Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 41 2006 9783484605633


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German Pages 253 [240] Year 2008

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Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 41 2006
 9783484605633

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INHALTSVERZEICHNIS

HELMUT PFOTENHAUER

Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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HELMUT PFOTENHAUER

Bücher-Biographie – Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BARBARA HUNFELD

Textwerkstatt – Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe und ihr Modell Hesperus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

PETRA ZAUS

Von Varianten und Variationen – Bd. II/9 Einfälle, Bausteine, Erfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

BIRGIT SICK

Jean Pauls nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte: Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

MICHAEL WILL

Jean Pauls (Un-)Ordnung der Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

MONIKA MEIER

»Heureusement« – Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

JÖRG PAULUS

Gerüchteküche und Geistergesprächswerkstatt – Zur Poetisierung des Skandalösen bei Jean Paul (am Beispiel einer Fußnote im Siebenkäs) . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

VI DOROTHEA BÖCK

Phantastische Epistel-Experimente: Poetische Biographik im Umfeld Jean Pauls . . . . . . . . . . . . . . .

131

JOCHEN GOLZ

Die historisch-kritische Edition von Goethes Tagebüchern am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar – Ein Erfahrungsbericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

GABRIELE RADECKE

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text – Editorische Überlegungen zu Theodor Fontanes Mathilde Möhring. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

JOHANNES JOHN

»Die wirkliche Wirklichkeit derselben …« – Zur Problematik und Praxis der Emendationen in Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften. . . . . . . .

205

RALF SIMON

Commercium und Verschwörungstheorie – Schillers Geisterseher und Jean Pauls Titan . . . . . . . . . . . . . . .

221

Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . .

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ANMERKUNG ZUR ZITIERWEISE

Die Werke Jean Pauls werden i.d.R. nach der Historisch-kritischen Ausgabe Eduard Berends (Sigle: SW, Beispiel: SW II/4,69) oder der bei Hanser erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Norbert Miller (keine Sigle, Beispiel: I/6,1037) zitiert. Dabei bezeichnet die römische Ziffer die Abteilung, nach dem Schrägstrich folgt die arabische Band- und, nach dem Komma, die Seitenzahl.

HELMUT PFOTENHAUER

EDITORIAL

Wie zu sehen, erscheint das Jahrbuch ab jetzt in einem anderen Verlag. Dies entspricht dem einhelligen Beschluß der Vorstandschaft unserer Gesellschaft und ihrer Mitgliederversammlung vom letzten Jahr. (Der Grund hierfür lag in Meinungsverschiedenheiten mit dem früheren Verlag über Ausstattung und Kosten des Jahrbuchs.) Ich hoffe, daß unseren Lesern das neue Jahrbuch aus dem renommierten Niemeyer-Verlag gefällt. Der Schwerpunkt des Jahrbuchs liegt in Fragen der Edition. Die JeanPaul-Gesellschaft hatte zu diesem Thema namhafte Experten zu einer Tagung eingeladen. Sie fand vor der letzten Jahresversammlung am 19. und 20. März in Bayreuth statt. Geladen waren sowohl Jean-Paul-Editoren als auch Editoren der Texte anderer Autoren. Es ging dabei um Möglichkeiten und Schwierigkeiten sog. genetischer Editionen, d.h. Ausgaben, die den Prozeßcharakter des Schreibens, die »Textwerkstatt« des Autors, wiedergeben und nicht einen Idealtext (Ausgabe letzter Hand), in dem das ständige Entwerfen und Weiterschreiben stillgestellt und unsichtbar geworden ist. Es liegt auf der Hand, daß gerade Jean Pauls schriftstellerische Eigenheiten, sein Schreiben als ein »work in progress«, ein solches Editionsverfahren verlangt. Aber auch den Schriften anderer Autoren ist dies angemessen. Mit folgendem Exposé wurde zu der Tagung eingeladen: Textwerkstatt – Die historisch-kritische Jean-Paul-Ausgabe im Kontext genetischer Editionen: Stand und Perspektiven der Jean-Paul-Edition stehen im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Tagung, die vom 19. bis zum 20. März 2005 in Bayreuth stattfinden wird. Die »Textwerkstatt«, zu deren Diskussion wir einladen, beschreibt die Edition und ihre Gegenstände gleichermaßen: Es geht um eine editionsphilologische Arbeit an und mit Texten, welche die literarische Schreibarbeit des Autors reflektiert. Die WerkstattMetapher zielt also auf ein Konzept von Edition, das nicht nur Texte konstituiert, sondern in seiner Methode die Schreibverfahren ihres Autors mitabzubilden sucht. Das Interesse an der Entstehungsgeschichte der Texte hat heute die Betrachtung in sich abgeschlossener »Werke« (in einem klassizistisch vorgeprägten, traditionellen Sinn) weitgehend abgelöst; dies gilt sowohl für die Forschung als auch für die neueren Editionen, die sich – ihren jeweiligen Gegenständen gemäß in unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität – als textgenetisch orientiert verstehen. Dafür ist Jean Paul

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Helmut Pfotenhauer

ein gutes Beispiel: In der jüngeren Forschung, die ihre Untersuchungen auf Ergebnisse der Nachlaß-Edition stützt, häufen sich jene Metaphern, die das Schreiben des eigenwilligen (Gegen-)Klassikers um 1800 als unermüdlichen Arbeitsprozeß kennzeichnen; von der Werkstatt, der Fabrik, dem Labor des Schreibens ist die Rede. Auch die JeanPaul-Edition hat sich, seit sie das Erbe Eduard Berends angetreten hat, zunehmend der Geschichte der Werke zugewandt, schon allein weil sie sich in Fortführung der Berendschen Nachlaß-Abteilung (HKA, Abt. II), mit der Edition der Nachlaßtexte unmittelbar jener »Werkstatt« widmet, aus der heraus sich die Werke entwickeln (derzeit in Arbeit: die Satiren und Ironien sowie die Bausteine, Einfälle, Erfindungen). Den Werkstattcharakter dieses Nachlasses bestätigen auch die Exzerpthefte, Ideen-Reservoir ihres Autors, das inzwischen erschlossen wird. Die Edition der Briefe an und im Umkreis von Jean Paul schließlich bietet ebenfalls wichtige Einblicke in den Schreibprozeß. Die Spuren der Schreib- und Textarbeit Jean Pauls offenzulegen und zu verfolgen liegt ganz grundsätzlich bei einem Autor nahe, der wie kaum ein anderer in seinen Texten das Schreiben von Texten selbst thematisiert. Davon zeugen die vielfachen Metaphern der Textarbeit, die Jean Paul selbst verwendet, sowohl im Nachlaß, der große, zum Teil noch unerforschte »Steinbrüche« und deren »Bausteine« enthält, als auch im gedruckten Werk, in und an dem unablässig vom Erzähler ›geschraubt‹ und »gebosselt« wird. Jean Pauls literarisches Werk ist von der tendenziell unabschließbaren Dynamik der Entstehung von Schrift aus Schrift bestimmt. Eine Fülle von Versatzstücken aus den Texten anderer, ob Enzyklopädien, Zeitschriftenartikel oder literarischen Werken, wird zu eigener Anverwandlung in speziellen Heften bereitgehalten. Große Handschriftenkonvolute tragen Einfälle, Vor- und Nachstudien zu Werken zusammen, die mit ihrer Publikation nicht abgeschlossen sind, sondern für weitere Auflagen oder neue Werkkontexte ummontiert werden. Es ist darum nur konsequent, daß die seit langem gewünschte Ausgabe der Werke Jean Pauls, die an die Stelle der aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht historisch-kritisch zu nennenden Berendschen Werk-Abteilung (HKA Abt. I) treten soll, nicht nur der Forschung und der Jean-Paul-Leserschaft eine verläßliche Textgrundlage bietet, sondern sich auch der »Textwerkstatt« jener nachgelassenen Materialien bedient, in der die Werke entstehen. Aus diesem Grund unternimmt der Pilotband der geplanten neuen Werkausgabe, die Edition von Jean Pauls Hesperus (in drei Auflagen erschienen 1795, 1798 und 1819), den Versuch, den Roman in den Kontext der Jean-Paulschen Schreibwerkstatt zu stellen. Dies betrifft sowohl die Dokumentation der bisher unveröffentlichten handschriftlichen Vorarbeiten und die synoptische Darstellung aller Druckvarianten, als auch einen Stellenkommentar, der, wo immer Werkstatt-Dokumente verfügbar sind, den Roman von Jean Paul selbst erläutern lassen möchte, im Sinne einer Selbstkommentierung des Autors. Die Erfahrungen anderer historisch-kritischer Ausgaben mit Problemen textgenetischer Darstellungsverfahren, sowohl im Hinblick auf die Textwerkstatt ihrer Autoren als auch (damit eng verbunden) auf ihre eigene editorische »Textwerkstatt«, sind der Jean-Paul-Ausgabe deshalb hochwillkommen. Die Editoren der Würzburger Jean-Paul-Arbeitsstelle laden deshalb Jean-PaulHerausgeber und Herausgeber anderer, unter diesem Aspekt vergleichbarer Werkausgaben zu der genannten Tagung im März 2005 ein.

Editorial

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Die Tagung wurde vom Präsidenten der Jean-Paul-Gesellschaft und seiner Mitarbeiterin, Barbara Hunfeld, die auch Editorin des Pilotbandes der geplanten neuen Jean-Paul-Ausgabe (Hesperus) ist, vorbereitet und geleitet. Frau Hunfeld ist deshalb auch Mitherausgeberin dieses Jahrbuchs. Neben den Editoren der verschiedenen Jean-Paul-Projekte (neue Werkausgabe, NachlaßAusgabe, Ausgabe der Briefe an und im Umkreis Jean Pauls), über deren Intention und Stand dieses Jahrbuch einen Überblick gibt, beteiligten sich Herausgeber von Schriften Goethes (Tagebücher, Faust), Stifters, Nietzsches und Fontanes. Leider konnten die Beiträge von Anne Bohnenkamp (Freies deutsches Hochstift, Frankfurt a.M.) zu einer geplanten historisch-kritischen Faust-Edition und von Martin Stingelin (Universität Basel) zur Edition von Nietzsches Arbeitsheften nicht rechtzeitig fertiggestellt und deshalb nicht in dieses Jahrbuch aufgenommen werden. Die Veranstalter danken dem Vizepräsidenten der Gesellschaft, Herrn Friedrich, und seinen Mitarbeitern herzlich für die Unterstützung bei der Durchführung der Tagung in Bayreuth. Die Tagung wurde erst möglich durch großzügige Unterstützung von Sponsoren. Sie seien hier mit Dank genannt: die Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und die Oberfrankenstiftung. Den Abschluß dieses Jahrbuchs bildet ein Vortrag, der nicht vom Thema dieser Tagung handelt, sondern im Anschluß an sie als Vortrag zur Jahresversammlung der Mitglieder der Jean-Paul-Gesellschaft gehalten wurde: Ralf Simons (Universität Basel) Überlegungen zu Jean Pauls Titan und Schillers Geisterseher. Würzburg, im November 2005

HELMUT PFOTENHAUER

BÜCHER-BIOGRAPHIE Einführung

»Kein Werk wurde von mir so oft – schon den 16. Nov. 1806 das erste mal – angefangen und unterbrochen als dieses Werkchen.«, heißt es am Anfang der Vorrede zum 1811 endlich erscheinenden Leben Fibels.1 Wie für das »Werkchen«, so gilt das auch für seine Vorrede, in welcher darüber räsoniert wird. Die Handschrift ist übersäht mit Varianten, zu welchen es wieder Vorarbeiten mit vielen Varianten gibt (Abb.1–3),2 so daß für den Editor, welcher vom Text der Erstausgabe zurückgeht zum Entstehungsprozeß, zur Handschrift, nachgerade der Eindruck entsteht, als überwuchere die Varianz den entstehenden Text. Am Anfang, buchstäblich am Anfang, war die Varianz. (Hier soll aber nicht der Frage der editorischen Darbietung dieser Varianz nachgegangen werden, sondern einer anderen, ebenso wichtigen: der Infizierung des Textes selbst, seiner Inhalte und Erzählstrategien, durch diese Varianz.) Der zitierte Anfang ist der Beginn derjenigen Schrift Jean Pauls, die sich am meisten mit sich selbst, mit dem Schreiben, mit dem Entstehen von Büchern befaßt.3 Und dies bei einem Autor, der wie kein anderer in seiner Zeit seine Texte zu Schauplätzen der Textgenese macht, ihr eigenes Entstehen ––––––– 1

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Jean Paul, Leben Fibels, hier nach Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Erste Abteilung, Bd.13, hg. von Eduard Berend. Weimar 1935, S.347. Anfang der Vorrede und Vorarbeiten; Fasz.17 des handschriftlichen Nachlasses der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Heft 4, Bl.1r und Bl.3v. sowie Bl.36r. (Eine Edition mit genauer Dokumentation des Entstehungsprozesses wird vorbereitet) Entsprechend aufmerksam und oft wurde dieser Vorgang der Selbstreferentialisierung des Skripturalen um 1800 in der Forschung denn auch bedacht; vgl. u.a.: Josef Fürnkäs, Aufklärung und Alphabetisierung: Jean Pauls ›Leben Fibels‹, in: JJPG 21 (1986), S.63ff., Caroline Pross, Falschnamenmünzer. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität der Ökonomie bei Jean Paul. Frankfurt a.M. u.a. 1977, Monika Schmitz-Emans, Das ›Leben Fibels‹ als Transzendentalroman: Eine Studie zu Jean Pauls poetischen Reflexionen über Sprache und Schrift, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 52 (1992), S.143ff. oder Uwe Wirth, Die Schreib-Szene als Editionsszene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls ›Leben Fibels‹, in: Martin Stingelin (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte (Zur Genealogie des Schreibens 1). München 2004, S.156ff.

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also in wechselnden fiktiven Einkleidungen ständig selbst reflektiert, und der in diesen Texten aus dem Entstehen auch nicht mehr herauszukommen scheint: Ständig wird umgeschrieben und fortgeschrieben, in Vor- und Nachreden, Digressionen, Extrablättern und dergleichen, ständig wird auf frühere Schriften Bezug genommen, auf die gigantische Sammlung der Exzerpte, der Bausteine, Einfälle, Erfindungen. Auch hier fließen solche Bausteine aus den Exzerpten ein: So ist von Bergmännlein die Rede (Abb.3), die in den Sprachgewölben still aber nachhaltig arbeiten und, wie der Autor, nicht die große Geschichte, nicht die Riesenkriege gegen Riesenschlangen auf Riesengebirgen kolportieren, sondern leise – narrativ unspektakulär gleichsam, aber semiotisch reflektiert und ästhetisch avanciert – in die Zukunft hinein handeln. Diese Keimzelle der Vorrede ist aus Exzerptbausteinen zusammengewürfelt.4 Ständig werden diese Exzerpte, Bausteine, Erfindungen, Einfälle in immer neuen Variationen in ihrem textgenetischen Potential aktiviert, lassen das Schreiben über die Ränder der Geschichten und der Werke hinausschießen und es zu einer Art »work in progress« werden. Die Textgenese bekommt, im Fibel zumal, programmatischen Eigenwert. Das Leben Fibels steht am Anfang von Jean Pauls Spätwerk.5 Dieses zeichnet sich aus durch die noch stärkere Verknüpfung der literarischen Projekte.6 Alles soll sich in allem spiegeln: die Gedankensammlung im Roman und der Roman im Zeitschriftenartikel, so daß eine im Grunde nicht mehr stillstellbare Textmaschinerie entsteht. Die bereits im früheren Werk sich abzeichnende Tendenz, die Textwerkstatt vor den fertigen Text, das fertige Werk zu stellen, verstärkt sich damit. Das Leben Fibels ist ein Buch über Bücher, über das Schreiben von Büchern. Es ist die fiktive Lebensbeschreibung eines Autors von Büchern, nämlich eben Fibels. Aber Fibel kommt von Bibel;7 und so ist es eigentlich die ––––––– 4

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Zu den Bergmännlein vgl. Fasz.IVa, Bd.21 (1810), zum Sprachgewölbe: Fasz.IIa, Bd.9 (1785); das Exzerpt von Fasz.IVa, Bd.21 ist wahrscheinlich entnommen aus: Geheimnisse der Geisterwelt, Magie und Alchemie, Frankfurt 1795. Für die Hinweise ebenso wie für die Transkription der einschlägigen Stellen danke ich Frau Sabine Straub, der Bearbeiterin der Exzerpthefte in der Würzburger Arbeitsstelle. Die Vorarbeiten enthalten bereits, so zeigen die Handschriften, erste Entwürfe zum Komet; vgl. dazu schon: Ferdinand Josef Schneider, Jean Pauls Altersdichtung. Fibel und Komet. Ein Beitrag zur litterar-historischen Würdigung des Dichters. Berlin 1901, S.90ff. Dazu Eduard Berend, Einleitung zu Bd.XV der HKA, S.Vff. Vgl. auch meinen Beitrag Das Leben schreiben – das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit, in: JJPG 35/36 (2000/2001), S.46ff. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd.3, E–Forsche. Leipzig 1862, Sp.1611ff.

Bücher-Biographie

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Lebensbeschreibung eines Buches, eine Bücher-Biographie. Genauer gesagt: nicht eines Buches, sondern des Buches, des Buchs der Bücher – um so mehr, als die Fibel, das ABC-Buch, der Bibel sogar noch vorausgeht, denn jeder Leser jenes Buches, der Bibel, muß dieses erst in der Hand gehabt und studiert haben, bevor er jenes lesen kann.8 Der Anfang, an dem sogleich die Varianz steht, ist also ebenfalls nicht ein Anfang, sondern der Anfang, die Urszene alles Schreibens. Das Leben Fibels ist ein Urszenenbuch der Textwerkstatt. In der »Vor-Geschichte« oder dem »Vor-Kapitel«, welches der Vorrede folgt, wird dargetan, wie dem fiktiven Verfasser die Lebensgeschichte seines Helden möglich wurde: durch eine vorgängige Lebenshistorie Fibels eines Magister Pelz in 40 Bänden, beginnend mit dem Band 1, den Fata Fibels im Mutterleib. Der Verfasser ersteht das, was davon übrig ist, von einem Bücherjuden – denn französische Marodeure haben das Werk zerfetzt, die Bewohner des Fibelschen Dorfes Heiligengut haben die Fetzen zum Teil aufgesammelt und daraus u.a. Papierfenster und Papierdrachen gemacht. Der Verfasser der Lebensgeschichte und Ich-Erzähler muß, will er weiterkommen, auch diese Fetzen einsammeln und neu zusammenleimen: das Werk – ein Papierdrache aus Papierdrachen. »Papierdrache« ist denn auch die Chiffre für jenes, die verschiedensten Textsorten zusammenleimende Spätwerk Jean Pauls.9 Vernetzung, so könnte man sagen, ist dessen Signatur. Nicht lineares Geschichten-Erzählen, am Zeitpfeil orientiert, allein macht es aus, sondern es wird von einem verräumlichenden Verfahren überlagert. Dies erinnert, wie Michael Will in einem Aufsatz über den »digitalen Drachen«, das Desiderat der digitalen Wiedergabe solcher Vernetzungen, gezeigt hat,10 an heutige Hypertext-Strukturen – ähnlich wie jene Ideenspeicher der Exzerpte, Einfälle, Bausteine, Gedanken, auf die Jean Paul, mittels Register zum Beispiel, ständig zurückgreift, heutige digitale Verfahren wie die Datenbank oder die Retrieval-Software vorwegzunehmen scheint. Jean Pauls Texturen, so könnte man sagen, fordern nachgerade moderne Editionsverfahren – textgenetisch ausgerichtet und digital gestützt. ––––––– 8

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Jean Paul spielt ständig mit diesem Doppelsinn von Fibel und Bibel, ja von seinem Fibel, der der Usurpation des Ursprungs alles Schreibens gar nicht mehr satt wird, gibt es sogar eine Biblia Fibelii (vgl. Vorgeschichte oder Vor-Kapitel). Vgl. zusammenfassend noch einmal meinen Beitrag im JJPG 2000/2001 [Anm.6] und mein Nachwort zu Jean Paul, Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. München 2004, S.462ff. Michael Will, Der elektronische Drache. Jean Paul digital, In: Rückert-Studien. Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V. 14 (2002), S.133ff. Vgl. auch Hans-Walter Schmidt-Hanissa, Lesarten. Autorschaft und Leserschaft bei Jean Paul, in: JJPG 37 (2002), S.35ff.

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Das Leben Fibels, so wurde gesagt, ist ein Buch über die Urszenen des Schreibens und das Werden der Bücher. Und die Varianz, so wurde gesagt, steht am Anfang. Dies gilt nicht nur für die Schreibprozesse, die beschrieben werden, sondern auch für deren Inhalte, für deren einzelne Resultate. Am Anfang des ABC-Buches, um das es geht in diesem Buch des Anfangens, steht wiederum, in einer Art mise-en-abyme, der Anfang: heils- oder unheilsgeschichtlich gesehen der Urvater aller Menschen, Adam, entwicklungsgeschichtlich gesehen der Vorfahre der Menschen, der Affe. Ursprünglich, so heißt es, hieß der den Anfangsbuchstaben A erläuternde Reim: »Der Adam gar possierlich ist, zumal wenn er vom Apfel frißt«.11 (Abb.4, ABC-Buch von 1809) Die Nacktheit Adams vor dem Sündenfall habe aber sittliche Bedenken hervorgerufen, so daß aus Adam ein mit seinem Pelz bekleideter Affe wurde. Man könnte auch sagen; Adam, mit einem Pelz bekleidet, wird zum Affen. Das adamitische Zeitalter des Einsseins mit der Natur und der unwillkürlichen Zeichensprache wird demnach abgelöst durch das nachparadiesische der Erkenntnis von Nacktheit und des Bewußtseins von der Verkleidung der Sachen durch die Zeichen. Es ist das Zeitalter der Autorschaft, des Schöpfers, der die Schöpfung auf eigene Verantwortung noch einmal denkt, willkürlich, ungeschützt durch eine göttlich garantierte Ordnung der Dinge. Fibel, der Autor schlechthin, der Ur-Autor, so heißt es, zieht diese zweite Schöpfung aus seinem Gehirn-Uterus hervor.12 Gotthelf heißt Fibel mit Vornamen, wird aber nur Helf genannt, so als wäre er von Gott verlassen worden. Und als zweiter Adam, der nach dem Sündenfall, hat auch er einen Pelz – eben jenen Magister Pelz, der ihn als Autor begleitet, animiert und schließlich seine Biographie schreibt. Nun wollten allerdings viele, so der Erzähler, daß man jenen Ursprung des Affen in Adam wieder sichtbar mache, daß man die erste, die ursprüngliche Lesart oder Variante des Anfangs wiederherstellte. Textkritik tritt in den Text ein – Textkritik auf der Grundlage der Rekonstruktion der Textgenese. Jean Pauls Leben Fibels ist also auch und sogar das noch: eine Allegorie der Textwerkstatt, die den Text und seine Genese rekonstruiert und darstellt; also nicht nur Textwerkstatt im Sinne jenes ›work in progress‹, jener Varianz des Schreibens, die das Werk und die Geschichte infiziert, sondern Textwerkstatt der Textwerkstatt – in dem Sinne, daß auch die historisch-kritische Wiedergabe der Resultate dieses Schreibens indirekt thematisiert wird. Die Biographie Fibels, des Autors und indirekt des Buches, mündet denn auch in eine ––––––– 11

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Vgl. Jean Paul, Leben Fibels [Anm.1], Kap.13, Papierdrache. Erfindung und Erschaffung des sächsischen Abc’s; hier S.410f. Ebd., S.405.

Bücher-Biographie

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biographische Akademie, welche die genetische Darstellung organisiert und systematisiert. Es kommt zu weiteren Ausstellungen am fertigen Werk, am ABC-Buch; die Möglichkeit weiterer korrupter Stellen wird erwogen. Einmal heiße es: »Der Jüde schindet arme Leut/ Das Jägerhorn macht Lust und Freud.«;13 hier habe der Jude, wie es sich gehört, sein J. An anderer Stelle jedoch liest man: »Des Ygels Haut voll Stachel ist/ Nach Yüdenkirschen mich gelüst«. Das J hat sich hier in ein Y verwandelt. Sei das textkritisch vertretbar, etwa aus der Not zu erklären, für den Buchstaben Y deutsche Wörter zu finden?14 Wie auch immer – Jean Pauls Texte haben es in sich. Sie haben in sich das Desiderat, in einer genetischen Textdarstellung und in einem textgenetisch ausgerichteten Kommentar ihrer Faktur entsprechend adäquat wiedergegeben zu werden. Der große Jean-Paul-Herausgeber des 20. Jahrhunderts, Eduard Berend, hat sein Leben in den Dienst dieser Aufgabe gestellt. Aber zeithistorische Umstände und konzeptionelle Entscheidungen beeinträchtigten dieses immense und bis heute beispiellose Lebenswerk. Als Jude wurde Berend von den Nationalsozialisten unterdrückt und verfolgt. Schon seine Ausgabe des Leben Fibels von 1935 trägt im Titel nicht mehr seinen Namen. Stattdessen drängt sich an die Seite der verantwortlich zeichnenden Preußischen Akademie der Wissenschaften eine »Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie)«. Wenig später mußte Berend Deutschland verlassen. Die geplanten Lesartenbände, die nach damaligem editorischen Standard die Varianz in Jean Pauls Texten dokumentieren sollten, blieben in Berlin und gingen dort im Krieg verloren. Sie können heute nicht mehr rekonstruiert werden. Berends editorische Entscheidung war es, den Richtlinien seiner Zeit folgend, das abgeschlossene Werk und, wenn es von diesem verschiedene Fassungen und Auflagen gab, die letzte davon als die den endgültigen Autorwillen repräsentierende Ausgabe letzter Hand in den Mittelpunkt zu stellen.15 Dadurch werden nicht nur die wirkungsgeschichtlich oft viel wichtigeren Erstausgaben bzw. andere zu Lebzeiten des Autors erschienene Auflagen ausgeklammert bzw. in einen separaten Lesartenband verbannt, sondern auch die Varianz als Nachlaß, als ästhetisch eigentlich Nachlassendes marginalisiert.16 Bei Berend sind es die ungemein ––––––– 13 14 15

16

Vgl. den Anhang ebd., S.529 und 534. Ebd., S.455: 21. Judas-Kapitel. Vgl. Zum Stand der Jean-Paul-Edition. Beiträge von Helmut Pfotenhauer, Thomas Wirtz, Ralf Goebel und Monika Meier, in JJPG 34 (1999), S.9ff. Vgl. Thomas Wirtz, Vom Nachlassen. Die Handschriften Jean Pauls in Berlin, in: JJPG 30 (1995), S.165ff.

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kundigen, aber doch auch höchst selektiven Einleitungen zu den Werken, in denen sie sich zu bloßen Vorstufen zurechtgestutzt wiederfinden. Sie umfassen im handschriftlichen Nachlaß in der Berliner Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz weit über zehntausend Seiten. Weil dieses Verfahren Berends nicht mehr den heutigen Editionsstandards entspricht, war es nur konsequent, daß Expertengremien, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach einberufen, in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschlossen, der von Berend begonnenen und fertigzustellenden Nachlaßausgabe (II. Abteilung) der Historisch-kritischen Ausgabe eine neue Werkausgabe (I. Abteilung) zur Seite zu stellen, die diesem, seine Textwerkstatt nachgerade ausstellenden Autor durch eine textgenetische Rekonstruktion mit den erst heute gegebenen elektronischen Möglichkeiten vollends gerecht werden soll. Um diese Arbeit an der Nachlaßausgabe, flankiert durch die an den Briefen an Jean Paul und im Umkreis Jean Pauls, und die neue Werkausgabe geht es im ersten Teil unserer Tagung. Dabei wird zweierlei deutlich werden: Zum einen finden sich in Jean Pauls Werk ganz unterschiedliche Textsorten und Schreibweisen. Bei weitem nicht alles ist von so großer Varianz geprägt, wie dies das einleitende Beispiel gezeigt hat. Vieles ist Fließtext mit nur relativ wenigen nachträglichen Änderungen. Diese lassen sich daher in einem lemmatisierten Apparat wiedergeben und bedürfen keiner komplizierteren textgenetischen Darstellungen wie Faksimile, diplomatischer Umschrift, integralem Apparat. Auch für das Leben Fibels, von dem auch ein Druckmanuskript von Jean Pauls Frau mit handschriftlichen Korrekturen Jean Pauls existiert,17 selbst gilt das. Für die Vorrede ist (wäre) jenes aufwendige textgenetische Verfahren mit integralem Apparat notwendig. Für andere Textpassagen mit geringer Varianz genügt(e) ein lemmatisierter Apparat. Denn auch innerhalb einzelner Texte eben wechselt die Schreibweise, und andere textgenetische Verfahren müßten diesem Befund gerecht werden. Zum anderen gilt für alle Werkteile, daß, wie bereits angedeutet, die sie begleitenden Materialien von enormen Umfang sind. Pragmatismus ist angesichts dieser beiden Umstände vonnöten. Nicht alles wird gleich aufwendig ediert und kommentiert werden können. Auswahl, die Konzentration aufs Paradigmatische sind notwendig. Die Hybrid-Ausgabe, die hier vorbereitet wird, macht es möglich, andere Partien der Handschriften als unkommentierte Transkriptionen elektronisch zu publizieren.

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Vgl. Eduard Berend, Einleitung zu Jean Paul, Leben Fibels [Anm.1], S.LXXXVIIIff.

Bücher-Biographie

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Noch mehr gilt dieses Prinzip der Verschiedenheit der genetischen Edition, wenn nicht nur verschiedene Textsorten eines Autors, sondern auch verschiedene Autoren in Betracht gezogen werden. Deshalb, um hier Erfahrungen zu sammeln und Erkenntnisse auszutauschen, haben wir, die Jean-PaulEditoren, Herausgeber anderer Editionen eingeladen – Editionen, die gemeinsam haben, daß sie nicht nur Werke, sondern auch Textwerkstätten dokumentieren wollen und deshalb selbst Textwerkstätten sind. In den Jahren 1989 bis 1991 fand im Jahrbuch der Schiller-Gesellschaft eine Diskussion über den Nutzen und Nachteil historisch-kritischer Editionen statt. Sie wurde unter dem provozierenden Titel »Dichterwerkstatt oder Ehrengrab?« geführt.18 Die Diskussion wurde von Ulrich Ott, dem damaligen Direktor des Deutschen Literaturarchivs, angestoßen, der seither die JeanPaul-Ausgabe mit Rat und Tat unterstützt hat und dies auch in Zukunft tun wird. Es ergab sich, trotz vieler Einwände, den hohen Kosten- und Zeitaufwand und den angeblichen Perfektionswahn solcher Editionen betreffend, doch ein gewisser Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit solcher Ausgaben als Grundlagenforschung geisteswissenschaftlicher und speziell literaturwissenschaftlicher Praxis. Grundlage, nicht nur insofern damit allererst das Material bereitgestellt wird, auf dem andere, interpretatorische Forschung aufbauen kann, sondern Grundlage auch insofern als solche Ausgaben die Autoren gewissermaßen erst »machen«. Denn je nachdem, ob man – an Jean Paul etwa – den Schreibprozeß akzentuiert, die literarischen Energien, die ihn speisen und strukturieren, oder gemäß einem noch klassizistisch ausgerichtetem Modell das fertige Werk, bekommt man beinahe, so könnte man überspitzt gesagt formulieren, verschiedene Autoren. Das eine Mal den eher modern anmutenden eines unaufhörlichen Schreibimpulses, das andere Mal den eines oft, eines zumindest hin und wieder Scheiternden, den Autor der nicht zu Ende gebrachten Werke. In jenen fünfzehn Jahren, die seit jener Diskussion vergangen sind, hat sich zweierlei getan: Die Editionsverfahren, besonders als textgenetische Darstellungen, haben sich entwickelt und die öffentlichen Gelder sind – noch – knapper geworden, oder sagen wir genauer: die Mittel sind knapper geworden, die die öffentliche Hand aufgrund politischer Entscheidungen für die Wissenschaften, speziell für die Geisteswissenschaften auszugeben bereit ist. Insbesondere die französische »critique génétique«, die sich nicht mehr auf den fertigen Text richtet, sondern auf den »avant-texte«, das Schreiben ––––––– 18

Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S.3ff., 34 (1990), S.395ff., 36 (1991), S.347ff.

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ohne Ende, hat, wie wir wissen, in den letzten Jahren die Editionsphilologie herausgefordert und zur forcierten Reflexion ihrer Entscheidungen gezwungen. Sie fürchtet die Herabstufung der Varianz zur bloßen Vorstufe in einem teleologischen, nur auf das geschlossene Werk hinauslaufenden Vorgang.19 Lemmatisierte Apparate, auch textgenetische Stufenmodelle wurden dadurch auf fruchtbare Weise problematisiert, wenn auch nicht einfach überflüssig gemacht. Das methodische Instrumentarium jedenfalls wurde erweitert und auf verschiedene Textsorten und Autoren in je unterschiedlicher Weise anwendbar gemacht. Umgekehrt proportional zu den gewachsenen Möglichkeiten – auch und nicht zuletzt durch die Unterstützung digitaler Speicherung, Darstellung und Vernetzung – scheint der kulturpolitische Wille, sie zu realisieren sich entwickelt zu haben. Von einem »Herunterfahren« der Bundes-Anteile an den Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben, nämlich der Unterstützung der Akademien der Wissenschaften bei geisteswissenschaftlichen Langzeitvorhaben, ist in der Sprache der Bürokraten die Rede.20 Die ehemalige Ministerin für bildungspolitische Bundesaufgaben sprach davon, daß, bevor solche Langzeitvorhaben weiter gefördert werden könnten, die Geisteswissenschaften erst einmal ihre eigentlichen Aufgaben erledigen müßten, nämlich die der Bereitstellung von Orientierungswissen, von Sinnstiftung.21 Man kann hier in einem exakten Sinne von Bodenlosigkeit sprechen. Eine Geisteswissenschaft wird aus der beschränkten Perspektive solcher Kultuspolitik ins Auge gefaßt, die ihre textuellen Grundlagen und deren textologische Erarbeitung preiszugeben hätte. Wir werden an dieser prekären Situation hier nichts ändern können, sondern uns auf den internen Wissensabgleich konzentrieren. Dennoch muß die nicht mit der Erarbeitung von Editionen befaßte, aber literarisch interessierte Öffentlichkeit auf diese Paradoxie von ständig wachsenden editorischen Ansprüchen und Möglichkeiten und ständig abnehmenden kulturpolitischem Engagement hingewiesen werden. Die Verzögerung, ja der Abbruch von zum Teil weit fortgeschrittenen Projekten und die damit verbundene materielle Existenzbedrohung der Mitarbeiter haben oft weniger interne Gründe als solche externe. Doch kehren wir noch einmal zum Leben Fibels zurück. ––––––– 19

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Vgl. zusammenfassend insbesondere Almuth Grésillon, Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«, dt. von Frauke Rother und Wolfgang Günther. Bern u.a. 1999. Vgl. den Artikel von Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ vom 14.1.2004, S.33. Vgl. den Artikel von Gustav Falke in der FAZ vom 31.10.2003, S.36.

Bücher-Biographie

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Magister Pelz, wie gesagt, der Biograph Fibels, schlägt die Gründung einer Akademie vor, um die Lebensbeschreibung des Autors institutionell abzusichern. Er hat dabei vor allem sein eigenes Auskommen und das seiner Mitarbeiter im Sinne. Das Werk ist auf unzählige Bände hin angelegt. Vierzig davon werden zunächst realisiert. Damit der Textwerkstatt der Stoff nicht ausgehe und das Projekt vor dem Lebensende Fibels und seiner Beschreiber zu Ende gehe, empfiehlt Pelz Fibel, sein Leben künstlich so einzurichten, daß es etwas zu schreiben abwerfe und sich dabei an andere, frühere Biographien zu halten. 22 Fibel weigert sich jedoch; zunächst bittet er sich pro Monat eine Woche aus, in welcher er so leben kann, daß das Leben nicht zur Schrift zu werden braucht. Dann endet das biographische Unternehmen ganz. Fibel überlebt Pelz. So sehen Satiriker gern die großen Projekte, die Biographien und Bücher-Biographien. Schon damals also konnte man damit aufs Ressentiment spekulieren, das sich dann im Verlachen Bahn bricht. Aber im Leben Fibels findet sich ein »Mit-Plutarch«23 Pelzens, ein Lebensbeschreiber, der das Projekt fortsetzt: jenes Erzähler-Ich, das man »Jean Paul« nennen kann und hinter dem – wenn auch in ironischer Distanz – Jean Paul hervorschaut. Hoffen wir, daß auch das allegorisch und vorausdeutend gesehen werden kann und wünschen wir einem jeden Projekt einer Bücherbiographie einen solchen guten Genius – auch und gerade in heutiger Zeit.

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27. Judas-Kapitel. Nach Plutarchs Parallel-Biographien (um 100 n.Chr.), vgl. das 24. Patronen-Kapitel, HKA I.13, S.471.

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Helmut Pfotenhauer

Abb.1: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Jean Paul, Fasz.17, Heft 4, Bl.1r: Beginn der Vorrede.

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Abb.2: Jean Paul, Vorarbeiten zum Leben Fibels. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz, Fasz.17, Heft 4, Bl.3v.

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Helmut Pfotenhauer

Abb.3: Jean Paul, Vorarbeiten zum Leben Fibels. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.17, Heft 4, Bl.36r.

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Abb.4: Aus F. F. Hempel (alias Spiritus Asper), Nachtgedanken über das A-B-C-Buch. 1809, nach: SW I/13,527.

BARBARA HUNFELD

TEXTWERKSTATT Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe und ihr Modell Hesperus

1. Am Beginn des Hesperus nimmt der Autor Abschied von seinem Text. Als der Roman 1795 erstmals erscheint, entläßt Jean Paul das Buch in einer Vorrede. Der Verfasser wünscht seinem Buch, es möchte seinen Lesern Abendund Morgenstern sein, doch er selbst, ans vermeintliche Ende seiner Schreibarbeit gekommen, trauert: »[...] für mich aber Hesperus bist du nun wol untergegangen [...]«.1 Ein Irrtum, wie man weiß. Die Geste des Endens, die am Beginn des Romans steht, ist eine vorläufige. Wie vorläufig, wird aus den bisher vorliegenden Editionen des Hesperus von Hans Bach und Eduard Berend2 sowie von Norbert Miller3 nicht unmittelbar erkennbar. Beide Ausgaben drucken den Roman nach nur einer Auflage, der letzten von 1819. Mit ihr hatte Jean Paul den Hesperus bereits auf »seinen d r i t t e n Umlauf um die Lesewelt« geschickt.4 Die Varianz dreier ganz unterschiedlicher Versionen des Buches tritt hinter die eine Fassung letzter Hand zurück. Deren traditionelle editionsphilologische Konnotation des Letztgültigen scheint dem Gestus des Abschließens in der Vorrede erster Hand zu entsprechen, die nunmehr den Roman der letzten Auflage einleitet. Das ist nur möglich, weil der Autor, der 1795 vom Ende des Schreibens spricht, weitergeschrieben hat. Die Vorrede hat ihre ursprüngliche Exklusivität verloren; zwei neue Prologe späterer Auflagen ergreifen vor ihr das Wort und handeln vom Überarbeiten und Weiterspinnen des Textes. Die Geschichte der Geschichte, als Wiederaufnahme, als Sich ––––––– 1

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Jean Paul, Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Berlin 1795, S.8f. Jean Paul, Hesperus, hrsg. von Hans Bach und Eduard Berend, in: Ders., Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke, Bde. 3 und 4. Weimar 1929. Jean Paul, Hesperus, hrsg. von Norbert Miller, in: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung I, Bd.1. München/Wien 1960. Jean Paul, Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung. Dritte, verbesserte Auflage. Erstes Heftlein. Berlin 1819, S.12.

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Erneuern einer nur transitorisch abschließbaren Schreibarbeit gilt es also zu rekonstruieren. Dies ist die Aufgabe der Hesperus-Neuedition. Es hätte den Lesern jener Vorrede, die 1795 den Untergang eines Sterns beklagt, zu denken geben können, daß der Abendstern bekanntlich als Morgenstern wiederkehrt. Der Verfasser selbst spielt in der Vorrede mit diesem Bild. Die doppelte Bedeutung des Hesperus-Motivs als Auf- und Untergang, Beginnen und Enden, Abschied und Wiederkehr bestimmt von nun an über zwanzig Jahre lang die Geschichte des Buches. 1798, also nur drei Jahre nach der erstmaligen Publikation, erscheint der Roman erneut und in stark veränderter, vor allem erweiterter Gestalt. Auch sie beschließt den HesperusUmlauf nicht: Der alte Jean Paul legt mit der Auflage von 1819 noch einmal eine eigene Hesperus-Version vor. Wie der kosmische Gestirnslauf, traditionell Bild des zirkulär ebenso Insich-Vollendeten wie Unabschließbaren, wandern auch die Texte im Jean Paulschen Schriftkosmos, aus Schrift hervorgehend und in Schrift mündend.5 Diese Bewegung ist bis in den handschriftlichen Nachlaß, in die Vorarbeiten, Einfallsammlungen, Satirenstudien und Exzerpte, zurückzuverfolgen und teilt sich jenen Imaginationen unabsehbarer künftiger Auflagen mit, die am Beginn der Vorrede zur dritten und vielleicht nur vorläufig gemeinten letzten Auflage stehen. Es ist keine glatte Wiederkehr des Immergleichen, wie auch die ebenfalls kosmischen Metaphern der Bahn-Aberrationen und des kometenhaft Irregulären in der Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus,6 ja seine unterschiedlichen Auflagen selbst bezeugen, aber es ist ein stetes Neuschöpfen der Schrift aus sich, es ist jene Geschlossenheit des Zeichenkosmos, die in seiner produktiven, immanenten Unabschließbarkeit besteht. Dies ist Trost angesichts des Verrinnens der Zeit.7 In den Hesperus-Vorreden ist die Sternenlauf-Metapher mit den Lebensaltern ihrer Leser verflochten, Morgen- und Abendstern leuchten den unterschiedlichen Lebensstufen. Der Text umfaßt Jugend und Alter selbst desjenigen, der ihn schreibt; tatsächlich, weil sich hier, über mehr als zwanzig Jahre hinweg, der junge und der alte Jean Paul äußern, reflexiv, indem der Autor in der ersten und zweiten Vorrede Alter und Tod vorwegnimmt, um in der letzten der eigenen ––––––– 5

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Auf dieses Phänomen ist in der Forschung immer wieder hingewiesen worden. Als ein jüngeres Beispiel sei der von Geneviève Espagne und Christian Helmreich herausgegebene Sammelband Schrift- und Schreibspiele. Jean Pauls Arbeit am Text. Würzburg 2002, genannt. Jean Paul, Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1798, S.12f. Zu Jean Pauls Anschreiben gegen den Tod vgl. ausführlich Helmut Pfotenhauer, Das Leben schreiben – Das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit, in: JJPG 35/36 (2001/2002), S.46–58.

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Vorrede Alter und Tod vorwegnimmt, um in der letzten der eigenen Jugend im Text wiederzubegegnen, mehr noch, den »Schreibmensch« sich in ein »Methusalems Jahrtausend« hinüberschreiben zu sehen.8 So viel Zeit hat die Herausgeberin nicht. Es ist eine alte editionsphilologische Erfahrung, daß Edition dazu neigen kann, sich ihren Gegenständen – nicht immer vorteilhaft – anzuähneln. Im Fall Jean Pauls betrifft dies die Tendenz zur Unabschließbarkeit. Mit ihrer Ambivalenz spielen bereits die Hesperus-Vorreden, wenn das Werk zum »Vorwerk, Anhängsel oder Ergänzblatt«9 seiner Varianten wird, oder wenn der Aufschub des Endens sogar mit dem Tod des Lesers – oder auch des Editors? – rechnet: Einerseits ist es ein Aufschub des Todes in und durch Literatur,10 ein Aufbieten des »Aber noch«, solange »die Lebendigen träumen«,11 wie es in der Vorrede zur ersten Auflage heißt, andererseits »stirbt« man »auf dem Wege zum Buch«,12 der selber Bücher füllt, wie die letzte Vorrede zu Bedenken gibt. Dieses Problem produktiv zu wenden ist die zentrale Aufgabe der Jean-Paul-Edition, wie ich sie verstehe.

2. Längst hat das Interesse an der Entstehungsgeschichte der Texte die Betrachtung in sich abgeschlossener Werke abgelöst; dies gilt sowohl für die JeanPaul-Forschung als auch für die Editionsphilologie. Die Textwerkstatt des Autors steht im Fokus. Die Spuren der Schreibarbeit offenzulegen liegt bei einem Klassiker nahe, der wie kaum ein anderer das Schreiben von Texten in seinen Texten thematisiert. Davon zeugen die vielfachen Metaphern der Textarbeit, die Jean Paul verwendet, sowohl im Nachlaß, der große, zum Teil noch unerforschte »Steinbrüche«13 und deren »Bausteine« enthält, als auch im gedruckten Werk, in und an dem unablässig vom Erzähler »geschraubt«14 und

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Jean Paul, Hesperus, dritte Auflage [Anm.4], S.10. Ebd. Vgl. Pfotenhauer [Anm.7]. Jean Paul, Hesperus, erste Auflage [Anm.1], S.10. Jean Paul, Hesperus, dritte Auflage [Anm.4], S.5. »Steinbruch zum 2ten Roman« lautet der Titel eines der Vorarbeitenhefte zum Hesperus. Die Romanvorarbeiten befinden sich in Faszikel XVII des Jean Paulschen Nachlasses, der nahezu vollständig von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz verwahrt wird. Vgl. Jean Paul, Flegeljahre. Eine Biographie, I/2,932.

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»bossiert«15 wird. Die Jean-Paul-Edition hat sich, seit sie das Erbe Eduard Berends angetreten hat, zunehmend der Geschichte der Werke zugewandt, schon allein weil sie in Fortführung der Berendschen Nachlaß-Abteilung (Abt.II) sich unmittelbar jener Werkstatt widmet, aus der heraus sich die Werke entwickeln (in Arbeit: die »Satiren und Ironien« sowie die »Einfälle, Bausteine, Erfindungen«). Den Werkstattcharakter dieses Nachlasses bestätigen darüberhinaus die Exzerpte, Ideen-Reservoir ihres Autors, das inzwischen erschlossen wird. Auch die Brief-Edition bietet wichtige Einblicke in den Schreibprozeß. In der jüngeren Forschung, die ihre Untersuchungen auf Ergebnisse der Nachlaß-Edition stützt, häufen sich darum jene Metaphern, die Jean Pauls Schreiben als unermüdlichen Arbeitsprozeß kennzeichnen; von der Werkstatt, der Fabrik, dem Labor des Schreibens ist die Rede.16 Die Textwerkstatt-Metapher beschreibt die Edition und ihre Gegenstände gleichermaßen: Es geht um eine editionsphilologische Arbeit an und mit Texten, welche die literarische Schreibarbeit des Autors reflektiert. Die Werkstatt-Metapher zielt also auf ein Konzept von Edition, das nicht nur Texte konstituiert, sondern in seiner Methode die Schreibverfahren ihres Autors mitabzubilden sucht. Die Edition hat dabei von ihrem Gegenstand in mehr als einer Hinsicht zu lernen. Lange galt Vollständigkeit als klassisches Ideal historisch-kritischer Edition. Doch kann gerade ihres Gegenstandes wegen vollständige Dokumentation bei Jean Paul nicht gelingen. Es handelt sich um Literatur, deren Konfigurationen aus der Perspektive der Textwerkstatt, der sie entstammen, vorläufig sind, die in der Tiefe auf- und ineinandergeschichteter eigener und fremder Texte wurzeln, wie besonders Jean Pauls Exzerpte bezeugen, und die in eine imaginäre künftige Genese hinüberwuchern. Dabei gehen die Texte nicht restlos ineinander auf. Man kann Entwicklungslinien oder Vernetzungen aufzeigen, doch stehen die Werkstatt-Texte nicht überall in einem Entsprechungs-, sondern oftmals in einem Spannungsverhältnis zueinander, nicht nur im Sinne der Varianz, sondern auch des Abgebrochenen. Wäre dies nicht so, wäre die Werkstattoffenheit in den Werken zementiert, ihre Vielfalt im Endgültigen aufgehoben. Es ist darum nur konsequent, daß die Edition, die sich der Textwerkstatt verschreibt, deren Spezifikum des Offenen, Unfertigen spiegelt – theoretisch wie pragmatisch begründet. Textwerkstatt-Edition ist also selbst Werkstatt. Nur so kann sie Befunde ermöglichen, die bislang verschlossen waren. ––––––– 15

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Vgl. Jean Pauls Brief an Friedrich von Oertel vom 22.8.1796. In: Die Briefe Jean Pauls, hrsg. und erläutert von Eduard Berend, Band I. München 1922, S.235. Vgl. wiederum Espagne/Helmreich [Anm.5].

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Die genetische, alle Vorarbeiten und Auflagen dokumentierende Edition des Hesperus steht dabei im Kontext einer geplanten neuen Werk-Ausgabe.17 Sie soll einen Kernbereich des Jean Paulschen Werks modellhaft präsentieren. Es kommt hier nicht darauf an, »das unanfechtbare Ideal« historischkritischer Edition »aufzustellen, sondern einen unter den heutigen Verhältnissen in absehbarer Zeit wirklich durchführbaren Plan auszuarbeiten.«18 Es sind die Worte Eduard Berends, die abermals Gültigkeit haben, auch wenn sie am eigentlichen Beginn der Jean-Paul-Edition 1927 stehen. Auch die Editionswerkstatt hat sozusagen ihre eigene genetische Tradition. Die Geschichte der Jean-Paul-Edition ist untrennbar mit dem Namen ihres Begründers Eduard Berend (1883–1973) verbunden. Der deutsch-jüdische Editionsphilologe betrieb mit Unterstützung seiner Mitarbeiter von 1927 an die von ihm initiierte historisch-kritische Ausgabe – ein Lebenswerk, das er jedoch, von den Nationalsozialisten verfolgt, nie vollenden konnte. Die Leistungen Berends wie auch die Problematik seiner Ausgabe sind bekannt: Berend entwickelte das genau begründete Konzept einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, deren oberstes Ziel die Erschließung der gesicherten Textgrundlage eines der großen deutschen Klassiker war. Doch die Edition blieb Torso, da ihr kritischer Teil nie erschien: Als deutscher Jude von den Nationalsozialisten verfolgt, wurde Berend zum Abbruch seiner Arbeiten an den Apparaten gezwungen. Die Sammlungen zu den geplanten Lesartenbänden gingen im Krieg verloren und konnten später, als der geflohene Berend nach Deutschland zurückkehrte, nicht mehr rekonstruiert werden. In den späten 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Möglichkeit, die Abteilung I der Berendschen »Sämtlichen Werke« um ihre nachgetragenen Apparate zu ergänzen, noch einmal von einem Expertengremium im Deutschen Literaturarchiv Marbach geprüft und die Unmöglichkeit eines solchen Projekts festgestellt. Zwar begründete und beschrieb Berend sein Verfahren ausführlich, doch sind dessen Ergebnisse durch das Fehlen des kritischen Apparats an den Texten selbst nicht mehr überprüfbar. Der Versuch einer nachträglichen Erstellung aller Varianten im Vergleich sowohl zu Berend als auch zu den Originalausgaben und Handschriften käme dem Auf––––––– 17

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Das Konzept der Werkausgabe wurde von Helmut Pfotenhauer, Birgit Sick und mir erarbeitet. Die geplanten Bände stehen unter der verbindenden Hauptherausgeberschaft von Helmut Pfotenhauer, der Leiter der Würzburger Arbeitsstelle JeanPaul-Edition ist. Eduard Berend, Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken, in: Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse (Jahrgang 1927). Berlin 1927, S.43.

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wand nach einer Neu-Edition gleich19 und wäre im übrigen eine Vermischung der Autor- und der Editorenwerkstatt. Zudem bliebe man an Berends klassische Editionsprinzipien der letzten Hand und des Primats des Autorwillens – einschließlich der Berendschen Konjekturen – gebunden. Gerade für Jean Paul aber sind die heute allgemein anerkannten Editionsverfahren von besonderer Relevanz, und dies gilt nicht nur für die grundsätzliche, noch immer nicht eingelöste Forderung nach einer Textgrundlage, deren kritische Konstitution im Detail nachprüfbar ist. Jean Pauls Textwerkstatt bedarf in besonderem Maße der textgenetischen Dokumentation. Bisher kennt man Jean Pauls veröffentlichte Werke bis auf zwei Ausnahmen20 nur in jener Form, in der Berends Abteilung I und Norbert Millers Hanser-Ausgabe sie präsentieren: in der Gestalt letzter Hand, ohne den Kontext der handschriftlichen Vorarbeiten und der rezeptionsgeschichtlich teils viel bedeutsameren Erstdrucke. Die seit langem geforderte und 1995 von einer im Literaturarchiv Marbach einberufenen Expertenrunde initiierte Revision der Berendschen Abteilung I wäre somit keine Wiederholung Berends, sondern eine tatsächlich neue Edition, nicht nur des Verfahrens wegen, sondern auch aufgrund des umfangreichen neuen Materials eines der großen deutschen Klassiker, das der Wissenschaft erstmals zur Verfügung gestellt würde. Angesichts der Masse an Dokumenten muß man pragmatisch vorgehen. Es geht darum, das editorisch unmittelbar Notwendige in überschaubarer Zeit zu leisten. Dies bedeutet entgegen der ursprünglichen Marbacher Projektierung, Bände auszuwählen, im Bewußtsein der Problematik jeder Auswahl. Doch hat es keinen Sinn, die Utopie einer in Gänze revidierten Werk-Abteilung einzuklagen und mit dem editorisch Notwendigen nicht zu beginnen. Vorzuschlagen wäre also eine neue Werk-Abteilung als historisch-kritische Edition eines Kernbereichs des zu Lebzeiten Jean Pauls erschienenen Werks. Aussagekraft und Relevanz der Jean Paulschen Textwerkstatt müßten anhand signifikanter Texte in Modell-Editionen vorgestellt werden. Zu denken wäre, über den bereits in Arbeit befindlichen Hesperus hinaus, an die

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Vgl. Götz Müller, Probleme der Jean-Paul-Edition, in: JJPG 26/27 (1991/92), S.277–284. Klaus Pauler hat die Unsichtbare Loge und den Siebenkäs in zwei synoptischen Studienausgaben vorgelegt: Jean Paul, Die Unsichtbare Loge. Eine Biographie. Text der Erstausgabe von 1793 mit den Varianten der Ausgaben von 1826, Erläuterungen, Anmerkungen und Register, hrsg. von Klaus Pauler. München 1981 (= edition text und kritik); Jean Paul, Siebenkäs. Text der Erstausgabe von 1796 mit den Varianten der Ausgabe von 1818 und den Vorarbeiten zu beiden Ausgaben aus dem Nachlaß, hrsg. von Klaus Pauler. München 1991 (= edition text und kritik).

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Romane Siebenkäs (11797/21818), Titan (1800–1803) und Komet (1820–22) sowie an die Vorschule der Ästhetik (11804/21813). Diese Texte weisen jene Merkmale auf, die für die Jean Paulsche Textwerkstatt bestimmend sind und für eine Neu-Edition sprechen: stark voneinander abweichende, autorisierte Druckfassungen (dies betrifft Siebenkäs und Vorschule) und den Texten zugeordnete, unveröffentlichte handschriftliche Vorarbeiten (alle fünf Werke betreffend), die teilweise in enger zeitlicher Nähe stehen und zwischen denen Wechselbezüge zu vermuten sind. Zugleich handelt es sich bei den zu edierenden Werken – bei aller Vorsicht gegenüber Wertungen – um zentrale Texte ihres Autors. Sie repräsentieren das theoretische wie das literarische Werk und decken zugleich mit den frühen Erfolgswerken Hesperus und Siebenkäs, dem »Kardinalroman« Titan und dem Spätwerk Komet alle Schaffensperioden ab. Die divergierenden Fassungen dokumentieren zusätzlich den jungen und den späten Jean Paul. Man kann darum von einem Kernbereich innerhalb des Jean Paulschen Werkes sprechen. Das editionsphilologische Konzept der geplanten Bände folgt dem Modell Hesperus: Die für Jean Paul signifikanten Textwerkstatt-Merkmale finden sich beim Hesperus idealtypisch, weshalb dieser Roman als Pilotprojekt ausgewählt wurde. Im Rahmen der Arbeit am Hesperus wurden editorische Lösungen entwickelt, die den Folgebänden vorarbeiten sollen. Gleichwohl sind sie, da die Editionsgegenstände spezifische Charakteristika aufweisen, im einzelnen zu modifizieren. Die Hesperus-Edition orientiert sich an folgenden drei Kriterien: 1) Es werden erstmals die noch unveröffentlichten handschriftlichen Vorarbeiten Jean Pauls vollständig präsentiert.21 2) Die Edition weist die Umarbeitungsstufen der vom Autor veranlaßten Druckfassungen des Romans durch Darlegung aller drei Auflagen nach. 3) Die Erläuterungen sind als genetischer Kommentar angelegt und nutzen die Materialien der Textwerkstatt selbst, um die Eigenart der Jean Paulschen Schreibweise zu erschließen. Es geht um das Konzept einer Selbstkommentierung des Autors, die sich auf den editorisch schon erarbeiteten Fundus des Nachlasses stützt, ob Vorarbeiten, Exzerpte, Bausteine oder Satiren.22 Auch hier kann es nicht um Vollständigkeit gehen, sondern um das repräsentative Aufzeigen von Werkstattbezügen. ––––––– 21

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Zu den Hesperus-Vorarbeiten vgl. Barbara Hunfeld, Glanz der Unebenheit. Aus Jean Pauls »Arbeitsloge« des Hesperus, in: JJPG 35/36 (2001/2002), S.151–164. Zur Bedeutung der nachgelassenen Satiren und Ironien für die Entstehung des Hesperus vgl. den Beitrag von Birgit Sick in diesem Band.

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Dazu ein Beispiel. Wenn im Hesperus der Held einen Brief an seinen Lehrer Emanuel schreibt, in dem es heißt, »ein einziges Herz« sei Emanuels Seele »zu enge, in das sie mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine eingeschlafene Tulpe geschlossen« sei,23 so ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, daß der Tod mit im Bild ist. Dies zeigen vielmehr die Exzerpte. Hier findet man in einem Heft des Jahres 1784 Jean Pauls Lektüre-Notiz zu einem KrünitzArtikel über die Nahrung der Bienen: »Die Tulpen verschliessen sich nachmittags ein wenig; die Biene darin wird eingespert und wenn sie sich am andern Tag wieder auftut, ist sie schon tod.«24 Es geht der Hesperus-Metapher also nicht nur um ein Aufgehen in der Liebe, sondern auch um ein Vergehen an ihr. Die Todes-Anspielung entspricht der Todverfallenheit der ätherischen schönen Seelen in Jean Pauls Romanen und weist auf das Sterben Emanuels am Ende des Hesperus voraus. Die Kommentierung mit Hilfe der Nachlaßtexte schlüsselt also eine Konnotation auf, die mit dem Romankontext korrespondiert; so zeigt sie, wie wenig zufällig das Bild gewählt ist. Zugleich dokumentiert sie die Funktion der Werkstatt-Sammlungen, die Ideen für spätere Verwendungen im Werk bereithalten.25 Die hier vorgestellten Prinzipien wären auf die geplante Werk-Abteilung zu übertragen. Es geht um Chancen wie um pragmatische Beschränkung der Jean-Paul-Edition. Die Vollständigkeit einer traditionellen Buchausgabe aller Texte ist nicht das Ziel; ebensowenig eine nie einzuholende umfassende Kommentierung. Vielmehr soll die exemplarische Edition eines signifikanten Kernbereichs die Struktur des Jean Paulschen Schreibens erschließen.

3. Die Buch-Edition der Werke Hesperus, Siebenkäs, Titan, Komet und Vorschule der Ästhetik würde idealerweise von der digitalen Dokumentation aller ––––––– 23 24

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Jean Paul, Hesperus, erste Auflage [Anm.1], S.156. Jean Paul, Exzerpthefte. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.IIa, Bd.5 (1784), S.5, zit. nach der Online-Vorabpublikation, hrsg. von Sabine Straub, Monika Vince und Michael Will, http://62.154.246.52/jeanpaul (24.11.2005), dort Nr.IIa-05-1784-0068. Das Motiv der in die Tulpenblüte eingeschlossenen Biene findet sich auch im Nachlaß-Konvolut der Einfälle, Bausteine, Erfindungen: »Er studierte die Gräber bis ihn eines endl. umschlos wie die Tulpe die Biene« (Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Faszikel VII und IX, hier: Faszikel IX, Gedankenblitze, Bd.1, S.21) sowie »Ihr Herz schloß seines wie [die] Tulpe eine Biene ein« (ebd., hier: Faszikel IX, Gedankenblitze, Bd.1, S.7). Für die Hinweise danke ich Petra Zaus.

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relevanten Primärtexte zum Werk des Autors flankiert – dies ist das Ziel des Jean-Paul-Portals, welches die Universität Würzburg in Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin künftig verfolgt.26 Eine digitale Bereitstellung der Primärdokumente vernetzte die Kernbereichsedition mit dem Werk-Kontext. So würde die historisch-kritische Buch-Edition um jenen größeren Textwerkstatt-Zusammenhang ergänzt, in dessen Zentrum sie steht, und zugleich durch nur digital mögliche Präsentationsformen und Suchmöglichkeiten erweitert. Die digitalen Dokumente blieben jedoch ohne die Edition stumm; der Nutzer fände nur eine Masse an Material vor, deren Bedeutung und Funktionsweisen ihm ohne die Orientierung durch die Edition unverständlich wären. Der Nutzer profitiert vom Portal erst durch die Aufschlüsselung der Textwerkstattzusammenhänge anhand idealtypischer Werke, das heißt: durch die editorische Offenlegung ihrer Funktionsweise, während das Portal den Umfang der Textwerkstatt digital erschließt. Buch-Edition und digitale Komponente bedingen also einander. Die Edition bedarf der elektronischen Materialerschließung als ihrer Voraussetzung; die Digitalisate wiederum werden erst durch die editorische Aufarbeitung der Schlüsseltexte verständlich und nutzbar. Auf der Grundlage einheitlicher philologischer und technischer Standards, welche die Langzeitverfügbarkeit der Editionsergebnisse sichern, soll somit eine Ausgabe entstehen, die ihre Präsentationsformen nicht nach Abschluß der Editionsarbeit erweitert, sondern von Beginn an hybrid ausgerichtet ist. Es geht darum, die Stärken der beiden Medien Buch und elektronische Edition zusammenzuführen. Während auf digitalem Wege große Datenmengen gespeichert und verwaltet werden können, eine elektronische Durchsuchbarkeit gewährleistet ist und genetische Zusammenhänge veranschaulicht werden können, steht das Buch, gegenüber der Virtualität und relativen Flüchtigkeit des Digitalen, als jenes stabile und systemunabhängige Medium bereit, das primär dem Leser der Texte dient. Es ist zugleich das textkritische Konzentrat der Edition, das mit seinen Textkonstitutionen und mit seinen repräsentativen Erläuterungen als den Kristallisationspunkten der Textgenese jene Schichten der Textwerkstatt freizulegen hilft, die der Nutzer der digitalen Komponente dann virtuell durchwandern kann. Dazu arbeiten Literaturwis––––––– 26

Das Jean-Paul-Portal ist ein Gemeinschaftsprojekt von Arbeitsstelle Jean-PaulEdition (Leitung: Helmut Pfotenhauer; Redaktion: Birgit Sick und Barbara Hunfeld) und Kompetenzzentrum für EDV-Philologie (Leitung: Werner Wegstein; EDV-philologische Betreuung: Christian Naser) an der Universität Würzburg. Es kann gegenwärtig in einer Startversion unter der Internetadresse http://www.jeanpaul-portal.de abgerufen werden. Ich danke Christian Naser und Florian Bambeck für die technische Betreuung der Hesperus-Partition. Werner Wegstein danke ich für seine besondere Unterstützung.

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senschaft, Editionsphilologie, EDV-Philologie und Informatik zusammen. Das Jean-Paul-Portal ist als jene Schnittstelle gedacht, in der alle Bereiche der Jean-Paul-Edition zusammenlaufen. Wie die Buch-Edition selbst dient es der Darstellung der Jean Paulschen Textwerkstatt im gesamten. Es hat darum folgende Funktionen: 1) Das Jean-Paul-Portal begleitet die historisch-kritische Buch-Edition der fünf Werke des Kernbereichs mit spezifisch digitalen Verwaltungs- und Präsentationsmöglichkeiten. Die Dokumente sollen nicht nur elektronisch durchsucht, sondern auch so arrangiert werden, daß genetische Zusammenhänge der dargestellten Texte veranschaulicht werden. Im Fall des Pilotprojektes Hesperus, das drei Romanfassungen miteinander vergleicht, könnten die vom Autor in den Neuauflagen eingefügten, umgearbeiteten und verschobenen Passagen durch Einblendung und verschiedenfarbige Darstellung hervorgehoben werden. Während die Darbietung des Buchs, eine von Editoreneingriffen freie Synopse, den Schwerpunkt auf die Autortexte im gesamten legt, vollzöge das Portal den Schreibprozeß in seinen Details digital nach. Beim Kommentar wiederum liegt die Stärke des Buches in der zusammenfassenden und orientierenden Erläuterung. Die Querverweise, die der Buchkommentar gibt, können im Portal dagegen als Verlinkungen umgesetzt werden, so daß das Wandern von Motiven und Textbausteinen durch Konvolute und Werke unmittelbar anschaulich wird. Dies setzt voraus, daß im Portal nicht nur Dokumente innerhalb eines Projektbereichs verbunden werden, also etwa die Manuskripte der Romanvorarbeiten mit den Druckauflagen der Romane, sondern daß zugleich möglichst viele Projekte durch Verlinkungen miteinander kommunizieren, also etwa Exzerpte mit anderen Nachlaßtexten und mit gedruckten Schriften. 2) Das Jean-Paul-Portal bietet nicht nur Einblick in die Textwerkstatt des Autors, sondern auch in die der Editoren. Auf diese Weise die Produktionsbedingungen der Edition mitabzubilden, scheint angemessen angesichts eines Autors, der in der Selbstthematisierung des Schreibens nicht müde wird, den Produktcharakter seines Werkes zu reflektieren. Am Beispiel des Pilotprojektes Hesperus soll die digitale Bereitstellung der editorischen Arbeitsgrundlagen erprobt werden. Von den Images der Originaldrucke zur Überführung der Quelldaten in Textdateien, vom automatisierten Vergleich der Textfassungen zum Endprodukt der kritischen Edition im pdf-Format werden Produktionsschritte digital dokumentiert. 3) Das Jean-Paul-Portal ergänzt die Kernbereichsedition um jene Materialien, die nicht für die Buch-Edition vorgesehen sind. Dies betrifft nicht nur Dokumente der Kernbereichsedition selbst, wie etwa Transkriptionen von

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kumente der Kernbereichsedition selbst, wie etwa Transkriptionen von Werkvorarbeiten, die nicht alle gedruckt werden können, sondern auch und vor allem Dokumente jenseits der Kernbereichsedition. Es handelt sich zum einen um die Originaldrucke, zum anderen um den Berliner Nachlaß. Ziel der Arbeit am Jean-Paul-Portal ist es, sämtliche zu Jean Pauls Lebzeiten erschienenen Drucke zu digitalisieren, zu archivieren und der Forschung zur Verfügung zu stellen. Schritt um Schritt sollen zunächst Bilddaten, später Textdaten hergestellt werden. Auf diese Weise entsteht ein vollständiges digitales Textarchiv zu Jean Paul, ein Unternehmen, das gerade vor dem Hintergrund der völligen Vernichtung der bisher einzig vollständigen Jean-Paul-Sammlung in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek im September 2004 geboten scheint. Auch der Nachlaß Jean Pauls soll im digitalen Text-Archiv elektronisch repräsentiert werden. Absicht ist es, in enger Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin sukzessive die Jean-Paul-Manuskripte zu digitalisieren, zunächst die für die Kernbereichsedition relevanten Materialien, später weitere Vorarbeiten und Studienhefte. 4) Das Jean-Paul-Portal bietet seinen Nutzern schließlich weitere Dokumente an: Einblicke in den Editionsbereich der Nachlaßabteilung, die Exzerpte Jean Pauls, Informationen zu Leben und Werk des Autors sowie eine JeanPaul-Bibliographie. Projektiert wird also ein Jean-Paul-Portal als digitale Komponente der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition, als elektronisches Text-Archiv zum Werk des Autors und als virtuelle Dokumentation sowohl der Textwerkstatt Jean Pauls als auch der Werkstatt seiner Editoren.

4. Genetische Edition steht vor der Schwierigkeit, Schreibprozesse nachzuzeichnen und zugleich Texte zu konstituieren. Sie sucht sowohl dem beobachtenden als auch dem lesenden Blick gerecht zu werden. Text und Werkstatt sollen gleichermaßen sichtbar werden. Dies gilt auch für die editorische Darstellung der drei Auflagen des Hesperus, die abschließend, als Veranschaulichung der projektierten Textwerkstatt-Edition einer neuen Jean-PaulWerkausgabe, vorgestellt werden soll (vgl. dazu die angefügten Textbeispiele aus dem 3., 4. und 6. Hundsposttag). Die Edition des Hesperus dokumentiert die Genese des Romans anhand der vom Autor veranlaßten drei Hesperus-Auflagen der Jahre 1795, 1798 und

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1819. Dabei werden die drei Fassungen des Hesperus nicht als teleologische Stufenfolge gewertet, sondern in einer Zusammenschau als drei chronologisch aufeinander beziehbare Versionen des Textes dargeboten. Die Edition gibt die erste und die zweite Auflage (im folgenden als D1 und D2 bezeichnet) vollständig in synoptischem Paralleldruck wieder, die dritte Auflage (D3) ist als Varianten-Apparat repräsentiert. Die unterschiedliche Darstellungsweise von D1 und D2 einerseits und D3 andererseits meint keine unterschiedliche Gewichtung der Drucke, sie ist vielmehr pragmatisch bedingt. Während D3 bereits bei Berend/Bach sowie bei Miller in Gänze ediert ist, sind D1 und D2 bisher in keiner Edition zugänglich, weshalb sie nun erstmals historisch-kritisch dargestellt werden. Ihre Dokumentation ist im übrigen nicht allein darum unverzichtbar, weil sie bislang nicht repräsentierte Teile der Textgenese sind, sondern auch aus zwei literarhistorischen Gründen, die beide Drucke im einzelnen betreffen: der Erstdruck des Hesperus bestimmte die zeitgenössische Rezeption; die zweite Auflage nahm jene großen Erweiterungen und Umarbeitungen vor, die von der dritten Roman-Version im wesentlichen wiederholt werden. Was die Fassung letzter Hand hauptsächlich charakterisiert, die vielen sprachgeschichtlich interessanten stilistischen Änderungen, läßt sich demgegenüber in einem lemmatisierten Varianten-Apparat darstellen. Als Thomas Wirtz 1999 Aufgabe und mögliche Lösungen eines Pilotbandes Hesperus skizzierte, betrachtete er das Projekt noch als Modell einer Erstausgaben-Edition.27 Berend zu revidieren hieß, nach der editio princeps zu edieren. Aus diesem Grund war der Hesperus-Band als Edition der Erstfassung von 1795 gedacht; die Umarbeitungsstufen der späteren Auflagen sollten im Apparat dokumentiert werden. Darin lag die Gefahr, Berends Primat des letzten Autorwillens durch die Pivilegierung der Erstausgaben zu ersetzen. Gegenstand der Edition ist darum heute nicht nur die Erstfassung von 1795, auch wenn aus den genannten Gründen D3 nicht als vollständiger Text ediert werden kann. Auf der linken Buchseite des geplanten Bandes erscheint der D1-Text, auf der rechten Buchseite parallel zu D1 die Fassung D2. Da Jean Paul den Roman mit der zweiten Auflage stark erweitert hat – am Hesperus weiterschreibend – muß die kürzere D1-Version absatzsynoptisch an den D2-Verlauf angepaßt werden. Die in der Wiedergabe entstehenden Leerstellen in D1 sind somit keine Lücken des Textes, sondern ein satztechnisch bedingtes Aussetzen des Druckes, das den genetisch interessierten Blick auf jene Nahtstellen ––––––– 27

Vgl. Thomas Wirtz, Der Hesperus als Pilotband einer Edition der Erstausgaben (Revidierte Abteilung IA der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke), in: JJPG 34 (1999), S.20–27.

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hinweist, von denen die großen Umarbeitungen der zweiten Auflage ihren Ausgang nehmen. Ansonsten bleiben die Texte von Einmischungen des Editors unberührt. Der Leser kann sich entscheiden, ob er sie einzeln oder im Vergleich lesen möchte. Wünscht er den Vergleich, helfen ihm die Apparate. Der unter den D1-Text gesetzte Lemma-Apparat ist zweigeteilt. Er benennt erstens alle kleineren stilistischen Varianten von D2 gegenüber D1 (Wortabweichungen, ausgetauschte Satzzeichen, kleinere Einfügungen von Satzteilen), die zwar durch den Paralleldruck von D1 und D2 bereits repräsentiert sind, vom Leser aber nur in mühsamer vergleichender Analyse im einzelnen aufgefunden werden müßten. Der zweite Bereich ist ein genetischer Apparat. Er weist den Leser auf die größeren Werkstattprozeduren hin und unterscheidet dabei vier allgemeine Kategorien: Einfügung, Umstellung, Umarbeitung und – in wenigen Fällen – Streichung. Dabei werden auch die synoptisch bedingten »Lücken« aufgeschlüsselt. Die Auflage letzter Hand erscheint als Varianz zu D2 im Lemma-Apparat auf der rechten Buchseite. Der Apparat ist nach demselben Muster wie der Apparat der linken Buchseite organisiert. Bei Bedarf ist auch er zweigeteilt, wenn einfache Abweichungen von größeren Eingriffen zu unterscheiden sind. Die Hesperus-Edition ist also ein Hybrid-Modell, das die Möglichkeiten des synoptischen Paralleldrucks mit denen des Lemma-Apparats verbindet. Die Edition möchte Lesetexte anbieten und zugleich Strukturen bereitstellen, mit deren Hilfe die genetische Korrespondenz der Texte sichtbar wird. In den Vorarbeiten zur zweiten Auflage des Hesperus nimmt der Autor selbst »[d]ie Vergleichung« imaginativ vorweg, »die ein alt. Gelehrter zwischen den 2 Auflagen macht«.28 Die Herausgeberin des Hesperus hofft, über dem Fassungsvergleich sogar dreier Auflagen zwar gelehrt, aber nicht alt zu werden. Dazu gehört, Schwierigkeiten des vorgeschlagenen Modells zu akzeptieren, die in seinen technischen Grundbedingungen liegen oder nur durch spätere Forschung oder gar nicht gelöst werden können. Zu den genannten Problemen Beispiele: Erstens haben die Lücken der Synopse etwas tückisches. Sie indizieren genetische Veränderungen, weisen den Leser aber in der D2Version nicht immer an die richtige Stelle. Die Lücke in D1 kann mit einer D2-Einfügung in Zeilenhöhe korrespondieren, muß es aber nicht. Die Einfügung in D2, welche die Lücke in D1 verursacht, mag weiter oben im Absatz stehen, möglicherweise sogar auf der vorigen Seite. Der Leser muß also sehr genau hinsehen. ––––––– 28

Jean Paul, Romanvorarbeiten zum ›Hesperus‹. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Faszikel XVII, unbetiteltes Heft (Bach A VI), S. [676] (Paginierung von der Hrsg.).

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Zweitens ist innerhalb der Reihe der genetischen Kategorien Einfügung, Umstellung, Streichung und Umarbeitung der Begriff der Umarbeitung zu präzisieren. Alle vorgenommenen Änderungen des Autors sind Umarbeitungen. Die Hesperus-Edition faßt jedoch im genetischen Apparat Umarbeitungen in einem engeren Sinn als jene Um-Schreibungen von Textpassagen, in denen die Motive zwar gleichbleiben, sie aber umstrukturiert oder umformuliert werden. Je präziser man die Phänomene des Fassungsvergleichs zu unterscheiden sucht, desto mehr gleitet man hinüber in die Interpretation, und desto unpräziser werden zuweilen die editorischen Begriffe, welche der Analyse des Schreibprozesses vorarbeiten sollen, ohne ihr vorzugreifen. Drittens besteht das Problem der Druckfehler.29 Bekanntlich konnte Jean Paul die Drucke vor ihrer Publikation nicht mehr durchgängig korrigieren. Neben jenen Druckfehlern, die er noch rechtzeitig auffand und in den ErrataListen bekanntgab, finden sich also genügend Fehler, die unentdeckt blieben. Wo es sich um offensichtliche Druckfehler handelt, wird die Edition sie emendieren und die Emendationen im einzelnen nachweisen.30 Darüber hinaus jedoch kann sich der Leser bei der Fülle von Kleinstabweichungen in Orthographie und Satzzeichengebrauch, die der Apparat verzeichnet, nicht sicher sein, welche Phänomene tatsächliche Varianten sind, die auf den Autor zurückgehen, und welche womöglich überlieferungsgeschichtliche Abweichungen darstellen, die der Setzer verursacht hat, weil er Mühe hatte, die Handschrift zu entziffern. Die Herausgeberin würde gerne Jean Pauls Aufforderung in der Vorrede von 1819 nachkommen, nach Berlin in die Verlagshandlung zu reisen, um zumindest für die dritte Auflage das »mit den neuen eingeschriebnen Verbesserungen durchschoßne alte Druckexemplar«31 einzusehen. Nur sind ihr wohl frühere Leser der Vorrede zuvorgekommen, denn das Druckexemplar mit den handschriftlichen Korrekturen ist nicht mehr aufzufinden. Die Kontur des Textes als Werk ist also doppelt durchlässig. Sie ist offen für die Bewegung eines sich fortsetzenden Schreibprozesses, und sie wird durchbrochen von den Kontingenzen seiner materialen wie hermeneutischen Bedingungen. Das selbstbezügliche Sich-Fortzeugen der Schrift, das den mit dem Tod assoziierten Abschied des Autors vom Text aufschiebt, zeugt nicht nur Werkstatt-Texte und Werke, sondern schließlich auch (vom Autor literarisch schon antizipierte) Editionen. Die Offenheit, ja sogar die Kontingenz ––––––– 29

30 31

Zu Eduard Berends Behandlung der Druckfehler vgl. Berend [Anm.18], S.29f. In den nicht durch Errata oder Vergleichsdokumente zu lösenden Fällen hielt Berend Vereinheitlichungen und Konjekturen für angemessen, welche beste Kenntnis Jean Pauls und seiner Handschriften voraussetzten, dazu v.a. S.30. Die beigefügten Editionsbeispiele zeigen den Text noch ohne Emendationen. Jean Paul, Hesperus, dritte Auflage [Anm.4], S.7.

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ihrer Gegenstände muß keinen Abschied des Editors vom Text bedeuten. Wo Jean-Paul-Edition aber Abgeschlossenheit sowohl ihrer Gegenstände als auch ihres Tuns prätendierte, wäre der Abschied vom Text ein vorläufiger.

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Abb.1: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 3. Hundsposttag in der Fassung von 1795 (in Korrespondenz mit Abb.2 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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Abb.2: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 3. Hundsposttag in der Fassung von 1798 mit den Varianten von 1819 (in Korrespondenz mit Abb.1 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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Abb.3: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 4. Hundsposttag in der Fassung von 1795 (in Korrespondenz mit Abb.4 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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Abb.4: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 4. Hundsposttag in der Fassung von 1798 mit den Varianten von 1819 (in Korrespondenz mit Abb.3 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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Abb.5: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 6. Hundsposttag in der Fassung von 1795 (in Korrespondenz mit Abb.6 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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Abb.6: Jean Paul, Hesperus. Kapitelauszug aus dem 6. Hundsposttag in der Fassung von 1798 mit den Varianten von 1810 (in Korrespondenz mit Abb.5 Beispiel für die in diesem Beitrag vorgestellte synoptische Edition).

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VON VARIANTEN UND VARIATIONEN Bd. II/9 Einfälle, Bausteine, Erfindungen

Man malet die Engel im Himmel darum mänl.[ichen] Geschlechts, weil die, die des weibl.[ichen] sind, noch auf der Erde sind; – variatio: im Himmel giebts mänl.[iche] auf Erden auch weibl.[iche] Engel. –1

1. Zur Genese der Edition von Band II/9 Einfälle, Bausteine, Erfindungen Das Editionsprojekt dieses Nachlassbandes hat eine lange Vorgeschichte mit wechselnden Bandbearbeitern und variierender Textauswahl. Eduard Berend sah 1927 in seinen Prolegomena zur Historisch-Kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken2 als Inhalt für den damals als sechsten, heute als neunten gezählten Nachlassband eine Selektion von Texten vor, aus der sich nur der erste Teil des jetzigen Titels ableitet: aufgenommen werden sollten vier Hefte, die von Jean Paul als Einfälle betitelt wurden, drei Hefte mit sogenannten Bausteinchen sowie drei Hefte, die die Überschrift Dichtungen tragen. Berends sorgfältige Abschrift der Textkomplexe, die im Marbacher Literaturarchiv verwahrt wird, sollte Götz Müller als Grundlage seines Würzburger Editionsvorhabens dienen, dessen Fertigstellung im JJPG 1991/92 für Ende 1993 angekündigt wurde. Müller veröffentlichte dann allerdings die sogenannten Dichtungen bereits im Nachlassband II/6 und wählte stattdessen drei als Erfindungsbücher charakterisierte Mappen für diesen Band aus. ––––––– 1

2

Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen. Nachlass, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.VII und IX, hier: Fasz.VII, Einfälle, Bd.1, S.17. Die hier und im folgenden zitierten Textbeispiele werden ohne Varianten wiedergegeben. Kursivierung: Ergänzung der Abkürzungen Jean Pauls durch die Herausgeberin; Text in eckigen Klammern [...]: fehlt in H, durch die Herausgeberin ergänzt; die Schriftart Arial kennzeichnet die Verwendung lateinischer Schrift im Manuskript. Der Text zwischen den Weichenzeichen p ... f gibt alternative Formulierungen wieder, die der Autor über der Zeile notiert hat. Eduard Berend, Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Nr.1, Berlin 1927, S.3–34, hier S.27.

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Nach Götz Müllers Tod im Jahr 1993 erarbeitete Thomas Wirtz zusammen mit Helmut Pfotenhauer – dem neuen Leiter der Würzburger Jean-PaulArbeitsstelle – das Konzept eines erweiterten Textspektrums für den Nachlassband II/9: die Konvolute der in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrten Nachlassfaszikel VII und IX sollten nun nahezu vollständig publiziert werden. Geplant wurde, in diesem Band in den Produktionsprozess Jean Pauls einzuführen, indem durchaus heterogene Sammelbücher nebeneinander präsentiert werden sollten, die eine Mittelstellung zwischen den Exzerptbänden und den literarischen Publikationen einnehmen. Erstmals sollten Jean Pauls hochspannende Aufzeichnungen nicht durch – dem Leser nicht nachvollziehbare – Herausgeberergänzungen und Eingriffe modifiziert, sondern möglichst authentisch präsentiert werden: die am Status des Vorläufigen und Unfertigen interessierte Edition wollte selbstverständlich auch die weitgehend unpoetischen Verzeichnisse von Gegenständen, Orten und Umständen integrieren, aus deren abrufbarer Masse Material zur Ornamentierung der Erzähltexte ausgewählt werden konnte. Nachdem Thomas Wirtz durch einen schweren Unfall mit Langzeitfolgen im März 2001 die Fertigstellung dieses komplexen Bandes nicht mehr hat leisten können, wurde die Wiederaufnahme des Editionsprojekts erfolgreich bei der DFG beantragt. Seit März 2004 arbeitet die Verfasserin als (hoffentlich) letzte Bandbearbeiterin an der Fertigstellung dieses Bandes. Es ist geplant, die 31 von Wirtz für die Edition vorgesehenen Konvolute sämtlich zu publizieren, einen Teil davon im Internet. Die elektronisch edierten Konvolute werden als integraler Bestandteil des Würzburger Jean-Paul-Portals (www.jeanpaul-portal.de) der Jean-Paul-Forschung zur Verfügung gestellt. Für die Veröffentlichung des Textbandes in zwei Teilbänden wurden repräsentative Sammelhefte ausgewählt, die das weite Feld der Gedankensplitter, Ideenskizzen und Aphorismen dieser beiden Faszikel auszuschreiten suchen. Die für die Buchpublikation ausgewählten 16 Konvolute tragen die Titel Einfälle, Thorheiten, Bausteine, Actio, Gedankenblitze und Erfindungen (Das grüne Buch). Wie kein anderer Nachlassband vereinigt Band II/9 die Präsentation eines breiten Spektrums von Kollektaneen literarischer Ideen mit der Dokumentation eines enormen Abfassungszeitraums. Die Heftkonvolute der Einfälle, Bausteine, Erfindungen begleiten ihren Autor nahezu während der gesamten Zeit seiner Tätigkeit. Das erste von vier Heften, dessen Umschlag die Aufschrift Einfälle trägt, beginnt Anfang der 1780er Jahre – zu jener Zeit also, in der Jean Pauls erste Satiren mit ihren weit ausgreifenden, gelehrten Abschweifungen entstehen. Bausteinchen für

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künftige Werke werden noch um 1819 gesammelt, über die Thorheiten von Vertretern der Politik und des Klerus macht sich Jean Paul, echauffiert oder amüsiert, noch in den 1820er Jahren Notizen. Bei der Texterschließung, Textkonstitution und Kommentierung wird im wesentlichen nach den neuen Richtlinien verfahren, die im Herbst 2002 im Rahmen eines Koordinationstreffens der Jean-Paul-Editorinnen und -Editoren im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. vorgestellt wurden, dessen Veranstaltungsschwerpunkt bei der Abstimmung der Transkriptions- und Editionsrichtlinien lag. Das innovative Editionskonzept geht auf Vorgaben von Thomas Wirtz zurück und wurde von Birgit Sick für den Nachlassband II/10 überarbeitet. Es ist darüber hinaus maßgeblich für den Pilotband Hesperus der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition Abteilung IA – Werke. Die Richtlinien der Textkonstitution werden nur dort modifiziert, wo Eigenarten der in Band II/9 zusammengestellten Texte speziell zugeschnittene Lösungen erfordern. Das editorische Konzept wird dem Text des ersten Teilbandes der Einfälle, Bausteine, Erfindungen vorangestellt werden.

2. Zur Charakterisierung der Konvolutgruppen Die Konvolute der Einfälle vermitteln zunächst den Eindruck eines nicht enden wollenden assoziativen Gedankenflusses: ein Eintrag drängt sich an den nächsten, die spontan erscheinenden Eingebungen dieses verschriftlichten Brainstormings sind nur durch Gedankenstriche optisch voneinander abgesetzt. Auf rund 300 Manuskriptseiten werden nahezu ausschließlich Vergleiche in Satzlänge aneinandergereiht, die Konträres in immer neuen Kombinationen zusammenspannen. Ungleiche Paarungen offenbaren überraschende Ähnlichkeiten, erweisen sich als brillante Pointen und beeindrukkende Metaphern. Man tut den Einfällen unrecht, wenn man sie als voraussetzungslose Geistesblitze versteht, speisen sie sich doch immer wieder nachweislich aus der enzyklopädischen Fülle der Exzerpte. (Der Kommentar wird relevante Exzerpte exemplarisch wiedergeben.3) Mögen Exzerpte die kreative Produktion der Einfälle auch in Gang setzen, so fängt die Arbeit des Experimentators Jean Pauls jetzt erst richtig an. Es wäre zu kurz gegriffen, in ––––––– 3

Die Erschließung der Exzerpthefte, die Jean Paul von 1778 an führte (Fasz.1–5 des handschriftlichen Nachlasses) ist ebenfalls ein Projekt der Würzburger Jean-PaulArbeitsstelle. Es handelt sich um 110 Hefte, die transkribiert und in Form einer digitalen Edition zugänglich gemacht werden. Eine Online-Vorab-Publikation ist über die Website der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition http://www.uni-wuerzburg.de/germanistik/neu/jp-arbeitsstelle einsehbar.

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den Exzerpten die Keimzelle zu sehen, aus der sich die rankenden Sprossen dieser Notate dem Handlungsgerüst des Romans entgegenbiegen: sie geben i.d.R. nur den ersten Anstoß zu aleatorischen Gedankensprüngen. Das kann folgendes Beispiel zeigen: In den Exzerptheften gibt es eine Eintragung Jean Pauls, die das »Winterhaus« als unbeheizten Aufbewahrungsort für Pflanzen charakterisiert: Exzerpte, Fasz.IIa, Bd.3 (1783), S.105: Das Winterhaus sol die Gewächse blos vor Kälte bewaren, nicht wachsen machen, welches schädlich wäre.

Implizit nimmt das »Winterhaus« als konservierender Schutzraum demnach eine Gegenposition zum »Treibhaus« ein, das als warmer, womöglich beheizter Raum mit Sonnenlichteinfall u.a. für das Vortreiben von Pflanzen sorgt und somit die natürliche Wachstumsphase durch gärtnerische Kunstgriffe manipuliert. Jean Pauls Interesse am »Treibhaus« wie am »Winterhaus« als schützende Quartiere für Pflanzen ist letztlich ein anthropologisches, wenn er die Verwertbarkeit des Exzerpts für eine Literarisierung prüft. Wie folgt sieht dann die Wiederkehr des »Treib-« und des »Winterhauses« in den Einfällen aus: Mit dem Treibhaus dem Garten die Sonne verbauen – Treibhaus Winterquartier der Gewächse, Hospital, Findelhaus – Körper Findelhaus der Sele4 – Kopf p Gedächtnis f ein Winter-Herz p Einbildung f ein Treibhaus der Gedanken – Unsere moralische Wärme [soll] nur die eines Winter- nicht [die] eines Treibhauses haben5 – Im Treibhaus vor Untergang und Wachsthum bewahren; so die Auflage die Bücher6 – Kirche Winter- Treibhaus der Gotseligkeit7

Kurzerhand werden Pflanzen anthropomorphisiert zu Pflegebedürftigen und Waisenkindern, von denen der Gedankengang sich auf das Leib-Seele-Verhältnis wirft. Dann erfolgt ein Ideensprung vom »Winterhaus« zum »Winterherz«. Es ist zu vermuten, dass Jean Paul, der so viele Wortschöpfungen der deutschen Sprache zu verantworten hat, hier erstmals das »Winterherz« nennt8. Im vorletzten Beispiel werden die Eigenschaften des »Winterhauses« dem »Treibhaus« zugeschrieben – den witzigen Vergleich mit der Bedeutung ––––––– 4 5 6 7 8

Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen [Anm.1], Fasz.VII, Einfälle, Bd.2, S.18. Ebd., S.37. Ebd., S.26. Ebd., S.52. Im zu Lebzeiten veröffentlichten Werk begegnet »Winterherz« erstmals in: Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf (1799). 3. Poetische Epistel (SW I/7,469)

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der »Auflage« für den Erhalt des Druckerzeugnisses tangiert das nicht. Das Bild vom Kirchengebäude, in dem die »Gotseligkeit« der Gläubigen bewahrt wird oder zu gedeihen vermag, wird im abschließenden Notat in der absoluten Schwundstufe einer reinen Gedächtnisstütze dargeboten: ohne Artikel, Adjektive oder Verb(en) wartet dieses wieder ganz anders gewendete Kombinationspaar darauf, einem künftigen Textelement dienstbar gemacht zu werden. Wie man im edierten Textband sehen wird, befinden sich nicht alle der hier präsentierten Einfälle an einer Stelle. Die ersten drei Notate folgen aufeinander, die übrigen finden sich andernorts im zweiten Heft der Einfälle. Wie aus beliebig ausgewählten Zitaten aus der Unsichtbaren Loge erhellt, kombiniert und variiert Jean Paul dann die Beispiele aus den Einfällen in immer neuen Abwandlungen: Die unsichtbare Loge 3. Sektor (SW I/2,48) über den im unterirdischen Pädagogium einquartierten Pudel: »Für beide Menschen war es gut, daß unten in diesem moralischen Treibhaus ein Schulkamerad des Gustavs mit wohnte« 6. Sektor (SW I/2,60) über Gustavs Schönheit: »Sein Treibhaus, das ihn auferzog und zudeckte, bleichte ganz natürlich seine Lilienhaut zu einem weißen Grund, auf welchen zwei blasse Wangenrosen oder nur ihr Wiederschein und die dunklere feste Rosenknopse der Oberlippe geblasen waren.« 25. Sektor, (SW I/2,207f.) Auszug aus Ottomars Brief: »Welche Kraft wird denn an uns ganz ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern Kräften? Ists nicht schon ein Glück, wenn nur Eine Kraft wie ein Ast ins Treibhaus eines Hör- oder Büchersaals hineingezogen und mit parzialer Wärme zu Blüten genöthigt wird, indeß der ganze Baum draußen im Schnee mit schwarzen harten Zweigen steht? Der Himmel schneiet ein Paar Flocken zu unserem innern Schneemann zusammen, den wir unsre Bildung nennen, die Erde schmelzt oder besudelt ein Viertel davon, der laue Wind löset dem Schneemann den Kopf ab – das ist unser gebildeter innerer Mensch, so ein abscheuliches Flickwerk in allem unseren Wissen und Wollen« [...] »Die zurückgepreßten in einander sich krümmenden Zweige drücken das Fenster des Winterhauses, der Regent lässet in der compotière ihre Frucht vor seinem Teller vorübergehen, der blaue Himmel fehlet ihnen, das Gescheidteste ist noch, daß sie verfaulen!« 29. Sektor (SW I/2,247) Oefel: »Ihm gefiel an Beaten (und an jedem Mädchen) nichts als dieses, daß er, wie er dachte, ihr gefalle, er würde die fünf hundert Millionen Weiber auf der Erde alle lieben, wenn er ihnen allen gefiele, er wieder keine einzige, wenn er keiner einzigen. Er erzählte jetzt dem Gustav, durch welches Fenster er im Winterhaus von Beatens Herzen ihre Liebe zu ihm habe blühen sehen.«

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Band II/9 wird die Vergleichsreihen der Einfälle als fortlaufende präsentieren. Indem die einzelnen Einfälle voneinander nur durch Gedankenstriche getrennt erscheinen, orientiert sich die Edition an der Vorgabe der Handschrift. Berends Verfahrensweise in seinen Abschriften9 der Einfälle, die Eintragungen voneinander zu isolieren und dergestalt in den Rang von Sinnsprüchen und Aphorismen zu erheben, entspricht im wesentlichen dem Schema, nach dem diese Konvolute immer wieder für Florilegien geplündert wurden10, angefangen bei Försters Nachlassband aus dem Jahr 1837 bis hin zu jener Auslese, die von Wirtz und Wölfel für das Ideen-Gewimmel11 getroffen wurde. Für die historisch-kritische Edition hatte sich Wirtz jedoch für die originale Wiedergabe der Textanordnung entschieden. Das aktuelle Editionskonzept wird ebenso verfahren, so dass jede der einschlägigen Konvolutgruppen ihr individuelles Profil zeigen kann. Zu ihnen gehören die drei Hefte der Thorheiten. Jean Pauls Notizen zu törichten Verhaltensweisen räumen nun wiederum jeder der hier konstatierten menschlichen Schwächen einen eigenen Bereich ein. Jede Eintragung beginnt mit einem neuen Absatz, einer vom anderen durch ein Platzhalterzeichen isoliert. Beachtlich ist, dass Jean Paul dieses Ideenmagazin verwunderlicher Narrheiten ungewöhnlich lange unterhält. Möglicherweise angeregt durch die Lektüre von Erasmus von Rotterdams’ Lob der Thorheit, gewiss aber durch die Reflexionen und Aphorismen der französischen Moralisten bis hin zu Voltaires spöttischen Ausfällen gegen zeitgenössische Sitten und Gebräuche, beginnen die Eintragungen in den frühen 1780er Jahren und enden in den 1820er Jahren. Der Schwerpunkt seiner Invektiven verlagert sich u.a. von höfischer Verschwendungssucht zu politischer oder klerikaler Inkompetenz im Zusammenhang mit restaurativen Tendenzen nach dem Wiener Kongress. ––––––– 9

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11

Die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrten Abschriften Eduard Berends von Teilen des heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz befindlichen Nachlasses von Jean Paul wurden von der Verfasserin zur Kontrolle der eigenen Transkriptionen genutzt. Hinzu kommen Erstdrucke einzelner Notate (auch aus anderen Konvoluten): in Band 62 der ab 1826 erschienenen Ausgabe Jean Paul’s Sämmtliche Werke: Jean Paul’s literarischer Nachlaß. Herausgegeben von Ernst Förster. Berlin: Reimer 1838, in dem Band Jean Paul: Aphorismen. Ungedruckter Nachlaß. Mitgeteilt von Paul Nerrlich. In: Deutsche Dichtung. Hrsg. von Karl Emil Franzos. Bd.8 (1890), Heft 3 vom 1.Mai 1890, S.54–58, in dem von Josef Müller herausgegebenen Band Jean Pauls litterarischer Nachlaß, in: Euphorion 6 (1899), S.548–574 und S.721– 752 in dem Band: Aus dem Nachlaß Jean Paul's. Herausgegeben von Dr. Josef Müller. Berlin1924. Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Ungedrucktes aus vierzigtausend Blättern. Hrsg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. Frankfurt a. Main 1996 (=Die Andere Bibliothek. Hrsg. von Hans Magnus Enzensberger. 135).

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Die Thorheiten weisen Überschneidungen mit den Exzerpten einerseits, mit den Bemerkungen über den Menschen (SW II/5) andererseits auf. Die Thorheiten verweisen auf Quellen, nennen Namen und Orte; die Bemerkungen tendieren zu Verallgemeinerungen, fixieren Maximen. Will man also Variationen der hier versammelten Aufzeichnungen finden, so lohnt nicht nur der Blick in die Satiren Jean Pauls, sondern eben auch die Recherche in anderen Nachlasskonvoluten. Für eine Längsschnittdokumentation eignen sich gleichermaßen die knappen Handlungsexposés der Bausteine: ihr Entstehungszeitraum erstreckt sich immerhin von 1790 bis mindestens 1820. Die Bausteine liefern dem Autor das Material für Digressionen. Sie bilden die Versatzstücke für die Szenarien jener Episoden, die in Romanen Jean Pauls die geradlinig erzählte Geschichte lediglich eines Protagonisten ebenso erfolgreich wie amüsant oder tragisch verhindern. Mit diesen zumeist in knappen Worten umrissenen Handlungskonstrukten verfährt Jean Paul uneinheitlich: einige Plots werden numerisch aufgeführt, bei anderen ist lediglich das erste Wort unterstrichen, vereinzelt wird eine Situation durch ein längeres Stichwortverzeichnis skizziert. Etliche der in diesen Heften gelagerten Bausteinchen werden in unterschiedliche Kontexte eingefügt. Sie scheinen also mehrfach benutzt worden zu sein. Allerdings stehen die Ausformulierungen i.d.R. nur noch in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu den hier im Status der Vorläufigkeit aufgespeicherten Handlungsskizzen. Zur Anreicherung z.B. der »Komischen Historien«, der »Bauten« (so beispielhaft Seitenüberschriften der grob vorsortierten Bausteine) konnte Jean Paul u.a. auf die Wörterspeicher in Actio zurückgreifen. Die beiden Konvolute mit dem Titel Actio verfahren gleichfalls recht sprunghaft: Textbausteine sind zusammengewürfelt mit Absätzen, die über Spezialthemen zu improvisieren scheinen oder mit Wörterlisten, denen es scheinbar lediglich um das materiale Anhäufen von Substantiven zu tun ist, die einem Begriff subsumiert werden. Eventuellen Anwürfen, Wörterlisten tendierten gegen den Nullpunkt der Literarisierung und hätten daher kaum Berechtigung Eingang in einen Nachlassband zu finden, wird der Kommentar zu Band II/9 begegnen können: etliche der Spezialbegriffe dieser Aufzeichnungen bilden den Kitt oder Mörtel für Textbausteine oder sind selbst Mosaiksteinchen, die in eine Romanszene eingepasst werden. Die Gedankenblitze hingegen erfreuen den Ästheten: sorgfältig abgefasst in schöner Schrift zeugen sie gerade nicht von spontaner Impulsivität. Sie glänzen mit pointierten, geschliffenen Formulierungen zu Jean Pauls zentralen Themen (Tod und Liebe, Traum, Kleinheit der Welt, Weltverachtung,

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Erinnerung etc.). Mit ihnen wurde aus dem Steinbruch der kumulierten Ideenvorräte poietisches Material geschlagen und von unbrauchbarem Schotter gereinigt. Manch ein ins Unreine geschriebener oder in elliptischer Verkürzung notierter Einfall erscheint hier poetisch überhöht. Sie belegen, dass Jean Pauls nachgelassenen Konvolute neben die flüchtige Unausgeführtheit und abstruse Kombinatorik in (überspitzt gesagt) »Sudel«-büchern auch den Ort für Stilübungen und eine Konzentration auf ästhetische Sprache bereitstellen. Im Autographen zerfällt jede Textseite in mehrere Rubriken. Auf den letzten Heftseiten hat Jean Paul mit einem Register zu den diversen Schlagworten begonnen. Der Entstehungszeitraum ist wohl überwiegend in den 1790er Jahren anzusetzen. Die Erfindungen schließlich zeugen von den Reflexionen des Autors über den Konstruktionsplan eines Romans, den Entwurf einer Fabelarchitektur. Zur enthusiasmierenden Idee tritt nun die besonnene Überlegung zur geeigneten Vorgehensweise. Die Erfindungen nehmen ihren eigenen Autor in die Pflicht, aus dem überbordenden Reservoir an Einfällen und Wortvorräten auszuwählen, die wortkargen Exposés der Bausteine zu beleben, den Figuren einen Namen zu geben. Teile der Erfindungen können als Vorstudien zu Jean Pauls großer kunsttheoretischer Schrift Vorschule der Ästhetik namhaft gemacht werden. Poetologische Reflexionen als intertextueller Rekurs wie als Befragung der eigenen Vorgehensweise als Autor erscheinen vernetzt mit den aus anderen Nachlasskonvoluten vertrauten Ideenvorräten für künftige Werke. Im Grünen Buch der Erfindungen, das in der Zeit vom März 1790 bis zum Mai 1794 entstanden ist, begegnen Protagonisten und Orte aus Romanen Jean Pauls, aber auch unüblich viele Verweise auf andere Autoren und ihre fiktiven Geschöpfe. Vielleicht am frappierendsten erscheinen die lakonischen Selbstanweisungen, z.B. »Entwirf alle Eigenschaften eines Karakters, nicht Eine«12 oder »Mache dir nie den Plan leicht«13

––––––– 12

13

Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen [Anm.1], Fasz.IX, Das grüne Buch (Erfindungen), S.13; vgl. die Begründung dieser Arbeitsregel in der Vorschule der Ästhetik, SW I/11,192: »Der Charakter wird nicht von Einer Eigenschaft, nicht von vielen Eigenschaften, sondern von deren Grad und ihrem Misch=Verhältnis zueinander bestimmt«. Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen [Anm.1], Fasz.IX, Das grüne Buch (Erfindungen), S.14; vgl. auch den Rat für »komische Romanschreiber [...], daß sie fast länger am Entwerfen als am Ausführen ihrer Plane arbeiten sollten«, in: Vorschule der Ästhetik, SW I/11,249.

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3. Von Varianten und Variationen Künftige Forschungen werden sich mit der Frage befassen, wie der Anteil dieser Aufzeichnungen am Werk Jean Pauls zu bewerten ist. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht relativ eindeutige Verwendungsspuren, die man in den Manuskripten sieht. Passagen, die in ein publiziertes Werk Eingang gefunden haben, wurden vertikal oder diagonal gestrichen, einzelne Sätze hingegen horizontal. Selten einmal fällt die Entscheidung schwer, ob es sich um eine Verwendungsstreichung oder lediglich um eine Tilgung handelt, von der in der Regel nur einzelne Worte betroffen sind. Der Variantenapparat wird im Fußnotenbereich des Textbandes ediert, die Auskünfte über die Verwendungsstreichungen sind davon ausgenommen. Während eine Streichung im Sinne einer Tilgung Aufschluss über das gibt, was Text hätte werden können, gibt die Verwendungsstreichung einen Hinweis auf das, was bei Jean Paul Text geworden ist: ein literarischer Text, der die ausgestrichene Formulierung allerdings für gewöhnlich variiert. Über die Tilgung, die das Geschriebene rückgängig macht, gibt (im Textband) das lemmatisierte Variantenverzeichnis Auskunft. Die Verwerfung steht qualitativ auf einer Stufe mit nachträglichen Einfügungen, Hinzufügungen. Der Fußnotenbereich unserer Textbände weist die Textoperationen von detractio (Streichung), adiectio (Einfügung) und immutatio (Überschreibung, Auswechslung) nach. Im Nachlassband II/9 kommt die vierte Möglichkeit, mit Textkomponenten zu verfahren, nicht vor: es gibt keinen Beleg für eine transmutatio (Umstellung) von Satzgliedern oder Worten. Umgestellt, an einen anderen Ort, in eine andere Umgebung getragen werden – bei aller Kürze – Textteile, Bilder, Vergleiche. Erste Einfälle dienen der Produktion innovativer Vergleiche, Bausteine werden Teil eines übergeordneten Ganzen. Die Verwendungsstreichung gibt ein ähnliches Signal der Wertschätzung wie etwa die Randbemerkung NB (notabene), die sich häufig neben Aufzeichnungen findet. Was durchstrichen wurde, bleibt lesbar, wird also nicht unkenntlich gemacht durch Schraffuren oder Überklecksen mit Tinte. Meines Erachtens sind es gerade die Verwendungsstreichungen und die damit einhergehende Aufwertung der gestrichenen Textpartien, die die Einfälle, Bausteine, Erfindungen als wichtigen Bestandteil des dossier génétique von Werken Jean Pauls ausweisen. Die Striche markieren optisch den Umschlagpunkt, an dem die Vorarbeit des Sammelns von Stichwörtern, des Kumulierens von Szenarios in die Textualisierungsphase übergeht. Gleichwohl geben die Markierungsstreichungen nur höchst unvollständig wieder, in welchem Umfang Jean Paul Motive, Ideen, Charakterzüge variierte und fortentwickelte. Der Nachlassband 9 verfolgt das Anliegen, die ange-

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Petra Zaus

sprochenen Korrespondenzen zu dokumentieren und exemplarisch zu kommentieren. Haben die diversen Spezialsammlungen auch jeweils ein eigenes Profil, so werden über die variierten Gedanken Vernetzungen sichtbar. Leitendes Prinzip der Edition der letzten, in Kürze erscheinenden Nachlassbände (II/9 und II/10) ist Leserfreundlichkeit, die insbesondere bei einem Autor geboten erscheint, dessen Anspielungsreichtum allein der ausgeführten Romane ohnehin die Lektüre erschwert. Da die hier zu publizierenden Notate durchweg von Schreibkürzeln, Buchstabenauslassungen und Fragmenten gekennzeichnet sind, sind nach unserer Auffassung (die vom Autortext optisch deutlich abgehobenen) Herausgeberergänzungen unerlässlich, will man die Nachlasskonvolute als Forschungsgrundlage zugänglich machen. Auf diese Weise bleiben zudem Jean Pauls variierende Schreibweisen erhalten. Der lange Abfassungszeitraum der für Band II/9 ausgewählten Konvolute konfrontiert den Leser mit der ganzen Bandbreite des umfangreichen Abkürzungssystems und der individualistischen Orthographie.14

4. Resümee Der Variationsreichtum der in Band II/9 edierten Konvolute eignet sich in besonderer Weise zur Dokumentation differenzierter Aspekte der Genese Jean Paulscher Werke mit ihren Zwischenschritten auf oftmals nebeneinander her laufenden Wegen. Trotz der Vielfalt der in Band II/9 zusammengestellten Konvolute ergibt sich eine Einheit in der Mannigfaltigkeit aus der durchgängigen Relevanz dieser Nachlassmaterialien. Olla Potrida, das spanische Nationalgericht aus Gemüse und Wurst,15 kann wörtlich pejorativ als »fauliger Topf« übersetzt werden. Wenn aber Jean Paul in den Einfällen (Teil 1) schreibt: »Die weisse Farbe ist die Olla Potrida von den Farben«,16 verbindet er mit diesem fröhlich klingenden Begriff die durchaus positive Eigenschaft der Synthese. Was als Unfarbe erscheint, ist tatsächlich die Summe aller Farben, die es in ihre Einzelwerte aufzuschlüsseln gilt.

––––––– 14

15

16

Vgl. Eduard Berends Aufstellung zu den Handschriftenphänomenen: Zur Orthographie (SW II/1,351–357). Über dieses Suppen-Allerlei vgl. auch die Unsichtbare Loge, SW I/2,329 (Gustav an der Weihnachtstafel). Jean Paul, Einfälle, Bausteine, Erfindungen [Anm.4], Fasz.VII, Einfälle, Bd.1, S.1.

BIRGIT SICK

JEAN PAULS NACHGELASSENE SATIREN UND IRONIEN ALS WERKSTATT-TEXTE Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen

Jean Paul macht die Reflexion über das Schreiben selbst, mithin auch die über die Schreibbedingungen und die Herstellung von Texten, vom Anbeginn seiner literarischen Produktion an zum Thema und beschreibt seine Autorschaft auch in Werkstatt-Metaphern: In dem Text Ausläuten oder Sieben letzte Worte an die Leser der Lebensbeschreibung und der Idylle, einem der Unsichtbaren Loge, seinem Erstlingsroman, angehängten Text, reflektiert er nicht nur über das ans Ende gekommene Schreiben des Romans, sondern geht auch darauf ein, wie unter seinen Händen »die Papierspäne [...] von diesem Buche fielen«.1 Diese, so fährt er fort, äschere er allerdings nicht, wie andere Autoren das zu tun pflegen, ein, sondern bewahre sie sorgsam zur möglichen Weiterverwendung auf. Sein Beruf als »Büchermacher«, wie er sich selbst mehrfach bezeichnet,2 erfordert außerdem, sich nicht nur die Werkzeuge, die er für die Textarbeit benötigt, selbst herzustellen (in Parallele zu zahlreichen seiner Protagonisten), sondern diese auch durch sorgsame Strukturierung für eine zukünftige Weiterbearbeitung verfügbar zu halten. Ein Beispiel hierfür sind u.a. zahlreiche, in seinem Nachlaß befindliche Konvolute von Wörtersammlungen und Metaphernlisten.3 Dem Schreibgerät kommt in diesem Konzept notwendigerweise eine ganz besondere Bedeutung zu, könne dessen Qualität doch, wie sich Jean Paul etwa im Falle einer Schreibfeder ironisch ausmalt, auch über die Qualität des ––––––– 1 2

3

I/1,463. Jean Paul, Vorrede zum satirischen Appendix der Biographischen Belustigungen, in: I/4,347–362, hier: S.347 und S.349. Vgl. dazu die Beschreibung von Faszikel VIIIb des handschriftlichen Nachlasses Jean Pauls in: Ralf Goebel, Der handschriftliche Nachlass Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Teil 1: Faszikel I bis XV, bearbeitet unter Mitarbeit von Ralf Breslau. Wiesbaden 2002 (= Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kataloge der Handschriftenabteilung, hrsg. von Eef Overgaauw, Zweite Reihe: Nachlässe, Bd.6), S.66–74.

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Geschriebenen entscheiden. In dem folgenden Eintrag des Satire-Bandes 14 (1789) erfährt man darüberhinaus, wie der bloße Test des Arbeitswerkzeuges zu Literatur wird: Einflus der Federn. Der Rezensent der mich tadelt kan das nicht wissen daß ich gerade mit einer Feder geschrieben die schuld daran ist. Hätte ich eine bessere gehabt und hätte man mir weniger schändl. nicht hiesige Gänskiele für Hamburger angehangen: so hätte ich nicht so schreiben könen. Denn man erwägt nicht genug, daß der Werth eines Buchs nicht blos vom Kopf sondern p auch f der harten oder weichen Feder abhänge. Und folglich schreibe ich blos hieher um meine neugeschnittene Feder zu probiren und iezt habe ich sie probirt.4

Schreibwerkstatt und Satire Der Zusammenhang zwischen der Selbstbezüglichkeit des Schreibens, d.h. der Fokussierung auf die Gemachtheit eines Textes einerseits und dem Satirischen andererseits ist für Jean Paul grundlegend: Der Autor unterbricht das Erzählen der Geschichte bekanntlich immer wieder durch sogenannte »Einschaltungen«, kleine, im Prinzip selbständige, handlungsunabhängige Texte. Mit diesen, häufig »Extrablätter« oder »Extrazeilen« genannten Einschüben bringt der Erzähler sich selbst und damit das Erzählen – gegen die Zeichenvergessenheit – in Erinnerung. Symptomatisch für dieses Verfahren sind etwa die Kapitelbezeichnungen des Romans Hesperus oder 45 Hundsposttage (1795), die Jean Paul in »Hundsposttage«, d.h. Kapitel, in denen der Roman, die Handlung erzählt wird, und in »Schalttage«, die satirische, mitunter vom Romangeschehen völlig unabhängige Digressionen enthalten, untergliedert. In der Vorrede zum Satirischen Appendix der Biographischen Belustigungen nimmt Jean Paul diese Problematik ironisch auf und erzählt, wie »der Büchermacher und Biograph in Hof, Jean Paul« auf die Anklagebank muß, weil seine Leserschaft ihm vorwirft, die Satire wirke dem Fortkommen des Lesers im Buch entgegen. Damit begehe der Autor sozusagen Betrug am Leser (und Käufer) der Bücher, der eine fortlaufend erzählte Geschichte er––––––– 4

Jean Paul, Satiren und Ironien. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XIIa und XIIb, hier: Fasz.XIIb, Bd.14 (1789), Nr.[66]/64, S.25. Der edierte Text wird ohne Varianten wiedergegeben. Siglen: Kursivierung: Ergänzung der Abkürzungen Jean Pauls durch die Herausgeberin; Schriftart Arial: lateinische Schrift; Text in eckigen Klammern: fehlt in H, durch die Herausgeberin ergänzt; Zählung in eckigen Klammern: fortlaufende Zählung der Edition bei Auslassungen oder Verzählungen Jean Pauls; \Zahlenangabe\: Paginierung; p f optionale Schreibweisen über der Zeile; Unterpunktierung: unsichere Lesung.

Jean Pauls nachgelassene ›Satiren und Ironien‹ als Werkstatt-Texte

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warte und stattdessen mit Unterbrechungen und Ausschweifungen des Erzählens behelligt und aufgehalten werde. In diesem Sinne fordern die Ankläger, daß der Biograph Jean Paul in seinen künftigen Historien geradeaus wie ein Kernschuß zu gehen schuldig, ohne Anspielungen, ohne Reflexionen und mit Ernst ohne Spaß, überhaupt daß er unter dem Vortrage seiner biographischen Partitur hinter seinem Notenpult eine satirische Pantomime gegen sämtliche Zuhörerschaft zu ziehen sich ernstlich zu enthalten und alle diesfalls kausierten Schäden zu tragen verbunden.5

Der Autor seinerseits kontert die Anklage der Leser mit der Lektüreanweisung, die selbstbezüglichen Textteile seines Werkes bei Nichtgefallen einfach zu überblättern, was er sogar eigens durch Markierungen der Einschübe für das Lesepublikum einkalkuliere und vorbereite: Beklagter negiert gänzlich, daß Klägere seine eingeschalteten Digressionen, Satiren etc. lesen müssen: er warnt sie vielmehr stets durch Überschriften oder Leuchtfeuer vor solchen gefährlichen Sandbänken und Skagerraks, und es ist ihre Schuld, wenn sie diese Riffs nicht umfahren, d.h. umschlagen.6

Entgegen der Selbstdarstellung des späten Jean Paul ist das Satirische, das er von seinen frühesten Schreibversuchen an praktiziert und pflegt, konstitutiv für sein Schreiben und zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk – bis in seinen letzten Roman Der Komet (1820–22) hinein. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Unsichtbaren Loge (1821) insinuiert Jean Paul dagegen, er habe »neun Jahre lang in seiner satirischen Essigfabrik« gearbeitet, »bis er endlich im Dezember 1790 durch das noch etwas honigsauere Leben des Schulmeisterlein Wutz den seeligen Uebertritt in die unsichtbare Loge« genommen habe.7 Mit dieser teleologischen Denkfigur inszeniert er also die Interpretation dieses Werkaspekts als schriftstellerische Frühphase, die er später im Zuge seiner Weiterentwicklung als Autor überwunden und verworfen habe. Ganz im Gegensatz zu dieser spät geäußerten ›Überwindungsthese‹ sind seine Texte aber vielmehr von der Zweiheit, der Doppelgesichtigkeit erhabener Empfindsamkeit einerseits und Satire andererseits geprägt. Diese Simultaneität von Spaß und Ernst bezeichnet er denn auch an anderer Stelle, dem Vorbericht zum Kampaner Tal, als »binomische Wurzel oder [...] Zwitterblüte« seiner Bücher.8 ––––––– 5 6 7 8

I/4,348. Ebd.,355. SW I/2,7. I/4,563.

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Birgit Sick

Tatsächlich kann im Werk Jean Pauls von einer ›Abkehr‹ von der Satire und einer ›Wende‹ zum Roman, wie sie die Aussage aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Unsichtbaren Loge insinuiert, keine Rede sein. – Dies bestätigt nicht zuletzt auch die Entstehungsgeschichte der nachgelassenen Satiren und Ironien, denn gerade im Jahr 1790 legt Jean Paul weitere vier dieser Bände an. Noch erstaunlicher ist der Prozentsatz der Entwürfe, die aus dieser Textsammlung vermutlich in das publizierte Werk eingingen. Zum gegenwärtigen Stand der Arbeiten gehe ich davon aus, daß beispielsweise rund 44 Prozent aller Konzepte aus Band 14 (1789) von Jean Paul zur Publikation weiterverarbeitet wurden, d.h. vor allem in die Romane und kleineren Erzählungen eingingen. Die zentrale Bedeutung, die das Satirische zeitlebens für die literarische Produktion Jean Pauls im allgemeinen und für die Werkgenese im besonderen hatte, erschließt und konkretisiert sich zunehmend durch die Auswertung der Arbeitsergebnisse, die bislang im Rahmen der Edition der Satiren und Ironien vorgelegt werden können.

Das Konvolut der nachgelassenen Satiren und Ironien Bei den Satiren und Ironien handelt es sich um ein nahezu unbekanntes Konvolut aus dem Nachlaß des Autors. Die Sammlung der insgesamt 21 Studienhefte wird in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz verwahrt. Jean Paul hat daran – beginnend um 1781/82 – bis 1803, d.h. bis zum Erscheinen des letzten Bandes des Titan, aktiv gearbeitet. In einem Brief an Christian Otto vom 15. Juli 1790 charakterisiert er die Satiren und Ironien folgendermaßen: Ich werde mich wahrhaftig schlecht bei der klugen Welt entschuldigen, wenn ich mich mit den vielen Bänden blos entworfner Satiren, die ich iede Stunde gerichtlich niederlegen kan, zu decken meine: denn die Welt kan sich gar zu leicht denken, daß ihrem Vergnügen nur die Sachen zu Passe kommen, die ich schon zum Drucke fertig gemacht.9

Über 20 Jahre lang schrieb Jean Paul an diesen, wie er selbst sagt, »vielen Bänden blos entworfner Satiren«, die innerhalb des Nachlasses als eine eigenständige Sammlung anzusehen sind und keinem anderen werkgenetischen Kontext zugeordnet werden können – etwa als direkte Vorarbeiten einer seiner beiden frühen publizierten Satire-Sammlungen, den Grönländischen Prozessen (1783) oder der Auswahl aus des Teufels Papieren (1789). Dies ist ––––––– 9

SW III/1,314f.

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bereits rein formal daran erkennbar, daß die Satire-Bände eine einheitliche Titulierung aufweisen – Jean Paul bezeichnet den Inhalt auf dem Deckblatt jeweils mit »Satiren«, »Ironien« und/oder »Laune« – und fortlaufend numeriert sind. Auf insgesamt rund 2000 Manuskriptseiten sammelte der Autor hier viele Tausende mehr oder weniger lange Einträge zu unterschiedlichsten Themenbereichen. In der ambitionierten Materialsammlung der Satiren und Ironien wird sowohl die äußere Welt (vgl. die bereits zitierte, Literatur gewordene Federprobe) als auch eine bereits medial über Bücher vermittelte Welt zum Text. Reales und fingiertes Leben werden in Schrift überführt. Dementsprechend herrschen in diesem Konvolut keine thematischen Beschränkungen, und bereits die willkürliche Stichprobe einiger fortlaufender Einträge aus dem Satire-Band 14 (1789) verdeutlicht, wie Themenbereiche aus Schriftstellertum, Philosophie, Moral, Politik und Alltagsbeobachtungen einander in scheinbar buntestem Durcheinander abwechseln: »Neue schnelle Autoren« [181]/179, »Bedingung mit dem Türken« [182]/180, »Abzeichen der Christen« [183]/181, »Iüdische Geizige« [184]/182, »Saufen des Weins« [185]/183, »Verschwender der Staats Schäze« [186]/184, »Iunge haket die Perücke auf« [187]/185, »Stoktragen« [188]/186, »Christenthum auf Münzen« [189]/187, »Händeküssen« [190]/188, »Autorenübungen« [191]/189, »Breite Schnallen« [192]/190, »Keuschheit der Damen« [193]/191, »Fabel [von der] Büchermotte« [194]/192, »Stuzer« [195]/193.

Ob Jean Paul Themen verschiedenster Diskurse aufgreift oder über die Schuhmode des 18. Jahrhunderts schreibt: Alles gerät ihm unter der Feder zum Gegenstand seiner witzigen Einfälle, und gerade an der Beliebigkeit der literarisierten Gegenstände erweist sich die Kunst des Autors, die Produktivität seiner Autorschaft: Breite Schnallen. Die durchbrochenen Silberplatten auf den Schuhen. Wir beschlagen mit Metalle den Fus oben, nicht unten Ich werde wenig Einfälle mehr darüber haben und Schnallen habe ich gar nimmer. Ein Gitter p Gatterthor f über dem Schuh. Paskal trug einen stechenden Gürtel, um nicht eitel zu sein; sie [fühlen den] Druk der Schnalle. Sie können den Wissenschaften zur Leiter, oder doch zur Stüze dienen: die Schuhe könten mehr Dinge beibringen – d.[urch] Buchstaben, verschlungene Züge – als selbst der Kopf. Das Zifferblat p Gesperre f des Schuhes – ein Achilles Schild, worauf die halbe Welt zu bringen wäre. Beinschellen für Leute die keine andere Sünde gethan haben als daß sie sich zur Sünde unfähig machten. Man predigt und betet gegen meine ausserordentliche Fülle an Einfällen; wenn aber 10 Männer über 1 Sache schrieben: so hätten sie eben soviele Einfälle. Man nehme mich f.[ür] 10 Man, d.h. für 20 Hände. – Infibulazion des Schuhes – der Fus unter seinem Bleidach. Die Beinkleider \76\ -schnallen wachsen nicht mit ihren tiefern Brüdern. Der Schuh ist der Besaz, Anflug der Schnalle. Rede ich noch

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Birgit Sick länger darüber: so beweis’ ich, daß 2 Dinge die Schnalle grösser als den Schuh, das Band grösser als den Verbund machen – ich und mein Iahrhundert.10

Die Anlage der Satiren und Ironien läßt auch Rückschlüsse auf Jean Pauls Selbstverständnis als Schriftsteller zu: Es geht ihm nicht um das abgeschlossene und vollkommene Werk, sondern um das Zusammentragen und Kombinieren von möglichst vielen Textbausteinen, und das heißt für die Entwurfshefte der ›Satiren‹ vor allem: Vergleiche, die in einem unendlichen Spiel mit ihren vielfältigen Ergänzungs- und Veränderungsmöglichkeiten arrangiert und verfügbar gehalten werden. Der Datierung der einzelnen Bände zufolge verlief die Entstehungsgeschichte der Satiren und Ironien phasenweise. Das erste umfangreiche Konvolut mit insgesamt 536 Seiten entstand in einem relativ kurzen Zeitraum: Jean Paul schrieb an den Bänden 1 bis 4 um 1782, also etwa zu der Zeit, als er sein Theologiestudium in Leipzig aufnahm. In den Jahren 1784/85 kam dagegen nur ein Band (5) dazu, der allerdings mit 168 Seiten recht umfangreich ist. Zwei Jahre später, 1786, wuchs der Bestand der Satiren und Ironien um weitere vier Bände (6 bis 9) mit insgesamt 248 Seiten an. In den Jahren 1787 bis 1789 arbeitete Jean Paul an fünf Bänden (10 bis 14) mit einer Gesamtseitenzahl von 390 Seiten. 1790 entstanden noch einmal mehrere SatireBände (15 bis 18): Jean Paul schrieb hier an vier Bänden mit insgesamt 218 Seiten. Nach sechsjähriger Unterbrechung nahm er – mittlerweile ein berühmter Romanautor – die Arbeit an den Satiren und Ironien wieder auf. Aus dieser Zeit stammen schließlich die drei letzten Satire-Bände, die allerdings in einigem zeitlichen Abstand voneinander geschrieben wurden: Der 108seitige Band 19 datiert aus den Jahren 1796/97, Band 20 (58 Seiten) entstand 1799 und Band 21 (76 Seiten) 1803. Setzt man die Genese der Satire-Bände mit der Publikationsgeschichte der literarischen Texte Jean Pauls in Beziehung, so ergibt sich folgendes Bild: Zunächst veröffentlicht Jean Paul die beiden oben genannten frühen SatireSammlungen. Dann folgt eine zeitliche Unterbrechung, und vier Jahre später setzt die Publikationstätigkeit mit dem Erscheinen des Romanerstlings, der Unsichtbaren Loge (1793), wieder ein. Mit Blick auf die vom Autor selbst vorgenommene Datierung der nachgelassenen Satiren und Ironien läßt sich feststellen, daß demnach 13 Bände vor der Publikation der zweiten Satire-Sammlung und der danach einsetzenden zeitlichen Unterbrechung entstanden, einer gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Teufelspapiere und sieben danach. ––––––– 10

Jean Paul, Satiren und Ironien [Anm.4], Fasz.XIIb, Bd.14 (1789), Nr.[192]/190, S.75. Siglen: [Anm.4].

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Wendet man sich wieder der ›äußeren‹ Publikationsgeschichte der Jean Paulschen Werke zu, dann erstaunt die Vielzahl der Texte, die nun in den folgenden Jahren in einem relativ kurzen Zeitraum gedruckt werden: Zwischen 1795 und 1798 erscheinen zwei weitere Romane, Hesperus und Siebenkäs, ersterer sogar in einer zweiten, wesentlich überarbeiteten Auflage (also eigentlich drei neue Texte), dann die Idylle vom Quintus Fixlein mit zahlreichen beigegebenen, eigenständigen Texten, die Biographischen Belustigungen mit einigen Anhängen, darunter der Jubelsenior als eigenständige Publikation, die »Zwitterblüte« des Kampaner Tals, ein Mischtext aus ernsthaften theologischen Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele und einem spaßhaften zweiten Teil, in dem Jean Paul in Lichtenberg’scher Manier die Holzschnitte des Bayreuther Katechismus erklärt, sowie schließlich eine weitere Sammlung von satirischen Texten, die Palingenesien. – Wie ist diese außerordentlich umfangreiche, in so kurzem Zeitraum stattfindende Textproduktion zu erklären?

Die Satiren und Ironien als mittelbare Romanvorarbeiten Als 1793 Jean Pauls erster Roman, die Unsichtbare Loge, erscheint, sind seine Vorratskammern für die Literaturproduktion prall gefüllt, verfügt er bereits über 86 Prozent des Gesamtmaterials der Satiren und Ironien. 18 von insgesamt 21 Bänden, rund 1500 Seiten Papier, sind zu diesem Zeitpunkt vollgeschrieben und warten nur darauf, hervorgeholt, auf die Werkbank gelegt und weiterbearbeitet zu werden. Im Gegensatz zu direkten Romanvorarbeiten zielt die Materialsammlung der Satiren und Ironien nicht auf eine einzelne Publikation ab. Die in ihr zur Weiterverarbeitung bereit gehaltenen Entwürfe beziehen sich in der Regel auch nicht auf die Romanhandlung, d.h. auf eine fortlaufend erzählte Geschichte und das darin agierende Personal. Sie stellen vielmehr eigenständige Texte dar, die vom Autor bei seiner Schreibarbeit deshalb in völlig unterschiedliche Werkkontexte eingebettet werden können. Die Bände der Satiren und Ironien liefern Jean Paul ein Reservoir an bereits weitgehend ausformulierten, literarisierten Ideen und Kurzgeschichten, das er für die Romanproduktion nachweislich nutzt. Zahlreiche Lektürevermerke am Ende der Bände sowie Bearbeitungsspuren in den Texten, wie etwa Verwendungsstreichungen, bezeugen das. Jean Paul hat sich mit dieser Textsammlung in gut 10jähriger Vorarbeit (vom Erscheinungsjahr des ersten Romans an gerechnet)

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eine Textbasis erschrieben, die in den 90er Jahren die Entstehung seiner literarischen Publikationen enorm beschleunigt. Dabei ist Jean Paul die Funktion der Textsammlung für den zukünftigen Schreibprozeß von Anfang an bewußt, denn er kalkuliert bereits die Leseund Suchvorgänge, die er für diese selbst produzierten Textmengen wird aufwenden müssen, voraus. Die hohe Priorität, die das ständige Verfügbarhalten der Texte zur Weiterverarbeitung für den Schriftsteller hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß er sich sein Textuniversum gezielt durch Ordnungsstrukturen erschließt: Er bezeichnet, numeriert und datiert die einzelnen Bände, er paginiert sie und er setzt die einzelnen Einträge räumlich voneinander ab. In den frühen 80er Jahren, als die Armut in der Familie Richter noch groß und das Papier teuer und knapp ist, kennzeichnet der junge Jean Paul die engen Zwischenräume der einzelnen Texteinheiten durch ein oder mehrere Kreuzchen. Später, als er sich großzügiger auf das Papier zu schreiben erlaubt, fällt der Abstand größer aus, und ab Band 6 (1786) beginnt er, die Einträge regelmäßig zu numerieren, so daß im Prinzip jedem Text ein eindeutiger Suchpfad (Titel, Band, Jahr, Seite, Nummer des Eintrags) zuzuordnen ist. Dieses Erschließungsverfahren verfeinert der Autor ab Satire-Band 14 (1789), in dem er seine Einträge zusätzlich mit jeweils eigenen, signifikanten Kurztiteln versieht, die er formal durch Schriftartenwechsel vom folgenden Text absetzt. Diese in lateinischer Schrift geschriebenen Bezeichnungen wie »Titellobe« (S.17) oder »Vom ägyptischen Thierdienst« (S.22) stehen immer am Anfang des Texteintrags und identifizieren diesen eindeutig. Damit generiert der Autor auch eine inhaltliche Ordnung der Texte und optimiert die Suche nach passenden Textbausteinen für das spätere Schreiben seiner Romane. Jean Paul entwickelt diese neue, der späteren Romanproduktion vorarbeitende Arbeitsweise während des Schreibens an den Satiren und Ironien, denn die Veränderung des Schreibverfahrens geschieht nicht plötzlich von einem Eintrag zum anderen, sondern beginnt erst, nachdem er bereits 16 Seiten in herkömmlicher Manier, d.h. unmittelbar mit dem Erzählen des Inhalts beginnend, gefüllt hat. Der Beginn dieser Veränderung ist innerhalb von Band 14 genau zu lokalisieren. Er liegt bei Satire-Eintrag Nr.48 (S.17), der die erste Kurzüberschrift innerhalb des 2000seitigen Satiren- und Ironienkonvolutes überhaupt trägt: »Titellobe«. Desweiteren spiegelt dieser Eintrag exemplarisch die Umstellungen, die der Wechsel von der alten zur neuen Schreibtechnik hervorruft. Offensichtlich wurde die Überschrift »Titellobe« von Jean Paul erst nach der Fertigstellung des Textes hinzugefügt, denn der Ort, an dem der Autor die

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Bezeichnung im Manuskript plaziert hat – in einer eigenen Zeile über dem Text auf Höhe der mittig gesetzten Eintragszählung – weicht von der sonst in den Satiren und Ironien praktizierten Seiteneinteilung auffällig ab und ist nur mit Platzmangel sinnvoll zu begründen. Vergessene und deshalb nachträglich hinzugefügte Überschriften (z.B. Nr.49, Nr.51 und Nr.[60]/59) sind neben weiteren Uneinheitlichkeiten die Merkmale der nächsten 12 Seiten, die der Autor zum Einüben der neuen Schreibtechnik benötigt. Bis ab Seite 29 ein einheitliches System entsteht, das im Schreibfluß dieses Bandes und der weiteren Bände nahezu durchgängig beibehalten wird, schreibt Jean Paul in dieser Übergangsphase von Band 14 die Überschriften manchmal in lateinischer, manchmal in deutscher Schrift. Auch unterläßt er es mitunter sogar wieder ganz, Überschriften zu vergeben (z.B. Nr.[52]/51 und Nr.[53]/52). Diese neue Ordnungs- und Schreibtechnik der Satiren und Ironien kehrt in leicht veränderter Funktion in den Romanen wieder. Die kurzen Angaben zum Inhalt, mit denen der Autor oftmals die Kapitelüberschriften ergänzt, referenzieren genetisch auf die Kurztitel der Satire-Einträge. So liest man beispielsweise unter der Überschrift des »Achtundvierzigste[n] oder MaiSektor[s]« der Unsichtbaren Loge: »Der hämmernde Vetter – Kur – BadeKarawane«. – Der Titel vom »hämmernde[n] Vetter« verweist also nicht nur auf die wenig später im Roman erzählte lustige Geschichte vom Vetter Fedderlein, der dem Erzähler das Ableben seiner Frau schildert, durch sein nervöses Hämmern auf den Tisch aber die ganze Aufmerksamkeit des Zuhörers auf das Klopfen lenkt bzw. darauf, wie der Witwer davon abzubringen sei, sondern auch auf den Entwurf dieses Textes, der bereits in den Satiren und Ironien unter der Überschrift »Hyperbolen eines Hypochonders« niedergeschrieben worden ist.11 Ein anderes Beispiel wurde fast wörtlich aus den Satiren und Ironien in das veröffentlichte Werk übernommen: Der Eintrag mit der Überschrift »Kleider der Israeliten«12 taucht als »Kleider der Kinder Israels« im Siebenkäs wieder auf.13 Als besonders ergiebig für die Romanproduktion haben sich im Verlauf der bislang durchgeführten Editionsrecherchen die letzten acht Bände (14 bis 21) erwiesen. Wie wichtig die darin enthaltene Text- und Materialsammlung für Jean Paul arbeitstechnisch war, belegen neueste Funde aus den Romanvorarbeiten zum Hesperus, denen zufolge der Autor direkt auf die späteren Satire-Bände verweist und eine Liste zahlreicher Textstellen notiert, auf die ––––––– 11 12 13

Jean Paul, Satiren und Ironien [Anm.4], Fasz.XIIb, Bd.17 (1790), Nr.27, S.21f. Ebd., Bd.15 (1790), Nr.2, S.1. I/2,492f.

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er beim Schreiben seines Romans zurückgreifen möchte (vgl. dazu die Ausführungen zu ›Schreibprozeß und Werkbezug‹). Daß sich die Satiren und Ironien, insbesondere die späten Bände, in ihrer Bedeutung für die Werkgenese mehr und mehr als mittelbare Romanvorarbeiten herauskristallisieren, liefert ein zentrales Argument für die in der historischkritischen Buchedition präsentierte Textauswahl. In Zusammenarbeit und Absprache mit Helmut Pfotenhauer, dem für die letzten drei Bände der Abteilung II der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition verantwortlichen Hauptherausgeber, habe ich dafür die Satire-Bände 14 bis 21 (1789 bis 1803), also alle seit dem Erscheinen der Teufelspapiere entstandenen Hefte, ausgewählt. Die Bände werden in sich vollständig und mit sämtlichen Varianten ediert. Geplant sind zwei Textbände und ein Kommentarband.14 Die zwischen 1781/82 und 1788 entstandenen Satire-Bände 1 bis 13 sollen aber nicht dem Vergessen anheim fallen, sondern werden elektronisch archiviert, da sie im Verlauf des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes bereits nahezu vollständig transkribiert und elektronisch erfaßt wurden. Der Materialbestand des Satiren- und Ironienkonvolutes ist somit gesichert. Darüberhinaus werden die erarbeiteten Transkriptionen, soweit möglich, editorisch weiter bearbeitet.15 Langfristig ist an eine elektronische Publikation dieses Textkonvolutes im neu entstandenen Jean-PaulPortal gedacht.16

Schreibprozeß und Werkbezug Wie hat man sich nun konkret die Arbeit in der Textwerkstatt, den Schreibprozeß an der Werkbank Jean Pauls vorzustellen? – In der bereits zitierten Briefstelle von den Satiren und Ironien zieht der Autor eine Entwicklungslinie von dem ›bloßen Entwurf‹ der Satire-Einträge zu den »schon zum Drucke ––––––– 14

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Die historisch-kritische Edition der Satiren und Ironien erscheint als Band 10 der II. Abteilung der von Eduard Berend begründeten und von Ulrich Ott und Helmut Pfotenhauer weitergeführten Ausgabe der Sämtlichen Werke Jean Pauls. In diesem Rahmen wurde der aus dem Jahr 1788 stammende Band 13 von Christian Schwaderer – den Richtlinien der historisch-kritischen Nachlaßedition der Satiren und Ironien folgend – ediert, kommentiert und mit einem Register versehen (Magisterarbeit, Würzburg 2005). Das Jean-Paul-Portal ist ein Gemeinschaftsprojekt der Arbeitsstelle Jean-PaulEdition (Leitung: Helmut Pfotenhauer; Redaktion: Birgit Sick und Barbara Hunfeld) und des Kompetenzzentrums für EDV-Philologie (Leitung: Werner Wegstein; EDV-philologische Betreuung: Christian Naser) an der Universität Würzburg. Es kann derzeit in einer Startversion unter der Internetadresse http://www.jeanpaul-portal.de abgerufen werden.

Jean Pauls nachgelassene ›Satiren und Ironien‹ als Werkstatt-Texte

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fertig gemacht[en] [Sachen]«, vom Unfertigen also zum Fertigen. Nicht gesagt wird von Jean Paul an dieser Stelle allerdings, daß die unfertigen, unabgeschlossenen Texte der Satire-Bände, die ›bloßen Entwürfe‹, bereits Texte aus Texten sind, Produkte zahlreicher vorausgegangener Arbeitsschritte. Und auch auf die positive Kehrseite des Unfertigen, »blos entworfne[n]« kommt er nicht zu sprechen, obwohl diese für seine Arbeit ganz zentral ist: Die produktive Optionalität der Satire-Texte, in der noch alle Möglichkeiten enthalten sind. Dieses Potential nämlich schöpft Jean Paul in diesem Konvolut beim Schreiben ganz (selbst-)bewußt in einem fortgesetzten Spiel der Vergleiche und Formulierungen aus. Die Arbeit des Autors an seiner ›Werkbank‹ spielt für Jean Pauls Literatur eine entscheidende Rolle, denn an diesem Ort laufen alle Fäden zusammen, aus denen er sein kunstvolles Textgewebe spinnt. Im folgenden soll die Textgenese aus der editorischen Perspektive des Konvolutes der Satiren und Ironien beschrieben werden, denn ein Fazit, das aus den laufenden Editionsarbeiten heraus gezogen werden kann, ist, daß sich die Satire-Einträge als signifikante Beispiele eignen, um Texteinflüsse und Textbezüge sowohl chronologisch zurück bis maximal zur Quelle als auch chronologisch nach vorne bis zur Verwendung im veröffentlichten Roman zu verfolgen. Diese Funktion der Satire-Texte als Gelenkstellen und Zwischenstufen von der Quelle bis zum publizierten Werk wird anhand zweier Beispiele gezeigt. Im ersten Beispiel mit dem Titel »Husten in Hildano« wird eine Text-Kette von der Quelle bis zum publizierten Werk rekonstruiert. Das zweite Beispiel, »Holbeins gemalte Beine«, präsentiert in der Rekonstruktion der Arbeitsprozesse einen weiteren genetischen Baustein, die Romanvorarbeiten des Autors. Husten in Hildano 12/18 Es werden wol die wenigsten Europäer wissen was für ein Unglük sie aussäeten, wenn sie mit dem Schiffer einen elenden Kontrakt machten und in Hildan ankämen. Das ganze Land hustete. Ich kan mir die gräuliche Unordnung gar wolvorstellen und auch beschreiben. Der Fremde braucht nicht weit zu gehen: so hört er den Nährstand husten; der Wehrstand unter dem Thor thuts und ganze Korporazionen. Es hilft wenig zum Arzt zu gehen; der bellet selbst ärger als seine Kunden und er ist sein eigener Kunde. Kurz wer noch eine Schreibfeder darüber in die Hand genommen: der schreibt, daß dort im Grossen der unwilkürliche Husten regiert, der im Kleinen Geselschaften erfässet, wenn ein Fremder ins Zimmer trit. Ieder ist genöthigt zu husten und – was alzeit den bösen Hals begleitet – leise zu reden. Dazu trägt die Aussenschaale bei; daher Unzer sagt, die Schaalthiere 23/19 zeigen Halskrankheiten p wirken auf den Hals f; man wirft sich in die Brust, lächelt p.17

––––––– 17

Jean Paul, Satiren und Ironien [Anm.4], Fasz.XIIb, Bd.15 (1790), Nr.18, S.12.

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Birgit Sick

Folgende Bearbeitungslinien dieses aus dem Jahr 1790 stammenden Entwurfs der Satiren und Ironien konnten rekonstruiert werden: Zum ersten eine Linie, die chronologisch zurückführt in Jean Pauls ›erschriebene Bibliothek‹, die Exzerpthefte, und von da ausgehend noch weiter zurück in die den Exzerpteinträgen zugrunde liegenden Quellentexte. Zum zweiten eine Linie, die chronologisch gesehen nach vorne verläuft und in die Romantexte Jean Pauls hineinweist, in diesem Fall in die Unsichtbare Loge (1793) und in den Siebenkäs (1796/97). In der Unsichtbaren Loge findet der Satire-Eintrag »Husten in Hildano« – ein wenig umgearbeitet und erweitert – als eigener satirischer Text im zehnten Sektor unter dem Titel »Extrazeilen über die Besuchbräune, die alle Scheerauerinnen befällt bei dem Anblick einer fremden Dame« Verwendung.18 Im zehnten Kapitel des Siebenkäs erfolgt eine kurze Anspielung auf den Satire-Eintrag.19 Die Referenz auf die Exzerpthefte liefern die beiden Zahlenkombinationen im Text, »12/18« und »23/19«, wobei die erste Ziffer jeweils die Seiten-, die zweite die Bandzahl angibt. Im Fall der Zahlenkombination »12/18« liegt allerdings ein Versehen des Autors vor, denn keiner der drei mit »18« numerierten Bände aus den verschiedenen Exzerpthefte-Reihen weist einen vergleichbaren Eintrag auf.20 Die entsprechende Referenzstelle befindet sich stattdessen in Band 11 der Reihe »Geschichte«, den Jean Paul 1787 anlegte. Dort notierte er auf S.12: Auf der Insel St. Hilda bekommen alle sogar Kinder im Mutterleibe einen 10, 12täg. Hust. mit Fieb., wenn ein Fremder da ankömt. A. D. Bibl. S.138. Band 67.21

Die Ziffern »23/19« beziehen sich auf einen Exzerpthefte-Eintrag in Band 19 (1790) derselben Reihe. Hier hielt der Autor auf S.23 fest: Die meisten Schalthiere wirken auf den Hals. Austern und Muscheln machen oft schweres Schlucken; die kalzinierten Austerschalen gegen Wasserscheu, so Krebse. Einer vom Dunst der Krebse stum. Skorpion lähmt die Zunge. | 132.22

––––––– 18 19 20

21

22

I/1,98f. I/2,332f. Vgl. dazu die Beschreibung der Faszikel I bis V des Jean Paulschen Nachlasses, in denen die Exzerpthefte enthalten sind, in: Goebel [Anm.3], S.3–47, sowie die Edition der einschlägigen Bände in: Jean Paul, Exzerpte. Online-Vorabpublikation, hrsg. von Sabine Straub, Monika Vince und Michael Will: http://62.154.246.52/ jeanpaul (22.11.2005). Jean Paul, Exzerpte. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.IIa, Bd.11 (1787), S.12, zit. nach Straub/Vince/Will [Anm.20], Nr.IIa11-1787-0115. Jean Paul, Exzerpte [Anm.21], Fasz.IIb, Bd.19 (1787), S.23, zit. nach Straub/Vince/Will [Anm.20], Nr.IIb-19-1790-0224.

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Auch die Quellen, die den beiden Einträgen in den Exzerptheften zugrunde liegen, konnten ermittelt werden: Die Quelle zu »12/18« bzw. 12/11 ist ein Text aus der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Bd.67, Berlin/Stettin 1786, S.138. – Die folgenden Ausführungen sind dem Gliederungspunkt »5. Weltweisheit« (S.126) zugeordnet und beziehen sich auf Johann Gottlieb Steebs Anthropologie mit dem Titel Ueber den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen in seiner Natur (3 Bde., Tübingen 1785): [...] Hierauf werden noch einige merkwürdige Erscheinungen von Zuneigung und Abneigung angeführt. So bekommt ein Mädchen allemal Konvulsionen, wenn sie das Geläute der Glocken hörte, ein andrer mußte sich auf jede Musik erbrechen und ein dritter wurde epileptisch, wenn er eine Kindertrompete hörte. Nach dem glaubwürdigen Berichte eines schottlandischen Predigers, bekommen die Einwohner der Insel St. Hilda allemal einen heftigen Husten, wenn ein Fremder ihre Insel betritt, der 10 bis 12 Tage anhält, und sich dergestalt ausbreitet, daß das Kind an der Mutterbrust nicht verschont bleibt, ja sogar oft mit einem starken Fieber verbunden ist. (S.138)

Als Quelle zu »23/19« konnte Johann August Unzers Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift, neueste verbesserte und viel vermehrte Ausgabe, zweyter Druck, Bd.3, 6. Teil, 132. Stück, Hamburg/Lüneburg/Leipzig 1769, S.357f. identifiziert werden.23 – Darin findet sich unter der Autorenangabe »von Hagedorn« und der Überschrift »Der Frösche Feind, der Krebs.« (S.350) folgender Eintrag: »Die Aerzte haben oft Gelegenheit, eine Wirkung der Krebse bey manchen Leuten zu bemerken, die schon Herr Geoffroy merkwürdig gefunden hat.« Nach der Schilderung einer allergischen Abwehrreaktion einer Patientin, die »der Säure und Schärfe wegen ein Tränklein genommen, worin Krebssteine waren«, wird als Hauptsymptom dieser Allergie eine »Geschwulst« des Gesichtes diagnostiziert, die sich »bis zum Halse [erstreckte], und [...] das Schlucken merklich [hinderte]«. Weitere Nachforschungen ergeben, so schließt der Bericht von Geoffroy, daß auch der Sohn der Patientin auf Krebse ähnlich reagiert. Dann fährt der Autor des Artikels fort: Es scheint, daß die meisten Arten der Schaalthiere bey manchen Leuten eine besondre Wirkung in die [sic] Theile des Halses haben. Die Austern und Muscheln verursachen oft Zufälle von dieser Art. Die calcinirten Austerschaalen sollen, wie in den Schriften der parisischen Akademie versichert wird, wider den Wasserab-

––––––– 23

Als hilfreich erwies sich hierbei Jean Pauls eigenes Referenzsystem, mit dem der Autor die seinen Lesefrüchten zugrunde liegenden Quellen kennzeichnet: Vertikale Striche am Ende eines Exzerpt-Eintrags weisen als Wiederholungszeichen auf eine zuvor notierte Quellenangabe hin – in diesem Fall auf die zwei Seiten und 24 Einträge früher vermerkte Angabe »Arzt«. Für diesen Hinweis danke ich Sabine Straub und Michael Will.

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Birgit Sick scheu der Rasenden ein bewährtes Mittel seyn. Von den Krebsen wird eben dasselbe gesagt. [...] Galen hat dieses Mittel gerühmt, und in allen Fällen, wo es versucht worden ist, bewährt erfunden. Ein Mann ist vom Dunste der Krebse stumm geworden. Der Scorpion lähmt die Zunge, u.s.w. (S.357f.)

Aus textgenetischer Sicht bemerkenswert ist die vielfache Vermittlung des Wissens, das über mehrere Stationen (Geoffroy – Schriften der parisischen Akademie – Galen – Hagedorn – Unzer – Jean Pauls Exzerpthefte) in die Satiren und Ironien gelangt. Jean Paul dagegen kommt es in seinem Text nicht auf eine genaue Quellenzuordnung des Zitats an, wie die auf scheinbar eine einzige Quelle reduzierende Formulierung »daher Unzer sagt« zeigt. Als zweites Beispiel ist die Genese und Weiterverarbeitung eines Eintrags aus dem Satire-Band 15 (1790) mit dem Titel »Holbeins gemalte Beine« zu betrachten: Holbeins gemalte Beine 8 19. Basel steht noch, wo Holbein ein Haus anstrich, wie ich mir vorlesen lassen (oder sagen lassen vom Vorleser). Nun war die nämliche Ursache, die ihn zur architekt. Malerei hinzwang, auch ein Hindernis daß er wenig in ihr arbeitet – er sof nämlich. Wenn der Bauher ein neues Stük Arbeit zu sehen kam: so war er blos über d. Alten und bewegte stat des Pinsels den Weinkrug. Damit man sehe, ich sei nicht partheiisch eingenommen gegen \48\ den Bauhern und stekt ihn in Hintergrund: so sol er hervor und den Holbein p über nach Vermögen f aushunzen. Dem Holbein wars nicht schwer herauszubringen, daß das alles davon käme, weil der Entrepreneur nicht seine Beine vom Gerüst hängen sähe. Er verdoppelt also sein Gestelle, Beine und malte sie so an die Wand, daß der Herr bis iezt in die Ewigkeit, denken würde, die 2 Beine hätten oben gemalet, wenn er, da er den Tag 10 mal hinauf sah, bemerkt hätte, daß die Beine weiter sich schöben. Da sie aber hängen blieben: so wolte er nachsehen was der Maler so lange an Einer Stelle male und stieg hinauf zu Holbeins (Fusstük) p Kniestück f 2 malenden Beinen. Der Bauherr hätte daraus eine neue, satirische Moral zu ziehen suchen sollen und die Geschichte würde die Moral mit gemeldet haben; aber sie kan blos von meiner melden,24

Auch in diesem Fall liegt ein Text aus Texten vor, der in weitere Texte mündet, wie die beiden Handschriftenbefunde der Zahlenkombination und der Durchstreichung zeigen. Erstere stellt einen direkten Verweis auf eine konkrete Textstelle in den Exzerptheften dar, letztere einen Verwendungsnachweis im veröffentlichten Werk. Die Bearbeitungslinien des Satire-Entwurfs verlaufen also wiederum in zwei Richtungen: Zum ersten chronologisch zurück in die Materialsammlung der Exzerpthefte – die Zahlenkombination »8 19« verweist auf einen entsprechenden Eintrag. Allerdings liegt auch hier eine falsche Bandangabe vor, ––––––– 24

Jean Paul, Satiren und Ironien [Anm.4], Fasz.XIIb, Bd.15 (1790), Nr.75, S.47f. Siglen: [Anm.4].

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denn der einschlägige Eintrag findet sich nicht in Band 19, sondern in Band 20 (1790) des Faszikels IIb. Dort schreibt der Autor auf S.8: Holbein besof sich über dem Bemalen eines Hauses in Basel; wegen der Vorwürfe des Bauherns malt’ er vom Gerüste ein paar herabhängende Beine; iener erstaunt, warum die Beine den ganzen [Tag] an 1 Ort blieben ||.25

Die zweite Bearbeitungslinie führt aus chronologischer Sicht nach vorne in die nachgelassenen Romanvorarbeiten zum Hesperus und in den Roman selbst. In dem bisher unveröffentlichten Heft »Paullina« aus dem Jahr 1792 steht, auf der oberen Hälfte von S.70, unter der Überschrift »Schalttage Extrablätgen«, eine 12 Punkte umfassende Liste, die sämtlich direkte Verweise auf die Materialsammlung der Satiren und Ironien enthält. Der Hinweis auf den Satire-Eintrag »Holbeins gemalte Beine« ist der achte in der Liste und lautet: »8 Fürst Porträt; Holbein Beine 48 15 B.«26 Diese Notiz von 1792 ist das genetische Verbindungsstück zwischen dem Satire-Eintrag »Holbeins gemalte Beine« aus dem Jahr 1790 und der Verarbeitung der Holbein-Satire 1795 im Hesperus. Die einschlägige Romanstelle findet sich im 4. Schalttag und Vorrede zum zweiten Heftlein, »Schalt- und Nebenschößlinge, alphabetisch geordnet«, unter dem Buchstaben »H«: Holbeins Bein. Ich will lieber das H noch einmal nehmen als das I, weil unter der Rubrik des I’s die Invaliden kämen, von denen ich behaupten wollen: daß ihnen, da Leute, denen man Glieder abgenommen, vollblütig werden, desto weniger Brot gereichet werden dürfe, je mehr ihnen die Glieder weggeschossen oder weggeschnitten worden, und daß man dieses die Physiologie und Diätetik der Kriegskasse nenne. – Aber mich haben die halben armen Teufel zu sehr gedauert. Die Beine Holbeins machen größern Spaß als abgenommene. Der Maler strich nämlich in Basel nichts an als Basel selber; und der nämliche Umstand, der sein Genie in diese architektonische Färberei hineinzwang, nötigte es auch, daß es oft darin Raststunden hielt – er soff nämlich entsetzlich. Ein Bauherr, dessen Name in der Geschichte fehlt, trat oft in die Haustüre und zankte zum Gerüste hinauf, wenn die Beine des Hausfärbers, anstatt davon herunterzuhängen – denn mehr war vom Maler nicht zu sehen –, in der nächsten Weinkneipe standen und wankten. Schritt nachher Holbein damit über die Gasse daher: so kam ihm Hader entgegen und stieg mit ihm auf Gerüste hinauf. Dieses brachte den Maler, der seine Studien (auch im Trinken) liebte, auf, und er nahm sich vor, den Bauhern zu ändern. Da er nämlich das ganze Unglück seinen Beinen verdankte, deren Fruchtgehänge der

––––––– 25

26

Jean Paul, Exzerpte [Anm.21], Fasz.IIb, Bd.20 (1790), S.8, zit. nach Straub/Vince/ Will [Anm.20], Nr.IIb-20-1790-0084. Jean Paul, Romanvorarbeiten zum ›Hesperus‹. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XVII, Heft Paullina (1792), S.70. Für diesen Hinweis danke ich Barbara Hunfeld, der Herausgeberin des Pilotbandes »Hesperus« der neuen Jean-Paul-Werkausgabe.

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Birgit Sick Mann unter dem Gerüste sehen wollte, so entschloß er sich, eine zweite Auflage von seinen Beinen zu machen und sie an das Haus hängend zu malen, damit jener, wenn er unter der Haustüre hinaufschauete, auf den Gedanken käme, die zwei Beine und ihre Stiefeln malten droben fleißig fort. – Und auf diesen Gedanken kam der Bauherr auch; aber da er endlich bemerkte, daß das Vexierfußwerk den ganzen Tag an einer Stelle hange und sich nicht fortschiebe: so wollt’ er nachsehen, was denn der Meister so lange an einer Partie bessere und retuschiere – und verfügte sich selber hinauf. Droben im Vakuum (Leerem) ersah er leicht, daß der Maler da aufhöre, wo Kniestücke anfangen, beim Knie, und daß der mangelnde Rumpf wieder saufe in einem Alibi. Ich verdenk’ es dem Bauherrn nicht, daß er auf dem Gerüste keine Moral aus dem Fußwerk zog: er war zu erbost. Ich wollte noch eine Geschichte von den Fürsten-Porträts anstoßen, die hinter den Präsidenten in den Sessionszimmern statt der Urbilder zum Stimmen dahangen – aber ich störe den Zusammenhang; auch war sonst hier das Ende des ersten Heftleins.27

Diese editorischen Recherchen machen den Arbeitsprozeß des Autors sichtbar und konturieren die textintern gesehen über drei Stationen verlaufende Netzstruktur, die sich von diesem Satire-Eintrag ausgehend in die verschiedensten Richtungen erstreckt. Was in diesem Textgewebe allerdings bedauerlicherweise wohl nie zu rekonstruieren sein wird, ist die große Unbekannte in der Überlieferungsgeschichte der Jean Paulschen Textzeugen: das Druckmanuskript. – Bis auf zwei Ausnahmen, Das Leben Fibels und Der Komet, sind alle Druckmanuskripte leider verloren.

Stellenwert der Satiren und Ironien im Schreibprozeß Das Wandern der Texte oder seiner Bestandteile von den Quellen über die Exzerptnotate hin zum Entwurf der Satiren und Ironien und dann zur ausgearbeiteten Satire im Roman zeigt, daß in dieser Text-Kette die entscheidenden Bearbeitungsschritte erstens bei der Ausarbeitung des Satire-Eintrags und zweitens bei der Weiterverarbeitung dieses Textbausteins in den Romantext stattfinden. Dementsprechend ist der Stellenwert, den die Satiren und Ironien im Schreibprozeß einnehmen, als entscheidend anzusehen: Nicht nur erfolgt hier ein zentraler Arbeitsschritt auf dem Weg zum publizierten Text, sondern gleichzeitig bewahrt die Textstufe des Satire-Entwurfs in der Verbindung zu früher oder gleichzeitig entstandenen Texten die Spuren jener Genese auf, die dem ›fertigen‹ Werk nur noch schwer abzulesen ist. Es ist aber gerade jenes ––––––– 27

I/1,724f.

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genetische Netz von Spuren, aus dem immer wieder neue Kombinationen und Textmöglichkeiten entstehen, dessen Produktivität sich also mit dem einmal verfertigten und publizierten Text nicht erschöpft.

Optionale Schreibweisen In seiner brieflichen Rede von den Satiren und Ironien zieht Jean Paul eine Entwicklungslinie von dem ›bloßen Entwurf‹ der Satire-Einträge zu den »schon zum Drucke fertig gemacht[en] [Sachen]«, vom Unfertigen also zum Fertigen.28 Unausgesprochen bleiben hierbei allerdings zwei entscheidende Aspekte: Zum einen, daß die unfertigen, unabgeschlossenen Texte der Satire-Bände, die ›bloßen Entwürfe‹, wie gezeigt, bereits Produkte zahlreicher vorausgegangener Arbeitsschritte sind. Zum anderen, daß das Unfertige als »blos [E]ntworfne[s]« negativ konnotiert ist, obwohl gerade die positive, produktive Seite der Optionalität der Satire-Texte, in der noch alle Möglichkeiten enthalten sind, für Jean Pauls Schreiben von eminenter Bedeutung ist. In diesem Sinne fungiert das Satiren- und Ironienkonvolut als ein Reservoir an Textbausteinen, das Material für immer neue Anschlußmöglichkeiten verfügbar hält. Diese Offenheit der Jean Paulschen Textwerkstatt wird in der Edition nicht zuletzt deshalb dokumentiert, weil das Prinzip des Verfügbarhaltens bis in die Mikrostruktur der Schreibweisen hinein zu verfolgen ist. Hier zeigt sich die Offenheit, Optionalität und Unabgeschlossenheit der Jean Paulschen Textwerkstatt in nuce. Bereits das spezifisch ausgeklügelte Abkürzungssystem, das der Autor beim Schreiben anwendet, ist nicht nur der Schreibökonomie geschuldet, sondern dient gerade dazu, das in den Satiren und Ironien angelegte Textmaterial bewußt für eine weitere literarische Bearbeitung offen zu halten. Denn obwohl das Abkürzungs- und Auslassungssystem des Autors prinzipiell einem ›Entschlüsselungssystem‹ folgt, stößt die geregelten Gesetzmäßigkeiten folgende, editorische Ergänzung bald an erste Grenzen, weil sich nicht immer alle Abkürzungen auf nur eine einzige mögliche und richtige (Auf-)Lösung zurückführen lassen, wie das folgende, diplomatisch und zeilengetreu wiedergegebene Beispiel aus Satire-Band 13 (1788) belegt: [...] Auch mus iede die einmal Göttin wird es, da man so et. nicht werden kan, immer gewes. sein u. ich denke, ich

––––––– 28

Vgl. Anm.9.

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Birgit Sick habe in meiner Theogonie die nun unt. der Presse ist, 20 volge daß ich nicht . Seit. nicht so vergebl. verschrieben um dies. zu erweis. hätte.29

Mit dieser Konstruktion hält sich Jean Paul eine alternative Formulierung des Eintrages offen, wobei er dies an ein und demselben Wort verankert. In der Handschrift macht Jean Paul das Wort »erweis.« doppelt gültig, indem er über das zweite »e« einen weiteren »i-Punkt« setzt. Damit deutet er eine mögliche Umkehrung des Diphtongs »ei« zu »ie« und damit eine zweifache Gültigkeit desselben Wortes an: Als Indikativ (»erweisen.«) nimmt das Wort die Funktion des Verbs in dem Nebensatz »um dies. zu erweisen.« ein. Der Punkt am Ende des Wortes kennzeichnet in diesem Fall das Satzende. Als Konjunktiv (»erwies.«) ist das Verb in der alternativen Satzkonstruktion »daß ich dies. nicht erwies. hätte.« einsetzbar. Hier nun kennzeichnet der Punkt am Ende des Wortes eindeutig eine Abkürzung, denn der Satz endet erst mit dem Punkt hinter dem nachträglich hinzugefügten Wort »hätte«. Dieses kalkulierte Offenhalten eines Textes zugunsten unterschiedlicher Literarisierungen ist bei allen alternativen Formulierungen zu erkennen. Diese funktionieren in der Regel als Substitution, wie etwa in dem genanntem Beispiel die Abweichung von »verschrieben« zu »volgeschrieben«. Dem Autor eröffnen sich allerdings noch weitere Spielräume: Die gleichzeitige Anwendung von Alternativformulierungen und Abkürzungssystem multipliziert die Offenheit des Textes und läßt Satzkonstruktionen entstehen, die im Autographen faktisch beide dargestellten Optionen zugleich enthalten, obwohl jede Alternative eine eigene Syntax erfordert. Diese Textbefunde werden im folgenden als optionale Schreibweisen bezeichnet. Eines ihrer Charakteristika liegt darin, daß der Autor – anders als bei Streichungen, Sofortkorrekturen oder Einfügungen – bewußt keine Entscheidung darüber getroffen hat, welchen Text er bei einer Überarbeitung, z.B. zur Veröffentlichung, präferieren wird. Daß es Jean Paul zeit seiner Schriftstellerkarriere mit diesem ästhetischen Konzept optionaler Schreibweisen ernst gewesen ist, zeigt z.B. der Briefwechsel mit Heinrich Voß, der 1820 in Heidelberg das Druckmanuskript von Jean Pauls letztem Roman Der Komet korrigiert. Darin setzen sich Autor und Korrektor mehrmals über unterschiedliche Formulierungen auseinander.30 Teilweise können die Beteiligten klar entscheiden, welche Formulierung die ›bessere‹ ist und für die Publikation des Romans gewählt werden soll. Teil––––––– 29

30

Jean Paul, Satiren und Ironien [Anm.4], Fasz.XIIb, Bd.13 (1788), Nr.15, »Fortsezung von 10.«, S.4. Eduard Berend, Anmerkungen zu ›Der Komet‹, in: SW I/15,458,461,466,469 u.ö.

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weise zieht Jean Paul aber auch der Entscheidung durch den Autor das ästhetische Prinzip der Gleich-Gültigkeit der Optionen vor, wonach der Urheber von Text und Optionen konsequenterweise nur eine Stimme unter mehreren ist und der Leser mit seinem Votum beispielsweise genauso recht hat. Dementsprechend forderte er Voß – als Korrektor des Druckmanuskripts einer der ersten Leser des Romans überhaupt – ausdrücklich zur selbständigen Wahl aus mehreren Optionen auf: »[...] statt fraß könnte man wol etwa setzen: fing oder griff, faßte – Indeß scheint doch Fressen zur Wildheit zu passen. Wähle!«31 Aus editorischer Perspektive werden optionale Schreibweisen, sobald sie über einfache Ersetzungen hinausgehen, zur Herausforderung. In diesen Fällen gibt es nicht mehr den einen, einzig gültigen Text, der durch die Edition wiedergegeben werden kann. Stattdessen sind mitunter verschiedene Versionen denkbar. Die Offenheit des »blos entworfne[n]« Textes bedeutet aus editorischer Perspektive immer auch Unbestimmtheit. Wie können solche Fälle editorisch dargestellt werden? Zunächst ist festzuhalten, daß die optionalen Schreibweisen zweifelsfrei als Teil des Textes anzusehen sind und demnach auch im Text selbst und nicht im Variantenapparat verzeichnet werden. Für diese Darstellung des Offenen und Spielerischen benötigt die Edition der nachgelassenen Satiren und Ironien deshalb ein eigenes Zeichen. Die Entscheidung fiel nach zahlreichen Diskussionen mit Fachkollegen auf ein öffnendes und ein schließendes Weichenzeichen.32 Diese Zeichen sind einem um 90 Grad nach rechts bzw. nach links gedrehtem Ypsilon ähnlich ( p f ) und stellen optische Signale dar, die auch bildlich an eine Weiche erinnern. Als solche markieren sie all jene Textstellen, an denen sich Optionen im Satz eröffnen und wieder schließen. Darüberhinaus ist bei der Edition optionaler Schreibweisen noch folgender Handschriftenbefund zu berücksichtigen: Wie die diplomatische Wiedergabe des Beispiels belegt, handelt es sich bei diesen Alternativformulierungen in der Regel nicht um vollständige Sätze, sondern um Wort- und Satz-Fragmente, die sich erst durch die Bezugnahme auf ihren Alternativtext zu einem ––––––– 31

32

Jean Paul, Brief an Heinrich Voß, 4. Mai 1820, zit. nach: Eduard Berend, Anmerkungen zu ›Der Komet‹, in: SW I/15,461. Den Vorschlag für die Verwendung eines expliziten Weichenzeichens verdanke ich Wolfgang Wiesmüller von der historisch-kritischen Adalbert-Stifter-Ausgabe. Ein Beispiel für den editorischen Einsatz von Weichenzeichen ist Hans Zellers historisch-kritische Edition der Gedichte C.F. Meyers. Vgl. dazu: Hans Zeller, Bericht des Herausgebers, in: Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd.2: Gedichte. Bericht des Herausgebers. Apparat zu den Abteilungen I und II, hrsg. von Hans Zeller. Bern 1964, S.7–113, hier: S.93.

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Ganzen zusammenfügen. Da es das Ziel der historisch-kritischen Edition der Satiren und Ironien – u.a. aus Gründen der Lesbarkeit – ist, die Optionen jeweils vollständig wiederzugeben,33 müssen die in der Edition deshalb zweimal zitierten, im Autographen aber nur einmal vorhandenen Textteile ebenfalls gekennzeichnet werden. Diese werden deshalb innerhalb der Weichenverzeichnung in eckige Klammern gesetzt: [...] Auch mus iede die einmal Göttin wird es, da man so et. nicht werden kan, immer gewes. sein u. ich denke, ich habe in meiner Theogonie die nun unt. der Presse ist, 20 Seit. nicht so vergebl. p verschrieben um dies. zu erweisen. p volge[schrieben] daß ich [dies.] nicht [erw]ie[s.] hätte. f

––––––– 33

Dies gilt für alle Fälle, in denen die optionalen Schreibweisen in ihrer Funktion über eine einfache Ersetzung hinausgehen.

MICHAEL WILL

JEAN PAULS (UN-)ORDNUNG DER DINGE1

I accept chaos. I am not sure whether it accepts me. Bob Dylan2

1. Grundlegende Dinge Die über 12.000 Manuskriptseiten3 umfassenden Exzerpte Jean Pauls sind das Ergebnis einer vom 14. Lebensjahr bis zum Lebensende reichenden ebenso regen wie zielgerichteten Lesetätigkeit. Die ersten festhaltenswerten Dinge sammelte der junge, noch auf ein zukünftiges Theologiestudium ausgerichtete Johann Paul Friedrich Richter in den Jahren 1778 bis 1781. Allein in diesen vier Jahren schrieb er über 3.000 Seiten voll, in Heften mit der Aufschrift »Verschiedenes aus den neuesten Schriften«, – ein Titel, der die charakteristische Vielfalt der Exzerpte genauso betont wie ihren Aktualitätsanspruch. Mit dem Entschluß, Schriftsteller zu werden, verändert sich Jean Pauls Exzerpierverfahren grundlegend: die ausführliche, zitierende und kommentierende Wiedergabe mit vollständigem bibliographischen Nachweis entwickelt sich zum lapidar kurzen, dekontextualisierten Notat mit nur noch knappem Quellenverweis. Nach und nach erfolgt auch eine thematische und funktionale Ausdifferenzierung in mehrere Exzerptreihen, deren erste Schritte zwischen 1780 und 1782 zu erkennen sind. Parallel dazu ist eine Weiterentwicklung der Bemühungen Jean Pauls um eine systematische Erschließung des exzerpierten Materials zu erkennen: nach den Inhaltsverzeichnissen der Reihe I4 entstehen nun neben dem eigentlichen, ca. 1.300 Seiten umfassenden ––––––– 1

2 3

4

Der vorliegende Text ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung meines Kurzvortrags im Rahmen des Bayreuther Editionskolloquiums. Bob Dylan, Bringing it all back home (Liner Notes). CBS 1965. Neben den ›Exzerpten im engeren Sinne‹ (ca. 10.000 Manuskriptseiten) schließt diese Zählung die Registerbände des Faszikels III (ohne Leerseiten ca. 1.300 Seiten) im Jean-Paul-Nachlaß der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz genauso mit ein wie einige noch dem Exzerpierbereich zugehörige unmittelbare Weiterverarbeitungen (ca. 850 Seiten). Eine annähernde bibliographische Inhalts-Übersicht bietet Götz Müller, Jean Pauls Exzerpte. Würzburg 1988. Am Ende der Bände der Reihe I steht jeweils ein »Verzeichnis der Bücher in diesem Bande« und ein »Register der in diesem Bande enthaltenen Sachen«. Beide Verzeichnisse sind nicht alphabetisch, sondern sukzessiv angelegt und haben den

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Exzerpt-Register, das summarisch und abstrahierend angelegt ist, sogar eigene thematisch und funktional ausgerichtete Reihen, die hauptsächlich aus Exzerpten gewonnene Exzerpte enthalten und als Vorstufe bzw. variierende Ergänzung des Hauptregisters gelten dürfen.5 Eine eigenständige, weniger systematische Sammlung von sogenannten »Exzerpten-Exzerpten«, die ihrerseits wieder über 800 Manuskriptseiten, wenn auch nur im Oktav-Format, umfaßt, treibt dies auf die Spitze. Mehrfach wurde das Exzerpieren als fundamentaler Arbeitsschritt des Autors auch auf literarischer Ebene thematisiert. Die Bücher-Existenzen des Quintus Fixlein, des Schulmeisterlein Wutz und des Fibel sind mehr oder weniger entfernte Verkörperungen und Ausgestaltungen dieses Themas. – Götz Müller hat in seinem grundlegenden Buch über Jean Pauls Exzerpte6 nachdrücklich auf den semifiktionalen Aufsatz Die Taschenbibliothek von 1795 und seinen direkten Bezug auf das tatsächliche Exzerpierverfahren des Autors hingewiesen.7 Jean Pauls kleine »Erzählung«8 über die Bekanntschaft –––––––

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Charakter einer Gliederung bzw. eines klassischen Inhaltsverzeichnisses. Für die Bände 1 bis 5 der Reihe I hat Jean Paul dann auch noch ein alphabetisches »Register über die vorzüglichsten Sachen, in den Exzerpten aus den neuesten Schriften« angefertigt. Diese frühen Registrierbemühungen bleiben in den Überlegungen Götz Müllers zu Jean Pauls Exzerpten und ihren Registern unberücksichtigt, bestätigen aber gleichwohl seine These, daß Jean Paul »auf der Schwelle zwischen der alten ›anthropologischen‹ Universalität und der modernen ›objektiven‹ Spezialisierung« (Müller [Anm.3], S.332) steht und daß sich bei ihm das »Universalitätsideal des klassischen Polyhistorismus [...] mit einer selbstherrlichen Willkür« (ebd., S.346) verbindet. Gerade an der Verschiedenheit der Register-Modelle läßt sich dieser Übergang ablesen: während das frühe Register zu den ersten 5 Bänden der Reihe I zum Beispiel unter dem Buchstaben G die konkreten, bloß verweisenden Registereinträge »Glük – des Frommen I,10« und » Glükseligkeit – die gröste eines Geistes III, 46–47« verzeichnet, enthält das spätere Register zum Thema »Glükseligkeit« über 150 abstrahierende und semantisch selbständige Einträge, darunter »Genie, Prinz werden durch Unglük« oder »Epikur: keine Schmerzen die größte Wollust« (vgl. die Transkription bei Müller [Anm.3],S.294–298, hier S.295). Zu den »Bemerkungen verschiedener Autoren« (1780–1808), in denen dieses Verfahren noch auffälliger ist als in der ähnlich strukturierten Reihe V »Natur« vgl. die Ausführungen von Sabine Straub mit dem Titel »Charakterisierung der Exzerptheften-Reihe VI (BVA)« auf der Homepage der Arbeitstelle Jean-Paul-Edition http://www.uni-wuerzburg.de/germanistik/neu/jp-arbeitsstelle (15.12.2005) Vgl. Müller [Anm.3], dort: Nachwort, S.318f. – Diesem für alle weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Jean Pauls Exzerpten grundlegenden Nachwort verdankt auch die vorliegende Untersuchung wesentliche Anregungen. Vgl. auch Dorothea Böck, Die Taschenbibliothek oder Jean Pauls Verfahren, das »Bücher-All« zu destillieren, in: Inge Münz-Koenen und Wolfgang Schäffner (Hrsg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002, S.18–40. Jean Paul, Die Taschenbibliothek. II/3,769–773, hier S.769.

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mit einem »Pagentanzmeister«, der die enorme Menge und Vielfalt seines erlesenen Wissens nur durch exzessives Exzerpieren in den Griff bekommt, ist nicht nur ein ironischer Lobpreis des Exzerpierens selbst, sondern als Schlüsseltext auch eine literarische Selbstkommentierung der eigenen Arbeitsweise. Dies deutet sich schon zu Beginn des Textes an: »Der Pagentanzmeister Aubin hatte wenig Zeit, wenig Geld, noch weniger Gedächtnis und Bücher«, heißt es da, – die materielle Not des jungen Jean Paul und seine lebenslange Bücher-Armut sind uns bekannt. Bald wird der biographische Selbstbezug aber noch konkreter. Beispielsweise verweist der Satz »Exzerpten waren es, aber kürzere als die gewöhnlichen.«9 unverkennbar auf die radikale Elementarisierung des Jean Paulschen Exzerpierens, die, gemessen an der Substanz der Exzerpierquellen, geradezu einer Fragmentarisierung gleichkommt. In einer ausführlichen Selbstcharakterisierung des Tanzmeisters werden dann die direkten Parallelen zum Autor Jean Paul ganz explizit: Und doch ists unmöglich, zugleich viel zu lesen und viel zu merken. – Was soll man da machen? – Bloß Exzerpten. Ich fing mir anfangs aus jedem Buche zwei, drei Sonderbarkeiten wie Schmetterlinge aus und machte sie durch Dinte in meinem Exzerptenbuche fest. Ich hob aus allen Wissenschaften meine Rekruten aus. Drei Zeilen Platz, mehr nicht, räumt’ ich jeder Merkwürdigkeit ein. Ich borgte mir allezeit nur ein Buch, um es lieber und schneller zu lesen: viele borgen ist so viel wie sie kaufen, man lieset sie nicht oder spät. Oft besteht aller Geist, den ich mit meiner Kelter aus einem Buche bringe, in einem einzigen Tropfen; ich hab’ aber dann nach zehn Jahren noch etwas, noch einen Vorteil vom Buche aufzuweisen, nämlich meinen Tropfen. Diese Exzerpten zieh’ ich wie Riechwasser überall aus der Tasche, auf der Straße, im Vorzimmer, auf dem Tanzboden, und erquicke mich mit einigen Lebenstropfen. Wäre mein Gedächtnis noch schwächer: so läs’ ich sie noch öfter. Die Hauptsache ist, daß ich Exzerpten aus meinen Exzerpten mache und den Spiritus noch einmal abziehe. Einmal les’ ich sie z.B. bloß wegen des Artikels vom Tanze durch, ein anderes Mal bloß über die Blumen, und trage dieses mit zwei Worten in kleinere Hefte oder Register und fülle so das Faß auf Flaschen.10

Die autobiographische Dimension dieser Zeilen ist nicht zu übersehen, angefangen von den tatsächlichen »Sonderbarkeiten«, die Jean Pauls Exzerpten den Anstrich eines wahren Kuriositätenkabinetts geben,11 über die Beson––––––– 9 10 11

Ebd., S.771. Ebd., S.771f. Bereits das eklektizistische Herausschneiden und Hintereinanderstellen der merkwürdigsten und unterschiedlichsten Gegenstände verleiht den Exzerptheften ein gehöriges satirisches Potential, angesichts dessen darüber zu diskutieren wäre, ob man ihnen nicht auch für sich genommen, also bereits vor der Übernahme in andere Textsammlungen und vor ihrer literarischen Funktionalisierung, einen gewissen literarischen Wert zuschreiben könnte.

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derheit, daß meist nur wenige Exzerpte aus ein und demselben Buch angefertigt werden und diese noch dazu in einer äußerst kurzen Form, bis hin zur Portabilität und ubiquitären Verfügbarkeit, die durch die in kleinen Oktavheften festgehaltenen Exzerpten-Exzerpten gegeben ist. Und auch der Destilliervorgang des verkürzenden, erschließenden und ordnenden Registrierens wird schließlich im letzten Absatz näher erläutert.12 Aus heutiger Sicht ist es somit alles andere als überraschend, daß wenig später das erzählende Ich des Textes den Tanzmeister umarmt und ihm gesteht, daß es selbst »beinahe auf demselben Wege seit dem 14ten Jahre gehe«,13 – in seinem vierzehnten Jahre, dem Jahr 1778, hat Jean Paul mit dem Exzerpieren begonnen. Wiederum Götz Müller war es, der Jean Pauls Exzerpieren erstmals mit der Diskursanalyse Michel Foucaults in Beziehung gesetzt hat.14 Zurecht konstatiert Müller eine Verwandtschaft zwischen Jean Pauls Exzerpten und dem berühmten, von Foucault bei Jorge Luis Borges entlehnten und nunmehr in fast allen philosophischen und methodologischen Lehrbüchern zitierten (angeblichen) Auszug aus einer alten chinesischen Enzyklopädie, der auf ebenso amüsante wie faszinierende Weise die grundsätzliche Arbitrarität aller Ordnungen illustriert. Im Artikel »Tiere« wird dort eben nicht z.B. zwischen Fischen und Säugetieren, sondern stattdessen zwischen »Milchschweinen«, »Fabeltieren« und solchen, »die von weitem wie Fliegen aussehen« unterschieden.15 Ein ähnlich offenes Ordnungssystem sieht Götz Müller in den Registern realisiert, die Jean Paul zu seinen Exzerpten angefertigt hat. Eine Pointe dabei ist, daß es sich bei diesen Registerartikeln um ein sukzessive entstandenes, dabei letztlich aber willkürliches und zufälliges Nacheinander von themenverwandten verkürzten Exzerpten handelt, die ihrerseits wieder aus einem willkürlichen Nebeneinander, nämlich dem der a priori gerade nicht themenverwandten ursprünglichen Exzerpte stammen. Ihre wirkliche Herkunft haben diese oftmals in so schrillem Kontrast zueinander stehenden Textfragmente aber in den von Jean Paul exzerpierten Büchern. Und diese wirken zwar in ihrem bunten Nebeneinander wie willkürlich aus der großen ––––––– 12

13 14 15

Jean Paul wäre nicht Jean Paul, wenn sein Exzerpieren in diesem nur wenige Seiten umfassenden Text nicht auch eine ganz materielle Spur hinterlassen hätte, indem er die in den Exzerptheften IIb24 und IIb25 in den Jahren 1794 und 1795 exzerpierten Abendstunden der Madame de Genlis ironisch zitiert (vgl. II/3,770). Ebenso typisch ist es aber auch, daß entgegen aller Erwartung der nur wenige Zeilen davor erwähnte und der Jugend zum Kauf empfohlene »Katechismus von Schlosser« (II/3,769) nicht in die Exzerpthefte eingegangen ist. Ebd., S.772. Vgl. Müller [Anm.6], S.331–333. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974, S.17 (Vorwort).

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Unordnung des Wissens und der existierenden Bücher herausgegriffen, markieren aber für sich genommen in den meisten Fällen gerade das Gegenteil dieses Chaoszustandes: da Jean Paul bevorzugt enzyklopädische oder im weitesten Sinne wissenschaftliche Bücher exzerpiert, handelt es sich dabei vielfach um explizite Versuche, Systeme und Ordnungen zu etablieren. Der Weg führt also aus dem großen allgemeinen Bücher-Chaos und der darin aufgefundenen Ordnung des Einzelwerks in die neue Misch-Unordnung der Exzerpte, einem aus vielerlei Substanzen gewonnenes Destillat der großen Bücherflut. Doch damit nicht genug. In den Registern und den registerähnlichen Ordnungsinstanzen nimmt das ehemalige Wissen, das dekontextualisiert und auf Phänomene, Denkfiguren und Bildessenzen reduziert wurde, einen hybriden neuen Aggregatzustand an: den eines ordentlichen Chaos, einer Unordnung in der Ordnung oder eben einer (Un-)Ordnung der Dinge. Was hier sichtbar wird, ist, um noch einmal die Nähe zu Foucault zu betonen, ein ebenso komplexer wie kreativer Prozeß einer ganz eigenen literarischen Wissensarchäologie. Im folgenden wird sich zeigen, daß neben dem primären Ordnungssystem der Quellen, der Sabotage der Ordnung in den Exzerptheften und ihrer partiellen Restitution in den Registern im Zusammenhang mit Jean Pauls Exzerpten auch noch zwei weitere Ordnungsbegriffe und -bemühungen eine wichtige Rolle spielen, nämlich die der Ordnung bzw. Beschreibung des Nachlasses und nicht zuletzt auch die der editorischen Arbeit. Bei meinem Versuch, das unübersichtliche Gelände der Jean Paulschen Exzerpierwerkstatt etwas genauer zu vermessen, will ich zunächst vom Stand der damit beschäftigten Editionsarbeit berichten und werde dann einen Überblick über Jean Pauls weitverzweigte Werkstatt und ihre Ordnungssysteme geben. Anschließend möchte ich das Funktionieren dieser Textwerkstatt in der Textwerkstatt skizzieren und zuletzt auf einige Besonderheiten der späten Exzerpthefte hinweisen.

2. Stand der Dinge Das Projekt »Transkription und digitale Edition von Jean Pauls Exzerptheften«, so die offizielle Bezeichnung, wurde an der Arbeitsstelle Jean-PaulEdition der Universität Würzburg im November 1998 begonnen, gefördert zunächst von der Fritz Thyssen Stiftung und von 2001–2005 dann von der DFG. Konzeptionelle Vorüberlegungen von Thomas Wirtz und natürlich die Pionierarbeit Götz Müllers mit seinem Buch Jean Pauls Exzerpte von 1988 lieferten das Fundament für die Erschließung der mit Abstand größten Text-

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sammlung Jean Pauls, die mit ihren 12.000 Manuskriptseiten annähernd ein Drittel des Gesamtnachlasses ausmacht. Geplant war zunächst nur eine Publikation auf CD-ROM. Diese soll, in Verbindung mit einem Findbuch, das ein Personenregister und wichtige Such-Hinweise enthalten wird, auch nach wie vor die Arbeit des Projekts abschließen. Auf Empfehlung der Marbacher Expertenrunde im Jahr 2001 ist inzwischen noch eine parallele Online-Publikation im Internet dazugekommen. Von den insgesamt 12.000 Manuskriptseiten sind inzwischen über 10.000 Seiten transkribiert. Dabei handelt es sich um die im engeren Sinne als »Exzerpte« zu bezeichnenden Texte. Die restlichen, noch nicht bearbeiteten 2.000 Manuskriptseiten setzen sich aus Registern und anderen, teilweise erst durch Ralph Goebels Nachlaßbeschreibung,16 einem unverzichtbaren Instrument philologischer Ordnung, deutlich sichtbar gewordenen Derivaten aus den Exzerptheften zusammen. Etwa 3.700 transkribierte Manuskriptseiten sind seit Mitte 2004 (quantitatives und qualitatives Update im November 2005) in Form einer Online-Vorab-Veröffentlichung zugänglich.17 Mit Ausnahme der Register und der Exzerpten-Exzerpten ist somit schon jetzt das vollständige Exzerptschaffen Jean Pauls aus der Zeit von 1782 bis 1795 im Volltext verfügbar.18 Was die Reihen V und VI angeht, wird hier der Jean-Paul-Forschung sogar umfangreiches Material zur Verfügung gestellt, das bisher weitgehend unbekannt war, da es in Götz Müllers Quellenverzeichnis der Exzerpthefte nicht erfaßt wurde.19 Doch auch die anderen Exzerptreihen warten mit so manchen Überraschungen auf. Zum einen wird ––––––– 16

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Ralf Goebel, Der handschriftliche Nachlass Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Teil 1: Faszikel I bis XV, bearbeitet unter Mitarbeit von Ralf Breslau. Wiesbaden 2002. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Präsenz der Online-Vorab-Edition im Internet nur bis April 2006 gesichert. Adresse: http://62.154.246.52/jeanpaul (15.12.2005); der Zugang ist auch über die Homepage der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition (vgl. Anm.3) und das Jean-Paul-Portal möglich. – Das Projekt, dessen Leitung der Verf. verantwortet, wurde unter dem Dach der von Helmut Pfotenhauer geleiteten Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition der Universität Würzburg seit Mitte 2002 maßgeblich von Sabine Straub und Monika Vince vorangebracht. Es ist, was die Drittmittelförderung angeht, Ende 2005 beendet. Die Abschlußarbeiten werden im Rahmen einer dem Verf. von der Universität Würzburg seit August 2002 gewährten Lehrdeputatsermäßigung (25%) geleistet. Die Vervollständigung wird voraussichtlich im zweiten Quartal 2006 erfolgen. Müller liefert lediglich für Band 5 der Reihe V ein grobes Verzeichnis der exzerpierten Quellen (vgl. Müller [Anm.6], S.280f.) und merkt zu den Bänden 1–4 nur an: »Diese Hefte enthalten keine verwertbaren Hinweise auf exzerpierte Quellen, häufig jedoch Hinweise auf andere Exzerpte« (ebd., S.280) bzw. zu Bd.6: »Ohne verwertbare Hinweise auf Quellen« (ebd., S.281). Mit der gleichen Begründung bleibt auch die Reihe VI (»Bemerkungen verschiedener Autoren«) gänzlich unerfaßt.

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jenseits der bisher bekannten bloßen bibliographischen Quellenangaben erst jetzt die frappante Unberechenbarkeit sichtbar, mit der Jean Paul vielen Quellen eher das Unerwartete als das Erwartbare entnimmt. Zum anderen konnte Müller seinerzeit schwerlich alle 10.000 Manuskriptseiten nach bibliographischen Angaben durchsuchen, sondern mußte sich für seine strukturelle Erfassung der von Jean Paul exzerpierten Quellen an den Inhaltsverzeichnissen orientieren, die der Autor für den Großteil seiner Exzerpthefte auf den letzten Seiten oder auf den Innenseiten der Einbände angelegt hatte. Angesichts der enormen Textmenge erscheint dieses Vorgehen zwar gut nachvollziehbar, es führte aber dazu, daß in Müllers erster Bestandsaufnahme zahllose Quellen unberücksichtigt blieben, die Jean Paul zwar exzerpiert, aber nicht in seinen Inhaltsverzeichnissen erfaßt hatte. Erst die Transkription macht daher das von Jean Paul exzerpierte Material annähernd vollständig20 sichtbar und zeigt, daß das tatsächliche Exzerpierpensum des Autors noch beeindruckender ist als bisher angenommen. Erstmals können jetzt auch die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Exzerptreihen nachvollzogen werden. Wenn auch die direkte Verlinkung korrespondierender Einträge im Moment noch nicht realisiert ist, kann man doch den Verweisen vom Derivat zum Ursprung nachgehen und beispielsweise auch überprüfen, ob Jean Paul zeitgleich Exzerpte aus ein und demselben Werk in verschiedene seiner Exzerptreihen eingetragen hat. Das Konzept der digitalen Edition der Exzerpte strebt eine möglichst konsequente ›Abbildung‹ der Manuskriptverhältnisse an: Die einzelnen Exzerpthefte bleiben als Gesamt-Dokumente erhalten, die Seiten- und Absatzeinteilung bleibt gewahrt und Jean Pauls Handschrift wird so transkribiert, dass alle wesentlichen Besonderheiten sichtbar bleiben, und zwar gerade auch jene, die die Exzerpte als eine nicht für die Publikation, sondern für die eigene Weiterverwendung angelegte Textsammlung auszeichnen.21 ––––––– 20

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Es bleibt ein kleiner Prozentsatz von Exzerpten, für die Jean Paul keinerlei Quellenangabe geliefert hat bzw. deren Zuordnung zu einer genannten Quelle fraglich ist. Innerhalb des primär auf die Transkription angelegten Editionsprojekts war es nur vereinzelt möglich, diesbezüglich weitere Recherchen anzustellen. Auch konnte den einzelnen exzerpierten Quellen weder bibliographisch noch im Sinne einer Autopsie des Exzerpierten nachgegangen werden. Schwer oder gar nicht lesbare Textstellen wurden deshalb in aller Regel nicht restituiert. Die im Internet verfügbare Vorabpublikation der Exzerpthefte wurde mit der mittlerweile in norwegischer Hand befindlichen Retrieval-Software »FAST NXT4« in Zusammenarbeit mit deren deutschem Vertriebspartner, der CEDION GmbH (vgl. http://www.cedion.de) realisiert. Diese Software soll auch bei der vorgesehenen CD-ROM-Publikation Verwendung finden, da sie ein hohes Maß an Suchkomfort gewährleistet und die großen Datenmengen gut bewältigt. Die Exzerpte können

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In der editorischen Textwerkstatt wird zu diesem Zwecke ein Ordnungssystem angewandt, das unter dem Kürzel TEI bekannt geworden ist und von der internationalen Text Encoding Initiative etabliert wurde. Es stellt für die Geisteswissenschaften ein strukturiertes Modell der Textauszeichnung bereit, das es ermöglicht, nahezu alle charakteristischen Elemente und Eigenheiten eines Textes zu erfassen und dann im Rahmen einer digitalen oder gedruckten Edition sichtbar zu machen.22 Bei der Anwendung dieses Modells auf spezifische Texte und Textgruppen können und müssen individuelle Anpassungen vorgenommen werden, und auch die Erfassungstiefe, also die Vollständigkeit und Detailliertheit der Erfassung, liegt im Ermessen des Anwenders. Im Falle der riesigen zu edierenden Textmenge der Jean Paulschen Exzerpte war nur eine vergleichsweise reduzierte Auszeichnung bzw. Strukturierung möglich, die allerdings so angelegt ist, daß sie jederzeit erweitert und präzisiert werden kann. Mit der Beschränkung auf das Basismodell »TEI lite« waren zwar einige Einschränkungen und Kompromisse verbunden, doch gingen die Einbußen nicht zu Lasten der philologischen Genauigkeit, sondern kommen allenfalls in einer pragmatisch reduzierten System- und Regeltreue bei der Auszeichnung zum Ausdruck. Wollte man die Exzerpthefte Jean Pauls irgendwann nach historisch-kritischen Maßstäben edieren und kommentieren, würde aber die jetzige Datenstruktur und -auszeichnung auch dafür mehr als ein nützliches Grundgerüst bereitstellen; zudem garantiert das verwendete Datenformat XML die Zukunftssicherheit und – bei Bedarf – die spätere Konvertierbarkeit in andere Systeme.

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mit beliebiger Trunkierung, verschiedenen Stichwortkombinationen und auch eingeschränkt auf frei wählbare Teilmengen (einzelne Exzerpthefte oder Exzerptheftgruppen, aber auch Textstrukturierungsfelder wie z.B. die bibliographischen Angaben Jean Pauls) durchsucht werden. Auch wenn die Exzerpthefte-Edition nicht auf historisch-kritische Ansprüche ausgerichtet ist, werden doch nahezu alle editorischen Textbesonderheiten visualisiert, von der Kurzschreibweise Jean Pauls über nachträgliche Hinzufügungen bis hin zu den verschiedenen Streichungen und Korrektureingriffen. Eingriffe und Anmerkungen der Editoren sind ebenso sichtbar wie die seltenen Skizzen und Graphiken Jean Pauls, die als Abbildungen integriert sind. Zu den Details des digitalen Editionskonzepts vgl. meine Aufsätze Die elektronische Edition von Jean Pauls Exzerptheften, in: Jahrbuch für Computerphilologie 4 (2002), S.167–186 und Der elektronische Drache: Jean Paul digital, in: Rückert-Studien. Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V. 14 (2002), S.133–151, sowie die Informationen auf der Homepage der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition [Anm.3].

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3. Erste Dinge Die Arbeit in Jean Pauls Exzerpier-Werkstatt beginnt mit der Auswahl und der Beschaffung der zu exzerpierenden Druckerzeugnisse. Daß Jean Paul einen Unterschied gemacht hat zwischen Lesen und Exzerpieren, belegen die zahlreichen Studier-Reglements und Arbeitsordnungen, die uns aus dem Nachlaß bekannt sind. Ein Buch, das Jean Paul gelesen hat, muß er nicht notwendiger Weise auch exzerpiert haben, und umgekehrt wissen wir daß Jean Paul manches Buch, aus dem er exzerpiert hat, nur kursorisch gelesen hat. Viele Texte, insbesondere der »schönen Literatur«, von denen wir wissen, daß Jean Paul sie gelesen und gekannt hat, sind weder in der Aufstellung der Libri legendi verzeichnet noch lassen sich Exzerpte daraus oder andere Verwertungen nachweisen. Jean Paul exzerpiert mindestens zu 95% aus Werken der Sachliteratur, wobei neben die unzähligen Monographien und Lexika zunehmend auch Almanache, Taschenbücher, Zeitschriften und Zeitungen treten. Aus all diesen Druckerzeugnissen pflückt Jean Paul einzelne Segmente heraus, notiert sie in der Regel nicht als Zitat, sondern mit eigenen Worten, meist ganz sachlich und neutral, ohne affirmative oder kritische Wertung. Die Vielfalt des Exzerpierten ist schier unendlich. Entscheidend für Jean Pauls Interesse ist meist weniger die konkrete substantielle Novität oder Originalität des Exzerpierten als ein abstrahierbarer Sinn, eine semantische Struktur, eine der Sache innewohnende Bildlichkeit, Übertragbarkeit. Mit dem Begriff »Wissen« im herkömmlichen Sinn ist das, was Jean Paul da zusammenträgt, nur sehr unzureichend erfaßt und wird vor allem dem Modus der Übernahme, der fragmentarisierten, unsystematischen Notation, nicht gerecht. Dieses Exzerpierverfahren verfolgt nicht das Ziel, zu einem bestimmten Thema die Quintessenz des dazu verfügbaren Wissens zu sammeln, um diese bei Bedarf abrufen und damit argumentieren oder gar glänzen zu können. Das zentrale, die Exzerpier-Arbeit motivierende Interesse Jean Pauls ist das Gewinnen und Speichern von Material für die literarische Arbeit. Dieses »Material« ist jedoch nicht einfach mit »Rohstoff« gleichzusetzen. Gewiß kann man sich darüber streiten, wo und wann in der Arbeit eines Schriftstellers, in seinem Schaffensprozeß, überhaupt Literatur beginnt. Doch der Rohstoff sind hier die verwerteten Druckerzeugnisse. Was durch eine auf ästhetischen Interessen beruhende Selektion, durch Dekontextualisierung, Verkürzung und eigene Formulierung daraus gewonnen wird, hat den ersten Schritt der individuellen Anverwandlung, der Literarisierung bereits hinter sich. Welche Rolle spielen aber nun die Exzerpthefte in Jean Pauls Textwerkstatt? Auf den ersten Blick fällt diese Frage eigentlich mehr in die Zuständigkeit der historisch-kritischen Würzburger Editionsprojekte, die das Exzerpt-

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material nutzen und in ihrer Kommentierungsarbeit die Querverbindungen und textgenetischen Prozesse beschreiben. Mit dem alten Begriff »Quellenforschung« ist dieses editorische Interesse an den Exzerptheften nicht mehr angemessen beschrieben, geht es doch jetzt weniger um das DinghaftMachen von Vorlagen und stoffgeschichtlichen Entwicklungslinien als um den Schreibprozeß, die Genese von Texten, wenn nicht von Literatur überhaupt. Es handelt sich dabei um ein Neben-, In- und Miteinander von WerkVorarbeiten im engeren Sinne, von Exzerpten, von daraus entwickeltem »vor-literarischem« Material, aber auch von anderen, exzerpt-unabhängigen Textsammlungen. Jean Pauls Textwerkstatt hat viele Werkbänke und Werkzeuge, und gerade der Begriff Werkstatt, der ja auch das ›work in progress‹ betont, ist es, der eine Hierarchisierung der einzelnen Arbeitsbereiche letztlich obsolet erscheinen läßt. Aber zurück zu den ersten Dingen: Mit einem längeren Exzerpt aus dem Journal für Prediger, das von der Ewigkeit der Höllenstrafen handelt, beginnt der 14-jährige Johann Paul Friedrich Richter im Jahre 1778 sein erstes von insgesamt 112 Exzerptheften.23 Mit dem Satz »In der Revoluz. wurde den Beamten die Besoldung in Kupfer auf Karren und Leiterwagen zugefahren«24 findet dieses von 1778 an ein ganzes Leben lang beibehaltene Verfahren des Heraus-Lesens und Heraus-Schreibens aus fremden Texten im Jahre 1825 sein Ende. Bis dahin ist das Exzerpieren einer der wichtigsten Arbeitsschritte in der Werkstatt des Textgenerators Jean Paul und kann in seiner grundlegenden Bedeutung für die Entstehung bzw. Erzeugung neuer Texte kaum überschätzt werden. Von der ersten bis zur letzten Seite seines veröffentlichten Werks spielen die Exzerpte eine tragende Rolle: Schon in der Erstpublikation, den Grönländischen Prozessen, gehen sowohl der Titel als auch der erste Satz direkt auf nachweisbare Exzerpte zurück,25 und das Voltaire-Motto ist gar ein direktes Ex––––––– 23

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Jean Paul, Exzerpte. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.Ia, Bd.1 (1778), S.1. Ebd., Fasz.IVa, Bd.24 (1823–1825), Nr.122bis (Zählfehler Jean Pauls). Der Titel geht auf ein Exzerpt aus David Cranz’ Historie von Grönland (2. Ausg. 1770) zurück, vgl. den Kommentar zu den Jugendwerken von Wilhelm SchmidtBiggemann und Norbert Miller (II/4,206,), die den Text im Wortlaut aus einer Ausgabe von 1795 zitieren, denen aber schwerlich das dazugehörige Exzerpt bekannt sein konnte: »Sie machen ihre Streitigkeiten tanzend u. singend ab. Ein Beleidigter macht auf den Beleidiger einen satyrischen Gesang, den er durch Wiederholung seinen Hauleuten und Frauen einprägt. Nach Bekantmachung, daß er auf seinen Gegenpart singen wil, findet sich der lezte an dem bestimten Orte ein, wo die Zuschauer auf seine Unkosten lachen. Er verteidigt sich auf dieselbe Art – und wer das lezte Wort behält, hat den Prozes gewonnen. Die Menge der Zuschauer dezidirt es. Sie sind nachher wieder Freunde. – Die berümtesten Satyriker und Sitten-

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zerpt aus der Collection complette des œuvres de M. de Voltaire.26 Und so wie das Schreiben Jean Pauls angefangen hat, hört es auch wieder auf: noch auf der letzten Seite der unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Selina findet sich im vorletzten Satz ein verarbeitetes Exzerpt. Für die dort erwähnten Erscheinungen, bei denen »kurz vor dem Sterben wie dem Wahnsinnigen die Vernunft, so dem Kranken das jahrelang eingesunkne Reich des Gedächtnisses wiederkehrt und wiederblüht!«,27 steht ein Exzerpt aus Band 12 der Reihe II (Geschichte) Pate, das nicht nur in die Reihe V (Natur) übernommen wurde, sondern auch im Exzerptenregister unter dem Stichwort ›Tod‹ verzeichnet ist.28 Mit der textgenetischen Relevanz der Exzerpte hat sich unser Editionsprojekt bereits eingehender beschäftigt. Sabine Straub und Monika Vince haben am Beispiel des zentralen Themenkomplexes »Tod und Scheintod« demonstriert, welche direkten Wege aus den Exzerptheften und den Exzerptregistern ins literarische Werk Jean Pauls führen.29 Die dabei aufgezeigten intertextuellen Bezüge sind bereits von beeindruckender Komplexität und zeugen von einem überraschenden Variantenreichtum. Und das, obwohl hier die feingliedrigen Um- und Seitenwege, die ebenfalls vom Exzerpt in den literarischen Text führen können, noch ausgeklammert blieben. Beispielsweise die Aufnahme und Weiterverarbeitung von Exzerpten in einer der parallel angefertigten Textsammlungen wie den Dichtun––––––– 26

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lerer haben daher die schlechteste Auffürung.« (Jean Paul, Exzerpte, [Anm.23], Fasz.IIa, Bd.1 [1782/83], S.130.) Vgl. II/4,182. Jean Paul fertigt im Jahre 1781 französischsprachige Exzerpte im Umfang von 50 Seiten aus verschiedenen Voltaire-Ausgaben an. Das Motto der Grönländischen Prozesse, »J’ai bien peur que notre petit globe terraquée [sic] soit les petites maisons de l’univers«, befindet sich allerdings nicht darunter, sondern scheint über eine andere Zwischenstation oder direkt übernommen worden zu sein. I/6,1236. – Auch hier trifft zu, worauf ich schon an anderer Stelle (vgl. M.W., Die elektronische Edition [Anm.22], S.168) hingewiesen habe, nämlich daß man eigentlich immer, wenn Jean Paul zu einem »wie...« oder »gleich...« ansetzt, den Rückgriff auf ein Exzerpt vermuten darf. Dies gilt in besonderem Maße, wenn in den angestellten Vergleichen auch noch historische Personen genannt werden. Das Erstnotat des wahrscheinlich auf Albrecht von Hallers Elementa physiologiae corporis humanae zurückgehenden Exzerpts lautet: »Ras. werden oft vor dem Tode verständ.; kömt von der überhandnehm. Schwachheit; [...].« (Jean Paul, Exzerpte, [Anm.23], Fasz.II, Bd.12, [1787–1788], S.66). In der Reihe ›Natur‹ wird daraus einige Jahre später: »Von Rasenden, die kurz vor dem Tod vernünftig werden.« (ebd., Fasz.V, Bd.3, [1795–1797], S.5), und im Register: »Rasende vor dem Tode verständ.« (ebd., Fasz.IIIb, Register, Stw. ›Tod‹, Bl.45v); vgl. auch: »Eine Frau antwortete, bis die Raserei zu hoch kam wenige Stunden vor ihrem Tod, vernünftig« (ebd., Fasz.IIb, Bd.15 [1788/89], S.348). Sabine Straub/Monika Vince, »Wetterleuchtende Demant- und Zaubergrube«. Zur Produktivität des Todes in Jean Pauls Exzerpten und literarischen Schriften, in: JJPG 39 (2004),S.27–60.

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gen, den Satiren und Ironien oder den Bausteinen, die unzählige direkte Verweise auf die Exzerpthefte enthalten. Diese Textsammlungen sind nicht nur als Weiterverarbeitung von Exzerpten und somit als Zwischenstationen auf dem Weg vom Exzerpt in den ›fertigen‹ Text interessant, sondern auch durch den Umstand, daß Jean Paul einiges aus den exzerpierten Büchern direkt in diese Textsammlungen übernommen hat, ohne es erst in den Exzerptheften niederzuschreiben. Ralph Goebels Nachlaßbeschreibung weist durch ihre genauen Inhaltsangaben diese dislozierten Exzerpte in vielen nicht zu den Exzerptheften zählenden Manuskripten nach,30 unter anderem in den frühen Satiren-Bänden von 1782–1784, vereinzelt aber auch in den Konvoluten der Einfälle / Bausteine / Erfindungen, die ohnehin zu den Exzerpten die engsten Beziehungen unterhalten und eine bedeutende textgenetische Nahtstelle sind in der weiteren literarischen Anverwandlung von exzerpiertem Material. Dieses Material nun eingehend zu beschreiben, ist angesichts seiner extremen Vielfalt an dieser Stelle unmöglich und kann durch das Studium des – wenn auch unvollständigen – bibliographischen Inhaltsverzeichnisses bei Götz Müller leicht nachgeholt werden. Hingewiesen werden soll hier lediglich auf zwei Besonderheiten oder Extreme. Das eine Extrem besteht darin, daß Jean Paul gelegentlich beim Exzerpieren auch ohne gedruckte Vorlagen auskommt, indem er nämlich seinen Exzerptheften auch Texte einverleibt, die er gewissermaßen aus lebendigen Personen exzerpiert hat. Dutzende Male findet man statt einer bibliographischen Angabe nur den Vermerk »Emanuel« oder »Otto«. Ob hier mündliche Äußerungen der beiden engsten Vertrauten gemeint sind oder ob sich Jean Paul auf schriftliche Dokumente, also Briefe, Billets und Veröffentlichungen stützt, muß noch näher erforscht werden.31 In einem Fall ist aber die Sache klar: wenn Jean Paul sein Exzerpt »Im Altenburg. wird blos 1 mal des Mo––––––– 30

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Besonders schätzenswert an Goebels Nachlaßbeschreibung ist auch, daß sie die Arbeitsmethodik Jean Pauls an zahlreichen Stellen exemplarisch vor Augen führt und damit die dichte Vernetzung der einzelnen Nachlaßbereiche untereinander und ihre Verklammerung mit den veröffentlichten Texten offenlegt. Als Briefexpertin hält Monika Meier (Potsdam) im Falle Emanuels und Christian Ottos sowohl eine mündliche als auch schriftliche Grundlage solcher Exzerpte für denkbar und verweist auf den nur unvollständig überlieferten Briefwechsel zwischen Jean Paul und Emanuel, aber auch auf den regen direkten Umgang zwischen den Freunden. Ein gesicherter Präzedenzfall, in dem Jean Paul seine Korrespondenz exzerpiert hat, liegt mit dem Brief Johann Bernhard Hermanns vom 7.Mai 1788 vor, der die Grundlage eines Exzerpts in Fasz.IVa, Bd.9 (1792-1794) ist, vgl. SW IV/1,100f. sowie den Kommentar von Monika Meier, der ich für ihre vielfältigen Hinweise herzlich danke.

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nats getanzt, und zwar am ersten Sonntag. Fällt nun dieser nicht gerade Anfangs Monats: so den nächsten Sonntag darauf.«32 mit dem Herkunftsvermerk »Mein Balbier in Löbigau.«33 versieht, exzerpiert er unmittelbar aus seinem eigenen Leben. In diesem Falle ist es seine Reise nach Löbichau im August und September 1819, während der er offensichtlich einen, ganz dem Klischee entsprechend, gesprächigen Barbier aufgesucht hat. – Das andere Extrem begegnet einem, wenn Jean Paul ein Buch gewissermaßen in seiner Gesamtheit exzerpiert, nämlich indem er es nicht in Form von Auszügen, umgearbeiteten Passagen oder Zitaten in seine Exzerpthefte einträgt, sondern einzig und allein als bibliographische Angabe, ohne eigentlichen Exzerpttext. Diese Bücher bzw. Buchtitel sprechen in Jean Pauls Augen offensichtlich für sich. Hier einige Beispiele für diese extreme Reduktionsform des Exzerpierens: Versuch einer Beschreibung sehenswürdiger Bibliotheken Deutschlands nach alphab. Ordnung der Oerter. Von Hirsching.34 Verbesserter u. neuer Kriegs Mord und Tod Jammer u. Nothkalender auf 1754. von Adelsheim.35 Pölitz Materialien zum Diktieren nach einer 3fachen Abstufung vom Leichten zum Schweren geordnet, zur Übung in der deutschen Orthographie Gramm., und Interpunkz.; mit fehlerh. Schemen für den Gebrauch des Zöglings. 2te verbess. Auflage.36

4. (Un-)Ordnung der Dinge Das Exzerpieren und die Organisation der Ergebnisse konstituieren gewissermaßen eine Textwerkstatt im Kleinen. Wie schon angedeutet wurde, durchlaufen die Notate dann mehrere Arbeitsschritte, in denen unterschiedliche Werkzeuge zur Anwendung kommen. Das zu exzerpierende wird nicht nur selektiert und schließlich entnommen37, sondern in seiner Vielfalt dann auch strukturiert, geordnet, bearbeitet und für die Weiterverwendung vorbereitet. Die auffälligste der zahlreichen Ordnungsbemühungen des Autors veran-

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Jean Paul, Exzerpte [Anm.23], Fasz.IVa, Bd.23 (1818–1823), Nr.275. Ebd. Ebd., Fasz.IVa, Bd.5 (1789), S.13. Ebd., Fasz.IVa, Bd.10 (1795/95), S.41. Ebd., Fasz.IVa, Bd.21 (1810-1814), Nr.282. Vgl. die Etymologie des Verbs exzerpieren, das auf das lateinische excerpere (herausnehmen, auslesen) zurückgeht und somit neben der aktiven auch eine qualitative Dimension hat.

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schaulicht die zweiteilige tabellarische Übersicht (vgl. Abb.1/2),38 die auf einen Blick sämtliche Exzerpthefte Jean Pauls mit Seitenzahl und FaszikelZuordnung im Berliner Nachlaß, und zwar sowohl in ihrer zeitlichen (hier vertikalen) Aufeinanderfolge, als auch in ihrer Zeitgleichheit (hier horizontale Parallelität) zeigt. Unschwer sind auf diesem ›Schaltplan‹ die verschiedenen Reihen zu erkennen, in die Jean Paul seine Exzerpte eingeteilt hat: Zunächst die frühen, hauptsächlich theologisch ausgerichteten, ausführlichen Exzerpte von 1778 bis 1781, dann die fünf weiteren Reihen, die ab 1780 entstehen und parallel fortgeführt werden. Nur zu erahnen ist, was sich hinter und in diesem Schema verbirgt: Die in 44 Jahren angefertigten 112 Exzerpthefte enthalten auf ihren über 10.000 Manuskriptseiten sage und, vor allem, schreibe 71.000 Einzelexzerpte, die sich anfangs gelegentlich noch auf mehrere Manuskriptseiten erstrecken, etwa ab 1781 aber nur noch selten den Umfang von 2–3 Zeilen überschreiten. Auch der Übergang vom herkömmlichen, polyhistorischen Exzerpieren des potentiellen Theologen Johann Paul Friedrich Richter, das durch ausführliche wörtliche Übernahmen aus den Quellen gekennzeichnet ist, zu jenem dekontextualisierenden, ja geradezu atomisierenden Exzerpierverfahren, das den Schriftsteller Jean Paul kennzeichnet, läßt sich hier verfolgen: dieser Prozeß vollzieht sich in den letzten Bänden der Reihe I, den ersten, keiner Reihe zugeordneten Bänden des Faszikels IVb, vor allem aber in der bereits angesprochenen Reihe VI, den sogenannten »Bemerkungen verschiedener Autoren«, hier repräsentiert durch die Abkürzung BVA,39 die das Wissen der alten Exzerpte in das neue Verfahren hinüberretten. Im tabellarischen Ordnungsmodell ist unter der Faszikelangabe und der Exzerptheftnummer jeweils vermerkt, wie viele Manuskriptseiten ein Band umfaßt: so ist also z.B. der erste Band der Reihe VI 102 Seiten stark. Erstreckt sich die Arbeit an einem Band über mehrere Jahre, so wird dies graphisch durch einen entsprechend erweiterten Quader zum Ausdruck gebracht: der Band BVA01 ist also in den Jahren 1780 und 1781 entstanden. In ihrer Untersuchung zu dieser Exzerptreihe VI (BVA) hat Sabine Straub herausgefunden, daß deren erste Bände sich durch extensives Exzerpieren der frühen Exzerpte aus Faszikel Ia und Ib auszeichnen, daß aber dann vor allem ––––––– 38

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Das bei meinem Bayreuther Vortrag verwendete farblich differenzierte Handout im Format DIN A4, das, von weitem besehen, noch mehr als die hier möglichen Schwarzweiß-Abbildungen gewisse Ähnlichkeiten mit dem ›Schaltplan‹ einer Computer-Festplatte hat, auf dem die belegten Speicher-Sektoren graphisch hervorgehoben sind, kann auf der Homepage der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition eingesehen werden, vgl. Anm.5. Vgl. ebd.

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die späteren Bände nicht nur sekundäre und teilweise tertiäre, sondern auch genuine Primärexzerpte enthalten. Eine solche Mischform ist auch in der Reihe »Natur« und, allerdings schwächer ausgeprägt, in der Reihe »Geographie« zu beobachten: Sie enthalten auf ihr Leitthema ausgerichtet, einerseits destillierte Übernahmen aus anderen Exzerptheftreihen mit entsprechenden Querverweisen, andererseits aber auch genuine Primärexzerpte mit bibliographischen Angaben. In ihrer reduzierten, verweisenden Form haben diese Sekundär-Exzerpte oft schon eine registerähnliche Funktion. Denn auch die eigentlichen Register zu den Exzerptheften, die in 162 alphabetisch geordnete Stichwörter untergliedert sind, hat Jean Paul nicht etwa nur mit Verweisen auf die Band- und Seitenzahl bzw. auf die Exzerptnummer gefüllt, sondern wiederum mit verkürzten und modifizierten Versionen der eigentlichen Exzerpte. Diese Registerbände enthalten zwar Exzerpte aus allen Exzerptreihen, erfassen aber, so das Ergebnis meiner ersten eingehenden Untersuchungen, nur diejenigen Bände, die bis zum Jahr 1804 entstanden sind. Spätere Bände als IIc35 und IVa18, die beide bis 1803 bzw. 1804 reichen, sind in den Registern, so wie sie uns überliefert sind, nicht verwertet worden.40 Auch die aufschlußreichen »Merkblätter« und die unmittelbar auf die Schreib-Arbeit bezogenen autobiographischen Schriften wie das »Register dessen was ich zu tun habe« und das »Studier-Reglement«, in denen das Exzerpieren, das Erstellen von Registern zu den Exzerpten und schließlich auch das Exzerpieren von Exzerpten häufig vorkommen,41 sind größtenteils vor 1803 entstanden. Kein Wunder also, daß Jean Paul in einem seiner späten Arbeitshefte vom »unvollkommne[n] Exzerpten-Register«42 spricht. Offensichtlich war der Schriftsteller in der Zeit nach 1803 mit der Aufrechterhaltung und konsequenten Weiterführung des selbstgeschaffenen Ordnungssystems überfordert. Daß er gleichwohl das Interesse am Registrieren nicht ––––––– 40

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Die Frage, ob Jean Paul sein eigentliches Registrieren nach 1803 eingestellt und durch andere Derivate ersetzt hat oder ob er das Register auch danach weitergeführt, dann aber nur Bände aus der Zeit bis 1803 verarbeitet hat, bedarf noch der detaillierten Überprüfung. Die zahlreichen leer gebliebenen Seiten in den RegisterFaszikeln, aber auch die Tatsache, daß die Exzerptbände nach 1803 keine Registrieroder Lesevermerke mehr enthalten und daß auch das Register der Register nur bis 1803 reicht, sprechen für die erste Möglichkeit. Vgl. SW II/6,551–574. – In einem Merkblatt aus dem Jahr 1820 findet sich der Arbeitsvorsatz »In das Exzerptenregister bringe aus E (Altexzerpte) vom Teufel p« (SW II/6,254), der allerdings nicht in die Tat umgesetzt wurde. Andere unveröffentlichte autobiographische Zeugnisse des späten Jean Paul enthalten ebenfalls Hinweise auf Registrierarbeiten an den Exzerpten (vgl. z.B. Goebel [Anm.16], S.99), doch scheinen damit nicht die Register im engeren Sinne gemeint zu sein. Studienhefte zu Der Apotheker, eine Wochenschrift: »Überall werde, sogar auch das unvollkommne Exzerpten-Register benützt.« (SW II/6,537)

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verloren hatte, zeigt ein Vorschlag, den er sich selbst in einer nach 1816 entstandenen, bis jetzt unveröffentlichten Arbeitsordnung macht: »Laß alles auf einmal registrieren, od. doch die Exzerpten=Exzerpten – Oder besond. Register üb. diese Auszüge.«43 Was mit den hier erwähnten »Exzerpten-Exzerpten«44 gemeint ist, ist zunächst nicht ganz klar. Die Formulierung könnte sich auf die erwähnten Misch-Bände der Reihen IV, V und VI oder auch auf die Registerbände beziehen. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß hier der letzte in der tabellarischen Übersicht verzeichnete Sektor gemeint ist, nämlich die wegen ihres Kleinformats so genannten Oktavbücher, in denen sich größtenteils »Auszüge aus den Exzerpten« befinden, so die Klassifikation in Ralph Goebels Nachlaßbeschreibung.45 Auch diese Auszüge sind teilweise thematisch angeordnet, übernehmen also wiederum registerähnliche Funktionen. Die Überschrift »Laune, Ironie« im ersten Band macht deutlich, daß sich der Inhalt der Oktavbücher mit anderen Textsammlungen überschneidet, hier mit den »Satiren und Ironien«, im übrigen aber insbesondere mit dem Bereich der »Einfälle / Bausteine / Erfindungen«. Aus dem großen Chaos der Druckerzeugnisse, aus den Äußerungen von Schriftstellern und Wissenschaftlern aller Disziplinen, greift Jean Paul das heraus, was ihm festhaltenswert erscheint, und schafft daraus, wie schon skizziert, – zunächst ein neues Chaos. Denn in der Aufeinanderfolge und im Überlappen von parallel exzerpierten Werken ist, genauso wie in den Kriterien für die Auswahl der exzerpierten Texte und Textstücke, vor allem eines zu erkennen: Subjektivität, oder besser: Willkür. Doch bei dieser bunten Unordnung oder – um einen zentralen Begriff der frühen Exzerpte zu verwenden – Mannigfaltigkeit bleibt es nicht. Jean Paul läßt verschiedene Bemühungen ––––––– 43

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Jean Paul, Mixta (Autobiographisches). Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.X/20, Bl.2v (entstanden nach 1816). – Daß Jean Paul hier die Einbeziehung von ›Hilfskräften‹ in Betracht zieht, muß nicht weiter erstaunen, weisen doch die Registerbände des Faszikels III zahlreiche Eintragungen von zweiter Hand auf (vgl. auch Goebel [Anm.4], S.24–31). In einer seiner späten satirischen Schriften phantasiert Jean Paul gar davon, im Falle plötzlichen Reichtums »zwei Abschreiber und Registratoren zu meinen Exzerpten« anzustellen (Die wenig erwogene Gefahr [...], II/3,516–532, hier S.529). Auch dieser Begriff findet sich mehrfach in den Studienheften zu Der Apotheker, eine Wochenschrift: »Pack Gleichnisse über Autoren – aus Exzerpten-Exzerpten.« (SW II/6,540) und in leicht abgewandelter Formulierung: »Dahinein lauter Gleichnisse aus Exzerpt-Exzerpten.« (SW II/6,518) – Das Studier-Reglement verzeichnet schon früh den »Neue[n] Plan«: »Nach I. Exzerpten durch lesen zu[m] Exzerp[ieren].« (SW II/6,567) und fordert mehrfach »Extrakte aus den Exzerpten« (SW II/6, S.567f.). Goebel [Anm.16], S.46ff.

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erkennen, diesen ver- und erarbeiteten, durch Re-Produktion erzeugten neuen Text zu strukturieren und zu ordnen, zum Beispiel schon indem er die Bände und Seiten mit einer Numerierung versieht und für viele Bände Inhaltsverzeichnisse mit – wenn auch nur unvollständigen – bibliographischen Angaben der exzerpierten Texte anfertigt.46 Auf diesen Inhaltsverzeichnissen notiert er oft mit »Lu«, »Gelesen« oder »Registriert«, daß und wann er die Bände gelesen und/oder für das Register durchforstet hat. Aber, wie gesagt, nur bis 1803. Welchen Band er nach welchen Stichwörtern durchsucht hat, verzeichnet er wiederum in einem sogenannten »Register-Register«, wie die »Exzerpten-Exzerpten« eine Mise en abîme des Exzerpierens. Die einzelnen Exzerpteinträge werden auf den vor allem in den frühen Jahren eng beschriebenen Seiten durch deutliche Unterstreichung der Anfangsworte oder auch nur der ersten Buchstaben voneinander abgegrenzt. Charakteristisch sind auch die senkrechten Wiederholungsstriche (|), mit denen der Exzerptor signalisiert, daß er ein Exzerpt aus der zuletzt weiter oben angeführten Quelle entnommen hat, ein doppelter Strich (| |) steht für dieselbe Seite in derselben Quelle.47 Für weitere Strukturierung sorgt die nicht immer fehlerfreie Paginierung, die ab 1796 durch eine freilich noch weniger zuverlässige Numerierung der Einzelexzerpte ersetzt wird, eine Ordnungsbemühung also, die auch neues Chaos mit sich bringt. Aus der mit Bruchstrich notierten Kombination aus Band- und Seitenzahl bzw. Exzerptnummer formieren sich dann die charakteristischen Exzerptverweise, wie man sie zu Hunderten in den Manuskripten Jean Pauls findet: 33/8 verweist also auf Seite 33 in Band 8, bei den ab 1796 entstandenen Bänden verweist eine Angabe wie 114/38 dann auf das Exzerpt Nr.114 in Band 38.48 Phasenweise, aber längst nicht immer und nicht konsequent, signalisieren Anstreichungen und Symbole am Seitenrand die Aufnahme von Einträgen in das Exzerptenregister oder auch in andere Textsammlungen. Letztlich ist es jedoch nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Exzerpte, der den Weg in die Register findet, die somit eine wichtige Rolle im Schreibprozeß spielen können, aber nicht müssen. Ein Exzerpt kann auch direkt aus dem Exzerptheft oder über den Umweg einer anderen Exzerptreihe bzw. Textsammlung oder sogar direkt aus dem exzerpierten Buch in den Schreibprozeß integriert ––––––– 46

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Das Fehlen der Inhaltsverzeichnisse bei einigen der Exzerpthefte erklärt sich teilweise durch den Umstand, daß Jean Paul sie auf den konservatorisch besonders gefährdeten Einbandinnenseiten niederzuschreiben pflegte, die teilweise gar nicht oder nur noch in Bruchstücken erhalten sind. Vgl. Straub/Vince [Anm.29], S.29. In Jean Pauls Handschrift sind die Verweise mit einem hier nicht darstellbaren horizontalen Bruchstrich verzeichnet.

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werden. Aber egal, woher er es holt: ohne sein Lebenselixier kommt der »Bücher-Vampyr«49 bei seiner Schreib-Arbeit nicht aus. Auch die Untergliederung in die verschiedenen Exzerptreihen gehört zu dieser chaotischen Ordnung des Chaos, denn die Kriterien, nach denen Jean Paul ein Exzerpt nicht in die Reihe II »Geschichte«, sondern in die Reihe III der »Gemeinen Exzerpte« aufnimmt, sind nur schwer zu erkennen. Kaum nachzuvollziehen ist beispielsweise auch, warum einzelne Geographiebezogene Exzerpte nicht in der dafür vorgesehenen Reihe IV, sondern in den Reihen II oder III ihren Platz finden. Vielleicht kann die detaillierte Untersuchung von Jean Pauls Schreib- und Exzerpiermethodik irgendwann einmal darüber Aufschluß geben.50 Ähnlich wie bei den anderen Textsammlungen, wo die Gedanken-Bände etwa mit einem Dreieck oder die der Bemerkungen über den Menschen mit einem Quadrat signalisiert werden, erfindet Jean Paul für seine Exzerpte ein eigenes Chiffren-System, um die Reihen voneinander zu unterscheiden: er bezeichnet die Reihe III mit durchgestrichenen Ziffern, die GeographieBände der Reihe IV mit einem ergänzenden Zeichen, das einem kleinen griechischen Pi ähnelt, die Reihe 5 durch einen auf die Bandzahl folgenden Punkt, die Reihe 6 durch eine vorangestellte Null (z.B. 0.5 für den Band BVA 5). Doch leider unterliegt auch diese Systematik einem historischen Wandel, wird also vom Autor nicht konsequent eingehalten und führt oft in die Irre. Von den uns heute verfügbaren digitalen Möglichkeiten, dieses Chaos durch strukturierte Datenerfassung, durch Indizierung, Hyperlinks und Suchmechanismen zu bändigen, konnte Jean Paul nur träumen.51 Die erwähnte Reihe II »Geschichte« ist quantitativ und durativ die bedeutendste Exzerptreihe Jean Pauls. Sie reicht von 1782 bis zum Todesjahr 1825, ––––––– 49

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SW III/3,407 (Brief an Karl August Böttiger, September [?] 1800), vgl. den Katalog der gleichnamigen Würzburger Jubiläumsausstellung: Birgit Sick, »Bücher-Vampyr« und »Schreibmensch«. Jean Paul zum 175. Todestag. s.l. 2002. Auch das Bild des »Vampyrs« hat seinen Ursprung in Jean Pauls Exzerpten und findet dann mit besonderer Häufigkeit im Hesperus Verwendung. Wichtige Vorarbeiten hierzu liefern im Anschluß an Götz Müller die Arbeiten des französischen Jean-Paul-Forschers Christian Helmreich, vor allem sein Aufsatz Du discours érudit à l’écriture romanesque. Recherches sur les cahiers d’extraits de Jean Paul, in: Elisabeth Décultot (Hrsg.), Lire, copier, ecrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIe siècle. Paris 2003, S.179–198. Helmreichs Beitrag steht dort neben Untersuchungen zur Exzerpiertechnik anderer Autoren des 18. Jahrhunderts wie Montesquieu, Winckelmann, Lichtenberg und Heinse unter der sehr treffenden Rubrik »Subversion poétique d’une pratique érudite«. Zu den Parallelen zwischen Jean Pauls Textwerkstatt und den Arbeitstechniken des digitalen Zeitalters vgl. meinen Beitrag Der elektronische Drache. Jean Paul digital [Anm.22].

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umfaßt allein über 4.200 Manuskriptseiten und ist im besten Sinne des Wortes poly-historisch angelegt: Neben der Weltgeschichte finden dort Natur-, Rechts- und Kirchengeschichte genauso ihren Platz wie Geographie, Medizin, Kunstgeschichte und andere Disziplinen. Die Geschichte, um die es hier geht, ist die Geschichte des Wissens überhaupt.52 Während aber der traditionelle barocke Polyhistor dieses Wissen noch bündelt, ordnet und klassifiziert, wird bei Jean Paul ein solches Ordnungsprinzip durch das Prinzip Willkür konterkariert, wenn nicht sogar bewußt sabotiert. So sind auf einer einzigen Exzerptheftseite oft Exzerpte aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten hintereinandergereiht und ergeben ein Panoptikum, das an Skurrilität den einschlägigen Romanfiguren Jean Pauls kaum nachsteht. Dies ändert sich auch dann nicht grundlegend, wenn das Ordnungsprinzip der Register-Erfassung gegriffen hat, denn nun finden sich unter einem Stichwort wie »Lachen« oder »Maschine«53 zwar themenverwandte Verweise und Kurzzusammenfassungen, ihre Herkunft und ihr Charakter könnte aber kaum unterschiedlicher sein, ganz zu schweigen von der Willkür, mit der Jean Pauls »Suchmaschine« einen Eintrag unter dem einen oder dem anderen Stichwort oder vielleicht auch gar nicht registriert. Vielleicht ist es Jean Paul weniger um das Erreichen einer finalen Ordnung als um die prozessuale Tätigkeit des Ordnens selbst gegangen. Das Faszinierende jedenfalls ist, daß diese Unordnung in der Ordnung vom Autor willentlich, ja geradezu lustvoll herbeigeführt wird: das Chaos hat Methode und die Methode ist chaotisch. Diese inszenierte Unberechenbarkeit, die Überraschung und der Kontrast scheinen Zündfunken des Jean Paulschen Schreibens zu sein. Dies wird allerdings erst jetzt langsam sichtbar, nachdem das fundamentale Ordnungssystem der Nachlaßbeschreibung und das darauf aufbauende editorische Ordnungssystem einiges Licht in das Dunkel gebracht haben. Also plädieren wir mit Jean Paul letztlich doch auch Für Ordnung Lichtenberg hat Recht, daß Ordnung zu allen Tugenden führt. Nehmt sie weg, so gibts keine Armee, kein Heer, keine Feueranstalten – Sogar der genial-unordentlich scheinende ist in seinem Fache ordentlich, so wie jeder ein Nebenfach hat, worin er unordentlich ist; wer letztes überall ist, ist nichts. Sonderbar daß man die Regel am Himmel und von Weltkörpern begehrt und zu Hause unter Erdkörperchen nicht.54

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Vgl. Jean Pauls resümierende Feststellung auf einem »Merkblatt« des »Kometenplanhefts« (1820/21): »Ich habe mir das Salzbergwerk des Wissens durch Lesen so ausgehölt, daß nur noch einige Säulen stehen.« (SW II/6,345, Hervorh. M.W.) Vgl. die bereits vorliegenden Transkriptionen bei Müller [Anm.6], S.298–310. Jean Paul, Gedanken. SW II/8,418.

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5. Letzte Dinge Die statistische Übersicht zeigt, daß Jean Pauls Exzerpiervolumen bereits nach 1803 deutlich zurückgeht. Um 1808 verstärkt sich dieser Trend, der Abbruch der Reihe VI und die nur noch spärlich weitergeführte Reihe V sind genauso ein Indiz dafür wie die Tatsache, daß der Erfassungszeitraum der einzelnen Bände größer wird. Einen weiteren Einschnitt markiert das Jahr 1815. Es gibt nun häufiger Jahre, in denen Jean Paul kein neues Exzerptheft beginnt, sondern nur die bereits begonnenen langsam weiter füllt. Das mag mit der von ihm selbst immer wieder beklagten nachlassenden Schaffenskraft zusammenhängen oder mit der Überfülle des ja schon angehäuften Materials. Ob darin auch ein Indiz für einen Wandel des Arbeitsprozesses und vielleicht sogar des schriftstellerischen Selbstverständnisses liegt, ist in Detailstudien am Spätwerk erst noch zu untersuchen. Seine verschiedenen Arbeitsregeln und -pläne belegen, daß sich Jean Paul nun stärker auf das Lesen und Wiederlesen seiner Exzerpte konzentriert: »Als Autor und Greis hab ich jetzo mehr Gewinn, meine Exzerpte zu lesen und zu nützen als fremde Bücher.«55 – In einer unveröffentlichten Arbeitsordnung von 1816 heißt es: »Die Hauptsache ist jetzt weniger Exzerpieren als Lernen und Behalten«56 und schon viel früher wird im Vita-Buch das »Exzerpten-Übermaß«57 beklagt. Vom Nachlassen betitelte Thomas Wirtz seinen instruktiven Aufsatz über Jean Pauls schriftliche Hinterlassenschaft, die in der Berliner Staatsbibliothek verwahrt wird.58 Ein Nachlassen im Sinne des Schwächerwerdens ist auch in den späten Exzerptheften ab dem Jahr 1815 unübersehbar. Sie sind von einer weitschweifiger und am Ende auch zitterig werdenden Handschrift geprägt, reichen über mehrere Jahre und sind (in der Reihe III) auch nicht mehr, wie sonst, in stabilem Karton zu buchartigen Konvoluten zusammengebunden. Die Zählfehler häufen sich und begegnen sogar noch auf der letzten Exzerptheftseite. Der Band 24, das letzte Heft der Reihe III, das von 1822 bis 1825 reicht, besteht nur noch aus losen Einzelblättern; er fällt wesentlich kürzer aus als alle anderen, ist nicht mehr von Jean Paul selbst beschriftet worden und enthält kein Quellenverzeichnis mehr. Krankheit und Tod dokumentieren sich hier im Nachlassen und schließlichen Aufhören des Schreibens. ––––––– 55 56

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Jean Paul, Merkblatt 1818. SW II/6,193. Jean Paul, Arbeitsordnung (1816–ca.1822). Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.X/20, Bl.1v. Vita-Buch, SW II/6,688 Thomas Wirtz, Vom Nachlassen. Die Handschriften Jean Pauls in Berlin, in: JJPG 30 (1995), S.165–178.

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Ein existentieller Bezug zur Situation des Exzerpierenden ist gewiß auch darin zu erkennen, daß Jean Paul sich in seinen letzten Lebens- und SchreibJahren in stärkerem Maße für medizinische Fachliteratur interessiert: wenn in den letzten Exzerptheften der Reihen II und III gleich mehrere Werke der Augenheilkunde exzerpiert werden, dokumentiert das die gesundheitliche Situation Jean Pauls in gleichem Maße wie das geradezu selbstironische Exzerpieren eines Werks namens Richters Wundarzneikunde in Band 23 der Reihe III. Ein gesteigertes Interesse für die großen Persönlichkeiten Napoleon und Goethe ist zu erkennen, für die Neue Welt und technische Errungenschaften. Im übrigen bleibt sich aber der späte Jean Paul in seinem Exzerpieren treu und richtet die nach wie vor fast ausschließlich auf Sachliteratur basierende Zusammenstellung seiner Exzerpte auf Zufall, Kontrast, Unordnung und Dissonanz aus. Die »letzten Dinge«, für die sich Jean Paul interessiert, sind in ihrer Aufeinanderfolge so skurril und geradezu ›realsatirisch‹ wie man das in den Exzerptheften spätestens seit 1782 eigentlich immer erwarten darf: da liest man auf den beiden letzten Seiten der Reihen II und III,59 daß sich die Römerinnen eine besondere Sklavin für die Finger und Nägel hielten; daß, nach Willers Buch über Augenkrankheiten, die Hemeralopie besonders häufig in Polen, Brasilien und China auftritt und überhaupt in Ländern mit viel Morast und Reisbau; daß es nach Gruithuisen im Mond eine kolossale Stadt gibt, aber auch Waldlichtungen, Sternschanzen und Kunststraßen; daß, so der Korrespondent von 1825, in den orthopädischen Instituten zu Würzburg und Paris Gipsabdrucke von erkrankten Körperteilen genommen werden, um nach der Genesung eine Vergleichsmöglichkeit zu haben; daß in England eine Eidechse aus der Urwelt von 60 Fuß Länge gefunden wurde, »so hoch wie ein Elefant«; daß nach der Krönung des französischen Königs Tauben und Vögel in den Kirchen freigelassen wurden; daß das Vieh nicht aus dem Stall zu bringen ist, weil es das Feuer außen fürchtet; daß Luft das einzige sei, was man nicht im Übermaß genießen kann und daß durch Leipzig kein Soldat marschieren darf. Im letzten Band der GeographieReihe IV beschäftigt sich das letzte Exzerpt, abermals aus dem Korrespondenten, mit dem Elefanten des Königs von Birma, der nicht nur von allen verehrt wird, sondern einen Minister und gar einen ganzen Hofstaat hat. Allerdings, so der letzte Satz dieses Hefts: »Vorderfüße mit silbernen Ketten gebunden, hinte-

––––––– 59

Vgl. Jean Paul, Exzerpte [Anm.23], Fasz.IIc, Bd.49 (1822–1825), Nr.248ff. und Fasz.IVa, Bd.24 (1823–1825), Nr.210ff.

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re mit Stricken.«60 Ähnlich bildhaft schließt auch der letzte Natur-Band (Reihe V): »Die Jungfrau ist halb Felsen unten, oben Eis.«61 Von den eigentlichen vier »letzten Dingen« im Sinne der Eschatologie, also von Tod, Jüngstem Gericht, Himmel und Hölle, die gewiß zu Jean Pauls Lieblingsthemen zählen,62 ist hier also überhaupt nicht die Rede. Ganz anders als in Jean Pauls (im engeren Sinne) literarischem Schaffen, wo sich tatsächlich eine Rückkehr zu den Themen erkennen läßt, die ihn schon im Jahr 1778, am Anfang seiner Schreib-Existenz, in den Exzerptheften beschäftigten. Allerdings ist die souveräne Gelassenheit, die er in seinem unvollendet gebliebenen Werk Selina oder die Unsterblichkeit der Seele an den Tag legt, doch weit entfernt von jener beunruhigten Diskussion über die Ewigkeit der Höllenstrafen im ersten Schwarzenbacher Exzerptheft. Da, wie schon weiter oben gezeigt,63 das Fragment der Selina mit einem verarbeiteten Exzerpt zuende geht, das vom Tod handelt, läßt sich aber letztlich auch dieser Kreis noch schließen. Man muß also mit Jean Paul die vier letzten Dinge nicht in den Exzerpten, sondern in der Literatur, in den geschriebenen und noch zu schreibenden Texten des Autors suchen. Die Selina ist nur eines von »diese[n] vier letzten Werke[n]«:64 ein »Werkchen wider das Überchristentum« ist das zweite, die Selberlebensbeschreibung das dritte und der »Papierdrache« das vierte. Dies sind Jean Pauls »wahre vier letzte Dinge«.65 Interessant an den späten Exzerpten Jean Pauls ab 1815 ist nicht zuletzt auch, daß sie verstärkt aus Zeitungen und Zeitschriften stammen und daß darin die zuvor dominanten enzyklopädischen Werke an Bedeutung verlieren. Das letzte Exzerpt der Reihe II in Band 47 vereint gewissermaßen beides: der Auszug »Der Maler Mabouse hatte sein Zeug zu einem Galakleid für Karl V verkauft, machte sich einen so schönen Rock aus Papier, daß dieser und der Hof ihn bewunderten.«66 stammt nämlich aus dem Hesperus, – aber natürlich nicht aus Jean Pauls Roman, sondern aus der gleichnamigen »Encyclopädischen Zeitschrift für gebildete Leser«. In seinem Bildgehalt verweist es auf Jean Pauls letztes, nicht mehr realisiertes Werk, den »Papierdrachen«, jenem papierenen Konstrukt und allerletzten ›Ding‹, von dem in seinen autobiographischen Schriften und Fragmenten so häufig die Rede ist. ––––––– 60 61 62 63 64 65 66

Jean Paul, Exzerpte [Anm.23], Fasz.IV (Geographie), Bd.7 (1822–1824), Nr.155. Ebd., Fasz.V (Natur), Bd.6 (1806–1824), Nr.1395. Vgl. Straub/Vince [Anm.29]. Vgl. Anm.28. II/3,1067. Ebd. Jean Paul, Exzerpte [Anm.23], Fasz.IIc, Bd.47 (1822–1825), Nr.249.

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Selbst in den Vorüberlegungen zu diesem ungeschriebenen Text des »Papierdrachen« bzw. der Apotheker-»Wochenschrift« spielen die Exzerpte eine wichtige Rolle: »Durch die Wochenschrift steht mir das ganze Reich der neueren Literatur und meiner – Exzerpten und Einfälle und Merkworte offen.«67 Auf seiner Suche nach einer neuen Publikationsform, in der alles verschmelzen soll,68 in das »alles hineingeschrieben werden muß, damit nur einmal ein Ende wird mit mir und von mir«,69 will der Autor auch seine Exzerpte zur Anwendung zu bringen: »In diesem Werk allein kann ich meine Exzerpten benützen, was doch e n d l i c h e i n m a l sein muß.«70 – Durchaus denkbar, daß an diesem »Benützen« gar auch noch die Leser selbst mitwirken sollten, wie es schon ein Gedanke aus dem Jahr 1806 erwägt: »NB Ich könnte aus meinen Exzerpten Exzerpte geben und nachsetzen: ›eben so ist – aber jeder soll das Recht haben sich aus diesem Faktum ein Gleichnis, ja mehrere zu machen.‹«71 Wie nicht anders zu erwarten, haben also auch die Exzerpte ihren Platz in Jean Pauls schriftstellerischer Entgrenzungs-Utopie der totalen Lebens-Erschreibung72 und -Verschriftlichung: »Um meine Lebensgeschichte zu haben, brauch ich bloß die Bände der Exzerpte vor mir aufzuschlagen: an jedem extrahierten Buch hängt ein glimmendes Stük meiner Geschichte.«73 Jenen »Papierdrachen« darf man sich wohl als eine letzte, endgültige große (Un-)Ordnung vorstellen, oder besser als etwas wirklich Außerordentliches, dessen romantische Unendlichkeit dadurch gewahrt wird, daß es Plan und Fragment blieb.

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70 71 72 73

Jean Paul, Studienheft zu Der Apotheker, eine Wochenschrift. SW II/6,523. Vgl. Helmut Pfotenhauer, Das Leben schreiben – Das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit, in: JJPG 35/36 (2000/2001), S.46–58, sowie das Nachwort zu Jean Paul, Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Hrsg. von Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. München/Wien 2004, S.462–489. Jean Paul, Ausschweife für künftige Fortsetzungen, II/3,1067. – Selbstredend ist auch in diesem letzten von Jean Paul zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsatz noch auf der letzten Seite eine Exzerptverarbeitung zu registrieren, denn die »festen Fixsterne«, die dem menschlichen Auge zu laufen scheinen, sind eines der LieblingsExzerpierthemen Jean Pauls, mit dem er sich noch im vorletzten Band der Reihe II beschäftigt, wo in Exzerpt Nr.597 von den »Fixsternen, die sich um einander bewegen« (Jean Paul, Exzerpte [Anm.23], Fasz.IIc, Bd.48 [1820–1822]) die Rede ist. Jean Paul, Studienheft zum Komet. SW II/6,532. Jean Paul, Gedanken. SW II/8,441f. Vgl. Anm.68. Jean Paul, Dichtungen. SW II/6,35

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1780 1781 1782

Ia2 286 Ia4 202 Ib7 232 Ib12 151

Ia5 Reg Ibdiv 194 42 23 Ib8 Ib9 Ib10 250 230 176 Ib13 Ib14 Ib15 216 60 12

1785

1788 1789 1790 1791

IIa5 62 IIa7 74

V BVA1 102

IIa2 120 IIa6 94 IIa8 102

IIa3 124

IIa9 146

IIa11 IIa12 80 78 IIa14 IIb15 84 368 IIb17 IIb18 78 76 IIb20 IIb21 46 54

IIb23 82

IVa2 42 IVa4 62 IVa7 34

V BVA3 54 IVa3 66 IVa5 61

IVa6 50

IVa8 66 IVbGeo1 74

IVa9 62

V Nat2 46

1796 1797 1798 1799 1800 1801 1802 1803

IVa10 66 IIb25 46

1795 IIb26 46

IIb27 IIb28 50 62 IIb29 IIb30 54 46 IIc31 68 IIc32 56 IIc33 64 IIc34 IIc35 32 62 IIc36 IIc37 84 118

V BVA5 30

V Nat1 58

1793 IIb24 54

V BVA2 52

IIa4 92

IVa1 64 IIa10 146 IIa13 78 IIb16 78 IIb19 92 IIb22 80

1792

1794

Fasz. V Reihe VI: BVA

IIa1 154

1786 1787

Fasz. V Reihe V: Natur

IV-div 24 IVb-bel IVb-frz 196 138

1783 1784

Fasz. IVb Reihe IV: Geogr.

Fasz. VI

1779

Ia1 232 Ia3 140 Ia6 186 Ib11 218

Fasz. IVa Reihe III: Gemeine Exz.

"Exzerpten-Exzerpten", Bde. 1-5: 836 S.

1778

Fasz. IIa-IIc Reihe II: Geschichte

IIIa/b Register

Jahr

Fasz. Ia + Ib Reihe I: Frühe Exzerpte

Registerbände: 1950 S. späteste registrierte Bände: 2c35 und IVa17

Michael Will

IVa11 30 IVa12 38

V Nat3 38

IVa13 62 IVa14 48

IVa15 46

V Nat4 53

V BVA4 54

V BVA6 30

V BVA7 43

IVbGeo2 48 IVa16 54

IVa17 54 IVa18 54

IVbGeo3 88

V Nat5 69

Abb.1: Jean Pauls Exzerpte 1778-1803. Tabellarische Übersicht. Fortsetzung siehe Abb.2.

95

Fasz. IIa-IIc Reihe II: Geschichte

1804 1805

Fasz. IVa Reihe III: Gemeine Exz.

Fasz. IVb Reihe IV: Geogr.

IVa19 IVa18 80 54

IVbGeo3 88

IVa20 78

IVbGeo4 126

IIc38 120

1807 1808

V Nat5 69

IIc39 98

1806

IIc40 92

Fasz. V Reihe V: Natur

Fasz. V Reihe VI: BVA

Fasz. VI

Fasz. Ia + Ib Reihe I: Frühe Exzerpte

IIIa/b Register

Jahr

Jean Pauls (Un-)Ordnung der Dinge

V BVA7 43

V Nat6 95

1809

1811

IVa21 112

IIc42 74 IIc43 102

1812 1813 1814

IIc44 120

IVa22 100 IIc45 88

1815

IVbGeo5 64

1816 1817

IIc46 80 IIc47 47

1818

IVbGeo6 80

IVa23 132

1819 1820

IIc48 104

1821 1822 1823 1824

IIc49 49 IVa24 32

IVbGeo7 56

1825

Abb.2: Jean Pauls Exzerpte 1804-1825. Tabellarische Übersicht. 1.Teil siehe Abb.1.

"Exzerpten-Exzerpten", Bde. 1-5: 836 S.

IIc41 128

1810

MONIKA MEIER

»HEUREUSEMENT« – CHRISTIAN OTTO ALS »PUBLIKUM«, »LESER« UND »REZENSENT« JEAN PAULS

Jean Paul, Erzählerfigur im Roman Die unsichtbare Loge, mit dem der Autor Jean Paul Anfang der 1790er Jahre erstmals ein größeres Lesepublikum gewinnt, ist krank: [...] ich konnte vor Mangel an Athem kein Protokoll mehr diktiren und die Szenen dieser Biographie durft’ ich mir nicht einmal mehr denken: als ich an einem rothglühenden Winterabend durch den rothgeschminkten Schnee draussen herumschritt und in diesem Schnee das Wort HEUREUSEMENT antraf. Ich werde an dieses Wort der Schnee-Wachstafel immer denken: es war mit einem Bambusrohr lapidarisch schön hineingezeichnet. »Fenk!« rief ich mechanisch. »Weit kannst du nicht weg seyn,« dacht’ ich: denn da jeder Europäer [...] den Schnitt seiner Feder an einem eignen Worte prüfet und da der Doktor schon ganze Bogen mit dem Probierlaut HEUREUSEMENT als ersten Abdrucke seiner Feder vollgemacht; so wußt’ ich gleich wie es war.1

Der Schriftzug führt auf die Person, den Arzt Fenk, dem es gelingt, die Romanfigur Jean Paul von deren Hypochondrie zu heilen, so daß sie die zunächst stockende, dann unterbrochene Weiterarbeit an ihrer »Biographie«, eben der Unsichtbaren Loge, wiederaufnehmen kann. An dieser Stelle möchte ich nun weder die Heilungsgeschichte skizzieren noch deren poetologischen Implikationen nachgehen.2 Vielmehr möchte ich das Bild ›glücklicherweise gibt es einen anderen, ein Gegenüber‹ heuristisch für die Briefpartner Jean Pauls, für seine Freundinnen und Freunde in Anspruch nehmen, und dies im Hinblick auf den Autor und dessen Texte. Das persönliche Umfeld Jean Pauls, auch: das persönliche Umfeld, das er sich schuf, indem er Freunde und Freundinnen sowohl mit sich selbst als auch miteinander in Verbindung und Briefwechsel brachte, hat zahlreiche ––––––– 1

2

Jean Paul, Die unsichtbare Loge. Eine Biographie. Berlin 1793, Bd.2, S.261–262, vgl. Jean Paul, Die unsichtbare Loge. Eine Biographie, hrsg. von Klaus Pauler. München 1981, S.403 und SW I/2,354–355 bzw. I/1,368 in der Ausgabe Norbert Millers. Zur Autorschaftsfiktion der Unsichtbaren Loge vgl. auch Franziska Frei Gerlach, Schriftgeschwister. Die Rückversicherung des Fragments in Jean Pauls ›Unsichtbarer Loge‹, in: JJPG 39 (2004), S.83–111.

98

Monika Meier

Spuren in seinem Werk hinterlassen – wie umgekehrt sein Schreiben die persönlichen Beziehungen wesentlich prägte. Die offensichtlichen Verbindungen der Literatur zum Leben sind schon in der älteren Jean-PaulForschung beachtet worden, in jüngeren Beiträgen wurden verschiedene Modelle vorgestellt, die über die Rückbindung literarischer Momente an die Biographie hinaus auf die spezifischen kommunikativen Strategien der literarischen Texte und der Briefe sowie auf das Erscheinungsbild des Autors im Kreis von Bekannten, Familie, Freunden und Freundinnen, auf Gelingen und Grenzen der brieflichen und persönlichen Kommunikation eingehen.3 Ob Charlotte von Kalb, auch in Briefen als »Titanide« bezeichnet und der »Klasse der poetischen Genies« zugerechnet,4 mit einzelnen Zügen ihrer Person und Zitaten aus ihren Schreiben an Jean Paul im Titan wiederzuerkennen ist oder ob die Humoristen der Werke mit Johann Bernhard Hermann und Paul Emile Thieriot in Verbindung gebracht werden, die Frage nach der Textgenese führt auch auf den Dialog des Autors mit Freunden und Bekannten. Der Part, den die einzelnen im Austausch mit Jean Paul übernehmen, ist, jedenfalls bei den näheren Freundschaften, neben allgemeinen oder typischen durch besondere, individuelle Merkmale ausgezeichnet. Von großer Bedeutung, vor allem für das frühe erzählende Werk, das in den Jahren 1790 bis 1797 entstand, ist die Freundschaft mit Christian Otto,5 ––––––– 3

4

5

Vgl. besonders die Beiträge von Dorothea Böck, Peter Sprengel und Thomas Wirtz: D.B., Etwas über kaum bekannte Briefe oder: wie Caroline Richter gegen ihre Poetisierung aufbegehrte, in: JJPG 26/27 (1991/92), S.258–276; Dies., »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (Novalis). Zwischen realer und imaginärer Geselligkeit – Jean Pauls Epistel-Salon, in: JJPG 37 (2002), S.146–175; P.S., Interferenzen von Literatur und Leben: Jean Pauls Freund Paul Emil Thieriot und die ›Flegeljahre‹, in: JJPG 26/27 (1991/92), S.132–168; T.W., Schreibversuche. Jean Pauls Briefe bis 1805, in: JJPG 31 (1996), S.23–37; Ders., Liebe und Verstehen. Jean Paul im Briefwechsel mit Charlotte von Kalb und Esther Gad, in: DVjs 72 (1998), S.177–200; weiterhin Barbara Hahn, »Geliebtester Schriftsteller«. Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul, in: JJPG 25 (1990), S.7–42 und Ursula Naumann, Urania in Ketten. Jean Pauls »Titaniden«, Mit einem Anhang: Fünf Briefe der Charlotte von Kalb, in JJPG 15 (1980), S.82–130. Vgl. SW III/2,344, III/3,139, Briefe an Friedrich von Oertel vom 21.6.1797 und an Christian Otto vom 12.–30.12.1798, u.ö. Georg Christian Otto (1763–1828), wie Jean Paul Sohn eines Pfarrers, aber einer wohlhabenderen Familie entstammend, hatte mit diesem zusammen das Gymnasium in Hof und die Leipziger Universität besucht und dort und an der AnsbachBayreuthischen Universität Erlangen Rechtswissenschaften studiert. Bis 1800 arbeitete er in der Hofer Kanzlei seines älteren Bruders mit, danach lebte er, unterbrochen von einigen Jahren im Dienst der preußischen Armee und einer kurzen Zeit im bayerischen Staatsdienst als »Privatgelehrter« in Bayreuth. Zu seinen Publikationen auf den Gebieten der Geschichte, Zeitgeschichte, Wirtschafts- und Finanzpolitik vgl. auch die biographische Einführung zu den Briefen Ottos an Jean

Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls

99

dem ersten Leser zahlreicher Manuskripte, dessen Ratschläge für die Überarbeitung vor der Veröffentlichung vielfach berücksichtigt wurden. Jean Paul hat Otto im Juli 1790 in diese Rolle gebeten: Ich wil dich zum Rezensenten machen: weiter steht nichts im Brief [...] Ich bitte dich nämlich, 1) mein Publikum und mein Leser zu werden, damit ich einen Reiz zum Machen habe. 2) Mein Rezensent auch zu werden. Du köntest ia mit 2, 3 Worten das Schlimste und das Beste anzeichnen, weil man, ohne alle äussere Winke und Meilenzeiger, sich warlich am Ende in eine so fehlerhafte Originalität hineinarbeiten könte, daß es Got erbarmen möchte, aber nicht die Rezensenten.6

Auch anderen Freunden hatte und hat Jean Paul seine Manuskripte zur kritischen Lektüre gegeben, auch von anderen sind entsprechende Antworten überliefert.7 Ihres Umfanges und ihrer Bedeutung wegen verdienen die »Rezensionen« Christian Ottos besondere Beachtung. »Er ist mein ästhetisches Zensurdepartement«,8 beschrieb Jean Paul 1796 in einem Brief an Friedrich von Oertel die erfolgreiche Arbeitsbeziehung, die die Entstehung der großen –––––––

6 7

8

Paul, SW IV/1,482–484, sowie einzelne Titel über das Potsdamer Jean-Paul-Register, http://jean-paul.bbaw.de. In den ersten Jahren von Ottos kritischen Lektüren erhält umgekehrt auch Jean Paul regelmäßig Aufsätze seines Freundes zur Durchsicht, vgl. beispielhaft dessen Briefe zu Ottos Aufsätzen über die »Geschichte des Europäischen Gleichgewichts« und den »Parallelismus der Kreuzzüge, der Reformazion und der Revoluzion« vom 1.6. und 12.12.1791, 11.3.1792, März und Juni 1793 und 24. und 26.2.1795, vgl. SW III/1, Nr.376, 382, 384, 418, 421 und 431 sowie SW III/2, Nr.67 und 68; vgl. auch Ottos Brief vom 5.12.1791, SW IV/1, Nr.130 und Erläuterungen. SW III/1,298–299, Brief vom 15.–18.7.1790. So z.B. die kurze Replik Friedrich Wernleins zu Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei, die Jean Paul mit den Worten übersandt hatte »Der erste Entwurf fuhr mir mit Grausen vor der Seele vorbei und bebend schrieb ichs nieder ... Ich wolte, es zöge eine Rezensentenseele in Sie etc. und [daß Sie] durch ihre Kritik mein Geschreibe ausbrenten ...«, vgl. SW III/1,298, Brief Jean Pauls vom 5.7.1790, SW IV/1,208, Brief Wernleins vom 28.7.1790, und SW II/3,163–166 sowie ebd., S.399 und S.412–413. In dem Brief, mit dem Jean Paul Otto bittet, seine literarischen Texte zu beurteilen, heißt es »Dem Pfarrer in Schwarzenbach [d.i. Johann Samuel Völkel] oder Wernlein mach’ ichs mit dem Ernsthaften so« (SW III/1,299), und auch von diesen wie schon früher von Erhard Friedrich Vogel oder Adam Lorenz von Oerthel sind kritische Anmerkungen überliefert, sowohl in ihren Briefen als auch in Notizen zum oder im Manuskript. Letztere wurden von Eduard Berend in den Nachlaß-Bänden der Sämtlichen Werke mit ediert, so z.B. Vogels Notizen zum Lob der Dumheit, SW II/1,404–405 und S.408–410, oder die Einlassungen Völkels und Wernleins zu Es giebt keine eigennüzige Liebe, sondern nur eigennüzige Handlungen, SW II/3,234– 237 und S.243–247; wichtige Argumente, auch aus den damals noch unveröffentlichten Briefen an Jean Paul, sind in den Einleitungen der Ersten und Zweiten Abteilung berücksichtigt. SW III/2,143, Brief vom 9.1.1796.

100

Monika Meier

Romane Die unsichtbare Loge (1793), Hesperus (1795) oder Siebenkäs (1796– 97) ebenso begleitete wie die der kleineren Werke Leben des Quintus Fixlein (1796), Biographische Belustigungen (1796), Die Vernichtung. Eine Vision (1796), Der Jubelsenior (1797) oder Das Kampaner Thal [...] nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus (1797).9 Mit dem Umzug Jean Pauls von Hof nach Leipzig im Herbst 1797 änderte sich der Charakter von Ottos Lektorat, und dies nicht nur, weil er nicht mehr alle Texte des Autors vor der letzten Durchsicht für den Druck zu lesen bekam – erst für den Titan (1800–1803) bat Jean Paul ihn wieder vor Abschluß des Manuskripts um seine Meinung.10 Ottos Stellungnahmen zu den ersten acht »Jobelperioden« des Romans lassen neben Spuren persönlichen Verletztseins eine Strenge gegen bestimmte Stilmittel des Komischen und die in den Vordergrund drängenden Gebärden des Jean Paulschen Erzählers erkennen, die auf divergierende Maßstäbe der ästhetischen Kritik bei den beiden Freunden verweist.11 Zu den folgenden Bänden des Titan hat Jean Paul den ––––––– 9

10

11

Die Vernichtung, später in die Werkchen zu D. Katzenbergers Badereise (1809) aufgenommen, erschien erstmals in Wilhelm Gottlieb Beckers Vierteljahresschrift Erholungen (1796, 2. Bändchen, S.23–41). Leben des Quintus Fixlein kam, mit abweichender Angabe auf dem Titelblatt, bereits 1795 heraus, alle drei Bände des Siebenkäs 1796. Die Konjektural-Biographie, in der Otto mit seinem Namen, wie schon früher etwa im Schulmeisterlein Maria Wuz oder am Schluß des Hesperus, als Adressat des Erzählers fungiert (vgl. auch SW IV/1,482), erhielt der nun eingeschränkt rezensierende Freund auf dem Weg zum Verleger; von Jean Pauls Vollmacht, ihn Betreffendes oder eine Wiederholung gegebenenfalls zu streichen, hat er keinen Gebrauch gemacht (vgl. SW III/3,152, Brief an Otto vom 27.1.–8.2.1799, und SW IV/3.1,252 und S.254–255, Brief vom 19.–24.2.1799). In seiner brieflichen Antwort nimmt er die »Freude«, die ihm das Manuskript bereitet habe, zum Anlaß, auf die schon zuvor erwähnte eigene Autorschaft zurückzukommen (SW IV/3.1,254). Vgl. SW IV/3.1,303–308 und S.343–347, Briefe vom 21.4. und 18.–19.6.1799, sowie den folgenden Briefwechsel Jean Pauls und Ottos vom Sommer 1799. Eine unterschiedliche Tendenz in den ästhetischen Auffassungen deutet sich schon in früheren Briefen Ottos an, vgl. Sabine Eickenrodt, Besprechung von Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und herausgegeben von Eduard Berend. Vierte Abteilung: Briefe an Jean Paul, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller. Bd.1: Briefe an Jean Paul 1781– 1793, hrsg. von Monika Meier. Berlin 2003. Bd.2: Briefe an Jean Paul 1794–1797, hrsg. von Dorothea Böck und Jörg Paulus. Berlin 2004 (= SW IV/1 und IV/2), in: JJPG 40 (2005), S.187–199, hier S.196–197; der z.T. unwillig wirkende Ton in den Briefen Ottos vom Sommer 1799 scheint auch durch Jean Pauls Äußerungen über die gemeinsame Freundin Amöne Herold, die spätere Ehefrau Ottos, veranlaßt zu sein. Die die Familie Herold betreffenden Passagen von Ottos Briefen sind in Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto. Bd.3: Von 1799– 1800. Berlin 1829 (Reprint: Berlin und New York 1978) oft nicht gedruckt, die

Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls

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Rat Ottos nicht vorab eingeholt, er hat Otto aber weiterhin auch Manuskripte zu lesen gegeben,12 besonders seit dem Herbst 1804, als er, wie Otto wenige Jahre zuvor, nach Bayreuth gezogen war.13 Zwar sind aus den späteren Jahren bis 1825 kaum Briefe Ottos erhalten,14 aus den überlieferten Teilen der Korrespondenz ist jedoch zu schließen, daß Ottos Lektüren aus dieser Zeit nicht annähernd dieselbe Bedeutung zukommt, wie denen von Anfang und Mitte der neunziger Jahre, als Jean Paul nach der Abwendung vom primär satirischen Schreiben das Lesepublikum fand, um das er sich als Anonymus, »J.«, »R.«, »H.« oder »J. P. F. Hasus« vergeblich bemüht hatte, und er im Frühsommer 1796 als gefeierter Autor von Hesperus, oder 45 Hundsposttage, Leben des Quintus Fixlein und Siebenkäs in Weimar einziehen konnte. ––––––– 12

13

14

Briefe werden in SW IV/3.1 und 3.2, Briefe an Jean Paul 1797–1800, hrsg. von Angela Goldack, erstmals vollständig veröffentlicht. So im November 1799 den ersten Band des Komischen Anhangs zum Titan (vgl. SW III/3,247, Brief an Otto vom 2.–7.11.1799, und dessen in Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto [Anm.11] ungedruckte »Rezension« in seinem Brief vom 16.–19.12.1799, der in SW IV/3.2 erstmals vollständig veröffentlicht wird); im Herbst 1803 erhielt Otto, wahrscheinlich bei dem persönlichen Zusammentreffen mit Jean Paul in Coburg Anfang September, einen Teil der Flegeljahre (vgl. seine äußerst knappe, allerdings nur im Druck überlieferte, möglicherweise unvollständig und unzuverlässig wiedergegebene, vermutlich etwas früher zu datierende Stellungnahme vom 27.10.1803, Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto. Bd.4. Berlin 1833, S.149). Otto wird nun um die Durchsicht von Aufsätzen, etwa für das Cottasche Morgenblatt für gebildete Stände, gebeten (vgl. z.B. SW III/6,246, Brief von Ende Januar 1812, oder ebd., S.283–284, Brief vom 10.(?)7.1812), um das »Durchlaufen« des Manuskripts für die zweite Auflage der Vorschule der Aesthetik (vgl. SW III/6,290–291, Brief vom 10.9.1812, sowie den Dank Jean Pauls für Ottos Hilfe, SW III/6,291, Mitte September 1812), auch um »Winke« zum »Anti-Titan« (d.i. Der Komet, vgl. SW III/6,234, Brief vom November 1811[?]). Für die zweite Auflage des Siebenkäs haben sich bislang unveröffentlichte Überarbeitungshinweise Ottos zum 9. Kapitel erhalten (Januar 1818 zu datieren, vgl. SW III/7,466–467, Publikation in SW IV/7). Mitte April 1820 schickte Jean Paul seinem Freund die Vorrede zum Kometen (vgl. SW III/8,20–21). Für die letzten Korrekturen am Manuskript dieses Romans nahm er dann aber offenbar nicht dessen Hilfe, sondern die von Heinrich Voß (1779–1822) in Heidelberg in Anspruch, der dort 1817/18 schon die Herstellung der zweiten Auflage des Siebenkäs betreut und den Jean Paul am 31.7.1818 zum »unumschränkten Ordner, Chorizonten und Herausgeber meines ganzen literarischen Schreibnachlasses [...] feierlich ernannt« hatte – »Warum ich keinen nähern Freund wähle, darüber frage in deiner Antwort nicht« (SW III/7,223, vgl. auch SW III/8,25–27, S.61–64 und S.66–67, Briefe an Voß vom 4.–5.5. und 26. und 30.8.1820). Davon sind die meisten nur im Druck überliefert (vgl. Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto. Bd.4 [Anm.12]), darüber hinaus sehr wenige handschriftlich.

102

Monika Meier

Zu den Voraussetzungen der besonders in den Jahren 1790 bis 1797 so erfolgreichen Arbeitsbeziehung mit Christian Otto gehörten das unbedingte Engagement des Freundes, mit dem dieser fast immer auch engen Zeitvorgaben Jean Pauls entgegenkam, und ein hohes Maß an innerer Übereinstimmung, in persönlichen wie in ästhetischen und politischen Fragen, oder, wie Jean Paul es im Juli 1794, nach Erhalt von Ottos zweiter »Rezension« des Hesperus, nunmehr zum vollständigen Manuskript des Romans, ausdrückt: Ich weis recht gut, welchen heimlichen Antheil an deiner Kritik nicht nur deine Freundschaft sondern auch die ähnliche Gesinnung nimt, die du mit mir über unser Stängelgen der Erde und über den ganzen Bauer des Universums hast und die es auch machte, daß Moriz mich zu gelinde beurtheilte [...] Dieser dein Gesichtspunkt, die Welt anzuschauen – die wirkliche, die historische und die poetische – und dein Enthusiasmus durfte mir ja wol vor Freude die Augen nasmachen.15

Otto hatte den Hesperus überschwenglich gelobt und den großen literarischen Erfolg des Romans vorausgesagt. Zugleich hatte er, anknüpfend an seine erste Besprechung des noch unvollständigen Manuskripts im Sommer zuvor, wiederum eine Reihe von Kritikpunkten angeführt, die von Jean Paul wie die früheren zum großen Teil berücksichtigt wurden. Einzelne Szenen wurden verschoben oder ganz aus dem Roman ausgegliedert – letzteres betrifft etwa die Schilderung des ›Rattenprozesses in Autun‹, die unter den wenigen erhaltenen Entwurfsblättern zum Hesperus im Nachlaß Jean Pauls überliefert ist16 – und einige Figuren des Romans wurden anders eingeführt, so Emanuel und der Apotheker Zeusel.17 [...] der Anfang deines Buches hat oder erregt eine Art von Aengstlichkeit, Gesuchtheit u ohngeachtet er in einer ungesuchten Verbindung fortgehen soll, gelingt es ihm nicht, das Ansehen einer gewißen unangenehmen Lokkerheit zu verbergen,18

––––––– 15

16

17

18

SW III/2,15–16, Brief vom 22.7.1794; zu Moritz vgl. SW IV/1, dessen Briefe an Jean Paul, und die seines Bruders Johann Christian Conrad, SW IV/2. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB), Nachlaß Jean Paul, Fasz.XVII/32, Bl.94–97; dabei handelt es sich um zwei Fassungen der Szene, vgl. SW IV/1,697–698, Erläuterung zu S.279,25–27. Ein weiteres Beispiel für eine auf Ottos Rat hin ausgegliederte und im Nachlaß überlieferte Szenenfolge ist das »Umreiten« oder »Wurstreiten« und »Perückensturm« aus der Unsichtbaren Loge, vgl. SW IV/1,253 und S.255–256 und Erläuterungen, Briefe Ottos vom 7. und 22.3.1792, SW I/19,384–388 und Pauler [Anm.1], S.187–190. Auf Ottos Rat hin verschoben wurde z.B. die Schilderung des Le Bautschen Naturalienkabinetts im Hesperus, vgl. SW IV/2,11 und Erläuterung, Brief vom 8.7.1794. Zu Zeusel vgl. SW IV/1,278–279 und Erläuterungen, zu Emanuel SW IV/1,279– 280 und Erläuterung, Brief Ottos vom 25.8.1793. SW IV/1,276.

Christian Otto als »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« Jean Pauls

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so Otto im August 1793 in seinen kritischen Anmerkungen zu den ersten fünf »Hundsposttagen«. Die Abfolge der Episoden, von »Wiz, Laune u Empfindsamkeit« schien ihm hier, anders als in den späteren Kapiteln, teilweise zu konstruiert zu wirken und das Lesen zu erschweren.19 Im Mai 1794 hatte er den überarbeiteten ersten Teil des Romans erhalten, zur Neufassung der ersten Romankapitel schrieb Jean Paul damals: Den Apotheker hab’ ich aus dem ersten Kapitel herausgetrieben; aber die Razen kont’ ich und der Kaplan nicht wegbringen. Auch verschwinden sie jezt mehr in die Gruppe [...] Übrigens ist troz meiner Bemühung noch immer etwas Kleinliches in den fünf ersten Kapiteln, das ich aber lieber ertragen wil als die Zeichnungen der Karaktere stören. Aenderungen der Inizialzüge derselben sind mislich, weil ich jezt mich nicht mehr in die ersten Kapitel denken kan, sondern den Karakter immer vorausseze.20

Der Briefwechsel zwischen Otto und Jean Paul erlaubt hier wie bei den meisten anderen brieflichen »Rezensionen« des Freundes Rückschlüsse auf größtenteils verlorengegangene frühe Fassungen späterer Werke. Sowohl Streichungen und Umstellungen von Textpassagen werden anhand der Kapitelund Seitenangaben Ottos nachvollziehbar21 als auch Veränderungen in der Figurenzeichnung und einzelner Formulierungen. Darüber hinaus lassen sich einige der erhaltenen Entwurfsblätter genauer datieren bzw. einer bestimmten Fassung zuordnen.22 An der ersten Fassung des Schulmeisterleins Maria Wuz von 1791 kritisierte Otto unter anderem: Der Anfang der Lebensbeschreibung des Schulmeisterleins u des ganzen Aufsazzes hat den Fehler aller Anfänge, daß er mir etwas zu gesucht und nicht gleich verständlich vorkomt bis auf die Worte EXCLUS: Wie war dein Leben ETC. Vielleicht würde er schon besser wenn du den langen Perioden zertheiltest.23

Nach einem erhaltenen Entwurfsblatt, das wahrscheinlich dieser Fassung zuzuordnen ist, lautete der Anfang damals:

––––––– 19 20 21

22

23

SW IV/1,277 und S.280. SW III/2,10, Brief vom 19.5.1794. Z.B. das Verschieben der Schilderung von Viktors Leben in der Kaplansfamilie in den Episoden »Kartoffelnstecken« und »Hamsterfabel« vom ersten in den dritten Band des Romans, vgl. SW IV/2,10 (»Nachholung im Th. III p. 457–62«), SW IV/1,698, Erläuterung zu S.279,27–29, und SW I/4,270–272. Z.B. die Schilderung der Vorbereitungen zu einer Hinrichtung in einem adeligen Dorf unter den Entwürfen zu Des Rektors Florian Fälbel’s und s. Primaner Reise, Fasz.XVII/18, Bl.4r–5r, vgl. SW IV/1,629–630, Erläuterung zu 224,14–17. SW IV/1,230, Brief vom 26.2.1791 zum ersten Teil der Erzählung.

104

Monika Meier

Wenn Könige u. Vicekönige u. Landkommenthure u. selbst ich, weil wir alle auf der Peripherie des Rades der Fortuna sizen, so wie Aequatorbewohner die grösten u. stürmischsten Kreise auf diesem wirbelnden Rade beschreiben; wenn ieder Ruk desselben ein durchrolter Bogen der Erdbahn ist, in dem wir Stürmen entgegenfahren: so liegt ein Schulmeisterlein wie ein Polbewohner fast am Zentrum des Rades u. regt, wand- u. nagelfest, sich wenig oder nicht. Wie war dein Leben so sanft u. meerstille, du vergnügtes Schulmeister[lein Wuz]24

Mit dem von Otto bezeichneten Satz – »Wie war dein Leben ETC.« – setzt die Erzählung später ein. »P. 5. scheint mir gröste Stylisten u Ausflüge, am besten zu sein u anzudeuten zu wenig und verkündigen zu viel zu sagen; vielleicht ist ankündigen besser«25 – sowohl in seinen Briefen26 als auch durch Kennzeichnungen in den Manuskripten Jean Pauls gab Otto seinen Rat zur sprachlichen Gestaltung, nicht ausschließlich, aber besonders an den Stellen, für die Jean Paul ein oder zwei alternative Formulierungen notiert hatte. Hierzu einige Beispiele, zunächst aus einer Szene zu Des Rektors Florian Fälbel’s und seiner Primaner Reise, die, ebenfalls infolge einer brieflichen Anmerkung Ottos zur Erzählweise des »Sargkrieges«, aus der Erzählung ausgegliedert wurde und im Nachlaß Jean Pauls überliefert ist.27 Otto hat einzelne Worte mit Bleistiftunterstreichungen markiert, offenbar die, die ihm weniger gelungen oder passend zu sein schienen, wie das Teilwort »Zwiebel« im »Todten-Zwiebelkasten« der Handschrift.28 »Ich habe einiges unterstri––––––– 24

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H: Sammlung Apelt, zit. nach SW I/2, Abb. vor S.409. Betitelt ist diese ansonsten, soweit bekannt, nicht überlieferte Fassung »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Bittelbron« (aus Sausenhofen). SW IV/1,225, Brief vom 5.–7.2.1791. Teilweise auf diesen beigelegten Blättern, so zum ersten Band des Komischen Anhangs zum Titan, vgl. Anm.12. Beiliegende, in diesem Fall die briefliche »Rezension« ergänzende »Zettel« gab es jedenfalls auch zum ersten Band des Titan, vgl. SW IV/3.1,344 und S.347, Brief vom 18.–19.6.1799, diese sind jedoch nicht überliefert, wie überhaupt entsprechende Blätter mit einer Reihe von Veränderungsvorschlägen zu einzelnen Stellen in den Manuskripten Jean Pauls mehrfach nicht erhalten sind. Soweit entsprechende Abschnitte handschriftlich vorliegen, wurden diese Stellen bei der Veröffentlichung in Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto (Bd.1–4. Berlin 1829–1833, Reprint wie Anm.11) in der Regel ausgespart. Zur Überlieferungssituation der Briefe von Christian Otto an Jean Paul vgl. auch SW IV/1,482. H: Fasz.XVII/18, Bl.7r–8v; vgl. SW IV/1,223–224 und Erläuterung, Brief Ottos vom 5.–7.2.1791. In der Szene wird eine Auseinandersetzung zwischen Zedtwitzer Bauern und Hofer Schreinern um die Herstellung eines Sarges unter Umgehung der Hofer Schreinerinnung geschildert. Fasz.XVII/18, Bl.7v unten. In SW IV/1,646, Erläuterung zu S.236,36–37 müßte es heißen »weniger bevorzugte Variante«.

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chen, worüber ich nichts besonders zu sagen brauche«,29 heißt es dazu in seinem Begleitbrief.

Abb.1: Jean Paul, Entwurf zu Des Rektors Florian Fälbel’s und seiner Primaner Reise. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XVII/18, Bl.8r.

Dieser Bedeutung der Unterstreichungen zufolge wird hier »wäre« »stände« vorgezogen und »treiben« »rammen« und »spünden«, »u. die Seelige wäre nicht hinein zu treiben«, lautete die von Otto vorgeschlagene Variante.

Abb.2: Jean Paul, Entwurf zu Des Rektors Florian Fälbel’s und seiner Primaner Reise. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XVII/18, Bl.7v.

»und mit einem leeren Sarg der Kronwache und den Inhabern des vollen entgegenreisten«, wäre das Ergebnis der ersten aufgehobenen und zweiten gültigen Unterstreichung an dieser Stelle. Hier hast du den Fixlein mit 2 oder 3 neuen Blatknospen. Deine unterstrichene[n] Wörter in ausgestrichene zu verwandeln war noch keine Zeit da gewesen. Die neuen Blätter hab’ ich durch Eselsohren zu bezeichnen gesucht;30

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SW IV/1,224. Ottos folgender Satz »Nur P. 2. e b e n s o h o b e l t . gefällt mir auf dem ersten einzelnen Blatt beßer« bezieht sich auf eine frühere Fassung des Anfangs von Fälbel’s Reise, die Jean Paul dem Manuskript mit den Worten »So hab’ ichs vor 1 Jahr angefangen« beigelegt hatte (vgl. SW IV/1,630, Erläuterung zu S.224,20–21), auf diese Weise während der Ausarbeitung des Textes weitere Varianten verfügbar haltend. Einen Hinweis auf seine Bleistiftanmerkungen im Manuskript gibt Otto auch im Brief vom 23.(?) März 1791, mit dem er die vollständige erste Fassung des Schulmeisterleins Maria Wuz an Jean Paul zurücksendet: »Zum Glük fand ich (einzelne Wörter, die ich mit Bleistift anmerkte, ausgenommen) nirgends etwas [...]« (SW IV/1,235, vgl. ebd., S.645).

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beschreibt Jean Paul seine Weiterarbeit an der Fixlein-Erzählung, die er zunächst ein zweites Mal an Otto gibt. Sei so gut und wähle das A u s - stat des U n t e r -Streichens, da ich oft beim lezten Lesen übersehe31,

so und ähnlich wird Otto von Jean Paul um eine eingreifendere Korrektur in den Texten gebeten. Auch für ein solches Ausstreichen lassen sich in überlieferten Manuskripten Beispiele finden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Otto zuzuschreiben sind, hier eines aus den Satirischen Übungen von Ende 1790, die Otto »Im Schwarzenbacher Nest den 2 Okt. 1790« gewidmet waren.32

Abb.3: Jean Paul, Satirische Übungen, 2. Mein Leichensermon beim Grabe eines Betlers. 8 Okt. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XIIIb/31, Bl.12.

ten

Über dem durch Unterstreichung als problematisch markierten Wort »Ehegatte« ist die durch Ausstreichung hervorgehobene eindeutige Präferenz für »unbewegliche« an Stelle von »ruhende Lippe« zu sehen, in der späteren Veröffentlichung des Textes im »Satirischen Appendix« der Biographischen Belustigungen wählte Jean Paul die Formulierung »unbewegliche Lippe« und vermied den Vergleich mit den »Ehegatten«.33 ––––––– 30

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SW III/2,66, Brief vom 31.3.1795; das überarbeitete und ergänzte Manuskript ist nicht überliefert (eine mögliche Zugehörigkeit der von Eduard Berend erwähnten zwei erhaltenen Blätter mit ausgearbeitetem Text wäre zu prüfen, vgl. SW I/5,XI). SW III/2,113, Brief vom 5.10.1795, anläßlich von Ottos kritischer Lektüre der ersten drei Kapitel des Siebenkäs, das entsprechende Manuskript ist nicht überliefert (möglicherweise einzelne Blätter im Nachlaß Jean Pauls); ähnlich SW III/2,10–11, Brief vom 19.5.1794 bei der Übersendung des überarbeiteten und ergänzten Manuskripts zum Hesperus (nicht überliefert, möglicherweise einzelnes Blatt oder einzelne Blätter unter den »Paralipomena«, Fasz.XVII/32). SW II/3,295–320, hier: S.296; dem Brief Jean Pauls vom 24.12.1790 zufolge hat Otto außerdem eine briefliche Besprechung zu den Satirischen Übungen verfaßt, die aber nicht überliefert ist, vgl. SW IV/1,307. SW I/5,373–374, im »Ersten Appendix«, der »Sallatkirchweih in Obersees«, vgl. die frühe Fassung, SW II/3,301 und die »Lesarten«, S.441, darin sind die Bleistift-

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An einem anderen Beispiel aus den Satirischen Übungen kann die Weiterarbeit Jean Pauls an dem mit Bleistift markierten Text im Manuskript verfolgt werden.

Abb.4: Jean Paul, Satirische Übungen, 3. Meine Bitschrift an den Klub, der den Hut nicht rükt. d. 1. Novemb. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XIIb/ 31, Bl.27.

Die angestrichene erste Fassung »wenn alles an mir gut ist, der Hut ausgenommen« wird in »wenn alles an mir gut ist, besonders der Hut« verändert. Für die spätere Veröffentlichung in Briefe und bevorstehender Lebenslauf wurden die entsprechenden Absätze weitgehend umformuliert.34 Auf eine andere Stelle der Satirischen Übungen kommt Otto bei seiner brieflichen Besprechung einer nicht erhaltenen frühen Fassung von Freudels Klaglibel zurück und gibt damit möglicherweise den Anlaß zur weiteren sprachlichen Überarbeitung: »a u s i h r ; ich glaube in der ersten Beschreibung stund: aus ihr und ans Licht, welches mir lieber wäre«35, bezieht er sich auf die Schilderung eines Zerstreueten.

Abb.5: Jean Paul, Satirische Übungen, 5. Schilderung eines Zerstreueten. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.XIIIb/31, Bl.37.

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striche, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Otto gesetzt wurden, pauschal vermerkt, vgl. ebd., S.440. Vgl. I/7,384–385 und SW II/3,308, Jean Pauls Textänderung in den Satirischen Übungen ist in den »Lesarten« vermerkt, vgl. ebd., S.442. SW IV/1,217, Brief vom 3.–4.1.1791, vgl. auch ebd., S.621–622.

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Tatsächlich steht in den Satirischen Übungen »und gukte staunend auf die Kutsche herunter, neugierig auf das, was aus ihr ausspringen wolte«. Im später in den »Jus de tablette für Mannspersonen« zum Quintus Fixlein gedruckten Text, dem noch eine weitere, Otto im Frühjahr 1795 vorliegende Manuskriptfassung vorausging, heißt es »und gukte staunend auf den grossen Kutschkasten herunter, ungemein neugierig, was wol aus dem Kasten springe«.36 Nicht nur die sprachlich-stilistischen Vorschläge Ottos, seine Äußerungen zu einzelnen Szenen, Handlungsaufbau und Figurengestaltung oder auch sein juristischer Rat37 lassen sich im Hinblick auf die Genese der Jean Paulschen Texte befragen. Eine mittelbare Wirkung, und sei es eine bestärkende, werden gerade in einer Situation des noch ungewissen Erfolges eines Werks auch die inhaltlichen und ästhetischen Reflexionen gehabt haben, die Otto mit zunehmender Sicherheit im brieflichen Dialog vortrug.38 So führt ihn die frühe Fassung von Fälbel’s Reise auf die »Beimischung des Ernsthaften« zum »Komischen u Satirischen«,39 in seiner zweiten Besprechung des Hesperus beschreibt er den nachhaltigen Eindruck, den die Lektüre des Textes bei ihm hinterlassen hat, und fragt nach den Ursachen dafür, stellt die »Schilderung der Naturszenen« durch Karl Philipp Moritz und Jean Paul einander gegenüber,40 an Fixlein hebt er »etwas Humoristisches, etwas romantisch Veredeltes« gegenüber der »Wuzischen und Brüknerischen Kleinlichkeit« hervor41 und der Aufsatz Ueber die natürliche Magie der Einbildungskraft findet eine starke Resonanz, nicht nur in den direkt darauf replizierenden Passagen, sondern indirekt auch in den anderen Besprechungen seit März 1795. Auf die Zweifel, von denen Jean Paul im September desselben Jahres anläßlich der Biographischen Belustigungen in einem eigens versiegelten ––––––– 36

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Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mustheil und einigen JUS DE TABLETTE, von Jean Paul, Verfasser der Mumien und der Hundsposttage. Bayreuth 1796, S.373, vgl. SW I/5,204 und SW II/3,314 und S.442; vgl. auch SW IV/2,77–78, Brief Ottos vom 27.4.–20.5.1795 zu den »Jus de tablette« zum Quintus Fixlein; auf den Abschnitt zu Freudels Klaglibel scheint u.a. die spätere Einleitung zurückzugehen, die die Erzählung mit der Lebensbeschreibung Fixleins in Verbindung bringt und eine Erklärung für die Einfügung der Satire über den Lohgerber Ranz anbietet, vgl. I/5,196 und S.205. Vgl. SW IV/2,119–121, Brief vom 23.11.1795 zur Fortsetzung des Siebenkäs, und SW IV/4, Brief von Anfang oder Mitte Juli 1801 zu den Flegeljahren, vgl. auch SW I/10,XXII. Vgl. auch SW IV/2,VII–VIII und Jean Pauls – gewiß nicht ganz wörtlich zu nehmende – Bitte um Ottos Kritik vor der Fortsetzung des Schulmeisterleins Maria Wuz, SW III/1,327, Brief vom 23.2.1791, vgl. SW IV/1,634–635. SW IV/1,225, Brief vom 5.–7.2.1791. Vgl. SW IV/2,4–9 und Erläuterungen, Brief vom 8.7.1794. SW IV/2,43, Brief vom 7.–11.3.1795.

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Blatt schreibt, das der rezensierende Freund erst nach dem Lesen des Manuskripts öffnen soll,42 antwortet Otto nicht nur diese relativierend, sondern in seinem folgenden Brief zu den ersten drei Kapiteln des Siebenkäs mit einer grundlegenden Würdigung der »neuern Werke« Jean Pauls. Er lobt deren »erhabene und nüchterne Willkühr«, die Verbindung einer »besonnenen Nüchternheit« mit »Deine[r] Manier«.43 Mögen diese Überlegungen Ottos, die einen gewissen Vorbehalt gegen die »Manier« Jean Pauls einschließen, später – so bei der Besprechung des Titan – auch zum Scheidepunkt des ästhetischen Verständnisses der beiden Freunde geworden sein, konnten sie doch zunächst als Bestätigung bei der Fortsetzung des Siebenkäs gelesen werden. Anders als der 1790 ebenfalls um »Rezensionen« gebetene Friedrich Wernlein, der sein Engagement seit 1791 zunehmend an seiner beruflichen Tätigkeit als Gymnasiallehrer ausrichtete, ist Christian Otto der Aufforderung, den Weg des Autors als »Rezensent« zu begleiten, rückhaltlos gefolgt, und dessen Wandlung vom Satiriker zum Romancier ist eng mit Ottos Lektüren der Jean Paulschen Manuskripte verbunden. Anteil genommen an dieser Phase des schriftstellerischen Schaffens, in der »Jean Paul« erfunden wurde, haben auch die Hofer Freundinnen, die – oft mündlich – auf kurze Erzähltexte wie die später in den »Mustheil für Mädgen« des Quintus Fixlein aufgenommenen oder Die unsichtbare Loge eingegangen sind.44 Und im Bild des Arztes Fenk der Unsichtbaren Loge sind Züge der Freundschaft zu Johann Bernhard Hermann wiederzuerkennen.45 Die Eigengesetzlichkeit des Literarischen und der umfassende Anspruch der Jean Paulschen Autorschaft lassen sich, auf das Ausgangsbild aus der Unsichtbaren Loge zurückkommend, mit der Einblendung eines Jean Paulschen Schriftzuges, einer seiner eigenen Federproben mit dem Wort »heureusement« veranschaulichen.46 ––––––– 42 43 44

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Vgl. SW III/2,109–110, Brief vom 15.9.1795. SW IV/2,113 und 115, Brief vom 8.10.1795. Vgl. den Briefwechsel mit Renate Wirth, Helene Köhler und Amöne Herold, ferner SW IV/1,667–669, S.676–677 und S.XVI–XVII. Vgl. auch die Notizen »Dedikazion an Herman« und »Herman zu [meinem] Doktor« in einem der Entwürfe zu Meine Überzeugung, daß ich todt bin, SW II/3,395– 396, vgl. auch ebd., S.98 und S.XVIII–XIX sowie Monika Meier, Tödliche Krankheiten und »eingebildete« Leiden: »Hypochondrie« und »Schwindsucht« im Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Hermann, erscheint im Band zur Tagung Maladies en lettres/Krankheit in Briefen (XVIIe–XXIe siècle/17.– 21. Jahrhundert), Lausanne 26.–28.6.2003. Diese Federprobe ist auf anderen an Jean Paul gerichteten Briefen (wie denen von Christian Otto vom 26.2. und 23.(?)3.1791 und von Erhard Friedrich Vogel vom 11.10.1789) ebenso zu finden wie auf der letzten Seite des Exzerptheftes 1 der ›Dritten Reihe‹, SBB, Nachlaß Jean Paul, Fasz.IVa, Bd.1 (1786-1787), S.64, vgl. auch die Würzburger Online-Publikation der Exzerpte unter http://www.uni-

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Abb.6: Jean Paul, Federproben auf dem Brief Christian Ottos an ihn vom 3. und 4. Januar 1791. Biblioteka Jagiellonska, Krakau, Sammlung Autographa der Preußischen Staatsbibliothek.

Für den Schreibprozeß, für die Entwicklung von bestimmten Schreibfiguren und -haltungen oder auch einer bestimmten Schreibdisposition sind die Anregungen von Bedeutung, die Freundinnen und Freunde in Schrift und Person, in mancher Hinsicht auch als Widerpart, vermittelten. Es läßt sich als Glück bezeichnen, daß es die Freundinnen und Freunde und ihr Lesen von Manuskripten und Werken gab. Wobei dieses Glück des schreibenden Autors für die anderen oft zwiespältig und fragil war. Charlotte von Kalb reflektiert ihre eigene Rolle und die der im Juni 1796 neu gewonnenen Weimarer Freunde und Bekannten so: [...] wie in einem Spiegelzimmer stehst Du da und wirfst über alle Deine Gestalt, blickst aus ihr mit Deinem Geist, Gemüth; aber wir, wir sind keine Spiegel, so glatt und kalt, nein, nein, nein! Eine idealische Schilderung liebt die Seele, einen idealischen Menschen liebt das Herz [...]47

Die Deutlichkeit dieses Bildes verdankt sich ihrem Anspruch, dem Autor als eigenständig sprechende Freundin und Leserin zu begegnen, dem von Jean Paul jedenfalls im Bereich des Literarischen enge Grenzen gezogen wurden – »Aber über ihr Einmengen in mein ästhetisches Leben wil ich ihr einmal für immer die entschiedenste Meinung sagen«, schreibt er anläßlich ihrer kriti–––––––

47

wuerzburg.de/germanistik/neu/jp-arbeitsstelle/jpa_exz_06.htm. Das 1786/87 entstandene Heft wurde weiteren Notizen Jean Pauls darin zufolge in den 1790er Jahren wiederholt gelesen. Für die Hinweise auf das und zu dem Exzerptheft danke ich Michael Will. Die Verwendung des Wortes »heureusement« als »Feder- und Dintenprobe« hat schon Eduard Berend beobachtet (vgl. SW I/2,467, Anmerkungen zu Die unsichtbare Loge), die gefundenen Beispiele könnten zumindest zeitlich mit der Entstehung des Romans im Zusammenhang stehen. SW IV/2,184, Brief an Jean Paul vom 17.6.1796.

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schen Bemerkungen zur kurzen Erzählung Die Mondsfinsternis in der Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein (1797 [1796]) an Christian Otto.48 Auch dessen nach dem Herbst 1797, dem Datum von Jean Pauls Umzug nach Leipzig, geschriebene Briefe thematisieren einen Mangel, unerfüllte Erwartungen in der Freundschaft zu dem sich entziehenden Autor, und ähnliche Empfindungen des persönlichen Verkanntseins sind auch manchen seiner späteren Äußerungen zu entnehmen. Die Trauer, die aus Zeilen wie diesen spricht, [...] täusche dich nicht! – sie werden auch Dir nicht wiederkommen, die Zeiten, die nicht nur für mich, sondern auch für Dich die bessern und die besten waren, denn es waren ja die Tage und die Abende, an denen der H e s p e r u s aufgieng49,

fand nicht nur den Widerspruch Jean Pauls,50 sondern scheint auch für Otto wieder in den Hintergrund getreten zu sein. In beider Leben gehörte der jeweils andere, auch wenn es wechselseitige Enttäuschungen bei einer Asymmetrie auch in den Freundschaftskonzeptionen und in verschiedenen Phasen weitere und in einigen Fällen nähere Freundschaften gab, noch in den späteren Jahrzehnten zu den wichtigsten Personen des engeren Freundeskreises, noch aus den späteren Jahren gibt es auch Belege für Ottos »Rezensenten«Tätigkeit.51 Die für Jean Paul bedeutsamen kritischen Lektüren Ottos, ja bis zu einem gewissen Grade wohl das beiderseitige Glück der Arbeit an Manuskripten, die den Autor des Hesperus weithin bekannt werden ließen, sind jedoch im wesentlichen ein Phänomen der Jahre 1790 bis 1797.

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SW III/2,265, Brief vom 26.10.1796, vgl. SW IV/2,242, Brief Charlotte von Kalbs vom 16.10.1796, vgl. auch Thomas Wirtz, Liebe und Verstehen [Anm.3], S.188– 192, Sabine Eickenrodt [Anm.11], S.198 und Erich Kleinschmidt, »Wie ein Aug im Gewölk«. Die vergessene Autorschaft Charlotte von Kalbs, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S.160–183. SW IV/3.1,9, Brief vom 15.–23.(?)11.1797. Vgl. SW III/3,15, Brief vom 28.–29.11.1797. Zu deren Veränderungen vgl. oben, Anm.13; als ein weiteres Beispiel aus späteren Jahren vgl. Ottos Anmerkungen zu der Berichtigung eines chronologischen Irrthums über die Abreise Jean Paul’s von Dresden, die am 14. und 15.8.1822 in der Dresdner Abend-Zeitung erschien, vgl. SW III/8,194–195, Brief vom 29.7.1822 an Emanuel Osmund, und SW I/18,343–348.

JÖRG PAULUS

GERÜCHTEKÜCHE UND GEISTERGESPRÄCHSWERKSTATT Zur Poetisierung des Skandalösen bei Jean Paul (am Beispiel einer Fußnote im Siebenkäs)

1. Während seines Aufenthaltes in Bayreuth vom 29. April bis zum 1. Mai 1795 lernte Jean Paul den seit kurzem dort ansässigen Hofrat Gottfried Schäfer (1745–1800) kennen. Jean Paul legte in diesen Tagen letzte Hand an den Quintus Fixlein, für dessen Verlag er dann Schäfer um Vermittlung bei dem Bayreuther Buchhändler Johann Christoph Gottlieb Lübeck bat,1 nachdem zuvor vom Berliner Verleger Carl Matzdorff keine Reaktion auf Jean Pauls das Werk ankündigenden Brief vom 14. April 1795 erfolgt war.2 Schon bald nach dem Bayreuth-Besuch erschien dann bei Matzdorff der abschließende Band des Hesperus. Die Weichen für den kometenhaften Aufstieg des Dichters waren damit gestellt. Noch aber herrschte gleichsam Windstille vor dem sich anbahnenden Sturm der allgemeinen Begeisterung. Im selben Brief, in dem sich Schäfer am 12. Juni 1795 bei Jean Paul für den Hesperus bedankt, berichtet er, Lübeck habe über das Fixlein-Manuskript geurteilt, »es gebe nur wenig Auserwählte, die für Schriften dieser Art einen Gaumen haben«, was freilich »dem deutschen Publikum Schande« mache.3 Immerhin aber konnte Schäfer Jean Paul bereits von einer ersten Leserinnen-Reaktion auf den Hesperus berichten, zu dessen Lektüre er selbst, wie er schreibt, noch nicht gekommen sei, da ihn sein Amt als Prinzenerzieher im Moment stark beanspruche. In einer kurzen Digression in Sternescher Manier verbindet Schäfer eine satirische Skizze der Kaprizen der Mutter des ihm anvertrauten adeligen Zöglings mit einer Würdigung von deren höherer literarischer Bildung, die mithin vom »schändlichen« Geschmack des übrigen deutschen Publikums abgehoben wird: Seit 12 Tagen ist die Fürstinn Lichnowsky hier; sie hat eine lange, schwere Schleppe u. ich armer Teufel muß sie ihr den ganzen Tag nachtragen. Erst hat sie

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Vgl. SW I/5,VI–VII, III/2,82, Nr.107, S.84, Nr.112, S.89, Nr.117 und S.92–93, Nr.127 sowie SW IV/2,64–65, Nr.35, und S.80–81, Nr.40. Vgl. SW III/2,74–75, Nr.98 und IV/2,91–93, Nr.47 und Erläuterungen. SW IV/2,80, Nr.40.

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meinen Zögling bis auf Knochen u. Mark verderbt, u. nun, da ich kaum so glücklich war, ihm ein bischen gute Sitte beyzubringen, kömt sie, ihn aufs neue mit übertriebner mütterlicher Zärtlichkeit zu vergiften: Wahrlich sie macht mir eine sehr garstige Interpunktion in meinen Satz! Und doch ist sie sonst ein vernünftiges, liebenswürdiges Weib. Wollen Sie sie nicht kennen lernen? Sie sind ihr schon bekannt, denn sie liebt den Hesperus.4

Zum ersten Mal erfährt Jean Paul hier, wenn auch vorläufig nur aus zweiter Hand, Anerkennung für seine Schriftstellerei von der Repräsentantin eines sozialen Kreises, der in der folgenden Zeit zum wichtigsten Reservoir seiner Anhängerschaft werden sollte: Frauen höheren Standes, deren Leben nahezu durchgängig von Empfindungen des Ungenügens an der prosaischen Realität (in beruflicher, sozialer und familiärer Hinsicht) geprägt war. Charlotte von Kalb, Juliane von Krüdener, Henriette von Schuckmann, Emilie von Berlepsch, Henriette von Schlabrendorff und andere sollten der Fürstin Lichnowsky in dieser Hinsicht nachfolgen. Maria Christiane von Lichnowsky (1765–1841), geborene Gräfin von Thun-Hohenstein, war eine Tochter des für seine magnetischen Kuren bekannten Grafen Franz Joseph von ThunHohenstein, in dessen Wiener Palais unter anderem Wolfgang Amadeus Mozart zu Gast gewesen war. Seit 1789 war sie mit dem Fürsten Carl von Lichnowsky (1761–1814) verheiratet.5 Das Ehepaar förderte, wie schon der Vater der Fürstin, junge Künstler und Musiker, unter anderem auch Ludwig van Beethoven. Im Zusammenhang mit der Ehe des Fürsten und der Fürstin schreibt Schäfer jedoch einige Monate später lakonisch vielsagend an Jean Paul: »Die Welt ist voll Widersprüche«.6 Das Widersprüchliche im Charakter der Fürstin wird, unter Hinzufügung diverser skandalöser Details, auch in den Lebenserinnerungen der Gräfin Thürheim betont, die mit dem Zögling Schäfers, dem Prinzen Eduard Maria von Lichnowsky (1789–1845) befreundet war: Dieselbe Halsstarrigkeit [der Fürstin Lichnowsky] brachte es mit sich, daß sie ihren einzigen Sohn in den Händen von schlechten Leuten ließ, denen er von seinem Vater anvertraut worden war; sie rechtfertigte sich damit, daß sie nicht das Recht habe, dem Willen ihres Gemahls, den sie so wenig liebte, entgegenzuwirken. Ich würde nicht zu Ende kommen, wollte ich alle Inkonsequenzen wiedergeben, die sie trotz ihrem hellen Verstand in ihrem Leben beging.7

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SW IV/2,81. Vgl. Ludwig Igálffy-Igály, Stammtafel der Ritter, Freiherrn, Grafen und Fürsten Lichnowsky v. Woszczyc vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 3 (XVII) (1954), H.9/10. SW IV/2,138, Nr.68. Lulu Gräfin Thürheim, Mein Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer Welt 1788–1819, hrsg. von René van Rhyn. Bd.2. München 1913, S.19–20.

Gerüchteküche und Geistergesprächswerkstatt

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Aus welchem Grund die Gräfin Thürheim von den Leuten, denen der Sohn der Fürstin in Bayreuth anvertraut war, meinte, schlecht denken zu müssen, wird noch zu klären sein. Festzuhalten bleibt vorläufig, daß die durch Schäfer mitgeteilte Liebesbekundung der Fürstin für den Hesperus das erste, vorauseilende Signal eines für die Rezeptionsgeschichte Jean Pauls grundlegenden Musters darstellt und daß zugleich dieses Signal aus gesellschaftlicher Perspektive von begleitenden Mißtönen der Fama, des schlechten Rufes, und des gesellschaftlichen Skandals nicht frei war. Die Fürstin gehörte allerdings einer gesellschaftlichen Schicht an, für die das Leben im und mit dem Skandal eine in vieler Hinsicht akzeptierte und etablierte Existenzform war. Die Verknüpfung von höfischem und ungehindert skandalösem Leben war denn auch ein literarischer Topos der Zeit, den auch Jean Paul schon aufgenommen hatte, zum Beispiel in der Unsichtbaren Loge, besonders in jenen in seinem Freundeskreis vieldiskutierten Passagen, in denen der Romanheld Gustav von der Residentin Bouse verführt wird.8 Für einen aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Dichter hingegen schlummerte im Skandalösen ein Potential von beträchtlicher sozialer Sprengkraft. Ob er dieses Potential zu seinen Gunsten oder zu seinem Unglück zu mobilisieren vermochte, ließ sich kaum vorhersagen. Jean Paul hatte in dieser Hinsicht bereits Erfahrungen gesammelt: Als er Schäfer kennenlernte, lagen die Jahre in der »satirischen Essigfabrik«9 noch nicht lange zurück. In dieser Periode hatte er nicht nur als Schriftsteller vor dem Publikum, sondern auch als Skandal-Provokateur lernen müssen, mit Niederlagen zu leben. Seinen 1782 begonnenen provokativen Versuch, durch den Verzicht auf Zopf und Kragen, in Hemden »à la Hamlet«, eine über Leipzig importierte Form des großen (und das bedeutete für ihn vor allem: des britischen) Weltlebens in der vogtländischen Provinz zur Schau zu stellen, hatte er im September 1789 abgebrochen. Satire und Skandal waren zwei erste, strategisch kalkulierte Kräfte gewesen, mit denen er sich in der Realität seiner Zeit und der ihm zugänglichen sozialen Räume zu positionieren suchte. Daß sie sich für die Konstitution eines auf längere Sicht anerkennungsfähigen Subjekts in der literarischen und der bürgerlichen Welt als nicht tragfähig erwiesen, war eine Folge der widersprüchlichen Kräfteverwerfungen im gesellschaftlichen Gefüge der Revolutionszeit, und daß Jean Paul im Dezember 1790, seiner eigenen Darstellung zufolge, ––––––– 8

9

Vgl. hierzu besonders die Briefe Friedrich Wernleins an Jean Paul vom 31.7.1793, vom 26.7.1794 und vom 6.3.1796, SW IV/1,274, SW IV/2,16 und ebd., S.156 sowie Wulf Köpke, Agathons und Gustavs »Fall«: Wieland-Spuren in Jean Pauls »Unsichtbarer Loge«, in: JJPG 21 (1986), S.7–22. I/2,7 (Vorrede zur 2. Auflage der Unsichtbaren Loge).

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»durch das noch etwas honigsauere Leben des Schulmeisterlein Wutz den seeligen Uebertritt in die unsichtbare Loge« nahm,10 läßt sich denn auch als individueller und, wie sich im Nachhinein herausstellte, auch als erfolgreicher Fluchtweg aus diesem Dilemma begreifen. Die Individualität dieses Fluchtweges darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es erfahrener Ratgeber bedurfte, um den Eingang dazu zu finden. Die Tatsache, daß die Stimmen dieser Ratgeber Jean Pauls keineswegs nur aus den literarischen Zentren kamen, sondern auch aus der Provinz selbst, zeigt, in welch hohem Grade trotz der territorialen Zersplitterung der intellektuelle Austausch in der »Gelehrtenrepublik«, nicht zuletzt aufgrund der Zeitschriften- und JournalKultur, funktionierte: Johann Wilhelm von Archenholtz in Berlin war einer von ihnen, Pfarrer Erhard Friedrich Vogel in Rehau bzw. Arzberg ein anderer.11 Jeder Jean-Paul-Leser weiß aber auch, daß Jean Paul den satirischen Ton damit nicht verstummen ließ, ihn vielmehr in die meisten Werke seiner Feder in unterschiedlicher Dosierung weiterhin einfließen ließ. Er bediente sich dabei in großem Stil weiterhin auch der Ressourcen, die er systematisch in der Satirenzeit angelegt hatte. Aus der Arbeit der gegenwärtigen JeanPaul-Editionsprojekte wurde in den vergangenen Jahren Zug um Zug deutlicher ersichtlich, in welchem Umfang in Jean Pauls »Textwerkstatt« aus diesen Ressourcen geschöpft wurde und wie konsequent die Bausteine zwischengelagert, weiterverarbeitet und schließlich in die Werke eingefügt wurden.12 Auch die Korrespondenz Jean Pauls wäre in die synoptische Darstellung dieser intellektuellen Verwertungskette miteinzubeziehen. Daß in Briefen verhandelte Konstellationen auch werkgenetische Implikationen haben können, soll im Folgenden an einem konkreten Beispiel demonstriert werden. Vorab soll jedoch ein bestimmtes rhetorisches Grundmuster der Korrespondenz skizziert werden, in dem sich eine zentrale literaturstrategische Haltung im Werkstatt-Umfeld Jean Pauls spiegelt. 2. Burckhard Dücker hat jüngst demonstriert, wie fruchtbar es für eine sozialgeschichtliche Betrachtung der Literatur des 18. Jahrhunderts sein kann, im Anschluß an Pierre Bourdieu die Voraussetzungen und Wirkungen von Skandalen im Horizont der Dynamik des literarischen Feldes und dessen Verhältnis ––––––– 10 11

12

Ebd. Vgl. IV/1,91, Nr.67 vom 16.3.1787 von Vogel und ebd., S.193–194, Nr.105 vom 13.2.1790 von Archenholtz. Vgl. u.a. die Beiträge von Barbara Hunfeld, Birgit Sick, Petra Zaus und Michael Will im vorliegenden Jahrbuch.

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zum umgebenden Feld der Macht zu betrachten.13 Im Prozeß der künstlerischen Autonomisierung, der mit Bourdieu als Form der Emanzipation des literarischen Feldes dargestellt werden kann,14 spielen im ausgehenden 18. Jahrhundert die Formeln des Erhabenen eine besondere Rolle. In Jean Pauls Korrespondenz verbinden sich diese Formeln mit literarisch präformierten Modellen, die eine Suspension der sozialen Realität prätendieren: Die meisten der in den neunziger Jahren angeknüpften neuen Briefwechsel Jean Pauls folgen den in den Romanen statuierten Idealen des hohen Menschen, der zweiten Welt, der idealistischen Sympathielehre. Vorherrschendes Kommunikationsmodell ist die neuplatonisch inspirierte Idee eines »hohen Geistergesprächs«, das aller sozialen Differenzierung übergeordnet ist. Der Anspruch dieser Kommunikationsform auf Superiorität ergibt sich aus ihrer vorgeblichen Unabhängigkeit von den materiellen und sozialen Bedingungen des Schreibens. Charakteristisch für diese Denkfigur ist der Beginn eines Briefes von Caroline Herder an Jean Paul: Ja wohl bedarf es der Feder eines Engels um die tausendfachen Hindernisse zu überwinden Ihnen zu schreiben wie ich gern wollte, theurer, unvergeßlicher

––––––– 13

14

Burckhard Dücker, Der Fragmentenstreit als Produktionsform neuen Wissens. Zur kulturellen Funktion und rituellen Struktur von Skandalen, in: Lessings Skandale, hrsg. von Jürgen Stenzel und Roman Lach. Tübingen 2005, S.21–47. Dückers’ Fallbeispiel, der Fragmentenstreit, war auch für den jungen Jean Paul eine Probe gewesen, anhand derer sich das labile Gleichgewicht von aufklärerischer Radikalität und sozialer Akzeptanz testen ließ. Den Freund und Berater Erhard Friedrich Vogel hatte er in einem seiner ersten überlieferten Briefe – noch vor dem Skandal um Frisur und Kleidung – um die Überlassung von Lessings Fragmenten gebeten und hinzugefügt: »Ich befürchte nicht, Dero Unwillen zu verdienen, wenn ich um ein Buch gehorsamst bitte, das Dieselben mir aus liebreichen Absichten versagen. – Dieses Dilemma scheint mir alzeit sicher: entweder dieses Buch enthält Wahrheiten, oder Irthümer. Ist’s erste, so kan nichts hindern es zu lesen – ist’s lezte, so überredet es entweder nicht, weil die Gründe zu schwach sind – und dan schadet es auch nichts – oder es überredet. Was hab’ ich aber im lezten Falle für Gefahr zu befürchten, wenn ich eine Wahrheit, von der ich nicht aus Gründen überzeugt bin und die bei mir blos Vorurtheil ist, mit einem Irthum vertausche, der mir warscheinlicher und einleuchtender ist? – Darf ich also noch einmal – aber ich wil lieber hundert Bücher missen, als nur im geringsten mich Dero Gütigkeiten und Liebe unwerth machen« (III/1,2, Nr.2). War dies zunächst noch unter dem Deckmantel des Briefgeheimnisses geschrieben, so erwähnt er einige Jahre später, nun schon gegen Ende der Zeit des Frisur- und Hemden-Skandals, die Wolfenbütteler Fragmente erneut gegenüber Vogel, nun aber an einem zumindest halböffentlichem Ort, nämlich in der Adresse seines Briefes vom 15. März 1787 (vgl. III/1,225, Nr.192). Vgl. Bourdieus zusammenfassenden Artikel Das literarische Feld, in: Streifzüge durch das literarische Feld, hrsg. von Louis Pinto und Franz Schultheis. Konstanz 1997, S.33–148.

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Freund! Ich darf Sie nicht ausführlich mit der Litanei meiner eignen kleinen Uebel unterhalten, die eigentlich die gröste Ursache meines Stillschweigens sind – ich leide an den Augen, u. überhaupt seit einem Jahr viel an meiner Gesundheit – so daß ich mir selbst eine strenge Diät im Schreiben auflegen mußte.15

Auf der einen Seite also: Krankheiten und alltägliche Übel, auf der anderen Seite das Swedenborgsche Ideal der Engelssprache bzw. der Engelsschrift, die eine Kommunikation unabhängig von allen Widerständen des Leibes und der Materie erlauben. Die diätetische Lebensform schließlich ist die Methode, um den Widerstand des Körperlichen zu überwinden. Um aber das Vertrauen in diese Methode zu begründen, muß der metaphysische Horizont vorausgesetzt werden. Daher fährt Caroline Herder im Ton der Selbstvergewisserung fort: »Ich zähle so sicher auf unsre Gemeinschaft im Geisterreich, daß ich gewiß bin, Sie denken an uns u. sprechen mit uns so wie wir mit Ihnen, auch ohne sichtbares Zeichen.«16 Wie Albrecht Koschorke in Körperströme und Schriftverkehr gezeigt hat, ist das Schlagwort vom »Geistergespräch« unter jene Topoi der Briefkultur der Empfindsamkeit zu rechnen, die unfreiwillig einer Tendenz ins Aporetische unterliegen; soll sich doch darin Individualität bestätigen, indem sie negiert wird.17 Dies läßt sich an einem weiteren, gleichsam selbstreferentiellen Fall aus dem Briefwechsel Jean Pauls exemplifizieren: Zur Beschreibung von Madame de Staëls Buch über den Einfluß der Leidenschaften auf das Glück der Individuen und der Nationen18 hatte Jean Paul die Formel vom »Meister- und Meisterinstük« geprägt.19 Er hatte den Hinweis auf dieses Buch von Charlotte von Kalb erhalten und ließ das Werk nach seiner enthusiastischen Erstlektüre im Hof-Bayreuthischen Freundeskreis zirkulieren, so daß das optimistische sozialanthropologische Gedankensystem Madame de Staëls gleichsam in ein oberfränkisch getöntes Regional-Geistergespräch transformiert wurde, das freilich in Hinblick auf die sozialen bzw. politischen Realisierungsperspektiven immer wieder an die engen Grenzen der herrschenden Duodez-Verhältnisse stoßen mußte. In einem bezeichnenden metaphorischen

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18

19

SW IV/2,342–343. SW IV/2,343. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Vgl. auch Karl Otto Brogsitter, Das hohe Geistergespräch. Studien zur Geschichte der humanistischen Vorstellungen von einer zeitlosen Gemeinschaft der großen Geister. Bonn 1958. Anna Louise Germaine de Staël-Holstein, De l’influence des passions sur le bonheur des individues et des nations. Lausanne 1796. SW III/2,380, Nr.716 vom 15.10.1797 an Emanuel.

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Ausweichmanöver schreibt Jean Paul daher auch über seinen Lektüreeindruck nach Weimar an Frau von Kalb: [Nie, Freundin, hab’ ich Sie soviel sprechen hören als seit 8 Tagen. MAD. DE STAEL ist Ihre Schwester Rednerin, und in dem was ich las, glaubte ich den] Widerhal unsrer Juniusstunden [zu hören ...]20

Jean Paul verwendet einen Begriff aus dem Logenwesen – den der Schwester Rednerin – um die Aufhebung des individuellen Anspruchs auf die verhandelten Inhalte zu betonen, aber auch, um die Suspendierung der sozialen Realität im »Widerhall« der Erinnerung zu bezeichnen. Die Gespräche, die Jean Paul im Juni 1796 mit Frau von Kalb geführt hatte, als er sie bei seinem ersten Weimar-Besuch kennenlernte, sind im Modus des Erinnerns literarisierbar geworden, der nebulöse Kontext des Geheimbundwesens erlaubt es dabei, über die gesellschaftspolitischen Gedanken Madame de Staëls in eine Art »Als-ob-Diskurs« zu treten. Das Briefgespräch hat denn auch weniger gesellschaftliche oder politische als vielmehr literarische Konsequenzen: Im Titan gehört die Schrift der Madame de Staël zu Lindas sogenannter »TischBibliothek«, in der die Geistesfreiheit der »Titaniden«, also der genialischen Frauen von Art Frau von Kalbs, Juliane von Krüdeners oder Emilie von Berlepschs, ihr Imprimatur erhält.21 Daß den »Titaniden« ein skandalträchtiger Leumund voraus- bzw. nachfolgte, läßt sich anhand des Briefwechsels bis in Jean Pauls engsten Freundeskreis hinein belegen. Am deutlichsten sprach Friedrich von Oertel in Leipzig den Vorbehalt aus, als er sich abfällig über die »Klasse der Krüdner« äußerte und damit Jean Pauls energischen Widerspruch herausforderte.22 Der Wahrheitsgehalt der kursierenden Gerüchte läßt ––––––– 20

21

22

SW IV/2,384; die Passagen in eckigen Klammern sind Ergänzungen, die dem Druck des Briefes in den von Ernst Förster herausgegebenen Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter (4 Bde., München 1863, hier Bd.2, S.49) folgen. Allerdings löste diese Form literarischer Vereinnahmung bei Betroffenen wie Charlotte von Kalb wiederholt ambivalente Gefühle aus. Thomas Wirtz hat in seinem Aufsatz über Jean Pauls Briefwechsel mit Charlotte von Kalb und Esther Bernard das Dilemma der dahinterstehenden Jean-Paulschen Strategie dargestellt, Weiblichkeit ins Dispositiv der Autorschaft zu übertragen, um damit das Lektüreerleben der Leserinnen vorab integrierbar zu machen, vgl. Thomas Wirtz, Liebe und Verstehen. Jean Paul im Briefwechsel mit Charlotte von Kalb und Esther Gad, in: DVjs 72 (1998), S.177–200. SW III/2, 344, vgl. IV/2,451. Über Emilie von Berlepsch hatte Oertel an Jean Pauls Freundin Amöne Herold geschrieben, sie irre »unter tausend nachtheiligen Gerüchten« durch die Welt (H: Veste Coburg, Brief vom 23.12.1796, Bl.2v). Christian Otto wiederum, Amöne Ottos späterer Ehemann, beurteilte vor allem Wilhelmine von Kropff kritisch, vgl. IV/2,368–369. Aus dem breiten Spektrum der Gerüchte, die in

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sich im allgemeinen, wenn überhaupt, nur ansatzweise durch eine Synopse von Andeutungen und Anspielungen erhellen.23 Im Unterschied zu Madame de Staël hatten die von der Fama Verfolgten den über sie umlaufenden Gerüchten allenfalls bescheidenen Ruhm und einen oft nur sehr geringen Grad an Freiheit von ökonomischen Notwendigkeiten entgegenzusetzen. Nahezu durchgängig aber wird von den Betroffenen jene höhere Kommunikationsform im Zeichen des Erhabenen gegen die Anfechtungen der üblen Nachrede ins Spiel gebracht. In diesem Sinne schreibt Juliane von Krüdener am 27. August 1796 an Jean Paul: Aus fehlern die ich begieng bildete sich mein CHARACKTER – Unglück führte mich zu erhabnen Genüßen; so wie fehltritte mich lehrten beßer zu gehen [...] Ich habe den Berg erklimmt, den kleinere Geister nicht die krafft haben zu ersteigen [...] Daß ich Sie kennen lernte, dancke ich der Vorsehung [...] wer die Seele eines solchen Menschen ergreifen kan muß was werth seyn [...] O kommen Sie wenn Sie es können wenn es Ihre Geschäffte Ihnen erlauben; daß ich Ihnen meine Seele zeige, daß Sie meine Schicksale erfahren, nie richten sie mich nach dem was andre Ihnen sagen können.24

Auch die mit Frau von Krüdener befreundete Henriette von Schuckmann greift auf entsprechende Formeln zurück, um gegen den schlechten Ruf ihrer Freundin anzusprechen: ich weis daß die Flekken, die, man diesem hellen, reinen Weibe aufbürden will, Thautropfen sind in dem ihr Glanz sich tausendfältig spiegelt, ich weis dies und darf nicht reden, darf dem Gebelle der klatsucht nicht kopf bieten um das weiße Gewand meiner geliebten Freundin nicht ärger Mishandeln zu laßen.25

––––––– 23

24 25

den Briefwechseln um Jean Paul transportiert werden, kann hier nur ein kleiner Ausschnitt widergegeben werden. Zu Lebensumständen und Werken Juliane von Krüdeners vgl. Francis Ley, Madame de Krüdener et son temps 1764–1824. Paris 1961; zu denen Emilie von Berlepschs vgl. Otto Sievers, Zur Biographie der Emilie von Berlepsch, der Freundin Jean Pauls. Auf Grund neu aufgefundenen ungedruckten Materials, in: Vossische Zeitung vom 13.9.1885, Sonntagsbeilage, sowie: Hans Utz, Bern – die Liebeserklärung der Emilie von Berlepsch (1755–1830), in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 49.2, 1987, S.57–115; zu Charlotte von Kalb vgl. Johann Ludwig Klarmann, Geschichte der Familie von Kalb auf Kalbsrieth. Mit besonderer Rücksicht auf Charlotte von Kalb und ihre nächsten Angehörigen. Erlangen 1902; Ursula Naumann, Urania in Ketten. Jean Pauls »Titaniden« (mit einem Anhang: Fünf Briefe der Charlotte von Kalb), in: JJPG 15 (1980), S.82–130; dies., Charlotte von Kalb. Eine Lebensgeschichte (1761–1843). Stuttgart 1985; Erich Kleinschmidt, »Wie ein Aug im Gewölke«. Die vergessene Autorschaft Charlotte von Kalbs, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S.160–183. SW IV/2,230–231, Nr.135. SW IV/2,255, Nr.153.

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Emilie von Berlepsch schließlich, die einmal an Herder geschrieben hatte, ihr Ansehen vor der Welt stehe »auf schwachen Füßen«,26 wozu auch ihre zerrütteten Familienverhältnisse beitrugen, schreibt am 3. September 1797 an Jean Paul: Ich habe mir vorgenommen eine Art von geistigen Tagebuch ganz ausdrücklich für Sie zu führen, denn ich spreche täglich und stündlich mit Ihnen in meinem Gemüth [...] O mein Guter; ich bin in allen meinen Verhältnißen sehr unglücklich. Ich finde in meiner ganzen Verwandschaft nicht eine Seele die ich mit Liebe, Achtung, Dank umfaßen könnte. Noch sprach ich Ihnen nie von meiner Schwester die hier an diesem Orte wohnte, und nun ihn und ihren Mann, ihre Kinder verlaßen muste. Es ist eine sehr traurige und anstößige Geschichte die ich Ihnen doch auch einmahl wo nicht erzählen doch andeuten muß.27

3. Von der Fürstin Lichnowsky sind keine Briefe an Jean Paul überliefert. Nur in Gestalt anderer Korrespondenzen Jean Pauls läßt sich die Begegnung des Dichters und der Fürstin auf der historischen Ebene vergegenwärtigen. In Jean Pauls Werken aber hat die Begegnung Widerhall gefunden in einer seiner großen visionären Dichtungen. Die produktive Kraft des Skandalösen (sowohl in Bezug auf Schäfers Lebensumstände wie auf diejenigen der Fürstin) läßt sich dabei im Anschluß an eine von Jean Paul beigefügte Fußnote erschließen, in der sich auch weitere Spuren des Arbeitsprozesses in der Jean Paulschen »Textwerkstatt« nachweisen lassen. In der ersten Auflage des Siebenkäs folgen die zwei berühmten »Blumenstücke« des Romans, die »Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey« und »Der Traum im Traum«, direkt auf die Vorrede. Die Titel der beiden »Aufsätze« hat Jean Paul jeweils in einer Fußnote kommentiert. Im Falle der »Rede des todten Christus« erfüllt die Fußnote – ebenso wie der nachfolgende »Vorbericht«, demzufolge das »Ziel dieser Dichtung [...] die Entschuldigung ihrer Kühnheit« sein soll – die Funktion, den im Titel vorprogrammierten Skandal zu mildern: Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Daseyn Gottes bejahen, zerstöhret wären: so würd’ ich mich mit

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Brief vom 4.12.1779, H: Biblioteka Jagiellonska Krakau. SW IV/2,379, Nr.228.

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diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.28

Diese Fußnote blieb auch in der zweiten Auflage des Siebenkäs, nun ans Ende des zweiten Bändchens gerückt, unverändert. Die Fußnoten zum Titel des zweiten Blumenstücks aber unterscheiden sich in den beiden Auflagen. In der ersten Auflage merkt Jean Paul an: Wie die Griechen und Römer der Sonne ihre Träume erzählten, so sagt’ ich den obigen einer katholischen Fürstin, die ihn veranlasset hatte, da sie eine weite Reise machte, um ihr Kind – das aus dem Boden seines Standes in die Gartenerde eines weisen und edlen Erziehers versetzt ist – zu umarmen. 29

In der zweiten Auflage des Siebenkäs von 1818 werden nun die involvierten Personen beim Namen genannt, denn Schäfer war zu diesem Zeitpunkt schon seit beinahe 20 Jahren tot, der Nachhall der Fama verklungen. Die Kennzeichnung der gesellschaftlichen Konstellation (Boden des fürstlichen Standes versus »Gartenerde« der Erziehung) bleibt jedoch erhalten: Wie die Griechen und Römer der Sonne ihre Träume erzählten, so sagt’ ich den obigen einer katholischen Fürstin (Lignowsky), die ihn veranlaßt hatte, da sie die Reise von Wien nach Baireuth machte, um ihren Sohn – der aus dem Boden seines Standes in die Gartenerde eines weisen und edlen Erziehers (Hofrath Schäfer) versetzt war – zu umarmen.30

Jean Pauls poetologischen Grundsätzen folgend, werden die Tatsachen dem Leser bzw. der Leserin nicht unvermittelt, sondern relational dargeboten. Ein poetischer Vergleich eröffnet den Zugang zur »inneren Unendlichkeit der Imagination«.31 Die Vermutung, daß dieser Vergleich als Werkstück in der »Textwerkstatt« Jean Pauls bereits bereitlag, läßt sich dank der Arbeit der Exzerpt-Edition in Würzburg auch unschwer nachweisen. Im Exzerptheft Geschichte, 11. Band findet sich die zugrundeliegende Notiz:

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29 30

31

Vgl. Blumen- Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel von Jean Paul, Bd.1. Berlin: Matzdorff 1796, S.1. Ebd., S.12. Jean Paul, Siebenkäs, hrsg. von Klaus Pauler, München 1991, S.56, vgl. BlumenFrucht- und Dornenstükke; oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs von Jean Paul [...] Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, Bd.1. Berlin: Verlag der Realschulbuchhandlung 1818, S.228. Vgl. Norbert Miller, Die Unsterblichkeit der zweiten Welt. Jean Pauls literarische Anfänge und die Entstehung seiner Romanwelt, in: Jean Paul, Sämtliche Werke, II/4,10.

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Man erzählte gern der Sonne die Träume, weil sie durch ihren Glanz alles Traurige vertriebe.32

Es handelt sich hierbei um eines aus einer Reihe von durch Jean Paul mit dem Quellenverweis »Cilano« gekennzeichneten Zitaten, die alle aus der Ausführlichen Abhandlung der römischen Alterthümer des Altphilologen Georg Christian Maternus von Cilano (erschienen posthum in vier Bänden, Hamburg 1776) stammen, einem klassischen Handbuch der Altertümer, das unter anderem von Herder rezensiert und von Karl Philipp Moritz als eine der Hauptquellen für seine Anthusa genutzt wurde.33 Die zugrundeliegende Stelle bei Maternus findet sich ihrerseits in einer Fußnote. Sie lautet in ihrem Zusammenhang: Man stand damals in der Meynung, daß die Träume von den Göttern den Menschen zugeschicket, und in ihnen hervorgebracht würden. [Fußnote: Xenoph. de mag. Equit. offic. infine, p. 766] Ehe die Deutung und Auslegung der Träume geschehen konnte, mußten sie vorher erzählt und bekannt gemacht werden. Das that man entweder gegen die Götter selbst, denen man sie im Gebet vortrug; [Fußnote: Prpoert. lib. 2, Eleg. 29, a7, Sophocl. in Electra, v. 42 o sq. Cum ipsa Soli narraret somnium. Man erzählte aber gerne der Sonne die Träume, weil sie durch ihren Glanz alles Traurige derselben vertreiben könnte] oder gegen die Haruspices ...34

Drei Dinge fallen auf. Erstens: bereits im Exzerpt ist, wie später in den gedruckten Fassungen, die grammatikalische Bindung des »Traurigen« an die »Träume« getilgt; zweitens: das in Maternus’ Fußnote leitende Motiv der Traurigkeit tritt in der literarischen Verwendung Jean Pauls – zumindest an der Textoberfläche – nicht mehr in Erscheinung; und drittens: die antike Vorstellung von der Genese der Träume ist in der Traumvision in eine christlichen Vorstellungswelt übertragen, die in der Fußnote durch den Hinweis auf die Konfession der Fürstin eine zusätzliche Begründung erhält. Für all diese Abweichungen gibt es gute biographisch-zeitgeschichtliche Gründe, auf deren Spur jedoch aus der Ferne der zeitlichen Distanz zuweilen nur der Zufall führt. ––––––– 32

33

34

Jean Paul, Exzerpte. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.IIa, Bd.11 (1787), S.19, zit. nach der Online-Vorab-Publikation, hrsg. Sabine Straub, Monika Vince und Michael Will, unter Mitarbeit von Christian Ammon, Kai Büch und Barbara Krieger: http://www.uni-wuerzburg.de/germanistik/ neu/jp-arbeitsstelle/jpa_exz09.htm. Vgl. hierzu: Karl Philipp Moritz, Schriften zur Mythologie und Altertumskunde. Teil 1: Anthusa oder Roms Alterthümer, hrsg. von Yvonne Pauly. Tübingen 2005, S.364–371. D. Georg Christian Maternus von Cilano [...] ausführliche Abhandlung der römischen Alterthümer, Zweyter Theyl. Hamburg: Bohn 1776, S.177.

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Über die Biographie Schäfers war bisher kaum etwas bekannt, das über das Zeugnis der Korrespondenz Jean Pauls hinausgeht. In Jobst Christoph Ernst von Reiches Bayreuth wird er als ein »würdiger Mann« erwähnt, der sich »als ein Privatgelehrter« in der Stadt aufhalte und sich »mit der Erziehung zweyer ihm anvertrauten Kinder« befasse, die er (Reiche) jedoch nicht zu nennen wisse.35 Im wesentlichen gestützt auf den Jean-Paul-Briefwechsel, ging Berend noch davon aus, daß Schäfer mit seiner namentlich unbekannten Ehefrau und seiner »von ihm als Pflegetochter angenommenen Nichte Henriette (Jette), Tochter seines Schwagers Dr. Mayer in Wien [...], später verheiratete Braun [...]« im Freundeskreis Emanuels in Bayreuth lebte.36 Wie aus einer abschriftlich überlieferten Lebenserinnerung Jette Brauns hervorgeht, lagen die Verhältnisse jedoch anders. Sie schreibt: In Hanau lernte meine Mutter den edlen, auch unglücklichen Schäfer kennen und lieben. Unglückliche ketten sich ja so gerne aneinander. Wär er nicht zu arm und wäre ich nicht gewesen, würde meine Mutter sich schon damals ganz von meinem Vater getrennt haben. Ich kenne Schäfers frühere Schicksale nicht ganz. Nur daß er auch Bayer, auch Geistlicher war, weiß ich. Eine unglückliche Liebschaft mit einer jungen siebenbürgischen Gräfin, deren Familie sehr angesehen, und in deren Haus er Hofmeister war, zog ihm gefährliche Verfolgungen zu. Er kehrte in sein Vaterland zurück, wurde Illuminat und musste abermals fliehen. – Später wurde er Führer eines jungen russischen Fürsten ATTODUROFF [Vermutlich Basil d’Adodouroff, aus Petersburg, imm. Göttingen 25.4.1781]. Er begleitete ihn nach GÖTTINGEN und lernte dort EDUARD’S Vater, den Fürsten LICHNOWSKY, kennen. Mit seinen geringen Ersparnissen hätte er mit der guten Mutter nicht leben können, und mein Vater, der sich nach seiner Tochter und einer Haushälterin sehnte, schrieb uns dringend nach Wien zu kommen unter feierlichen Versprechungen des Geschehenen nie zu erwähnen. Es wurde also beschlossen mit mir und dem einjährigen kleinen FRITZ nach Wien zu gehen bis Schäfer im Stande wäre eine Frau zu nähren. Ich war damals im 8ten Jahre, und mit dieser Reise nach Wien endigt meine Kinderzeit und ein Leben beginnt voll äußern und in der Folge auch innern Widerspruchs. 37

Jette Braun zufolge war ihr Vater Dr. Mayer in Wien, ein entflohener Weltgeistlicher, nicht Schäfers Schwager, sondern der Ehemann von Schäfers Lebensgefährtin Henrietta geb. von Heeswick, mit der wiederum Schäfer ein uneheliches Kind hatte, den im Text erwähnten Fritz, der zusammen mit dem Prinzen Lichnowsky erzogen wurde. Jette Mayer war also nicht die Nichte Schäfers, sondern die Tochter seiner Geliebten Henrietta von Heeswick. ––––––– 35 36 37

J. C. E. von Reiche, Bayreuth. Bayreuth: Johann Andreas Lübecks Erben 1795, S.78. SW IV/2,415–416, Erläuterungen zu Nr.105. Die Abschrift befindet sich in Besitz von Prof. Dr. Peter Geck, Ruhla, dem an dieser Stelle für die Überlassung nochmals herzlich gedankt sei. Vgl. auch SW IV/2,537–538, Erläuterungen zu Nr.35.

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So wurde also in Jean Pauls nächstem Umfeld eine Lebensform praktiziert, die alle Züge des Skandalösen trug und dementsprechend geheim gehalten wurde. Schäfers Biographie liest sich dabei wie ein idealtypisches Diagramm, in dem der Prozeß einer Auflösung gesellschaftlicher Schranken verzeichnet ist. Der oben zitierte Hinweis der Gräfin Thürheim auf die Schlechtigkeit der Gesellschaft, in welcher der junge Lichnowsky nach ihrer Ansicht erzogen wurde, beruhte dabei vermutlich nicht allein auf den dubiosen Lebensumständen Schäfers, sondern wohl auch auf dessen Mitgliedschaft im radikal-aufklärerischen Geheimbund der Illuminaten, in dem er offenbar eine mittlere Position einnahm. Er trug dort den Ordensnamen »Prometheus«, der Fürst Lichnowsky wurde als »Maecenas« geführt. Aus dem Jahr 1784 ist ein Brief an Bode aus Schäfers Hand überliefert,38 in der Zeitschrift Asträa sind mehrere Schreiben von »Prometheus« aus dem Jahr 1782 gedruckt.39 Dies also war die gesellschaftlich und politisch durchaus vorbelastete »Gartenerde«, in die der fürstliche Zögling Schäfers, der Fußnote im »Traum im Traum« zufolge, versetzt wurde.40 Komplementär dazu wird die Übertragung des antiken Traum-Rituals in der Fußnote durch die Konfession der Fürstin vorbereitet; der Katholizismus bezeichnet die Muttererde des Standes, aus dem der Zögling stammt. Die antike Konstellation, derzufolge sich Träume einer göttlichen Inspiration verdanken, dabei aber der menschlichen Nacherzählung bedürfen, bleibt in Jean Pauls Dichtung auch nach der Übertragung in eine christliche Bildwelt erhalten. Im ersten Abschnitt der Vision wird eine als objektiv gekennzeichnete Totale entworfen, die jedoch ihrerseits von einem als subjektiv ausgezeichneten ersten Traumszenario überblendet wird. Der zweite Abschnitt beginnt daher ausdrücklich mit den Worten »mir träumte ...« und endet mit der Entkörperung des Ichs in der zweiten Welt: »ich war der zweiten Welt unsichtbar«.41 Objektiv im Subjektiven aber bleiben – im Sinne eines bestimmten, nämlich katholisch konnotierten kulturellen Codes – die Bilder, die nun folgen: das Bild der heiligen Jungfrau mit ihrem Sohn sowie deren Gespräch, das den Wunsch Marias offenbart, die Liebe der Menschen im Traum vorgeführt zu sehen. Der Wunsch ruft weitere vier Traumbilder auf den Plan, wird aber erst in der vierten Vision angemessen erfüllt. ––––––– 38 39

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H: GStA Berlin, 5.2.G.39, Johannisloge Ernst zum Kompaß. Vgl. Asträa. Taschenbuch für Freimaurer auf das Jahr 1859–1860, S.290–292 und S.297–298, vgl. auch SW IV/2, Erläuterung zu S.90,25–91,4. Die Hinweise auf die Asträa sowie auf den Brief Schäfers an Bode verdanke ich Reinhard Markner, Halle. Zu Schäfers retrospektiver Einschätzung der Geschichte des Illuminatenbundes vgl. seinen Brief an Jean Paul vom 28.7.1795, SW IV/2,88–91, Nr.46. Siebenkäs, 1.Aufl. [Anm.28], Bd.1, S.13, vgl. I/6,253–254.

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»warum lächelst du auf einmal so seelig, wie eine freudige Mutter, Maria?« Die Antwort gibt nicht Maria, sondern der Fragende (d.h. der traumverlorene Erzähler) selbst: du lächelst so seelig, weil du eine Mutter siehst und ihr Kind. Ist es nicht eine Mutter, die jetzt sich bückt und die Arme weit aufschließet und mit entzückter Stimme ruft: ›mein Kind, komm wieder an mein Herz?‹ – Ist es nicht ihr Kind, das unschuldig im brausenden Tempel des Frühlings neben seinem lehrenden Genius steht, und das der lächelnden Gestalt zuläuft, und das so früh beglückt und an das warme Herz voll Mutterliebe gezogen, ihre Laute nicht versteht: ›Du gutes Kind, wie freust du mich! Bist du den glücklich? liebst du mich denn? O sieh mich an, du Theurer, und lächle immer-immerfort.‹42

Gelesen als Schlüsseltext, bilden hier Mutter, Sohn und Erzieher eindeutig die Konstellation Fürstin – Schäfer – Eduard ab, wobei im Bild des Genius und seines Schülers natürlich zugleich Gustav und dessen Genius aus der Unsichtbaren Loge zitiert werden. Den »Zeugungs«-Moment der Dichtung beschreibt Jean Paul in einem Brief an Christian Otto, in dem er von seinem Bayreuth-Aufenthalt im Juni 1795 berichtet. In dieser Schilderung findet zunächst eine Art opernhafter Kulissenverwandlung in ein antikes Szenario statt, das jedoch von Jean Paul bald schon widerrufen wird, um einem gleichermaßen satirischen wie sozialhistorisch prägnant gezeichneten Tableau der Gegenwart zu weichen: Ich mus dich jezt ins Parterre der Pariser Oper stellen, damit du die grosse Wolke, die an durchsichtigen luftfärbigen Stricken ins Theater hereinhängt, ansehen kanst. Denn es steht eine Göttin im Gewölk, die es den Augenblik spalten und daraus auf die Bühne niederhüpfen wird. Da ist sie – es ist die Fürstin Lunovsky .... Nein, nein, ich wil mässiger erzählen und ich und du wollen die Göttin vom Theater weg in ein Ankleidezimmer führen und ihr da [...] nur soviel Kleider lassen als sie zu einer Frau braucht. Sie ist täglich bei Schäfer. Da ihr mein HESPERUS recht ist (sie lieset blos Engländer, weil sie einmal einen heirathen wolte; und es ist schade daß sie die deutsche Lektüre nicht aus demselben Grunde sucht): so wolte sie, als eine Gönnerin der Gelehrsamkeit, den Gelehrten vor sich hinhaben, der den Hesperus in den Himmel gesezt. Es that dem Gelehrten Schaden, daß die Gasse der Präsentierteller war, auf dem er ihr hingehalten wurde. Ich und Schäfer begegneten ihr. Was thats? Ich sezte mich am andern Morgen hin und verbrachte ihn himlisch mit ihr, indem ich nichts geringers zeugte als ein poetisches – zehn Seiten langes PUNCTUM SALIENS, das ihr nachmittags zum ewigen Gebrauch Schäfer überreichte. Die Bescheidenheit verbeut mir, dir die Art zu sagen, wie die hohe Person das PUNCTUM aufnahm. Nachmittags erschien der salirende Punkt-Macher selber und war bis abends mit diesem hohen Haupte und mit seinem kahlen unter Einer Stubendecke. Gestern gieng sie und

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Siebenkäs, 1.Aufl. [Anm.28], Bd.1, S.19–20, vgl. I/6,256–257.

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Schäfer und die 2 Kinder und die NIECE [...] 2 Stunden spazieren und PAUL wandelte mit [...] Sie kan sogar Latein und Zeichnen und andere Sprachen dazu (sogar die deutsche ohne Dialekt) und Klavier und – Stricken, war wie Archenholz in Italien und England und hat mehr Zurükhaltung und weniger Stolz als manche Bürgerliche.43

Während sich also hinter dem sich lichtenden Gewölke der Traumvision eine quasi-religiöse Szene offenbart, enthüllt der Brief hinter der als Zitat eingeflogenen Theaterwolke eine halb empfindsame, halb satirische Realitätsschilderung, in der jedoch das Skandalöse verschwiegen bzw. verschleiert wird: die falsche Nichte wird ja ausdrücklich – und genealogisch unrichtig – als »die Niece« bezeichnet. Die Briefpassage mündet schließlich in rhetorische Nutzanwendungsformeln in Blick auf das Leben und die Textwerkstatt: Der Nuzen, mit einer Fürstin umzugehen ist der, man fässet doch den Muth, mit ihren Kammerjungfern umzugehen. Ein Elend ists, daß ich nicht das Herz habe, ihr einige der besten ausgearbeiteten astronomischen Anspielungen ins Gesicht zu sagen: z.B. vom Durchgang der Venus durch die Sonne; vom Hesperus, der die Venus ist u.s.w.;44

die Vision im Siebenkäs hingegen endet in einer Art imaginärer Transitivität der Affekte, in der ein Erwachen das folgende nach sich zieht: Und auch mich erweckte die Entzückung; aber nichts war verschwunden, als das Gewitter: denn die Mutter, die im Traum das kindliche Herz an ihres gedrückt, lag noch auf der Erde in der schönen Umarmung – und Sie lieset diesen Traum und – verzeiht vielleicht dem Träumer der – Wahrheit.45

Weitere Schnittstellen zwischen Briefbericht und Traumdichtung lassen sich in den beiden handschriftlichen Vorfassungen der Vision, die sich im Nachlaß Jean Pauls erhalten haben, nachweisen.46 Die erste, noch stark skizzenhafte Fassung bricht (auf Blatt 2 verso) genau an der Stelle ab, an der – aus der Perspektive der biographischen Zeugnisse – die Darstellung der konkreten Konstellation in Bayreuth einsetzt. In der zweiten Fassung, die im Aufbau weitgehend der gedruckten entspricht, weist gerade der Schluß die auffälligsten Abweichungen zur Druckfassung auf. Vor allem sind dort noch die bio––––––– 43 44

45 46

SW III/2,94–95. SW III/2,95; das Versatzstück vom Durchgang der Venus durch die Sonne wurde später auch von Jean Pauls Freund Ahlefeldt in einen Brief eingebaut, freilich in Hinblick auf das Gasthaus Zur Sonne in Bayreuth (SW IV/2,362). Siebenkäs, 1.Aufl. [Anm.28], Bd.1, S.20, vgl. I/6,257. Jean Paul, Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz. XIV/5; vgl. Der handschriftliche Nachlaß Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, bearb. von Ralf Goebel unter Mitarbeit von Ralf Breslau, Teil 1: Faszikel I bis XV, Wiesbaden 2002, S.198.

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Jörg Paulus

graphischen Indices enthalten, die dann später in die Fußnote verwiesen wurden: Jean Paul spricht in dieser Handschrift noch von der »fürstlichen Mutter« bzw. der »Fürstmutter«. Von ihr heißt es: »[Sie] lag noch am Herzen Ihres Kindes u. – vergiebt vielleicht dem der d Gegenwart träumt.« Vor dem Hintergrund des Maternus-Exzerptes erhält der Begriff »Gegenwart« eine zusätzliche Dimension und verweist nun nicht mehr allein auf die Anwesenheit des Dichters (in Bayreuth), sondern auf die Gegenüberstellung von Altertum und Gegenwart. Die rätselhafte double-bind-Struktur der die Vision abschließenden Passagen: also das Nicht-Verstehen des Kindes, die insistierenden mütterlichen Fragen, der paradoxe Appell, die Wahrheit bzw. die geträumte Gegenwart zu verzeihen, werden aber auch dadurch nicht hinreichend erklärlich. Erst die Briefe Schäfers an Jean Paul lösen die widersprüchliche Apellstruktur auf: Einige Wochen nach der Begegnung, in deren Folge die Traumdichtung entstand, schreibt Schäfer über das Verhalten seines Zöglings bei der Abreise der Fürstin – und entwirft somit das realistische Gegenbild zu der in der Vision geschilderten Wiederbegegnung: Eduard hat sich bey der Abreise seiner Mutter nicht besser als bey ihrer Ankunft betragen: Sie fragte ihn in der letzten Stunde, ob er nicht mit ihr nach Wien reisen wollte? Er bestrafte diese unvorsichtige Frage mit einem eiskalten Nein; und nachdem der Reisewagen noch kaum drey Minuten vorgefahren war; fragte er sie, warum sie denn noch nicht gehe? u. dies in einem Ton, den ich ihnen nicht beschreiben kann; ich müste denn seine Worte in Musik setzen.47

Das Modell musikalisierter Wirklichkeit tritt hier, wie an entscheidenden Stellen auch in den Werken Jean Pauls, an die Stelle des Modells dargestellter Wirklichkeit, die sich in ihrer für alle Seiten schmerzlichen Traurigkeit der Beschreibung entzieht. Die versöhnliche Auflösung des Schmerzlichen scheint ebenso einer unausgesprochenen briefstellerischen Konvention zu folgen wie das Verschweigen des Skandalösen. Nach der Übersendung des Siebenkäs schreibt Schäfer an Jean Paul: Ich danke Ihnen, verehrtester Freund, für die Blumen u. Früchte, womit Sie mich beschenkten. Von Dornen ist mir im ganzen Buche nichts vorgekommen [...] Es hat mich u. mein gutes Weib über allen Ausdruck gefreut, daß Sie einen gewissen Traum, den Sie vor einigen Monaten hier verloren, wiedergefunden u. einer erkenntlichen Nachwelt zum Aufbewahren anvertraut haben.48

Verlust, Wiederfinden und Übertragung in die Bücherwelt markieren zugleich ein werkgenetisches Muster. Im Verlieren und Wiederfinden findet die ––––––– 47 48

SW IV/2,89–90, Nr.46. SW IV/2,145–146, Nr.73.

Gerüchteküche und Geistergesprächswerkstatt

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Idealisierung der Wahrheit bzw. der Gegenwart – um die Begriffe der beiden letzten Fassungen der Vision zu benutzen – statt. Schäfer unterzeichnet diesen Brief mit den Worten »Ihr dankbarer NARRATUS«. Das ist vielleicht als Reaktion darauf zu verstehen, daß Jean Paul in einer nicht erhaltenen Widmung sich selbst als Schäfers »Narrator« bezeichnet haben könnte. In einem höheren Sinne kontrasigniert Schäfer aber damit auch den Versuch einer idealisierenden Versöhnung der Konflikte, unter denen er im wirklichen Leben zu leiden hatte. Daß er dies auf Lateinisch tat, war wohlbegründet: hatte doch der gedruckte Traum für Schäfer in säkularisierter Form die von Maternus referierten Traum-Rituale der Römer wiederholt, zumindest jedenfalls deren Präliminarien: »Ehe die Deutung und Auslegung der Träume geschehen konnte, mußten sie vorher erzählt und bekannt gemacht werden.«

DOROTHEA BÖCK

PHANTASTISCHE EPISTEL-EXPERIMENTE Poetische Biographik im Umfeld Jean Pauls

Eduard Berend – so ist seinem Ende April 1914 gemeinsam mit Julius Petersen an die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften gerichteten Gesuch um »Unterstützung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werk« zu entnehmen – ging davon aus, daß Jean Paul das »Material« für seine ›Werke‹ im wesentlichen aus »3 verschiedenen Quellen« geschöpft habe: Zum einen aus der »Welt der Bücher«, wie insbesondere die Exzerptensammlungen des Dichters belegten. Zum anderen aus der »äusseren Welt (dem ›Buch der Natur und des Lebens‹)«, wie die Sammlungen von Darstellungs- und sprachlichem Material (Naturstudien, Zufälligkeiten, Torheiten, Namenssammlungen u.ä.) zeigten. Und zum dritten aus seiner »eigenen inneren Geisteswelt«, wie die Sammlungen eigener Ideen (Gedanken, Einfälle, Dichtungen, Bausteinchen, Erfindungsbücher etc.) dokumentierten. »Von diesen 3 Gruppen« im Nachlaß des Dichters überlieferter Materialien, so schon damals seine editorische Grundsatzentscheidung, käme »die erste für den Druck überhaupt nicht, die zweite höchstens in einzelnen Teilen in Betracht«. Die dritte Gruppe hingegen, »die in ihrer Gesamtheit einen Aphorismenschatz von unvergleichlicher Reichhaltigkeit« repräsentiere, erschien ihm als einzige »des vollständigen Abdrucks würdig«. Sei es doch »von grösstem Interesse, die Gedanken hier in ihrer ursprünglichen Form an ihrer ersten Stelle« kennenzulernen.1 Wir wären also mit dem textgenetischen Anspruch der Berendschen JeanPaul-Ausgabe konfrontiert und zugleich – wie schon die vorangegangenen Beiträge vor Augen geführt haben2 – mit einem Problem: dem der subjektiven bzw. historischen Bedingtheit wissenschaftlicher Standards selbst in ––––––– 1

2

Julius Petersen, Eduard Berend, Gesuch, die Unterstützung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken betreffend vom 22. April 1914, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812–1945, Deutsche Kommission, Jean-Paul-Ausgabe 1926–1944, 1946–1949, Sign. II–VIII,40, S.4–15. Vgl. hinsichtlich der von Berend als erste und dritte Nachlaßgruppe bezeichneten Quellenbestände die Beiträge von Michael Will, Barbara Hunfeld, Petra Zaus und Birgit Sick.

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Dorothea Böck

einer vermeintlich so exakten Disziplin wie der Editionsphilologie – und, was noch schwerer wiegt, den damit verbundenen Konsequenzen. Hier soll im folgenden näher auf den zweiten der von Berend genannten Quellenbestände eingegangen werden: die »äußere Welt« (speziell das »Buch des Lebens«) und deren Bedeutung für das ästhetische Schaffen Jean Pauls. – Genauer gesagt, auf die Tatsache, daß dieser so akribische Philologe eine der in diesem Zusammenhang wohl wichtigsten Quellen des Dichters außer Betracht gelassen und damit – wie zu zeigen sein wird – editorisch weit mehr als nur eine genetisch aufschlußreiche Komponente dieses Œuvres ausgeblendet hat. Die Rede ist von den im unmittelbaren Umfeld Jean Pauls gewechselten und als sogenanntes Archiv der Liebe3 in den Nachlässen des Richterschen Freundeskreises überlieferten Briefen.

I. Inzwischen mag es als Binsenwahrheit gelten, daß Jean Paul, dieser so oft zitierte und so selten gelesene Dichter, zu den Avantgardisten der literarischen Moderne in Deutschland gehört. Weitgehend unbekannt indes ist noch immer, daß jener Klassiker der ›Anti-Klassik‹ mit seiner ›Schreib-Art‹ viel von dem vorwegnimmt, was die moderne Unterhaltungsgesellschaft derzeit prägt. Mehr noch, daß wir es bei jenem angeblich so skurrilen »Achtzehnjahrhunderter« (Jean Paul) mit einem der Nestoren und frühesten Theoretiker unserer ganzen heutigen Medienkultur zu tun haben – und insofern mit einer gerade in Deutschland eher verdrängten aisthetischen Tradition.4 Das thematisch unter dem Stichwort ›Briefedition als Kommunikationsund Medienarchäologie‹ an der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität angesiedelte Projekt »Editorische Erschließung kultur- und ästhetikgeschichtlich relevanter Briefwechsel im Kontext der ›Briefe von und an Jean Paul‹« (Umkreisbriefe) zielt auf die Entdeckung eben jenes noch immer »ungesehenen« »Jean Paul der töne und träume«, auf den schon Stefan George vor nunmehr über hundert Jahren verwiesen hat.5

––––––– 3 4

5

So der im Freundeskreis gängige Terminus technicus – vgl. SW III/4,180,25, Nr.315. Vgl. Karlheinz Barck, Statt eines Nachwortes, in: Aistesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter. Leipzig 1990, S.460–467. So Stefan George in der Vorrede zur 2. Auflage des erstmals 1900 gemeinsam mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Stundenbuches fuer seine Verehrer.

Phantastische Epistel-Experimente

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Vorgesehen ist die Erarbeitung einer Hybridedition6 zweier Briefwechsel aus dem Richterschen Freundes- und Familienkreis: zum einen der Korrespondenz zwischen Jean Pauls Frau, Leopoldine Friederike Caroline Richter, ihrem Vater Johann Siegfried Wilhelm Mayer sowie den Schwestern Auguste Ernestine Mahlmann und Johanne Caroline Wilhelmine (Minna) Spazier, zum anderen des Briefwechsels zwischen Emanuel Osmund und Paul Emil Thieriot, zwei der engsten Freunde des Dichters. Selbst wenn sie auf den ersten Blick als solche daherkommen mögen (und immer wieder als solche verstanden oder auch mißverstanden worden sind), diese Korrespondenzen stellen alles andere dar als ›Briefe‹ oder auch biographische Dokumente im landläufigen Sinne. Wir haben es vielmehr – wie so oft im Umfeld Jean Pauls – mit ästhetischen Konstrukten zu tun, einer Art hochartifiziellem Zwitter- oder auch »Doppelwerk« (SW II/4,363, Nr.18), und insofern mit einem von der Forschung noch bis vor kurzem übersehenen einzigartigen Zeugnis romantischer Brief- und Geselligkeitskultur: Diese Briefwechsel gehören, wie zunächst noch einmal vergegenwärtigt werden soll, zum Grundstock eines von Jean Paul inspirierten epistolarischen ›Bureaus d’Esprit‹, das sein Zentrum in der ›sentimental(isch)en‹ Kunst- und Lebensphilosophie des Dichters hat und als Konstituens seines ›romantischen‹ Œuvres zu begreifen ist:7 Hierbei handelt es sich um die spezifische ›VerWirklichung‹ einer ›idée fixe‹ dieses romantischen Phantasten – der einer Gesellschaft von ›guten Freunden‹, die, statt Gespräche miteinander zu führen, Briefe wechseln, und zwar nach ganz bestimmten, von allen Beteiligten akzeptierten Konventionen (SW III/2,142,7–15). Die Anfänge dieses um den Dichter und seine spätere Frau konzentrierten ›Projekts‹ lassen sich bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts zurückver––––––– 6

7

Vgl. auch URL: http://www.jean-paul-edition.de/briefedition.html. Das von Wolfgang Adam geleitete Projekt wird von Dorothea Böck unter technischer Mitarbeit Max Windes erarbeitet. Vgl. hierzu ausführlich Dorothea Böck, »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (Novalis) – Zwischen realer und imaginärer Geselligkeit – Jean Pauls Epistel-Salon, in: JJPG 37 (2002), S.146–175, v.a. S.155–159 – auch: http://www.jeanpaul-edition.de/einfuehrung.html sowie dies., Autobiographische Schriften und Zeugnisse zur Biographie. Probleme ihrer Edition am Beispiel der Briefe an Jean Paul. Ein Werkstattbericht, in: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.–5. März 1994, autorund problembezogene Referate, hrsg. von Jochen Golz (Beiheft 7 zu editio). Tübingen 1995, S.304–320. – Vgl. weiterhin dies., Etwas über kaum bekannte Briefe oder: Wie Caroline Richter gegen ihre Poetisierung aufbegehrte, in: JJPG 26/27 (1992), S.258–276.

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folgen. Den eigentlichen Kern dieses ›Brief-Circels‹ bilden Jean Paul und dessen Intimi Christian Otto, Emanuel Osmund sowie Paul Emil Thieriot. Verglichen mit jenen zur selben Zeit in Weimar, Jena oder auch Berlin etablierten gesellschaftlich-literarischen Zirkeln ist nun von Belang, daß es sich bei dieser Form ›freier Geselligkeit‹ weniger um eine physisch ›reale‹ bzw. ›inter-personelle‹, als vielmehr um eine ›mediatisierte‹ und insofern imaginäre Form von Geselligkeit handelt. Dessen waren sich Jean Paul und die Protagonisten seines ›Epistel-Experiments‹ bewußt. Mehr noch, gerade in der Schriftlichkeit (Medialität) dieser Assoziation und der damit gegebenen Möglichkeit zur Kommunikation, Induktion und Potenzierung »vergeistigter Gefühle« (Jean Paul) – zur ›dialogischen Imagination‹ (Bachtin) – bestand für sie der eigentliche Reiz dieser ›Briefschaft‹. Ging es den Mitgliedern dieser Runde doch weniger darum, ihre Entfernung durch Briefe einander »süs zu machen« (SW II/3,319), mithin um ›imaginierte Geselligkeit‹, als vielmehr um die Stimulation von Einbildungskraft bzw. Imagination an sich, und zwar als Reflex eines anthropologischen Vermögens.8 Insofern gerät ––––––– 8

Wie im 18. Jahrhundert üblich, ging auch Jean Paul davon aus, daß dem Menschen ein gleichsam als natürlicher Trieb innewohnendes Bedürfnis nach metaphysischer Sinnprojektion eigen sei, ein ihm angeborener ›Sinn des Grenzenlosen‹ (»SehnSucht«). Besonders stark sah er diesen Sinn bei genialischen Menschen ausgeprägt, die er »hohe« oder »Festtagsmenschen« nannte. Organ dieses ›Sinns des Grenzenlosen‹, jenes ›sechsten‹ oder auch ›inneren‹, quasi ›Hyper-‹, ›Über-‹ oder ›SuperSinns‹, war die Einbildungskraft oder Phantasie als ›Supplement der Sinne‹ (Sulzer): als Supplement des Geruchs-, des Geschmacks-, des Gefühls-, des Gehörund des Gesichtssinns also. Im Unterschied zu jenen fünf Sinnen, die dem Menschen die ihn unmittelbar umgebende äußere Natur separat bzw. je diskret abspiegelten, stelle die Phantasie eine Art ›sensorium commune‹ dar, dessen Aufgabe es sei, der Seele Abwesendes zu vergegenwärtigen, all das also, was keine aktuale oder auch unmittelbare sinnliche oder körperliche Präsenz hatte. Das nun vollziehe sich, so Jean Paul explizit in seinem Anfang 1795 niedergeschriebenen Aufsatz Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, indem die Phantasie (von »unserem unbekannten Ich« gesteuert) die Sinne vergeistige – und zwar unisono sowie darüber hinaus in Raum und Zeit entgrenzt. Und eben hieraus, aus jener spezifischen Form der ›Vergeistigung der Sinne‹, ergäbe sich der ganz »eigene Reiz« jener ›viel-sinnigen‹ Phantasiebilder, das ›Schwimmend-Neblige‹, ›Ver-Klärte‹, Diffuse, Auratische, das ihnen anhaftete und das sie mehr erscheinen ließe, als das ›Ur-Bild‹, das sie vor-spiegelten. Es verleihe ihnen einen Nimbus des Ewigen, Unendlichen und Großen – mache sie zu Bildern der Hoffnungen und Wünsche (Idealisches, Himmel, Traum) – oder auch des Schreckens (Häßliches, Höllen, Angst). Auf alle Fälle zu etwas, das unsere Gegenwart steigere, erweitere, transzendiere. – Jean Paul führt verschiedene Exempel für diese Art von, wie er sagt, ,magischen Kunststücken‹ an. So z.B. ziehe das »Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, und das gelobte Land der Zukunft.« Oder aber Personen, die bloß auf dem Zauberboden der Phantasie stünden, insbesondere auf dem papiernen – etwa Tote, Abwesende, Unbekannte, die

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dieser ›Epistel-Salon‹ nicht nur zu einer »Spielform der Vergesellschaftung« (Simmel) schlechthin, sondern zu einer dezidiert medialen »Spielform der Vergesellschaftung« und damit – von Jean Paul nachweislich so intendiert (SW I/7,355,21–26) – zu einer ›Vorschule der Ästhetik‹ in dem von den Brüdern Schlegel charakterisierten Sinne.9 – Eine Tatsache, die Auswirkungen natürlich auch auf Charakter und Funktion der unter solchen Prämissen gewechselten ›Briefe‹ hat: Es erfolgt eine Ästhetisierung und insofern weitgehende Entpragmatisierung des Briefes als einer genuin im ›wirklichen‹ Leben verankerten literarischen Gebrauchsform und ihres primär informatorischen bzw. mimetischen Status. Diese Konstellation bringt es mit sich, daß der einzelne Brief zu einer Art ›Jeton‹ in einem mehr oder weniger direkt mit den authentischen Biographien der jeweiligen Protagonisten verknüpften Spiel in progress wird – und als solcher wiederum potentiell zum Strukturelement einer progredienten poetischen ›Originalgeschichte‹: eines ›wahren‹ romantischen ›Romans‹. Was im Richterschen Kreise geschah, war somit ein gleichsam fortwährendes ›Poetisieren‹ bzw. ›Sympoetisieren‹ – Resultat dieses quasi unendlichen Schreibens übers ›Leben und Reden‹ ist das ›verbriefte‹ Leben dieses romantischen Freundeskreises, eine Art ›CollektivSelberlebensbeschreibung‹, die von den Beteiligten von vornherein so begriffen, geschrieben, gelesen und immer wieder bzw. immer weiter gelesen worden ist – als phantastische Möglichkeit zur Erweiterung und Steigerung ihres Ichs. Von daher sind diese Korrespondenzen, wie mehr oder weniger alle seit Anfang der neunziger Jahre von Jean Paul (oder aber in seinem unmittelbaren Umfeld) produzierten Texte, sowohl als Element wie auch als Effekt eines Jahrzehnte andauernden, überaus raffinierten literarischen Großexperiments zu begreifen, eines ästhetischen Dauerabenteuers mit dem Leben als solchem, –––––––

9

Helden eines Romans oder auch die Verfasser bzw. die ›Akteure‹ eines Briefes – verklärten sich unbeschreiblich vor uns. All das erkläre, weshalb beispielsweise belesenen Stadtmädchen, die im Sommer aufs Land gingen, sämtliche Landleute als »wandelnde Geßnersche Idyllen-Ideale« erschienen. Oder auch umgekehrt diesen Landleuten die Stadtmädchen als Prinzessinnen. – Hierin, in diesen und anderen ›Zauberspiegeleien‹, bestand – sehr knapp gesagt – für Jean Paul das Wesen – oder auch die ›natürliche‹ Magie – der Einbildungskraft bzw. Phantasie, unserer, wie er sie nennt ›metamorphotischen Einbildung‹. – Vgl. SW I/5,185–195 (Über die natürliche Magie der Einbildungskraft) sowie ausführlicher zu diesem gesamten Komplex Böck, Der wahre Brief [Anm.7], v.a. S.164;167–169 sowie Koschorke, [Anm.10] sowie ders., Alphabetisation und Empfindsamkeit, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Jürgen Schings (DFG-Symposion 1992). Stuttgart 1994, S.605–628. Vgl. dazu ausführlicher Böck, Der wahre Brief [Anm.7], Anm.46.

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in dem der Dichter Jean Paul sein empirisches, sein ›wahres‹ Ich und die Geschichte seines authentischen Lebens zum Gegenstand und zur Projektionsfläche eines permanenten, multiperspektivischen phantastischen Reflektierens machte. In ihm präsentiert sich ein Schriftsteller, der angesichts jenes sich zum Ausgang des 18. Jahrhunderts vollziehenden gravierenden Umbruchs vom rhetorischen zum ›druck- und geldpapiernen Weltalter‹ (SW I/11,16,318)10 wie wohl kein zweiter seiner Zeitgenossen begriffen hatte, daß er ›Bürger zweier Welten‹ war: Bürger einer realen Welt des Lebens und Bürger einer imaginären Welt der Bücher – genauer gesagt: der virtuellen Welt des Mediums Schrift. Und hier zeigt sich ein Poet, dem es ein Faszinosum war, fortwährend beide Kulturen bzw. Welten miteinander zu verwirren, als eine Art Grenzgänger mit ihnen zu spielen. »Kein Deutscher Autor vor ihm«, so Kurt Wölfel, »hat die Aufhebung der realen Person in der Schrift gewordenen, imaginativen, so rückhaltlos betrieben, die Schein-Kongruenz beider ›Personen‹ so illudiert wie er«11 – eine Inszenierung, die Jean Paul bald schon vom Bereich der Literatur als Kunst im engeren Sinne (imaginäre Welt der Bücher) auch auf die reale, alltägliche Lebenswelt zu übertragen begann und in die er, wie nicht zuletzt das Epistelarchiv des Richterschen Freundeskreises zeigt, im Laufe der Zeit seine gesamte nähere und fernere Umgebung zu involvieren wußte, sei es nun aktiv (Schreiber/Korrespondenten) oder passiv (Leser), sei es in Form seiner handschriftlichen oder seiner druckschriftlichen Texte – oder auch beides, gleichsam im Wechselbezug. – All das nicht von ungefähr. Schon unter den frühesten der sein romantisches Schaffen begleitenden philosophisch-ästhetischen Reflexionen (um 1794) findet sich folgende überaus aufschlußreiche Notiz: »Wenn Sprache unsre erste Kultur ist, so ist Schreiben – diese Sprache der Sprache – die 2te in höherer Potenz« (SW II/7,61, Nr.188) – gleichsam ein Schlüsselsatz zum Verständnis von Jean Pauls Kunst- und Lebensphilosophie als einer ›Inaugural-Ästhetik‹ des Mediums Literatur. Wird hier doch, wie sein gesamtes Schaffen – vom Wutz bis hin zum Komet oder aber zu dem Konzept gebliebenen Papierdrachenprojekt – belegt, aphoristisch pointiert vorweggenommen, was Walter Benjamin – seinerseits ein hervorragender Jean-PaulKenner – rund 150 Jahre später, angesichts des Übergangs vom druckpapiernen zum multimedialen Weltalter, so formulierte: »Innerhalb großer ge––––––– 10

11

Vgl. auch Jochen Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt a.M. 2004 sowie unter anthropologischem bzw. medienästhetischem Aspekt Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Kurt Wölfel, Johann Paul Friedrich Richter. Leben, Werk, Wirkung, in: K.W., Jean Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M. 1989, S.10.

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schichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt –, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.«12

II. Der »Brief-Salon« des Richterschen Familien- und Freundeskreises ist nun bei weitem nicht das einzige in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von Jean Paul ins Leben gerufene phantastische Epistelprojekt. Schon im Vorfeld sowie in unmittelbarer Parallele zu jener von ihm inspirierten »Leihbibliothek von lauter Briefen« (SW I/7,355,22) und dem damit verbundenen Gruppenexperiment hatte der Dichter mit der Initiierung eines weiteren epistolarischen ästhetischen Vexierspiels begonnen, wie ein Blick auf die überkommenen Fragmente der Jean Pauschen literarischen (Auto-)Biographik deutlich macht. Diesem bisher eher peripher berührten Zusammenhang13 soll im folgenden ausführlicher nachgegangen werden. In seinem an den Jugendfreund Georg Christian Otto adressierten Brief vom 2. Oktober 1798 umreißt Jean Paul das in Aussicht genommene und auf eine Art aisthetischen Selbstversuch hinauslaufende biographische Projekt folgendermaßen: Er habe vor, zur Ostermesse 1799 »J.P. Briefe (fals ich diesen Schwanz nicht abhacke), ›samt einem kurzen Abris seiner zukünftigen Avantüren‹« herauszubringen, eine Konjektural-Biographie seines »zukünftigen Lebens in sogenannten poetischen Episteln« (SW I/7,356,4–5). »Die Idee«, so heißt es weiter, »ist neu. Ich beschreibe meine wahre künftige (muthmasliche) Geschichte, Heirath, Haushalt, Alter, Tod, als künftig, in Briefen an – dich.« – Der Freund, genauer gesagt dessen ›wahrer Name‹ – so erklärt er sein Verfahren weiter – sei ihm dabei ebenso »Mittel« zum poetischen Zweck wie sein eigenes ›wahres Ich‹. Und die Geschichte als solche wiederum, so fährt er erläuternd fort, sei vor allem insofern ›wahr‹, als er in diesem ›historischen Roman‹ seines ›künftigen Ichs‹, ja letztlich seine tatsächlichen »Entschlüsse und Wünsche« male (SW III/3,104,10–18, Nr.135). Otto, zu diesem Zeitpunkt anscheinend noch Jean Pauls einziger ›wahrer‹ Freund, der für ein epistolarisches Verwirrspiel wie dieses in Frage kam, ––––––– 12

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Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Lesezeichen. Leipzig 1970, S.379. – Vgl. in diesem Kontext auch [Anm.4]. Vgl. hierzu bisher Böck [Anm.7].

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willigt postwendend ein, indem er dem »geliebten Richter« in seinem Brief vom 14. Oktober 1798 ausdrücklich mitteilt, daß er »der stumme Korrespondent, an den du J. P. Briefe richten willst, gerne sein« wolle.14 Verglichen mit den bis dahin von Jean Paul verfaßten »romantischen Biographien« und »biographischen Belustigungen«15 aller Art haben wir es hier in der Tat mit einer neuen, der bisher praktizierten ›entgegengesetzten‹ (SW III/3,104,8, Nr.135) phantastischen Versuchsanordnung zu tun. Handelte es sich bei den vorangegangenen ›Romanen‹ im allgemeinen um im ›niederländischen‹, ›deutschen‹ oder auch ›italienischen‹ Stil16 verfaßte fiktiv-verfremdete und insofern romantisch »veredelte« – mehr oder weniger ›realistische‹ – Wunschbiographien17 seines authentischen ›Selbst‹, wird nunmehr das reziproke Verfahren erprobt: Der zu diesem Zeitpunkt fünfunddreißigjährige, ›reale‹ Dichter Johann Paul Friedrich Richter antizipiert eine vom fiktiven Verfasser »Fr. Richter«, »Fr. R.« oder auch »R.« erzählte fiktive ›romantische Biographie‹ seines künftigen authentischen (›wahren‹) Ichs, die mutmaßliche Lebensgeschichte seiner realen Person, und das – im Kontrast etwa zu der eher skurrilen Verfasserfiktion eines auf die Hundspostbriefe des sich Knef18 unterzeichnenden Korrespondenten angewiesenen Erzählers Jean Paul im Hesperus – in fingierten und vom fiktiven und zugleich realen Erzähler Jean Paul (J.P.)/Johann Paul Friedrich Richter herausgegebenen Briefen an seinen tatsächlich existierenden, gleichwohl zum fiktiven Adressaten und insofern »stummen Korrespondenten« – zur Charaktermaske – erklärten Freund Georg Christian Otto in Bayreuth. Im Unterschied zu den zwischen Jean Paul (1763–1825), Georg Christian Otto (1763–1828), Paul Emil Thieriot (1780–1831) oder auch Emanuel Osmund (1766–1842) gewechselten, die tatsächlich gelebte Gegenwart der Freunde dokumentierenden Briefen, handelt es sich bei Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf also um die Fiktion (bzw. fiktive Antizipation), und zwar vielfach gebrochen, eines solchen Freundesbriefwechsels sowie um die Verbriefung konjizierten Lebens, in diesem Falle des Dichters Jean Paul als authentischer Person. ––––––– 14 15

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H: z.Zt. Sammlung Autographa, Biblioteka Jagiellonska Krakau. Biographie, Lebensbeschreibung so ja in der Regel explizit auch der Titel oder der Untertitel der bis dahin verfaßten ›Romane‹, also der Unsichtbaren Loge, des Hesperus, des Siebenkäs, des Quintus Fixlein usw. Vgl. SW I/11,236–240,§72; SW I/5,4,22–34. Vgl. Pfotenhauer, [Anm.24], S.10, Nr.11. – In entsprechender ›Verkleidung‹ hatte Jean Paul ja auch schon unmittelbar zuvor sein ›künftiges‹ Leben konjiziert, so z.B. in den Palingenesien (1797/98) oder im Jubelsenior (1797). »Und Knef das ist der umgekehrte Fenk« (SW I/4,321,35.) – Schon an dieser Stelle erfolgte im übrigen die Ankündigung der »eigenen Lebensgeschichte« des Erzählers/Autors Jean Paul (SW I/4,322,Anm.1).

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Während nun, so das ästhetische Kalkül, bei den im ›Epistelsalon‹ der Freunde kursierenden ›wahren Briefen‹ (Novalis) davon auszugehen war, daß sich das ihnen (qua Genre) eigene (proto)poetische Potential im Laufe der Zeit sowie im Lichte ›romantischer‹ (sentimentalischer) Lektüren vermehrte,19 verfolgte das parallel installierte Epistelexperiment die entgegengesetzte Richtung, gleichsam den seitenverkehrten Zweck: Der möglichst realistische imaginäre Entwurf der Geschichte des eigenen Lebens – »insofern ich meine Entschlüsse und Wünsche male« (SW III/3,104,17, Nr.135) – , war im Endeffekt mit deren tatsächlichem ›künftigem‹ Verlauf zu konfrontieren. Auch hier ging es also um ein phantastisches Dauerabenteuer mit dem Leben als solchem – und (nicht nur mit Blick auf Tod und Teufel) um eine durchaus abgründige Herausforderung des Schicksals dazu. Aber »was mich am meisten beruhigt«, so die trotzige Selbstermunterung des Erzählers »Fr. Richter« gleich eingangs dieses konjekturalen Hasardspiels, »ist der neckende Hang, den ich öfters am Schicksale bemerkt, immer nach dem Szenenplan meiner fremden Geschichten meine eigne auszuschneiden und so, wenn andre mit der Wirklichkeit ihre Dichtkunst wässern, schöner jene mit dieser bei mir abzusüßen« (SW I/7,454,28–31). – Um so lakonischer sechs Jahre später der Ton, wenn der reale Jean Paul kurz vor dem Umzug nach Bayreuth – also mitten im ›fünften poetischen Kapitel‹ seines ›tatsächlichen‹ Lebens (Meine Hausvaterschaft – das Kinderkonzert) – selbstironisch verkünden kann: »Ich habe oft gesagt, meine Biographien kopierten nicht mein Leben, sondern dieses jene« (so am 21. Juli 1804 an Emanuel, SW III/4,304,21–22, Nr.486). – Äußerungen wie diese finden sich so oder ähnlich bekanntlich immer wieder in seinen Texten, zweifellos nicht ohne tieferen Sinn. Doch damit des biographischen Vexierens nicht genug, im Gegenteil. Wie aus Jean Pauls Brief an Otto vom 2. Oktober 1798 weiterhin hervorgeht, beabsichtigte er schon damals, »doch einmal« das entgegengesetzte Verfahren anzuwenden, nämlich sein »vergangnes Leben« (SW III/3,104,18, Nr.136) zu schreiben, und auch das zunächst in Form fiktiver Briefe an abwesende Freunde, seien es nun in der Ferne lebende wie Thieriot, oder aber tote, wie der 1803 verstorbene Herder (SW II/6,142, Nr.10).20 Es stand also von Anfang an fest, daß der Dichter Jean Paul seine Lebensgeschichte nicht nur prospektiv, sondern auch retrospektiv, aus dem entgegengesetzten Blickwin––––––– 19

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Vgl. hierzu ausführlicher Böck, Der wahre Brief [Anm.7], S.166–177, v.a. Anm.64 und Anm.66 sowie [Anm.8] sowie Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2000. Beide waren inzwischen als ›literarische‹ Personen in Jean Pauls Schriften eingegangen – vgl. auch SW II/6,11, Nr.29 (Abwesenheit der Freunde). – Später wurde statt der Brief- bekanntlich die Vorlesungsform gewählt.

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kel – ›gegenfüßlerisch‹ sozusagen – zu erzählen trachtete, und zwar, auch das war ja unausgesprochen klar, auf doppelte Weise: als ›magische‹ Reminiszenz21 (SW I/5,185–195) an das banale Exempel seines tatsächlich gelebten Lebens und damit zugleich als phantastische ›Gegenprobe‹ auf das imaginär konjizierte.22 »Johann (vulgo Jean) Paul Fr. Richters Leben bis zu dessen Abfassung «, so beispielsweise lautete ein Mitte 1806 in seinem Vita-Buch (SW II/6,697, Nr.141) festgehaltener Titelentwurf. Nach der phantastischen Expedition ins »gelobte« Reich der Zukunft, nun also die Rückkehr in »das alte Land der Vergangenheit« (SW II/6,710, Nr.234). Die praktische Umsetzung dieses Vorhabens erfolgte rund zwanzig Jahre später. In seiner posthum veröffentlichten Selberlebensbeschreibung erinnert sich der Mittfünfziger schreibend, somit ›herbstsehnsüchtig‹ verklärend, der wichtigsten Stationen seines authentisch gelebten – vergangenen – Lebens. Beginnend mit seiner Geburt am 21. März 1763 in Wunsiedel über die ›Kinder-Idyllen‹ in Joditz und die ›Knaben-Olympiaden‹ in Schwarzenbach bis hin zum ersten Abendmahl. Hier bricht Jean Pauls Selbstbiographie, die ja zugleich und vor allem auch eine Geschichte der Prägung und Ausbildung seiner poetischen, insofern also phantastischen und geistigen Individualität ist, ab – und damit sein im engeren Sinne biographischer Selbstversuch. Für weitere Stationen wie »Hof Gymnasium«, »Leipzig Student«, »Hof Kandidat« liegen detaillierte konzeptionelle Vorüberlegungen vor.23 Wie aus den von Berend abgedruckten Vorarbeiten sowie anderen, mittlerweile publizierten oder noch zu veröffentlichenden Gedanken- und Ideensammlungen hervorgeht,24 war freilich auch in diesem Falle längst an weitere Parallelisierungen und Brechungen gedacht. Demnach erwog Jean Paul eine ––––––– 21 22

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Vgl. SW III/8,135,1–3, Nr.208 sowie SW II/5,342–343, Nr.12. Darüber hinaus war das Ganze deutlich im Kontrast zu Goethes seit 1809 unter dem Titel Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit erscheinender Autobiographie konzipiert (Bd.2 1812, Bd.3 1814, Bd.4 1833) – vgl. Berliner Ausgabe, Berlin 1971, Bd.13, S.11. – »Mein Leben«, so Jean Paul über zwanzig Jahre später in seinen Merkblättern, »kann nur ich beschreiben, weil ich das Innere gebe; das von Göthe hätte ein Nebenherläufer beobachten und also mittheilen können« (SW II/6,245, Nr.75). Vgl. SW II/4,372–373 sowie zur Entstehungs- und Werkgeschichte (SW II/4, XVII–XXXIII). Vgl. neben den in Anm.23 angegebenen insbesondere die Komet-Studien und Bemerkungen über den Menschen (SW II/5), Gedanken-Hefte (SW II/8), und das Vita-Buch (SW II/6) Merkblätter und Studien zur Wochenschrift (SW II/6). – Vgl. auch Jean Paul, Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften, hrsg. von Helmut Pfotenhauer unter Mitarb. von Thomas Meißner. München 2004.

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Kontrastierung seiner erinnerten vergangenen Lebensgeschichte mit einem die unmittelbare Schreib-Gegenwart des Dichters thematisierenden biographischen Projekt. Auch das, interessanterweise, in Bezug zu seiner tatsächlichen Korrespondenz bzw. unter Rückgriff auf die in seinen ›Epistelarchiven‹ deponierten Briefe. In den Merkblättern von 1820 beispielsweise heißt es: »Zwei Biographien, die vergangne und die gegenwärtige, Titel: Mein Bestes und Letztes p. Wahre Auszüge aus meinen Briefen.« (SW II/6,258, Nr.14). Schon unter den ersten Einträgen (SW II/6,681, Nr.22) des 1804 begonnenen Vita-Buches findet sich eine Bemerkung wie diese: »Mach’ es in Briefen, wo du neben der Gegenwart die Vergangenheit beschreibst.« Wenig später notierte er: »Mein Leben bis auf das Jahr, wo ichs beschreibe« (SW II/6,686,62b). – Ob damit die Ende der neunziger Jahre erschienene Konjekturalbiographie oder aber die retrospektive Selberlebensbeschreibung gemeint ist, bleibt unklar. Darüber hinaus, auch daran sei hier erinnert, war an eine wechselreflexive »Zusammenschweissung« (SW II/4,363, Nr.18) der Selblebensbeschreibung mit dem Komet und somit an eine Verbindung des ›realistischen‹ mit dem ›fiktiven‹ (romantischen) Biographienprojekt unter retrospektivem Vorzeichen gedacht: Im Falle der Selberlebensbeschreibung als elegische Reminiszenz an Jean Pauls wirkliche (bzw. konjizierte) – im Falle des Komet als ›realistisch unterlegte‹ und insofern komische Parodie der ›ersehnten‹ romantischen (fiktiven) Lebensgeschichte(n) der neunziger Jahre: »Mein Leben sammt einem Roman. Ich und der Apotheker« (SW II/4,377, Nr.2) oder wie es in einer anderen Notiz in den Vorarbeiten heißt »Wahrheit aus meinem Leben; durchmischt von der Geschichte des Apothekers Marggraf« (SW II/4,378), jener in ihrer Wahrnehmung der Realität (erste Welt) in der Art des Don Quichote ›ver-rückten‹ Hauptgestalt des Romans. Keines dieser Vorhaben, sei es nun einzeln oder als »Doppelwerk« (SW II/4,363, Nr.18) kam bekanntlich jemals praktisch zum Abschluß bzw. zur Ausführung.25 Entsprechendes gilt für die im Kontext des sogenannten Papierdrachen- oder auch Wochenschriftenprojektes verfolgten umfangreichen und weitgreifenden Pläne zur Fortsetzung und Ausweitung wiederum auch dieser phantastischen Konstellation. Denn offensichtlich beabsichtigte Jean Paul, wie aus diversen Vorarbeiten und Notizen hervorgeht, ja nicht nur eine Zusammenführung seiner ›biographischen‹ (›Wahrheit‹) mit den im eigentlichen Sinne ›romantischen‹ phantastischen Biographien (›Dichtung‹) – quasi als »Dichtung der Wahrheit oder Wahrheit der Dichtung« (SW II/8,724,6) –, sondern strebte darüber hinaus an, sämtliche dieser ästhetisch multi––––––– 25

Auch der noch zu Lebzeiten Jean Pauls publizierte Komet (1820/22) blieb ja Fragment.

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perspektivisch gebrochenen, kongruenten oder auch schein-kongruenten ›Teilprojekte‹ in einer imaginär wie medial universellen Totale aufzuheben. Darauf deutet neben vielen anderen Indizien beispielsweise ein Titelentwurf wie »Richters Leben; und Papierdrache oder die blätterbringende Gesellschaft« (SW II/6,537, Nr.24[74]) hin. Vorgesehen war allem Anschein nach eine Art Universal-Roman, gleichsam ein »centralisierndes Organ« (Prutz) der (noch) zu veröffentlichenden Jean Paulschen »Poesie in Prose«26 in dem prinzipiell alle (!) »Formen liegen und klappern« (SW I/11,232) konnten, eine in jeder Hinsicht offene, in sich komplex verquickte Collage aus Selberlebensbeschreibung, fiktiver RomanBiographie, »Fortsetzung meines Tagebuchs, Briefe an Oertel p.« (SW II/6,511, Nr.27) und weiterer vermischter Schriften aller möglichen Genres, die am Ende als »fest zusammengeleimter und langschwänziger Papierdrache« während der »Zahlwoche« der Leipziger Messe in den gedruckten Bücher-Himmel aufsteigen würde (SW I/10,474,13–14). Das Ganze, sozusagen ein ›privates‹ druckpapiernes Hyper-Text-Werk27 oder auch ›Hand-SchriftenWarenlager‹ (Stichwort: Schublade – SW II/6,514, Nr.65), sollte fiktiv als Wochenschrift (SW I/16,455–457) in Form und Gestalt der damals gängigen literarischen Tagblätter, Taschenbücher und Almanache als Unterhaltungsmagazin tatsächlich periodisch, also in Serie, erscheinen und wäre – ähnlich dem Katzenberger oder den mehr oder weniger zeitgleich publizierten Bänden der Herbstblumine und des Museums – nicht zuletzt insofern, als Reflex auf jenen seit Beginn des hier verfolgten ›Experiments‹ (um 1800) geradezu rasant vonstatten gegangenen kulturellen Transformationsprozesses zu betrachten,28 der als Literarisierung des gesamten Lebens und damit als Beginn

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So Herders Charakteristik des Romans in den Humanitätsbriefen – vgl. auch SW I/11,232–253. Vgl. zu diesem Kontext auch Michael Will, Der elektronische Drache: Jean Paul digital, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V.14 (2002), S.133–151. Vgl. hierzu ausführlicher Dorothea Böck, Archäologie in der Wüste. Jean Paul und das »Biedermeier« – eine Provokation für das Fach (ante portas), in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat u. Mitarb. von Ursula Menzel. Berlin 1997, S.255–269 und dies., Im Schatten großer Namen. Über Tagblätter, Taschenbücher und Almanache oder die vergessene Karriere der Minna Sp., in: JJPG 39 (2004), S.141–164 sowie dies., Die Taschenbibliothek oder Jean Pauls Verfahren, das »Bücher-All« zu destillieren, in: Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, hrsg. von Inge Münz-Koenen und Wolfgang Schäffner. Berlin 2002, S.18–40.

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des Zeitalters der medialen Massenkommunikation (›literarisches Biedermeier‹) zu begreifen ist.29 Auch hier ging es also um die Ästhetisierung bzw. Entpragmatisierung einer literarischen Gebrauchsform und ihres primär informatorischen bzw. mimetischen Status, diesmal des Journals, als eines im Unterschied zum eher privat-intimen handgeschriebenen Original-Brief à priori öffentlichen, weil gedruckten und insofern in Kopie (je nach Auflagenhöhe) vorliegenden Periodikums.30 Auch in diesem Falle hätte der eigentliche Effekt in der Hybridisierung, der wechselseitigen Vermischung und Durchdringung der imaginären mit der realen Welt bestanden: gegenüber den Jean Paulschen Epistelexperimenten nunmehr freilich in Form des Schrift gewordenen ›imaginativen Lebens‹ bzw. der verschriftlichten ›imaginären (geistigen) Welt‹ des Autors Jean Paul mit der virtuellen Realität inzwischen des Massenmediums Schrift als universeller Hyper-Textur – dem »Bücher-All« (SW I/16,421,30) bzw. der zweiten Kultur (Jean Paul) im Stadium ihrer damaligen weltliterarischen Entfaltung:31 »Durch die Wochenschrift steht mir das ganze Reich der neueren Literatur und meiner – Exzerpten und Einfälle und Merkworte offen« (SW II/6,523, Nr.143) – »bringe Urtheile unter Namens Aufschrift wie: Swift, Herder aus den ›Gedankenbüchern‹« (SW II/6,228, Nr.25). – Und auch all das ›natürlich‹ unter dem Vorzeichen des Phantastischen. – Die Bezüge zur Fibelei seines der vorhandenen Buchwelt den eigenen Namen aufs Titelblatt setzenden phantastischen Vor- und Doppelgängers (1812) sind mit Händen zu greifen.32 Doch zurück zur Selberlebensbeschreibung des ›realen Lebens‹. Jean Paul selbst erklärt sich den Abbruch jener poetischen »Aussicht aus dem Kranken––––––– 29

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Und von Jean Paul selbst frühzeitig und intensiv so reflektiert wurde, wie nicht zuletzt aus seinem Ueber Tagblätter und Taschenbücher überschriebenen ironischen Resümee dieser Entwicklung, und damit indirekt seiner eigenen Papierdrachenaktivitäten, in der 1825, kurz vor seinem Tode, erschienenen Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule hervorgeht (I/16,455–457) – Auch das Papierdrachenmotiv in obigem Sinne taucht bereits früh auf (SW I/8,230,20). – Vgl. zum Gesamtkontext SW I/15,V–LXVI, [Anm.22] sowie Jean Pauls Charakteristik dieses Projekts (SW I/18,379–380). Vgl. im hier erörterten Gesamtkontext Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, [Anm.12], 373–402. Vgl. auch Hendrik Birus, Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung, in: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hrsg. von Manfred Schmeling, Würzburg 1995, S.5–28, desgl. in: goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/birus_weltliteratur.pdf (15.12.2005). Vgl. hierzu explizit Helmut Pfotenhauer, Bücherbiographie, in diesem Band sowie zum Gesamtkontext ders., Das Leben beschreiben – das Leben erschreiben, [Anm.24], S.462–489 sowie SW I/13,3–68.

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zimmer des Lebens« a parte post (SW II/8,176, Nr.320) sowie das Scheitern weiterer in diesem Kontext konzipierter Folge- und Begleitprojekte folgendermaßen: »Ich bin durch die Romane ans Lügen so gewöhnt, daß ich lieber ein poetisches [aus falsches] Leben beschriebe als ein solches [aus wahres], wo [man] auch nicht Ein Wort [aus kein] erdichten soll, was [wol] hart ist« (SW II/4,364, Nr.36). An anderer Stelle heißt es: »Gerade was andern die Sache erleichtert, der vorliegende Erzählstoff, beschränkt mich, meine DichtFreiheit geht verloren. Ich kann durchaus keine Freude an reinem Erzählen finden. Beispiele die Briefe an meine Freunde« (SW II/4,365, Nr.53). Oder: »Ich bin eben nicht fertig und erschöpft durch meine Darstellungen und habe immer etwas Freieres voraus als mein Leben geben kann« (SW II/4,365, Nr.54). – Es sei dahingestellt, inwieweit diese Argumente zutreffen oder auch nicht. Fest steht jedenfalls: auch dieses erzählerische (Teil-)Projekt (einschließlich möglicher Filiationen), wie so viele andere des Dichters auch, ist Fragment geblieben. Jean Pauls ›Buch des Lebens‹ freilich war damit noch längst nicht beschlossen: Denn der eigentliche, nämlich in der ›ersten hiesigen Welt‹ angesiedelte ›aisthetische Selbst- und Dauerversuch‹ des Dichters und seines in der Zwischenzeit nicht nur fiktiv, sondern auch real in dieses Projekt involvierten Freundeskreises ging ja weiter, wie eh und je, über Jahrzehnte, und folglich das epistolarische Schreiben übers ›Leben, Reden und Schreiben‹, das eigene wie dasjenige der Freunde, zumindest bis zu Jean Pauls Tod – und, wie zu zeigen sein wird, weit darüber hinaus. So mag am Ende zwar keine Autobiographie aus der Feder des Dichters überliefert sein, »Johann (vulgo Jean) Paul Fr. Richters Leben« indes, wurde gleichwohl geschrieben, und auch in diesem Falle – weil von ›Natur‹ her für Experimente dieser Art phantastisch prädestiniert – in Form von Briefen: nämlich in Gestalt all der zahllos im Richterschen Freundeskreis gewechselten und als Archiv der Liebe nicht von ungefähr so sorgsam gehüteten ›poetischen Episteln‹ (SW II/8,798, Nr.34).33 Hier nun schließt sich – zumindest vorerst – der Kreis. Denn auch dieses Projekt, eine Biographie aus der Optik der Freunde, wir ahnen es längst, war von Beginn an so geplant und bedacht – wie ja schon in der mit Ich als literarischer Jubilar – und als Greis überschriebenen sechsten poetischen Epistel von Jean Pauls 1799 erschienener Konjektural-Biographie, Schwarz auf Weiß, nachzulesen ist: ––––––– 33

»Extrahiere das Geistige aus deinen Briefen mit Namen und sage, wer das Übrige will, kann auf meinen Tod und auf meine Korrespon[denz] warten«, so schon Jean Paul im Dezember 1807 (SW II/6,712).

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Alle Glieder veralten am Menschen, aber doch nicht das Herz. Mit jedem Jahr werd’ ich meines jünger und weicher schreiben. Wenn ich Jünglinge sehe, werden sie mich so gut wie jetzt die Kinder mit ihren Rosenfesten laben, und ich werde ihnen zurufen: ›o feiert sie nur recht hinaus, bis der Morgenstern am Himmel steht, aber erhitzt und erkältet euch nicht!‹ – Und meine guten Jugendfreunde, die mit mir denselben Blumengarten des Lebens gemeinschaftlich bewohnet haben, ach wie können sie mir in der kalten Jahrszeit im Garten, wo schon mancher unter seinem Beete liegt, begegnen, ebenso gebückt von der Zeit wie ich, ohne daß mich diese zurückgebliebnen Frühlinge meines Daseins bis tief ins Herz erleuchten und erwärmen? – Und an Frühlingstagen und an Geburtstagen will ich den Mumienkasten öffnen und die alten Briefe und meine Antworten lesen, und mein ganzes Herz wird sich jugendlich erfüllen, und ich werde mit nassen Augen sagen: hab’ ich nicht eine ganze Ewigkeit vor mir zur Liebe? (SW I/7,498,3–18).

»Man müste von sich 2 oder 3 widersprechende Selbstbiographien schreiben, um eine 4te rechte zu machen« (SW II/8,195, Nr.521), »Meine richtigste Biographie wäre 1) von einem Freunde, 2) von einem Feinde 3) von mir 4) von einem Mittler« (SW II/8,667, Nr.242[244]), »Mach’ es in Briefen, wo du neben der Gegenwart die Vergangenheit beschreibst« (SW II/6,681, Nr.22) – Maximen und Reflexionen Jean Pauls dieser Art sind Legion. Spiegelungen, Beobachtungen, Brechungen des empirischen Ichs ohne Ende, förmlich ein ganzes Kabinett sich ins Unendliche fort- und weiterspiegelnder Spiegelbilder, fürchterlich und berauschend zugleich, in der Tat zum Tollwerden – und ja in eben dieser Konnotation immer wieder von Jean Paul thematisiert: geradezu klassisch in der Gestalt des bei seinem Anblick im Spiegel wahnsinnig werdenden Fichtianers Schoppe in dem zwischen Juni 1797 und Dezember 1802 ausgearbeiteten Titan, seinem »Kardinalroman«.34 Aber selbst angesichts solcher ›Tollheit‹ – der Ver–Rücktheiten noch immer nicht genug. Denn die von Jean Paul inszenierten poetischen ›Avantüren‹ mit dem Leben als solchem dauerten fort, und zwar weit über das Leben – und damit den Tod – des am 14. November 1825 verstorbenen Dichters hinaus, wie die von den Freunden und der Richterschen Familie posthum veröffentlichten Jeanpauliana auf eindrucksvolle Weise belegen. Das gilt zum einen für die von Georg Christian Otto, dem ältesten und engsten der Freunde, unter dem Titel Wahrheit aus Jean Paul’s Leben publi––––––– 34

›Gedanken‹ wie diese tauchen bereits Mitte der achtziger Jahre auf. So z.B. gehörte es zu den Lieblingsvorstellungen des gerade Zwanzigjährigen, einen »Roman von meinem künftigen Schicksal« zu schreiben (SW I/7,XXXVII) oder aber die Welt und sich selbst aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet zu sehen (SW II/2,396–400; SW II/3,63–65). – Auf diesen bezogen auf das Werk Jean Pauls, aber auch in philosophischer Hinsicht überaus relevanten Themenkomplex kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, schon gar nicht auf das auch persönlich überaus spannende Verhältnis zwischen Jean Paul und Fichte.

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zierte Biographie. Auch dieses zwischen 1826 und 1833 in acht Bänden erschienene Werk, eine Collage aus der Fragment gebliebenen Selberlebensbeschreibung, Briefen, Gedanken, Tagebucheinträgen und anderen »Actenstücken« des romantischen Phantasten, ist, was bisher so nicht thematisiert wurde, als Respons auf die Ende der neunziger Jahre entstandene Konjekturalbiographie und das damit eröffnete poetische Vexierspiel zu begreifen – und als deren retrospektive ›Konjektur‹ (Lesart) dazu: als gleichsam postmortale Antwort und insofern Gegenprobe a porte post auf das antizipatorische biographische Epistelexperiment a parte ante von einst. Gegenüber der von Jean Paul verfaßten (fragmentarischen) Selberlebensbeschreibung handelt es sich hier um eine aus der Sicht des – ihn als biographischer »Nebenherläufer« von Jugend an ›wirklich‹ beobachtenden – Freundes mitgeteilte Lebensgeschichte des ›wahren‹ Dichters (SW II/6,245, Nr.75) – und auch das wiederum in doppelter, ja mehrfacher Hinsicht, und auch das so gewollt und kalkuliert (SW II/8,667, Nr.342[244]): Der ehedem fiktive Adressat (und Freund) der imaginierten ›realistischen‹ Lebensgeschichte Jean Pauls legt nunmehr die ihm einst zugedachte ›Charaktermaske‹ ab und tritt als ›wahrer‹ Freund des Schriftstellers in Erscheinung, indem er aus dessen nachgelassen biographischen Fragmenten und anderen Konjektaneen (GedankenSammlungen)35 rückblickend nunmehr eine von ihm, Georg Christian Otto als realer Person, kommentierte und ergänzte (mit Konjekturen versehene) Lebensgeschichte des inzwischen Verstorbenen herausgibt – und damit dem berühmten Dichter (wie sich selbst, als Teil dieser ›Historie‹) zu einem weiteren, diesmal in stattlicher Auflage bei Josef Max in Breslau gedrucktem und insofern ›ewigem‹ poetischen Leben verhilft. (Daß das Werk nach Ottos Tod im Jahre 1828 von Jean Pauls Schwiegersohn Ernst Förster – zudem unter maßgeblicher Regie Caroline Richters – zu Ende gebracht wurde, ändert an der Grundkonstellation nichts, eher im Gegenteil). Entsprechendes gilt für die nach Jean Pauls Ableben zustande gekommenen Briefausgaben: Zum einen die von Georg Christian Otto (unter reger Mitarbeit seiner Frau Amöne, einer der engsten Jugendfreundinnen des Dichters) in vier Bänden herausgebrachten Briefwechsel mit dem Dichter (1829– 1833). Zum anderen die von Ernst Förster (ebenfalls unter der Regie von Caroline Richter) herausgegebene Auswahl von Briefwechseln Jean Pauls ––––––– 35

Eines der Notate im Merkblatt von 1820 lautet: »Versprich und gib nur Fragmente deiner Geschichte« (SW II/6,254, Nr.37), was ja auch hieße, daß ›editorische Konjekturen‹ wie die von Otto vorgenommenen (und aus Sicht heutiger Editoren beklagten) durchaus dem ›poetischen‹ bzw. ›sym-poetischen‹ Selbstverständnis des Freundeskreises entsprachen.

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mit engsten Freunden und Freundinnen sowie anderen ihm wichtigen Personen, die anläßlich seines einhundertsten Geburtstages unter dem Titel Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter (in vier Bänden) erschienen ist. Und zum dritten ein von Emanuel Osmund ins Auge gefaßtes, wenngleich niemals realisiertes Briefprojekt36 sowie die von ihm nachdrücklich beförderte Edition seines Briefwechsels mit Thieriot durch dessen Schüler, den Juristen Franz Arnold Maria von Worringen.37 – Auch diese Unternehmungen, so Emanuel Osmund diesbezüglich am 27. April 1828 an Cotta, waren zutiefst in Jean Pauls »Geiste«, auch sie erfüllten treulich sein poetisches Vermächtnis.38 Denn die Veröffentlichung der in den »Mumienkästen« des Freundeskreises eingeschreinten Briefe bedeutete ja nicht den Abschluß, sondern – wie schon in der Konjekturalbiographie vorweggenommen, ganz nach Jean Pauls »Willen« – die Palingenesie des dreißig Jahre zuvor begonnenen biographischen Epistelexperiments (SW I/7,498,3–18) – diesmal freilich in gedruckter Fassung: Das phantastische Spiel war auf Dauer gestellt und konnte aufs neue beginnen, nunmehr im Kopf des Lesers – quasi in dritter, vierter, fünfter [...], und wenn man so will, in unendlicher Potenz. »Ich lese«, so Jean Paul schon 1806, »oft ein Buch von mir im Namen A’s – dann wieder im Namen B’s – jedes Mal wird das Buch anders und ich.« (SW II/8,536, Nr.680[360]) Seien es nun die biographischen Vexierspiele des Dichters, egal ob ausgeführt oder auch nicht. Sei es das ›Collectivselberlebensexperiment‹ des Jean Paulschen Freundes- und Familienkreises, egal ob zu Lebzeiten des Dichters oder danach. – Hier wie da, so das Fazit, ging es um den rastlosen Wechsel zwischen Kunst und Leben, Raum und Zeit, Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit, ja Leben und Tod. Hier wie da ging es – geradezu obsessiv – um andauernde Verdoppelungen, fortgesetzte Verwandlungen und unendliche Spiegelungen des empirischen, letztlich ›wutzigen‹ Ichs. – Indes nicht als Selbstzweck, sondern um des Rausches willen – den aus den tanszendierenden Spielereien der Sehnsucht gewonnenen phantastischen sinnlichen Genuß:39 »Ich kenne aus eigner Erfahrung die pikante Süssigkeit dieser Doppel––––––– 36 37

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Entsprechende Absichtserklärungen begegnen immer wieder. Auch der 1833 von Abraham Voß herausgegebene Briefwechsel zwischen Heinrich Voß und Jean Paul gehört in diesen Zusammenhang, in gewisser Weise auch Richard Otto Spaziers Jean Paul Friedrich Richter. Ein biographischer Commentar zu dessen Werken. 5 Bde. 1833. H: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv – vgl. auch Böck, Autobiographische Schriften [Anm.7], S.313–314. Vgl. SW II/8,670-673,Nr.263[465];Nr.270[472];275[478];280[483].

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rolle, worin man sein Leben zugleich spielt, lebt und parodiert« (Jean Paul am 17. Januar 1801 an den Freund Paul Emil Thieriot – SW III/4,39). Subjektivierung, Sublimierung, Potenzierung, Transzendierung von ›Natur‹ – »schöne (geistige) Nachahmung« (SW I/11,21) – darin, so in der dieses ›Praxisexperiment‹ theoretisch resümierenden Vorschule der Ästhetik (1804/ 1813) nachzulesen, bestand schließlich das Wesen der Poesie – und womöglich der eigentliche Sinn des Lebens – zumindest für den Schriftsteller Jean Paul und seinen romantischen Freundes-Kreis.

III. Diese dezidiert rhetorisch-anthropologische bzw. kommunikations-ästhetische Fundierung des Jean Paulschen ›Epistolars‹ – als Konstituante des Œuvres dieses Poeten – ist offensichtlich nicht nur von Berend, sondern generell bis vor kurzem übersehen worden40 – und damit die nicht nur ein traditionelles Verständnis von ›Werk‹ und ›Autor‹, sondern das Medium Schrift als solches transzendierenden Dimensionen der Jean Paulschen Poetik als einer Medienästhetik par excellence.41 – Wie gezeigt, nicht ohne Grund. Kann doch der spezifisch aisthetische – oder auch (proto)poetische – Aspekt jenes ›Briefschatzes‹ überhaupt erst als solcher greif- und begreifbar werden, wenn man erstens die im Umfeld Jean Pauls gewechselten Briefe überhaupt, und zwar in ihrer Gesamtheit, ins Blickfeld nimmt, sowie zweitens wenn man diese Briefe tatsächlich als das betrachtet und untersucht, was sie als ›Briefe‹ – von ihrem Informationsgehalt einmal abgesehen – ja quasi a priori auch sind: im Medium Schrift (in diesem Falle vielschichtig und vielstimmig) realisierte Kommunikation von ›vergeistigten Gefühlen‹ zwischen Abwesenden. Außer den in diesem Kontext relevanten (in den Abteilungen III und IV der historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe publizierten bzw. zu publizierenden) Briefen von und an Jean Paul bzw. Caroline Richter haben sich noch zwei weitere zum unmittelbaren Kernbestand dieses Epistelarchivs42 gehörende Korrespondenzen erhalten – eben jene beiden Freundes- und Familien––––––– 40

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Vgl. hierzu ausführlich Böck, Der wahre Brief [Anm.7], S.146–152. – Sowie Sabine Eickenrodts Rezension der soeben erschienenen beiden ersten Bände der Briefe an Jean Paul – dies. in: JJPG 40 (2005), S.187–199, hier v.a. S.189. Vgl. diesbezüglich instruktiv den Artikel Ästhetik/ästhetisch in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u.a. Bd.1. Stuttgart/Weimar 2000, v.a. S.317–342. Vgl. hierzu ausführlicher Böck, Autobiographische Schriften [Anm.7], Anm.22 und Anm.42.

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briefwechsel (Abteilung V, Lebenszeugnisse und Zeugnisse zur Biographie), die gegenwärtig an der Universität Magdeburg auf der Basis eines von der Vf. in enger Kooperation mit dem Informatiker Max Winde entwickelten digitalen editorischen Gesamtkonzepts (›Editionsgrundsätze digital‹) erschlossen werden. Es ist vorgesehen, diese seit dem Frühjahr 2002 von der DFG geförderte Ausgabe sowohl als Buch- wie auch als Internetversion zu veröffentlichen (Hybridedition). Während die Buchfassung43 sich auch an ein breiteres kulturhistorisch interessiertes Publikum wendet, hat die – beide Briefwechsel integrierende – Digitalfassung den Charakter einer mehr für Spezialisten bestimmten ›Forschungs-Version‹. Sie unterscheidet sich von der Buchausgabe nicht nur durch übergreifende Such- und Recherchemöglichkeiten, sondern ebenso durch die Art und den Umfang, in der sie die Briefwechsel ergänzende und kommentierende Kontext- und Quellenmaterialien bereitstellt. So z.B. offeriert sie digitale Faksimiles sämtlicher überlieferter Originalbriefe und ermöglicht auf diese Weise neben der Sicherung zugleich auch die Präsentation des gesamten, zu einem beträchtlichen Teil in Privathand befindlichen Textkorpus in Gestalt eines digitalen Quellenarchivs. Die internetbasierte Fassung der Ausgabe stellt von daher auch eine Art ›Archiv‹- und ›Forschungs-Edition‹ in progress dar, zumindest dem Ansatz nach. Diese ließe sich prinzipiell (sukzessive) in verschiedenster Hinsicht ergänzen und erweitern (durch andere Materialien, Kontexte, Links u.ä.). Die in beiden Versionen präsentierten Briefkorpora sind identisch. Sie werden aus ein und derselben digitalen Vorlage (Master-Edition) generiert.44 Die digitale MasterEdition (wie auch die aus dieser abzuleitende Internet- und Printedition der Ausgabe) gliedert sich in drei aufs vielfältigste miteinander verknüpfte (›verlinkte‹) Hauptkomponenten: einen Textteil, einen einzeldokument- bzw. -briefbezogenen Apparatteil sowie einen beide übergreifenden Metaapparat. Dazu kommen diverse Begleittexte u.ä.m.: Der Textteil bietet in chronologischer Folge45 sämtliche zwischen den jeweiligen Korrespondenten gewechselten Briefe. Die Textherstellung erfolgt digital (Word für Apple Macintosh) gemäß exakt definierter Transkriptions––––––– 43 44

45

Jede der Korrespondenzen soll in einem Band erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß an dieser Stelle nur ein grober Umriß des Projekts gegeben werden kann. Einzelheiten finden sich in den Editionsgrundsätzen und internen Arbeitsanweisungen. Je nach Suchoption bzw. Bedarf sind auch andere Sortierfolgen möglich, z.B. in alphabetischer Ordnung (nach Absender, Adressat, Aufbewahrungsort der Handschriften etc.).

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Dorothea Böck

bzw. Editionsrichtlinien und Auszeichnungsformate.46 Jeder einzelne Brief wird als selbständige Datei erfaßt, abgelegt und verwaltet, auch dies nach exakt definierten Prinzipien. Der einzelbrief- bzw. dokumentbezogene Apparat bezieht sich auf den Textteil. Die Verbindung zwischen zu kommentierendem Brief (Text und Textstellen) und Apparat wird durch Verweise (Hyperlinks) hergestellt. Dieser Apparat selbst gliedert sich in die Abschnitte ÜBERLIEFERUNG (1. Überlieferung, 2. Beilage/n), IDENTIFIKATION (3. Verfasser, 4. Adressat, 5. Ort, 6. Datum, 7. Korrespondenzstelle), KONSTITUTION (8. Textgrundlage, 9. Lesarten, 10. Varianten), ERLÄUTERUNG/STELLENKOMMENTAR (11. Übersetzung, 12. Bemerkungen Jean Pauls, 13. Erläuterungen). Hinsichtlich der digitalen Strukturierung dieses Apparates wird zwischen einem i.e.S. kritisch-kommentierenden internen Apparatteil und einem i.w.S. deskriptivdiskursiven bzw. dokumentarischen externen Apparatteil unterschieden. Der interne Apparat gliedert sich in die Abschnitte (9) Lesarten, (10) Varianten, (12) Bemerkungen, (13) Erläuterungen. Jedem Apparatabschnitt ist eine spezielle, spezifisch zu benennende und zu erstellende Word-Datei (doc) zugeordnet. Die Verbindung zwischen Textteil und Apparat(en), innerhalb der/des Apparate(s) sowie zu anderen Texten oder aber ins Internet wird durch Hyperlinks hergestellt. Der externe Apparat gliedert sich in den externen Apparat Text und den externen Apparat Faksimile. Dem externen Apparat Text sind folgende Apparatabschnitte zugeordnet: ÜBERLIEFERUNG (1. Überlieferung, 2. Beilage/n), IDENTIFIKATION (3. Verfasser, 4. Adressat, 5. Ort, 6. Datum, 7. Korrespondenzstelle), KONSTITUTION (8. Textgrundlage), ERLÄUTERUNG (11. Übersetzung). Hierbei handelt es sich um einzelbriefbzw. -dokumentbezogene Informationen deskriptiven Charakters, die in einem für den jeweiligen Brief in einer zentralen Datenbank angelegten Datensatz erfaßt werden. Entsprechendes gilt für die von sämtlichen relevanten Textzeugen angefertigten digitalen Faksimiles (in der Regel Fotos, aber auch Scans – externer Apparat Faksimile). Im Metaapparat werden alle den einzelnen Brief bzw. das einzelne Dokument sowie den diesbezüglichen Apparat übergreifenden Daten, Komponenten und Funktionen der Edition (Metadaten) integriert, gesteuert und verwaltet. Hierfür werden sämtliche für die Erstellung des Registers, des ––––––– 46

Sämtliche in Frage kommenden Texte wurden bisher auf diese Weise erfaßt, wobei – entgegen der allgemein üblichen Praxis – ›Trans-Skription‹ und ›Text-Konstitution‹ bzw. -Edition als zwei spezifische, praktisch und methodisch konsequent zu unterscheidende Aufgabenstellungen bzw. Arbeitsschritte begriffen wurden. – Näheres vgl. Böck, Autobiographische Schriften [Anm.7], v.a. S.318, Anm.3.

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deskriptiven Kommentars, des Briefverzeichnisses etc. relevanten Daten in einer zentralen Datenbank gespeichert. Die den spezifischen Anforderungen dieses Editionsprojektes angepaßte relationale Datenbank (Mysql) ist sowohl was ihre Anwendung bei der Erarbeitung der Ausgabe (z.B. bei Registererstellung) als auch was ihre Benutzbarkeit in der Internetversion angeht überaus flexibel. Aus der digitalen Masteredition wird sowohl eine Druckversion als auch eine Internetversion dieser Ausgabe abgeleitet. Einzelheiten regeln hier wie generell die Editionskriterien bzw. die internen Arbeitsanweisungen. Das erste der beiden Teilprojekte, die Edition der von der DFG geförderten, vorrangig für die Jean-Paul-Biographik aufschlußreichen Briefwechsel zwischen Caroline Richter, Johann Siegfried Wilhelm Mayer, Ernestine Mahlmann und Minna Spazier (ca. 200 Briefe) steht vor seinem Abschluß. Parallel dazu konnten auch die Vorarbeiten für das im Anschluß zu edierende zweite Teilprojekt, die Korrespondenz zwischen Emanuel Osmund und Paul Emil Thieriot (ca. 400 Briefe) – innerhalb des Jean Paulschen Epistelexperiments die in ästhetischer Hinsicht aufschlußreichste Kontextquelle – recht weit vorangetrieben werden (digitale Faksimilisierung und Verzeichnung, Transkription bisher unbekannter Quellen u.ä.). Anliegen beider Editionsvorhaben ist es, das nachgelassene Epistelarchiv Jean Pauls und seines Freundeskreises als Dokument eines in dieser Form einzigartigen Medienexperiments zu rekonstruieren und in seiner Ambivalenz transparent zu machen: als eines kulturgeschichtlich höchst aufschlußreichen Lebenszeugnisses, das zugleich integraler Bestandteil der ebenso bizarren wie gegenwärtigen Cyberwelten jenes vermeintlich so »konfusen Polyhistors von Bayreuth« (Heine)48 ist – des ästhetischen Entdeckers einer virtuellen »zweiten Welt in einer ersten« wirklichen (SW II/8,671,26 bzw. SW I/11,21,11–12). – Es geht also in der Tat um Briefedition als Kommunikations- und Medienarchäologie.

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Näheres vgl. Böck, Der wahre Brief [Anm.7], S.170–173. – Die Originale befinden sich in den Sammlungen Autographa und Varnhagen der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek (z.Zt. Biblioteka Jagiellonska, Kraków) sowie in der Sammlung Apelt. Vgl. Heinrich Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: SW (Düsseldorfer Ausgabe, hrsg. von Manfred Windfuhr) I/11,17,31 – auch http://germazope.uni-trier.de/ Projects/HHP/werke/baende/D11/werketoc.

JOCHEN GOLZ

DIE HISTORISCH-KRITISCHE EDITION VON GOETHES TAGEBÜCHERN AM GOETHE- UND SCHILLER-ARCHIV IN WEIMAR Ein Erfahrungsbericht

Auf einem Kolloquium, das sich mit Problemen der textgenetischen Edition beschäftigt, in Weimar entstehende Ausgaben vorzustellen, bedarf insofern der Begründung, als einige dieser Projekte bereits vor Jahrzehnten methodisch konzipiert wurden, lange bevor die Diskussion über textgenetische Editionen in Gang kam. Das trifft für die Schiller-Nationalausgabe zu (um 1940 begründet), die heute am Goethe- und Schiller-Archiv redaktionell betreut wird, schließt die 1956 konstituierte Heine-Säkularausgabe ein und gilt auch für die Ausgabe von Herders Briefen. In allen drei Editionen liegen zudem die Textbände vollständig vor, so daß hier nur Erfahrungen post festum mitzuteilen wären. Dafür besteht aber auch deshalb kein zwingender Grund, weil die Schiller-Nationalausgabe unter textgenetischem Aspekt sich konzeptionell nicht eindeutig fixieren läßt, ihre Einzelbände mehr oder minder deutlich die Handschrift der Einzelbandherausgeber tragen, die Ausgabe von Herders Briefen nicht genügend relevantes Beispielmaterial liefert und die Konzeption der Heine-Säkularausgabe nur in einem Vergleich mit der parallel entstandenen, inzwischen abgeschlossenen Düsseldorfer HeineAusgabe darzustellen wäre, was eine eigene Studie erfordern und in unserem Zusammenhang zu weit führen würde. Das vierte Weimarer Editionsunternehmen älteren Datums, die seit 1980 erscheinende Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe, ist nicht als klassische Textedition anzusehen, denn hier werden die an Goethe gerichteten Briefe nicht vollständig ediert, sondern ihrem Inhalt nach referiert und nur Kernaussagen zeichen- und buchstabengetreu wiedergegeben. Die Ausgabe erfüllt sowohl eine textdokumentarische als auch eine archivische Funktion, sie stellt eine Brücke dar zu den nahezu ausschließlich in Weimar aufbewahrten Briefautographen (etwa 19000), erschließt deren Inhalt und weist dem Wissenschaftler den Weg zum Studium der Einzelautographen in Weimar. Die größte Leistung der Edition besteht in der kommentierenden Erörterung aller auftauchenden Sachbezüge und im Nachweis der Briefschreiber und der im Brieftext erwähnten Perso-

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nen in eigenen Bandregistern. Für die kulturgeschichtliche Erforschung der Weimarer Klassik stellt die Ausgabe unerläßliche Informationen bereit. Unter textgenetischem Betracht liegt es näher, sich jenen Weimarer Projekten zuzuwenden, deren methodische Verfahren in jüngerer Zeit begründet wurden und in deren Konzeption Diskussionen um Prinzipien textgenetischer Editionen Eingang gefunden haben. 1990 begannen vorbereitende Arbeiten zu einer neuen historisch-kritischen Edition von Goethes Tagebüchern und zu einer Ausgabe der Werke und Briefwechsel von Ludwig Achim von Arnim. Von beiden Ausgaben sind inzwischen jeweils drei Bände erschienen (wobei die Tagebuchedition Text- und Kommentarteil in eigenen Teilbänden vorlegt). Voraussichtlich 2007 wird der erste Band einer neuen historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen erscheinen, die dereinst einmal 23 Bände (auch hier jeweils Teilbände mit Text und Kommentar) umfassen wird. Anzahl und Umfang der am Goethe- und Schiller-Archiv angesiedelten Editionsprojekte veranlaßten eine Strukturkommission, die im Auftrag des Wissenschaftsrates im Frühjahr 2005 die Klassik Stiftung Weimar evaluierte, in ihrem abschließenden Gutachten zu der anerkennenden Feststellung, in Weimar existiere ein editorisches Zentrum, dessen ältere Unternehmungen rasch abgeschlossen werden müßten und dessen neuere Projekte zügig fortzusetzen seien. Ein für unser Haus erfreuliches Fazit, das es nun mit dem dafür nötigen wissenschaftlichen Potential an Personalausstattung und Sachmitteln in die Tat umzusetzen gilt. In meiner Einleitung zu Band 1 der Ausgabe von Goethes Tagebüchern habe ich den editionsgeschichtlichen Zusammenhang beschrieben, in den die Weimarer Goethe-Editionen eingeordnet werden müssen.1 Es handelt sich um nichts weniger als um die Erneuerung der Weimarer Goethe-Ausgabe, wie sie für die Abteilung II seit etwa 1940 in Gestalt der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften unternommen wird und wie sie nun für die Abteilungen III (Tagebücher) und IV (Briefe) in Weimar auf der Tagesordnung steht. Eine Erneuerung der Abteilung I, so notwendig sie wäre und z.B. durch Siegfried Scheibes exemplarische Edition von Dichtung und Wahrheit in einem Falle schon geleistet ist, wird nur in Teilschritten zu erreichen sein. Vorrangig wären Neuausgaben des Faust, von Goethes Gedichten sowie von Wilhelm Meisters Wanderjahren; allein darin liegt eine ––––––– 1

Jochen Golz, Die Edition von Goethes Tagebüchern. Geschichte und Aufgaben, in: Johann Wolfgang Goethe, Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik hrsg. von Jochen Golz unter Mitarbeit von Wolfgang Albrecht, Andreas Döhler und Edith Zehm. Band I,1, hrsg. von Wolfgang Albrecht und Andreas Döhler. Stuttgart/Weimar 1998, S.V–XVI.

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Aufgabe für mindestens ein Jahrzehnt, die nur in Kooperation mit Institutionen wie dem Freien Deutschen Hochstift oder mit universitären Editionsteams zu verwirklichen ist. Blickt man auf die Vorgeschichte der drei neueren Editionsprojekte am Goethe- und Schiller-Archiv, so liegt zwischen dem Beginn der Vorarbeiten und dem Erscheinen des ersten Bandes jeweils etwa eine Zeitspanne von zehn Jahren – ein in meinen Augen vertretbarer, ja notwendiger Zeitraum. Denn in allen drei Fällen verband sich mit einer Phase der Materialsammlung die Diskussion der Editionsprinzipien, die in unterschiedlichen Ergebnisformen vorgestellt wurden. Im Falle von Goethes Tagebüchern war die Materialbeschaffung verhältnismäßig einfach, denn nahezu sämtliche Tagebuchhandschriften befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv. Der Ausgabe von Goethes Briefen voraus ging die Zusammenstellung eines von der DFG geförderten Repertoriums sämtlicher Briefe Goethes in Gestalt einer Datenbank – auch im Internet2 zugänglich –, soweit sie weltweit in privaten und öffentlichen Sammlungen ermittelt werden konnten. Für die Arnim-Ausgabe erwies sich angesichts der verstreuten Überlieferung die Anlage eines umfassenden Archivs an Druck- und Handschriftenkopien sowie die Erarbeitung einer ebenfalls DFG-geförderten, leider nicht abgeschlossenen Lebenschronik als notwendig, wie sie unter der Leitung des Weimarer Arbeitsstellenleiters Heinz Härtl entstanden. Zur Vorbereitung der Tagebuchedition konstituierte sich Anfang der 90er Jahre eine Gruppe von Beratern, zu der neben ihrem Spiritus rector Paul Raabe weitere namhafte Goethe-Philologen und -Editoren unter Einbeziehung der künftigen Bandbearbeiter gehörten. Im Ergebnis der dort geführten Debatten konnte 1995 dank des Entgegenkommens des Metzler-Verlages eine Probeedition vorgelegt werden. Dies geschah in der Absicht, der Fachwelt ein Diskussionsforum zu eröffnen. Unter den Stellungnahmen muß die ausführliche Besprechung von Jost Schillemeit besonders hervorgehoben werden.3 Die Grundsätze der Goethe-Briefausgabe sind intern zwischen den drei Herausgebern Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, der Bearbeiterin des Briefrepertoriums, entwickelt und seit 2002 in Probeeditionen bislang unbekannter Goethe-Briefe im Goethe-Jahrbuch vorgestellt worden. Für die Arnim-Ausgabe bildete sich frühzeitig schon der Kreis der sechs Hauptherausgeber, dem sich im Verlauf intensiver Arbeitsgespräche – unter starker Beteiligung des Niemeyer-Verlages – Editionsexperten und potenziel––––––– 2 3

http://ora-web.swkk.de:7777/swk-db/goerep/index.html (31.10.2005) Jost Schillemeit, Goethes Tagebücher, historisch-kritisch und kommentiert. Zu einem Editionsvorhaben der Stiftung Weimarer Klassik, in: editio 10 (1996), S.68–80.

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le Bandbearbeiter hinzugesellten. Nachzulesen sind die dabei zustande gekommenen Editionsgrundsätze in den bislang erschienenen Bänden. Einbezogen wurde dabei auch die Arnim-Gesellschaft, deren die Edition begleitende und fördernde wissenschaftliche Kolloquien in mehreren Studienbänden dokumentiert worden sind. Wenn im folgenden einige Probleme von textgenetischer Relevanz benannt und diskutiert werden, so geschieht dies aufgrund von Erfahrungen, die bei der Arbeit an der Edition von Goethes Tagebüchern gemacht worden sind. Die beiden anderen genannten Editionen ebenfalls einzubeziehen verbietet sich aus mehreren Gründen. Zum einen würde es die Grenzen meines Beitrags sprengen, und zum anderen wäre es auch unbillig, Grundsätze zu erörtern, die von anderen entwickelt und von diesen andernorts vorgestellt worden sind oder vorgestellt werden sollten. Meine Erörterungen zur Edition von Goethes Tagebüchern, dies sei festgehalten, beruhen auf der praktischen Editionsarbeit, wie sie von den Bandbearbeitern Wolfgang Albrecht, Andreas Döhler und Edith Zehm geleistet worden ist, fassen deren Erfahrungen in verallgemeinernder Form gewissermaßen zusammen. Vorauszuschicken ist, daß die Probleme textgenetischer Editionen in der Regel an Beispielen komplizierter innerhandschriftlicher Überlieferungsverhältnisse und der daraus resultierenden Textvarianz diskutiert werden, wie sie vor allem bei Werkhandschriften auftreten. Hans Zellers Bericht über ein internationales Kolloquium zur textgenetischen Edition 1995 in Marbach in editio gibt darüber Auskunft.4 Mit Recht weist Zeller darauf hin, daß Impulse für neue textgenetische Editionsverfahren der Critique génétique zu verdanken sind, ohne daß deren Fragestellungen mit denen der Editoren identisch seien. Brief- und Tagebucheditionen spielten auf dem Marbacher Kolloquium kaum eine Rolle, weil deren Variantenverzeichnung zumeist keine allzu großen Probleme bereitet. Faßt man den Begriff der Textgenese und ihrer editorischen Darstellung indessen weit genug, dann gibt es gleichwohl Anlaß, Erfahrungen aus der Arbeit an einer Edition von Goethes Tagebüchern im Kontext einer neuen Edition der Werke Jean Pauls fruchtbar zu machen, die darauf abzielt (so in der Konzeption des Kolloquiums formuliert), »die Schreibverfahren ihres Autors mit abzubilden«. Theoretisch korrespondieren diese Erfahrungen mit einer 1995 in editio veröffentlichten Abhandlung von Klaus Hurlebusch über

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Hans Zeller, Internationales Kolloquium über Textgenetische Edition im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. 1995, in: editio 10 (1996), S.182–185.

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Probleme der Brief- und Tagebuchedition, auf die darum im folgenden Bezug genommen wird.5 Als »Kernthese über die methodische Besonderheit der Herausgabe von Briefen und Tagebüchern« formuliert Hurlebusch: »Typographische Texteditionen dieser Zeugnisse sind um so besser – wissenschaftlicher –, je dokumentarischer sie sind.«6 Zugrunde liegt dieser These nicht zuletzt die Überzeugung, daß bei der Edition von Briefen und Tagebüchern die äußeren Bedingungen und die Materialität des Schreibens (Papierqualität, Format, Schriftbild, Schreibmaterial, Schreibtechnik) in besonderer Weise zu berücksichtigen sind. Auch bei unseren Überlegungen hat der dokumentarische Aspekt der künftigen Edition eine große Rolle gespielt. In Goethes Tagebuchführung lassen sich drei Phasen unterscheiden. In der ersten (1776–1782) trug Goethe seine Aufzeichnungen eigenhändig in Schreibkalender ein, datierte sie bis 1782 auch eigenhändig. Von 1782 an nutzte Goethe zumeist den Gothaischen verbesserten Schreib-Calender und übernahm dessen gedrucktes Kalendarium (jeweils für zwei Wochentage pro Seite). Bis 1797 weist Goethes Tagebuch größere Lücken auf, und auch in der Zeit bis zum 21. März 1817 werden die Aufzeichnungen immer wieder unterbrochen. Von 1797 an diktierte Goethe, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Tagebuchnotate seinen jeweiligen Helfern. Vom 21. März 1817 bis zum 16. März 1832 ließ er ein Tagebuchjournal einrichten, in das seine Helfer, von denen auch hier, von wenigen, dann freilich relevanten Ausnahmen abgesehen, die Aufzeichnungen stammen, ebenfalls das Kalendarium eintrugen; diese Notate, auf halbbrüchige Foliobogen geschrieben, nehmen in der rechten Kolumne den eigentlichen Tagebuchtext, in der linken »Expedienda« und »Notanda« auf. Leicht erklärlich, daß die Weise der Aufzeichnung auch deren Charakter beeinflußt, denn es macht einen Unterschied, ob Tagebuchnotizen, die in der Regel nicht für einen Leser bestimmt sind, im Prozeß der Niederschrift nur dem Autor selbst oder im Diktiervorgang auch dem Schreiber zugänglich werden. Auf eine ausführliche Dokumentation der handschriftlichen Überlieferung legt unsere Ausgabe großen Wert, wobei die jeweiligen archivalischen Einheiten so genau wie möglich beschrieben werden. Eben die Tatsache, daß Tagebuchaufzeichnungen in der Regel nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, verleiht auch der Materialität des Schreibprozesses, wie Hurlebusch zu Recht heraushebt, besondere Bedeutung. Dem ––––––– 5

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Klaus Hurlebusch, Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition, in: editio 9 (1995), S.18–36. Ebd., S.28.

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ist nicht nur durch eine ausführliche Dokumentation der Überlieferung im Kommentar Rechnung zu tragen, sondern auch in der Textgestaltung selbst. Als deren methodischen Grundsatz definiert Hurlebusch »Zeichenadäquatheit«, fügt indes sogleich hinzu, daß diese »nicht als abbildliche, sondern als funktionale und strukturelle Entsprechung« gemeint sei. Wenig später spricht er von »strukturellen Äquivalenten«,7 die bei der editorischen Präsentation von Brieftexten geschaffen werden müßten. »Zeichenadäquatheit« kann in engerem wie in weiterem Sinne verstanden werden. Buchstaben- und zeichengetreu wird unser edierter Text wiedergegeben – nachzulesen in den Grundsätzen der Ausgabe in jedem Kommentarband der Edition. Buchstabengetreu bedeutet z.B. in unserem Verständnis – und darin folgen wir editorischem Konsens –, Zeichen, die nur innerhalb der deutschen Schrift eine Funktion besitzen – z.B. das Trema über dem y oder der Geminationsstrich –, bei der Wiedergabe in lateinischer Schrift (und entsprechendem Druck) durch »äquivalente, systemeigene Zeichen«8 wiederzugeben. Entgegen der Weimarer Ausgabe, die von Schreibern stammende Texte einer »Entrohung«9 unterzogen hatte, wird in der neuen Tagebuchedition die Schreibweise, ob eigenhändig oder nicht, mit allen Fehlern und Entstellungen wiedergegeben; sinnentstellende Schreibungen werden im Fußnotenapparat berichtigt. In einem Punkt weichen wir vom Duktus der Handschrift ab und setzen uns in Widerspruch zu einer immer häufiger gehandhabten Editionspraxis. Aufzeichnungen in deutscher und lateinischer Schrift werden unterschiedslos durch Antiqua-Druck wiedergegeben. Dafür spricht nach unserer Auffassung, daß eine solche Differenzierung allenfalls Auskunft gibt über den Bildungsstand von Goethes Schreibern und daß sie dort, wo Goethe z.B. in mittleren Jahren noch eigenhändig diaristische Notizen niederschreibt, gar nicht durchzuführen ist, weil Goethes Schrift insbesondere zu dieser Zeit eine Mischung aus deutschen und lateinischen Buchstaben darstellt. Zeichengetreu bedeutet aber nicht, daß Abbrechungen oder Verschleifungen grundsätzlich in der Zeichenform der Handschrift abgebildet werden. Abkürzungen werden beibehalten und in einem eigenen alphabetischen Verzeichnis erfaßt. Für die quasistenographischen astronomischen Symbole, mit denen Goethe in den frühen Tagebüchern die besonders häufig vorkommenden Personen zu kennzeichnen pflegt, trifft die Wiedergabe in Zeichenform noch zu, für Abbreviaturen schon nicht mehr. An deren Stelle treten »strukturelle Äquivalente«, die möglichst auf Konventionen elektronischer Satzver––––––– 7 8 9

Ebd., S.33. Ebd. WA III, 2, S.320.

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fahren beruhen sollten und in der Liste editorischer Siglen genau definiert werden müssen. Damit haben wir, mit Hurlebusch zu reden, den Bereich der »abbildlichen« Entsprechung bereits verlassen und sind bei der »funktionalen und strukturellen Entsprechung« angelangt. Strukturelle Entsprechung wird von uns so verstanden, daß die archivalischen Überlieferungseinheiten (Kalenderjahrgänge, jahrgangsweise zusammengebundene Tagebuchjournale, Reisejournale etc.), von genau zu begründenden Ausnahmen abgesehen, in topographisch exakter Abfolge wiedergegeben werden. Es liegt nun im Wesen von Tagebuchaufzeichnungen, daß sie in der Regel aus kurzen Notizen, Satzfragmenten, Ellipsen bestehen und daß häufig, um Sinnabschnitte zu markieren, ein neuer Absatz erscheint. Typographisch eindeutig wäre es gewesen, Absätze durch Einzug zu markieren, doch die Folge wäre ein extrem unruhiges Satzbild gewesen. So haben wir uns für linksbündigen Text entschieden, was freilich die Notwendigkeit nach sich zieht, Absatzbildung notfalls durch Leerraum am Ende der Textzeile vor dem Absatz zu signalisieren. Nicht wenige Editoren legen den Begriff der strukturellen Entsprechung gegenwärtig so aus, daß im edierten Text der Zeilenfall der Druckvorlage wiederzugeben sei. Für metrisch strukturierte Texte versteht sich dies von selbst, weniger schon für erzählende oder autobiographische Prosa. In der Ausgabe von Goethes Tagebüchern ist darauf verzichtet worden, weil nach unserer Auffassung eine solche Wiedergabe bei Brief- und Tagebuchtexten, in denen der vorhandene Schreibraum in der Regel praktischen Zwecken entsprechend genutzt wird, keine editorische Relevanz besitzt – Ausnahmen zugegeben, auf die gesondert einzugehen ist. Ein spezielles Problem stellte für uns eine Notationsweise Goethes dar, die er mit seinen Schreibern praktizierte. Während er zwischen 1776 und 1781 den vorhandenen Schreibraum annähernd raumgreifend eigenhändig füllte, führte ihn der Aufbau der seit 1782 benutzten Schreibkalender, die nur auf der linken Seite ein Kalendarium, rechts freien Raum für Notizen (z.B. Einnahmen und Ausgaben des Geschäftsmannes oder der Hausfrau) enthielten, zu einer anderen Notationspraxis. Künftig ließ er nur links die diaristischen Eintragungen im engeren Sinne ausführen, auf der rechten Seite ließ er Adressaten ausgehender Briefe, Buchtitel, gelegentlich auch Zitate und Sinnsprüche notieren; vom 12. Februar 1799 an erhalten diese Aufzeichnungen geradezu geschäftsmäßigen Charakter. Solche Texte sind in unserer Edition ohne trennende Leerzeile der Tagesnotiz angeschlossen, jedoch durch Einzug markiert worden. Zugute kam uns bei dieser typographischen Lösung die Absicht, den edierten Text linksbündig setzen zu wollen, so daß die eingezo-

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gene Textkolumne (diese wiederum linksbündig) eindeutig gekennzeichnet ist, ohne daß das Satzbild allzu unruhig wird. Wenn, wie in diesem Falle, die strukturelle Lösung präzise definiert wird, kann der Benutzer in die Lage versetzt werden, sich die realen Raumverhältnisse zu imaginieren – dazu dann noch mehr. In den frühen eigenhändigen Tagebüchern ist der zur Verfügung stehende Schreibraum zwar in der Regel gleichmäßig gefüllt, doch gelegentlich wird das Geschriebene von Leerraum durchschossen, der dann inhaltliche Relevanz erlangen kann; für Leerraum innerhalb des fortlaufenden Textes existiert ein besonderes Darstellungsverfahren. Das vielleicht berühmteste Beispiel sind Goethes Eintragungen vom 16. bis 20. Juni 1777 (Abb.1). Am 16. Juni empfängt Goethe die Nachricht vom Tod seiner Schwester, notiert das Faktum und setzt hinzu: »Dunckler zerrissener Tag.« Für den 17. und 19. Juni notiert er nur die Tagesdaten, im relativ großzügig bemessenen Leerraum stehen die Worte »Leiden und Träumen.« Erst am 20. Juni setzen wieder die kontinuierlichen Notizen ein. Wie ist nun eine solche Besonderheit editorisch angemessen darzustellen? An dieser Stelle muß auf eine grundsätzliche Entscheidung Bezug genommen werden. Definiert man die Variantenverzeichnung als den genetischen Kern einer Edition, so hängt deren Plazierung nicht zuletzt vom Umfang der Varianten ab. Im Fall der Edition von Goethes Tagebüchern können die im einzigen Textzeugen, dem Autograph, anzutreffenden Varianten bequem jeweils am Fuß der Textseite untergebracht werden. Die Prinzipien der Variantenverzeichnung, die hier nicht im einzelnen zur Debatte stehen müssen, sind in einem intensiven Diskussionsprozeß entwickelt und insbesondere aufgrund der wertvollen Detailkritik, die Jost Schillemeit in seiner Rezension der Probeedition geübt hat, auf den gegenwärtigen Stand gebracht worden; Schillemeits Hinweisen ist vor allem eine veränderte Darstellungssystematik bei Sofortkorrekturen und späteren Korrekturen zu verdanken. Die Grundentscheidung einmal vorausgesetzt, den textkritischen Apparat an das Ende der Textseite zu stellen, konnten ihm auch ohne Not deskriptivkommentierende Funktionen zugewiesen werden. Die Berichtigung sinnentstellender Schreibfehler nannte ich bereits. Eine weitere Funktion des Apparats liegt in der Beschreibung von Unsicherheiten der Zuordnung sowie von Besonderheiten der Textdarbietung und -anordnung (z.B. Leerräume zwischen den Zeilen, Veränderungen der Schreibrichtung und des Schreibmaterials). Varianten und deskriptive Texte werden in strenger chronologischer Folge nach dem Richtmaß des Zeilenzählers wiedergegeben.

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Doch alle Deskription stößt an Grenzen der Darstellbarkeit, sie verlangt an komplizierten Stellen nach dem Bild, dem Faksimile. Damit aber ist ein gegenwärtig sehr umstrittenes Problem berührt, das Verhältnis von Faksimile, Transkription und ediertem Text. Die gegensätzlichen Positionen ließen sich einerseits durch die These bezeichnen, in der Edition komme es auf die Darstellung der textgenetischen Entwicklung an, der gegenüber ein konstituierter Text eher ein notwendiges Übel darstelle – dieses Argument erkenne ich auch in den Ausgangsthesen für unser Kolloquium –, während andererseits entschieden für einen gesicherten, rezipierbaren Text plädiert und den bedingungslosen Verfechtern der Textgenese entgegengehalten wird, sie scheuten vor editorischen Entscheidungen zurück, lüden diese Last dem Benutzer der Edition auf und bemäntelten das Manko mit dem Argument, sie gäben dem Benutzer alle Materialien an die Hand, damit dieser editorische Entscheidungen überprüfen könne. In diesem Prozeß, der mit Sattlers Hölderlin-Edition seinen Anfang nahm und heute, um markante Beispiele zu nennen, in den Kleist- und Kafka-Ausgaben von Reuß und Staengle fortgesetzt wird, kommt der Faksimilierung ein geradezu kanonischer Rang zu. Es liegt auf der Hand, daß meine thesenhafte Zuspitzung höchst anfechtbar ist und eigentlich eine ausführlichere Explikation nötig machte, doch für unseren Zusammenhang mögen diese Andeutungen genügen. Positiv bewerte ich das Argument der Nachprüfbarkeit editorischer Entscheidungen, doch muß dieses Argument im Kontext einer Edition auf seine Plausibilität und optimale Durchführbarkeit hin überprüft werden. Bei Tagebuch- und Briefeditionen Goethes halte ich eine vollständige Faksimilierung angesichts der großen Textmengen nicht nur für wirtschaftlich nicht vertretbar, sondern auch in Hinblick auf die Spezifik der Texte für unangebracht. Gleichwohl gibt es gute Gründe für die Faksimilierung einzelner Seiten aus Goethes Tagebüchern. Zusammengefaßt sind es die folgenden: Veranschaulichung räumlicher Verhältnisse im Tagebuch, wenn diesen eine inhaltliche Aussage zukommt (vgl. Abb.1), bildlicher Nachweis an Stellen, die unterschiedliche chronologische Zuordnungen erlauben, Veranschaulichung dort, wo die Deskription im Fußnotenapparat der Ergänzung durch das Bild bedarf. Ein abgestuftes Verfahren stellt sich auf diese Weise her. Erste Stufe: exakte topographische Beschreibung des jeweils zugrundeliegenden Autographs im Kommentarteil. Zweite Stufe: Deskription von der Norm abweichender Aufzeichnungsweisen im Fußnotenapparat. Dritte Stufe: Kombination von Deskription und Bild dort, wo die Deskription durch bildliche Darstellung erst ihren vollständigen Informationswert erhält, und auf dieser Stufe

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in einigen Fällen auch Hinzufügung weiterer Informationen im Kommentar. An einigen Beispielen soll das Verfahren im folgenden erläutert werden. Abb.2/3: Insgesamt vermittelt die faksimilierte Seite einen charakteristischen Eindruck von den eigenhändigen Tagebüchern des jungen Goethe, von der dort gehandhabten Privat-Stenographie: der Ersetzung der häufig auftauchenden Personennamen durch astronomische Symbole, vom Umgang mit Abkürzungen und Abbrechungen. Am Fuß der Seite findet sich eine Streichung, die darauf hindeutet, daß Goethe sofort einen Erinnerungsfehler berichtigt. Denn derselbe Text steht dann, mit einer Variante (statt »Brand« nun »Feuer lärm«), unter dem 1. Februar. Doch besondere Aufmerksamkeit erfordert das untere Drittel der Seite (im edierten Text S.36, Z.15–17). Folgte man hier, wie in neueren Editionen – jüngst z.B. in der kritischen Edition von Nietzsches Nachlaß – üblich geworden, der urkundlichen Wiedergabe handschriftlicher Verhältnisse, so müßte im edierten Text die räumliche Struktur exakt reproduziert werden. Eine solche Darstellung überließe die Entscheidung über die Chronologie der Aufzeichnung dem Benutzer; allenfalls könnte ein Hinweis im textkritischen Apparat oder im Kommentar erfolgen. Unser Verfahren schlägt den umgekehrten Weg ein: Eine Abfolge der Notizen wird rekonstruiert (je nach Quellenlage auch unter Hinzuziehung weiterer autobiographischer, im Kommentar nachzuweisender Dokumente), jedoch dem Benutzer die Möglichkeit gegeben, diese Entscheidung anhand des Faksimiles zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Abb.4/5: Hier liegt ein Sonderfall vor, an dessen Behandlung die Variabilität unseres methodischen Prinzips demonstriert werden soll. Da Edith Zehm, die Bearbeiterin dieser Textpartie, in einer eigenen Abhandlung ihr Vorgehen erläutert hat, kann ich mich auf wenige Andeutungen beschränken.10 Die rechte Kolumne in der Handschrift enthält Aufzeichnungen von Goethes Schreiber John, der seit Ende 1814 in Goethes Dienst stand. Es handelt sich um Vorarbeiten zur Campagne in Frankreich 1792, dafür sprechen z.B. die zahlreichen Erledigungsstriche Goethes im Manuskript. Da Johns Aufzeichnungen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Abschrift älterer, leider nur in Resten bezeugter Notizen vermutlich aus der Campagne selbst darstellen, ist es unter den genannten Kautelen erlaubt, Johns Niederschrift als Tagebuchaufzeichnung für 1792 im edierten Text zu präsentieren. Die linke ––––––– 10

Edith Zehm, Überlieferung und Textherstellung. Textprobleme im zweiten Band der Edition von Goethes Tagebüchern, in: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. 26. bis 27. August 1999, hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2001, S.113–122; hier: S.120 f.

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Kolumne enthält Notizen von Goethes Hand, Vorarbeiten zur Campagne, die zweifelsfrei nicht in den edierten Tagebuchtext gehören und darum erst in Gestalt einer vollständigen, beide Kolumnen vereinigenden Wiedergabe im Kommentar (hier Abb.5, obere Hälfte der Seite) veröffentlicht werden, dessen Anlage die Offenheit und mögliche Anfechtbarkeit der getroffenen Entscheidungen zu erkennen gibt. Abb.6/7: Bei diesen Aufzeichnungen vom November 1793 handelt es sich um Notizen zum Spielplan des Weimarer Theaters. Die Kolumnenstruktur wurde beibehalten. Die deskriptive Darstellung im Apparat zu den Zeilen 4, 5 und 7 enthält zwar alle nötigen Informationen, gewinnt ihren eigentlichen Aussagewert aber erst durch die bildlichen Informationen. Eine Notiz wie die zu 33.12–34.14 ist (natürlich mit anderen Stellenangaben) im Apparat gelegentlich anzutreffen, weil Goethe nicht selten auf Vorsatz- oder Durchschußblättern vor oder nach Monatskalendarien Eintragungen vornehmen ließ oder selbst vornahm. Mit deren präziser topographischer Beschreibung im Apparat ist es dem Benutzer anheim gestellt, die im edierten Text vorgenommene chronologische Einordnung, bei der zwischen strikter Befolgung der Überlieferungsfolge im zugrunde liegenden Archivale oder davon abweichender begründbarer Chronologie der Darbietung zu entscheiden ist, zu akzeptieren oder sich für eine andere Lösung zu entscheiden. Abb.8: Im edierten Text ist die Notiz (»War der Herzog nicht wohl meistens bey ihm. Morgens Cellini. vorletzte Abtheilung.«) dem 19. Oktober zugeordnet worden, die Apparatnotiz lautet: »quer über die Tageskalendarien zum 16.–19. Oktober geschrieben«. Da Goethe, wie im Kommentar zu dieser Stelle zu lesen ist, am 18. Oktober ein Manuskript seiner Übersetzung der Autobiographie des Benvenuto Cellini an Schiller zur Publikation in dessen Zeitschrift Die Horen sandte, mag die Annahme zulässig erscheinen, die Tagebuchnotiz könnte auch am Abend des 18. Oktober niedergeschrieben worden sein. Diese Annahme kann freilich erst in der Zusammenschau von Faksimile, Textwiedergabe und Kommentar zustande kommen; die nötigen Informationen werden dem Benutzer nicht vorenthalten. Abb.9ab (9a: linke Seite mit dem Tagebuchtext, 9b: gegenüberliegende rechte Seite mit den »Notanda«)/10: Das Faksimile gibt die für die gedruckten Kalendarien typische Textverteilung wieder, läßt aber auch Unsicherheiten der Zuordnung erkennen, wie sie im Fußnotenapparat (zu Zeile 27–34) explizit benannt werden. Die Unsicherheit entsteht insbesondere durch Goethes eigenhändige Notiz zu Person und Werk des Millin, die sich blockhaft zwischen die Aufzeichnungen auf oberer und unterer rechter Seite schiebt und die Annahme zuläßt, die untere Notiz könnte auch dem 30. Mai 1797

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zugeordnet werden. Der dazugehörige Stellenkommentar gewährt in diesem Falle keinen weitergehenden Aufschluß. Abb.11/12: Es handelt sich um Aufzeichnungen zu Goethes Reise nach Göttingen, Pyrmont und Kassel im Sommer 1801, zu der der Dichter ein Aktenfaszikel mit dem Titel »Acta / der Reise nach Pyrmont / 1801« anfertigen ließ. Zuordnungsprobleme entstehen aus der räumlichen Anordnung der Textkolumnen, die hier nach dem Modell der Eintragungen in den gedruckten Kalendarien behandelt werden (rechts stehen in diesem Falle die eigentlichen Tageseintragungen, links die Notizen marginalen Charakters, die in den gedruckten Kalendern sonst auf der rechten Seite anzutreffen sind). Im Apparat findet sich die Beschreibung der räumlichen Textanordnung, die auch hier durch die ergänzende Bildinformation erst aussagekräftig wird. Das eigentliche Kriterium für die chronologische Einordnung der linken und rechten Textkolumne muß der Benutzer aus der Betrachtung des Faksimiles selbst gewinnen: es ist der Duktus der Niederschrift. Die Notiz zum 25. Juni ist von Goethes Diener Geist geschrieben, so daß es schlüssig ist, die links neben dem Ende der Tagesnotiz beginnende Niederschrift (ebenfalls von Geists Hand) dem 25. Juni zuzuordnen. Die Eintragungen zum 26. und 27. Juni sind von Goethe eigenhändig verfaßt, darum die Zuordnung der links stehenden, ebenfalls eigenhändigen Aufzeichnung zum 27. Juni. Der handschriftliche Befund macht beide Zuordnungen sehr wahrscheinlich, absolut zwingend sind sie nicht. Der in Zeile 17 erwähnte Brief an »Dem. Vulpius« (Christiane Vulpius) wird in der WA auf den 26. Juni 1801 datiert; die anderen erwähnten Briefe sind nicht überliefert. Das erlaubt zumindest die Vermutung, daß Geists Aufzeichnung auch am 26. Juni entstanden sein könnte. Mit Absicht habe ich solchen hypothetischen Erwägungen Raum gegeben, um den möglichen Einwand zu entkräften, der Benutzer werde den Entscheidungen der Herausgeber ausgeliefert, ihm werde die Möglichkeit genommen, selbst zu überprüfen und eventuell zu anderen Auffassungen zu gelangen. Einzuräumen ist, daß in der Auswahl der Textfaksimiles für die Bandherausgeber ein Ermessensspielraum liegt, dessen Grenzen aber weitgesteckt sind: Im Zweifelsfall für die Faksimilierung. Ein solcher Kompromiß, denn darum handelt es sich, ist in mehrfacher Hinsicht gerechtfertigt. Gerechtfertigt zunächst durch den Charakter von Goethes Tagebuchaufzeichnungen, die in der Regel den vom Aufzeichnungsmedium gesetzten Rahmenbedingungen gehorchen und durch die Datierung der Notizen (entweder eigenhändig oder durch Übernahme gedruckter Kalendarien) in ihrer chronologischen Abfolge weitgehend exakt festgelegt werden können. Abweichungen und Unsicherheiten werden im Zusammenhang von Faksimilierung, Fußnotenapparat und

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Zeilenkommentar dokumentiert und sofern möglich kommentiert – mit dem Ziel, den Benutzer umfassend zu informieren und ihm damit einen Spielraum für eigene Entscheidungen zu eröffnen. Ein zweiter Rechtfertigungsgrund liegt in praktischen Erwägungen. Angesichts der zu bewältigenden großen Textmengen (für die Wiedergabe von Goethes Tagebüchern sind zehn Textbände vorgesehen) verbietet sich eine vollständige Textfaksimilierung der hohen Kosten wegen von selbst. Eine Edition wie die von Goethes Tagebüchern, der eine Langzeitförderung der DFG zuteil wird und die im MetzlerVerlag einen stets kooperativen Partner besitzt, kann von den ökonomischen Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Edierens nicht absehen, wenn sie sich nicht von vornherein ins Abseits manövrieren will. Ein anderes wäre es, wenn eine vollständige Faksimilierung aus autorspezifischen und editionsmethodischen Gründen zwingend geboten wäre – solche Notwendigkeit will ich nicht grundsätzlich in Abrede stellen. Doch im Falle von Goethes Tagebüchern besteht dazu, wie ich oben begründet habe, kein Anlaß. Im Mittelpunkt unserer Gespräche stand und steht hier die Verständigung über eine gegenstands- und funktionsbedingte neue Edition von Jean Pauls Werken, der eine Fortführung auf neuem Fundament dringend zu wünschen ist. Meine Bemerkungen zu einigen spezifischen editorischen Problemen sollten den Erfahrungshorizont erweitern und hätten ihren Zweck erfüllt, wenn sie der Methodendiskussion um die Jean-Paul-Edition einige Impulse geben könnten.

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Abb.1: Tagebuch, 1.–22.Juni 1777; S.42,19–44,11

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Abb.2: Tagebuch, 12.–30. Januar 1777; S.35,28–36,18

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Abb.3: Tagebuch, 14. Januar bis 4. Februar 1777

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Abb.4: Tagebuch, 28. September bis 14. Oktober 1792; S.23,3–S.24,4

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Abb.5: Tagebuch,

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Abb.6: Tagebuch, 2. –30. November 1793; S.31,14–S.33,11

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Abb.7: Tagebuch, 9. November bis 12. Dezember 1793

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Abb.8: Tagebuch, 16.–19. Oktober 1796; S.81,18–24

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Abb.9a: Tagebuch, 29.–30. Mai 1797; S.113,9–S.115,3

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Abb.9b: Tagebuch, 29.–30. Mai 1797; S.113,9–S.115,3

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Abb.10: Tagebuch, 28.–29. Mai 1797

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Abb.11: Tagebuch, 23.–29. Juni 1801; S.39,1-41,7

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Abb.12: Tagebuch, 23.–27. Juni 1801

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GABRIELE RADECKE

GEDEUTETE BEFUNDE UND IHRE DARSTELLUNG IM KONSTITUIERTEN TEXT1 Editorische Überlegungen zu Theodor Fontanes Mathilde Möhring

Theodor Fontanes Roman Mathilde Möhring ist unvollendet. Die äußere Entstehungsgeschichte, die innere Textgenese und die materiale Beschaffenheit der Handschrift belegen, daß es sich nicht etwa um einen fragmentarisch überlieferten, sondern um einen vom Autor selbst nicht abgeschlossenen Text handelt.2 In der Fontane-Forschung hat man immer wieder auf die Besonder––––––– 1

2

Die Unterscheidung zwischen konstituiertem und ediertem Text orientiert sich an Gunter Martens, der unter »Textkonstitution jegliche Erarbeitung (Herstellung) von Texten in einer Edition« versteht und dabei nicht nur den »edierten Text im engeren Sinn« meint, sondern auch alle anderen »zu einem Werk bzw. Werkkomplex gehörigen Textteile« (G.M., »Historisch«, »kritisch« und die Rolle des Herausgebers, in: editio 5 [1991], S.12–27, hier: S.12). Der Begriff konstituierter Text wird also im weitesten Sinne als Oberbegriff verwendet und bezeichnet einen hergestellten Text auf der Grundlage aller Textzustände, z.B. von Entwurfshandschriften, Reinschriften und Drucken. Konstituierte Texte können dabei in statisch-linearer oder in dynamisch-alinearer Gestalt abgedruckt werden und somit auch integrale genetische ›Varianten‹-Apparate enthalten, die die ›Unvollendetheit‹ von Texten dokumentieren. Ein edierter Text ist demnach eine Teilmenge eines konstituierten Textes, der ohne Apparate nur als linearer Text veröffentlicht wird. Der Begriff Fragment, hier im Sinne eines Entstehungsfragments gemeint, wird im folgenden absichtlich nicht verwendet. Auch wenn eine Unterscheidung in Entstehungs- und Überlieferungsfragment generell durchaus sinnvoll wäre, um zwischen einer unvollendet gebliebenen oder aufgegebenen Werkidee und unvollständig überlieferten Werken zu unterscheiden, so hat der Bezug auf den Fragmentbegriff in der Fontane-Philologie zu einem großen Mißverständnis geführt. Denn zu Recht wurde hervorgehoben, daß der Roman kein Fragment, kein »Bruchstück« eines Textes sei, da der Produktionsprozeß über eine erste Dispositions- und Entwurfsphase hinausgekommen ist. Die Schlußfolgerung aber, daß es sich um einen fast druckfertigen Roman handle, ist falsch. Mathilde Möhring kann allenfalls als entstehungsgeschichtlich fragmentarischer Text bezeichnet werden, da Blätter unterschiedlicher Entstehungsstufen – also Dispositionen, Entwürfe und die ausformulierte Niederschrift mit ihren Spuren der Überarbeitung – überliefert sind, die die Unvollendetheit dokumentieren. Vgl. zum Fragmentbegriff Dirk Göttsche, Fragmente im Werkprozeß. Zur konstitutiven Bedeutung des Kommentars für eine kritische Edition der nachgelassenen »Todesarten«-Prosa Ingeborg Bachmanns, in: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der

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Gabriele Radecke

heit dieses Nachlaß-Textes aufmerksam gemacht und die Entstehungsgeschichte aufgrund von Fontanes Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und eigenhändigen Manuskriptseiten sorgfältig rekonstruiert. Sie läßt sich in drei Phasen gliedern, in denen unterschiedliche Textualisierungsstadien zu beobachten sind: Erste Entwürfe entstanden wohl Mitte Januar 1891, als Fontane mit »Entwurf und Bruchstücke[n]« von »verschiedene[n] kleine[n] Novellen« beschäftigt war.3 Die ausformulierte Niederschrift folgte dann sieben Monate später, im August und September 1891;4 die Überarbeitung ist von Ende 1895 bis zum Frühjahr 1896 belegt.5 Das Interesse der Forschung konzentrierte sich auf die äußeren Bedingungen der Textentstehung sowie auf die Ursachen der wiederholten Produktionsunterbrechungen im Januar und August 1891 und des endgültigen Schreibabbruchs im Frühjahr 1896. Man ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß nicht allein biographische Ereignisse – etwa Fontanes Erkrankung an einer langwierigen endogenen Depression oder sein Tod im Jahre 1898 – den Fortgang des Schreibens verhindert haben, sondern vielmehr auch ästhetische Gründe, die Fontane bewogen haben könnten, den schon weit fortgeschrittenen Arbeitsprozeß bewußt abzubrechen. Schließlich mögen auch materielle Gründe das Ende der Arbeit an Mathilde Möhring herbeigeführt haben, denn Fontane war als freier Schriftsteller auf die Honorare der Zeitschriftenredaktionen und Buchverleger angewiesen, und eine erste Veröffentlichung war nicht in Sicht.6 Obwohl es hinsichtlich der Entstehungsbedingungen keinen Zweifel gibt, daß es sich bei Mathilde Möhring um ein unabgeschlossenes, vom Autor

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3

4 5

6

Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate, hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (=Beihefte zu editio 5), S.117–123, hier: S.119–121. Theodor Fontane, Tagebücher 1866–1882, 1884–1898, hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1994 (=Große Brandenburger Ausgabe, Tage- und Reisetagebücher 2), S.253. Vgl. ebd., S.255f. Hier wird zum ersten Mal der Titel Mathilde Möhring erwähnt. Die zeitliche Eingrenzung erschließt sich durch Fontanes eigenhändigen Kompositionsplan, der sich im Handschriftenkonvolut des Stechlin befindet. Neben den Hinweisen auf verschiedene Lektüren, Theaterkritiken, Briefkorrespondenzen und Arbeiten an Von Zwanzig bis Dreißig fällt unter dem sechsten Punkt die Notiz auf: »Correktur von Mathilde Möhring«; Theodor Fontane, ›Der Stechlin‹. Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr. V–67/865, Kapitel 27, Blatt 10 verso. Vgl. zusammenfassend Hugo Aust, ›Mathilde Möhring‹. Die Kunst des Rechnens, in: Fontanes Novellen und Romane, hrsg. von Christian Grawe. Stuttgart 1991 (=RUB Interpretationen 8416), S.275–295, hier: S.276.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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nicht zum Druck befördertes Werk handelt,7 wird der Roman8 erstaunlicherweise als weitestgehend abgeschlossener Text rezipiert, dem höchstens nur ein letzter »Schliff« gefehlt habe.9 Begründet wird diese Annahme durch den Vergleich mit Fontanes Erzählfragmenten.10 Im Gegensatz zu diesen poetischen Bruchstücken, die in vorerzählerischen Dispositionen und erzählerischen Entwürfen oder nur vereinzelten Niederschrift-Teilen vorliegen,11 ist die poetische Textstruktur in Mathilde Möhring spätestens während der ersten Niederschrift ausgebildet worden: Die Handlung verläuft konsequent, logisch und final, die fiktionale Erzählebene mit dem Erzähler und den Figurenpersönlichkeiten ist ausgebreitet und das Romanpersonal komplett. Man findet weder Störungen, Lücken oder gar Erzählbrüche im Handlungsverlauf. Schließlich verstärkt die ausgearbeitete Kapiteleinteilung den Eindruck, daß Mathilde Möhring auch nach strukturellen Gesichtspunkten ein annähernd vollständiger Text ist, dem nur eine letzte redaktionelle Überarbeitung und die Vorbereitung zum Druck gefehlt habe. Darüber hinaus existieren nur wenige inhaltliche und formale Hinweise auf die Unvollendetheit, die aber die vorherrschende Meinung nicht beeinträchtigt haben. So lautet der Vorname der Rechnungsrätin Schultze in der ausformulierten Niederschrift einmal Emma, einmal Luise, und die Namen Birnbaum und Bolle bezeichnen ebenfalls eine einzige Figur, nämlich den Arzt. Es gibt nur wenige Gespräche, die erst in Ansätzen skizziert worden sind und mehr an die Dialogstruk––––––– 7

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9 10 11

Vgl. zuletzt Sabina Becker, Aufbruch ins 20. Jahrhundert: Theodor Fontanes Roman ›Mathilde Möhring‹. Versuch einer Neubewertung, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 10 (2000), S.298–315, hier: S.298. Wenngleich Mathilde Möhring unvollendet geblieben ist, kann der Text gattungstheoretisch als Roman klassifiziert werden. Vgl. Eda Sagarra, ›Mathilde Möhring‹, in: Fontane-Handbuch, hrsg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S.679–690, hier: S.681. Aust hingegen stellt fest, daß »die Frage nach dem Verhältnis von Studie, Bild, Roman und Novelle, von Satire, Humoreske und Tragikomödie in der Schwebe« bleibt. Aust [Anm.6], S.277. Vgl. Sagarra [Anm.8], S.679. Mit dem Begriff Fragment ist hier Entstehungsfragment gemeint. Zur Terminologie vorerzählerisch und erzählerisch vgl. Gabriele Radecke, Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes ›L’Adultera‹. Würzburg 2002 (=Epistemata 358), S.75–77. Die Dispositions- und Entwurfsblätter enthalten Formulierungen, die »im Gegensatz zur erzählten Zeit des poetisch-fiktionalen Textes nicht im Imperfekt, sondern im Präsens niedergeschrieben stehen. Diese sprachlichen Indizien sind Kennzeichen der vorerzählerischen fiktionalen Textebene, in der die Erzählebene noch nicht ausgeführt worden ist. [...] Die Entwürfe [und die erste Niederschrift; Anm. G.R.] hingegen fixieren vorwiegend die erzählerische, also die poetisch-fiktionale Textebene, in denen die Erzählebene langsam hervortritt.«

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tur in dramatischen als in narrativen Texten erinnern.12 An anderen Stellen fallen kleinere Formulierungswiederholungen auf, von denen man aber bisher angenommen hat, daß sie bei einer letzten Überarbeitung durch den Autor getilgt worden wären. Die Frage, warum Mathilde Möhring ein unvollendeter Text ist, wurde bisher nur auf der Grundlage der Entstehungsbedingungen beantwortet. Zu einer weiteren Differenzierung hat diese Vorgehensweise nicht geführt, im Gegenteil: Daß der vom Autor nicht fertiggestellte und zum Druck nicht autorisierte Mathilde-Möhring-Text erst postum veröffentlicht wurde und damit keine gesicherte Interpretationsgrundlage bietet, ist in fast allen literaturwissenschaftlichen Beiträgen nicht in Erwägung gezogen worden.13 Bis heute ist also immer noch offen geblieben, inwieweit der Text unvollendet ist, oder anders formuliert, welche Kennzeichen es gibt, die belegen, daß Mathilde Möhring kein druckfertiger, sondern ein unfertiger Text ist. Erst eine systematische Aufbereitung der Manuskriptblätter nach materialen, inhaltlichen und genetischen Gesichtspunkten könnte Aufschlüsse geben über den ›Grad‹ der Unabgeschlossenheit, weil allein die Handschrift Spuren der Unvollendetheit enthält.14

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Vgl. z.B. das Gespräch zwischen Mathilde und ihrer Mutter Adele Möhring im 11. Kapitel. Eine Ausnahme bildet Aust, der zu Beginn seiner Mathilde-Möhring-Interpretation darauf hinweist, daß eine Analyse fragmentarischer Werke im Gegensatz zu druckfertigen Texten nicht »den Blick auf den zuverlässigen Wortlaut« voraussetzen könne, da »ihr Verständnis zu einem großen Teil von eben jenem Wortlaut ab[hängt], der fehlt bzw. nicht als endgültig besiegelt ist«; Aust [Anm.6], S.275. Das hier vorgestellte Ergebnis ist im Rahmen des Forschungsprojektes Textgenetische Edition von Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹ entstanden, das vom Graduiertenkolleg Textkritik der Ludwig-Maximilians-Universität München (Deutsche Forschungsgemeinschaft) gefördert worden ist. – Eine erste Bestandsaufnahme findet sich in Gabriele Radecke, Für eine textgenetische Edition von Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, in: Textgenese und Interpretation. Vorträge und Aufsätze des Salzburger Symposions 1997, hrsg. von Adolf Haslinger, Herwig Gottwald, Hildemar Holl. Stuttgart 2000 (=Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 389), S.28– 45. Weitere Zwischenergebnisse sind festgehalten in: Gabriele Radecke, »Leider nicht druckfertig«. Spuren der Unvollendetheit in Theodor Fontanes ›Mathilde Möhring‹, in: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag, hrsg. von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke und Elke Senne. Tübingen 2003 (=Beihefte zu editio 19), S.220–230.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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1. Die Handschrift Die Mathilde-Möhring-Handschrift ist Eigentum der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Das Handschriftenkonvolut umfaßt 267 FolioBlatt, die von Fontane einseitig mit dem Mathilde-Möhring-Text beschriftet und von fremder Hand foliiert worden sind. Auf den ›Rückseiten‹ befinden sich Entwürfe und Niederschriften bereits abgeschlossener poetischer Texte, unter anderem Entwürfe zu Frau Jenny Treibel oder auch verschiedene Gedichte, die Fontane für die vierte Auflage der Sammlung seiner Gedichte (1892) geschrieben oder überarbeitet hat. Die Handschrift wird als archivalische Einheit im Theodor-Fontane-Archiv Potsdam aufbewahrt.15 Sie setzt sich in Wirklichkeit aus Manuskriptblättern verschiedener Entstehungsphasen zusammen, also Kapiteldispositionen, Entwürfen und der Überarbeitung der ersten Niederschrift. Die Grundschicht ist überwiegend mit Tinte geschrieben, die Revisionen16 sind mit Bleistift, Blaustift, Rotstift oder Tinte durchgeführt worden. Den umfangreichsten Teil bildet die im Sommer 1891 entstandene und erst 1895/96 überarbeitete Niederschrift; nur vereinzelte Blätter stammen vermutlich aus der ersten Arbeitsphase im Frühjahr 1891. Zunächst gibt es äußerliche Kennzeichen, die oberflächlich darauf hindeuten, daß der Arbeitsprozeß unabgeschlossen geblieben ist: Es fehlen zahlreiche An- und Abführungszeichen in den Dialogszenen sowie Punkte am Schluß der Sätze. Darüber hinaus fallen Unterschiede bei der Namensschreibung auf.17 Auch die Kapitelstruktur zeigt noch feine Unregelmäßigkeiten. Wenngleich sich der Roman in 17 durchgezählte Kapitel gliedert, so bezeugen die von Fontane ––––––– 15

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Theodor Fontane, ›Mathilde Möhring‹. Theodor-Fontane-Archiv Potsdam, Dauerleihgabe der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Theodor Fontane, Signatur St 53. Für die Einsicht in die Handschrift und die Abbildungsgenehmigung ist ganz herzlich zu danken. – Im folgenden werden die Zitate aus der Handschrift unter Mitteilung des Kapitels und der Blatt-Foliierung wiedergegeben. Der in der neugermanistischen Editionsphilologie immer noch verwendete Begriff Korrektur als Sammelbezeichnung für verschiedenartige Überarbeitungsformen und Schreibbewegungen ist zu ungenau, um die einzelnen Vorgänge im Werkentstehungsprozeß exakt zu beschreiben. Aus diesem Grund wird hier der in der Anglistik eingeführte Terminus Revision verwendet, und der Korrekturbegriff nur noch im traditionellen Sinne für die tatsächlichen Korrekturen der Abschriften und Druckfahnen gebraucht. Im Gegensatz zum Korrekturbegriff meint Revision den eigentlichen Überarbeitungsvorgang, dem nicht die Annahme von sprachlichen Textfehlern vorausgeht, sondern eine kritische Lektüre des Autors im Schreib- und Textentstehungsprozeß. Vgl. zur Terminologie Hans Walter Gabler, Optionen und Lösungen: Zur kritischen und synoptischen Edition von James Joyces ›Ulysses‹, in: editio 9 (1995), S.179–213, hier: S.179. Vgl. den Namen des Rechnungsrats Schultze, der auch einmal »Schulze« geschrieben wird. Mathilde Möhring, Kapitel 9b, Blatt 112.

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Gabriele Radecke

jeweils in die Abschnitte a und b unterteilten Kapitel 9 bis 11 noch das Stadium eines unabgeschlossenen Überarbeitungsvorgangs. Mehr als diese äußerlichen Kennzeichen, die allein genommen auch auf Flüchtigkeiten im Produktionsprozeß zurückzuführen wären, zeigen die verschiedenen Ausprägungen der individuellen Arbeitsweise Fontanes, daß das Schreiben nicht erst, wie bisher angenommen worden ist, kurz vor Drucklegung, sondern vielmehr schon mitten in einer Revision abgebrochen worden ist. Die Merkmale der Arbeitsweise gewinnen für die Argumentation an Bedeutung, wenn man weitere Manuskriptblätter der zu Lebzeiten Fontanes veröffentlichten Romane und Erzählungen hinzuzieht. Ebenso wie bei den meisten anderen poetischen Werken umfaßt die Mathilde-Möhring-Handschrift nicht nur Dispositionen, erste Entwürfe und die ausgearbeitete und revidierte erste Niederschrift, sondern auch die metatextuellen Anmerkungen des Autors. Der von mir eingeführte Begriff der metatextuellen Anmerkungen bezeichnet die handschriftlichen Bemerkungen, die Fontane als Autorpersönlichkeit zum größten Teil nach der ersten Niederschrift am Rand oder interlinear hinzugefügt hat. Diese Autorrede läßt sich in zwei Gruppen klassifizieren: in kritische Äußerungen über die künstlerische Gestaltung des Romans und in Hinweise für die noch bevorstehende Revision. So hat die Manuskriptanalyse von Fontanes Roman L’Adultera zum Beispiel ergeben, daß der Befund der metatextuellen Anmerkungen als Ausdruck eines noch unfertigen Textualisierungsstadiums gedeutet werden kann. Denn es ist folgendes zu beobachten: Je mehr sich Fontane im Schreiben der für den Druck vorgesehenen Textstufe genähert hat, desto weniger häufig findet man metatextuelle Anmerkungen. Es gibt eine Fülle von Autor-Bemerkungen also nur bis zur revidierten ersten Niederschrift; alle weiteren von ihm oder von seiner Frau Emilie angefertigten Abschriften enthalten nur noch einzelne oder gar keine über den Romantext hinausgehenden Formulierungen.18 Diese Deutung des handschriftlichen Befundes läßt sich auch auf das Mathilde-Möhring-Manuskript übertragen: Die letzte überlieferte Schreibstufe ist die revidierte erste Niederschrift mit den über alle Kapitel verstreuten metatextuellen Anmerkungen. Abschriften oder Reinschriften des Autors fehlen, die in der Regel eine weiter fortgeschrittene Überarbeitungsstufe dokumentieren. Auch eine letzte, von Emilie Fontane angefertigte Abschrift, die wie bei vielen anderen Romanen als Satzvorlage fungieren sollte, existiert mit Sicherheit nicht. Denn Emilie Fontane hat den Roman erst gut zwei Jahre nach dem Tod ihres

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Vgl. Radecke [Anm.11], S.72–90.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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Mannes am 31. Januar 1901 gelesen und auf dem Titelblatt notiert: »Leider nicht druckfertig«.19 Ein weiteres Kennzeichen der Nichtabgeschlossenheit bilden die linear und alinear verlaufenden oder am Rand hinzugefügten Mehrfachformulierungen eines Textabschnitts, die in den Entwürfen eher weniger, in der ersten Niederschrift und in der überarbeiteten Niederschrift hingegen an zahlreichen Stellen auftreten. Mit dem hier eingeführten Begriff der Mehrfachformulierung ist das Phänomen gemeint, das in der Forschung häufig zu ungenau als ›Alternativvariante‹ bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Alternativvariante bezieht sich eine Mehrfachformulierung nicht unbedingt auf sprachliche oder inhaltliche Differenzen verschiedener tendentiell abgeschlossener Systeme, sondern umfaßt auch abgebrochene und daher offen gebliebene, in der Schwebe gehaltene Textabschnitte. Es handelt sich um punktuell mehrfach autorisierte Wörter, Satzphrasen oder ganze Sätze, deren vorangegangene Stufen eben nicht aufgehoben oder ersetzt worden sind. Diese Mehrfachformulierungen umfassen nicht nur textpräzisierende Ergänzungen, sondern auch Optionen zu dem bisher fixierten Wortlaut, die sich häufig nicht grammatisch korrekt in die Grundschicht einbinden lassen. Auch gibt es Formulierungsversuche, die abrupt abgebrochen worden sind. Diese Textstellen sind keine nach syntaktischen oder logischen Kriterien zu definierende ›Fehler‹, sondern sie belegen vielmehr eine Störung des linearen und ›logischen‹ Textverlaufs, weil der Schreibprozeß noch nicht beendet worden ist.

2. Die Editionen Die Ursachen für die Fehleinschätzung, daß Fontanes Mathilde Möhring ein druckfertiger Nachlaß-Text sei, sind nicht allein in einer bisher ausgebliebenen Manuskriptanalyse zu suchen. Da Texte durch Editionen vermittelt rezipiert werden, liegt die Vermutung nahe, daß auch die bisherigen FontaneAusgaben die Verantwortung für das interpretatorische Mißverständnis tragen müßten. In der Tat behandelt sowohl die historische als auch die »gegenwärtige Editionspraxis [...] das Werk als eine im wesentlichen fertiggestellte Arbeit«,20 wie es Hugo Aust einmal treffend formuliert hat, ohne aber die verschiedenen Editionskonzepte miteinander zu vergleichen. So verzichten zum Beispiel alle bisher abgeschlossenen Fontane-Studienausgaben auf eine Differenzierung zwischen den zu Lebzeiten Fontanes veröffentlichten ––––––– 19 20

Mathilde Möhring, Kapitel 1, unfoliiertes Blatt, vor Blatt 1. Aust [Anm.6], S.275.

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Romanen und Erzählungen einerseits und der postum herausgebrachten Mathilde Möhring andererseits.21 Allein durch diese makroeditorische Entscheidung wird nicht deutlich genug, daß die Grundlage des neu konstituierten Textes ein fragmentarischer, vom Autor nicht zum Druck begleiteter Text gewesen ist. Die fehlgeleitete Rezeptionssteuerung begann aber nicht erst im Zuge der Arbeiten an den großen Fontane-Studienausgaben, sondern schon während der Vorarbeiten zu einer ersten postumen Veröffentlichung. 1906 sind Zeitungsmeldungen über die Manuskript-Entdeckung und die zu erwartende Erstveröffentlichung der Mathilde Möhring erschienen, die über den »kleine[n] Roman« aus Fontanes »literarische[m] Nachlaß« berichten; die Pressestimmen stellen dabei aber wohl zu deutlich fest, daß dem MathildeMöhring-Text lediglich eine »Schlußredaktion« durch den Autor gefehlt habe.22 Im Auftrag der Nachlaßkommission besorgte der Journalist und Redakteur Josef Ettlinger die Erstpublikation. Mathilde Möhring wurde zunächst 1906 als Fortsetzungsabdruck in der Familienzeitschrift Die Gartenlaube herausgebracht,23 zwei Jahre später weitgehend unverändert in der Sammelpublikation Aus dem Nachlaß 24 und schließlich 1915 als Buch.25 In einem Gutachten, das Ettlinger am 13. Dezember 1905 Fontanes jüngstem Sohn, dem Verleger Friedrich Fontane mitgeteilt hat, begründet der Herausgeber die Veröffentlichung des Romans aus dem Nachlaß: »Es handelt sich hier um ein im wesentlichen fertiges Werk, dem nur die letzte Durcharbeitung da und dort noch fehlt«.26 Im Vorwort zur Sammelpublikation Aus dem Nachlaß wird dann deutlich, wie Ettlinger seinen zuvor formulierten Lese––––––– 21

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In der Großen Brandenburger [Fontane-]Ausgabe, Abteilung Das erzählerische Werk, wird Fontanes Mathilde Möhring erstmals abgesetzt von den vom Autor zum Druck begleiteten Romanen und Erzählungen ediert. So z.B. in der Deutschen Tageszeitung vom 12. März 1906, in den Berliner Neuesten Nachrichten vom 13. März 1906, in der Deutschen Zeitung vom 15. März 1906 und in der Gothaischen Zeitung vom 30. März 1906. Die Zeitungsausschnitte sind mir freundlicherweise vom Theodor-Fontane-Archiv zur Verfügung gestellt worden. Theodor Fontane, Mathilde Möhring, hrsg. von Josef Ettlinger, in: Die Gartenlaube 54 (1906), Nrn.46–52. Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Roman, in: Aus dem Nachlaß, hrsg. von Josef Ettlinger. Berlin 1908, S.1–121. Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Roman. Berlin 1915 (=Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane). Zit. nach Gotthard Erler, Nachwort, in: Theodor Fontane, Mathilde Möhring. Roman. Mit einem Nachwort neu hrsg. von G.E. München 1995 (=dtv 2350), S.147–158, hier: S.113. Vgl. auch die Ankündigung des Mathilde-Möhring-Abdrucks in der Gartenlaube, in der der Text als »vollendeter Roman« beschrieben wird (›Mathilde Möhring‹ der letzte Roman von Theodor Fontane, in: Die Gartenlaube 54 [1906], S.964).

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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Eindruck in die editorische Praxis umgesetzt hat. Er versteht seine Rolle als ›Testamentsvollstrecker‹ und Co-Autor, denn er war stets bemüht, dem unvollendeten Text mit seinen Unebenheiten eine für die Interpretation gesicherte und endgültige Gestalt zu geben, gerade auch bei den Textstellen, die noch Mehrfachformulierungen enthalten: »Die Redaktion des Druckes beschränkt sich auf eine leichte Nachbesserung noch vorhandener stilistischer Flüchtigkeiten und auf die Feststellung des Textes an den ziemlich zahlreichen Stellen, wo der Dichter selbst sich zwischen mehreren von ihm niedergeschriebenen Lesarten noch nicht entschieden hatte.«27 Ettlinger hat also eine Bearbeitung des Romans ohne wissenschaftliche Kriterien und Nachweise vorgelegt, die sich an vielen Stellen von den Textzuständen der Überlieferung unterscheidet. So sind einerseits moralisch anstößige Textpassagen vom Herausgeber nicht berücksichtigt und zahlreiche Veränderungen aus stilistischen Erwägungen bei der Textkonstitution durchgeführt worden.28 Andererseits hat Ettlinger viele von Fontane eindeutig gestrichene Textphrasen in den edierten Text aufgenommen, ohne jedoch editorische Hinweise auf die in der Handschrift erfolgten Tilgungen zu geben. Hinzu kommt schließlich, daß die zahlreichen metatextuellen Anmerkungen sowie die strukturelle Gliederung des Romans in 17 Kapitel von Ettlinger übergangen worden sind. Erst sechzig Jahre später hat Gotthard Erler festgestellt, daß Ettlinger im Gegensatz zu seiner Äußerung nicht nur eine »leichte Nachbesserung« der überlieferten Textgestalt vorgenommen hat, sondern daß er vielmehr eigenmächtig in Fontanes »Wort- und Stilgefüge« eingegriffen und zahlreiche Textkürzungen vorgenommen hat.29 Erlers Beispiele ließen sich noch durch weitere Belege ergänzen, auf die aber hier verzichtet werden muß.30 Es bleibt insgesamt festzuhalten, daß Ettlinger eine Bearbeitung des Romans vorgelegt hat, die einen stilistisch geglätteten Text präsentiert, der es dem Leser un––––––– 27 28

29 30

Josef Ettlinger, Vorwort, in: Ettlinger [Anm.24], S.VII–XVIII, hier: S.XIII (Fußnote). Der Anhang mit der Gegenüberstellung von diplomatischer Transkription und den bisherigen Mathilde-Möhring-Editionen verdeutlicht Ettlingers Eingriffe in die Textgestalt bezüglich der erzählten Zeit, des Satzbaus durch Ergänzung fehlender Verben oder Substantive, durch Wortumstellungen und Veränderungen der Satzlänge. Vgl. Erler [Anm.26], S.148–151. So hat Erler nicht nur das von Ettlinger versehentlich gelesene Wort »Straßenbahn« in »Pferdebahn« korrigiert und »Pfannkuchen« in »Kranzkuchen«, sondern auch den von Ettlinger nicht beachteten letzten Satz des Romans ergänzt und infolgedessen den offen angelegten Schluß des Textes für die Interpretation wiederhergestellt (im Anhang, Beispiel 2); vgl. die ausführliche Darstellung in Radecke 2000 [Anm.14], S.41–43.

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möglich macht, die durch die Handschrift überlieferten Merkmale der Unvollendetheit zu erkennen. Erlers Neuedition von 1969, die im Rahmen der ersten Gesamtausgabe von Theodor Fontanes Romanen und Erzählungen in der DDR hervorgebracht worden ist,31 gilt bis heute als verbindliche Ausgabe, weil man annimmt, daß sie den »garantiert echt[en]«32 und »authentische[n]«33 MathildeMöhring-Text präsentiert. Im Vergleich mit Ettlingers Erstedition zeichnet sich Erlers Textkonstitution durch eine exakte Transkription und durch den prinzipiellen Verzicht auf stilistische Glättungen aus. Außerdem hat er eigene Emendationen oder Konjekturen als solche gekennzeichnet. Hinzu kommt, daß erst mit Erlers Edition die noch bei Ettlinger getilgte, handschriftlich aber bezeugte Kapiteleinteilung des Romans wiederhergestellt und der letzte, bei Ettlinger nicht gedruckte Satz »Rebecca hat sich verheirathet.« wiedergegeben worden ist. Zu Recht ist erkannt worden, daß der Roman durch die Kapitelgliederung in seiner äußeren Struktur eigentlich viel weiter ausgebildet ist, als man es bis dahin auf der Grundlage von Ettlingers kapitelloser Textdarbietung angenommen hat.34 Erler erhebt den Anspruch, »F[ontane]s Handschrift zugrunde [gelegt zu haben], wo der fragmentarische Charakter des Werkes offenbar wird«.35 Im Gegensatz zu Ettlingers Ausgabe ist das auch streckenweise gelungen: Die Unregelmäßigkeiten des Textes, wie zum Beispiel die oben bereits erwähnten unterschiedlichen Namen für die Rechnungsrätin und den Arzt, werden erstmals beibehalten. Die Dispositionen und Entwürfe werden dem Leser nicht wie bei Ettlinger vorenthalten, sondern in einem Anhang veröffentlicht und die Entstehungsvarianten zumindest in einer Auswahl wiedergegeben. Der Vergleich mit der Handschrift zeigt aber deutlich, daß auch Erlers Textausgabe die verschiedenartigen Kennzeichen der Nichtvollendung nur unzureichend beachtet und für die Textkonstitution nicht genügend umgesetzt hat. So werden die Kapitelabschnitte zwar wieder––––––– 31

32

33

34

35

Theodor Fontane, Mathilde Möhring, in: Th.F.: Romane und Erzählungen in acht Bänden, hrsg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn. Berlin (DDR) 1969. Band 7: Effi Briest, Die Poggenpuhls, Mathilde Möhring, S.417–522. So lautet die Überschrift in einer Besprechung der Erler-Ausgabe im Münchner Merkur vom 28./29. August 1971. Marcel Reich-Ranicki, In Sachen Fontane. ›Mathilde Möhring‹ erst jetzt in authentischer Fassung, in: Die Zeit, Nr.45, 5. November 1971, S.21. Vgl. Gotthard Erler, ›Mathilde Möhring‹, in: Fontanes Realismus. Wissenschaftliche Konferenz zum 150. Geburtstag Theodor Fontanes in Potsdam. Vorträge und Berichte, hrsg. von Hans-Erich Teitge und Joachim Schobeß. Berlin (DDR) 1972, S.149–156, hier: S.153. Erler [Anm.26], S.111.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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gegeben, aber ohne die für Kapitel 9 bis 11 handschriftlich dokumentierten Unterteilungen a und b. Lediglich der Anhang weist auf den Befund im Manuskript hin. Ebenso sind die fehlenden An- und Abführungszeichen, Punkte sowie Buchstaben stillschweigend ergänzt worden. Nicht nur Erlers editorische Einzelentscheidungen, sondern gerade auch sein übergreifendes Editionsprinzip tragen dazu bei, daß dem Leser die wesentlichen Merkmale der Unvollendetheit nicht mitgeteilt werden. Denn ebenso wie Ettlinger hat sich Erler für den Abdruck eines linearen Lesetextes entschieden, der dem Prinzip letzter Textschicht folgend auf die exakte Wiedergabe der Mehrfachformulierungen im edierten Text verzichtet. Mit dieser Vorgehensweise, ein wichtiges Kennzeichen des unabgeschlossenen Textes für die Textkonstitution nicht zu berücksichtigen, verstößt Erler aber zugleich gegen den von ihm selbst erhobenen Anspruch, denn er beabsichtigte, den »fragmentarische[n] Charakter des Werkes« konsequent bewahrt zu haben. Hinzu kommt, daß Erler für die Darstellung der syntaktisch unfertigen Mehrfachformulierungen gekennzeichnete Herausgeber-Ergänzungen vorgenommen hat, die ein wichtiges Indiz der Nichtvollendung im Druck verwischen (im Anhang, Beispiel 2). Erlers Begründung für die Darstellung der letzten Textschicht zeigt darüber hinaus, daß nicht die Überlieferung allein, sondern sein eigenes HerausgeberVorverständnis hinsichtlich stilistischer und logischer Kriterien letztendlich über die verschiedenen Formulierungsoptionen des Autors und deren Einbindung in den edierten Text entscheiden: »Meist bedeutet dieses Nebeneinander [der Formulierungen] allerdings keine Unschlüssigkeit [des Autors], denn durchweg sind die zweiten Fassungen einleuchtender und sinnvoller, so daß wir uns stets für die nachträglich geschriebene Version entscheiden konnten.«36 Die Mathilde-Möhring-Rezeption ist durch die Lektüre- und Interpretationserfahrungen der Editoren, die sich in den Prinzipien der Textkonstitution wiederfinden, so beeinflußt worden, daß der Leser die wichtigste Eigenschaft nicht mehr erkannt hat: die Unvollendetheit des Textes. Erler hat im Gegensatz zu Ettlinger die ›bessere‹ Edition erarbeitet, weil er über eine genauere Handschriftenkenntnis verfügt, die äußere Entstehungsgeschichte und die innere Textgenese rekonstruiert und die Eigenschaften des Textes in seiner handschriftlichen Überlieferung zumindest in Ansätzen in die gedruckte Textgestalt überführt hat. Ebenso wie Ettlinger hat Erler aber keinen »authentischen« Mathilde-Möhring-Text vorgelegt, sondern einen Herausgebertext in einer Form, die den entstehungs- und überlieferungsgeschichtlichen Gegebenheiten nicht entspricht. Authentisch allein ist die Textstruktur auf den ––––––– 36

Ebd.

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Gabriele Radecke

Blättern der Handschrift; die Editionen können nur die handschriftlichen Befunde und ihre Deutungen in einer möglichst angemessenen Druckgestalt wiedergeben. Ziel einer Neuedition sollte es also vor allem sein, die handschriftlichen Merkmale der Unvollendetheit für den konstituierten Text beizubehalten, damit der Roman in Zukunft als unvollendeter Text wahrgenommen und interpretiert werden kann.

3. Prinzipien der Neuedition Die Neuedition der Mathilde Möhring wird von mir in zwei Ausgaben vorbereitet, die auf unterschiedliche Weise die Befunde der Handschrift und ihre Deutungen in ein überlieferungsadäquates Druckbild überführen sollen: eine Faksimile-Ausgabe einerseits und eine separate Edition andererseits. Mit den beiden Neuausgaben werden zudem verschiedene Leser- und Benutzerkreise angesprochen. Die Faksimile-Ausgabe wird die Materialität und die Räumlichkeit der Handschrift, die Arbeitsweise des Autors und die Textgenese mit ihrer unvollendeten Textstruktur zum Ausdruck bringen. Die Abbildung der Handschrift ergänzt eine streng-diplomatische, der Topographie der Handschrift verpflichtete Transkription, die mit einer zeichen-, zeilen- und positionsgetreuen Wiedergabe des handschriftlichen Befundes eine nützliche Orientierungshilfe bietet und konsequent auf einen ›letztgültigen‹ und linearen Text verzichtet. Die zweite Ausgabe wird im Rahmen der Großen Brandenburger [Fontane-]Ausgabe einen konstituierten Text vorlegen, der aber im Gegensatz zu den beiden bisherigen Ausgaben von Ettlinger und Erler den Anspruch erheben kann, die wesentlichen Spuren der Unvollendetheit zu bewahren. Die Editionsprinzipien müssen dabei über die Richtlinien der kritisch angelegten Fontane-Studienausgabe hinausgehen, da die Grundlage für die Textkonstitution nicht ein Druck, sondern die Handschrift ist. Neben dem konstituierten Text wird ein Apparat erarbeitet, in dem die historischkritische und genetische Aufbereitung des Textes ihren Widerhall findet. Der konstituierte Text enthält alle nicht getilgten Textteile; die Mehrfachformulierungen mit ihren Unebenheiten und Erzählbrüchen werden mit Hilfe eines integralen Apparates also sichtbar im Text bleiben (im Anhang, Beispiel 2), und auch die metatextuellen Anmerkungen des Autors sollen, soweit sie im Schreibprozeß noch nicht überholt worden sind, als Randnoten neben dem konstituierten Text stehen. Denn auch die metatextuellen Anmerkungen kennzeichnen die unterschiedlichen und nicht zu Ende geführten Abschnitte des schriftstellerischen Produktionsprozesses. Mit dieser Entscheidung wird

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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der konstituierte Text also in zweierlei Hinsicht – durch integrale Apparate und Randnoten – in einer neuen, alinearen und für Studienausgaben eher unüblichen Gestalt präsentiert. Darüber hinaus wird grundsätzlich auf Texteingriffe und Ergänzungen – etwa der Redezeichen oder der fehlenden Buchstaben – im konstituierten Text verzichtet, da es keine ›Fehler‹ der überlieferten Textstruktur mehr gibt, sondern nur noch Störungen, die neben den Mehrfachformulierungen und den metatextuellen Anmerkungen die wichtigen Merkmale des unvollendeten Schreibprozesses bilden. Der Apparat hingegen verzeichnet alle getilgten Textabschnitte, weil sie als Abschluß eines Schreibvorganges gedeutet werden können; er gibt Auskunft über die Materialität (zum Beispiel die Verwendung der verschiedenen Schreibgeräte) und die Genese. Im Gegensatz zur diplomatischen Transkription in der FaksimileAusgabe wird im Apparat der Studienausgabe aber auf eine exakte Dokumentation der Zeilen- und Seitenumbrüche verzichtet. Die Studienausgabe wird neben dem konstituierten Text und dem genetischen Apparat einen Überblick über die Editionsgeschichte und die handschriftliche Überlieferung, einen editorischen Bericht, ein Nachwort sowie einen Stellenkommentar enthalten. Am Beispiel des Schlußabschnitts (Blatt 263, im Anhang, Beispiel 2) wird die praktische Umsetzung der zuvor angestellten theoretischen Überlegungen sichtbar. Das handschriftliche Blatt dokumentiert mehrere Textschichten, die aus den drei rekonstruierten Schreibphasen von 1891 bis 1895/96 stammen: erste Dispositionen und Entwürfe, die ausformulierte Niederschrift und ihre Überarbeitung. Die Chronologie der Blattbeschriftung läßt sich aufgrund inhaltlicher Kriterien, aus der materialen Beschaffenheit der Handschrift sowie aus der Kenntnis der Arbeitsweise des Autors rekonstruieren. Fontane hat das leere Blatt zunächst nur mit dem Text »Das war kurz vor« bis »das thut sie noch.« beschriftet. Diese Grundschicht stellt den ersten überlieferten Schluß des Romans dar. Es gibt materiale und inhaltliche Gründe für die Annahme, daß es sich hierbei um einen Teil der Grundschicht der ersten Niederschrift des Mathilde-Möhring-Textes handelt; denn Fontane verwendete wie bei anderen Textteilen der ersten Niederschrift durchweg schwarze Tinte und hat am linken Blattrand noch Platz für mögliche Texthinzufügungen gelassen. Darüber hinaus ist die Schrift größer als bei den anderen Textteilen und man findet nur vereinzelte Streichungen. Schließlich hat Fontane das Imperfekt gebraucht, ein Kennzeichen für die erzählerisch-fiktionale Textebene, die ihre verdichtete Ausbreitung erst in der ersten Niederschrift gefunden hat. Neben dieser Grundschicht sind andere Textschichten zu erkennen: die erweiterten Überarbeitungen des Romanschlusses. Auf das Blatt

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sind vier Blatteile aufgeklebt worden, die in der diplomatischen Transkription durch Ränder markiert worden sind. Diese Blatteile sind vor der ersten Niederschrift beschriftet worden. Sie sind aus einem anderen Blatt der Handschrift ausgeschnitten worden, auf dem einmal ein früher Mathilde-MöhringEntwurfstext gestanden hat. Der wichtigste Grund für die Annahme, daß es sich bei den vier aufgeklebten Papierstücken tatsächlich um Blatteile der frühen Dispositions- und Entwurfsphase handeln muß, ist der Tempusgebrauch. Denn sie bezeugen das vorerzählerisch-fiktionale Präsens der ersten Entwürfe, nicht aber das erzählerisch-fiktionale Imperfekt der späteren Niederschrift. Dieses sprachliche Kriterium ist das wichtigste Kennzeichen der vorerzählerisch-fiktionalen Dispositions- und Entwurfsphase, das auch für andere Romane Fontanes gilt. Denn das Präsens ist nur in der ersten konzeptionellen Phase verwendet worden, die Skizzen, Dispositionen und Entwürfe umfaßt. Die hier aufgeklebten Blatteile stammen sogar aus einer sehr frühen Zeit, da auf ihnen noch nicht der Übergang zur poetisch-fiktionalen Erzählzeit fixiert, sondern nur das vorerzählerisch-fiktionale Präsens belegt ist. Nachdem die Blatteile aufgeklebt worden sind, hat Fontane dann das Verbindungszeichen zwischen der Grundschicht (»noch.«) und dem Text auf dem ersten aufgeklebten Blatteil (»in Berlin«) hinzugefügt. Anschließend folgte vermutlich die Überarbeitung der ehemaligen Entwurfstexte, denn Fontane schrieb nun mit Bleistift und ergänzte in kleinerer Schrift interlinear und am rechten Blattrand neue Textteile. Die Beschriftung setzte in der Regel auf einem aufgeklebten Blatt ein und wurde dann ohne Unterbrechung auf dem unteren, seinerseits beschriebenen Textträger37 weitergeführt. Zum Schluß folgte dann die interlineare Hinzufügung von »dem Examen,« bis »fährt sie jeden Morgen«, die sich dann weiter über den breiten linken Blattrand erstreckt. Sie ist mit Tinte ausgeführt, die Schriftgröße ist hier kleiner als in der Grundschicht und der Schreibraum am linken Rand ist nur bis zum Beginn der aufgeklebten Blätter genutzt worden. Bemerkenswert ist, daß Fontane aber im Tempus der Dispositions- und Entwurfsphase (Präsens) geblieben ist, obwohl der Textualisierungsprozeß mit der erzählten Zeit des Imperfekt und Perfekt eigentlich schon die erzählerisch-fiktionale Textebene der ersten Niederschrift erreicht hat. Aufgrund der genetischen Analyse der Handschrift ist der Tempuswechsel am Romanende also nicht unbedingt als bewußtes Vorgehen des Autors zu bewerten, etwa um ein visionäres Ende zu gestalten. Er zeigt vielmehr, daß es sich hierbei offensichtlich ›nur‹ um eine weitere Spur des unvollendeten Mathilde-Möhring-Textes handelt. ––––––– 37

Mit dem Begriff Textträger ist das Blatt gemeint, auf das die Blätter aufgeklebt worden sind.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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Sowohl Ettlingers als auch Erlers Edition bieten einen durchgehend modernisierten und normierten Text in linearer Gestalt, der die Kennzeichen der Unvollendetheit auf unterschiedliche Weise verwischt: Ettlinger durch sprachliche Eingriffe und Hinzufügungen, Erler durch einzelne Ergänzungen bzw. Wortumstellungen, wenn sich die letzte Textschicht grammatisch nicht mehr in die Grundschicht einordnen läßt. Beide Herausgeber verzichten zudem auf eine Darstellung der Mehrfachformulierungen im konstituierten Text. In der Neuedition innerhalb der Fontane-Studienausgabe werden hingegen alle Formulierungsoptionen und damit auch die offen gebliebenen Textstellen als Bestandteile des konstituierten Textes mit Hilfe eines übersichtlichen integralen Apparates aufgenommen. Mit dieser Darstellung wird der gewohnte lineare Verlauf des edierten Textes in Studienausgaben durchbrochen zugunsten einer alinearen Textstruktur, die den Lesefluß – ebenso wie die Handschrift – unterbricht, so daß auch von einem breiten Publikum die Unvollendetheit der Mathilde Möhring dann nicht mehr in Frage gestellt werden kann.

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4. Anhang 4.1. Beispiel 1: Kapitel 13, Blatt 197 recto 4.1.1. Handschrift

Abb.1: Theodor Fontane, Mathilde Möhring, Kapitel 13, Blatt 197 recto (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, St 53. Aufnahme: Theodor-Fontane-Archiv Potsdam).

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

4.1.2. Diplomatische Transkription Radecke

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4.1.3. Konstituierter Text Radecke

Hier muß ich Silberstein vermeiden; irgend eine andre Figur nehmen.

Apparat Thilde] ward] drang in den]

13. Kapitel. In dieser Weise gingen die Unterhaltungen, die Thilde mit Hugo führte, wenn dieser vom Rathaus in seine Wohnung zurückkehrte. Gegen den Herbst hin ward auch die Ampel jeden Abend herabgelassen und ein Unschlitt-Licht hineingesetzt, was so wunderbar leuchtete, daß niemand vorüberging, der nicht einen Blick hineingethan hätte. »Die Berliner haben doch einen Schick für so was.« Rebecca Silberstein drang in den Vater auch dergleichen anzuschaffen. Er war aber dagegen. Rebecca wenn er kommt (ich sage nicht wer) dann sollst Du haben die Ampel und nicht Rosa sollst Du haben, Du sollst sie haben in Rubin und sollst haben,

Hugo Thilde wurde ┌ ward ┐ ruhte nicht eher, als bis der ┌ drang in den ┐

4.1.4. Ausgabe Ettlinger38 [Kapitelüberschrift fehlt; Anm. G.R.] In dieser Weise gingen die Unterhaltungen, die Thilde mit Hugo führte, wenn er vom Rathaus in seine Wohnung zurückkehrte. Gegen den Herbst hin wurde auch die Ampel jeden Abend heruntergenommen und ein Unschlittlicht hineingetan, was dann so magisch leuchtete, daß niemand vorüberging, der nicht einen Blick in den Hausflur getan hätte. »Die Berliner haben doch einen Schick für so was,« meinte Rebekka Silberstein und drang in ihren Vater, auch dergleichen anzuschaffen. [Satz fehlt; Anm. G.R.] »Rebekka, wenn er kommt – ich sage nicht wer – dann sollst du haben die Ampel, und nicht rosa sollst du sie haben, du sollst sie haben in Rubin und sollst haben, ––––––– 38

Der Textausschnitt ist entnommen aus Fontane, Mathilde Möhring [Anm.24], S.89f.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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4.1.5. Ausgabe Erler39 Dreizehntes Kapitel In dieser Weise gingen die Unterhaltungen, die Thilde mit Hugo führte, wenn dieser vom Rathaus in seine Wohnung zurückkehrte. Gegen den Herbst hin ward auch die Ampel jeden Abend herabgelassen und ein Unschlitt-Licht hineingesetzt, was so wunderbar leuchtete, daß niemand vorüberging, der nicht einen Blick hinein getan hätte. »Die Berliner haben doch einen Schick für so was.« Rebecca Silberstein drang in den Vater, auch dergleichen anzuschaffen. Er war aber dagegen. »Rebecca, wenn er kommt (ich sage nicht wer), dann sollst du haben die Ampel, und nicht Rosa sollst du haben, du sollst sie haben in Rubin und sollst haben, Varianten: Keine Verzeichnung; die metatextuellen Anmerkungen werden im Anhang mitgeteilt: Silberstein] Dazu am Rand mit Bleistift: Hier muß ich Silberstein vermeiden; irgendeine andre Figur nehmen.

––––––– 39

Fontane, Mathilde Möhring [Anm.31], S.476.

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4.2. Beispiel 2: Kapitel 17, Blatt 263 recto 4.2.1. Handschrift

Abb.2: Theodor Fontane, Mathilde Möhring, Kapitel 17, Blatt 263 recto (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, St 53. Aufnahme: Theodor-Fontane-Archiv Potsdam).

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

4.2.2. Diplomatische Transkription Radecke, Ausschnitt

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4.2.3. Konstituierter Text Radecke Das war kurz vor [1] Beginn der Schule. Später kam man selten darauf zurück, nur an den Gedächtnißtagen sprachen sie von Hugo. Sonst ging Thilde ganz in ihrem neuen Beruf auf und das thut sie noch [2] dem Examen, das Thilde glänzend bestand, viel glänzender als Hugo damals das seine. Noch an demselben Tage sagte man ihr, daß eine Stelle für sie frei sei; man freue sich ihr dieselbe geben zu können. Am 1. Oktober trat sie ein, Berlin N., zwischen Moabit und Tegel. Sie ging muthig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf. Nur ohne Krimmstecher. Das seitens der Schuldeputation in sie gesetzte Vertraun hat sie gerechtfertigt. Hinaus fährt sie jeden Morgen Hinaus fährt sie mit der Pferdebahn, den Weg zurück macht sie zu Fuß und kauft immer was ein für die [1] Alte: eine Apfelsine einen Kranz= [2] Mutter, einen Kranzkuchen, eine Tüte voll Prünellen oder auch einen Geraniumtopf. [3] einen Kranzkuchen oder einen Geraniumtopf oder eine Tüte mit Prünellen. Oft auch am Oranienbu Thor eine Hasenleber, weil sie weiß daß stange oder eine Hasenleber. Hasenleber ist das Lieblingsgericht der Alten Und die Alte sagt dann: Gott Thilde, wenn ich Dich nicht hätte. »Laß doch Mutter, wir haben es ja.« »Ja, Thilde, es is schon wahr. Aber wenn es man bleibt«. »Es wird schon.« Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über über der Chaise longue und 2 mal im Jahr kriegt er nach Woldenstein hin einen kleinen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück. Rebecca hat sich verheirathet.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

Apparat frei] seitens] Hinaus ... mit der Pferdebahn]

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frei frei in sie seitens in Berlin N, zwischen Moabit und Tegel. Hinaus fährt sie mit der Pferdebahn

Mutter, einen ... weiß daß] »Ja, Thilde ... schon.«]

Mutter, einen ... weiß daß ┌1 »Ja, Thilde, ┌3 es is schon wahr. 3┐ ┌2 Aber 2┐ wenn es man bleibt.« »Es wird schon.« 1┐ Photographie ... über] Photographie steht aber auf der Kommode ┌1 hängt aber 1┐ ┌2 mit einer schwarzen Schleife über 2┐ kriegt er ... verheirathet.] kriegt er ┌1 nach Woldenstein hin 1┐ einen kleinen Kranz. Sil ┌1 berstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen ┌2 zurück. 2┐ Rebecca hat sich verheirathet. 1┐

4.2.4. Ausgabe Ettlinger40 Das war kurz vor dem Examen gewesen, das Thilde weit glänzender bestand als Hugo damals das seine. Noch am selben Tag sagte man ihr, daß eine Stelle für sie frei sei. Man freute sich, sie ihr geben zu können. Am ersten Oktober trat sie ein, in Berlin N, zwischen Moabit und Tegel. Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tag, als sie von Woldenstein wieder in Berlin eingetroffen war, nur ohne Krimstecher. Das seitens der Schuldeputation in sie gesetzte Vertrauen hat sie gerechtfertigt. Hinaus fährt sie jeden Morgen mit der Straßenbahn, den Weg zurück macht sie zu Fuß und kauft öfters was ein für die Mutter, eine Tüte voll Prünellen, einen Pfannkuchen, einen Geraniumtopf oder wohl auch am Oranienburger Tor eine Hasenleber, weil sie weiß, daß Hasenleber das Lieblingsgericht der Alten ist. Und die Alte sagt dann: »Gott, Thilde, wenn ich dich nich hätte.« »Laß doch, Mutter, wir haben es ja.« »Ja, Thilde, es is schon wahr, aber wenn es man bleibt.« »Es wird schon.« – ––––––– 40

Fontane, Mathilde Möhring [Anm.24], S.121.

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Gabriele Radecke

Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie aber hängt mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahr kriegt er auf das Grab in Woldenstein einen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück. [letzter Satz fehlt; Anm. G.R.]

4.2.5. Ausgabe Erler41 Das war kurz vor dem Examen, das Thilde glänzend bestand, viel glänzender als Hugo damals das seine. Noch an demselben Tage sagte man ihr, daß eine Stelle für sie frei sei; man freue sich, ihr dieselbe geben zu können. Am 1. Oktober trat sie ein, Berlin N, zwischen Moabit und Tegel. Sie ging mutig ans Werk, hatte frischere Farben als früher und war gekleidet wie an dem Tage, wo sie von Woldenstein wieder in Berlin eintraf. Nur ohne Krimstecher. Das seitens der Schuldeputation in sie gesetzte Vertraun hat sie gerechtfertigt. Hinaus fährt sie jeden Morgen mit der Pferdebahn, den Weg zurück macht sie zu Fuß und kauft immer was ein für die Mutter, einen Kranzkuchen oder einen Geraniumtopf oder eine Tüte mit Prünellen. Oft auch am Oranienburger Tor eine Hasenleber, weil sie weiß, daß Hasenleber das Lieblingsgericht der Alten [ist]. Und die Alte sagt dann: »Gott, Thilde, wenn ich dich nicht hätte.« »Laß doch, Mutter, wir haben es ja.« »Ja, Thilde, es is schon wahr. Aber wenn es man bleibt.« »Es wird schon.« Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahre kriegt er nach Woldenstein hin einen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück. Rebecca hat sich verheiratet. Varianten: Keine Verzeichnung; im Anhang der Ausgabe wird über die »Vorarbeiten und Notizen« informiert: Blatt 263 der Handschrift weist eine ältere Fassung des Schlusses auf: »Das war kurz vor Beginn der Schule. Später kam man selten drauf zurück, nur an den Gedächtnistagen sprachen sie von Hugo. Sonst ging Thilde ganz in ihrem neuen Beruf auf, und das tut sie noch.« ––––––– 41

Fontane, Mathilde Möhring [Anm.31], S.500f.

Gedeutete Befunde und ihre Darstellung im konstituierten Text

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Verzeichnis der textkritischen Zeichen und Textauszeichnungen ┐ ┌ XXX ┐ ┌1 XXX 1┐ ┌2 XXX 2┐ ┌3 XXX 3┐ XXX Fettdruck

Times New Roman Modern No. 20 KAPITÄLCHEN [□ □]

Fontanes Einweisungszeichen Texthinzufügung über der Zeile

Nacheinander erfolgte Texthinzufügungen Gestrichener Text Textauszeichnung durch G.R. zur Unterscheidung zwischen der diplomatischen Transkription und den edierten Texten in den Ausgaben von Ettlinger und Erler Mit Tinte geschriebener Text Mit Bleistift geschriebener Text Mit lateinischen Buchstaben geschriebener Text Anfang des Textabschnitts auf einem aufgeklebten Blatt Ende des Textabschnitts auf einem aufgeklebten Blatt

JOHANNES JOHN

»DIE WIRKLICHE WIRKLICHKEIT DERSELBEN …« Zur Problematik und Praxis der Emendationen in Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften

Als Rüdiger Nutt-Kofoth unlängst auf einer editionswissenschaftlichen Tagung »Vom Schwinden der neugermanistischen Textkritik«1 sprach, galt sein Augenmerk in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich der Emendationspraxis innerhalb laufender oder schon abgeschlossener Editionsvorhaben, wobei er von seiten der Herausgeber solcher Ausgaben ganz generell einen zunehmend vorsichtigeren, ja skrupulöseren Umgang mit Texteingriffen konstatierte. Diese Tendenz ist – parallel zu oder als Resultat ›praktischer‹ Editionsarbeit – in den vergangenen Jahrzehnten auch theoretisch intensiv reflektiert und diskutiert worden, wobei der Wunsch nach möglichst verbindlicher Systematisierung und Abstrahierung einerseits und den je spezifischen Erfordernissen des Einzelfalls zum anderen, der sich nicht selten als die Ausnahme von der Regel erweist, in einem unvermeidlichen, dabei freilich oft produktiven Spannungsverhältnis stehen. Insbesondere hinsichtlich der »Eingriffe in den überlieferten Text«2 durch Konjektur und Emendation hat es an Definitionsversuchen nicht gefehlt, wobei die 1971 von Gunter Martens und Hans Zeller herausgegebene Aufsatzsammlung Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretati-

––––––– 1

2

So der Titel seines Plenarvortrags am 26. Februar 2004 anläßlich der ›Internationalen österreichisch-deutschen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition‹, die vom 25. bis zum 28. Februar 2004 unter dem Thema »Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft« in Innsbruck stattfand. Der Vortrag ist inzwischen erschienen in: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 8 (2004), S.38–55; die Sektionsvorträge dieser Tagung werden in einem Beiheft dieser Zeitschrift publiziert. – Vgl. hierzu auch: Rüdiger Nutt-Kofoth, Schreiben und Lesen. Für eine produktionsund rezeptionsorientierte Präsentation eines Werktextes in der Edition. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S.165–202. So ein eigener Abschnitt über »Textfehler, Emendation, Konjektur« bei Nutt-Kofoth, Schreiben und Lesen [Anm.1], dort S.186–195.

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on 3 bis heute den Status eines Standardwerks beanspruchen darf. In seinem Beitrag Befund und Deutung hat Zeller dabei Richtlinien formuliert, die er zutreffend als »restriktiv« bezeichnet hat, womit er zugleich wesentlich zu einem ›dosierteren‹ Einsatz editorischer Fremdeingriffe beigetragen hat und die eingangs apostrophierte ›Emendationsfreudigkeit‹ älterer Editionen kritisch hinterfragte. Siegfried Scheibe wiederum hat im selben Band am Ende seines Aufsatzes über Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe vorgeschlagen, »fehlerhafte Stellen« wie folgt zu definieren: Kriterium fehlerhafter Stellen ist, daß sie für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen (Typ: ›nud‹ bis Typ: ›er legte seine breite Stimme in Falten‹). Bei der Korrektur dieser Stellen kann auf die entsprechenden Varianten in anderen Zusammenhängen zurückgegriffen werden; der Eingriff erfolgt aber nicht, weil in anderen Zeugen eine Variante vorliegt.4

Woraus Scheibe folgert: »Damit wird die Anzahl der als fehlerhaft anzusehenden Stellen auf eine kleine, meist genau zu übersehende Zahl von Fehlern eingeschränkt.«5 An dieser engen Auslegung des Emendations-Begriffs orientiert sich auch die Historisch-Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters: prinzipiell gilt dabei die Regel, so sparsam und so wenig wie möglich in den Textbestand einzugreifen und den Text dort unberührt zu lassen, wo er einen Sinn ergibt – auch wenn dies in Abweichung von der handschriftlichen Vorlage geschieht. Würde hier nicht so restriktiv wie möglich verfahren, entstünden Mischtexte, die mit den Erstdrucken, die in aller Regel die Textgrundlage bilden und die – fast überflüssig zu sagen – natürlich weder modernisiert noch normalisiert werden, nur noch wenig zu tun haben. Auch wird jeder Texteingriff, selbst wenn es sich etwa um eindeutige und zweifelsfreie Druckfehler handelt, durch eine dem emendierten Wort vorangestellte exponierte Crux (+Text) markiert. Walter Hettche hat in Band 2,3 – dem ersten Apparat- und Kommentarband zu den Bunten Steinen und zugleich dem ersten Apparat-Band dieser Edition überhaupt – an den Anfang seiner den Apparat eröffnenden Ausführungen Zur Edition dabei den folgenden Kriterienkatalog gestellt:

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Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. Ebd., S.43. Ebd.

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Emendationen In den Bänden 2,1 und 2,2 der HKG sind drei Arten von Emendationen vorgenommen worden: (1) Korrektur eindeutiger Setzfehler (2) Restitution handschriftlicher Lesarten, weil Lesefehler des Setzers vermutet wurden (2a) Korrektur von Textfehlern, die im Kontext einen Sinn ergeben (zurückzuweisende Emendationen, da die Möglichkeit eines Autoreingriffs nicht auszuschließen ist) (2b) Korrektur von Textfehlern, die im Kontext keinen Sinn bzw. grammatische oder syntaktische Unstimmigkeiten ergeben (beizubehaltende Emendationen) (3) Emendationen gegen H und A1 bzw. J (3a) Emendationen, selbst wenn beide Zeugen sinnvolle Lesungen bieten (zurückzuweisende Emendationen) (3b) Emendationen, wenn beide Zeugen keine sinnvollen Lesungen bieten (beizubehaltende Emendationen).

Im folgenden werden die Emendationen durch die in runden Klammern nachgestellten Nummern dieser Kategorien bezeichnet, so daß der Benutzer entscheiden kann, ob er eine Emendation für gerechtfertigt hält oder nicht.6 Wenn nachfolgend auf mehr als sechs Seiten7 eine Liste der in den beiden die Lesetexte der Bunten Steine enthaltenden Bänden 2,1 und 2,2 vorgenommenen Emendationen eingerückt wird, und diese insbesondere unter den Siglierungen 2a und 3a somit nachträglich zur Diskussion gestellt werden, so mag diese gewissermaßen ›interne Revision‹ zuvor getroffener Entscheidungen8 ungewöhnlich sein. Sie spiegelt jedoch den intensiven Reflexionsprozeß wider, der die Entstehung eines solchen Langzeitprojekts flankiert und in den natürlich auch vielfältige produktive Impulse einfließen, die dem intensiven editionsphilologischen Fachgespräch auf nationaler wie internationaler Ebene während der letzten Jahrzehnte zu verdanken sind. Dies hat erst jüngst auch Jens Stüben ausdrücklich hervorgehoben:

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Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Seit 2000 hrsg. von Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte. Stuttgart u.a.1978ff. (Im folgenden werden die – bis Oktober 2005 bislang erschienenen insgesamt 26 – Bände unter der Sigle HKG und der jeweiligen Bandnummer zitiert). – Hier: HKG 2,3: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil I, hrsg. von Walter Hettche. 1995, S.11f. Ebd., S.12–18. HKG 2,1: Bunte Steine. Journalfassungen, hrsg. von Helmut Bergner. 1982. HKG 2,2: Bunte Steine. Buchfassungen, hrsg. von Helmut Bergner. 1982.

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Die Kriterien der HKG für die Erlaubnis von Emendationen wurden seit dem Erscheinen ihrer ersten Textbände – im Anschluß an eine strikt gefasste TextfehlerDefinition – offenkundig noch verschärft. Die Bände mit den Texten der Bunten Steine (2,1–2) und des Witiko (5,1–3) wurden zu einer Zeit erarbeitet, als man bei Eingriffen in die Textgrundlage zugunsten der mutmaßlichen, handschriftlich belegten Autorintention oft weniger skrupulös verfuhr. Die dazugehörigen Apparatbände enthalten Aufstellungen der Emendationen der – nach Auffassung der Bearbeiter tatsächlichen oder (möglicherweise) nur vermeintlichen – Textfehler. Dem Benutzer wird die Textkonstitution transparent gemacht, indem jede Emendation einer von fünf Kategorien zugewiesen wird; eine große Zahl der Texteingriffe wird aufgrund der nunmehr strengeren Grundsätze mit Recht als problematisch beurteilt, ja sogar zurückgenommen.9

Auf diese Weise soll der »unvermeidliche interpretatorische Anteil des Bearbeiters am Text […] nicht verdeckt, sondern hervorgehoben und sichtbar gemacht werden«,10 wie es Hermann Kunisch und Alfred Doppler bereits 1973, also zu Beginn des Unternehmens, programmatisch formuliert haben. Daß Edition auch immer Interpretation bedeutet, genauer: vorgängig auf einer interpretatorischen Entscheidung, noch genauer: der Entscheidung zwischen konkurrierenden Optionen beruht, zählt zu den in unserer Disziplin mittlerweile fast überstrapazierten Formeln: die differenzierten Emendationskriterien der Historisch-Kritischen Stifter-Ausgabe wollen diese Entscheidungsprozesse für die Benutzerinnen und Benutzer dabei so durchsichtig und nachvollziehbar wie möglich machen. Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller haben diesen Emendationskatalog in ihrem Apparat zum Witiko mit zwei Modifizierungen übernommen11 und um einen weiteren Zusatz ergänzt: »Verdruckte Buchstaben wurden stillschweigend verbessert, ausgenommen in Eigennamen und lexikalisierten Wortformen, wie z. B. find statt sind.«12 Damit ist in diesem Zusammenhang ein weiterer wichtiger Aspekt angesprochen, nämlich derjenige der sogenannten ›stillschweigenden‹ Emendationen. Für das handschriftlich überlie––––––– 9

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12

Jens Stüben, Stifter-Editionen, in: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte, hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (= Bausteine zur Geschichte der Edition 2), S.403–431, dort S.410. – Vgl. hierzu auch die Rezension von Hartmut Steinecke in: ZfdPh 117 (1998), S.631–635, dort bes. S.633 oben zur Definition des Begriffs »Textfehler«. Hermann Kunisch/Alfred Doppler, Die Vorbereitungen für die historisch-kritische Stifter-Ausgabe, in: VASILO 22 (1973), Folge 3/4, S.92. HKG 5,4: Witiko. Apparat und Kommentar. Von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. 1998, S.11. Sie sprechen statt von ›zurückzuweisenden‹ von ›diskussionswürdigen‹, und an Stelle von ›beizubehaltenden‹ von ›gesicherten‹ Emendationen. Ebd., S.11.

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ferte Material hatte Walter Hettche zuvor schon in seinem Apparat vier andere Eingriffe dieses Typus aufgeführt: »Stifters Abkürzungen für und und daß sowie die Geminationsstriche über m und n werden stillschweigend aufgelöst.«13 Diese strenge Limitierung auf ein klar umrissenes Mindestmaß verdeutlicht, daß stillschweigende Eingriffe in der Historisch-Kritischen StifterAusgabe noch sparsamer und restriktiver gehandhabt werden als die mit einer Crux gekennzeichneten Emendationen und zudem eben keineswegs ›stillschweigend‹ erfolgen, wird doch in den jeweiligen Apparaten – sei es in den generellen Einführungen Zur Edition oder den speziellen Editionsberichten zu den einzelnen Texten – eigens und detailliert darüber informiert. Damit war den anderen Herausgeberteams innerhalb der HistorischKritischen Ausgabe ein Rahmen vorgegeben, an dem sie sich bei ihrer Textkonstitution verläßlich orientieren konnten: dies betraf bislang zunächst Herwig Gottwald und Adolf Haslinger als Herausgeber der 6. Abteilung, die die beiden »späten Mappen« – gemeint sind die unvollendet und zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene 3. und 4. Fassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters (1864/1867) – als Lesetexte und in Form eines integralen Apparatbandes präsentiert,14 sowie Johannes John und Sibylle von Steinsdorff als Editoren der 3. Abteilung. Diese versammelt all die Erzählungen, die Stifter nicht in die Studien oder Bunten Steine aufgenommen hat, umfaßt in Band 3,1 acht, in Band 3,2 sechs, eigentlich aber sieben Erzählungen Stifters. Die beiden Bände sind 2002 und 2003 erschienen.15 Mit zwei unvermeidlichen und einer bedauerlichen Ausnahme wurden die Texte, wie in unserer Ausgabe üblich, nach den jeweiligen Erstdrucken gesetzt, wobei dies im Falle der kurzen Erzählung Die zwei Wittwen, die 1860 erstmals im 2. Jahrgang des von Isidor Proschko herausgebenen Österreichischen illustrierten katholischen Volkskalenders [für das ––––––– 13 14

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HKG 2,3. S.19. HKG 6,1: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung. Lesetext, hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. 1998. – HKG 6.2: Die Mappe meines Urgroßvaters. 4. Fassung. Lesetext, hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Johannes John. 2004. – HKG 6,3: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. und 4. Fassung. Integraler Apparat, hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. 1999. HKG 3,1: Erzählungen. 1. Band, hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. 2002. Er enthält die Erzählungen Julius, Der späte Pfenning. Eine Parabel, Die drey Schmiede ihres Schicksals, Die Barmherzigkeit, Zuversicht, Der Waldgänger, Der Tod einer Jungfrau. Parabel und Prokopus. – HKG 3,2: Erzählungen. 2. Band, hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. 2003. Er enthält die Erzählungen Menschliches Gut, Zwei Witwen, Nachkommenschaften, Der Waldbrunnen, Der Kuss von Sentze sowie in zwei Fassungen Der fromme Spruch.

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Jahr 1860] in Linz erschien, leider nicht möglich war; denn trotz intensiver Recherchen in Bibliotheken, Archiven und Sammlungen ist es nicht gelungen, ein Exemplar dieser Zeitschrift ausfindig zu machen, so daß hier auf den zwei Jahre später ebenfalls in diesem Periodikum erschienenen Zweitdruck zurückgegriffen werden mußte. Die beiden anderen Ausnahmen bilden jene Texte, die – ob Zufall oder nicht – die beiden Bände eröffnen bzw. beschließen und beide zu Stifters Lebzeiten unveröffentlicht geblieben sind: nämlich seine früheste, Ende der 20er Jahre entstandene Erzählung Julius, sowie der 1867 niedergeschriebene Fromme Spruch, der in zwei Handschriften überliefert ist und den Band 3,2 erstmals überhaupt in seinen beiden Fassungen in Form eines Paralleldrucks vorlegt. Obwohl der Apparatband erst im Entstehen begriffen ist, galten für die Textkonstitution auch hier selbstverständlich die oben dargelegten Emendationskriterien, die allerdings – was die stillschweigenden Eingriffe anbelangt – in Band 3,1 punktuell nochmals erweitert wurden. Diese betrafen sämtlich Fragen der Interpunktion und berührten dabei Druck- und Lesekonventionen des 19. Jahrhunderts, die in einer typographischen 1:1-Umsetzung heutige Leserinnen und Leser nach Meinung der Herausgeber wie des Mitarbeiterkollegiums über Gebühr irritiert hätten. So wurden in der Parabel Der späte Pfenning die doppelten und z.T. dreifachen An- und Abführungszeichen jeweils in einfache korrigiert, was ebenso in der Erzählung Die drey Schmiede ihres Schicksals vorgenommen wurde, wo doppelte Anführungszeichen innerhalb einer direkten Rede in einfache geändert wurden. Anders als im Erstdruck, der zwischen dem 1. und 9. Januar 1844 in sieben Fortsetzungen in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode erschienen war, wurde auch die Sperrung der Eigennamen rückgängig gemacht, wohingegen andere Hervorhebungen durch Sperrung natürlich beibehalten, den Gepflogenheiten der Ausgabe folgend jedoch durch Unterstreichung kenntlich gemacht wurden.16 Wenn zuletzt in der 1846 publizierten Zuversicht in der längeren zusammenhängenden Rede eines alten Mannes, einer mehr als die Hälfte des gesamten Textes umfassenden Binnenerzählung, die am Beispiel einer tragischen Episode aus der Französischen Revolution die »tigerartige Anlage«17 des Menschen illustrieren soll, die An- und Abführungszeichen zu Beginn und am Ende eines jeden Absatzes gestrichen wurden, so daß diese ––––––– 16

17

So etwa HKG 3,1. S.45, Z.12 (wahr); der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß auch das der Erzählung vorangestellte, ursprünglich in Antiqua (ab)gesetzte lateinische Motto wie nachfolgend auch andere lateinische Wendungen dem Schrifttyp des Textganzen angeglichen wurden. Ebd., S.86.

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lediglich zu Anfang18 und am Schluß19 dieses in sich geschlossenen Berichtes stehen bleiben, zählt dies zu den Entscheidungen, gegen die man – wie die Herausgeber freimütig eingestehen – durchaus nachvollziehbare Argumente einwenden kann. Wie denn historisch-kritisches Edieren überhaupt nichts abschließen oder gar ein für allemal ›erledigen‹, sondern im Gegenteil dem wissenschaftlichen Diskurs neue Horizonte eröffnen und neue Felder erschließen will; dieser prinzipiellen Offenheit wollte deshalb auch der Untertitel des diesem Beitrag ursprünglich zugrunde liegenden mündlichen Vortrags – er lautete Probleme, Lösungen, Probleme – Rechnung tragen.20 Einen Sonderfall bildeten darüber hinaus die Emendationen in den beiden zu Lebzeiten Stifters ungedruckten, handschriftlich überlieferten Texten ––––––– 18 19 20

Ebd., S.87, Z.28. Ebd., S.91, Z.2. Dies erlaubt es, wenngleich an später Stelle im Text, dafür um so herzlichere Worte des Dankes zu sagen: sie gelten Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer und seinem Würzburger Team der Jean-Paul-Ausgabe für die Gelegenheit, anläßlich der Tagung Textwerkstatt – Die historisch-kritische Jean-Paul-Ausgabe im Kontext genetischer Editionen, die am 19. und 20. März 2005 in Bayreuth stattfand, aus der Stifter-Ausgabe berichten zu können; dies geschah am 20. März unter dem Thema Zur Textkonstitution von Adalbert Stifters Erzählung ›Der fromme Spruch‹: Probleme, Lösungen, Probleme. Da die dort vorgetragenen Überlegungen zum Frommen Spruch aber bereits anderweitig erschienen sind bzw. erscheinen werden, wurde nach Absprache mit den Veranstaltern die Problematik der Emendationen, die im Vortrag ebenfalls zur Sprache gekommen war, in den Mittelpunkt dieser schriftlichen Fassung gerückt. Für die Möglichkeit, vor Erscheinen des Apparatbandes über (Detail-)Probleme der Textkonstitution und ihre ›Lösungen‹ informieren zu können, sei ebenso gedankt wie für die kollegiale und freundliche Atmosphäre, die nicht nur auf der Tagung in Bayreuth herrschte, sondern die ebenso den zuvor bereits eingeleiteten und seither geführten kollegialen Gedankenaustausch prägt. – Zu den erwähnten Publikationen zum Frommen Spruch vgl. die nachfolgende Anm.21. – Darüber hinaus bot das ›Stifter-Jahr‹ 2005 erfreulicherweise vielfältig Gelegenheit, auf Tagungen, Kongressen oder öffentlichen Vorträgen aus der Werkstatt unserer Edition berichten zu können. Genannt seien in diesem Zusammenhang noch zwei Beiträge: Walter Hettche/Johannes John, Werke, Schriften, Briefe. Editorische Probleme und Verfahren in der Historisch-Kritischen StifterAusgabe. Unter dem Titel Aus der Werkstatt der Stifter-Edition auf dem Internationalen Kongreß Jeremias Gotthelf. Wege zu einer neuen Ausgabe vorgetragen, der vom 4. bis 6. November 2004 in der Universität Bern veranstaltet wurde. Als Aufsatz wird er in einem Beiheft der Zeitschrift editio erscheinen. – Johannes John/Herwig Gottwald, Textschichten – Ein Werkstattbericht zur Edition der späten Erzählungen ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ (3. und 4. Fassung) und ›Der fromme Spruch‹ (1. und 2. Fassung) innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters. Dieser Beitrag wurde als Sektionsvortrag auf der Innsbrucker Tagung Was ist Textkritik? [Anm.1] gehalten und wird ebenfalls in einem Beiheft zu editio publiziert.

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Julius und Der Fromme Spruch,21 wobei uns das Manuskript von Stifters frühester Erzählung nur in einer doppelt fragmentarischen Form überliefert ist, indem die Handschrift zum einen nach dem 8. Bogen unvermittelt abbricht und zudem die Bogen 3 und 4 gänzlich fehlen. Wie und warum sich die Editoren der insgesamt drei Handschriften – im Falle des Frommen Spruchs gestützt auf die Instanz von zwei Überlieferungszeugen – auch hier zu Texteingriffen entschlossen, obwohl es bekanntlich innerhalb der Editorenzunft eine eigene Fraktion gibt, die solche Eingriffe als prinzipiell unzulässig ablehnt, ist an anderer Stelle exemplarisch und hoffentlich plausibel dargelegt worden.22 Die Kon- oder Restitution des ursprünglichen Wortlauts schien uns jedenfalls dort an ihre Grenzen gelangt, wo sie auch offensichtliche Schreibfehler konserviert wenn nicht gar kanonisiert hätte. Sind diese handschriftlichen Dokumente gerade im Falle Stifters, der seine Manuskripte korrigierend und revidierend bis zum allerletztmöglichen Zeitpunkt zu überarbeiten pflegte, oft mühsam zu entziffern, so scheint der Rückgriff auf einen Erstdruck als Textgrundlage unter textkritischen Gesichtspunkten wesentlich unproblematischer, was generell auch nicht bestritten werden soll. Welch gelegentlich höchst diffizile Entscheidungen jedoch auch hier zu treffen sind, soll an zwei Beispielen aus der späten Erzählung Nachkommenschaften demonstriert werden, die sich hinsichtlich der Druckfehler wie offensichtlicher Fehllesungen und damit der von uns vorgenommenen Emendationen als der eindeutig problematischste Text der beiden ––––––– 21

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Zur Problematik der Textkonstitution des Frommen Spruchs (vgl. hierzu Anm.20) sei verwiesen auf: Walter Hettche/Johannes John, Adalbert Stifters Erzählung ›Der fromme Spruch‹. Überlegungen zur Edition mehrfach autorisierter Fassungen eines Nachlaßtextes, in: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002, hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio, Band 21), S.287–291. – Johannes John, »sagt« oder »sagte«? Editionsphilologische Überlegungen zum letzten Satz von Adalbert Stifters Erzählung ›Der Fromme Spruch‹, in: Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik, hrsg. von Alfred Doppler, Hartmut Laufhütte, Johann Lachinger und Johannes John. Beiträge des Stifter-Symposions in Linz-St. Magdalena, 22. bis zum 25. Oktober 2003 (erscheint 2006). – Johannes John, Einige Bemerkungen zu einem ›Work in Progress‹: Zum momentanen Stand der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters. Die Druckfassung dieses ursprünglich auf der Tagung Stifter and Modernism am 11. Dezember 2003 in London gehaltenen Vortrags wird zusammen mit den anderen Beiträgen dieses Symposions demnächst in der Zeitschrift JASILO des Adalbert Stifter Instituts Linz veröffentlicht. So in John, Einige Bemerkungen [Anm.21].

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Bände präsentiert. Daß wir es hier mit einem möglicherweise unerfahrenen oder gelegentlich unkonzentrierten Setzer zu tun haben, läßt sich dabei nicht ausschließen – wiewohl andererseits jedoch nicht oft genug daran erinnert werden kann, welche Kunststücke in Setzereien des 19. Jahrhunderts vollbracht wurden, um etwa die 17. Seite dieses Manuskripts (Abb.123) fehlerlos zu ›übersetzen‹. So ist etwa der Satz »Ich wollte nämlich so wie der Heldendichter Peter Roderer die wirkliche Wirklichkeit derselben, und dazu die wirkliche Wirklichkeit immer neben mir haben.«,24 wie er im Erstdruck der Zeitschrift Der Heimgarten steht, wo die Nachkommenschaften 1864 in den Nummern 6–8 des 1. Jahrgangs dieses Haus- und Volksblatts mit Bildern erschienen, zwar nicht sinnlos, aber doch irritierend, und zwar weniger durch den gewollten Pleonasmus von der »wirklichen Wirklichkeit«, als vielmehr durch den doch einigermaßen rätselhaften, weil beziehungslosen Zusatz »derselben«. Nachdem wir das entsprechende Textsegment, welches sich etwa in der Mitte der Einfügungen auf dem rechten Rand der Seite befindet, ›buchstäblich‹ unter die Lupe genommen hatten (Abb.2/3), schien uns hier die Lesung »darstellen« statt »derselben« sinnvoller, zumal Stifter dieses Verb im nächsten Satz erneut aufgreift, so daß sich dieser Passus in Band 3,2 der Historisch-Kritischen Ausgabe nunmehr folgendermaßen liest: Ich wollte nämlich so wie der Heldendichter Peter Roderer die wirkliche Wirklichkeit +darstellen, und dazu die wirkliche Wirklichkeit immer neben mir haben. Freilich sagt man, es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich das Wirkliche darstelle: man werde da trocken handwerksmäßig, und zerstöre allen dichterischen Duft der Arbeit.25

Noch krasser, und das heißt emendationsbedürftig, freilich folgende Passage: Ein trockner Rasen, von Haselnußgesträuchen überschattet, ging gegen die Mauer, die hier niederer wachsend, so daß ich mit dem Körper unter dem Haselnußgesträuche liegend, das Zeichnungsbuch auf eine Emporragung stützen und mit meinem Haupte durch eine Scharte der Mauer hinaussehen konnte.26

So im Erstdruck 1864, die Ungereimtheiten fallen sofort ins Auge, sie sind syntaktischer wie semantischer Natur. Ein Blick in die Handschrift (Abb.4) macht die Lesart für diese erste Partizipialkonstruktion »wachsend« zumin––––––– 23

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Die Abbildungen erfolgen mit freundlicher Genehmigung der Handschriftenabteilung der Národní Knihovna České Republiky im Prager Klementinum. Das Manuskript der Nachkommenschaften befindet sich unter der Nr. StA 55 im dortigen Stifter-Archiv. Der Heimgarten. Ein Haus und Volksblatt mit Bildern, hrsg. von Dr. Herman Schmid. 1. Jg. (1864). Dort in Nr.7, S.101. HKG 3,2. S.65. Der Heimgarten [Anm.24], Nr.7, S.104.

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dest nachvollziehbar, zeigt zugleich aber auch, wie schwierig es ist, diesen offensichtlichen Fremdkörper eindeutig zu dechiffrieren. Wenn wir uns schließlich für die Emendation »+war« entschieden haben, geschah dies aus der Annahme heraus, daß Stifter die ›reguläre‹ Fortsetzung des Satzes mit der Konjunktion »so daß« am ›prekären‹27 rechten Rand aus Platzgründen abbrach, mit dieser dann in der nächste Zeile neu ansetzte, es aus dem Schreibfluß heraus aber unterließ, die eingetretene Doppelung ›korrekt‹ zu streichen. Eine Vermutung, die sich nicht an den Kriterien ›richtig‹ oder ›falsch‹ orientieren, sondern allein auf die der Plausibilität bzw. Unwahrscheinlichkeit berufen kann. In keine andere Erzählung dieser 3. Abteilung haben die Herausgeber so oft emendierend eingegriffen wie in den Text der Nachkommenschaften, wobei es gelegentlich auch galt, eine (nicht immer leicht zu bestimmende) Grenze zwischen offensichtlichen Versehen und womöglich regional geprägten Eigenheiten zu ziehen. So liegt etwa im Satz »Nun, das wär doch das Teufelmäßigste […] wenn ich zu diesem tollen Roderern gehörte!«28 in der Kollision von Singular und Plural ganz zweifellos ein eindeutiger Lese- oder Druckfehler vor, weshalb hier auch die Emendation »+diesen«29 erfolgte. Wenn es unmittelbar darauf allerdings heißt: »Was das Zerstreutsein der Roderer in der Welt anbelangt, so trifft dieses bei uns so gut ein, wie bei den Roderer des Herrn Peter Roderer.«, und im selben Absatz eine »Geschichte von Roderer erzählt wird«,30 so ist – ganz abgesehen davon, daß das zweite Beispiel in sich sinnvoll ist – streng genommen nicht auszuschließen, daß es sich hier um eine mundartlich durchaus übliche Wendung handelt. Allerdings legt der unmittelbare Kontext – so werden gleich anschließend ebenso wie im ersten zitierten Beispiel »meine Roderer« zweifelsfrei in der Mehrzahl genannt – hier beide Male eine dementsprechende Emendation zu »+Roderern« nahe, wobei diese, wie nochmals betont werden soll, keineswegs ohne Bedenken erfolgte und im Apparat eigens nachgewiesen und begründet wird. Hingegen blieb die zuweilen inkonsequente Interpunktion – genauer: die fehlenden Kommata – in den Inquit-Formeln ebenso unangetastet wie die an vielen Stellen erfolgende uneinheitliche Groß- bzw. Kleinschreibung der Anredepronomina in direkter Rede, so daß es auch in der Historisch-Kritischen Ausgabe dem Erstdruck folgend heißt: ––––––– 27

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Vgl. hierzu die textkritische Diskussion des Schlußsatzes in Der Fromme Spruch in Johannes John, »sagt oder sagte«? [Anm.21]. Der Heimgarten [Anm.24], Nr.7, S.101. HKG 3,2. S.64, Z.5. Der Heimgarten [Anm.24], Nr.7, S.101.

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Da baut ihr Euch ein neues, hölzernes Haus bei uns, und wer sich ein Haus baut, wird darin wohnen, und da werdet Ihr immer darin sein und wenn Ihr auch bei uns esset und trinket oder wenn Ihr Euch ein Dienstmädchen nehmt, das ich euch empfehlen würde, so sind das doch nicht Leute für Euch.31

Gleiches gilt strikt auch für die Eigen- und Ortsnamen, wenn diese in unterschiedlicher Schreibung gedruckt wurden. Wenn der Ort »Kiering«32 in den Nachkommenschaften später zweimal als »Kiring«33 firmiert, kann es nicht Aufgabe der Editoren sein, hier über die ›korrekte‹ Schreibweise zu entscheiden – eine Praxis, die Rezensenten wie Hartmut Steinecke ausdrücklich gebilligt haben.34 Worüber es hier freilich zu befinden galt, mag ein weiteres Beispiel aus dieser Erzählung verdeutlichen. So entschieden sich die Herausgeber – auch nach intensiven Diskussionen nicht ohne ›Restskrupel‹ – die Antwort des Landschaftsmalers Roderer auf Susannas Frage – »aber sage, wie heiß’ ich dich denn?« – dem Erstdruck folgend als »Heiße mich Friederich«35 stehen zu lassen, obwohl im Text durchgängig nur von Roderern namens Friedrich die Rede ist, so der Name auch in der Druckvorlage steht und Susanna im apostrophierten Dialog ihren künftigen Gatten bereits drei Sätze später als »Friedrich« anreden wird. Einen analogen Fall bietet die Erzählung Die drey Schmiede ihres Schicksals, wo Leander anläßlich seiner bevorstehenden Hochzeit die künftige Gattin seinem Jugendfreund Erwin gegenüber »Elvine«36 nennt, obwohl diese Namensform im Text ein Solitär bleibt und sie uns sonst durchgängig als Eveline begegnet. Wie sich denn auch Wolfgang Frühwald und Walter Hettche in ihrer Edition des Nachsommer entschlossen haben, neben dem im 6. Kapitel des ersten Buchs zweimal genannten Namen »Preborn«37 auch die Form »Preporn«38 unverändert stehen zu lassen, wie »der Sohn eines alten Mannes«39 und Gast im Hause Risach dann im 4. Kapitel des dritten und letzten Buches heißen wird. Neben dem schon ––––––– 31 32 33 34

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HKG 3,2. S.69. Ebd., S.47, Z.17. Ebd., S.72, Z.25 und S.75, Z.32. So schreibt Steinecke [Anm.9]: »Inkonsequent und wenig sinnvoll scheint es mir allerdings zu sein, Eigennamen und Titel im Text zu korrigieren, zumal derartige Schreibungen in Handschriften und Drucken oft flüchtige, ungenaue Erinnerung oder Schreiben nach Gehörtem signalisieren.« (S.633) HKG 3,2. S.80. HKG 3,1. S.56, Z.27. HKG 4,1: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band, hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. 1997. Im Kapitel Der Besuch S.188, Z.18 und S.206, Z.33. HKG 4,3: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Dritter Band, hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. 2000. Im Kapitel Der Rückblick S.226, Z.27. HKG 4,1. S.188.

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angesprochenen Hiatus zwischen Korrektur und Konservierung lassen solche ›Inkonsequenzen‹, die man weniger wertend und terminologisch angemessener wohl eher als Varianten bezeichnen sollte, unter textgenetischen Aspekten nämlich auch wichtige Rückschlüsse auf die Arbeitsweise Adalbert Stifters zu, wie Walter Hettche an aufschlußreichen Beispielen aus den sogenannten ›abgelegten Blättern‹ zum Nachsommer detailliert dargelegt hat.40 In keinem der genannten Fälle kann es Aufgabe der Editoren sein, im Sinne einer einheitlichen Nomenklatur eine bestimmte Namensform zu favorisieren oder aber vorliegende Varianten als Druck- oder Schreibfehler zu qualifizieren, selbst wenn es sich ganz offensichtlich um solche handeln sollte: für eine solche Vermutung und alle weiteren hierzu gebotenen und notwendigen Sachinformationen ist der Stellenkommentar der einzig geeignete Ort. Denn immerhin wäre es, um nochmals auf das Beispiel der Drey Schmiede ihres Schicksals zurückzukommen, ja durchaus möglich, daß es sich bei »Elvine« um eine zwar ungebräuchliche, womöglich aber exklusive, allein dem künftigen Gatten vorbehaltene Koseform des Namens Eveline handelt… Daß es den Bandherausgebern der Historisch-Kritischen Ausgabe also keineswegs um rigorosen Purismus geht, sondern vielmehr darum, problematische Einzelfälle flexibel und so situationsadäquat wie möglich zu entscheiden, soll ein letztes Beispiel aus der Erzählung Der Waldbrunnen veranschaulichen. Wenn der alte Stephan Heilkun im Erstdruck, der 1866 im Düsseldorfer Kunst-Album erfolgte, dem wilden Mädchen Juliana auf dessen Rückfrage hin versichert: »Mit meinen Willen gibt es Dir Franz«,41 so läßt sich streng genommen – und zumal im Licht des psychoanalytisch geprägten 20. Jahrhunderts – nicht ausschließen, daß der Großvater über mehrere Willen verfügt: in diesem Falle folgten die Herausgeber aber doch der Autorität der Handschrift und emendierten das besitzanzeigende Pronomen in den Singular.42 Auch in dieser Erzählung ist im übrigen von einer Ortschaft die Rede, die der Großvater in einem Gespräch »Jandelsbrun«43 nennt, die im Text des Erzählers jedoch durchgängig »Jandelsbrunn«44 heißt: hier verbietet sich schon mit Blick auf die unterschiedlichen Sprecher jede Vereinheitlichung. Probleme – Lösungen – Probleme: diese Trias verkürzt jene Äußerung Goethes nochmals auf Telegrammstil, die uns Kanzler Müller unter dem Datum des ––––––– 40

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Walter Hettche, Die Handschriften zu Stifters ›Nachsommer‹ und ihr textanalytisches Potential. Demnächst in: Stifter und Stifterforschung [Anm.21]. Düsseldorfer Künstler-Album, hrsg. von Dr. Wolfg. Müller von Königswinter. 16.Jg. (1866), S.12. HKG 3,2. S.126, Z.27. Ebd., S.105, Z.4f. Ebd., S.108, Z.3, ebenso S.119, Z.23, S.120, Z.17, S.138, Z.22.

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8. Juni 1821 überlieferte: »Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.«45 Was Goethe hier mit Bezug auf seine Wanderjahre sagte, trifft mutatis mutandis auch auf das Edieren zu, sowohl im Großen wie im Kleinen: wenn etwa aus einem spezifischen Textbefund erste Editionsrichtlinien gefolgert, diese in Diskussion und Konzept verfeinert und schließlich schriftlich fixiert werden – bevor sich dann in der täglichen Arbeit an der Handschrift so manch vertracktes Detailproblem diesem Regelrahmen wiederum hartnäckig widersetzt. Formuliert dieser Dreischritt zugleich einen potentiell unabschließbaren Prozeß, so bleibt dennoch zu hoffen, daß sich dieser nicht in einer bloßen Kreisbewegung erschöpft, sondern in dem – von Goethe ebenfalls schon bevorzugten – Bild der Spirale eine Höher- und Weiterentwicklung impliziert und somit einen progressus ad infinitum beschreibt. Weshalb wir auch das Wissen darum, daß sich fast alle editorischen Entscheidungen, wie immer sie getroffen und wie plausibel sie auch begründet sein mögen, im kollegialen Diskurs als anfechtbar, zumindest aber diskussionswürdig erweisen, nicht als Defizit, sondern als eine Grundgegebenheit unseres Tuns begreifen und akzeptieren sollten, welches im eigentlichen Sinne des Wortes Grundlagenforschung bildet. Wird es doch bestenfalls – und verdientermaßen – durch das Selbstbewußtsein aufgewogen, in Historisch-Kritischen Ausgaben Texte zu konstituieren, die beanspruchen dürfen, weit über den Tag hinaus Bestand zu haben und darüber hinaus die einzig angemessene Textgrundlage für den literaturwissenschaftlichen Diskurs zu sein: denn wissenschaftlich über Texte sprechen läßt sich nun einmal nur auf der Basis wissenschaftlich gesicherter Texte!

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Zit. nach Johann Wolfgang Goethe, Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Zürich und Stuttgart 1948ff. Bd.23, S.129.

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Abb.1: Adalbert Stifter, Nachkommenschaften. S.17 des Manuskripts (STA Nr.55, Národní Knihovna České Republiky, Prag; s. Anm.23)

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Abb.2: Adalbert Stifter, Nachkommenschaften. S.17 des Manuskripts: Vergrößerung (STA Nr.55, Národní Knihovna České Republiky, Prag; s. Anm.23)

Abb.3: Adalbert Stifter, Nachkommenschaften. S.17 des Manuskripts: Detail (STA Nr.55, Národní Knihovna České Republiky, Prag; s. Anm.23)

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Abb.4: Adalbert Stifter, Nachkommenschaften. S.22 des Manuskripts: Detail (STA Nr.55, Národní Knihovna České Republiky, Prag; s. Anm.23)

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COMMERCIUM UND VERSCHWÖRUNGSTHEORIE Schillers Geisterseher und Jean Pauls Titan

I. Verschwörungstheorie, unendliche Semiose, Tod Bei Verschwörungstheorien1 hängt alles von der Stoppregel ab. Eine Verschwörungstheorie2 kann aufklärerisch sein, wenn sie sich zu begrenzen weiß. Sie wird in Gegenaufklärung umschlagen, sobald sie dahin tendiert, jeden analysierten Schachzug einer vermuteten Verschwörung als Funktion einer größeren Verschwörung zu denken. Verschwörungstheorien haben die Tendenz, genau diese interpretatorische Gefräßigkeit zu entwickeln. Sie ha––––––– 1

2

Verschwörungstheorien sind in den letzten Jahren zum Gegenstand der Forschung geworden. Zentral ist der perspektivenreiche und materialintensive Aufsatz: Dieter Groh, Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to good people?, in: D.G., Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt am Main 1992, S.267–304. Daniel Pipes (Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen. München 1998) bleibt deutlich hinter dem von Groh markierten Niveau zurück, bietet aber zuweilen doch einige nützliche Unterscheidungen. Eine wichtige Studie hat vorgelegt: Ralf Klausnitzer, »… unter allen möglichen Gestalten und Konnexionen«. Die Geburt des modernen Konspirationismus aus dem Geist der Aufklärung, in: Zeitschrift für Geschichte 11.3 (2004/3), S.13– 35. Siehe auch: Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten, hrsg. von Ute Caumanns und Mathias Niendorf. Osnabrück 2001. – Ich werde in meinem Aufsatz versuchen, unterhalb des Niveaus einer geschichtsphilosophischen Thesenbildung zu argumentieren und Schillers verschwörungstheoretische Meditation mit dem Paradigma der Anthropologie des 18. Jahrhunderts zusammenzubringen. Der Terminus ›Verschwörungstheorie‹ ist als solcher mißverständlich. Meint man mit dem Wort eine Theorie, deren Gegenstand eine Verschwörung ist, oder meint man das Tun der Verschwörer, das in der Regel eine konzeptionelle Ebene, nämlich mindestens die Ebene der verschwörerischen Verabredungen, beinhaltet? Das Wort kann offenkundig auf beiden Seiten der Unterscheidung stehen. Ich ziele mit dem Terminus ›Verschwörungstheorie‹ grundsätzlich auf die erste Bedeutung ab: Gemeint ist eine Theorie über eine oder mehrere Verschwörungen. Zu Verschwörungen, die derart Gegenstand einer über sie ergehenden Theoriebildung sind, kann gehören, daß sie in ihrer Formation selbst theorieintensiv sind. Sie können so theorieintensiv sein, daß sie die Antworten auf die sie extern kritisierenden Verschwörungstheorien schon im voraus bedacht haben. – Dennoch ist vorderhand die Unterscheidung zwischen Verschwörungstheorien als Theorien über Verschwörungen einerseits und Verschwörungen mit impliziten Theoriebeständen andererseits zu treffen.

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ben Hunger auf die jeweils nächste Entdeckung, in der vordem Unverdächtiges dem Verdacht verfällt. Man kann eine idealtypische Eskalationsspirale des verschwörungstheoretischen Verdachts konstruieren: Ein Detektiv, der eben noch eine Verschwörung aufdeckte, kann im nächsten Schritt zum perfiden Agenten der Verschwörung werden; ein Polizist, der den Detektiv verhaftet, kann gleichfalls als Mitverschwörer enttarnt werden; ein Richter, der Detektiv und Polizist verurteilt, mag ebenfalls der Verschwörung zugerechnet werden können – grundsätzlich kann jede Instanz, die eine Verschwörung analysiert und beurteilt, im jeweils nächsten Reflexionsakt zum Agenten der Verschwörung erklärt werden. Im Zustand einer solchen universalisierten Verschwörungssemantik werden Subjekte pathogen. Ihnen fehlt das Außerhalb, sie kennen keine Realität, die nicht unter Verdacht stände, sie können keine Kommunikation führen, in der Vertrauen die Komplexitätsreduktion bereit stellt, die Kommunikation erst möglich macht. In das genuin aufklärerische Tun, eine Verschwörung aufzudecken, bricht die Problematik der unendlichen Semiose ein, weil es ebenfalls genuin aufklärerisch ist, die Rahmendefinitionen einer Problemlage in die Reflexion einzubeziehen. Da die Reflexion gemäß ihrer internen Dynamik nicht in ihrem Rahmen bleibt, sondern den Rahmen reflektiert, weitet sich die Verschwörungstheorie aus, insofern die Reflexion den Verschwörungsverdacht von einer Rahmenreflexion in die nächsthöhere trägt. Gibt es also keine Stoppregel? Ist das Genre ›Verschwörungstheorie‹ der Ort, an dem Aufklärung an sich selbst und durch sich selbst in Gegenaufklärung übergeht? Eine mögliche Stoppregel könnte, ja sollte der Tod sein. Dort wo alle Semiose endet, kann die Verschwörung ebenso wie die sie aufklärende Theorie nicht mehr agieren. Der Tod scheint ein Letztes zu sein. Aber ist es so? Läßt Jean Paul nicht den Ottomar seiner Unsichtbaren Loge den paradoxen Satz sprechen: »Ich habe mit dem Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn«?3 Und ist nicht der Gaspard des Titan zunächst ein Untoter, der, zur Säule erstarrt, durch ein galvanisches Experiment ins Leben gerufen werden muß und dann als Maschine des Politischen, als untoter Toter, durch den Roman geht?4 Wie kann man mit dem Tod reden, ––––––– 3

4

Alle Zitate Jean Pauls folgen der Ausgabe: Jean Paul, Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller. Darmstadt 2000. Der Satz Ottomars findet sich in der Unsichtbaren Loge, dort im 34. Sektor: I/1,303. Vgl. meinen Aufsatz: Den Tod erzählen. Jean Pauls Thanatologie (»Titan«), in: Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, hrsg. von Claudia Albes und Christiane Frey. Würzburg 2003, S.235–253. – Der vorliegende Aufsatz versucht eine Art von Vorgeschichte für das zu erzählen, was im Thanatologie-Aufsatz ausgeführt wird.

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wenn er das Ende des Diskurses sein soll? Wie kann der Tod handeln, wenn er das Ende der Semiose zu sein hat? Blickt man auf das Ende von Schillers Geisterseher, so findet sich auch hier eine Leiche5 (oder zwei?6 fast schon drei?7). Aber gibt es einen Leser, der nicht daran zweifelt, daß hier noch nicht das letzte Wort gesprochen sei? Vermutet man nicht ein Gift, das die Geliebte nur in eine Erstarrung versetzt hat, und hat man nicht den Verdacht, die geöffnete Leiche sei die einer anderen Frau? Unterstellt man nicht eine perfide Inszenierung, ein abermaliges Überschreiten des Rahmens der Verschwörung, so daß eine Person Teil der Verschwörung wird, die bislang ihr Gegenteil zu sein schien? Wird also nicht gerade der Tod zum Spielball der verschwörerischen Semiose, zu ihrem eigentlichen Feld? Meine kurzen Reflexionen haben mich zu einem Punkt geführt, an dem es um den Übergang von Aufklärung in Gegenaufklärung geht, um das Politische im semantischen Rahmen von Verschwörung und um die Semiose des Unsemiotisierbaren, um den Tod als ultima ratio des verschwörerischen Tuns. Schillers unvollendete Erzählung Der Geisterseher, die schon lange als Vorlage zu Jean Pauls Titan gehandelt wurde,8 soll im folgenden als ein Text gelesen werden, in dem die Aufklärung in ihren Geisterzustand übergeht. Es wird ein anthropologischer Zustand zu beschreiben sein – derjenige, der entsteht, wenn der Geist in sich und seine Nacht steigt und lauter Geister sieht.9 Denn es wird sich zeigen, daß es der Tod ist, der in Schillers dunkler Anthropologie das gesuchte commercium bildet. Und es wird sich zeigen, daß Jean Pauls Titan seinen Ausgangspunkt genau hier, beim Schillerschen Geisterseher nimmt – bei dem Versuch, einem der wohl radikalsten Texte der dunklen Aufklärung eine Antwort zu geben, die in nichts anderem bestehen kann, als diesem Tod nicht zu widersprechen, sondern ihn zu durchqueren.

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Von der schönen Katholikin wird behauptet, sie sei durch Gift gestorben: »Ich war bei der Leichenöffnung. Man fand Spuren von Vergiftung. Heute wird man sie begraben« (Schiller V,159). Ich zitiere Schillers Erzählung Der Geisterseher aus: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Fünfter Band (Erzählungen / Theoretische Schriften). München 61980. Der Neffe des Kardinals liegt infolge eines Duells mit dem Prinzen schwer verletzt auf dem Krankenlager. Man kann sein bevorstehendes Ende vermuten: »Die Wunde des Marchese soll tödlich sein« (Schiller V,159). Liegt der Prinz infolge der Ereignisse ebenfalls im Sterben? Ist seine erste Messe auch seine letzte? Am deutlichsten analysiert wohl Harich den Titan als Antwort auf Schillers Geisterseher (vgl. Wolfgang Harich, Jean Pauls Revolutionsdichtung. Hamburg 1974, S.197, 387, 447f., 462, 475, 516, 537f., 600, 606). Vgl. die Formulierung in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik: I/5,93.

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II. Begrenzungsprobleme der Verschwörungstheorie in Schillers Geisterseher Wie ist in Schillers Geisterseher die Verschwörung aufgebaut? Die Hauptperson, ein Prinz, der dritter Anwärter auf einen deutschen Fürstenthron ist, weilt inkognito in Venedig und wird dort in eine Verschwörung hineingezogen, die von einem rätselhaften Armenier mit dem wahrscheinlichen Ziel betrieben wird, den protestantischen Prinzen für die katholische Kirche zu rekrutieren. Zentrum der Machenschaften ist im ersten Teil eine Geisterbeschwörung, bei der nicht nur der gerufene und offenkundig inszenierte, sondern zur Überraschung der Anwesenden auch ein nicht gerufener Geist erscheint. In der aufwendigen Rekonstruktion der Ereignisse stellt der Prinz die These auf, daß auch die zweite Erscheinung vom Armenier inszeniert wurde. Schon hier zeigt sich die Logik der Verschwörungstheorie, die Stufungen der Rahmensetzungen zu durchlaufen. War in des Prinzen Rekonstruktion der erste Geist vom Armenier darauf angelegt, enttarnt zu werden, so sollte der zweite Geist als authentischer erscheinen. Der Prinz kontert diese Absicht, indem er die perfide Strategie einsieht und beide Erscheinungen als Funktionen eines Verschwörungsplans beschreibt. Im zweiten Teil der Erzählung wird diese Konterinterpretation des Prinzen wiederum gekontert. Es zeigt sich, daß der Armenier auch den zweiten Geist darauf hin angelegt hat, vom Prinzen durchschaut zu werden – wodurch der Prinz, indem er es zwar durchschaut, aber nicht durchschaut, daß er es durchschauen sollte, undurchschaut dem Kalkül des Armeniers folgt. Auf des Prinzen Konterinterpretation regiert also eine Konterattacke zweiter Potenz. Ihr Ziel wird erreicht: Weil sich der Prinz in falscher Sicherheit mit seinem vermeintlichen Aufklärungserfolg zufrieden gibt, ist er den folgenden Attacken umso hilfloser ausgeliefert. Was aus der Sicht des Prinzen erfolgreiche Aufklärung war, ist aus der Sicht des Armeniers gerade die erwünschte Form der ungenügenden Aufklärung, die, wenn sie negiert würde, in das kalkulierte Gegenteil umschlagen müßte. Durch eine Serie von Verwicklungen und Komplizierungen wird genau diese Strategie erfolgreich durchgeführt. Verschwörungstheoretisch ist an dieser Handlungsführung interessant, daß der Armenier in seinem Kalkül den Prinzen absichtlich in die Situation gebracht hat, die Geistererscheinung des ersten Teiles aufklären zu können. Er hat ihn gewissermaßen mit einer selbstbewußten aufklärerischen Vernunft versehen. Dieser Triumph der aufklärerischen Vernunft, den er dem Prinzen bereitet hat, macht, so das unterstellte Kalkül des Armeniers, den Prinzen leichtsinnig, weswegen er jetzt, im Glauben an die Macht der Vernunft und also in Negation höherer Glaubensgründe, umso mehr für Freigeisterei und

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Libertinage anfällig wird. Da der Prinz ein Melancholicus ist, weiß der anthropologisch ausgebildete Armenier, daß sein Opfer mit seiner Freigeisterei und Libertinage nicht glücklich werden wird, sondern hinsichtlich seines manisch-depressiven Verhaltensmusters einen gegenteiligen Pendelausschlag wird in Kauf nehmen müssen.10 Für diesen gegenteiligen Pendelausschlag stellt der Armenier dem Prinzen die finale Falle in Form der schönen deutschen Katholikin und in Form einer Intrige, die es dem Prinzen infolge einer pekuniären Abhängigkeit und eines Duells notwendig macht, sich in den Schoß einer um ihn werbenden Institution zu flüchten, nämlich den der katholischen Kirche. So gelesen, ist alles, was in diesem Text stattfindet, nur die Reaktion auf eine groß angelegte Verschwörung, auf eine universelle anthropologische Machination, die mit dem Verhaltensmuster des Melancholikers rechnet und diesem eine präzise Verschwörung anpaßt. Stimmte diese These, so hätte der Armenier die Funktion eines materialistisch-anthropologischen Gottes inne, der mit einer perfiden und raffinierten Allwissenheit sämtliche Gedankengänge des Prinzen im voraus berechnet und eine komplexe Aufklärung einer Verschwörung innerhalb einer noch komplexeren Gesamtverschwörung verschaltet. Aber es ist nicht so selbstverständlich, diese Version der Geschichte zu behaupten. Schon die skizzierte Nacherzählung ist eine exegetische Konstruktion, die selbst eine bestimmte Form von Verschwörungstheorie zusammenstellt. Daß die Interpretation zum Komplizen der Verschwörungstheorie zu werden kaum noch umhin kann, erhellt aus der Kombinatorik der möglichen anderen inhaltlichen Lesarten der Erzählung. Ich liste sie auf und beginne mit der lectio simplex: 1. Die schöne Katholikin ist tot, der Neffe des Kardinals liegt infolge der Duellverletzung und der Prinz infolge seiner anthropologischen Zerrüttung im Sterben – seine erste Messe in den Armen des Armeniers wird seine letzte sein. Die Erzählung endet in der Agonie des allgemeinen Sterbens, sie ist die facies hippocratia des verschwörungstheoretischen Denkens. 2. Die schöne Katholikin ist tot, der Neffe des Kardinals hat seine Verletzung nur gespielt, um den Prinzen in die Arme der Kirche zu treiben. Der Prinz liegt entweder (2.a.) infolge seiner anthropologischen Zerrüttung im Sterben oder (2.b.) er wird sich erholen und dann der katholischen Kirche gehören. ––––––– 10

Vgl. Manfred Engel, Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DGF-Symposion 1992, hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994, S.469–498.

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3. Weder die schöne Katholikin noch der Neffe des Kardinals sind tot. Beide sind Teil der Verschwörung, so daß der Prinz entweder (3.a.) infolge seiner anthropologischen Zerrüttung im Sterben liegt oder (3.b.) er sich erholen und dann der katholischen Kirche gehören wird. 4. Niemand ist tot, krank oder verletzt, weil auch der Prinz zur Intrige gehört. Denkbar ist nämlich ebenfalls, daß der Prinz das gesamte Geschehen selbst inszeniert hat, um dem Einfluß seines Hofes zu entfliehen, die ihm schon vorher bekannte schöne Katholikin zu bekommen und seiner schon lange bestehenden Tendenz zum Katholizismus zu folgen. In diesem Fall sind die Berichterstatter, der Graf von O. und der Baron von F., die Opfer der Intrige. Sie würden vom Prinzen und durch den von ihm angezettelten Intrigenapparat benutzt worden sein, um durch gelenkte Berichterstattung an den heimischen Hof zu Geld zu kommen. Da es im Text für diese Vermutung kein Gegenargument gibt und da die Semantik der Verschwörungstheorie keine Stoppregel hinsichtlich des Ausmaßes der Verschwörung kennt, muß diese Option als möglich gelten. 5. Vielleicht umfaßt die Verschwörung nicht nur den Prinzen, sondern auch die Berichterstatter Graf von O. und Baron von F., die eingeweiht und mitverschworen sind, um den Hof zu betrügen. 6. Vielleicht umfaßt die Verschwörung nicht nur alle handelnden Personen, sondern auch den heimischen Hof, der auf diese Weise eine Legitimation sucht, um gegen das venezianische Fürstentum vorzugehen. Wir befänden uns hier auf der Ebene des Konfliktes zweier Fürstentümer, ähnlich wie in Jean Pauls Titan. Das eine Fürstentum inszeniert das vermeintliche Verderben seines Erbprinzen durch das andere Fürstentum, um einen Grund zu bekommen, gegen es vorzugehen. 7. Wenn es keine Stoppregel gibt, kann man das Spiel immer eine Ebene höher tragen. Was wäre, wenn beide Fürstentümer diese Intrige gemeinsam ausgedacht hätten, um aufgrund noch unbekannter, aber jederzeit konstruierbarer Machtkalküle einen europäischen Konflikt zu provozieren? Die inhaltliche Kombinatorik dieser Deutungsversuche kennt kein Differenzkriterium zwischen Wahrscheinlichkeitsvermutung und Überinterpretation. Die Interpretation gerät auf dieser Ebene selbst in den Bann der Verschwörungstheorie und wird, aufklärend, zum Agenten der Gegenaufklärung. Warum kennt der Text für eine solche aus den Fugen geratende Spekulation kein Gegenmittel? Die Antwort läßt sich in Schillers später dem Text angehängten Philosophischen Gespräch aus dem Geisterseher finden.

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III. Theoretischer Hintergrund der Verschwörungsproblematik: Das commercium mentis et corporis Daß die ganze Erzählung eine anthropologische Maschine ist, die streng determinierend ihr Uhrwerk ablaufen läßt, kann aus dem philosophischen Gespräch, das Schiller in Ergänzung seiner Erzählung als Appendix beigibt, evident gemacht werden. Man muß sich dieses philosophische Gespräch in den vierten Brief des Barons von F. an den Grafen von O. aus dem zweiten Teil eingefügt denken. Dort berichtet der Baron von F. von einem Gespräch, das er mit dem Prinzen führt und in dem dieser seine nunmehr neue Philosophie der Libertinage und der Freigeisterei formuliert. Es wird sich zeigen, daß sich hier, auf der Ebene des philosophischen Räsonnements, genau diejenige Position wiederfindet, die ich eben als These zur Verschwörungsstruktur der Erzählung zu formulieren versucht habe. Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher steht noch zur Gänze innerhalb des argumentativen Paradigmas der Descartesschen Zweisubstanzenlehre, das für die philosophischen Anthropologien der philosophierenden Ärzte um 1800 grundlegend ist.11 Worum geht es? Der Philosoph René Descartes führte um 1640 eine folgenreiche Terminologie ein. Das denkende Ding, res cogitans, wird von dem ausgedehnten Ding, res extensa, unterschieden. Das Denken, die Seele, wird als eine einfache und immaterielle Substanz vom Körperlichen, Materiellen und Vorfindbaren streng getrennt. In einem für die neuzeitliche Naturwissenschaft wichtigen Gründungsakt wird der Körper von allen formierenden Kräften einer innerlichen Seelenbewegung losgelöst und einer physikalischen Beschreibungssprache unterworfen. Die Bewegung von Körpern läßt sich, so Descartes, einzig und allein aus der rein mechanisch verstandenen Anziehung und Abstoßung heraus erklären und mathematisch berechnen. Auf der andern Seite dient die Loslösung des geistigen Prinzips vom Körper einer weiteren Gründungsmythe. Denn so materialistisch Descartes bezüglich der ausgedehnten Dinge argumentiert, so idealistisch ist seine Philosophie, sofern sie ––––––– 11

Zur Diskussion um den Begriff der literarischen Anthropologie um 1800 in der Auseinandersetzung mit der Cartesischen Zweisubstanzenlehre und den Auswirkungen vor allem auf die Erzählliteratur vgl.: Hans-Jürgen Schings, Der anthropologische Roman, in: Die Neubestimmung des Menschen, hrsg. von Bernhard Fabian. München 1980, S.247–275; ders., Melancholie und Aufklärung. Stuttgart 1977; Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, 6. Sonderheft, Forschungsreferate 3. Folge, 1994, S.93–157; Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DGF-Symposion 1992, hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994, und Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Stuttgart 1987.

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sich der res cogitans zuwendet. Das berühmte »ich denke, also bin ich« (cogito ergo sum) fixiert den Gewißheitspunkt der neuzeitlichen Philosophie in der reinen Selbstbezüglichkeit des Denkens als Aktivität. Das Subjekt, sofern es in der Aktivität des Denkens begriffen ist, weiß, was immer es auch denkt, in jedem Falle dieses: daß es denkt, und daß es, sofern es denkt, ein denkendes Ding ist, eine res cogitans, und in dieser Form der Vorhandenheit vorhanden ist. Deshalb also kann Descartes vom Prozeß und Vorgang des Denkens auf das Vorhandensein schließen, deshalb auch nennt er, was etwas seltsam anmutet, die Seele eine res cogitans, ein denkendes Ding. Die Unterscheidung also zwischen res extensa und res cogitans, die zwei Gründungsmythen zugleich erzählt – die Gründungsmythe der modernen Naturwissenschaften und die Gründungsmythe des modernen philosophischen Idealismus – steht am Anfang seines Philosophierens. Mit dieser Unterscheidung ist der Philosophie das Problem in den Schoß gelegt, wie die Gewißheit zu denken sei, daß wir als Menschen in unserer leibseelischen Einheit einen Zusammenhang von res cogitans und der res extensa bilden. Wie ist die Einheit des Menschen zu denken, der ja sowohl ein körperlich vorfindbares Etwas ist, als auch ein denkendes Ding? Die Frage der Anthropologie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand,12 war also die nach dem commercium mentis et corporis. In seiner Philosophie der Physiologie hat Schiller die verschiedenen Modelle, das commercium-Problem zwischen Leib und Seele zu lösen,13 diskutiert und verworfen, um schließlich eine Denkunmöglichkeit, nämlich die ––––––– 12

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Zum bibliographisch aufgearbeiteten und sachlich eingeordneten Zusammenhang der etwa 40 anthropologischen Lehrbücher, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden vgl.: Jutta Heinz, Wissen von Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1996. Im §2 seiner Philosophie der Physiologie diskutiert Schiller (Schiller V,252f.) nacheinander die zeitgenössischen Optionen, den Zusammenhang von Körper und Geist zu denken: erstens als die Denkunmöglichkeit, daß der transparente Geist auf die undurchdringliche Materie wirken könne; zweitens als die materialistische Option, daß der Geist selbst eine Form von wirkender Materie sei; drittens als prästabilierte Harmonie von Geist und Materie nach dem Modell zweier parallel gestellter Uhrwerke; viertens als ad occasio wundertätig eingreifender und Geist und Körper koordinierender Gott (Okkasionalismus). Diese Optionen werden verworfen, weil sie reduktionistisch (Materialismus) sind oder mit Gott eine externe und selbst nicht begründbare Größe einführen (prästabilierte Harmonie, Okkasionalismus). Dieser kompakte zweite Paragraph ließe sich extensiv in die zeitgenössische anthropologische Diskussion auffalten (vgl. dazu: Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg 1985, S.71f. u.ö.).

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Existenz einer Mittelkraft, zu postulieren.14 Genau an diesem argumentativen Punkt befindet sich der Prinz. Auch ihm stellt sich das commercium-Problem, aber er wählt die noch radikalere Alternative, nämlich er leugnet die Möglichkeit eines commerciums bei Fortbestehen des Problems. Wie ist dies zu denken? Ich zitiere eine Passage, in der der Prinz seine anthropologischen Zirkelschlüsse dem Baron F. vorträgt: Wenn ich also sage, die Begebenheit ABC ist eine moralische Handlung, so heißt dies soviel als, der Reihe äußrer Veränderungen, welche diese Begebenheit ABC ausmachen, ist eine Reihe innrer Veränderungen abc vorhergegangen? So ist es. Die Handlungen abc waren also bereits beschlossen, als die Handlungen ABC anfingen. Notwendig. Wenn also ABC auch nicht angefangen hätte, so wäre abc darum nicht weniger gewesen. War nun die Moralität in abc enthalten, so blieb sie auch, wenn wir ABC ganz vertilgen. Ich verstehe Sie, gnädigster Herr – und so wäre dasjenige, was ich für das erste Glied in der Kette gehalten, das letzte darin gewesen. Als ich dem Bettler das Geld gab, war meine moralische Handlung schon ganz vorbei, schon ihr ganzer Wert oder Unwert entschieden. So mein ichs. Trafen die Folgen ein, wie Sie sie dachten, d.i. folgte ABC auf abc, so war es nichts weiter als eine gelungene gute Handlung.15

Das ist eine überraschende Gedankenfigur. Der Prinz autonomisiert den Diskurs der Seele auf der einen Seite und den Diskurs des Materialisten auf der anderen Seite. Er argumentiert, daß sämtliche Handlungen der Seele in sich abgeschlossen sind und für sich selbst betrachtet werden müssen, genauso wie sämtliche kettenhaften Verknüpfungen auf der Seite der Materie in sich abgeschlossen seien und für sich selber betrachtet werden müssen. Den Zu––––––– 14

15

Der §3 der Schillerschen Philosophie der Physiologie, lakonisch knapp mit Mittelkraft überschrieben (Schiller V,253f.), stellt mit überraschender Offenheit einen intellektuellen Offenbarungseid vor. Schiller postuliert rein abstrakt die Mittelkraft, die Geist und Körper vermitteln soll. Sein Argument lautet, daß es deshalb eine Mittelkraft geben muß, weil alle anderen Modelle der Vermittlung versagen, de facto aber das Vermitteltsein von Geist und Körper evident ist. Folglich, so Schiller, gibt es die Mittelkraft, wenngleich man sie nicht denken und herleiten könne: »Ganz philosophisch unmöglich ist sie also nicht, und wahrscheinlich braucht sie nicht zu sein, wenn sie nur wirklich ist. Die Erfahrung beweist sie. Wie kann die Theorie sie verwerfen« (Schiller V,254). Schiller sieht nicht, daß das Problem der Vermittlung nur eine strukturelle Folge der Cartesischen Zweisubstanzenlehre ist. Außerhalb dieses intellektuellen Paradigmas stellt sich die Vermittlungsfrage nicht, und innerhalb ist sie eine Funktion der Definitionsvorkehrungen, die als solche nicht durch »Erfahrung« gekontert werden können. Schiller V,171.

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sammenhang zwischen beiden leugnet er. So ist die Moralität eine Beziehung, die nur innerhalb der Seele stattfindet, genauso wie die Ehre eine Beziehung ist, die der Mensch nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft realisiert.16 Wenn folglich die Moralität gänzlich in die innere Vorstellungskraft des Menschen eingeschlossen ist und die Möglichkeit geleugnet wird, daß moralische Handlungen Ergebnis von moralischen Vorstellungen sein können, dann wird das Gemeinsame von Denken und Bewegung, also das commercium mentis et corporis, schlichtweg bestritten. Man sieht, daß der Prinz die erste, von Schiller als aporetisch verworfene Option des §2 der Philosophie der Physiologie vertritt. Der Prinz meidet die diversen Gedankenfiguren, die der Anthropologiediskurs anbietet, ganz so, wie sich Schiller im §2 seiner Philosophie der Physiologie positioniert. Um zu rekapitulieren: Der Prinz verwirft implizit die Möglichkeit des Okkasionalismus, daß ein wundertätiger Gott jeweils und stets dafür sorgt, einer Gedankenreihe der Seele eine Ereigniskette innerhalb des Leiblichen und Wirklichen korrespondieren zu lassen. Er verwirft die prästabilierte Harmonie, die durch ein metaphysisches Prinzip dafür sorgt, daß die Vorstellungsreihe identisch und parallel zur Reihe der Körperhandlungen läuft. Er verwirft weiterhin den influxus physicus, indem er leugnet, daß der Geist auf den Körper oder der Körper auf den Geist einen direkten Einfluß haben könnte. Er verwirft aber auch, indem er es erst gar nicht diskutiert, die Schillersche Lösung, nach der es eine Mittelkraft zwischen Geist und Körper gebe, die man zwar nicht denken, aber dennoch aus Denknotwendigkeit heraus postulieren müsse. Epistemologisch gesehen, befindet sich der Prinz auf dem Niveau des §2 der Schillerschen Philosophie der Physiologie, also in einem Zustand der reinen Ratlosigkeit – sofern man die Schillersche Lösung (Mittelkraft) als Scheinlösung ansieht und folglich den §2 auf die erste gegebene, nämlich aporetische Option zurückfallen läßt. Schiller erzählt hier offenkundig eine radikale Kritik seiner eigenen erkenntnistheoretischen Konzepte. Der Prinz gerät in eine absurde argumentative Situation. Er kennt einerseits einen gänzlich wirkungslosen Idealismus, nach dem sich die Seele nur mit sich selbst beschäftigt, und andererseits einen davon vollkommen unabhängigen Materialismus, dem gemäß in der Körperwelt die Kette der Ereignisse nach Kausalgesetzen abläuft. In dieser Weise kann der Prinz beides sein, ein Moralist, der sich um die Folge seiner Handlungen nicht kümmern muß, und ein Materialist, der zynisch die Verhältnisse der Körper untereinan––––––– 16

Vgl. Schiller V,172.

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der nur nach determinierenden Kausalgesetzen untersucht. Er verfällt einem vermittlungslosen Dualismus, der in eine Philosophie der anthropologischen Verzweiflung mündet – lebenstechnisch wörtlich genommener Descartes. Indem der Prinz unfähig ist, das commercium-Problem überhaupt anzugehen und wenigstens eines der Lösungsmodelle in Erwägung zu ziehen, wird seine philosophische Gemengelage zu etwas, das durch einen anthropologisch geschickten Manipulator wie der Armenier es ist, auf die einfachste Weise in Anspruch genommen und korrumpiert werden kann. Der Armenier setzt nämlich an den beiden Seiten der sich jeweils in sich autonomisiert habenden Unterscheidung des Prinzen an. Er handelt, so die These, als die Mittelkraft, die im §3 der Philosophie der Physiologie postuliert wird. Zunächst zu den narrativen Helferinstanzen. Der Armenier unterwandert perfid die Seite der Selbsttätigkeit und in sich Abgeschlossenheit der Seele, indem er durch die geheime Gesellschaft, den Bucentauro, den Prinzen mit einer freigeistigen und libertinären Philosophie konfrontiert. Er korrumpiert weiterhin diese in sich abgeschlossene Seele, indem er den Prinzen mit der schönen deutschen Katholikin zusammenbringt und ihn sich in sie verlieben läßt. Und er versorgt die inneren Seelenvorstellungen des Prinzen durch den ferngesteuerten Bedienten (Biondello) jeweils mit den trefflichen Mitteln, um Geist und Körper zu synchronisieren. Als Helfershelfer ist Biondello eine verkörperlichte und realisierte commercium-Gestalt; er agiert als Mittelkraft zwischen den im Prinzen philosophisch isolierten Einheiten Körper und Seele. Aber auch die Seite der Dinge, der körperlichen Verkettung und der materialistischen Kausalursachen, wird vom Armenier ferngesteuert. So wird es wohl seine Intrige sein, die den Prinzen in die Spielschulden treibt und die für den vielleicht tatsächlichen, vielleicht auch nur gespielten Tod der Geliebten sorgt, so daß infolge dieser Körperverknüpfungen und materialistischen Kausalursachen der Prinz quasi aus Notwendigkeit heraus in den Schoß der Kirche, nämlich in den Zufluchtsort eines, wie wir unterstellen, jesuitisch kontrollierten Klosters gezwungen wird. Die Philosophie der nicht vermittelten anthropologischen Differenz und die resultierende philosophische Verzweiflung geben dem Armenier sämtliche Manipulationsmöglichkeiten. Gerade weil der Prinz Körper und Leib voneinander löst und jede Seite dieser Unterscheidung autonomisiert, entledigt er sich überhaupt jeglicher Handlungsmöglichkeit, so daß er das Gesetz des Handelns den intriganten Machenschaften des Armeniers überläßt. Damit wird klar, daß es der Armenier ist, der für den Prinzen das commercium mentis et corporis garantiert. Genauer: Es ist die Verschwörung des Armeniers, welche die im Prinzen getrennten idealistischen und materialisti-

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schen Reihen synchronisiert. In Ermangelung eines okkasionalistischen oder eines die Monaden aufeinander abstimmenden Gottes sorgt die Verschwörung dafür, daß die Handlungen des Körpers und die Handlungen des Geistes synchronisiert sind. Liest man diesen Handlungsentwurf vor dem Hintergrund von Schillers Philosophie der Physiologie, dann wird klar, daß Schiller im Geisterseher sein anthropologisches Zentraltheorem in die schwindelerregende Dialektik der dunklen Aufklärung hinein reflektiert. Der Prinz formuliert im Philosophischen Gespräch aus dem Geisterseher in einer Reihe von Gedankenschritten diese Theorie seines zukünftigen und tatsächlichen Manipuliertwerdens präzise und zugleich in vollkommener Ohnmacht aus. So vertritt er die Überzeugung, daß die weltanschaulichen Entwürfe des Menschen nichts anderes als Meinungen sind, Wahnbegriffe, die durch Erziehung und frühe Gewohnheit ins Gedächtnis eingepflanzt werden – ein Theorem, das er aus der radikalen französischen Aufklärung übernommen haben wird. Zweitens ersetzt er den Teleologiegedanken durch das Prinzip einer naturimmanenten Kausalität. Indem er formuliert »setzen Sie statt Mittel und Zweck Ursache und Wirkung«,17 tilgt er die theologische Denkfigur des zweckhaften Weltenplaners und votiert für eine mechanistische Kausalität – eben gerade diejenige Kausalität, die der Armenier durch eine Verschwörung herstellt. Drittens behauptet er, daß metaphysische Weltbilder und Vorstellungen von Gott nur das Ergebnis anthropomorpher Projektionen sind: Geben Sie dem Kristalle das Vermögen der Vorstellung, sein höchster Weltplan wird Kristallisation, seine Gottheit die schönste Form von Kristall sein. Und mußte dies nicht so sein? Hielt nicht jede einzelne Wasserkugel so getreu und fest an ihrem Mittelpunkte, so würde sich nie ein Weltmeer bewegt haben.18

Und schließlich ist dem Prinzen der Geist des Menschen auch nur ein Epiphänomen des Körpers; denn zwar autonomisiert sich der Geist, aber er tut dies gewissermaßen in Verkennung seiner Abhängigkeit vom Körper. Deutlich wird dieses gegen Ende des Gespräches formuliert: »Sonderbar!« sagte der Prinz nach einer tiefen Stille. »Worauf Sie und andere ihre Hoffnungen gründen, eben das hat die meinigen umgestürzt – eben diese geahndete Vollkommenheit der Dinge. Wäre nicht alles so in sich beschlossen, säh ich auch nur einen einzigen verunstaltenden Splitter aus diesem schönen Kreise herausragen, so würde mir das die Unsterblichkeit beweisen. Aber alles, alles, was ich sehe und bemerke, fällt zu diesem sichtbaren Mittelpunkt zurück, und unsre edelste

––––––– 17 18

Schiller V,162. Schiller V,165.

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Geistigkeit ist eine so ganz unentbehrliche Maschine, dieses Rad der Vergänglichkeit zu treiben.«19

Indem der Prinz also den Begriff des Zweckes und damit die Idee einer durch Vorsehung gesteuerten Teleologie als idealistisches Relikt analysiert und eine rein mechanische Kausalität an dessen Stelle setzt, bleibt ihm nur der Körperzusammenhang als tatsächlich wahrnehmbare Entität übrig, während der Geist zwar für jedes Individuum in seiner Selbstwahrnehmung eine vorhandene Realität ist, sich aber als verbindungslos zur Körperwelt nur in sich selbst einschließt und folglich wirkungslos bleiben muß, weshalb der Prinz die Metapher von der Maschine, die sämtliche edle Geistigkeit steuert, benutzen kann. Die Wirkungslosigkeit des Geistes wird denn auch expressis verbis vom Prinzen auf Nachfrage des Barons von F. bestätigt.20 Das Resultat einer solchen Philosophie sind Sätze der Verzweiflung. Wenn der Prinz sagt, daß der Mensch keinen anderen Wert hat als seine Wirkungen,21 dann ist dies ein Satz, der wortwörtlich in der Verschwörung des Armeniers in Wirklichkeit umgesetzt wird. Und wenn der Prinz weiterhin formuliert: »Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein – er hat nichts als seinen Botenlohn dabei zu verdienen«,22 dann formuliert er unwissend, aber doch in zynischer Präzision genau das, was der Armenier mit ihm macht. Denn der Prinz ist in der Tat nur ein Botenträger, der dazu da ist, um in einer magisch-jesuitischen Verschwörung eine protestantische Erbfolge der Kirche Roms wieder zuzutragen. Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher formuliert auf der Ebene der Auseinandersetzung mit den anthropologisch-materialistischen Theorien genau das, was innerhalb der Handlung jene Philosophie sein muß, die der Armenier benutzt, um den Prinzen einer Betrugsmaschinerie zu unterstellen. Daraus läßt sich nur eine Schlußfolgerung ableiten: Schiller ist im Geisterseher zu der Einsicht gekommen, daß der anthropologische Diskurs unmittelbar auch als anthropologischer Betrug gedacht werden kann. Stärker noch: Der anthropologische Betrug realisiert sich als eine Verschwörung, in der eine komplexe Synchronisierung der anthropologisch isolierten Einheiten Geist und Körper inszeniert wird, um das politische Ziel über den Umweg einer anthropologischen Manipulation zu erreichen. Die Verschwörung besetzt systematisch den Ort, der im Anthropologie-Diskurs das unlösbare Pro––––––– 19 20 21 22

Schiller V,181. Schiller V,180. Schiller V,167. Schiller V,167.

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blem einer Vermittlung zweier kategorial verschiedener Substanzen stellt. Die Verschwörung ist so gesehen die falsche Antwort auf eine aporetische Problemlage, und eben deshalb, weil es die richtige Antwort nicht geben kann, nahezu undurchschaubar. Denn wenn es nach Schiller die »Erfahrung«23 ist, die die Existenz der Mittelkraft nahelegt, dann kann eine solche Erfahrung, die zur Gänze durch eine perfide Verschwörung gesteuert wird, anthropologisch gar nichts anderes formieren, als die Affirmation der durch die Verschwörung erzeugten Welt. Das ist eine seltsame Dialektik. Der anthropologische Diskurs trat innerhalb der politischen Dimension der Aufklärung an, um in einer radikalen materialistischen Kritik die metaphysische Episteme zu unterwandern. Die politische Dimension der Aufklärung hat dabei das Theorem mitformuliert, daß alle idealistisch-metaphysische Herrschaftslegitimation ein verschwörerisches Betrugsmanöver seitens des monarchisch-klerikalen Machtapparates sei. Schiller ist an dem Punkt, an dem er diesen ideologiekritischen Impuls wiederum umdreht und feststellt, daß der anthropologische Diskurs in genau demselben Sinne ein Betrug sein kann, wie es derjenige ist, der durch den anthropologischen Diskurs als Betrug entlarvt worden ist. Damit ist die idealistische Metaphysik ebenso wie ihr materialistischer Widerspruch der Epistemologie des Betrugs und der Verschwörung eingegliedert. In einem gewissen Sinne fällt das ganze aufklärerische Projekt in sich zusammen. Der Destruktion der herrschaftsstützenden Metaphysik und des herrschaftskonformen Idealismus durch den Materialismus folgt nun bei Schiller die Destruktion des materialistischen Diskurses durch den Nachweis, daß er in exakt demselben Sinne ein Betrugsmanöver sein kann wie es vorher die Metaphysik gewesen sein soll. Dasjenige Mittel also, das die Aufklärung gegen den Absolutismus formierte, wird nun selbst zu einem betrügerischen Verfahren. Damit bricht infolge einer forcierten Dialektik der Aufklärung das aufklärerische Moment in sich selbst zusammen und unterliegt derselben ideologiekritischen Analyse, wie sie vorher der Metaphysik angetan wurde. Schillers scharfsichtige Argumentation überführt das gesamte anthropologische Gedankengebäude einer Betrugs- und Verschwörungsanalyse.

IV. Unter Toten In Schillers Geisterseher herrscht ein moribundes Treiben. Eine Nacherzählung, die die Handlung entlang der Todessemantik Revue passieren läßt, ––––––– 23

Schiller V,254.

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findet eine beeindruckende nekrologische Serie. Die Verschwörung beginnt mit dem lapidaren Satz »Um neun Uhr ist er gestorben.«24 Schon auf den ersten Seiten wird ein reicher Venezianer enthauptet,25 offenkundig um – nota bene! – dem einem Mordanschlag entronnenen Prinzen Vertrauen seinem mutmaßlichen Retter gegenüber einzuflößen. Die Geisterbeschwörung soll Unterredungen mit Toten ermöglichen, und in der Tat tritt ein gestorbener Freund des Prinzen auf. Vom Armenier wird die seltsame Geschichte erzählt, daß er zur Geisterstunde in einen Todeszustand falle.26 Die Binnengeschichte des Sizilianers berichtet von einem verstörenden Mordkomplott und dem Gespenst des Ermordeten. Und schließlich endet die Erzählung mit dem berichteten Gifttod der deutschen Katholikin, der gefährlichen Verletzung des Kardinalsneffen und der Zerrüttung des Prinzen. In sämtlichen Konstellationen agiert der Armenier, der vom Sizilianer als Untoter charakterisiert wird. Ich habe den Vorschlag gemacht, den Armenier als aktantielle Instrumentierung des commercium mentis et corporis zu lesen. Handlungstechnisch übernimmt er exakt diese Funktion. Zugleich ist er aber auch das Zentrum der nekrologischen Semantik. Alle Tode gehen auf ihn, den rätselhaft Untoten, zurück. Die Erzählung stellt die beiden Textrepertoires commerciumProblem und nekrologische Semantik an denselben Ort – eine semantische Vorkehrung, die für Jean Pauls Titan zentral ist (s.u.). Wie ist das zu denken? Ist das commercium mentis et corporis der Tod? Als solche ist diese Frage unsinnig. Denn es leuchtet ein, daß das commercium gerade das Leben garantieren soll. Ein reiner Geist wäre sowenig Leben wie eine reine Materie. Nun ist aber die Schillersche Version des commerciums eine Verlegenheitslösung. In der Philosophie der Physiologie schreibt er – ich wiederhole – in wünschenswerter Deutlichkeit: »Auch gestehe ich gerne, daß eine Mittelkraft undenkbar sein mag; ich sehe auch ein, warum sie es ist.«27 Seine Argumentation ist ein offenkundiger Sophismus. Schiller geht von der Getrenntheit von Materie und Geist aus, konstatiert, daß deren Vermitteltheit wirklich sei und postuliert nach Ablehnung aller sonstigen Vermittlungsmodelle die Mittelkraft, die zwar nicht denkbar ist, aber, da die Vermittlung wirklich ist, vorhanden sein muß. Die gesamte Philosophie der Physiologie bietet das erstaunliche Schauspiel einer permanenten Wiederholung dieses zugrunde liegenden Sophismus. Ständig fügt Schiller neue Mit––––––– 24 25

26 27

Schiller V,50. »[…] und mit Entsetzen sahen wir den Kopf des Venezianers vom Rumpfe trennen.« (Schiller V,54). Schiller V,77f. Schiller V,253.

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telglieder ein, um Einheiten, die er zuvor als opake Größen definiert hat, dennoch zu vermitteln. Dieses Theoriespiel zwischen grenzenziehender Begriffsdefinition und paradoxer Vermittlung durch grenzenüberschreitende Mittelglieder ist auch noch der strukturelle Kern in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung. Denn auch hier geht es um die Vermittlung der gegeneinander opaken Einheiten Freiheit (Ich, Formtrieb) und Notwendigkeit (Nicht-Ich, Stofftrieb), und ebenfalls wird die Lösung postulativ gesetzt, weil die Wirklichkeit die Vermittlung beweise. In den Ästhetischen Briefen ist es der Spielbegriff, der mit der nahezu identisch aus der Philosophie der Physiologie entnommenen Verlegenheitsformel gesetzt wird: Und doch sind es diese beiden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wiederherstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?28

Der Spieltrieb, der wie die Mittelkraft »undenkbar« ist, wird dennoch postuliert: »Aus diesem scheint zu folgen, daß es zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit einen mittleren Zustand geben müsse«.29 Die Begriffsakrobatik, die in einem Satz aus einem »scheint zu folgen« ein »geben müsse« macht, spricht die konzeptionelle Zwangslage aus. Schiller ist weder im physiologischen noch im ästhetischen Diskurs, weder 1779 noch 1794 bereit, den Cartesischen Dualismus aufzugeben. Er geht von opaken Begriffseinheiten aus, denkt also wie Descartes die res extensa und die res cogitans als einfache Substanzen, konstatiert das Gegebensein der Vermittlung von Geist und Materie im anthropologischen Zustand des Menschen und folgert daraus die Notwendigkeit einer Vermittlungsinstanz. Die naheliegende Alternative, die Behauptung zweier opaker Einheiten zu stornieren, findet Schiller nicht. So bleibt ihm die intellektuell ohnmächtige Geste, gerade das Denken des Vermittlungsgeschehens schuldig zu bleiben. Die Idee, die Kunst als Objekt des Spieltriebes an die Stelle zu setzen, die mit dem Vermittlungsgeschehen beauftragt ist, mag dabei noch die plausibelste Option sein. Aber Schiller selbst zeigt in den gewundenen Gedankenbewegungen der Ästhetischen Briefe, daß das zu überwindende Dilemma weiter besteht. Meine These ist, daß sich Schiller im Geisterseher so radikal dem skizzierten Dilemma, dem er in den Ästhetischen Briefen und der Physiologie ausweicht, konfrontiert wie er es sonst nirgends tut. Denn die Philosophie des ––––––– 28 29

Schiller V,606–607. Schiller V,624.

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Prinzen reflektiert eine Lebensphilosophie ohne commercium bei Weiterbestehen derjenigen Ausgangslage, die nach Schiller das Postulat einer Mittelkraft notwendig macht. Und weil der Prinz gleichsam ohne commercium handelt, rückt die Verschwörung an die frei gewordene Systemstelle seiner anthropologischen Konstitution. Ein Leben ohne diejenige Verbindung, die aus dem Zusammen von Geist und Materie überhaupt erst teleologisch strukturiertes Leben macht, ist freilich schon auf der basalen Ebene in Frage gestellt. Schillers anthropologisches Erzählexperiment spielt deshalb im Raum einer Todessemantik, weil es die Probe auf dasjenige Theorem ist, das er in seinen theoretischen Schriften mit jedem Schritt aufs Neue verdrängen muß: Geist und Materie würden nur durch eine Machination zusammengehalten – eine Machination, die selbst als personifizierter Tod auftritt und als politischer Verschwörungszusammenhang. Es zeigt sich, daß Schillers nekrologischer Handlungsentwurf eine ganze Serie von Motiven der dunklen Aufklärung erzeugt. Das aufklärerische Projekt, Anthropologie als Reparaturinstanz des cartesischen Dualismus zu denken, schlägt in eine gespenstische Formation der vollkommenen Instrumentalisierbarkeit um. Zugleich wird der Raum des Politischen als verschwörungstechnischer commercium-Ersatz entdeckt. Indem die res cogitans als Geistererscheinung und die res extensa als Geldproblem auftritt und diese beiden einfachen Substanzen durch das commercium der Verschwörung synchronisiert werden, als sei ein okkasionalistischer Gott zugange, werden Anthropologie, Politik, Verschwörung und Dämonologie einem Kontinuum der Gegenaufklärung eingelesen, das seine Differenz zur Aufklärung nicht mehr glaubhaft machen kann. Schillers Geisterseher erzeugt das Gespenst der Aufklärung. Mitten aus ihrer Epistemologie entspringt eine Gegenaufklärung, die im Eingeständnis, daß das Anthropologieprojekt scheitert, eine Politik der Täuschung erfindet und Subjekte, die sich von Gespenstern nicht mehr unterscheiden können. Sie laufen als unintegrierte Individuen, die entweder nur reine Maschine oder reine Geister sind, durch die sich gegen sie verschwörenden Machenschaften. In der Überblendung dieser konzeptionellen Verhältnisse wird Politik zur Dämonologie und Verschwörung zur Anthropologie. Der Prinz ist gemäß seiner eigenen Philosophie ein Subjekt nur noch, indem er durch inszenierte Geister politisch mißbraucht wird. Denn nur die Verschwörung sichert ihm eine Synchronisation von Geist und Materie und damit anthropologische Integration, also den Status, Subjekt zu sein.

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V. Jean Pauls Titan als Radikalisierung von Schillers Geisterseher Jean Paul, dessen intensive Lektüre des Geistersehers bezeugt ist,30 nimmt Schiller auf dem höchsten denkbaren Niveau auf. Für den Titan sind wie bei Schiller alle Gespenstererscheinungen nur Inszenierungen.31 Weil aber die eigentlich verstörende Dimension diejenige der anthropologischen Nichtintegration ist, wird das jederzeit Aufklärbare einer Gespenstererscheinung nebensächlich. Die von intriganten Verschwörern inszenierten Gespenster werden im Titan deshalb so bedrohlich, weil sie Subjekte manipulieren, die selbst einer Todessemantik unterstellt sind und dem Gespenstischen näher sind, als ihnen lieb sein kann. Jean Pauls Roman systematisiert den Schillerschen Konnex von politischer Manipulation und anthropologischer Infragestellung des commercium. Indem der ganze Titan im Todesreich spielt, wird Politik als tote Maschine dargestellt und personale Identität als Bruch zwischen Körper und Geist. Auch für den Titan gilt, daß Politik als Inbegriff der Verschwörung dasjenige commercium substituiert, welches anthropologisch den Akteuren entzogen wird. Daß der Titan den Tod selbst erzählen will, habe ich in einem anderen Aufsatz zu begründen versucht.32 Die genealogische Konstruktion, die pubertierende Fürstenkinder mit greisenhaften Eltern kombiniert und die Generation der 40jährigen ausläßt, stellt eine seltsame Maschine ins Zentrum. Gaspards Herz, das hysterisch,33 kataleptisch34 und versteinert35 ist, muß magnetisiert und elektrifiziert36 werden. Sein erster Auftritt ist der einer Maschine, ––––––– 30

31

32 33 34 35 36

Berend berichtet im Vorwort zu seiner Titan-Edition innerhalb der kritischen Ausgabe, daß die Vorarbeiten zum Titan den Geisterseher wiederholt als Vorbild anführen (Eduard Berend, Einleitung zum achten und neunten Bande, in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd.I,8 (Titan). Weimar 1922, S.XLIX). – In der Selberlebensbeschreibung wird nach dem Robinson Crusoe als wichtigste Lektüre der Geisterseher – »Schillers Armenier« (I/6,1092) – genannt. Ein aufschlußreiches Gespräch zwischen Gaspard und Albano bezeugt, daß die durch optische Tricks erzeugten Geistererscheinungen im Titan nur dazu dienen, das anthropologische Bedürfnis nach einer Geisterwelt zu befördern: »‹Es gibt aber nichts Wunderbares‹, sagte der Ritter. ›Woher wissen wir alsdann, daß es etwas Natürliches gibt?‹ sagte Albano. ›Das Wunder‹ (versetzte Gaspard) ›oder die Geisterwelt wohnt nur im Geiste.‹ [...] ›Der Geist, ewig unter Körper gebannt, will Geister‹« (I/3,562f.). Zur Analyse der optischen Täuschungen, die für die Geistererscheinungen benutzt werden, vgl. Heinrich Bosse, Theorie und Praxis bei Jean Paul. Bonn 1970. Siehe hier Anm.4. I/3,41. I/3,39. I/3,37. I/3,37.

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die durch Albano belebt wird – eine Statue, die erst durch Kuß, Umarmung und Blutaustausch zur persona wird.37 Albano animiert die Staatsmaschine, die von seinen Gnaden lebt. Damit findet der Roman sein Handlungszentrum in einem Untoten, der die politische Verschwörungsmaschine in Gang bringt, weil ihm anfangs durch den jugendlichen Helden Leben eingehaucht wird. Gaspard als Jean Pauls Radikalisierung des Schillerschen Armeniers ist nicht nur untot wie dieser, sondern vielmehr ins Leben gerufen gerade durch diejenige Figur, zu deren Wohl eine Verschwörung ersonnen wird, die für alle anderen Figuren katastrophale Folgen hat. Jean Paul verändert also die im Geisterseher gegebenen Täter-Opfer-Rollen. Bei Schiller tritt der Armenier von außen in die Handlung, und der Prinz ist sein Opfer (die lectio simplex unterstellt). Im Titan gibt Albano der politischen Maschine das Leben, und sie arbeitet für ihn, wenn auch ihre Mittel gegen ihn gerichtet sind. Verschwörungstechnisch steigert Jean Paul also die Dimensionen des Verdachtes. Wo Schillers Text von einer Opposition von Verschwörer und Opfer auszugehen scheint und die Spekulation, beide gehörten derselben Seite an, nur eine Spekulation zugunsten der Verschwörungssemantik ist (s.o.), zieht Jean Paul genau diese Konsequenz: Der Verschwörer wird durch das nur vermeintliche Opfer Albano erzeugt und arbeitet für es im Namen eines geheimen und schmerzhaften Erziehungsplans, dem alle anderen zum Opfer fallen. Der Titan entwirft eine Romanhandlung, die als Begräbniszeremoniell lesbar ist. Wenn der König stirbt, dann kommt für die Interimszeit, in der der neue König noch nicht inthronisiert ist, die Lehre von den zwei Körpern des Königs – dem sterblichen und dem souveränen – in eine Krise. Sie wird durch aufwendige Begräbnisrituale, in denen der Körper durch Zerlegung und Multiplizierung semiotisch überformt wird, überbrückt. Daß die Leiche des Fürsten während der gesamten Romanhandlung in Einzelteilen bestattet wird – ein Ritual, das aus der Lehre vom doppelten Körper des Königs folgt –, daß Verdopplungen in Form von wächsernen Effigien kursieren und daß mit Luigi ein todeskranker Interimsfürst installiert wird, zieht im Titan de facto das Interregnum in die Länge eines ganzen Jahres, welches als Todes- und Bestattungszeit mit der Romanzeit identisch ist. Dergestalt sind alle Handlungen als Variationen eines Bestattungsgeschehens lesbar. Die Konstellation moribunder Semantik, in der Schoppe, Roquairol, Liane und Linda nicht überlebensfähig sind, führt zu einer sehr seltsamen Handlungslogik. Stehen nämlich alle Handlungen im Zeichen der Semiotik des Todes, so werden auch die thematischen Handlungsbereiche entsprechend ––––––– 37

Vgl. meine detaillierte Lektüre dieser Szene in meinem Aufsatz: Den Tod erzählen [Anm.4].

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überformt. Daß die Politik todesverfallen ist, wird in der Konstruktion Gaspards evident, geht aber weit über ihn hinaus. Zugleich deutet sich die These an, daß der Titan eine hybride anthropologische Konstruktion ist, die im Reflexionsmedium der politischen Verschwörung die Thematik des commercium diskutiert. Denkt man nämlich das gesamte Personal des Hofes als einen politischen Körper, in dem die Individuen als plurale tantum einer unifizierten politischen Semantik agieren, so erscheint dieser Körper exakt als das Modell der anthropologischen Spekulation um 1800. Wir finden 1. eine materialistische Aktantengruppe als Instrumentierung der res extensa, 2. eine idealistische Aktantengruppe als Instrumentierung der res cogitans, 3. in Gaspard eine commercium-Figur, die die Einheit von res cogitans und res extensa über die politische Verschwörung herstellt und 4. in Roquairol (Verführung als subjektive Theatralität) und Schoppe (Reflexion als objektive Theatralität) Akteure, die das commercium solipsistisch und scheiternd zu erzeugen versuchen. 5. Albano wird vom Text als diejenige Figur exponiert, die dem Todesraum entkommt und in einer Neugeburt die anthropologisch-politische Integration jenseits der Verschwörung vollzieht. Im einzelnen lassen sich die Personengruppen und Einzelpersonen als Teilmomente des anthropologischen Diskurses verstehen: 1. Der maschinell-materielle Teil des Körpers, als aktantielle Instrumentierung der cartesischen res extensa, wird im Personal der höfischen Verschwörungstechnik vorstellig: Minister Froulay, Haarhaars Agent Bouverot, Tanzmeister Falterle, Kunstrat Fraischdörfer, Physiologe Sphex. – Das Hofpersonal ist insgesamt einer Semantik eingegliedert, die sich als eine des Todes verstehen läßt. Es konvergieren hier traditionelle Hofkritik,38 materialistische Philosophie und anthropologischer Diskurs. So werden Höflinge als kalte Personen39 beschrieben und das Gesamt ihrer sozialen Akte als inszeniertes Leben durch den Gegensatz zum realen Leben denunziert. Von Froulay wird gesagt, er probiere »vor dem Spiegel die feineren Weisen zu lächeln durch«,40 und Falterle arbeitet gar »immer vor dem Spiegel an seinem Ich«.41 Wird dergestalt Subjektivität als objektiviertes Verdinglichungsverhältnis exponiert, so werden Subjekte zu Objekten, die ––––––– 38 39

40 41

Helmuth Kiesel, Bei Hof, bei Höll. Tübingen 1979. Zur Kälte vgl. Peter Sprengel, Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden an der Gesellschaft. München 1977, Kap.I. I/3,420. I/3,105.

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ihr Leben sekundär aus gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen beziehen. Ohne die Verschwörung und ohne den Hof gäbe es dieses Personal nicht. Im Sinne solcher Funktionsorientierung lassen sich alle Akteure als solche bestimmen, die Leben nur sekundär zugewiesen bekommen, primär aber eine mechanische Tätigkeit ausüben. Sphex, der den toten Fürsten seziert, Falterle, der die Tanzschritte lehrt, Fraischdörfer, der für die Kunstautonomie plädiert, aber nur eine repräsentative Ornamentik der aristokratischen Macht zustande bringt42 und Froulay, der als Minister die Verkörperung des sozialtechnoiden Machtanspruchs ist: Jede Figur ist durch eine groteske Reduktion auf den mechanischen Aspekt ihrer sozialen Rolle charakterisiert. Man kann dieses Personenensemble als eine Ausdifferenzierung der materiellen Logik der verschiedenen Handlungssysteme Medizin (Sphex), Politik (Froulay, Bouverot) und Kunst (Fraischdörfer, Falterle) verstehen. Die hier entstehenden Handlungsoptionen zeigen in extremis die Sichtweisen des Materialismus – als wäre von Medizin, Politik und Kunst jeweils nur das erfaßt, was der res extensa angemessen ist. 2. Der spirituelle Teil des anthropologischen Systems, die Cartesische res cogitans, wird durch die nicht überlebensfähigen Frauen Liane und Linda instrumentiert, sowie durch den seine stets letzten Worte sprechenden Spener. Während Liane im Sinne der christlichen Vorstellungen als Madonna und Schutzgöttin erscheint, wird Linda zur Göttin, Plastik oder Statue. Aber auch in dieser sehr greifbaren Formation ist sie die Verkörperung eines Kunstideals und also spiritueller Natur. Als der fast schon blinden Liane ein Gemälde zur Beurteilung vorgelegt wird, blickt sie mit dem »geistigen Auge«.43 Ihr Blindwerden an der Leiche des schon ausgeschlachteten Fürsten ist im Roman als eine allegorische Szene angelegt, die sie den semiotischen Verhandlungen des Interregnum eingliedert. Der tote Körper des Fürsten ohne Herz und die schwarze Welt Lianes mit Herz, Geist und innerem Licht korrespondieren als negatives Verhältnis, so wie sich res cogitans und res extensa als je einfache Substanzen nur via negationis aufeinander beziehen. Es wird Albanos Aufgabe sein, beides, Herz und Brust, so zusammenzusetzen, daß der Körper des Fürsten mit ––––––– 42

43

Diese Funktion ist ihm physiognomisch eingeschrieben: »[…] den Kunstrat Fraischdörfer, der sein Gesicht, wie die Draperie der Alten, in einfache edle große Falten geworfen hatte« (I/3,128). Vgl. zu der Aufgabe, die herrschaftliche Macht ornamental zu drapieren auch: »[…] der Thron, dieser graduierte und paraphrasierte Fürstenstuhl, stand offen, und Fraischdörfer hatt’ ihn mit schönen mythologischen und heraldischen Verkröpfungen und Außenwerken dekoriert« (I/3,239). I/3,196.

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dem Geist Lianes erfüllt werde, um das Interregnum zu beenden – eine fast animistische Politik des commercium-Problems. 3. Gaspard ist diejenige Figur, die das Gesamt aller Figuren durch die Verschwörung als eine Handlungseinheit zusammenhält; damit ist er handlungstechnisch das commercium mentis et corporis – wenn man der hier vorgeschlagenen Metapher folgen möchte, das Personal als einen kollektiven Körper zu verstehen.

VI. Albanos neues commercium Albano ist am Ende des Romans das Subjekt, das als politisch handlungsmächtiges strukturell die Position des commercium einnimmt und den toten Maschinisten der Macht, Gaspard, ablöst. Sie wächst ihm in einer Art von anthropologischer Neugeburt zu. Dabei geht der Roman mit den Toten, die er braucht, um Albanos Integrität zu behaupten, nicht gerade zimperlich um. Die beiden Frauengestalten, die um einer dritten willen, die allzu eindeutig die gemäßigte Synthese der beiden Vorgängerinnen ist, sterben mußten, werden in einer Allegorie vollends beseitigt. Gegen Ende des Romans wird der mechanische Selbstmord einer hölzernen weiblichen Gestalt im Spiegel- und Bilderkabinett beschrieben.44 Man kann die hölzerne Statue zunächst auf Idoine und ihre Erscheinung als Göttin und Plastik beziehen. In ihrem Innern befindet sich ein alter Kopf aus Wachs – einer der vielen Stellvertreter der imagines aus dem Bestattungskult der zwei Körper des Königs. Es wird nahegelegt, daß dieser Kopf das Bild des Fürsten ist, nämlich Albanos Aussehen im Alter.45 Warum ist dieses Bild aber in einer weiblichen Statue versteckt? Die Statue weist den Weg zur Enthüllung von Albanos wirklicher Abstammung. Diesen Weg zu gehen, dienen im Roman die Frauengestalten, allen voran Liane. Spielt hier, am Ende des Textes, die hölzerne Puppe als quasi sich selbst zerlegende Transzendenzmaschine nicht genau die Rolle, die Liane spielt, als ihr Tod für Albano eine geistige Dimension sichtbar macht? Die Puppe, die zuerst Idoine ist und im Vorgang des sich selbst Zerlegens Liane, bleibt am Ende als allegorischer Trümmerberg liegen. Das Erziehungsprogramm, das Albano zum platonischen Herrscher bestimmt, schreitet über diese Trümmer hinweg, um den Bereich der Hölle und des Todes zu überwinden. Liane ist vom Ende her gesehen nur bloßes Medium einer Transzendenzerfahrung und Idoine das Körperfeld, auf dem diese Erfahrung ––––––– 44 45

I/3,797. I/3,788; 794.

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stattfindet. So geht Albano durch die Leichen und durch die allegorischen Trümmer, die im Roman durch Gaspards Verschwörung zusammengehalten wurden, hindurch. Solange die Positionen der res extensa und der res cogitans als solche vorhanden waren, konnten sie nur durch Politik – nämlich durch den von Gaspard gesteuerten verschwörerischen Anthropologieersatz – synchronisiert werden. Im Moment von Albanos Neugeburt möchte der Roman freilich eine anthropologische Integration glaubhaft machen, in der das commercium vollständig realisiert ist. Damit tritt die anthropologische Fragestellung quasi aus dem epistemologischen Raum heraus und in einen utopischen hinein. Von Albano wird im Roman behauptet, er sei als Fürst von allen Fehlern des Schillerschen Prinzen befreit und bedürfe weiterhin weder eines Armeniers noch eines Gaspards. Nur zu auffällig wird diese neue integre Existenz als Neugeburt, die ein Nullpunktszenario passieren muß, im 133. Zykel vorgestellt: Als er so über sich und die stille dunkle Wüste seines Lebens hinsah: so war ihm auf einmal, als würde sein Leben plötzlich erleuchtet und ein Sonnenblick fiele auf den ganzen Wasserspiegel der verflossenen dunkeln Zeit; es sprach in ihm: »Was ist denn da gewesen? […]Was ist dageblieben? […] Aber was untergegangen ist, wird wieder kommen und wieder fliehen, und nur das wird dir treu bleiben, was verlassen wird, – du allein. – […] So klinge nur fort, frommes Saitenspiel des Herzens, aber wolle nichts ändern an der rohen, schweren Welt, die nur den Winden gehört und gehorcht, nicht den Tönen.46

Eine Stimme spricht in Albano, und sie verzichtet auf die handlungsmächtige Formierung von Subjektivität. Der Held des Romans stellt die Frage nach der Synchronisation von Geist und Körper einer Schicksalsergebenheit anheim, die als Weltfrömmigkeit nicht mehr die harte Kontur eines philosophischen Vermittlungsproblems kennt. Schon immer hat dieser Schluß die Leser des Titan nicht überzeugen können. In der Tat muß es ein leeres Versprechen bleiben, daß Albano das Reich der Negativität und des Todes hinter sich gelassen hat, einen Raum jenseits der commercium-Frage betritt und gegen alle im Roman formulierte Erfahrung herrschen wird, ohne zu beherrschen. Immerhin läßt sich fragen, wie dieser Schluß, der dem Roman schon das der ästhetischen Moderne eingeschriebene Finalproblem aufbürdet, zu denken ist, wenn man ihn wiederum auf die anthropologische Reflexionsebene projiziert. Was sagt also die Romanfabel des Titan über Jean Pauls Position zur commercium-Debatte aus? Die Rezeption von Schillers Geisterseher reagiert auf die umfassende Negativität der Aufklärung durch ein Zweiweltenmodell. ––––––– 46

I/3,768.

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Jean Paul radikalisiert einerseits Schiller, indem er den Verschwörer durch das Opfer erzeugt und nahezu alle Akteure sterben läßt. Schwärzer kann Aufklärung kaum gedacht werden. Andererseits etabliert er aber gegen Schiller eine platonische Option,47 in der sich im Durchgang durch die Negativität eine andere Dimension öffnen und die Integration, die unter der Prämisse der Verschwörung scheiterte, infolge der Verschwörung gelingen soll. Durch dieses Zweiweltenmodell kann Jean Paul Schiller zugleich steigern und utopistisch von außen sehen. Seine Reflexion auf die Verschwörung übernimmt den Schillerschen Konnex von anthropologischer Frage und politischer Antwort, indem die Verschwörung hinsichtlich der Mittel-Zweck-Problematik umfassender durchdacht wird. Denn bei Jean Paul führt paradoxerweise die Verschwörung Gaspards neben vielen Toten auch zum guten Zweck einer im Ergebnis idealtypisch gelungenen Fürstenerziehung – als würde hier auf die Konterinterpretation der Konterinterpretation bei Schiller (s.o.) eine weitere Konterinterpretation angewendet. Jean Paul und Schiller diskutieren das commercium von vornherein in der sozialen Dimension der Intersubjektivität und der Politik. Sie tun dies unter verschwörungstheoretischen Prämissen. Denkt man den Ansatz aber grundsätzlicher, dann enthält er in epistemologischer Perspektive eine interessante Pointe. Die Kernfrage der Anthropologie wird nämlich dem Diskurs überantwortet. In der Tat ist in den 90er Jahren absehbar, daß sich eine epistemologische Begründung des commercium als positiver Nachweis, Geist und Körper seien in ihrer Vermittelheit theoretisch lückenlos zu exponieren, kaum würde finden lassen. Schiller spielt die anthropologische Fragestellung in die ästhetische hinüber, indem er es der Kunst, dem Spiel und dem ästhetischen Staat überantwortet, die anthropologische Integration, die er auf der Ebene vermögenstheoretischer Terminologie nicht begründen kann, zu leisten. Jean Pauls Gedankenexperiment im Titan läßt sich als Reflexion dieser Schillerschen Gedankenfigur lesen. Ist Albanos ideales Fürstentum nicht auch eines in einem ästhetischen Staat? Übernimmt nicht die als Roman organisierte Erziehung des Fürsten die anthropologische Fragestellung? An die Stelle eines theoretischen Diskurses, der aus seiner paradoxen Ausgangslage, res extensa und res cogitans als einfache Substanzen beibehalten und sie dennoch vermitteln zu wollen, zu keiner Lösung finden kann, tritt eine pragmatische Substitution. Ein Fürst wird erzogen, ästhetisch gebildet und durch politische Verschwörung vermögenstheoretisch synchronisiert. Statt der einen epistemologischen Vermittlung finden sich temporäre anthropolo––––––– 47

Vgl. hierzu: Joseph Kiermeier, Der Weise auf den Thron! Studien zum Platonismus Jean Pauls. Stuttgart 1980.

Commercium und Verschwörungstheorie

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gische Modelle, die in einem Raum der intersubjektiven Verhandlung und der Macht erzeugt werden: Der Mensch ist das, was er durch Erziehung, Kunst, Politik, soziale Interaktion und durch eigene Entscheidung geworden ist. Die Frage nach dem commercium mentis et corporis ist nicht mehr die eine epistemologische Kardinalfrage, sondern weitet sich aus in die vielen Identitätsgeschichten (frühere Germanistik hätte von Bildungsgeschichten und Bildungsromanen gesprochen). Es zeichnet sich an diesem Punkt ab, daß man Jean Pauls Text als ein Kontinuum der ausgeweiteten anthropologischen Reflexion lesen können sollte. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat dies vor geraumer Zeit mit den Jugendsatiren getan.48 Von der ästhetischen Reflexion her ist freilich die Konstruktion des commercium aus dem erzählerischen Entwurf die interessantere Fragestellung. Wie wird in den Idyllen die Narration des commercium entworfen? Wie ist die vertrackte Ehe- und Herzgeschichte des Siebenkäs zu verstehen, wenn man das Verhalten des Ehepaars in der Herzkammer seiner Wohnung als Diskurs über Körper und Geist liest? Findet hier nicht auch in der Auferstehung eine ästhetische wie anthropologische renovatio statt? Und sind nicht die Zwillinge der Flegeljahre ein anthropologisches Double, das aus zu rekonstruierenden epistemologischen Gründen nicht zusammen findet? Gerade dieser Text betont ja, daß trotz identischer anthropologischer Basis – gleicher als Zwillinge können zwei Menschen nicht sein – die Differenz der Lebensgeschichten ausschlaggebend ist und also ein commercium nicht naturwüchsig gegeben sein kann, sondern Ergebnis der sozialen Konstruktion ist. Es hat den Anschein, als öffne sich hier ein Forschungsfeld, in dem in genauen Lektüren ein Forschungsprogramm abzuarbeiten ist, das unter dem Titel der literarischen Anthropologie um 1800 noch zu wenig in die Ästhetik der Texte gegangen ist und sich mir der Beschreibung der epistemologischen Modelle begnügt hat.

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Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg und München 1975.

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES JAHRBUCHS

Dr. Dorothea Böck, Hollstraße 14, 12489 Berlin Dr. phil. habil. Jochen Golz, Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Direktion Goethe- und Schiller-Archiv, Hans-Wahl-Straße 4, 99425 Weimar Dr. Barbara Hunfeld, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abt., Am Hubland, 97074 Würzburg Dr. Johannes John, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für neuere deutsche Literatur, Marstallplatz 8, 80539 München Dr. Monika Meier, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jean-Paul-Edition, Am Neuen Markt 8, 14467 Potsdam Dr. Jörg Paulus, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jean-Paul-Edition, Am Neuen Markt 8, 14467 Potsdam Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abt., Am Hubland, 97074 Würzburg Dr. Gabriele Radecke, Pütrichstraße 1, 81667 München Dr. Birgit Sick, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abt., Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Ralf Simon, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. Michael Will, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abt., Am Hubland, 97074 Würzburg Dr. Petra Zaus, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abt., Am Hubland, 97074 Würzburg

Für ihr Mitwirken an den Korrekturarbeiten bedanken sich Herausgeber und Redakteur des Jahrbuchs herzlich bei Birgit Sick, Sabine Straub, Monika Vince, Petra Zaus, Christian Ammon, Jens Weller, Alexander Kluger und Christian Schwaderer.