der Aufarbeitung: die gescheiterte Entnazifizierung, die Wiedergutmachungspraxis, schließlich eine Übersicht einschlägiger Erinnerungszeichen in Nordwestdeutschland. Die größte Stärke des Buches sind die eindrücklichen Fallbeispiele, die Hesse aus den Entschädigungsakten herausdestilliert. Sie bezeugen das jahrelange Martyrium der Menschen, die von einem Tag auf den anderen aus ihren vertrauten Lebenszusammenhängen gerissen und – ihres persönlichen Besitzes beraubt – in ein fremdes Land verschleppt wurden, wo sie unter unsäglichen Bedingungen für die deutschen Besatzer Zwangsarbeit verrichten mussten. Viele Biografien bleiben aufgrund der lückenhaften Überlieferung notwendigerweise fragmentarisch. Dies gilt gerade auch für die Lebenswege jener Personen, deren Spuren sich in den Lagern wie Belzec und Krychow oder Ghettos wie Siedlce verlieren. In den Familienbiografien sind ebenso Aspekte von Widerständigkeit und Selbstbehauptung konkret greifbar. So gelang nicht wenigen Deportierten die Flucht, die allerdings auch tragische Folgen haben konnte. Dies verdeutlicht ein Phänomen, das Hesse als „Doppeldeportation“ bezeichnet. Es handelt sich um ein Muster, das der Autor in den Akten bei mehreren Familien feststellen konnte, die trotz Verbot und unter Lebensgefahr aus dem „Generalgouvernement“ an ihren Heimatort zurückkehrten. Dort wurden die Männer jedoch schließlich in der Regel in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen, während die Frauen und Kinder erst im Frühjahr 1943  – im Rahmen einer weit umfassenderen Deportationswelle von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich – in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt wurden, wo die allermeisten umkamen.2 Das Buch macht einmal mehr deutlich, welch wichtige Ressource Entschädigungsakten für die NS-Forschung darstellen, da sich mit ihrer Hilfe nicht nur lokale Abläufe und individuelle Verfolgungswege erschließen lassen, sondern sie darüber hinaus die Perspektive der Opfer in besonderer Weise zur Geltung bringen. Dies illustriert ein Bericht von Josef Wagner, der im April 1971 im Rahmen seines Wiedergutmachungsverfahrens entstand. In seiner Aussage macht Wagner, der im Alter von elf Jahren deportiert worden war, Angaben zu den Stationen seiner Haft und zu den Mordaktionen, deren Zeuge er wurde; auch sein Vater und sein Stiefvater fielen Erschießungen zum Opfer (63–65). Nicht zuletzt enthalten die Familienbiografien eindringliche Belege für die oft jahrzehntelangen Nachwirkungen der erlittenen Verfolgung, die gleichbedeutend war mit einem tagtäglichen Überlebenskampf voller Entbehrungen und existenzieller Ängste. Insbesondere bei den Kindern, die nach Jahren der Odyssee im besetzten Polen in eine Heimat zurückkehrten, die ihnen fremd geworden war, offenbarten sich nach 1945 die Folgen tiefsitzender Traumata. Die bundesdeutschen Behörden zeigten indessen kein Verständnis für diese körperlichen wie seelischen Verletzungen. So wurde etwa eine Wiedergutmachung wegen Ausbildungsschadens meist abgelehnt. Exemplarisch zeigt dies der Fall eines sechsjährigen Mädchens, das nach seiner Rückkehr unterernährt war und daher bis 1946 in einer Klinik in Aurich stationär behandelt werden musste. Das Bremer Landesamt für Wiedergutmachung vertrat den Standpunkt, dass der Betroffenen ein Schulbesuch ab Mai 1945 möglich gewesen wäre, da keine Verfolgung mehr bestanden habe. Erst im Jahr 1995 wurde der Ausbildungsschaden im Rahmen eines Vergleichs bestätigt (74). Es sind Lebensgeschichten wie diese, die beim Lesen immer wieder innehalten lassen und die offenba-

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ren, wie tief das antiziganistische Ressentiment im institutionellen Gefüge der jungen Bundesrepublik verankert war. Auch die Vermögenswerte der Deportierten wurden, wenn überhaupt, nur unzureichend zurückerstattet (106–109). Die Entwicklungschancen der Überlebenden wurden so radikal beschnitten. Hingegen überstanden jene Kriminalbeamten, die die Verfolgung vor Ort verantwortet hatten, die Entnazifizierung nach Kriegsende nahezu unbeschadet, wie Hesse an Fallbeispielen demonstriert. Leider verzichtet der Autor auf eine Einbettung seiner Rechercheergebnisse in größere Forschungszusammenhänge – etwa Vergleiche mit den Befunden anderer Lokal- und Regionalstudien zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma –, sodass manches kursorisch bleibt. Insbesondere beim Abschnitt über die Wiedergutmachungspraxis im Land Bremen hätte man sich eine tiefergreifende Analyse gewünscht, gerade angesichts des umfangreichen Bestands der vom Autor ausgewerteten Entschädigungsakten. Dessen ungeachtet sind die Verdienste des Buches hervorzuheben, dessen Ergebnisse auch in das geplante Gedenkensemble „denk.mal Hannoverscher Bahnhof “ in der Hamburger Hafen­ City einfließen werden. Dank der akribischen Recherche von Hans Hesse können die Tafeln, die die von dort zwischen 1940 und 1945 deportierten Menschen würdigen, nun um bislang unbekannte Namen von Sinti und Roma ergänzt werden. 1 2

Der Fruchtschuppen C im Hamburger Hafen diente als provisorisches Sammellager. Den Opfern dieser Auschwitz-Deportationen ist der angekündigte zweite Teil des Gedenkbuchs zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland gewidmet.

Dr. Frank Reuter Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Forschungsstelle Antiziganismus, Hauptstr. 216, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 219–222 Georg D. Falk, Ulrich Stump, Rudolf H. Hartleib, Klaus Schlitz, Jens-Daniel Braun Willige Vollstrecker oder standhafte Richter. Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Zivilsachen 1933 bis 1945 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 90), Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2020, XI + 1123 S., 62 sw. Abb., ISBN 978-3-942225-49-6, 38,00 EUR. „Es ist möglich, eine ganze Rechtsordnung allein durch Interpretation umzuwerten.“ 1 Diese zen­ trale „Lehre aus der Rechtsperversion des NS“ hatte Bernd Rüthers bereits 1988 gezogen, und auch heute kommt man daran nicht vorbei. Denn lange galt, dass zwar das Strafrecht ein von NSIdeologie weitgehend durchtränktes Rechtsgebiet gewesen, das Zivilrecht indes – irgendwie – ein gleichsam ‚neutraler‘ Raum geblieben sei. Dieser Mythos gilt heute als erodiert. Gerade deshalb lohnt der Blick in die Rechtsprechung, kann diese doch anhand tatsächlich verhandelter Fälle

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zeigen, wie mit den konkurrierenden Imperativen von „Norm“ – dem geltenden Zivilrecht – und „Maßnahme“ – der Ideologie, dem „Führerbefehl“ oder dem „gesundem Volksempfinden“ – jeweils konkret umgegangen wurde. Der mit mehr als 1.000 Seiten äußerst voluminöse Band, der sich der „Aufarbeitung der Justizgeschichte der Nazizeit“ (V) widmet, knüpft hieran an und will „den nach 1945 häufig apologetisch gebrauchten Satz über die Standhaftigkeit der Zivilrichter“ (2) einer kritischen Untersuchung am Beispiel des Frankfurter Oberlandesgerichts (OLG) unterziehen. Damit verbindet sich das „Ziel“, „möglichst den gesamten noch zugänglichen Bestand an Entscheidungen der Zivilsenate […] zu erschließen“ (15). Ohne hier näher auf die Überlieferungssituation einzugehen: Für die Untersuchung konnten rund 60 Prozent der insgesamt 4.697 Entscheidungen im fraglichen Zeitraum nachgewiesen werden, circa 10 Prozent davon wurden schließlich einer näheren Auswertung unterzogen (33–37, 965–967). Der Anspruch auf Repräsentativität wird aufrechterhalten (37, 965 f.); umso größere Bedeutung wächst der Methode zu: Denn eingehend analysiert wurden lediglich jene Urteile, die auf Grundlage einer „Vorauswahl“ einen mehr oder weniger deutlichen NS-Bezug aufwiesen (40–42, 965–968). Die „große Masse“ der Entscheidungen sei nämlich von einer zivilrechtlichen „Normalität ohne Ideologie“ geprägt gewesen und deshalb „nicht weiter einbezogen“ worden (42). Unterm Strich bleiben so rund 270 Entscheidungen als Grundlage übrig (49), also (nur) knapp 6 Prozent aller im fraglichen Zeitraum ergangenen Urteile. Wird durch das problematische Selektionskriterium „NS-Bezug“ die Studie inhaltlich präformiert, wirft der analytische Maßstab, die „methodisch und dogmatisch korrekt[e] Rechtsanwendung“ des OLG „aus heutiger professioneller Sicht“ (974 f.) zu prüfen, Fragen auf. Das Changieren des Bandes zwischen einer positivistischen Position, die ungeachtet rechtsethischer Erwägungen NS-Recht formal als „Recht“ begreift, und einer „naturrechtlichen“ Position, die anknüpfend an Gustav Radbruch von der Virulenz „gesetzlichen Unrechts“ ausgeht, macht es schwer, klar zu sehen. Und die nur vermeintlich griffige, als Ergebnis präsentierte Dreiteilung in „Unrecht“, „normale“ und „mutige“ Urteile (977) nivelliert die empirische Vielfalt, die der Band selbst zeigt. So werden „Unrechtsentscheidungen“ (979) tatsächlich nur in 24 Fällen diagnostiziert, also in 0,5 Prozent der ergangenen Urteile. Aber ist es wirklich plausibel, dass das OLG Frankfurt zwischen 1933 und 1945 in 99,5 Prozent der Fälle zu einer zivilrechtlich „sauberen“, „unauffälligen“ ja teils sogar zu „mutigen“ Entscheidungen gelangt ist? Wie ist das zu verstehen? Insgesamt ist der Band von einer juristisch-dogmatischen Perspektive geprägt, wobei per se ideologisches Recht (zum Beispiel in Bezug auf das dem OLG angegliederte „Erbgesundheitsobergereicht“, 7–9) nicht einbezogen wurde. Innerhalb der einzelnen, nach Rechtsgebieten gegliederten Kapitel dominiert ein exemplarisches Vorgehen, das heißt der Schilderung eines plastischen Falls folgt eine juristische ‚Würdigung‘ aus heutiger Sicht: Dies führt zu Formulierungen wie etwa jenen, dass die Entscheidung des OLG „der Kritik“ bedürfe (189), „schlechterdings nicht haltbar“ oder grob „fehlerhaft“ sei (193 f.). Die Suche nach handwerklichen Fehlern überdeckt damit auch interessante Beobachtungen, wie etwa die zunehmende Politisierung des Gerichts seit 1938 (189), oder die im Vergleich zu den Kollegen am Amts- und Landgericht anfängliche Zurückhaltung der Richter des OLG, Mitglieder der NSDAP zu werden (970–974). Das Vorgehen sei exemplarisch anhand des Wettbewerbsrechts (853–876) konkretisiert, eignet sich

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dieses doch besonders dazu, die Amalgamierung von „Norm und Maßnahme“, das In- und Gegeneinander von positivem Recht und Interpretation über den Hebel unbestimmter Rechtsbegriffe zu illustrieren. Für das Frankfurter OLG liegen im Zeitraum 1933–1938 ganze vier „relevante Verfahren“ (853) vor; dabei war etwa in einem Fall zu klären, ob der Hinweis auf den (vermeintlich) „jüdischen Einfluss“ (868) eines Konkurrenzbetriebs als Verstoß gegen die guten Sitten zu gelten habe, mithin unlauter sei. Ja, entschied das OLG 1938, was von den Autoren des Bandes „auf den ersten Blick als ganz außerordentlich erstaunlich“ erachtet wird (872). Die Entscheidung entsprach damit aber, und darauf weisen die Autoren selbst hin, weitgehend der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RG), das erst danach eine Kehrtwende vollzog und den (denunziatorisch gemeinten) Hinweis auf die jüdische „Abstammung“ des Konkurrenten nun als lauter (und ideologisch geboten) ansah (875). Der Beispielfall irritiert – zumal dann, wenn die zitierte Entscheidung als „defensiver Widerstand“ gegen die Inkorporation von NS-Ideologie qualifiziert wird (875): Denn zum einen befand man sich doch (noch) im Einklang mit dem RG. Zum anderen lässt sich die Entscheidung auch als Ausdruck eines alles andere als ideologiefreien framings interpretieren, das den „in der Sache zutreffenden Hinweis“ auf den „jüdischen Einfluss“ als offenkundigen Nachteil im Geschäftsverkehr unterstellte (872). Wie dem auch sei: Das Beispiel macht die Schwierigkeit augenfällig, „Einflüsse“ von „NS-Ideologie“ auf das (grundsätzlich neutrale?) Zivilrecht mehr oder minder quantitativ nachweisen und auf dieser Grundlage Urteile in die Schubladen „ideologisch“, „neutral“ und „mutig“ stecken zu wollen. So instruktiv das ausgewertete Material also auch ist, und so sehr es weiterführende (rechts-)historische Forschungen inspiriert, so problematisch erscheint der den Band durchziehende Hang zur Klassifizierung, die dem Leser griffige Ergebnisse suggeriert, damit aber im Kern das eingangs verworfene Exkulpa­tionsnarrativ von der weitgehenden Immunität des Zivilrechts gegen die Anfechtungen des Nationalsozialismus repliziert. Ein alternativer, hier aber nicht weiter auszuführender Ansatz wäre (gewesen), Berufshabitus und Opportunismus als Kategorien stärker zu gewichten (950–953): So war es etwa ausgerechnet (und keineswegs untypisch) jener Gerichtspräsident, „der sich früher vollständig angepasst verhalten hatte“, der seit „Oktober 1944 dezidiert für die Geltung traditioneller rechtsstaatlicher Positionen“ plädierte – just also dann, als „die heraufziehende Katastrophe“ auch im OLG „wahrgenommen“ worden war (938 f.). Man gewinnt nach der Lektüre den Eindruck, dass auch die Autoren ein mulmiges Gefühl beschlich – das abschließende Fazit (1011–1014) wirkt ambivalent. Einerseits wird „auch“ das OLG Frankfurt als „ein konstitutiver Teil des NS-Staates“ qualifiziert: Man wandte „die vom Staat neu geschaffenen Unrechtsnormen […] mehr oder weniger freiwillig“ an, trug damit „letztlich zur Wirkungsmacht des Nationalsozialismus bei und stabilisierte […] so seine Herrschaft“. Andererseits hätten sich „nur in Einzelfällen“ „die Frankfurter Richter […] als das überkommene Recht beugende ‚willige Vollstrecker‘ der NS-Ideologie“ erwiesen (alles 1013 f.). Man sieht überdeutlich, dass die gewählten Kategorien vor allem Verwirrung stiften. War nun also eine vermeintlich „neutrale“ Entscheidung Anwendung von „NS-Unrecht“? Wenn ja, weshalb wird diese dann als „neutral“ qualifiziert, und wenn nein, was war sie dann? Wie verhält es sich mit der übergroßen Menge an Entscheidungen, die gar nicht in die Analyse miteinbezogen wurden? Wie unterscheidet sich die – offenbar sehr geringe – Zahl an ergangenen „Unrechtsurteilen“ von den Urteilen, die zwar

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„korrekt“ zustande gekommen, aber materiell doch „Unrecht“ waren? Ist alles „Recht“ in totalitären Systemen per se „Unrecht“? Und: Hilft die Unterscheidung zwischen „Unrecht“ und „Recht“ eigentlich analytisch weiter? Fragen, die zwingend gestellt werden müssen, wenn man die Arbeit eines OLG im Nationalsozialismus wirklich nach der Trias „Unrecht“, „unauffällig“, „mutig“ (977) bilanzieren will; ob das aber überhaupt das Ziel sein sollte, ist zu bezweifeln. 1

Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1989, 223.

PD Dr. Franz Hederer Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Rechtsgeschichte, Theodor-W.-Adorno-Platz 4, 60629 Frankfurt a. M., Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 222–224 Julia Noah Munier Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert (Geschichte in Wissenschaft und Forschung), Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2022, 458 S., 105 Abb., ISBN 978-3-17-037753-0, 59,00 EUR. Der Alltag und die Verfolgung schwuler Männer im 20. Jahrhundert sind infolge der langanhaltenden Stigmatisierung und Kriminalisierung der Homosexualität erst seit den 1990er Jahren in den Fokus der historischen Forschung gerückt. Standen anfangs vor allem Regionalstudien zu Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Köln im Mittelpunkt des Interesses, so wird inzwischen auch die Situation in Flächenländern und im ruralen Raum erforscht. Eines der größten Forschungsprojekte ist derzeit an der Universität Stuttgart angesiedelt. Gefördert von der Landesregierung, werden hier „Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland“ erforscht. Wesentliche Ergebnisse dieses Forschungsprojektes legt nun Julia Noah Munier in einer Studie über „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg“ vor. Munier widmet sich in drei großen Kapiteln der Situation in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Nachkriegszeit bis zur Strafrechtsreform 1969. Im Hinblick auf die Aspekte von Lebenswelten, Repression und Verfolgung setzt sie dabei unterschiedliche Schwerpunkte, die teilweise wohl auch durch die Quellenlage bedingt sind. So fokussiert das erste Kapitel über die 1920er Jahre auf den Aspekt homosexueller Lebenswelten. Anhand der Auswertung von einschlägigen Zeitungen kann Munier die allmähliche Etablierung homosexueller Vereine und Treffpunkte in den größeren Städten Badens und Württembergs nachweisen, verschiedene Kontaktanzeigen und Leserbriefe machen gleichzeitig deutlich, wie einsam und vereinzelt sich Homosexuelle vor

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allem in den ländlichen Regionen oft fühlten. Einen Schwerpunkt der Analyse setzt die Kunsthistorikerin Munier bei künstlerischen ‚Repräsentationen‘, aus denen sie Rückschlüsse auf die Sehnsüchte Homosexueller und auf die gesellschaftliche Atmosphäre zieht. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Weniger überzeugend erscheint etwa der Versuch, Rudolf Schlichters 1919 in Berlin gemalte Varieté-Darstellung „Tingel-Tangel“ als ein „Queeres Setting in der Provinz“ zu interpretieren, stehe der Begriff des Tingelns doch auch für die Praktik des „Über-das-Land-­ Ziehens“ (62 f.). Pointiert ist dagegen die Darstellung des Theater-Skandals um Arnolt Bronnens Stück „Vatermord“, dessen Aufführung die Polizeidirektion Ulm 1924 mit dem fadenscheinigen Argument verbot, Theaterbesucher könnten zu „ordnungsstörenden Mitteln drastischer Kritik greifen“ und sich durch „ihre Entrüstung“ zur „Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verleiten lassen“ (120). Ein Vorgang, der einerseits zeigt, wie Behörden das vermeintlich „gesunde Volksempfinden“ schon in den 1920er Jahren instrumentalisierten, um gegen Homosexuelle vorzugehen. Andererseits macht er deutlich, dass die Uhren in der süddeutschen Provinz anders tickten als in Berlin, Leipzig, München oder Wien, wo das Stück bereits aufgeführt worden war. Zeitgeschichtlich gut kontextualisiert wird der Skandal von Munier, indem sie ihn im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den homosexuellen Mörder Haarmann betrachtet, der homosexuellenfeindliche Vorurteile und Repressionsmaßnahmen zeitweilig anheizte. So kam es seitens der Polizei zu „kleinlichen Schikanen“ (121), weshalb eine Homosexuellengruppe in Karlsruhe ihre Zusammenkünfte in immer neue Lokale verlegen und zeitweilig ganz einstellen musste. Ein Manko des ersten Kapitels ist es dagegen, dass grundlegende Rahmenbedingungen homosexuellen Lebens wie die Strafverfolgung nach § 175 und die sich daran knüpfenden sozialen Folgen, vom Erpressertum bis zum Verlust des Arbeitsplatzes, kaum beleuchtet werden. Wünschenswert wäre auch ein stärkerer alltagsgeschichtlicher Zugang, etwa anhand von Strafverfolgungsakten, gewesen, um das Stigma-Management Homosexueller und ihres Umfeldes anschaulicher zu machen. Im Kapitel über die NS-Zeit widmet sich Munier eingehend den übergreifenden politischen Entwicklungen, die zur Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 und zu einer massiven Steigerung der Strafverfolgung bis 1939 führten. Anhand von Statistiken zeigt sie überdies, dass sich die verschärfte Verfolgungspolitik auch in Baden und Württemberg niederschlug. Vertiefend dokumentiert sie die Verfolgung in Kapiteln über den Strafvollzug, die Einweisung in Heil- und Pflegean­stalten, Kastrationen und Einweisungen in Konzentrationslager. Mit dieser Struktur setzt sie allerdings Schwerpunkte, die teilweise nur für wenige der Verfolgten maßgeblich waren. Zu Einweisungen in Heil- und Pflegeanstalten kam es zum Beispiel nur dann, wenn gleichzeitig Erkrankungen wie ‚Schwachsinn‘ diagnostiziert wurden, was nur in seltenen Ausnahmefällen vorkam. Auch Kastrationen waren ein quantitativ eher zu vernachlässigendes Phänomen, auch wenn die davon betroffenen Männer ein besonders hartes Los traf. Die KZ-Haft wiederum traf, wie Munier zu Recht anmerkt, nur bestimmte Homosexuelle, insbesondere sogenannte Jugendverführer und Prostituierte. Dass Munier in dem entsprechenden Kapitel dann auf die Straflager des Emslandes fokussiert, die nicht zum KZ-System gehörten, irritiert umso mehr. Denn in diesen Strafgefangenenlagern wurden von regulären Gerichten verhängte, zeitlich befristete Freiheitsstrafen vollstreckt und hier landeten auch ‚gewöhnliche‘ Homosexuelle, die nur wegen einvernehmlicher Handlungen unter Erwachsenen verurteilt worden waren. Um in all diesen Punkten zu einer

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besseren Einordnung zu kommen, wären einige statistische Erhebungen hilfreich gewesen. So zum Beispiel die Auswertung von Strafprozessregistern einer Großstadt und eines eher ländlichen Gerichtsbezirks, die auch regionale Unterschiede der Verfolgung innerhalb von Baden und Württemberg hätte vor Augen führen können. Im Ergebnis leidet das Kapitel über die NS-Zeit unter einer zu starken Fokussierung auf die dramatischen Aspekte der Verfolgungspolitik. Dass Polizei und Justiz bei deren Umsetzung teilweise erhebliche Probleme hatten, bleibt dabei ebenso unterbelichtet wie der Umstand, dass letztlich nur ein Bruchteil der mutmaßlichen Homosexuellenpopulation verhaftet und verurteilt wurde. Zu kurz kommen deswegen auch die Lebenswelten der Homosexuellen, die zwar unter der verstärkten Repression litten, dieser aber mit ausgefeilten Überlebensstrategien trotzten. Ein besseres Gleichgewicht zwischen Lebenswelten und Verfolgungsmaßnahmen zeigt sich im dritten Kapitel, das sowohl die Neuformierung homosexueller Vereine als auch die sich in den fünfziger Jahren zunächst wieder verschärfende und in den sechziger Jahren dann langsam nachlassende Strafverfolgung dokumentiert. So kam es 1956 in Stuttgart zu einem „Kesseltreiben“ der Polizei, mit dem Homosexuelle vor allem von ihren öffentlichen Treffpunkten in Toiletten und Parkanlagen vertrieben werden sollten. Dass sie sich daraufhin „meist in Lokalen“ trafen, schien die Polizei weniger zu stören, auch wenn es dort ebenfalls zu Razzien kam (314). Dass die Nachkriegszeit trotz aller Repression insgesamt von allmählicher Liberalisierung geprägt war, arbeitet Munier gut heraus. Impulsgeber war dabei weniger die nach der NS-Zeit insgesamt sehr schwach aufgestellte Homosexuellenbewegung, die in den sechziger Jahren mit der Reutlinger „Kameradschaft die runde“ einen Schwerpunkt im Südwesten hatte. Die entscheidenden Anstöße für die Strafrechtsreform von 1969 gingen vielmehr von einzelnen Akteuren in Politik, Medien und Justiz aus, so zum Beispiel vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Erst diese Entkriminalisierung der ‚einfachen‘ Homosexualität ebnete schließlich den Weg für die moderne Schwulen- und Lesbenbewegung. Doch auch dieser Weg war noch steinig. Die Atmosphäre in Baden-Württemberg beschrieben Homosexuelle jedenfalls weiterhin als von „Provinzialität“ und „Engstirnigkeit“ geprägt (391). Trotz einzelner Kritikpunkte ist Muniers Studie eine große Bereicherung, erschließt sie doch zahlreiche neue Quellen und eröffnet interessante Perspektiven auf das Leben homosexueller Männer in einer Region, die von der einschlägigen Forschung bislang nur wenig beachtet wurde. Dr. Alexander Zinn Fritz Bauer Institut, Geschichte und Wirkung des Holocaust, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt a. M., Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 225–227 Thies Schulze Katholischer Universalismus und Vaterlandsliebe. Nationalitätenkonflikte und globale Kirche in den Grenzregionen Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen 1918–1939 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 138), Paderborn: Brill/Ferdinand Schöningh, 2021, XII + 464 S., 3 sw. Karten, ISBN 978-3-506-79270-9, 89,00 EUR. Mit Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen nimmt der Verfasser Regionen in den Blick, die sich als strittige Randzonen mit schon vor 1918 spürbaren Nationalitätenkonflikten für eine Untersuchung anbieten. Was das mit dem Katholizismus zu tun hat, wird schon in der Einleitung geklärt: Der scheinbare Universalismus der in diesen Gebieten einflussreichen katholischen Kirche stand in Konkurrenz mit der ‚Vaterlandsliebe‘ – also dem Nationalismus –, wobei sich ergänzen ließe, dass diese Konkurrenz im Protestantismus doch fast völlig fehlte. Der Verfasser entfaltet sein Thema zuerst am Beispiel Ostoberschlesiens (Kapitel I). Deutlich wird, dass der Nationalismus auch eine Folge von Diskriminierungen war: Der Kulturkampf und die bis in die katholische Kirche hineinwirkende preußische ‚Germanisierungspolitik‘ provozierten konfessionelle und nationalistische Abwehrreaktionen. Der Versailler Vertrag war es dann, der die schon bestehenden innerkirchlichen Spannungen verschärfte: Katholische Pfarrer agitierten für die deutsche wie für die polnische Seite im ‚Abstimmungskampf ‘, der Breslauer Erzbischof Adolf Bertram hielt zur deutschen Seite, der Heilige Stuhl hatte Mühe, zu einer Position zu finden, und agierte ungeschickt. Die Abtrennung Ostoberschlesiens klärte die Lage nur in territorialer Hinsicht, was dann zur Gründung des allein auf polnischem Boden liegenden Bistums Kattowitz führte, dessen Gebiet vom Erzbistum Breslau abgetrennt und dem bisherigen Apostolischen Administrator August Hlond übertragen wurde. Das wurde 1925 in einem Konkordat besiegelt, während – wie man ergänzen könnte – auf protestantischer Seite die Parole vielfach lautete, dass ‚Staatsgrenzen keine Kirchengrenzen‘ seien. Ein Unruhepotential blieben solche Priester, die sich durch Stellentausch oder Flucht je nach ihren nationalen Neigungen ohne Kenntnis des zuständigen Bischofs der deutschen oder polnischen Seite zuordneten. In einem wichtigen Teilkapitel untersucht der Verfasser den Konflikt zwischen dem Domkapitel und den deutsch-katholischen Organisationen (75–89). Die Nationalitätenkonflikte schwelten im neuen Bistum Kattowitz weiter, auch zwischen der deutschsprachigen Bevölkerung und loyal zu Polen stehenden Priestern, und nicht zuletzt in dem Bereich, der der katholischen Kirche besonders wichtig war, dem Volksschulwesen. Die Interessenvertretungen des deutschen katholischen Bevölkerungsanteils konnten in diesem und in anderen Bereichen unter dem Schutz der ihnen garantierten Minderheitenrechte ihre Position vertreten, auch gegenüber dem der polnischen Seite zuneigenden Bischof Hlond. Das Selbstbewusstsein dieser Interessenvertretungen passte auch nicht zur ‚Katholischen Aktion‘, die die katholischen Laienorganisationen unter bischöflicher Kontrolle stärker an Rom binden sollte. Interessant sind die Begriffe „Volkstum“ (85) und „Glaube und Volkstum“ (87), die man sonst dem nationalistischen Protestantismus zuordnen

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würde. Die innerkatholischen Konflikte setzten sich unter Hlonds Nachfolger Arkadiusz Lisiecki fort. Nach dessen Tod 1930 wurde die Nachfolgefrage zu einem Politikum, sowohl innerkirchlich als auch im Blick auf das Verhältnis von katholischer Kirche und polnischem Staat. Während aber in den 1930er Jahren im Protestantismus in Polen heftige, schon rassistisch grundierte Auseinandersetzungen stattfanden, beruhigten sich die innerkatholischen Konflikte, nicht zuletzt wegen des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts von 1934, in dessen Folge die katholischen deutschnationalen Verbände ihre Unterstützung aus Deutschland verloren. Zugleich politisierte sich der katholische deutsche Nationalismus, indem er in politische Verbände auswanderte, und säkularisierte sich damit in gewisser Weise. Das zweite große Kapitel (Kapitel II) ist dem Untersuchungsgegenstand Elsass-Lothringen gewidmet. Zwar hatte auch der Konflikt um Oberschlesien eine längere Vorgeschichte, doch trat erst mit dem neu erstandenen Polen 1918 ein staatlicher Akteur als Gegenpart zu Deutschland auf den Plan, während der deutsch-französische Konflikt um dieses Gebiet schon Jahrhunderte alt war. Eine den Nationalitätenkonflikt fördernde Wirkung hatten auch hier der Kulturkampf und die ‚Germanisierungspolitik‘. Zum vatikanisch-französischen Politikum wurde nach dem Krieg die Neubesetzung der Bistümer Metz und Straßburg; in ihrer Folge kam es dann zu geregelten diplomatischen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der französischen Regierung. Problemfelder bei der Integration in den französischen Staat waren wie in Ostoberschlesien die Priesterausbildung und Ordensniederlassungen – dabei kam der katholischen (wie der evangelischen) Kirche immerhin zugute, dass das Napoleonische Konkordat in diesen Gebieten immer noch galt und die Laicité hier nicht Staatsreligion war. Freilich war dieser Zustand nicht unangefochten, wie sich in einem regionalen „Kulturkampf “, der typischerweise ein „Schulkampf “ war, zeigen sollte (206–220). Diese Sonderstellung führte einerseits zu einem eigenen Selbstbewusstsein vor allem bei katholischen deutschsprachigen ‚Regionalisten‘, die nach verstärkter Autonomie strebten, andererseits zu Argwohn bei der französischen Regierung ihnen gegenüber. Der Exponent dieser deutschfreundlichen Bewegung war Abbé Xavier Haegy, der als Verbandspolitiker und Publizist virtuos agieren konnte und fast die Funktion eines Gegenbischofs hatte. Der pro-französische Straßburger Bischof Charles Ruch konnte ihn und seine Bewegung nur mühsam eindämmen und tat dies auch auf dem Wege einer stärkeren Kontrolle des Laienkatholizismus im Zeichen der ‚Katholischen Aktion‘. Das alles führte zu innerkatholischen Konflikten, die auch durch die Intervention des Heiligen Stuhls nicht beruhigt werden konnten. Das recht kurze „Zwischenfazit“ (Kapitel III) bietet einen Vergleich der aus den beiden Hauptkapiteln gewonnenen Ergebnisse, den man sich auch ausführlicher hätte vorstellen können. Allerdings ist es eben so, dass die Untersuchungsgegenstände „in vielerlei Hinsicht Unterschiede“ aufweisen (313). Einen Ausweg aus dieser Verlegenheit stellt in gewisser Weise Kapitel IV dar, in dem es um „de[n] Heilige[n] Stuhl als transnationale[n] Akteur in Nationalitätenkonflikten“ geht und das die Beobachtungen in Kapitel I und Kapitel II ins Grundsätzliche weitet. Hier wird auch der „Reichsverband für die katholischen Auslandsdeutschen“ erwähnt (317 f.), der sich in das Gefüge anderer, protestantischer oder säkularer Verbände mit gleichen Interessen einordnete. Auch in diesem Kapitel wird deutlich, dass erst der Erste Weltkrieg den Heiligen Stuhl dazu brachte, sich näher mit dem Nationalismus zu befassen, den man einerseits als berechtigt, andererseits in

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übersteigerter Form als Gefahr ansehen konnte. Realpolitisch war damit aber wenig zu gewinnen, vor allem in den immer konflikthaltiger werdenden 1930er Jahren. Dies wird auch aus dem abschließenden Fazit (Kapitel V) deutlich. Die Darstellung, ursprünglich eine Habilitationsschrift aus dem Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“, ist detailreich und dennoch gut lesbar und basiert auf einer Fülle von Archivmaterial. Prof. Dr. Klaus Fitschen Universität Leipzig, Theologische Fakultät, Beethovenstr. 25, 04107 Leipzig, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 227–229 Leonie Hieck Die Bundeswehr im Spannungsfeld von Bundespolitik und Landespolitik. Die Aufstellung der Streitkräfte in Schleswig-Holstein (IZRG-Schriftenreihe 19), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2021, 365 S., 14 Graf./Tab., 1 Karte, ISBN 978-3-7395-1259-4, 34,00 EUR. Die deutschen Streitkräfte stehen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022 wieder deutlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Neben ihrer Eigenschaft als bewaffneter Garant des Schutzes Deutschlands vor außenpolitischer Erpressung, militärischer Bedrohung und äußerer Gefahr war die Bundeswehr als Organisation jedoch indirekt auch immer ein regionaler, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturfaktor in Deutschland. Dies zeigte sich insbesondere bei der Abrüstung in den 1990er Jahren, aber auch bei der Neuausrichtung der Bundeswehr ab 2010, die jeweils eine Reduzierung der Truppe in der Fläche nach sich zogen und zahlreiche Standortschließungen zur Folge hatten. Leonie Hieck hat sich diesem Thema in ihrer Regionalstudie zur Aufstellungsphase der Bundeswehr in Schleswig-Holstein in den 1950er und 1960er Jahren gewidmet. Konkret handelt es sich um eine historische Analyse der Interaktion zwischen Bundes- und Landespolitik in der Aufbauphase der Streitkräfte, mit Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Stationierung von Truppenteilen in der Region. Das Werk stellt somit eine Schnittmenge zwischen deutscher Militärgeschichte und der Landes- und Verwaltungsgeschichte Schleswig-Holsteins dar. Der Aufbau der Arbeit ist gut strukturiert und die Kapitel sind inhaltlich eng aufeinander abgestimmt. Hieck beschreibt – nach einem allgemeinen Überblick über den Aufbau der Bundeswehr bis 1965 – zunächst die topografische Beschaffenheit, Bevölkerungs- und Siedlungsverteilung sowie die infrastrukturelle Beschaffenheit im Schleswig-Holstein der Nachkriegszeit. Anschließend beleuchtet sie die Folgerungen der damaligen Verteidigungsplaner und die daraus resultierenden Entschlüsse über die dortige Stationierung und Dislozierung militärischer Verbände.

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Die Autorin legt ausführlich dar, warum gerade das Gebiet Schleswig-Holstein für die Streitkräfte einen besonderen Stellenwert besaß. Einerseits galt das Territorium als Schlüsselgelände für die strategische und operative Verteidigungsplanung der NATO im Nord- und Ostseeraum. Entsprechend stark war die Präsenz der drei Teilstreitkräfte: Heer, Luftwaffe und Marine. Wie sich später noch zeigen sollte, verfügte die Region bis 1990 über eine militärische Stationierungsdichte, die von keinem anderen Land der Bundesrepublik übertroffen wurde. Andererseits schien der Raum Schleswig-Holstein mit Blick auf seine wirtschaftlich strukturschwachen Landkreise für die Unterbringung einer hohen Anzahl von Soldaten denkbar ungeeignet. Insbesondere litt das Land nach dem Krieg an einer, im Verhältnis zum knappen Wohnraum hohen Bevölkerungsdichte. Flüchtlingsfamilien waren ab 1945 aus den besetzten deutschen Ostgebieten zugewandert und hatten die Unterkunftsfrage zusätzlich verschärft. Folglich hatten die Landesbehörden in den späten 1940er und 1950er Jahren den Wohnungssuchenden großzügig ehemalige Liegenschaften der Wehrmacht als neue Wohnquartiere zugewiesen. Die Bundeswehr benötigte diese Gebäude bei ihrer Aufstellung aber wieder für militärische Zwecke. Mit der anstehenden Räumung des Wohnraums drohten nicht nur Anwohner, sondern auch dazugehörige Unternehmen und Betriebe aus Mangel an Alternativen in das übrige Bundesgebiet abzuwandern und den wirtschaftlichen Wiederaufbau Schleswig-Holsteins dadurch zu gefährden. Vor diesem Hintergrund herrschte mit Blick auf den Einzug der Streitkräfte ein strukturelles Spannungsverhältnis zwischen den Verteidigungsplanern des Bundes auf der einen und der Landesregierung und den örtlichen Behörden auf der anderen Seite. Dieses verschärfte sich noch durch parteipolitische Auseinandersetzungen im schleswig-holsteinischen Landtag, wann immer es um die Frage der Vertretung von Landesinteressen gegenüber Forderungen des Bundes bei Stationierungsfragen ging. Hieck hat diese Problematik in den Kern ihrer Analyse gestellt und dabei folgende Ergebnisse herausgearbeitet: Das interessengeleitete Handeln der Funktionsträger des Bundes für einen möglichst schnellen und reibungslosen Streitkräfteaufbau traf diametral auf die Zielsetzungen der Landesregierung, die Beeinträchtigungen für die eigene Region gering zu halten und die als strukturschädigend betrachteten Folgen der Kasernenräumungen für die Betroffenen so sozialverträglich wie möglich zu gestalten. Dies führte zu zahlreichen Verhandlungen und teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Verhandlungsträgern von Bund und Land. Im Ergebnis gelang es der Landesregierung und ihrem nachgeordneten Bereich, deutlichen Einfluss bei der Umsetzung der Stationierungsentscheidungen geltend zu machen. Der militärische Aufbau erfolgte somit – anders als geplant – keineswegs nur nach militärischen Kriterien. Leonie Hieck hat mit dieser regionalgeschichtlichen Analyse insgesamt ein umfassendes Bild des Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure von Bund, Land und Militär bei der Realisierung des (west-)deutschen Streitkräfteaufbaus erstellt. Sie hat dabei die Wechselwirkungen zwischen regionaler Landespolitik auf der einen und nationalen wie bündnispolitischen Belangen auf der anderen Seite aufgezeigt und in diesem Sinne den hohen Wert eines modernen, integrationsgeschichtlichen Forschungsansatzes unterstrichen. Es ist der Autorin nicht nur gelungen, einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Regionalgeschichte Schleswig-Holsteins geleistet zu haben. Sie hat auch ein bisher weitgehend unbeach-

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tetes Kapitel der Aufstellungsphase der Bundeswehr analysiert und gleichzeitig ‚trockene, graue‘ Verwaltungsgeschichte lesenswert aufbereitet. Nicht zuletzt hat sie dazu mit ihrem abschließenden Kapitel über den Lebensalltag und die Rolle der in Schleswig-Holstein stationierten Soldaten bei Manövern, Erntehilfen und der großen norddeutschen Flutkatastrophe 1962 beigetragen. Der Leser beziehungsweise die Leserin hätte sich sicherlich noch über detaillierteres Kartenmaterial gefreut, zum Beispiel eine topografische Übersicht über die im Text beschriebene naturräumliche Gliederung, die Verteilung der damaligen Bevölkerung sowie die zeitgenössische Siedlungsstruktur in Schleswig-Holstein. Auch hätte man gegebenenfalls einen grafischen Vergleich zwischen der ursprünglichen Planung und der tatsächlichen Stationierung der in den einzelnen Standorten untergebrachten Truppenteile und Verbände der Bundeswehr hinzufügen können. Darüber hinaus hätten auch historische Lichtbildaufnahmen im Anhang die Studie noch ein wenig bunter gestaltet. Diese Kritikpunkte schmälern allerdings nicht den Wert dieses insgesamt sehr gelungenen Werkes. Oberstleutnant Dr. Stefan Maximilian Brenner Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Zeppelinstr. 127, 14469 Potsdam, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 229–231 Robert Neisen, Heinrich Maulhardt, Konrad Krimm (Hg.) Kommunen im Nationalsozialismus. Verwaltung, Partei und Eliten in Südwestdeutschland (Oberrheinische Studien 38), Ostfildern: Thorbecke, 2019, 394 S., ISBN 978-3-7995-7843-1, 34,00 EUR. Der 2019 erschienene Sammelband „Kommunen im Nationalsozialismus. Verwaltung, Partei und Eliten in Südwestdeutschland“ ist das Ergebnis einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und könnte unter das Motto „Im Kleinen werden Dinge sichtbar, die im Großen unsichtbar bleiben“1 (Malte Thießen) gestellt werden. Denn in den Kommunen kam die Bevölkerung in direkten Kontakt mit der nationalsozialistischen Politik, hier wurde die Akzeptanz oder Ablehnung dem Regime gegenüber geprägt. Die 14 Beiträge des Buches sind in drei stimmig zusammengestellte Sektionen eingeteilt: „Einführung und Forschungsüberblick“ mit zwei Aufsätzen, „Stadt und Dorf “ mit sieben Beiträgen sowie „Eliten“ mit fünf Aufsätzen. Die Einführungen von Robert Neisen und Malte Thießen sind ein guter Einstieg in das Thema, da sie die Hauptzugriffe der unterschiedlichen Aufsätze und ihre Ergebnisse pointiert widerspiegeln und die aktuellen Forschungsdiskurse der NS-Regionalgeschichte sowie die Herausforderungen und Erkenntnismöglichkeiten dieser gekonnt zusammen-

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fassen. Die Fallbeispiele in der Rubrik „Stadt und Dorf “ reichen von einer Gau- und Landeshauptstadt bis hin zu einem kleinen Dorf und zeigen die Bedeutung des Ortes und der lokalen Netzwerke für die Erforschung des Nationalsozialismus auf. Hier wäre es schön gewesen, wenn die Auswahl der Kommunen – besonders in Hinblick auf die Ausgangsbedingungen des Nationalsozialismus – etwas heterogener gewesen wäre. Daneben entstand beim Lesen der Eindruck, dass ein sehr starker Fokus auf die NSDAP und ihre Parteifunktionäre gelegt wurde und dabei die Analyse der Rolle der öffentlichen Verwaltung etwas zu kurz kommt, obwohl die Bedeutung dieser als der „eigentlichen Stütze des Regimes auf der lokalen Mikroebene“2 extra betont wird. In dem Abschnitt „Eliten“ geht es um die Akteure vor Ort, da die Personalisierung von Funktionen eines der Strukturmerkmale der NS-Herrschaft auf regionaler Ebene war. Die Untersuchungen sind aber nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf Parteifunktionäre beschränkt, sondern beleuchten zum Beispiel auch die Karrieren städtischer NS-Eliten im Offenburg der Nachkriegszeit ober nehmen die etablierten kommunalen Eliten wie die Mitglieder des Mannheimer Rotary Club und ihr Agieren im Dritten Reich in den Blick. In diesem Fall wäre es schön gewesen, wenn die eigene Mitgliedschaft des Autors bei Rotary thematisiert worden wäre, zum einen der Transparenz wegen und zum anderen, da Dinge vorausgesetzt werden, die für NichtRotarier neu sind. Veranschaulicht werden kann dies recht gut an dem folgenden Beispielsatz: „Wann kam Rotary nach Deutschland? Begonnen hatte bekanntlich alles 1905 in Chicago“ (348). Schade ist auch, dass im Mitarbeiter*innenverzeichnis keine biographischen Angaben zu den Autor*innen zu finden sind, die für eine Einordnung der Positionen und bisherigen Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen Forschungsgegenstand nützlich gewesen wären. Bei der Durchsicht der beteiligten 15 Personen fällt außerdem auf, dass darunter 14 Männer sind und nur eine Frau, die nicht mit einem eigenständigen Aufsatz vertreten ist, sondern „unter Mitarbeit“ bei einem Beitrag aufgeführt ist. Diese Auswahl der Autoren, ob nun bewusst geschehen oder den aktiven Akteuren der südwestdeutschen NS-Forschung geschuldet, lässt das Buch etwas antiquiert erscheinen. Diese männliche Dominanz spiegelt sich ebenfalls in den Beiträgen wider, da fast ausschließlich männliche Akteure und Perspektiven beleuchtet werden. Bei der Lektüre der Textbeiträge fällt eine starke Fokussierung auf die Anfangsjahre der nationalsozialistischen Herrschaft auf, die vermutlich der Fragestellung der Tagung „Wie es dazu kommen konnte“ geschuldet ist. Die Herausgeber sprechen offen an, dass die Themenkomplexe Exklusion, Verfolgung und Krieg in dem Band kaum thematisiert werden. Dennoch wurde mit dieser Entscheidung viel Potential verschenkt, da der Großteil der Untersuchungen nur die Anfangsjahre des Nationalsozialismus genauer beleuchtet und dann noch blitzlichtartig die Nachkriegszeit behandelt. Somit wird nur ein Teil der Zeit des Dritten Reiches untersucht und entscheidende Phasen der Etablierung und später der Radikalisierung nicht. Dadurch können Kontinuitäten und Brüche weniger deutlich herausgearbeitet werden. Dies steht im Widerspruch zu der in der Einführung gemachten Aussage (32), dass sich als einer der interessantesten Aspekte der Tagung die longue durée des Nationalsozialismus erwies, da es der örtlich beschränkte Untersuchungsgegenstand ermögliche längere Zeiträume in den Blick zu nehmen und auch die Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus zu erzählen. Dies ist mittlerweile zur Selbstverständlichkeit der regionalen NS-Forschung geworden.

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Die sich in den zwölf thematischen Beiträgen der Tagung findenden Überschneidungen ermöglichten es den Herausgebern sechs allgemeine Schlussfolgerungen über die Erkenntnisse der südwestdeutschen NS-Forschung (35 f.) zu treffen, die meines Erachtens ebenfalls für die breitere Regionalgeschichte des Nationalsozialismus Gültigkeit haben: erstens die systemstabilisierende Funktion der Stadtverwaltungen, zweitens die herausragende Bedeutung von einzelnen Personen, drittens stabilisierte es die NS-Herrschaft, wenn sie mit den traditionellen Eliten einen Kompromiss einging, viertens ist es für ein Verständnis des NS-Regimes wichtig das ‚Machen‘ der Gesellschaft und ihre prozesshafte Entwicklung vor Ort in den Blick zu nehmen, fünftens war für die generelle Anerkennung der nationalsozialistischen Diktatur die Politik vor Ort und das Handeln der lokalen Entscheidungsträger ausschlaggebend und sechstens zeigten die Beiträge ein sehr heterogenes Bild der nationalsozialistischen Herrschaft im Kleinen. Diese konnte sowohl von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich aussehen, aber auch in ein- und derselben Kommune wirkten stabilisierende wie destabilisierende Faktoren. Nach dem Durcharbeiten des lesenswerten Sammelbandes blieben der Rezensentin zwei Beiträge besonders im Gedächtnis, die hier zum Abschluss noch kurz vorgestellt werden sollen: Zum einen der Beitrag von Wolf-Ingo Seidelmann über die Zwangsindustrialisierung des kleinen Bauerndorfes Blumberg für den Eisenabbau. Durch den interessanten Zugriff kann das ‚Aufgerieben Werden‘ des Bauerndorfes zwischen den Interessen der Wirtschaft, der Rüstungsindustrie sowie dem widersprüchlichen Agieren von Partei- und Staatsinstanzen gezeigt werden. Zum anderen der Beitrag von Rudolf Neisen, der das Regieren der Bürgermeister der Nachbargemeinden Villingen und Schwenningen im Nationalsozialismus vergleicht. Der Bürgermeister von Schwenningen war bereits vor 1933 im Amt und trat nicht in die NSDAP ein, in Villingen wurde ein ‚Alter Kämpfer‘ Bürgermeister. Wie der Beitrag zeigt, lassen sich Unterschiede im Handeln der Bürgermeister feststellen, doch dies entspricht keiner einfachen Unterteilung in ‚gut‘ und ‚böse‘. 1

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Malte Thießen zitiert nach Robert Neisen: Die Macht der lokalen Verhältnisse: Nationalsozialistische Herrschaft in südwestdeutschen Kommunen. Eine Einführung. In: Robert Neisen, Heinrich Maulhardt, Konrad Krimm (Hg.): Kommunen im Nationalsozialismus. Verwaltung, Partei und Eliten in Südwestdeutschland (Oberrheinische Studien 38), Ostfildern 2019, 9–39, hier 39. Neisen, Die Macht der lokalen Verhältnisse, 22.

Clara Sterzinger-Killermann M. A. Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 231–234 Christoph Brüll, Christian Henrich-Franke, Claudia Hiepel, Guido Thiemeyer (Hg.) Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945–1995

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(Historische Dimensionen Europäischer Integration 31), Baden-Baden: Nomos Verlag, 2020, 221 S., ISBN 978-3-8487-6566-9, 44,00 EUR. Der Sammelband mit elf Einzelbeiträgen geht auf eine Tagung zurück, die unter dem Titel „Belgier in Deutschland (1945–2004)“ im April 2018 am Internationalen Platz Vogelsang stattfand und sich mit der fast sechzigjährigen Anwesenheit belgischer Truppen in Nachkriegsdeutschland beschäftigte. Die zeitweilig als „Zehnte Provinz“ Belgiens bezeichnete Truppenpräsenz in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ist allerdings im kollektiven Gedächtnis weder auf belgischer noch auf deutscher Seite sehr tief verankert, obwohl zeitweilig mehrere zehntausend Soldaten in Westdeutschland stationiert waren und durchaus auch, vor allem in Westfalen, teilweise jahrzehntelang mit ihren Familien in Deutschland wohnten. Trotzdem ist die Geschichte der übrigen Besatzungsmächte in weiten Teilen besser erforscht und bekannter als die der Belgischen Streitkräfte in Deutschland (BSD). Zu Anfang der Tagung stand daher die Feststellung, dass die Geschichte der Belgier in Nachkriegsdeutschland bisher nicht umfassend beschrieben wurde. Dies liegt einerseits an der schwierigen Quellenlage. Die Akten der belgischen Streitkräfte werden nicht im belgischen Staatsarchiv, sondern durch die Armee selbst verwaltet, entsprechend schwierig ist teilweise der Zugang. Andererseits gibt es überraschende Lücken in der Überlieferung zu konstatieren. So ist es bezeichnend, dass die einzige Sammlung von Exponaten rund um die Stationierung belgischer Truppen in Deutschland mit einem einigermaßen umfassenden Bestand eine private ist, nämlich die von Burkard Schnettler in Soest. Ein Interview mit ihm, durchgeführt von Claudia Hiepel, findet sich ebenso in dem Band wie ein Gespräch von Franz Albert Heinen mit Colonel Victor Neels, der bis 1980 Kommandant in Vogelsang war. Dieser berichtet äußerst anschaulich über sein Leben vor allem während der Kriegszeit; leider endet das Interview allerdings mit dem Jahr 1970, das heißt, der Abschnitt der Stationierung in Vogelsang kommt nicht zur Sprache. Die beiden Zeitzeugeninterviews sind spannend und in Teilen kurzweilig zu lesen, jedoch ist es bedauerlich, dass ein einordnender Kommentar dazu fehlt und sie daher etwas ohne größere Kontextualisierung für sich stehen bleiben. Ein Bildteil mit zwölf Fotografien („Visuelle Eindrücke belgischer Präsenz“), größtenteils aus der erwähnten Sammlung der „Stiftung Museum Belgische Streitkräfte in Deutschland“ stammend, ergänzt die persönlichen Erinnerungen der beiden Zeitzeugen. Eingerahmt werden die Einzelbeiträge des Bandes durch eine Einführung von Christoph Brüll, der das Thema in den Kontext der außenpolitischen Situation nach Kriegsende verortet und einen Überblick zum Stand der Forschung liefert, und dem Fazit von Guido Thiemeyer. Dieser kommt zu dem Schluss, die Geschichte der BSD müsse im Rahmen des „Kommunikationsprozesses zwischen den beiden Blöcken“ als Geschichte eines „neuen Raumes“ im Sinne der transnationalen Regionalgeschichte verstanden werden, das heißt eines Raumes, der „quer zu den politisch-völkerrechtlichen Grenzen lag und durch zahlreiche Verbindungen geschaffen wurde“. Beide, Brüll und Thiemeyer, konstatieren die Defizite in der bisherigen Geschichtsschreibung zur militärischen Präsenz der Belgier in Deutschland und identifizieren weitere Forschungsdesiderate. Das häufig bei Abzug der Truppen in Festreden und in der Presse verwendete Narrativ „Aus Besatzern wurden Freunde“ wird in drei Texten anhand von Fallstudien zu den Städten

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Soest  (Claudia Hiepel), Lüdenscheid (Marc Laplasse) und Siegen (Christian Henrich-Franke) genauer betrachtet. Regelmäßig lässt sich eine Dreiteilung der Besatzungszeit feststellen: zunächst die Besatzungssituation bis circa Mitte der 50er Jahre, in der zum Beispiel auch Eheschließungen zwischen belgischen Militärangehörigen und Deutschen genehmigungspflichtig waren, gefolgt von einer eher von Koexistenz geprägten Phase bis circa Ende der 60er Jahre, in der beispielsweise Standortkommandanten wie Victor Neels und andere mit unterschiedlichen Aktionen wie Tagen der offenen Tür, Bataillonsfesten, Paraden etc. gegenseitiges Verständnis und Annäherung zu schaffen versuchten. Dies geschah vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders und der Westintegration der BRD ebenso wie der erstarkenden Europapolitik. In der letzten Phase ab circa 1970, an deren Ende dann 1994 der Truppenabzug der Belgier stand, wurde aus dem Nebeneinander schließlich ein zunehmendes Miteinander. Diese Entwicklung lässt sich mit regionalen Unterschieden in allen untersuchten Standorten nachvollziehen. Für Siegen arbeitet Henrich-Franke dabei anhand von Darstellungen in der Lokalpresse die Besonderheit heraus, dass das Miteinander der deutschen Bevölkerung hier offenbar wegen geringerer Sprachbarrieren eher mit flämischen Truppen möglich war als mit den französischsprachigen Wallonen, die ab Mitte der 70er Jahre stationiert waren. Auch Hiepel und Laplasse sprechen für die von ihnen untersuchten Standorte Soest und Lüdenscheid kurz die Frage an, der es sich lohnen würde, weiter nachzugehen, ob die relative Nähe in Sprache und Mentalität zwischen westfälischen Bürgern und flämischen Belgiern der Entwicklung hin zu einem guten Zusammenleben zuträglich war. Jonas Krüning, dessen 2022 veröffentlichte Dissertation sich ebenfalls mit dem von ihm im vorliegenden Band behandelten Thema beschäftigt, untersucht die Spannungen zwischen kommunalen Behörden und militärischen Akteuren rund um den Truppenübungsplatz Wahner Heide, den die Bevölkerung gern als Naherholungsgebiet nutzen wollte. Neben diesem Aufsatz zur Troisdorfer Situation fehlen jedoch weitere Beiträge zu den belgischen Standorten im Rheinland. Dies ist insofern schade, als es große Unterschiede zwischen den grenznahen Standorten im Rheinland, in denen viel mehr Kontakt der Soldaten mit dem Heimatland bestand, und den östlicher gelegenen gab, wo häufige Heimatbesuche der Truppen schwieriger zu realisieren waren und die Soldaten daher eher dauerhaft am Ort lebten. In der Einführung weist Christoph Brüll auf kleinere Vorarbeiten zu den im Rheinland stationierten belgischen Truppen hin, eine systematische Erforschung der Geschichte der Rheinland-Garnisonen steht jedoch noch aus. In einem weiteren Beitrag widmet sich Vitus Sproten den medialen ‚Kontaktzonen‘ zwischen Belgiern und Deutschen vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern die Anwesenheit belgischer Truppen in Nachkriegsdeutschland zu einem gegenseitigen kulturellen Austausch führte. Er arbeitet heraus, dass im Fokus der Medienstrategie der belgischen Armeeführung eher die Brückenfunktion nach Belgien selbst stand als ein Vermittlungswunsch zwischen den beiden Ländern. Es wird in diesem Aufsatz anschaulich dargelegt, dass die Erforschung der Fragestellung, wie Medienkommunikation im Detail funktionierte, welche Funktion sie hatte und ob die Strategien aufgingen, ebenfalls noch ganz am Anfang steht. Der einzige französischsprachige Aufsatz des Bandes von Pierre Muller beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen belgischen Truppen und lokaler deutscher Bevölkerung am Beispiel von Panzereinsätzen. Hier wäre eine weitergehende Untersuchung der Unterschiede in der Wahr-

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nehmung der Panzereinheiten je nach geographischer Lage der Übungsgebiete wünschenswert gewesen; eine höhere Akzeptanz der Truppen, je weiter östlich sie sich bewegten, bei der deutschen Bevölkerung wird nur kurz angesprochen, dieses Thema jedoch nicht weiter verfolgt. Insgesamt handelt es sich um einen gut lesbaren und vielseitige Perspektiven bietenden Band, der der Beginn weiterführender Arbeiten zu den BSD sein kann. Zum Beispiel läge ein Vergleich zur Stationierung der anderen NATO-Truppen nahe, was sicherlich für weitere Studien reiches Material böte und hier zunächst nur in Ansätzen skizziert wird. Allerdings bleibt die Problematik des Archivzugangs zu den Akten des belgischen Militärs dabei ein erschwerender Faktor. Trotz kleinerer Lektoratsschwächen in vor allem zwei Artikeln ist der Band insgesamt ein wertvoller Beitrag zur Nachkriegsgeschichte, der eine Vielzahl von zukünftigen Untersuchungsperspektiven aufzeigt und als überzeugendes Plädoyer für weitere Forschungen verstanden werden kann. Tatjana Mrowka M. A. Universität zu Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek, Universitätsstr. 33, 50931 Köln, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 234–236 Oliver Kann Karten des Krieges. Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg Leiden u. a.: Brill/Schöningh, 2020, VIII + 346 S., 3 sw. u. 8 farb. Abb., 3 sw. u. 25 farb. Kart., ISBN 978-3-506-70312-5, 114,00 EUR. Selten wurde die Bedeutung der Kartografie in bewaffneten Konflikten einer breiten Öffentlichkeit so deutlich vor Augen gehalten wie in diesen Tagen angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und seiner medialen Verarbeitung. Die historisch engen Verflechtungen zwischen der Kartografie und der Kriegsführung zeichnet Oliver Kann in seiner Arbeit zur Kartografie und dem Raumwissen am Beispiel eines der größten Konflikte des vergangenen Jahrhunderts nach. Das als Dissertation an der Universität Erfurt vorgelegte Buch aus dem Bereich der critical cartography liefert eine interessante Analyse der Entwicklung der deutschen und insbesondere der preußischen Kartografie. Der zeitliche Fokus liegt dabei auf den Jahren 1914–1918, wobei im ersten der drei Teile der Arbeit die Entwicklung der Kartografie als Wissensdisziplin im Deutschen Reich und ihre Rezeption im 19. Jahrhundert ausgeführt werden. Dieses zeitliche Vorgreifen veranschaulicht den Perspektiven- und Paradigmenwechsel, die sich vor allem in der Methodik der Raumdarstellung am Übergang der Friedenszeit zum Krieg vollzogen hat. Das durchaus hohe Niveau der deutschen topografischen Karten konnte auf der Grundlage von langen Erarbeitungsprozessen durch die relativ kleinen Stäbe der entsprechenden Behörden erreicht werden. In Friedenszeiten sah man zudem keine zwingende Notwendigkeit einer schnelleren

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Aufnahme von neuen Gebieten in die etablierten Kartenwerke wie das Messtischblatt (1:25.000) oder die Karte des Deutschen Reiches (1:100.000). Aufgrund der föderalen Struktur oblag die Kartierung und die Produktion des offiziellen Kartenmaterials in der Regel den Einzelstaaten. Im zweiten Teil werden der Perspektiven- und Paradigmenwechsel am Beispiel der sogenannten Westfront im Ersten Weltkrieg dargestellt: Angesichts des sich dort schnell vollzogenen Übergang zu einem Positionskrieg zeigten sich die Schwächen der deutschen staatlichen Kartografie und insbesondere der Militärkartografie, die sich faktisch seit dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 während der langen Friedenszeit auf ihren Lorbeeren ausgeruht hatte. In den Militärkreisen wurde die immense Rolle der Kartografie verkannt, zumal man 1914 von einem raschen Kriegsende ausging. Dabei hatten in der Zwischenzeit nicht nur die Methoden der Kriegsführung, sondern auch die Landschaft in Europa einen enormen Wandel erfahren. Die Fokussierung auf das eigene Landesgebiet und auf inadäquate Maßstäbe beim Militär erschwerte nach dem Kriegsausbruch sowohl die Versorgung und den Transport der Truppen als auch die Orientierung im Kampfgebiet. Genauere Informationen über die Bahn-, Straßenverbindungen und Kanäle sowie über die kleinräumige Topografie konnten zunächst durch Beutekarten der gegnerischen Truppen beschafft werden. Mit der Zeit wurden in den eroberten Gebieten Druckereien übernommen und weitere eingerichtet, in denen hohe Auflagen von neuen Karten entstanden. Dazu wurden teilweise die Blätter der bestehenden belgischen, französischen oder britischen Karten als Grundlage verwendet, es wurden aber auch eigene Karten erstellt. Zu einer zeitnahen Versorgung mit den für die Bedürfnisse der einzelnen Truppenarten notwendigen Karten wurden auch mobile Druckereien in der Nähe der Frontlinie organisiert. Das umfangreichste Kapitel des zweiten Teils stellt dar, wie die neuen Akteure und Experten sowie die kartografische Praxis an der Front einen Wandel in der Raumdarstellung bewirkten. In diesem Zusammenhang spielten Lehrende und Fachpraktiker aus dem Bereich der Geografie und der zivilen Kartografie eine besondere Rolle. Zahlreiche Postulate aus diesem Wirkungskreis fanden plötzlich Gehör, sodass die Geografie als Schulfach und als wissenschaftliche Disziplin einen bemerkenswerten Aufstieg erlebte. Dies führte zu einem enormen Anstieg der kartografischen Produktion und dadurch auch des Raumwissens. Diesem Phänomen widmet sich der dritte Teil des Werks, unter anderem im Kontext der staatlichen Kriegspropaganda, die von allen teilnehmenden Parteien betrieben wurde (was hier aber aufgrund des Fokus auf Deutschland nur erwähnt, aber nicht weiter thematisiert wird), und den Krieg zu einem großen Medienereignis stilisierte. Der Autor konzentriert sich jedoch in diesem letzten Teil der Arbeit auf die Darstellung der Medienvorbereitung und -produktion für den Gebrauch in den Schulen sowie der dortigen Vermittlung ihrer Inhalte. Schließlich kommt den Schulen eine tragende Rolle bei der Erziehung, unter diesen Umständen sogar der Formung der späteren Rekruten zu. Während die wichtigsten Erkenntnisse und Thesen des Autors an mehreren Stellen im gesamten Textverlauf zum Ausdruck kommen, fällt die Übersicht des Forschungsstandes und der Literatur recht knapp aus. Dies liegt zwar einerseits an den bisherigen dünnen Forschungsleistungen, doch gerade deswegen und wegen der vom Autor anvisierten interdisziplinären Vorgehensweise hätte es sich angeboten, den Blickwinkel um die Forschung zu den kartenverwandten Erzeugnis-

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sen wie die Senkrechtluftaufnahmen zu erweitern. Dies umso mehr, da der Autor auf die Luftbilder und ihre Rolle in der Kartografie während des Ersten Weltkriegs mehrfach eingeht. Noch enger an dem Hauptthema des Buchs liegt aber die Auseinandersetzung um die Grenzen des Reichs, die bereits vor Kriegsbeginn, speziell im Austausch mit den – zum Teil auch in Deutschland wirkenden – Vertretern der Minderheiten, geführt wurde und gegen Ende des Ersten Weltkrieges in einer regen Kartenproduktion zu propagandistischen Zwecken in Vorbereitung der Friedensverhandlungen mündete. Auch wenn sich der Autor auf die Westfront konzentriert, wundert das insbesondere im Zusammenhang mit dem hier durchaus thematisierten Buhlen der Reichsregierung um die Gunst nationalpolnischer Kreise im russischen Teilungsgebiet (also nicht auf dem Reichsgebiet selbst). Die rhetorische Überspitzung der Rolle der Karte dient wohl der Narration. Diese ist allerdings wenig stringent, was bereits bei den ausholend formulierten Thesen beginnt, die zahlreiche Redundanzen aufweisen, welche dem Werk etwas Spannung nehmen. Etwas irritierend ist eine ahistorische und nicht nur deswegen inadäquate Verwendung mancher Begriffe – hier fällt vor allem der fast überstrapazierte Terminus ‚Raumvisualisierung‘ auf. Im Kontext der Karte wäre der Begriff ‚Raumdarstellung‘ passender. Wohl nicht dem Autor, sondern dem Verlag ist der Aufbau der Fußnoten zuzuschreiben, in denen die Jahresangaben fehlen. Für die Nachverfolgung der Diskussionen um die Kartenentwicklung wäre diese beispielsweise durchaus wichtig zu erfahren. In einem wissenschaftlichen Buch sollten solche Informationen direkt sichtbar sein, ohne dass man umständlich im Literaturund Quellenverzeichnis nachschlagen muss. Die Zweckdienlichkeit des Buches beruht insbesondere auf der wichtigen und durchaus spannenden Studie über die Nutzung von Karten im Krieg und die Instrumentalisierung der Akteure zu Propagandazwecken. Besonders hervorzuheben ist der Einblick in die fachlichen Diskurse im Spannungsfeld der militärischen und zivilen Kartografen, den Hochschulgeografen und der Geografielehrenden sowie den privatwirtschaftlichen Kartografie-Verlagen, in denen es unter anderem um die Entscheidungsmacht über die Darstellungstechniken ging. Interessant macht das Buch auch der Blick aus einer kartografisch-geografischen Perspektive, während die themenverwandte wissenschaftliche Literatur zumeist die historische Perspektive fokussiert. Im Zusammenhang mit der aktuellen russischen Aggression fällt nach der Lektüre dieses Werks noch mehr auf, welch eine wichtige Rolle die Kartografie gerade im Militärbereich auch heute noch spielt – hätte die russische Militärführung die lokale Topografie stärker berücksichtigt, hätte sie zum Beispiel nicht so viele schwere Fahrzeuge im feuchten Gebiet stehen lassen müssen. Dariusz Gierczak M. A. Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Gisonenweg 5–7, 35037 Marburg, Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 237–239 Michael Hirschfeld, Franz-Reinhard Ruppert Arbeitswanderer in Delmenhorst in der Epoche des Kaiserreichs 1871–1918. Böhmen – Eichsfelder – Oberschlesier – Posener – Galizier in einer nordwestdeutschen Industriestadt (Oldenburger Studien 92), Oldenburg: Isensee Verlag, 2021, 400 S., Abb., ISBN 978-3-7308-1755-1, 35,00 EUR. Die Arbeit von Michael Hirschfeld und Franz-Reinhard Ruppert zeichnet sich sowohl durch eine ausführliche und akribische Archivrecherche als auch durch die Hinzuziehung umfangreicher Bild- und Textquellen aus, die sich zum großen Teil in Privatbesitz der Nachfahr*innen der beschriebenen „Arbeitswanderer“ befinden. Anhand der vorliegenden Forschungsarbeit können oftmals abstrakt bleibende Theorien des Poststrukturalismus, der kritischen Migrationsforschung oder auch der postkolonialen Kritiken durch die Darstellung der konkreten historischen Umstände veranschaulicht werden: Die Autoren zeigen, dass Migrant*innen keine homogene Gruppe1 sind und tragen zur Problematisierung eines wichtigen Forschungsdilemmas bei, nämlich dem des Schreibens über Migrant*innen. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen wie Franz Fanon, Michel Foucault oder Manuela Bojadžijev haben immer wieder thematisiert, dass die Vereinheitlichung einer vermeintlichen Gruppe, in diesem Fall der Migrant*innen, auch mit einer rassistischen Subjektivierung einhergeht.2 Auch Hirschfeld und Ruppert geht es unter anderem darum, die bisherigen generalisierenden Darstellungen der Migrant*innen in Delmenhorst zu kritisieren und ihnen eine deutlich differenziertere Darstellung entgegenzustellen. Sie bemängeln, dass in der bisherigen Forschung über Migration zur Zeit der Industrialisierung nach Delmenhorst der Eindruck entstehen würde, dass es sich bei den Migrant*innen hauptsächlich um Pol*innen handle. Auch würden bisher wirtschafts- und sozialgeschichtliche Darstellungen sowie „soziale […] Nöte und Probleme“ (14) in den Vordergrund gestellt, während die Individualität, die Handlungen und Wünsche der Migrant*innen nicht zum Thema gemacht wurden. Auf 400 Seiten beschreiben die Autoren die Diversität der Herkunftsorte sowie zahlreiche Persönlichkeiten, ‚einfache‘ Menschen und Familien mit ihren Lebenswegen, mit ihren Träumen, ihren Erfolgsgeschichten und Misserfolgen, ihre Brüche mit gesellschaftlichen Normen durch interkonfessionelle Ehen und nicht zuletzt ihr Wirken in der Delmenhorster Gesellschaft und darüber hinaus. Sie schreiben über erfolgreiche Unternehmen wie die durch den aus dem Egerland kommenden Spinnermeister Edurad Pleil geführte Gaststätte „Lindenhof “, über familiäre Musikerkarrieren wie die der aus dem Egerland kommenden Familie Pensel oder über einflussreiche Persönlichkeiten in der Politik wie diejenige des in Österreich-Oberschlesien geborenen Oberstadtdirektors und Gewerkschaftssekretärs Adolf Burgert. Sie ermitteln unter anderem durch genaue und ausführliche Erforschung der Melderegister und der Personalkarten einer der damals wichtigsten Fabriken in Delmenhorst, der Nordwestdeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei A. G., kurz „Nordwolle“, die genauen und diversen Herkunftsorte der Menschen: Es sind Städte und Dörfer in Böhmen, Eichsfeld, Oberschlesien, Posen und Galizien. Sie zeigen dabei, dass es sich

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bei der Migration zum großen Teil um eine aktive, wohlüberlegte und geplante Unternehmung der Migrant*innen gehandelt hat. Die Menschen wurden nur zum Teil ‚angeworben‘. Sie haben es Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten ebenfalls ermöglicht, nach Delmenhorst zu kommen, sie haben sich also organisiert und ihren Weg langfristig geplant. Diese sehr genau nachgewiesene Kettenwanderung kann als Beitrag zur Perspektive der „Autonomie der Migration“ angesehen werden, in denen Migration nicht als willenloser, zu lenkender Strom3 angesehen wird, sondern Menschen als handelnde Subjekte betrachtet werden.4 Die Autoren schreiben nicht zuletzt auch ihre eigene Geschichte, denn auch sie sind Nachfahren ehemaliger Migrant*innen, die zur Zeit der Industrialisierung nach Delmenhorst gekommen waren, und die nun auch im Sinne einer Autonomie der Migration die eigene geschichtliche Darstellung für sich beanspruchen. Ein weiteres explizites Anliegen dieses Buches ist es, aufzuzeigen, dass die Entwicklung der Stadt Delmenhorst und dessen Industrie unmittelbar mit der Arbeit zahlreicher Migrant*innen zusammenhängt. Es soll auch als ein überregionaler Beitrag zur Diskussion darüber verstanden werden, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und zwar nicht erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Autoren leisten insofern einen Beitrag in der Diskussion innerhalb der Transnational Labour History5 und anhand des von ihnen zusammengetragenen Materials kann erneut deutlich gemacht werden, dass die Dimensionen von Arbeit und Migration irreduzibel miteinander verwoben sind und diese für eine kritische Perspektive gemeinsam analysiert werden müssen. Oft fehlt allerdings eine kritische theoretische Einordnung des Quellenmaterials und die Autoren laufen dadurch Gefahr, die geforderte Differenzierung der Einzelnen zu verlieren und in kulturalistische Interpretationen zu verfallen. So wird doch, wenn beispielsweise über das Wirken Adolf Burgerts geschrieben wird, dieser als Ausnahme deklariert, da die Autoren der Auffassung sind, die Oberschlesier*innen seien größtenteils lediglich frömmig und wenig anderweitig aktiv gewesen (141–161). Analog dazu werden Menschen, die aus Böhmen migriert sind, als besonders musikalisch beschrieben (20). Neuere rassismuskritische Ansätze problematisieren solche Analysen. In der kritischen Migrationsforschung wird die Konstruktion eines Fremdbildes von ‚Migrant*innen‘ als Träger*innen „von Eigenschaften, die an eine vermeintlich eindeutige ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit gebunden sind“6, also eines statischen Bildes migrantischer Identitäten, kritisiert. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um negative rassistische Zuschreibungen oder um vermeintlich positive Essentialisierungen handelt; das Problem wird nicht darin gesehen, dass sie die ‚Wirklichkeit‘ falsch wiedergeben, sondern darin, dass sie vereindeutigen Offen bleibt unter anderem zudem die Frage nach den Gründen der geschlechtlichen Zusammensetzung der Arbeiter*innenschaft. Die Forschung von Hirschfeld und Ruppert bestätigt erneut, dass Migration nach Delmenhorst nicht überwiegend männlich war und leistet insofern auch einen Beitrag zur feministischen Debatte um Migration. Frauen* stellten demnach in den ersten Jahren sogar mit bis zu 80 Prozent Anteil an der Gesamtmigration die Mehrheit der Mi­ grant*innen. Um 1890 herum änderte sich jedoch das Geschlechterverhältnis und es sind mehr Anmeldungen von Männern als von Frauen* dokumentiert. Der Frauen*anteil blieb dennoch mit bis zu 40 Prozent bis 1900 hoch. Worauf diese Entwicklung zurückzuführen ist, ob sie beispielsweise mit den erlassenen Arbeiterinnenschutzgesetzen zusammenhängt und als Ergebnis männ-

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licher gewerkschaftlicher Lobbyarbeit zu werten ist oder ob andere Faktoren relevant waren, da­ rüber lässt uns das Buch im Unklaren. Das Buch liefert trotz der theoretischen Unschärfen einen beachtlichen Fundus an Quellen zur Migrationsgeschichte Delmenhorsts. Insbesondere die zahlreichen Egodokumente, die in der bisherigen Forschung vernachlässigt wurden, tragen zu einer differenzierten Sicht auf Migration in Delmenhorst bei und schreiben eine Migrationsgeschichte, in der die Menschen in ihrer Diversität im Zentrum stehen. 1

Siehe dazu die ausführliche Auseinandersetzung von Paul Mecheril, beispielsweise: Paul Mecheril: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster 2003, 9. 2 Vgl. beispielsweise Franz Fanon: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, Frankfurt a. M. [1969] 1972, 42; Manuela Bojadžijev: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2012, 260. 3 Vgl. Yann Moulier Boutang: Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik. In: Marianne Pieper u. a. (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a. M. 2007, 169–178, hier 170. 4 Vgl. dazu beispielsweise Sandro Mezzadra: Keine Freiheit ohne Bewegungsfreiheit. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5 (2011) 2, 154–157; Manuela Bojadžijev: Das „Spiel“ der Autonomie der Migration. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5 (2011) 2, 139–145. 5 Vgl. Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations, Aldershot 2003. 6 Andrea Ploder: Widerstände sichtbar machen. Zum Potential einer performativen Methodologie für kritische Migrationsforschung. In: Paul Mecheril u. a. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive, Wiesbaden 2013, 141–156, hier 147.

Anda Nicolae-Vladu Ruhr-Universität Bochum, Institut für soziale Bewegungen, Clemensstr. 17–19, 44789 Bochum, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 239–241 Michael Schäfer, Swen Steinberg, Veronique Töpel (Hg.) Sachsen und das Rheinland. Zwei Industrieregionen im Vergleich (Veröffentlichungen des Sächsischen Wirtschaftsarchivs, Reihe: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens 14), Leipzig: Universitätsverlag, 2021, 262 S., ISBN 978-3-96023-321-3, 39,00 EUR. Sachsen und das Rheinland gehörten in der Frühneuzeit zu den gewerblich entwickelten Regionen im deutschsprachigen Raum. Beide schafften den Sprung in das Industriezeitalter, indem sie ihre vorindustriellen Gewerbetraditionen nutzten und so mit Elberfeld und Chemnitz jeweils ein ‚deutsches Manchester‘ hervorbringen konnten. Es ist deshalb naheliegend, diese beiden Pionierregionen der Industrialisierung auf dem europäischen Kontinent vergleichend zu untersuchen. Wenn ein solcher Vergleich bisher nur selten versucht worden ist, zeigt das aber auch, wie schwie-

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rig ein solches Unterfangen ist. Denn Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistoriker mit einem starken regionalhistorischen Interesse forschen entweder über Sachsen oder über das Rheinland. Es ist deswegen eine besondere Herausforderung an die Autoren eines solchen Bandes, sich für ihren Beitrag in den Forschungsstand zu der jeweils anderen Region einzuarbeiten. Oder es ist die für die Herausgeber nur schwer lösbare Aufgabe, zwei Autoren für ein Thema, getrennt für Sachsen und das Rheinland, auf Kriterien festzulegen, nach denen sie ihren Beitrag strukturieren, sodass in einem Herausgeberkapitel der Vergleich durchgeführt werden kann. Wer mit einer solch hohen Erwartung an diesen, auf den Beiträgen zu einer gleichnamigen Tagung im Jahr 2018 fußenden Sammelband herangeht, wird enttäuscht werden. Nur wenige Autoren behandeln beide Regionen halbwegs gleichgewichtig und Vergleichskriterien scheinen die Herausgeber nicht vorgegeben zu haben. So ist ein Band entstanden, der recht disparat daherkommt, aber einige sehr gute, einige gute und auch einige weniger gute Beiträge enthält, was ja bei Sammelbänden nichts Ungewöhnliches ist. Sehr gut gefallen haben mir die Beiträge von Ebeling/Gorißen und Pfister/Kopsidis. Beide Aufsätze sind komparativ angelegt, wobei allerdings Ebeling/Gorißen verschiedene Regionen im Rheinland vergleichen. In den Mittelpunkt stellen sie den Wandel des Institutionengefüges zwischen dem Ancien Regime, der französischer Besatzungszeit und der Eingliederung nach Preußen. Untersucht werden das Bergische Land mit seinem hochentwickelten Textil- und Metallgewerbe, die Aachener Region sowie das Textilgewerbe am Niederrhein mit den Zentren Krefeld und Rheydt. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist vielleicht, dass die (erfolgreiche) Suche nach Äquivalenten für die gewerblichen Institutionen des Ancien Regime wichtiger war als die technischen Innovationen – zumindest in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Bedauerlich ist hier vor allem, dass es nicht gelungen ist, einen Beitrag zu den unterschiedlichen sächsischen Gewerberegionen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert einzuwerben. Michael Schäfer hätte das wahrscheinlich gekonnt, aber leider beschränkt er sich in seinem erstaunlich knappen, aber ansonsten durchaus gelungenen Beitrag auf das frühe 19. Jahrhundert und die textilgewerblich geprägte Region um Chemnitz und Glauchau. Hier wurde eine Chance verpasst, auch wenn ein informativer Beitrag zum Vogtland von Frank Luft dieses Manko ein wenig ausgleichen kann. Sachsen und das Rheinland waren im 19. Jahrhundert zwar in erster Linie industriell geprägte Regionen, die aber auf ein überproportionales Wachstum des Agrarsektors angewiesen waren, weil immer weniger landwirtschaftlich tätige Menschen immer mehr Menschen außerhalb des Agrarsektors ernähren mussten. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, versuchen die Autoren anhand der Forschungsliteratur und eigener Forschung einen annähernd gleichgewichtigen Regionenvergleich. Auch wenn das Rheinland weitgehend auf den Niederrhein begrenzt wird, ist das nicht nur ein hoher Anspruch, sondern die Autoren werden diesem Anspruch auch gerecht, was mit Blick auf die ausgesprochen schlechte Literaturlage zur rheinischen Landwirtschaft ganz erstaunlich ist. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass es besonders die rasch steigende Nachfrage der entstehenden (Industrie-)Städte und nicht die institutionellen Reformen gewesen sind, die für das Wachstum des agrarischen Outputs verantwortlich waren. Aber eine These hat mich dann doch irritiert. So wird das Entwicklungsmodell im Rheinland als durch hohe Löhne und eine leichte Verfügbarkeit von Energie geprägt beschrieben, während

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für Sachsen das Gegenteil behauptet wird, also niedrige Löhne und knappe fossile Energieträger (62). Die Lohnthese belegen die Autoren, die Energiethese aber nicht. Vor allem aber widersprechen die Autoren den Beiträgen von Schäfer sowie von Nora Thorade (über die Bedeutung der Steinkohle für die Industrialisierung in den Regionen Aachen und Zwickau), die meines Erachtens zu Recht feststellen, dass sich das Gewerbe in Sachsen dank „günstiger Steinkohle“ (136, 254) gut entwickeln konnte, wobei Thorade außerdem noch feststellt, dass vor der Nutzung der Zwickauer Steinkohle für gewerbliche Zwecke, in Sachsen Holz reichlich und preisgünstig verfügbar war. Dieser Widerspruch hätte den Herausgebern auffallen und an die Autoren vor der Publikation zur Klärung weitergereicht werden müssen. Gelungen ist auch der Beitrag von Ulrich Soénius, der die Bedeutung der Leipziger Messe für rheinische Unternehmer im 19. Jahrhundert untersucht. In dem Beitrag bleiben zwar viele Fragen offen, was der Autor auch freimütig einräumt. Aber diese Verbindung zwischen den zwei gewerblich entwickelten Regionen dürfte dennoch besonders für die Textilindustrie nicht zu unterschätzen sein. Denn im Rheinland gab es keinen vergleichbaren Messeplatz. Stärker sozialhistorisch ausgerichtete Beiträge zur Protoindustrialisierung (Sebastian Müller) und der Frühindustrialisierung (Manuel Schramm) finden sich in diesem Band zwar auch, aber obwohl beide für sich genommen durchaus lesenswert sind, leiden sie darunter, dass es in diesem Band kein rheinisches Gegenstück gibt. Sie hängen damit ein wenig in der Luft. Trotz meiner kritischen Anmerkungen habe ich durch die meisten Beiträge viel gelernt und wenn man keinen kohärenten Band erwartet, sondern einen, der den Forschungsstand (oftmals ergänzt durch eigene Forschung) zu einzelnen Aspekten der Proto- und Frühindustrialisierung in Sachsen und dem Rheinland zusammenfasst, lohnt sich die Anschaffung durchaus – zumal der Preis des Bandes alles andere als prohibitiv ist. Prof. Dr. Dieter Ziegler Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 241–243 Oswald Überegger Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920 Paderborn: Brill/Ferdinand Schöning, 2019, VIII + 242 S., 21 sw. Abb., 5 sw. Karten, ISBN 978-3-506-70256-2, 34,90 EUR. Mit den Waffenstillstandsverträgen des Novembers 1918 wird gemeinhin das Ende des Ersten Weltkriegs datiert. In vielerlei Hinsicht war dieser Krieg aber – wenn man nicht überhaupt das Diktum von der ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts bemühen möchte – zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht vorbei. Millionen waren über den Kontinent versprengt, litten an Hunger oder

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an Kriegsverletzungen und hatten ihr Hab und Gut verloren. Mangel herrschte auch an Gewissheit über die nahe Zukunft. Ebenso prekär wie die Versorgungslage waren die politischen Grenzen und staatlichen Zugehörigkeiten. Es war eine Zeit widersprüchlicher Hoffnungen und Vorstellungen – zwischen Lethargie, Niedergeschlagenheit und Enthusiasmus. Erst die mit erheblicher Verzögerung in Kraft tretenden Pariser Vorortverträge von 1919/20 formalisierten eine sich bereits seit den letzten beiden Kriegsjahren abzeichnende tiefgreifende territoriale und politische Neuordnung Europas, die nicht zuletzt aus der Desintegration der Habsburgermonarchie resultierte. Im Zuge dieser territorialen Neuordnung wurde der südliche Teil des ehemaligen österreichischen Kronlandes Tirol  – die späteren italienischen Provinzen Trient und Bozen – im Oktober 1920 formalrechtlich durch Italien annektiert und von der jungen Republik Österreich, die zumindest auf das deutschsprachige Südtirol Anspruch erhob, abgetrennt. Zu diesem Zeitpunkt endete auch die italienische Besatzung in Nordtirol. Schon wesentlich früher, Anfang November 1918, hatte in Bregenz eine Landesversammlung Vorarlberg zum selbständigen Land erklärt. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre werden, wie Oswald Überegger, Zeithistoriker an der Freien Universität Bozen, in seiner Monografie „Im Schatten des Krieges“ von 2019 einleitend treffend feststellt, in der einschlägigen landes- und regionalgeschichtlichen Literatur zumeist auf wenigen Seiten abgehandelt. Der Fokus liegt dabei in der Regel auf den staats- und landesrechtlichen Veränderungen – nicht zuletzt auf dem (österreichischen) ‚Verlust Südtirols‘ – während gesellschaftshistorische Aspekte des Nachkriegs meist nur wenig Beachtung finden. Überhaupt wurde der unmittelbare Nachkrieg von der Tiroler Regionalgeschichtsforschung bislang kaum als eigener Zeitabschnitt wahrgenommen. In seiner konzisen Studie unternimmt Überegger den überaus gelungenen Versuch, diesen Zeitabschnitt vom Beginn des letzten Kriegsjahrs bis zum Ende des Jahres 1920 in sechs Kapiteln zu vermessen. Sein Forschungsinteresse liegt dabei auf Aspekten der Alltags- und Gesellschaftsgeschichte, wobei Überegger auch die politischen Überlegungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene eingehend berücksichtigt. Besonders geglückt ist die Entscheidung, die Untersuchung nicht erst mit dem Waffenstillstand, sondern bereits mit Jahresbeginn 1918 einzusetzen. Durch die Hereinnahme der letzten Kriegsmonate wird deutlich, dass auch der Nachkrieg nicht abrupt begann und vieles, das für die Nachkriegsjahre prägend wurde, bereits früher seinen Ausgang nahm. So etwa die im gesamten Reich wahrnehmbare zunehmende soziale und politische Desintegration, die sich in der Spätphase des Krieges auch in der Region Tirol zeigte. Hauptverantwortlich war dafür, wie Überegger überzeugend darlegt, die Politik des kaiserlichen und königlichen (k. u. k .) Militärs. Der südliche Landesteil litt als unmittelbares Kriegsgebiet und nachgelagerte Etappenzone besonders stark. Requirierungen, Verwüstungen und Übergriffe auf die eigene Zivilbevölkerung standen auf der Tagesordnung. Dazu kam die gravierende Unterversorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Die italienischsprachige Bevölkerung litt zudem unter der chauvinistischen Nationalitätenpolitik der Armeeführung. Auch Stadt- und Landbevölkerung standen in zunehmendem Gegensatz zueinander und zwischen Bauernvertretern und Militärführung kam es zu offenen Konflikten. Gleichzeitig nahmen antisemitisch und antisozialistisch unterfütterte Ressentiments gegen nichtdeutsche Nationalitäten und die Zentralstellen zu. Erzherzog Joseph,

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Kommandant der Heeresgruppe Tirol, beklagte im Sommer 1918 eine „geradezu militärfeindliche Gesinnung“ der Tiroler Bevölkerung (39). Aber auch in der Armee nahmen Desertionen und Verweigerungen am Tiroler Frontabschnitt in den letzten Kriegsmonaten massiv zu. Das Kriegsende im November 1918 war folglich in sozialer Hinsicht „keine wirkliche Zäsur“ (137), da diese Konflikte und ihre Folgen nicht abrupt endeten, sondern eher noch zunahmen, und die Versorgungslage sich nicht besserte. Die politischen Umwälzungen des Nachkriegs deutet Überegger konsequenterweise weniger als „Revolution“, sondern vielmehr als „letzte Eskalationsstufe einer längerfristigen Entwicklung popularen Protestes“ (48). In Vorarlberg drückte sich dieser Volksprotest in Form einer von unten organisierten Anschlussbewegung an die Schweiz aus. Nicht minder utopisch und nicht zu verwirklichen war die in Innsbruck von Teilen der neu entstandenen Tiroler Volkspartei kolportierte Idee einer Tiroler Eigenstaatlichkeit. In Südtirol dagegen, das eine wesentlich umfassendere Form der italienischen Besatzung erlebte, verbreitete sich eine „lethargische Depression“ (60). Nichtsdestotrotz war es auch in der Region eine Zeit der Demokratisierung – etwa durch die Abschaffung des alten Kurienwahlrechts. Allein an den politischen Machtverhältnissen änderte das wenig: In allen vier ehemaligen Landesteilen blieben die katholisch-konservativen Parteien bei den Nachkriegswahlen die weitaus stärkste politische Macht. Die Sozialdemokratie blieb, trotz partieller und temporärer Zuwächse, unbedeutend – vor allem in Südtirol. Das deutschnationale Lager verlor durch das neue Wahlrecht sogar an Mandaten, auch wenn großdeutsche Ideen insgesamt an Popularität gewannen. In Tirol und Vorarlberg schürten konservative Eliten die bereits während des Kriegs aufgekommenen Ressentiments gegen Wien. Innsbruck entwickelte sich in den Folgejahren zur politischen Antipode der Bundeshauptstadt. Projektionsfläche für politische Erlösungshoffnungen wurde immer mehr der große Nachbar Deutschland. Als politisches Charakteristikum und unmittelbarere Folge der Landesteilung sieht Überegger den schon damals einsetzenden ausgeprägten Fokus auf Regionalautonomie und Föderalismus. So wurden im Trentino rasch Stimmen laut, welche die Integration in den italienischen Staat weniger als Befreiung, sondern vielmehr als Kolonisation deuteten. Die Südtiroler Autonomiehoffnungen, die ohnedies schon bedeuteten, dass man sich mit dem worst-case-Szenario begnügen wollte, blieben 1920 unerfüllt. Sämtliche Verhandlungen scheiterten. Oswald Übereggers Studie ist ein bedeutendes Werk zur jüngeren Tiroler Regionalgeschichte. Das Buch trägt viel zum Verständnis bei, weshalb der Erste Weltkrieg insbesondere in Südtirol und im Trentino als kommunikativer Bezugspunkt spürbar präsent geblieben ist. Ein besonderes Verdienst ist, dass Überegger nicht nur die Entwicklungen in Bozen und Innsbruck in den Blick nimmt, sondern auch das Trentino und Vorarlberg konsequent mitberücksichtigt. Dr. Nikolaus Hagen Universität Innsbruck, Institut für Zeitgeschichte, Innrain 52d, 6020 Innsbruck, Österreich, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 244–245 Christian Faludi, Marc Bartuschka (Hg.) „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920 Wiesbaden: Weimarer Verlagsgesellschaft, 2020, 408 S., sw. Abb., ISBN 978-3-7374-0281-1, 18,00 EUR. Am 23. April 1920 verabschiedete die Nationalversammlung in Berlin das Reichsgesetz „betreffend das Land Thüringen“, das einen Zusammenschluss der bis dahin unabhängigen Länder Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen und Reuß vorsah. Wenige Wochen später erließ daraufhin der bereits Ende 1919 gebildete Volksrat von Thüringen eine Verfassung des neuen Landes. Zum vorläufigen Abschluss gekommen war damit ein Einigungsprozess, der mit längerer Vorgeschichte nach der Revolution 1918 an Fahrt aufgenommen hatte und mit der Schaffung Thüringens die territoriale Ordnung einer Region reformierte, die lange Zeit als Paradebeispiel für den ‚Flickenteppich‘ der deutschen ‚Kleinstaaterei‘ galt. Das hundertjährige Gründungsjubiläum Thüringens nimmt der vorliegende Band zum Anlass, um einen detaillierten Blick auf diesen Einigungsprozess, seine Hintergründe und Folgen – gerade auch aus der Perspektive der einzelnen, sich zusammenschließenden Freistaaten  – zu werfen. Das Ziel des Bandes ist dabei, einerseits eine Synthese des Forschungsstandes vorzulegen, andererseits auch bislang wenig bekannte Aspekte des Themas zu beleuchten. Die im Titel des Bandes genannte „engere Heimat“ rekurriert im Übrigen auf eine Rede des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, in der die Verbundenheit mit der engeren Lebenswelt im Einzelstaat als eine Voraussetzung für die Arbeit an den Interessen des Reiches als der „großen Heimat“ dargestellt wurde. Der Band gliedert sich in zwei größere Teile. Im ersten, politisch-territorial strukturierten Teil werden die Ereignisse und Prozesse der Jahre um 1920 für die einzelnen Kleinstaaten nachgezeichnet. Dabei kommen die jeweiligen politischen Konstellationen sowie die entscheidenden Akteure im Zusammenhang mit den Einigungsbestrebungen in den Blick. So erscheint Sachsen-Weimar-Eisenach mit dem Staatsminister Arnold Paulssen als „Motor des Zusammenschlusses“ (29), da in Weimar nicht nur der Volksrat als Vorparlament tagte und die neue Landesverfassung ausgearbeitet wurde, sondern die Ilmstadt auch die Hauptstadt des neuen Thüringens werden sollte. Mit dem schon 1919 erfolgten Zusammenschluss der beiden Reußischen Freistaaten (sogenannte ältere und jüngere Linie) zum neuen Volksstaat Reuß stand ein organisatorisches Vorbild en miniature für die Bildung Thüringens 1920 zur Verfügung. Ohne größere Konflikte scheint die Entscheidung für die Aufgabe der Eigenständigkeit auch in den beiden schwarzburgischen Staaten erfolgt zu sein. Größere Auseinandersetzungen gab es hingegen in Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, zum einen wegen der Befürchtung, im neuen Thüringen zu sehr an den Rand gedrängt zu werden, zum anderen aufgrund starker Rechtsparteien, die den angestrebten Zusammenschluss auf demokratischer Grundlage torpedierten. Wichtig ist zudem der Blick in die Territorien, die sich dem neuen Land nicht anschlossen. Das betrifft zunächst Sachsen-Coburg, wo die Konkurrenz zum nördlichen Landesteil Sachsen-Gotha so groß war, dass man sich nach einer

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Volksabstimmung mit eindeutiger Mehrheit dem Freistaat Bayern anschloss. Aber auch der Blick in das ‚preußische Thüringen‘, das heißt vor allem den Regierungsbezirk Erfurt der preußischen Provinz Sachsen, ist aufschlussreich, da hier nicht nur Vorbehalte der preußischen Zentralregierung eine Angliederung an das entstehende Thüringen verhinderten, sondern offenbar auch ein ausgeprägtes Preußenbewusstsein innerhalb der Bevölkerung anzutreffen war. Am Übergang vom ersten zum zweiten Teil des Bandes steht ein Aufsatz zur Begriffsgeschichte von ‚Großthüringen‘. Dieser hätte gut – um Bemerkungen zur Historizität der allgemeinen Idee ‚Thüringen‘ erweitert – am Beginn des Bandes stehen können, um Vorstellungen von der Einheit eines thüringischen Raumes eine tiefere geschichtliche Grundlage zu verleihen (und einer im Band mitunter etwas essentialistisch daherkommenden Vorstellung von Thüringen vorzubeugen). Die übrigen Beiträge des zweiten Teils behandeln verschiedene Themen zur Politik, Gesellschaft und Religion in Thüringen in den Jahren um 1920. Hierin geht es etwa um den Vereinigungsprozess der Landeskirche(n), um die Abfindungen der ehemaligen Landesherren, um die Entwicklung der Parteienlandschaft, um die Bedeutung des Volksrats als Vorparlament und um die Genese der Landesverfassung. In all diesen Aufsätzen werden gesamtthüringische Kontexte für die Entstehungszeit des Landes kompetent beleuchtet. Eine Zusammenstellung von zwölf Kurzbiografien der wichtigsten Akteure der Landesgründung beschließt den Band. Insgesamt bietet das schlicht ausgestattete und daher preiswerte Buch eine sehr gelungene, informative und größtenteils gut lesbare Geschichte der thüringischen Landesgründung und ihrer Rahmenbedingungen. Nur wenig sei kritisch angemerkt, etwa die sich mitunter wiederholenden Angaben zu allgemeinen Hintergründen der im Einzelnen beschriebenen Entwicklungen. Auch hätte die eingangs aufgeworfene Frage, welche Identitätsangebote des neuen Landes Thüringen von den Bewohnern rezipiert oder abgelehnt wurden, noch systematischer in den Blick genommen werden können. Es bleibt schließlich noch eine Aufgabe der vergleichenden landeshistorischen Forschung, den hier detailliert analysierten Fall Thüringen in eine allgemeine Geschichte der territorialen Neugliederungsdebatten in der Weimarer Republik (und darüber hinaus) einzuordnen. Prof. Dr. Michael Hecht Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Institut für Landesgeschichte, Richard-Wagner-Straße 9, 06114 Halle a. d. S., Deutschland, [email protected]

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Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), 246–248 Wolfgang Mährle (Hg.) Württemberg und die Deutsche Frage 1866–1870. Politik – Diskurs – Historiografie (Geschichte Württembergs. Impulse der Forschung 5), Stuttgart: W. Kohlhammer, 2019, 293 S., 15 farb. Abb., ISBN 978-3-17-037530-7, 25,00 EUR. Die Phase zwischen dem Deutschen Krieg von 1866, bei dem das Königreich Württemberg an der Seite Österreichs und somit gegen das siegreiche Preußen gestanden hatte, und dem DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71, in dem die Württemberger dann die Preußen unterstützt haben, war in den deutschen Landen von einer zentralen Frage dominiert, die einer Antwort harrte und letztlich mit der kleindeutschen Lösung unter preußischer Ägide zu einem vorläufigen Abschluss gelangen sollte. Im Kontext dieser von den Zeitgenossen umfassend erörterten Deutschen Frage, die immerhin nicht weniger als die politische Grundausrichtung eines im Entstehen begriffenen Nationalstaates fokussierte, gab es auf kleinräumlicher Ebene viele weitere Fragen, zu denen etwa im Norden die Schleswig-Holsteinische Frage zählte. Ein knapper Exkurs sei gestattet: Die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein, die bis 1864 Teil des Dänischen Gesamtstaates waren – während Holstein darüber hinaus dem Deutschen Bund angehörte –, wurden nach einem österreichisch-preußischen Intermezzo im Januar 1867 tatsächlich, und zumal in der festen Verbindung als „Schleswig-Holstein“, eine Provinz des Königreiches Preußen. Im wirkmächtigen Organ der seit 1858 bestehenden „Preußischen Jahrbücher“1 hatte sich etwa auch Heinrich von Treitschke zur Schleswig-Holsteinischen Frage zu Wort gemeldet.2 Zurück oder weiter zum deutschen Südwesten: In der Zeitschrift, die sich auf inhaltlicher Ebene ausdrücklich nicht auf Preußen beschränkte, fand Württemberg ebenfalls Erwähnung. So erschien 1866 der pro-preußische Beitrag „Würtemberg [sic!] und die Bundeskatastrophe“,3 nach dessen Veröffentlichung der württembergische Kultusminister gegen den (anonymen) Verfasser, den Historiker Reinhold Pauli, ein Disziplinarverfahren einleitete; 1870 wurde der aus unbekannter Feder stammende Artikel „Württemberg und das deutsche Verfassungswerk“4 publiziert. Wenngleich die damals von Treitschke (und Wilhelm Wehrenpfennig) verantworteten „Preußischen Jahrbücher“ mit dem vorstehend genannten Blick auf Württemberg in dem von Wolfgang Mährle herausgegebenen Band unberücksichtigt bleiben, so gelingt es dem hier angezeigten Werk, die Vorgänge und seinerzeitigen Stimmen sowie Stimmungen einzufangen und einen wirklich wichtigen Beitrag zur vielfach in den Hintergrund gedrängten Deutschen Frage zu leisten. Nach der von Mährle erbrachten Einführung (7–9), in der dieser herausstellt, dass ebenjenes Schicksal Württembergs und der deutschen Territorien 1866 noch keineswegs in Stein gemeißelt war, bettet Gabriele Clemens zunächst die nationalen Diskurse in die größeren europäischen Zusammenhänge des 18. und 19. Jahrhunderts ein (11–34). Speziell wendet sie sich den Entwicklungen in Frankreich und Italien zu, um hierbei die jeweiligen Akteure, ihre Ideen und die Ergebnisse zu beleuchten. Eine bedeutsame „Möglichkeit der Herstellung nationaler Identitäten“ (33) sei, „die Historiographie zu instrumentalisieren“ (ebd.) – dies könne in Sonderheit für Preußen nach-

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gewiesen werden, wobei Clemens beispielsweise an das in Schulbüchern vermittelte Geschichtsbild erinnert. Der württembergischen Außenpolitik in den späten 1860er Jahren widmen sich sodann zwei Aufsätze: Jürgen Müller skizziert die Annäherung an das Königreich Preußen (35–48), um das bereits seit dem 13. August 1866 bestehende (geheime) Schutz- und Trutzbündnis zwischen den beiden Vertragsparteien zu betonen. Generell habe es jedoch abseits des Preußen-Zuspruches „im Hinblick auf die außenpolitische Positionierung einen großen Dissens innerhalb der politischen Öffentlichkeit“ (46) gegeben. Den in Berlin residierenden württembergischen Gesandten Carl Freiherr Hugo von Spitzemberg rückt Nicole Bickhoff in den Mittelpunkt (49–62). Dieser habe als heimatverbundener Diplomat, wie auch sein Schwiegervater, bei dem es sich um den einflussreichen Minister Karl von Varnbüler handelt, das oberste Ziel verfolgt, „sich so wenig wie möglich, aber so eng wie nötig an Preußen und den Norddeutschen Bund anzulehnen“ (57). Mit dem Königreich Bayern und der Beziehung zu Württemberg befassen sich wiederum zwei Beiträge: Gerhard Hetzer schildert die süddeutsche Lage mit dem projektierten, aber nicht realisierten Südbund (63–91), der – nach dem Ende des Deutschen Bundes – ein Pendant zum Norddeutschen Bund, aus dem schließlich und bekanntermaßen das Deutsche Reich hervorging, hätte sein sollen. Aufmerksamkeit verdienen ferner der Deutsche Zollverein und die Reichsgründung, der sich Bayern und Württemberg trotz aller Einzelinteressen nicht verweigerten. Die militärische Situation in den beiden süddeutschen Königreichen betrachtet in der Folge Dieter Storz (93–127), wobei er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie konkret die Reformen einer kritischen Analyse unterzieht. Das spätere Reichsheer sei nicht nur eine „bloße Erweiterung des preußischen“ (126), sondern gleichermaßen geprägt von „eine[m] im europäischen Kontext einzigartigen Binnenpluralismus“ (ebd.), da die bayerischen und württembergischen Armeen „formal weiter bestanden und eine eigene Verwaltung mit Kriegsministerien besaßen“ (127). Wie sich die Landeskirche in Württemberg in Bezug auf die Deutsche Frage positionierte, beschreibt danach Tilman M. Schröder (129–154) anhand ausgewählter Glaubensvertreter, ehe sich auf der kommunalpolitischen Ebene Michael Wettengel mit Ulm (155–184) und Michael Hoffmann mit Ellwangen (185–218) beschäftigen. Die drei quellengesättigten Einzeldarstellungen vermögen ein vielschichtiges Bild der Zeit mit ihren zahlreichen Diskussionen zu zeichnen. Vor allem belegen die Ausführungen, dass Preußen und die Reichsgründung im Südwesten keineswegs unumstritten waren und sich die Stimmung oft zwischen „Preußenverehrung und Preußenverdammung“ (144) bewegte. Am konkreten Beispiel lasse sich konstatieren: „Die Gruppe derjenigen, die vorbehaltlos die Reichseinigung von 1871 begrüßten, blieb in Ellwangen minoritär“ (218). Nachfolgend werden zwei im Rahmen des Themas relevante Monographien älteren Datums genauer vorgestellt: Michael Kitzing setzt sich mit Adolf Rapps Standardwerk „Die Württemberger und die nationale Frage 1863–1871“ von 1910 auseinander (219–239), während Tobias Hirschmüller die siebenbändige und zwischen 1889 und 1894 von Heinrich von Sybel vorgelegte Ausgabe der „Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ aus württembergischer Sicht unter die Lupe nimmt (241–270). Hinsichtlich der Lesart ist anzumerken, dass Rapp 1880 in Stuttgart zur Welt gekommen ist und der Historiker seine wissenschaftliche Heimat (mit Promotion, Habilitation und außerplanmäßiger Professur) in Tübingen fand. Den mit Preußen verbandelten

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von Sybel interessierte Württemberg in seinem Opus hingegen nur am Rande; das Königreich im deutschen Südwesten habe, was bei dem Scheinwerferlicht auf den „preußischen Hauptakteur“ (269) wenig überrascht, „keine signifikante Bedeutung“ (ebd.). Und wo es doch erwähnt wird, müsse gelten: „Sybel war durchaus bereit, die Konflikte zwischen Württemberg und Preußen anzusprechen, wenn auch der häufig angeführte Kritikpunkt, in seiner Arbeit die Geschehnisse in harmonisierender Weise wiederzugeben, hier zum Vorschein tritt“ (270). Dieter Langewiesche zieht ein prägnantes und gefälliges Fazit (271–282), indem er mit Blick auf das Königreich Württemberg und den rund um Preußen organisierten Norddeutschen Bund die Entstehung des Deutschen Reiches mit der 1861 erfolgten Nationalstaatsbildung in Italien vergleicht. Württemberg indes „konnte auf dem Weg in den Nationalstaat, den so kaum jemand im Land gewollt hatte, seine staatliche Existenz mitsamt dem Thron behaupten, weil der deutsche Nationalstaat in einer bündisch-föderativen Tradition stand“ (282). Den überaus lesenswerten Band, der insgesamt gut redigiert ist und nur wenige Fehler aufweist  – zu nennen sei an dieser Stelle, dass statt „proborrusischer“ (15) und „proborrussischen“ (34) die Grundform korrekt „proborussisch“ lautet –, beschließt dankenswerterweise ein Personen- und Ortsregister (285–292). Dem facettenreichen Werk zur Deutschen Frage und den Jahren von 1866 bis 1870/71 ist eine Leserschaft in Württemberg sowie explizit auch in den übrigen deutschen Landesteilen, vielleicht gar mit dem Resultat lohnender Folgestudien, zu wünschen. 1

sebastian haas: Die Preußischen Jahrbücher zwischen neuer Ära und Reichsgründung (1858– 1871). Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung einer Zeitschrift im deutschen Liberalismus (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 47), Berlin 2017. 2 heinrich von treitschke: Die Lösung der schleswig-holsteinischen Frage. Eine Erwiderung. In: Preußische Jahrbücher 15.2 (1865), 169–187; der Beitrag nimmt Bezug auf ludwig häusser: Sylvesterbetrachtungen aus Süddeutschland. In: Preußische Jahrbücher 15.1 (1865), 84–101. – Siehe im Weiteren auch heinrich von treitschke: Die Parteien und die Herzogtümer. In: Preußische Jahrbücher 16.4 (1865), 375–401. 3 [reinhold pauli:] Würtemberg und die Bundeskatastrophe. In: Preußische Jahrbücher 18.2 (1866), 177–189. 4 O. N.: Württemberg und das deutsche Verfassungswerk. In: Preußische Jahrbücher 22.6 (1870), 696–712.

Jan Ocker M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]

Jahrbuch für Regionalgeschichte

www.steiner-verlag.de Aufsätze Christian Porzelt Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724. Geschäftsbriefe als Ego-Dokumente und Quellen zur Regionalgeschichte LINA SCHRÖDER Einfluss durch Region und Stadtraum? Rathäuser und Kirchen als Beispiele vormoderner Infrastruktureinrichtungen im epochenübergreifenden Vergleich Jan Ocker Große und kleine Betriebe, gute und schlechte Zahlen sowie der „Fall Broszeit“. Einblicke in die Buchführungsund Steuerberatungsstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein (1920–1933)

ISBN 978-3-515-13521-4

9 783515 135214