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HEGEL-ST U D IE N / BA N D 41
HE G E L- STU DIEN
In Verbindung mit der Hegel-Kommission der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von
walte r jae schke
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2006
fe lix meine r ve r lag ham burg
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2006. ISSN 0073-1578 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Marcel Simon-Gadhof. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Münzer“, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien
I N H A LT
ABHANDLUNGEN Ro l f - P e t e r H o r s t ma n n ( B e r l i n ) Hegels Ordnung der Dinge. Die „Phänomenologie des Geistes“ als ‚transzendentalistisches‘ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen ................................
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W i l k o B au e r ( B e r l i n ) Hegels Theorie des geistigen Eigentums............................................... 51 L u D e Vo s ( L e u v e n ) Institution Familie. Die Ermöglichung einer nicht-individualistischen Freiheit ........................................................ 91 Ta k e s h i G o n z a ( S a p p o r o ) Reichsauflösung, Rheinbundreformen und das Problem der Staatssouveränität. Die Entstehung der Hegelschen Souveränitätstheorie und ihr geschichtlicher Hintergrund ....................................... 113
MISZELLE Wol f gang E r b ( Au g sburg ) De translationem 䘧ᖇ㍧ Vindobona vidisse Hegelis annotatione ........ 149
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Inhalt
L I T E R AT U R B E R I C H T E U N D K R I T I K
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22. Herausgegeben von Hansgeorg Hoppe (Ulrich Thiele, Darmstadt) ........................................................................ 163 Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik (Fabian Kettner, Bochum).............................................. 166 Ken Foldes: Hegel & The Solution to Our Postmodern World Crisis. From Nihilism to Kingdom Come. Essays (Giacomo Rinaldi, Urbino) ....... 169 Mario Cingoli (Ed.): L’esordio pubblico di Hegel. Per il bicentenario della Differenzschrift. Atti del Convegno internazionale Università di Milano-Bicocca 26–28 novembre 2001. [Das öffentliche Debüt Hegels. Zum zweihundertsten Jahrestag der Differenzschrift. Akten des internationalen Kongresses der Universität Milano-Bicocca vom 26.–28. November 2001.] (Pierluigi Valenza, Roma) .................................. 175 Andreas Arndt / Ernst Müller: Hegels Phänomenologie des Geistes heute (Alexander Oberauer, Tübingen) ............................................................... 179 Markus Kleinert: Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard (Smail Rapic, Köln / Kopenhagen) ................................... 184 Jon Stewart: Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered (Christian Engelhardt, Köln) ..................................................................... 188 Konrad Utz: Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der „Wissenschaft der Logik“ (Rainer Schäfer, Heidelberg) ................... 192 Francesca Menegoni / Luca Illetterati: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hegel-Kongreß in Padua und Montegrotto Terme 2001 (Alexander Oberauer, Tübingen) ............................................ 198 Cornelio Fabro: La prima riforma della dialettica hegeliana. A cura Christian Ferraro. [Die erste Reform der Hegelschen Dialektik. Herausgegeben von Christian Ferraro.] (Federico Perelda,Venezia / Padova) ........................ 203 Ute Guzzoni: Hegels Denken als Vollendung der Metaphysik. Eine Vorlesung (Fabian Kettner, Bochum) ......................................................................... 205 Wilfried Grießer: Geist zu seiner Zeit. Mit Hegel die Zeit denken (Kurt Appel, Wien).................................................................................... 208 Robert B. Pippin. Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne (Steffen Schmidt, Jena)........................................ 212
Inhalt
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Giuseppe Duso / Gaetano Rametta (Eds.): La libertà nella filosofia classica tedesca. Politica e filosofia tra Kant, Fichte, Schelling e Hegel. [Die Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie. Politik und Philosophie zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel.] (Cristiana Senigaglia, Triest)................. 218 Silvia Rodeschini: Costituzione e popolo. Lo Stato moderno nella filosofia della storia di Hegel (1818–1831). [Verfassung und Volk. Der moderne Staat in Hegels Geschichtsphilosophie (1818–1831).] (Francesca Iannelli, Roma).... 223 Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons (Beate Marschall-Bradl, Heidelberg).............................................. 228 Erzsébet Rósza:Versöhnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie (Michael Quante, Köln) ........................................ 233 Julio De Zan: La Filosofía Práctica de Hegel. El trabajo y la propiedad privada en la génesis de la concepción hegeliana de la Filosofía Práctica. [Hegels praktische Philosophie. Die Arbeit und das Privateigentum in der Entwicklung von Hegels Konzeption der praktischen Philosophie.] (Víctor Duplancic, Godoy Cruz / Mendoza, Argentinien) ............................ 238 Luciano Amodio: Storia e dissoluzione. L’eredità di Hegel e Marx nella riflessione contemporanea. A cura di Tito Perlini. [Geschichte und Auflösung. Hegels und Marx’ Erbe im zeitgenössischen Denken. Herausgegeben von Tito Perlini.] (Marcello Monaldi, Trieste) .................... 240 Otto Pöggeler: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin (Gabriella Baptist, Cagliari) ..... 242 Dae-Joong Kwon: Das Ende der Kunst. Analyse und Kritik der Voraussetzungen von Hegels These (Britta Caspers, Bochum)..................... 247 Veit-Justus Rollmann: Das Kunstschöne in Hegels Ästhetik am Beispiel der Musik (Alain Patrick Olivier, Paris) ..................................................... 253 Peter C. Hodgson: Hegel and Christian Theology. A Reading of the “Lectures on the Philosophy of Religion” (Claudia Melica, Trient).............. 255 Mariano Álvarez Gómez: Pensamiento del ser y espera de dois. [Seinsgedanke und Warten auf Gott.] (Alfredo Berges, Bochum)....................................... 259 Fortunato Maria Cacciatore: Protestantesimo e filosofia in Hegel. [Protestantismus und Philosophie bei Hegel.] (Nico De Federicis, Pisa)...... 264 Christoph Asmuth: Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte (Kazimir Drilo, Berlin).... 267 Frank-Peter Hansen:Vom wissenschaftlichen Erkennen. Aristoteles – Hegel – N. Hartmann (Fabian Kettner, Bochum) .................................................... 272
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Inhalt
Željko Pavič: Hegels Idee einer logischen Hermeneutik. Die Selbstauslegung des Absoluten in der sichtbaren Unsichtbarkeit der Sprache (Wilfried Grießer, Wien) ........................................................................... 274 Paul Ricœur: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein (Andreas Großmann, Hamburg) .......................................... 278 Heiko Joosten: Selbst, Substanz und Subjekt. Die ethische und politische Relevanz der personalen Identität bei Descartes, Herder und Hegel (Frank Kuhne, Hannover).......................................................................... 281 Vincenzo Vitiello: Hegel in Italia. Dalla storia alla logica. [Hegel in Italien. Von der Geschichte zur Logik.] (Federico Perelda,Venezia / Padova) ........... 285 Hans Friedrich Fulda / Christian Krijnen (Hgg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus (Wolfgang Bonsiepen, Bochum) ................................................................ 288 Dietmar H. Heidemann (Hg.): Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart (Iris Harnischmacher, Frankfurt a. M.) .............................. 293
BIBLIOGRAPHIE Abhandlungen zur Hegelforschung 2004 / 2005 Zusammenstellung und Redaktion: H o l g e r G l i n k a ( B o c h u m ) ............................................................. 303 Nachtrag zum Berichtszeitraum 2001 ................................................................ 366 Nachträge zum Berichtszeitraum 2002 .............................................................. 367 Nachträge zum Berichtszeitraum 2003 .............................................................. 370
ABHANDLUNGEN
r o l f - p e t e r h o r s t ma n n HEGELS ORDNUNG DER DINGE Die „Phänomenologie des Geistes“ als ‚transzendentalistisches‘ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen Im folgenden sollen zwei Themenstränge auf einmal verfolgt werden, die nicht nur auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen. Der eine ist eigentlich gar kein richtiges Thema, sondern eher ein Versuch, eine Frage zu exponieren, die meiner Meinung nach in eine weit verstandene Erkenntnistheorie gehört, die Frage nämlich, wie man sich einen Reim darauf machen kann, daß wir unsere Erkenntnisansprüche und Wissensbehauptungen mit der größten Selbstverständlichkeit auf vollständig verschiedene Arten von Gegenständen und Sachverhalten beziehen, also über die unterschiedlichsten Arten von Objekten (wie z. B.Tische, Bäume, Menschen, Städte, Staaten, Zahlen, Kunstwerke, Religionen, aber auch Handlungen, Ereignisse, historische Zusammenhänge) meinen, Einsichten (wahre oder falsche) haben zu können. Diese unsere Praxis setzt relativ unbefragt voraus, daß wir über ein beachtliches Maß von Identifizierungs-, Determinierungs-, Spezifizierungs- und Diskriminierungsmöglichkeiten verfügen, deren subjektive und objektive Basis alles andere als auf der Hand liegend ist. Die mit dieser Praxis verbundenen Fragen wenigstens im Ansatz exponieren soll der erste Gedankengang. Das andere Thema, um das es im folgenden gehen soll, beschäftigt sich mit Hegel, genauer: mit seiner Phänomenologie des Geistes. Es ist bekannt, daß Hegel wenigstens eine Zeit seines Lebens der Ansicht gewesen ist, daß diese Phänomenologie des Geistes die Funktion einer Einleitung in sein System der Philosophie wahrnehmen könne. Allerdings weiß bis heute niemand so richtig, was genau Hegel zu dieser Ansicht gebracht haben mag.1 Da Hegel die Phänomenologie des Stellvertretend für viele gründliche Untersuchungen zur einleitenden Rolle der Phänomenologie des Geistes sei verwiesen auf die immer noch aktuelle Studie: Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt a. M. 1965. (Philosophische Abhandlungen. Band XXVII) 1
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Geistes als eine „Wissenschafft der E rf ah r u ng d e s Bewu ß ts eyn s “2 mit unterschiedlichen Objektkonzeptionen ausgearbeitet hat, kann man als eine nicht eben von vornherein abwegige Idee erwägen, ob Hegel über eine Theorie der Objektarten und deren Erkenntnisbedingungen seine systematische Grundannahme, also seinen Vernunftmonismus, hat rechtfertigen wollen. Ich glaube, daß diese Idee zur Verständigung über die Funktion, die Hegel selbst mit seinem phänomenologischen Einleitungsprojekt verbindet, ziemlich weit trägt. Sie etwas detaillierter vorstellen soll der zweite Gedankengang. Das, was hier im Umriß vorgestellt wird, ist wahrscheinlich nicht neu. Besonders der erste Themenstrang wird im Laufe der Geschichte der Philosophie des Abendlandes in einer ganzen Reihe von Versionen entweder explizit oder wenigstens implizit verfolgt worden sein. Es ist anzunehmen, daß alle Philosophen, die irgendwelche Theorien oder Gedanken zum Thema ‚Objektkonstitution‘ vorgetragen haben, an diesem Thema interessiert gewesen sind. Was auch immer die besonderen Pointen der unterschiedlichen Versionen gewesen sein mögen, so ist ziemlich sicher, daß man ihnen keine wirklich neue Pointe an die Seite stellen kann. Selbst wenn man dächte, über eine solche zu verfügen, wäre man wahrscheinlich so lange damit beschäftigt herauszufinden, ob sie tatsächlich wirklich neu ist, daß einem keine Zeit mehr bliebe, sie mitzuteilen. Ich werde mich deshalb mehr mit der zweiten, der Hegel-Geschichte beschäftigen. Denn Hegel scheint sowohl eine Theorie dieser Bedingungen als auch ein Verfahren zu ihrer Plausibilisierung bereitgestellt zu haben. Wenigstens kann man seine Phänomenologie des Geistes so lesen – dies die hier vertretene Behauptung. Selbst wenn man seine Theorie und sein Verfahren nicht überzeugend finden mag, so kann man doch an seinen Ausführungen gut deutlich machen, warum die Frage des Objektverständnisses philosophisch bedeutsam ist, und das nicht nur in epistemologischer Hinsicht. Dies ist in meinen Augen ein hinreichender Grund, sie auch im Zusammenhang mit Hegels phänomenologischen Analysen zu exponieren. Das für meine Zwecke ideale Vorgehen wäre, das, was ich ausführen will, in zwei Durchgängen zu erledigen: In einem ersten, kürzeren Durchgang würde in relativer Ferne vom Hegelschen Text das Problem vorgestellt und versucht, Hegels Zugangsweise zu ihm sowie die systematischen Möglichkeiten in den Blick zu bringen, die er mit seiner Lösung verbindet. Der zweite Durchgang würde dann mehr am Hegelschen Text nachzeichnen, wie er sich die ihm von mir unterstellte Sache im einzelnen vorstellt, um auf diese Weise zu einer aus-
Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede †. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 9. Hamburg 1980. 61. (Im folgenden: GW 9) 2
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führlichen Darlegung des Gedankengangs der Phänomenologie des Geistes unter der hier gewählten Perspektive zu kommen. Doch dieser zweifache Durchgang bleibt vorerst nur ein Projekt oder vielleicht auch nur ein Wunsch, dessen Realisierung dahinsteht. Ich werde mich daher zunächst auf den ersten Durchgang beschränken. Ihn werde ich in vier Abschnitte gliedern. Der erste (I.) soll die epistemologische Ausgangslage skizzieren, auf die Hegel mit seiner Phänomenologie des Geistes reagiert. Der zweite (II.) versucht zu zeigen, wie diese Reaktion in ihren Grundzügen aussieht und wie sie mit der Rechtfertigung der von ihm vertretenen monistischen Metaphysik zusammenhängt. Der dritte (III.) stellt Hegels in der Phänomenologie des Geistes dargelegte Theorie der Konstitution von Objektarten vor, und der vierte (IV.) verweist zum Abschluß kurz auf einige Vorzüge dieser Theorie.
I. Zunächst also zur epistemologischen Ausgangslage, d. h. zu einer eher naiven Beschreibung der Situation, von der aus sich überhaupt erst die Fragen exponieren lassen, die Anlaß zu einer Theorie der Erkenntnis geben, mit deren Mitteln sie zu beantworten sein sollen. Eher naiv ist diese Beschreibung in doppelter Hinsicht: zum einen benutzt sie das traditionelle Vokabular von Subjekt und Objekt zur Kennzeichnung der Ausgangslage ohne allzu klare Vorstellungen mit diesem Vokabular verbinden zu können; zum anderen arbeitet sie mit einem sehr vagen Begriff von Erkenntnis, indem sie unterstellt, daß schon eine minimale Charakterisierung dieses Begriffs genügt, ihm irgendeine Bedeutung zu sichern. Dennoch, so glaube ich, reicht diese Beschreibung aus, um einige zentrale, dem Alltag und dem common sense entsprungene Überzeugungen einzufangen, die mit dem sog. Erkenntnisproblem und seiner Analyse verbunden sind. Die Welt, in der wir uns vorfinden, präsentiert sich uns nicht nur auf dem ersten Blick als ein relativ komplexes und kompliziertes Geflecht von Objekten, worunter Gegenstände, Sachverhalte und Ereignisse zu verstehen sind, mit denen wir in unterschiedlicher Weise zu tun haben. Sieht man einmal von den verschiedenen Weisen des praktischen Umgangs mit Gegenständen, Sachverhalten und Ereignissen ab und achtet hauptsächlich auf unsere mehr theoretischen Einstellungen zu diesen Objekten, als da hauptsächlich sind Meinungsäußerungen, Glaubensbekundungen und Wissensansprüche, dann fällt zweierlei ziemlich unmittelbar auf: (1) Über manche dieser Gegenstände, Sachverhalte und Ereignisse scheint es einfacher zu sein, sich einigermaßen korrekte Meinungen zu bilden, als über andere, manche scheinen sozusagen ‚kognitiv greifbarer’ oder ‚epistemisch zu-
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gänglicher‘ als andere zu sein, was darauf hinzuweisen scheint, daß manche Gegenstände und Sachverhalte kognitiv oder epistemisch evasiver sind als andere. Ganz gleichgültig, ob es darum geht, etwas als das oder jenes zu identifizieren, oder darum, etwas diese und jene Eigenschaften zu- oder abzusprechen, oder auch darum, etwas von anderem zu unterscheiden, oder schließlich darum, die kausale Rolle von etwas zu spezifizieren – manche Objekte, so hat es den Anschein, sind eben einfach leichter zu identifizieren, (qualitativ) zu determinieren, zu diskriminieren und kausal zu spezifizieren, als andere. Nennt man die Gesamtheit solcher theoretischer Aktivitäten wie Identifizieren, Determinieren, Diskriminieren und Spezifizieren ‚Erkennen‘, so läuft diese Beobachtung eigentlich nur darauf hinaus, daß wir uns eben anscheinend leichter tun, (etwas als) einen Apfel oder (als) eine Straßenbahn zu erkennen als beispielsweise (als) einen Staat (im Unterschied etwa zu einer bürgerlichen Gesellschaft) oder (als) ein Kunstwerk (im Unterschied zu einem Gebrauchsgegenstand), von so etwas wie (als) Liebe oder (als) Arbeit ganz zu schweigen. Auf Fragen wie ‚Ist das hier ein Apfel?‘ läßt sich normalerweise allem Anschein nach besser eine korrekte Auskunft geben als auf die Frage ‚Ist das hier ein Kunstwerk?‘ oder gar ‚Ist das hier (ein Fall von) Liebe?‘. Wenn man einmal zuläßt, daß dieser Anschein zu Recht besteht, ein fundamentum in re hat, dann liegt es nahe, sich zu fragen, wie man ihm in der Theorie Rechnung tragen kann. (2) Eine andere schwer zu vermeidende Beobachtung besteht in Folgendem: Läßt man die Gesamtheit dieser Objekte Revue passieren, die in unserer Welt für uns als Gegenstände theoretischer Einstellungen vorkommen, so bilden sie anscheinend ein erstaunlich reichhaltiges Repertoire unterschiedlichster Objektarten, die durch sich teilweise überlagernde und bisweilen sogar miteinander in Konflikt stehende Merkmalsgruppen charakterisiert sind und deshalb offenbar vollständig verschiedene Anforderungen an ihre Erkenntnis stellen. So gehören in die unüberschaubar große Menge von Objekten eben so sehr physische Gegenstände wie mentale Zustände, mathematische Sachverhalte (Zahlen, Funktionen, geometrische Konstruktionen) wie ökonomische Einrichtungen (die Börse, der Tarifvertrag), politische, soziale und kulturelle Institutionen (die Regierung, die Gewerkschaft, die Kirche) und eine Unzahl von Dingen, bei denen man noch größere Schwierigkeiten als bei den schon genannten hat, wenn es darum geht, die für sie charakteristischen ausgezeichneten Merkmale anzugeben. Man denke nur an Wellen oder an andere Wetterphänomene wie Wind oder Wolken oder auch an die Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Gegenständen. Diese Artenvielfalt spiegelt sich in der uns gebräuchlichen Rede von verschiedenen Welten, die wir durch die Gesamtheit der ihnen zugehörigen Objekte konstituiert denken: Wir kennen die Welt der Physik, der Mathematik, der Musik, wir kennen die soziale, die moralische, die geistige Welt, die des Rechts, der Gefühle und der Gedanken, wir kennen eine Traumwelt
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und eine Lebenswelt etc. pp. – kurz: Wir kennen ebenso viele Welten wie wir Objektarten kennen. Doch nicht nur das. Hinzu kommt, daß Objekte häufig dazu tendieren, nicht etwa nur als Repräsentanten einer Objektart aufzutreten, sondern mehrere Objektarten zu exemplifizieren. Um im Bild mit den Welten zu bleiben: Viele Objekte gehören verschiedenen Welten gleichzeitig und gleichberechtigt an. Belebte und unbelebte Gegenstände sind, obwohl sie einerseits inkompatiblen Arten angehören, andererseits allesamt physische Dinge, Schmerzen und manche andere mentale Zustände sind zwar keine physischen Gegenstände, haben aber durchaus raum-zeitliche Eigenschaften (es tut immer irgendetwas zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwo weh), und der Staat und andere institutionelle Gegenstände stellen sich bisweilen als sehr abstrakte Entitäten dar, obwohl sie bei anderer Gelegenheit (durch ihre sog. ‚Organe‘) äußerst konkret agieren können. Angesichts dieser unübersichtlichen und beliebig irritierenden Lage stellt sich auch im Zusammenhang mit dieser zweiten Beobachtung ziemlich direkt die Frage, ob und wie man dieser doch einigermaßen undurchsichtigen Ordnung der Dinge theoretisch gerecht werden kann. Beide Beobachtungen haben gemeinsam, daß sie zu Recht vollständig fraglos voraussetzen, daß Erkennen als eine spezifische Weise der Beziehung auf einen gegebenen oder sonst wie vorliegenden Sachverhalt anzusehen ist, der das Objekt des Erkennens bildet. Für Erkenntnis sind also Erkenntnisobjekte und die Möglichkeit der Bezugnahme auf sie konstitutiv. Daher zunächst einige kurze Bemerkungen zu meiner Verwendung des Begriffs des Objekts zusammen mit einer eher trivialisierenden Skizze einer durchaus nicht grundlos gängigen Vorstellung darüber, auf welche Weise man sich die Möglichkeit der Bezugnahme auf Objekte verständlich machen kann.Was von uns als etwas angesehen werden kann, worauf wir uns als auf einen Sachverhalt, sei es ein gewöhnlicher Gegenstand, ein Ereignis oder ein Zustand, in welcher Absicht auch immer beziehen können, sei es um etwas über ihn zu erfahren (behaupten, ihm zu- oder absprechen, erkennen) oder ihn zu verändern (bearbeiten, anstreben, erreichen), hängt davon ab, über welche Möglichkeiten der Bezugnahme wir verfügen oder zu verfügen meinen. Etwas, worauf wir uns auf keine Weise beziehen können, ist für uns kein wie auch immer gearteter Sachverhalt oder, wenn man der traditionellen Terminologie folgt: kein Objekt.3 Wir können uns auf sehr unterschiedliche Weise und mit sehr unterschiedlichen Mitteln auf Objekte beziehen. Zu den Standardweisen der Bezugnahme gehören neben Handlungen die sinnliche Wahrnehmung in allen ihren verschiedenen Modi (Sehen, Hören usw.) und das, was man bereit ist, als nicht-sinnliche Weise der Vergegenwärtigung von etwas zu akzeptieren, nennen wir es ‚Denken‘. Zu den Standardmitteln gehören 3 Ich werde im folgenden die Termini ‚Sachverhalt‘ und ‚Objekt‘ als synonyme Begriffe verwenden.
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Vermögen bzw. Fähigkeiten, Empfindungen bzw. Eindrücke und Sprache bzw. Begriffe. Sie alle, die Weisen und die Mittel, machen das aus, was man zu den subjektiven Bedingungen der Bezugnahme zählen kann. Sie sind im einzelnen wohl abhängig von der gattungsspezifischen bzw. individuellen Ausstattung des jeweiligen Subjekts der Bezugnahme. So mögen Ameisen auf Grund der ihnen eigentümlichen Ausstattung andere Bezugsmöglichkeiten haben als Affen, Menschen andere als Maulwürfe. Es mag auch sein, daß die Rede von ‚sich auf etwas als auf einen Sachverhalt beziehen‘ in buchstäblicher Bedeutung nur Sinn macht, wenn man voraussetzen kann, daß sehr spezifische subjektive Bedingungen (z. B. irgendwelche Ordnungsvermögen oder auch konzeptuelle Fähigkeiten) erfüllt sind, so daß man Ameisen und Maulwürfen erst gar keine Bezugsmöglichkeiten auf Sachverhalte einräumt.Von der Art und der Beschaffenheit dieser als subjektive Bedingungen fungierenden Bezugsmöglichkeiten hängt natürlich auch ab, welcher Typ von Objekten in welchem Modus und in welchem Umfang bzw. in welchem Grad Gegenstand der Bezugnahme sein kann. So werden für Lebewesen wie uns bestimmte Objekte zu groß oder zu klein sein, um als Gegenstände einer (ohne Hilfsmittel arbeitenden) wahrnehmenden oder auch handelnden Bezugnahme in Frage zu kommen, obwohl wir uns in anderen Modi durchaus auf sie als auf Gegenstände beziehen können (z. B. durch idealisierende Projektionen oder durch Werkzeuge). Für Blinde gibt es überhaupt keine Objekte der wahrnehmenden Bezugnahme (wenn man einmal Wahrnehmung auf optische Empfindungen einschränkt), sie mögen von ihnen aber taktil erfahren werden können. Und auf weit entfernte Galaxien kann man sich nicht handelnd beziehen, wenn sie auch mit der Hilfe von Teleskopen wahrnehmbar sein mögen. Auch Sachverhalte wie mathematische Gleichungen oder Gedichte können Objekte nur für jemanden sein, der über bestimmte subjektive Fähigkeiten verfügt (etwa die des Rechnens oder des Lesens). Das gleiche gilt für fragile und evasive Gefühlszustände wie z. B. Liebe – über sie und anderes dieser Art wird man sich selbst und anderen nur Auskunft geben können (und Auskunft Geben ist eine Form des Objektbezugs), wenn man mit sehr spezifischen Erlebnisfähigkeiten ausgestattet ist. Des weiteren gilt, daß man je nach dem Grad der Ausbildung der jeweiligen subjektiven Fähigkeiten sich unterschiedlich genau oder vollständig auf etwas beziehen oder etwas mehr oder weniger adäquat in den Blick nehmen kann. Für den Halbtauben ist der Bezug auf musikalische Sachverhalte wahrscheinlich wesentlich diffuser als für den normalen Hörer. Für den mathematisch Begabten sind Gleichungen in anderer Weise Objekt als für seinen weniger begabten Mitmenschen. Usw., usw. Kurz: diese subjektiven Bedingungen der Bezugnahme sind vielfältig und je nach Kontext andere. Welche es letztlich tatsächlich sind und wie nun genau diese Bezugnahme in den verschiedenen Weisen vonstatten geht bzw. wie dabei die verschiedenen Mittel genau funktionieren, was also sol-
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che subjektiven Bedingungen der Bezugnahme im einzelnen zu leisten haben, ist weitgehend Gegenstand empirischer Untersuchungen und hat vor allem die Psychologie in vielen ihren Unterdisziplinen, wie etwa der Wahrnehmungstheorie und der Kognitionsforschung, von alters her beschäftigt und beschäftigt sie wohl noch eine zeitlang. Von diesen, nennen wir sie: ‚normalen‘ oder ‚empirischen‘ subjektiven Bedingungen sind aus einem Grund, der später noch erwähnt werden muß, solche zu unterscheiden, die man als ‚philosophische‘ oder auch ‚transzendentale‘ bezeichnen könnte. Sie sind eher formaler bzw. begrifflicher Natur und legen fest, was denn alles der Fall sein muß, um überhaupt erst von einem Subjekt sprechen zu können. Zu den subjektiven Bedingungen der Bezugnahme, in diesem philosophischen oder transzendentalen Sinn genommen, gehören diejenigen, die angeben, was erforderlich ist, um sich als epistemisches Subjekt zu qualifizieren. In den Schlagwörtern der philosophischen Tradition geredet, gelten als solche Bedingungen Merkmale wie Aktivität, Reflexivität und Identität. Sie stellen konzeptuelle Erfordernisse dar, die mit dem Begriff, in diesem Fall: des epistemischen Subjekts verbunden sind, und sind insofern schon aus logischen Gründen von den empirischen subjektiven Bedingungen zu unterscheiden. Neben den beiden Arten subjektiver Bedingungen der Bezugnahme gibt es aber auch solche, die man als objektive betrachten kann. Vorläufig formuliert gehören zu diesen objektiven Bedingungen alle diejenigen, die von Seiten des Objekts, des Sachverhalts, erfüllt sein müssen, um sich als mögliches Objekt der Bezugnahme zu qualifizieren.4 Auch hier wird man wieder zwischen normalen bzw. empirischen und philosophischen bzw. transzendentalen unterscheiden müssen. Die empirischen objektiven Bedingungen lassen sich wahrscheinlich kaum vollständig angeben, weil jede Objektart und vielleicht sogar jedes Objekt durch ein ihm eigentümliches und von Kontexten abhängiges Bündel solcher Bedingungen gekennzeichnet sein mag. So müssen Wahrnehmungsobjekte, wie etwa Häuser, andere Bedingungen erfüllen, um als Objekte akzeptiert werden zu können, als z. B. abstrakte mathematische Objekte, wie etwa Zahlen. Die philosophischen objektiven Bedingungen wiederum müssen für alle Objekte oder Sachverhalte gelten, auf die man sich epistemisch beziehen kann, weil sie den Begriff eines Objekts bestimmen: Sind sie nicht erfüllt, macht die Rede von einem Objekt keinen Sinn. Man kann, wiederum im Rückgriff auf die Tradition, eine ganze Reihe von Kandidaten für die Rolle einer transzenWas mit dieser sehr vagen Umschreibung genauer gemeint ist, läßt sich vielleicht am besten durch die im folgenden eingestreuten Beispiele andeuten. Sie werden hauptsächlich aus einem Bereich gewählt, in dem Sachverhalte als ‚epistemische‘ Objekte eine Rolle spielen, also als solche, auf die man sich mit dem Anspruch beziehen kann, etwas über sie auszumachen – sei es ihre Eigenschaften, ihr Wesen, ihr Verhalten oder dergleichen. Dies deshalb, weil es im folgenden hauptsächlich um epistemische Bezugnahme auf Objekte gehen soll. 4
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dentalen objektiven Bedingung erwägen, von denen hier nur drei als Beispiele erwähnt seien. Eine dieser Bedingungen, und zwar die grundsätzlichste, klingt wieder ziemlich trivial. Man kann sie die ‚Einheitsbedingung‘ nennen. Sie besagt, daß Objekte als Einheiten von Merkmalen auftreten können müssen, die hinreichend stabil sind, um wenigstens so weit bestimmt zu sein, daß sichergestellt ist, daß sie von anderen Objekten zu unterscheiden sind. Eine zweite könnte unter dem Namen ‚Kompatibilitätsbedingung‘ laufen. Damit ist gemeint, daß alles, was als Objekt der epistemischen Bezugnahme dienen kann, durch Merkmale ausgezeichnet sein muß, die miteinander verträglich sind, die ‚zueinander passen‘. Als dritte Bedingung könnte man so etwas wie eine ‚Kompositionsbedingung‘ in Anschlag bringen: Objekte müssen nicht nur voneinander unterscheidbare Ganzheiten von kompatiblen Merkmalen sein, sie müssen außerdem in sich differenzierbar sein, so daß sie aufgefaßt werden können als aus Teilen bzw. Elementen so komponiert, daß jeder Teil bzw. jedes Element selbst als Objekt auftreten kann. Auch andere solcher philosophischer oder transzendentaler Bedingungen sind denkbar und auch vorgeschlagen worden. Was sie im einzelnen leisten, wie sie zusammenhängen und ob sie jeweils alle erfüllt sein müssen, dies wird wohl weitgehend davon abhängen, was man unter einem Objekt zu verstehen geneigt ist. Über diese subjektiven und objektiven Bedingungen in ihren jeweils zwei Spielarten wäre, wenn man ihre genaue Analyse anstrebte, viel zu sagen. Dies soll hier unterbleiben. Zwei Hinweise sind allerdings angebracht, wenn sie auch für das, was folgt, keine große Rolle spielen. So gilt zu beachten, daß die transzendentalen objektiven Bedingungen nur dann von etwas, das sich als Objekt der Bezugnahme qualifizieren soll, erfüllt sein müssen, wenn es ein Objekt ‚für uns‘ sein soll. In gewisser Weise sind also diese ‚objektiv‘ genannten Bedingungen in dem Sinne eigentlich auch eher subjektiv, als sie Bedingungen angeben‚ die nur ‚für uns‘ von Bedeutung sind, die Objekte nur ‚für uns‘ erfüllen müssen, wenn sie denn Objekte sein sollen. Insofern ist der Unterschied, der hier zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen des Objektbezugs gemacht worden ist, ein sozusagen ‚subjektivitätsinterner‘: Damit für ein Subjekt ein Objekt in den Blick kommen kann, bedarf es neben den Leistungen, die das Subjekt erbringen muß (den subjektiven Bedingungen), auch gewisser Vorgaben, denen das Objekt genügen muß (nämlich den objektiven Bedingungen). Anders gesagt, die genannten objektiven Bedingungen müssen zwar durch das Objekt eingelöst sein, sie sind aber nicht subjekt-unabhängig. Sodann ist festzuhalten, daß eine genauere Betrachtung des Zusammenspiels dieser subjektiven und objektiven Bedingungen zu einer sehr komplexen Vielfalt von Beziehungen führen wird. Dies deshalb, weil die empirischen subjektiven und objektiven Bedingungen zueinander in anderen Verhältnissen stehen als die transzendentalen und beide, also die empirischen und die transzendentalen, wiederum eigene Weisen der
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Beziehung aufeinander haben. Daraus ergibt sich als methodologisches caveat, daß man, sollte man dem Zusammenspiel näher nachgehen wollen, erst einmal spezifizieren muß, welchen Typ von subjektiven und objektiven Bedingungen man miteinander in Beziehung setzt. Ob etwas und was etwas für uns ist, ist also nach der bisher skizzierten Betrachtungsweise abhängig von einer Vielzahl von sich wechselseitig beeinflussenden empirischen subjektiven und objektiven Bedingungen, die selbst wiederum transzendental fundiert sind. Man kann es bei dieser im Grunde nicht weiter überraschenden und sicher auch richtigen Feststellung bewenden lassen und sich damit zufrieden geben, zu jeweils vorgegebenen Objekten und Objektarten Listen von Bedingungen, subjektive und objektive, aufzustellen. Dennoch hat ein solches Vorgehen seine Tücken und mag aus verschiedenen Gründen als unbefriedigend angesehen werden können. Drei seien angeführt: (1) Zum einen nämlich kann man bezweifeln, ob sich (im Rahmen eines solchen Vorgehens) die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen überhaupt so stabilisieren läßt, daß sie einen explikativen Wert hat. Dies deshalb, weil es in vielen Fällen einigermaßen beliebig erscheint, ob man eine Bedingung als subjektive oder als objektive betrachtet. So kann man z. B. der Meinung sein, daß, gegeben es geht um materielle Objekte, so etwas wie Tastbarkeit zu den (nur) subjektiven Bedingungen gehört, die den Bezug auf diese Objekte ermöglicht, weil es auch Möglichkeiten gibt, sich auf etwas Materielles zu beziehen, ohne den Tastsinn in Anspruch zu nehmen. Man kann aber genau so gut darauf insistieren, daß Tastbarkeit (zumindest auch) objektive Bedingung insofern ist, als sie ein Merkmal des Objekts sein muß, wenn denn seine Wahrnehmung durch den Tastsinn überhaupt möglich sein soll. Ähnliches könnte man auch in Bezug etwa auf die Einheitsvorstellung anführen: auch hier ist nicht unmittelbar einsichtig, warum man sie als eine bloß objektive Bedingung anzusehen hat. Sie als bloß subjektives Erfordernis zu interpretieren, scheint auch kein offensichtlich abwegiges Unternehmen zu sein. Daß dies nicht nur ein Streit um Worte ist, zeigt sich u. a. daran, daß die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen ja die Funktion haben soll, Objektbezug als Produkt von zwei genuin verschiedenen Faktoren darzustellen. Wenn es aber nicht gelingt, diese Faktoren gegeneinander trennscharf abzugrenzen, so daß sie nicht sowohl die subjektive als auch die objektive Rolle wahrnehmen können, dann ist zu befürchten, daß man die ganze Subjekt-ObjektUnterscheidung destabilisiert und sie auf eine rein begriffliche Unterscheidung reduziert, deren Gehalt abhängig ist von dem, was man jeweils unter ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ versteht. (2) Zum anderen setzt ein solches Vorgehen relativ fraglos voraus, daß es so etwas wie eine natürliche Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Objektarten gibt, die eben unterschiedliche (subjektive und objektive) Bezugsbedingungen ha-
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ben. In dem bisher skizzierten Bezugsrahmen wird diese Mannigfaltigkeit als ein Faktum behandelt, von dem man auszugehen hat und das als solches keiner weiteren Erklärung bedarf: Es gibt eben – unter dieser Vorgabe – lebendige, unbelebte, abstrakte, physische, ökonomische, psychologische usw. Sachverhalte; zu fragen ist nicht nach den Gründen dieser Vielfalt, sondern nach den subjektiven und objektiven Bedingungen, sie jeweils angemessen zu erfassen. Obwohl im Prinzip nichts gegen diese Voraussetzung einzuwenden ist, denn es gibt ja tatsächlich diese Vielzahl von Objektarten, ist sie doch schwer in Übereinstimmung zu bringen mit dem an diesen Ansatz ebenfalls zu stellenden Anspruch, daß durch den Rekurs auf die subjektiven und objektiven Bezugsbedingungen und deren Zusammenspiel nicht nur der Vielfalt unterschiedlicher Objekte ein und derselben Art, sondern auch der Mannigfaltigkeit von Objektarten Rechnung getragen werden kann. Denn man beansprucht ja bei diesem Ansatz mit den Bezugsbedingungen nicht nur zu zeigen, daß bei diesen und jenen Objektarten diese und jene subjektiven und objektiven Bezugsbedingungen in dieser und jener Weise zusammenspielen – wenn er denn wirklich hinreichend sein soll zu erklären, was etwas für uns ist, dann sollte man von ihm darüber hinaus erwarten können, daß er irgendeine Auskunft darüber gibt, wie das Zusammenspiel dieser Bedingungen auf die Vorstellung von Artenvielfalt führt, wie sich also aus diesem Zusammenspiel z. B. die Unterscheidung zwischen unbelebten und belebten oder ästhetischen und sozialen Objekten ergibt. (3) Schließlich ist der angedeutete Erklärungsansatz außerdem insofern problematisch, als er zum einen das ganze Spektrum der Bezugsbedingungen durch nur zwei Arten und deren Zusammenspiel erschöpft anzusehen scheint, nämlich durch subjektive und objektive, und zum anderen dann noch dazu tendiert, sie als solche zu interpretieren, die ‚im‘ Subjekt bzw. ‚im‘ Objekt verwurzelt sind: Subjektive Bedingungen werden mit den Fähigkeiten und Leistungen identifiziert, die dem erkennenden Subjekt auf Grund seiner natürlichen Ausstattung zugeschrieben werden müssen, wenn es sich denn auf etwas als auf dieses oder jenes Objekt epistemisch bezieht; objektive Bedingungen werden gleichgesetzt mit den jeweiligen Bündeln von Merkmalen und Eigenschaften, die das jeweilige Objekt haben muß, wenn es als dieses bestimmte Objekt auftreten können soll. Es ist jedoch gar nicht unmittelbar einzusehen, daß mit dieser doppelten Einschränkung das Spektrum der Bezugsbedingungen schon zureichend ausgemessen ist. Es mag zwar durchaus sein, daß ohne diese so gedeuteten Bedingungen für uns gar kein Objektbezug möglich ist, daß sie also notwendige Bedingungen des Objektbezugs darstellen, daß sie aber auch zusammen keineswegs hinreichend sind. Es mögen gänzlich (oder wenigstens ziemlich) andere Typen von Bedingungen hinzukommen müssen, um etwas als dieses und jenes Objekt oder als Fall dieser oder jener Objektart bestimmen zu können. Als Kandidaten für solche hinzukommenden Bedingungen kann man sich z. B. soziale, kulturelle,
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historische oder auch wissenschaftliche Umstände vorstellen. So scheint es keine allzu weit hergeholte Vermutung zu sein, daß man, um etwas als einen Film, einen Krieg oder ein Elektron auch nur thematisieren zu können, auf irgendeine Art von kulturellen, politischen und naturwissenschaftlichen Hintergrund zurückgreifen können muß, ohne den derartige Sachverhalte erst gar nicht als das, was sie sind (nämlich als Filme, Kriege oder Elektronen) identifiziert werden können. Und dieser Hintergrund kann weder ohne weiteres auf subjektive Leistungen und Vermögen noch auf allein im Objekt liegende Erfordernisse reduziert werden, sondern stellt eine genuin eigenständige Bedingung für den Bezug auf solche Objekte dar. Man kann mit den angedeuteten Bedenken gegen den skizzierten gängigen Vorschlag zur Aufklärung der Möglichkeit des (epistemischen) Objektbezugs vielleicht mehr anfangen, wenn man sie mit ein wenig philosophiehistorischem Material aufbereitet. Man kann, ohne allzu große Gewaltsamkeiten zu begehen, Kant als jemanden ansehen, der seine kritische Erkenntnistheorie in den Rahmen einer Analyse von subjektiven und objektiven Bedingungen des Objektbezugs stellt. Für Kant steht in Sachen Erkenntnistheorie bekanntlich die Frage im Vordergrund, wie subjektive Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben können.5 Mit dieser Frage ist, was auch immer sonst mit ihr verbunden sein mag, auf jeden Fall auch gemeint, (1) daß wir zwischen subjektiven Zutaten bei der Erkenntnis von Objekten und einer dem Objekt zuzuschreibenden Komponente unterscheiden müssen, und (2) daß diese Unterscheidung genügt, um mit ihrer Hilfe eine Theorie der notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Erkenntnis von etwas als Objekt zu liefern. Wie Kant bei der Etablierung dieser Theorie im einzelnen vorgeht, muß uns hier nicht interessieren. Wir müssen uns also nicht damit beschäftigen, ob Kant gute Gründe gehabt hat, den Begriff des epistemisch zugänglichen Objekts auf den der Erscheinung zu reduzieren und Erscheinungen dann als subjektiven Regeln der Ordnung unterworfene Mannigfaltigkeiten von im Prinzip anschaulichen, d. h. raum-zeitlich instantiierbaren Daten zu interpretieren. Wichtig ist hier nur folgendes: Selbst wenn wir einmal (kontrafaktisch) unterstellen würden, es gäbe keine internen Schwierigkeiten der Kantischen Theorie, so könnten wir uns immer noch fragen, ob denn der durch diese Theorie aufgestellte Objekt- und Erkenntnisbegriff differenziert genug ist, um unseren sehr spezifischen Weisen der Gegenstandserfahrung angemessen Rechnung zu tragen. Dies scheint nun wenigstens dann nicht der Fall zu sein, wenn man sich einmal überlegt, was denn alles für Kant schwer (oder gar nicht) zu integrieren ist in die Klasse der nach seinen 5 Vgl.: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787. – In: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band III. Erste Abtheilung: Werke. Dritter Band. Berlin 1911. B 122.
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Standards epistemisch zugänglichen Objekte, also der Objekte, die die von ihm angegebenen subjektiven und objektiven Bedingungen der Bezugnahme erfüllen. Hier fallen als erster (und prominentester) Problemfall die Schwierigkeiten auf, die Kant damit hat, lebendige Gegenstände, d. h. organisierte Wesen bzw. Organismen, in diese Klasse aufzunehmen. Die ganze Kritik der Urteilskraft (oder wenigstens ihr zweiter Teil) ist ein Traktat über diese Schwierigkeiten und wie sie vermieden werden können. Um dies zu verdeutlichen, vergegenwärtige man sich noch einmal Kants erkenntnistheoretische Generalthese: Sie besagt, daß epistemisch zugänglich, d. h. erkennbar (identifizierbar, determinierbar, diskriminierbar und spezifizierbar) für uns nur solche Entitäten sind, die kategorial bestimmt werden können und den allgemeinen Anschaubarkeitsbedingungen entsprechen. Diese These restringiert die Klasse der erkennbaren Objekte auf mathematische Sachverhalte einerseits (die, da sie nach Kant ideale Produkte von Konstruktionen sind, nicht als gegeben, sondern als gemacht angesehen werden müssen und nicht dem Kausalgesetz unterworfen sind) sowie auf physische Gegenstände und einige psychologische Vorkommnisse andererseits, soweit sie dem Kausalgesetz unterliegen (wie etwa Schmerzen oder drogengestützte Halluzinationen). Die Restriktion dessen, was für uns epistemisch zugänglich ist, auf die angegebenen Objektarten ist von Kant durchaus gewollt. Ein Problem scheint sich nur dadurch zu ergeben, daß es unter den physischen Gegenständen einige gibt, eben die Organismen, deren innerer Aufbau und deren Form eine besondere, von der ‚normalen‘, naturgesetzlichen unterschiedene Art von Kausalität anzunehmen nötigt. Dies deshalb, weil Form und Aufbau eines Organismus nicht nach mechanischen Kausalgesetzen erklärt werden können – so wenigstens Kants Überzeugung. Kant betrachtet diese andere, besondere Art von Kausalität als eine, die „nach der A n al og i e mit der Causalität nach Zwecken“6 gedacht werden muß, und stützt auf diese Kausalitätsvorstellung seine Theorie der teleologischen Naturerklärung, deren Details uns hier auch nicht interessieren müssen. Bis auf einen einzigen Punkt: Kant behauptet nämlich, daß die Vorstellung einer Kausalität nach Zwecken zwar für uns unvermeidlich ist, wenn wir etwas als einen Organismus erkennen wollen, daß diese Vorstellung aber nicht im Objekt, also dem Organismus, gegründet ist, sondern eine subjektive Bedingung der Erkenntnis von Organismen darstellt. Kants Begründung für diese Behauptung ist im Rahmen seiner eigenen, sog. ‚kritischen‘ Vorgaben durchaus einschlägig und nachvollziehbar. Für die Frage nach dem Grund der Möglichkeit, zwischen Organismen und Mechanismen 6 Vgl.: Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft. – In: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band V. Erste Abtheilung: Werke. Fünfter Band. Berlin 1913. 165–485. Hier § 61, 360.
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(also nicht-organischen physischen Gegenständen) zu unterscheiden, hat sie aber eine eher dubiose Pointe. Sie schreibt nämlich fest, daß es in der Verfassung der uns epistemisch zugänglichen physischen Objekte der Natur (im Unterschied zu physischen Kunstprodukten wie etwa Werkzeugen) liegt, nicht nach Zwecken organisiert zu sein (und d. h. u.a nicht als an sich selbst belebt angesehen werden zu können), oder anders gesagt: daß es keine durch den Verweis auf die Verfassung des Objekts legitimierbare Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Mechanismen und Organismen gibt – diese Unterscheidung und die mit ihr gegebene Möglichkeit der Vorstellung einer eigenen Objektart, nämlich der Naturzwecke, verdankt sich einzig und allein unserem Bedürfnis, mit einem Typ von Sachverhalten erkenntnismäßig etwas anfangen zu können, der uns eigentlich unzugänglich ist, wenn es um seine Form und seinen inneren Aufbau geht. Dubios ist diese Pointe nicht etwa deshalb, weil sie eine uns aus irgendwelchen Gründen lieb gewordene Unterscheidung, die wir mit der Verfassung der Objekte in Verbindung bringen – also als objektiv begründet ansehen – zu einer bloß subjektiven Notwendigkeit macht. Sie erhält einen fragwürdigen Beigeschmack vielmehr deshalb, weil sie nur gesetzt werden kann, wenn man auf der einen Seite davon ausgeht, daß es eine bestimmte Art von Dingen, nämlich organisierte Naturdinge, sozusagen ‚in der Welt‘, also objektiv, gibt, die aber andererseits nicht ‚in der Welt gegeben‘ sein kann, weil sie den notwendigen Bedingungen von Objektivität nicht entspricht und daher zu einer (überspitzt ausgedrückt) bloß subjektiven Fiktion erklärt werden muß, wenn sie denn überhaupt einen Platz ‚in der Welt‘ behalten soll.7 Doch es sind nicht nur Organismen, die im Rahmen Kantischer Vorgaben seltsam opak werden, wenn es um ihren Objektstatus für uns geht, ähnliches gilt auch für andere Objektarten. Fragte man Kant, in welchem Sinne und in welchem Ausmaß z. B. historische Prozesse (Revolutionen u.ä.), gesellschaftliche und wirtschaftliche Institutionen (der Staat oder der Markt) oder kulturelle Ereignisse (Love-Parade) erkennbare Objekte seien, wäre die Antwort immer die
7 Den fiktionalen, weil notwendig subjektiven Aspekt bei der Betrachtung von Dingen als Naturzwecken macht Kant selbst erfreulich deutlich, wenn er z. B. schreibt: „[…] wie aber Zwekke, die nicht die unsrigen sind, und die auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine besondere Art der Causalität […] ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumiren. Was aber noch mehr ist, so kann uns selbst die Erfahrung die Wirklichkeit derselben nicht beweisen; es müßte denn eine Vernünftelei vorhergegangen sein, die nur den Begriff des Zwecks in die Natur der Dinge hineinspielt, aber ihn nicht von den Objecten und ihrer Erfahrungserkenntniß hernimmt, denselben also mehr braucht, die Natur nach der Analogie mit einem subjectiven Grunde der Verknüpfung der Vorstellungen in uns begreiflich zu machen, als sie aus objectiven Gründen zu erkennen.“ – Vgl.: Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft. A. a. O. § 61, 359 f. (Hervorhebung von R.-P. H.) – Das Problem, daß etwas objektiv gegeben ist, was den Bedingungen für Objektivität nicht entspricht, hat Kant bekanntlich durch die Einführung der Idee eines intuitiven Verstandes zu lösen versucht.
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folgende: eigentlich gar nicht, es sei denn wir fingieren irgendeine subjektive Perspektive, die sie allererst zu Objekten macht. Auch hier stellt sich natürlicherweise gleich die Frage: Wieso entwickeln wir überhaupt erst eine Perspektive auf etwas, das ohne diese Perspektive eigentlich gar kein Objekt ist? Ohne hier weiter in die Details zu gehen, so sollte doch deutlich geworden sein, daß eine an Kant orientierte Analyse der Möglichkeit des Objektbezugs, die meint, durch den Rekurs auf die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bezugsbedingungen allein eine zureichende Basis für die Erklärung der mit diesem Bezug zusammenhängenden Fragen gefunden zu haben, theoretisch zu gewaltsam wirkt, um zu überzeugen: Nicht nur tendiert die Unterscheidung selbst dazu, unklar und leer zu werden, darüber hinaus scheint sie auch der Mannigfaltigkeit von Objektarten nur um den Preis der Aufgabe ihres objektiven Status gerecht werden zu können, und schließlich gibt sie nicht zu erkennen, warum denn andere Arten von Bezugsbedingungen ausgeschlossen werden müssen.
II. Doch diese Mängelliste führt nicht allzu weit. Man mag sich noch so sehr an den vermeintlichen oder tatsächlichen Unplausibilitäten der hier im Verweis auf Kant angedeuteten Analyse stören, es mag nicht nur dennoch sein, daß sie die beste ist, die zur Verfügung gestellt werden kann, sie mag sogar tatsächlich die richtige oder wahr sein. Schließlich wird der Vorwurf der Unplausibilität – normalerweise zu Recht – für kein allzu starkes Argument gegen die Richtigkeit oder eben Wahrheit einer im übrigen auch noch originell und gut ausgearbeiteten Position angesehen. Will man also nicht nur sein Unbehagen ausdrücken, hat man bekanntlich zwei Standardoptionen: Man muß entweder die Kantische Analyse als aus ihr internen Gründen zum Scheitern verurteilt ausweisen können oder man muß Alternativen anbieten, die nicht den in Anschlag gebrachten Defiziten des Kantischen Vorschlags ausgesetzt sind. Und hier kommt nun endlich Hegel ins Spiel. Denn man kann, so will ich im folgenden eher schematisch andeuten, Hegel zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner philosophischen Entwicklung verstehen als jemanden, der beides versucht hat, nämlich sowohl ein Konzept à la Kant sehr grundsätzlich zu destruieren als auch eine Alternative zu dessen Konzept anzubieten. Betrachtet man Kant als den paradigmatischen Exponenten eines erkenntnistheoretischen Programms, das durch die anfangs umrissenen Vorgaben (nämlich Erkenntnis als das Produkt gewisser subjektiver und objektiver Leistungen darzustellen) bestimmt ist, dann heißt dies, daß man Hegel unterstellen kann, im Rahmen dieser Vorgaben (also durchaus im Ausgang von der Auffassung von Erkenntnis als einem Produkt) ein neues Paradigma in der Erkenntnistheorie zu versuchen. Der Hegel, dem ich diesen Versuch
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erst einmal nur unterstelle, ist der späte Jenaer Hegel, und das Werk, das ich als Einlösung dieses Versuchs ansehen zu können meine, ist die Phänomenologie des Geistes.8 Nun steht zur Plausibilisierung dieser Behauptung kein sehr direkter Weg zur Verfügung, weil Hegels Auflösung der Frage nach den Bedingungen des Objektbezugs gar nicht die eigentliche Pointe der Phänomenologie des Geistes darstellt. Hegel ist nämlich an dieser Frage nicht um ihrer selbst willen interessiert, sondern primär deshalb, weil er die Auseinandersetzung mit ihr – wenigstens so, wie er sie in der Phänomenologie des Geistes angeht – als ein geeignetes Mittel ansieht, eine metaphysische These auszuweisen, die im Zentrum seiner gesamten systematischen Bemühungen steht. M. a.W.: Der Hegel der Phänomenologie des Geistes interessiert sich für das erkenntnistheoretische Problem des Objektbezugs auf Grund des Potentials, das es in seinen Augen für die Rechtfertigung der von ihm favorisierten metaphysischen Position hat. Man ist deswegen gehalten, seine Überlegungen zum Objektbezug einzubetten in den Kontext seiner metaphysischen Grundidee, weil nur auf diese Weise der eigentümliche Zuschnitt, die Tragweite und die Originalität seiner Analyse deutlich werden könnten. Als Hegels metaphysische Grundidee wird hier seine Überzeugung bezeichnet, daß nur eine monistische Theorie der Wirklichkeit in der Lage sei, ein konsistentes Gesamtweltbild zu liefern, welches weder von unausweisbaren Annahmen (irgendwelchen sog. ‚Fakten‘) ausgeht noch zu letztlich unakzeptablen reduktionistischen Konsequenzen führt (durch Privilegierung irgendwelcher einseitigen Gesichtspunkte wie etwa der Forderung nach einem naturalistischen Weltmodell). Genauer gesagt ist Hegels Überzeugung in dieser Sache die, daß nur eine monistische Ontologie geeignet ist, ein solches Weltbild zu fundieren. Die Hegelsche monistische Ontologie kann man nun in der hier gebotenen Kürze ohne allzu große Gewaltsamkeiten in die hinreichend dunkle These zusammenfassen, daß die Gesamtheit der Wirklichkeit als eine einzige allumfassende sich entwickelnde vernünftige Entität angesehen werden muß, die in einem raum-zeitlichen Prozeß der Realisation der sie auszeichnenden konzeptuellen Bestimmungen zur Erkenntnis ihrer selbst gelangt. Genauer besagt die These, daß wir die Gesamtheit der Wirklichkeit, verstanden als Totalität, nicht als konstituiert durch die Menge ihrer Elemente, d. h. aller Objekte, Sachverhalte und Die Ansicht, daß Hegels Phänomenologie des Geistes durchaus neue und unkonventionelle Wege in der Erkenntnistheorie beschreitet, wird vielfach geteilt. So konstatiert z. B. Ludwig Siep, daß Hegels Phänomenologie des Geistes „in die ‚transzendentale‘ Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Gegenstandskonzeptionen Themen und Inhalte“ einbeziehe, „die in keiner traditionellen und kaum einer gegenwärtigen Epistemologie zu finden sind“. – Vgl.: Ludwig Siep: Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt a. M. 2000. 97. – Und Terry Pinkard verweist darauf, daß Hegels Phänomenologie des Geistes die Erkenntnistheorie historisiert habe. – Vgl.: Terry Pinkard: Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason. Cambridge 1994. 15. 8
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Ereignisse, also als additive kollektive Einheit ansehen dürfen; es soll vielmehr gelten, daß diese Elemente als Produkte in einem nach dem Modell organischer Entwicklung vorgestellten Prozeß der internen Differenzierung der ihnen vorgängigen Ganzheit der Wirklichkeit aufgefaßt werden müssen.9 Was auch immer diese These – nennen wir sie im folgenden ‚die monistische These‘ – nun im einzelnen besagen soll, sie ist von Hegel nicht als bloße Mitteilung einer persönlichen Sichtweise, einer privaten Präferenz gedacht, sondern sie soll als eine Behauptung gelten, für die sich unabweisbare Gründe vorbringen lassen. Dies führt natürlich sofort zu der Frage: Wie läßt sich eine solche These nicht nur plausibilisieren, sondern zwingend ausweisen? Wie kann man eine solche These nicht nur unter Berücksichtigung bestimmter Bedingungen oder verschiedener Voraussetzungen mehr oder weniger verständlich machen, so wie man vieles verständlich machen kann, indem man es jemandem hinreichend erklärt, sondern wie kann man sie mit einer solchen Überzeugungskraft ausstatten, daß sie als alternativlos eingesehen und akzeptiert werden muß? Betrachtet man mit Hegel die Hegelsche Ausführung der angeführten metaphysischen (ihrem Gehalte nach: ontologischen) These als das Hegelsche System, betrachtet man also das Hegelsche System als den Versuch der Einlösung des erklärenden Potentials dieser These unter der Voraussetzung, daß sie richtig ist, so ist vom Hegelschen System ein anderes Unternehmen zu unterscheiden, das Unternehmen nämlich, dessen Aufgabe es ist, diese metaphysische These selbst als zwingend zu erweisen. Dieses von der Ausarbeitung des Systems zu unterscheidende Unternehmen hat Hegel als Einleitung in das System zu verschiedenen Zeiten verschieden konzipiert. Eine dieser Konzeptionen stellt die Jenaer Phänomenologie des Geistes dar. Bevor auf die dort ausgeführte Konzeption selbst eingegangen werden kann, muß man sich allerdings erst einmal andeutungsweise vergegenwärtigen, was an Beweis- bzw. Begründungslasten mit einem solchen einleitenden Unternehmen verbunden ist. Es soll dabei nach Hegel ja darum gehen, die monistische These von der Wirklichkeit als einer vernünftigen Totalität, einer sich organisch ent-
9 Es ist eigentlich diese Auffassung von dem Primat dessen, was jeweils als Ganzes angesetzt wird, was monistische Positionen gegenüber ihren pluralistischen Konkurrenten auszeichnet. Unter einer pluralistischen Theorie soll hier eine solche verstanden werden, die Ganzheiten durch ihre Elemente konstituiert sein läßt. In ihr gelten die Elemente sozusagen als selbständige Bausteine, aus denen ein Ganzes zusammengesetzt wird. Das Ganze ist als Summe seiner Elemente zu denken. Eine monistische Theorie versteht Ganzheiten als die Seinsbedingungen ihrer Elemente. Etwas ist nur Element oder Teil eines Ganzen, wenn das Ganze ‚ihm vorhergeht‘, weil nur dann, wenn das Ganze ihm vorhergeht, es als Teil/Element dieses bestimmten Ganzen auftreten kann. Für monistische Positionen ist daher das – von Hegel auch oft bemühte – Diktum des Aristoteles charakteristisch, daß das Ganze früher als seine Teile ist. Daß dieses Ganze mal als Substanz (Spinoza), mal als absolutes Ich (zeitweise Fichte und Schelling) oder, wie von Hegel, als Vernunft konzipiert wird, ist für den monistischen Zuschnitt einer Theorie von eher sekundärer Bedeutung.
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wickelnden Ganzheit, vollständig zu rechtfertigen. Um dies zu leisten, muß man diese These wenigstens gegen zwei Arten von Einwänden absichern können. Die eine Art macht geltend, daß jede Rechtfertigung an Bedingungen geknüpft ist, die selbst nicht gerechtfertigt werden können, so daß letztlich immer nur eine konditionale Rechtfertigung, eine Rechtfertigung unter Inanspruchnahme einer Bedingung, möglich ist, was das Projekt einer ‚bedingungslosen‘ Rechtfertigung schon aus methodischen Gründen zu einem eher fruchtlosen Unternehmen werden läßt. Baut man Bedenken dieser eher methodologischen Art aus, so führen sie auf allgemeine skeptische Vorbehalte gegen die Möglichkeit vollständiger Rechtfertigung. Will man diesem Typ von skeptisch-methodologischen Einwänden entgehen, darf man bei einer vollständigen Rechtfertigung nichts als Behauptung in Anspruch nehmen, was als ungesicherte Voraussetzung, sei es als Postulat (Schellings Vorschlag am Ende der Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre [1796]) oder als durch sich selbst einleuchtendes Faktum (Reinholds „Satz des Bewußtseins“), gedeutet werden kann. Die zweite Art von Einwänden beutet einen eher epistemologischen Gesichtspunkt aus. Sie geht dahin, daß jede Behauptung, die sich auf die Gesamtheit der Wirklichkeit bezieht – und die Hegelsche monistische These gehört zu solchen Behauptungen –, schon deshalb nicht vollständig zu rechtfertigen ist, weil sie etwas konzeptuell zu fassen unternimmt – eben die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit –, das für uns schlichtweg auf gar keine Weise als Gegenstand konzipierbar ist, über den sich sinnvoll etwas aussagen läßt. Dieser Typ von Einwänden lebt davon, daß es nachweisbare Schwierigkeiten gibt mit dem Begriff einer Gesamtheit oder einer Totalität, sowohl mathematische (anschaulich angedeutet z. B. von van Fraassen10) als auch metaphysische (wirkungsvoll ausgewiesen durch Kants Kritik am kosmologischen Weltbegriff). Sie geben Anlaß zu der Vermutung, daß es für Wesen wie uns unüberwindbare kognitive Barrieren gibt, wenn es darum geht, die Gesamtheit der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit, verstanden als Totalität, so aufzufassen, daß sie als Gegenstand i. S. eines möglichen Erkenntnisobjekts verstanden werden kann. Um Einwänden dieser Art Rechnung zu tragen, muß man in der Lage sein, den Sinn der Rede von der Wirklichkeit als einer Totalität so zu spezifizieren, daß einsichtig gemacht werden kann, unter welchen Bedingungen und für wen die Wirklichkeit als Totalität überhaupt ein Objekt der epistemischen Bezugnahme sein kann. Im Zusammenhang mit diesen beiden Typen von möglichen Einwänden ist nun zweierlei zu beachten: (1) Beide Arten von Einwänden sind logisch voneinander unabhängig, ein Vorschlag zur Lösung des methodischen Problems der vollständigen Rechtfertigung hat also keine unmittelbaren Konsequenzen für einen Vorschlag zur Lösung des epistemologischen Problems der Bezugnahme, 10
Vgl.: Bas C. van Fraassen: The Empirical Stance. New Haven 2002. 5 ff.
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und umgekehrt. Zu beachten ist außerdem (2), daß beide Arten von Einwänden sich nicht ausschließlich gegen monistische Programme wenden lassen.11 Sie betreffen vielmehr alle philosophischen Theorien, die mit dem Anspruch auftreten, Aussagen über den generellen Charakter der Wirklichkeit zu machen, ganz gleichgültig, ob sie letztlich für monistische oder pluralistische Konzeptionen plädieren. Beides – (1) und (2) – ist deshalb beachtenswert, weil es zur Profilierung der Aufgabe beiträgt, die Hegels einleitendes Unternehmen zu bewältigen hat, wenn es denn den Namen einer Einleitung verdienen soll: Nicht nur muß es um die Frage der Rechtfertigung und (davon unabhängig) um die des Bezugs gehen, es muß vielmehr um den Nachweis gehen, daß man nur unter monistischen Vorgaben den Anforderungen entsprechen kann, die mit dem Anspruch auf Rechtfertigung verbunden sind. Wie kann man nun vorgehen, wenn man die monistische These rechtfertigen will? Eine Möglichkeit (von Hegel nicht nur erwogen, sondern auch tatsächlich praktiziert in seinen vorphänomenologischen Einleitungsversuchen) besteht darin, pluralistische Alternativen als widersprüchlich oder inkonsistent zu diskreditieren. (Das Projekt der Destruktion des sog. ‚Verstandesdenkens‘ in den verschiedenen Fassungen der in Jena noch unter dem Titel ‚Logik‘ laufenden Einleitungskonzeption ist der Ausdruck des Versuchs, diese Möglichkeit zu realisieren). Sie führt deshalb nicht sehr weit, weil selbst dann, wenn man die Diskreditierung als erfolgreich akzeptiert, verschiedenes vorausgesetzt wird, was sich keineswegs unmittelbar von selbst versteht – so etwa, daß die Unterscheidung zwischen Monismus und Pluralismus eine vollständige Disjunktion darstellt (was z. B. Anhänger eines Leibnizschen Monadismus bestreiten könnten) oder daß das von Hegel als das Paradigma einer pluralistischen Position angesehene Kantische Modell tatsächlich der beste verfügbare Repräsentant einer pluralistischen Konzeption ist (bei den Problemen, die auch Hegel schon mit der Genesis der Kantischen Kategorientafel hat, nimmt es geradezu wunder, daß Hegel in der Jenaer Zeit ausgerechnet Kant die Rolle des paradigmatischen Vertreters eines pluralistischen Konzepts andient). Eine andere Möglichkeit besteht darin, so etwas wie ein sog. ‚transzendentales Argument‘ für die monistische These zu liefern. Unter einem transzendentalen Argument soll hier ein Argument verstanden werden, das zu notwendigen Bedingungen für die Möglichkeit der Erkenntnis führt. Ein solches Argument, in diesem (angesichts verschiedener neuerer Verwendungsweisen dieses Terminus) etwas eingeschränkten Sinn verstanden, versucht also, eine beliebige Behauptung – hier die monistische These – dadurch zu beweisen, daß es sie als notwendige Bedingung für irgendeine andere Behauptung über Erkenntnis er11 Genauer betrachtet ist der zweite Einwand nur für solche pluralistischen Theorien relevant, die mit der Annahme eines möglichen Bezugs auf Totalitäten arbeiten.
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weist, deren Wahrheit unstrittig ist.12 Man mag über den Wert, die Gültigkeit, ja sogar die Möglichkeit eines solchen Arguments geteilter Meinung sein, wie die Diskussion der letzten fünfzig Jahre lebhaft veranschaulicht. Auf jeden Fall wird man nicht umhin können anzuerkennen, daß es, sollte es denn möglich und gültig sein können, ein ziemlich effektives Mittel zur Durchsetzung einer These darstellt. Denn es macht keinen Sinn, etwas zu bestreiten, dessen Vorliegen notwendige Bedingung ist für etwas, das man nicht bestreitet.13 Es ist jedoch schwer zu sehen, wie Hegel angesichts der von ihm geltend gemachten Ansprüche an das, was man ‚Rechtfertigung‘ nennen darf, ein transzendentales Argument in der hier fixierten Beschreibung als ein legitimes Mittel der Rechtfertigung akzeptieren kann. Denn, wie oben angedeutet, für Hegel verbietet sich der Rekurs auf irgendeine Voraussetzung, so daß ihm bereits der Eröffnungszug für ein transzendentales Argument nicht zur Verfügung steht: Er kann nicht mit einer Behauptung, deren Wahrheit unstrittig ist, operieren, also schon deshalb nicht auf die Wahrheit einer anderen Behauptung schließen, die sich als notwendige Bedingung für die unstrittige erweisen läßt. Eine dritte Möglichkeit, die zu erwägen ist, könnte man als umgekehrtes oder negatives transzendentales Argument bezeichnen: Sie besteht darin, daß man die monistische These indirekt rechtfertigt durch den Nachweis, daß eigentlich nur unter ihrer Voraussetzung die Begriffe von Subjekt und Objekt so konzipiert werden können, daß von ‚Erkenntnis des Objekts durch das Subjekt‘ sinnvoll geredet werden kann. Dieser Nachweis soll dadurch bewerkstelligt werden, daß im Ausgang von einer beliebigen nicht-monistischen Konzeption von dem, was ein Objekt ‚eigentlich‘ oder ‚in Wahrheit‘ ist, und von einem Subjekt, das diese Konzeption unterhält, gezeigt wird, daß auf der Basis dieser Konzeption weder ein konsistenter Begriff des Objekts noch des ihm korrespondierenden Subjekts Ob nun dieser Sinn des Terminus ‚transzendentales Argument‘ von Kant stammt oder nicht – Kant verwendet den Ausdruck gelegentlich in der Kritik der reinen Vernunft, ohne ihn allerdings als terminus technicus explizit einzuführen (vgl.: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A. a. O. B 617; B 655) –: Aus eher undurchsichtigen Gründen hat sich im Laufe der Zeit ergeben, daß die so charakterisierte Argumentationsfigur des transzendentalen Arguments häufig eng mit seinem Namen verbunden ist. 13 Gerade in der anglo-amerikanischen Hegel-Literatur ist häufig die Ansicht vertreten worden, daß man die Argumentationsstrategie der Phänomenologie des Geistes am besten als auf ein transzendentales Argument hinauslaufend zu betrachten habe. Diese Ansicht geht im englischsprachigen Kontext wohl auf Charles Taylor zurück (vgl.: Charles Taylor:The Opening Arguments of the Phenomenology. – In: Alastair McIntyre (Ed.): Hegel. A Collection of Critical Essays. New York 1972. 157–187) und wird z. B. auch von Frederick Neuhouser (vgl.: Frederick Neuhouser: Deducing Desire and Recognition in the Phenomenology of Spirit. – In: Journal of the History of Philosophy. Baltimore, Maryland. 24 [1986], 243–262) und neuerdings von Jon Stewart (vgl.: Jon Stewart: The Unity of Hegel’s Phenomenology of Spirit. Evanston 2000) vertreten. Da diese Ansicht von diesen Autoren an sehr verschiedenen Passagen des Werkes gewonnen wird, besteht allerdings wenig Einigkeit darüber, wofür genau die Phänomenologie des Geistes in ihrer Gesamtheit, verstanden als transzendentales Argument, argumentiert. 12
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formulierbar ist, sondern daß sie eine andere Konzeption von Objekt und Subjekt voraussetzt, die allerdings gleichermaßen, wenn auch aus anderen Gründen inkonsistent ist, was letztlich auf die monistische Konzeption als die allein konsistente führt. Eine solche Überlegung zielt auf den Nachweis, daß, wenn es denn überhaupt Erkenntnis in sensu stricto von irgendetwas geben soll, die mit der monistischen These verbundenen Konzeptionen von Subjekt und Objekt akzeptiert werden müssen. Nennt man eine solche Überlegung ein Argument, so wäre es transzendental, insofern als es eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Objekterkenntnis formuliert, und negativ deshalb, weil es besagt, daß diese notwendige Bedingung nur von einem einzigen Subjekt- und Objekt-Paar erfüllt wird, nämlich demjenigen, das durch die monistische These von der sich selbst erkennenden Wirklichkeit ins Spiel gebracht wird und nur in diesem Fall auch hinreichend für Erkenntnis ist. Um unnötige Missverständnisse und irreführende Assoziationen mit Kant und anderen zu vermeiden, gibt man einer Überlegung dieser dritten Art vielleicht besser einen anderen Namen und bezeichnet sie etwas artifiziell als ‚transzendentalistisches Argument‘.14 Man kann nun in Hegels Phänomenologie des Geistes die Erprobung dieser zuletzt genannten Möglichkeit der Begründung seiner monistischen These sehen. Verschiedene, z.T. eher äußerliche Indizien lassen sich schon vorweg für eine solche Lesart anführen. (1) Zunächst ist nicht zu übersehen, daß Hegel die Phänomenologie des Geistes nicht als systematische Explikation der monistischen These selbst verstanden hat – zu deutlich und zu häufig insistiert er auf ihre Einleitungs- bzw. Hinführungsfunktion auf den Standpunkt dessen, was er ‚Wissenschaft‘ nennt und womit er eben die systematische Entfaltung seines monistischen Vernunftkonzepts meint. Wenn schon nicht die der systematischen Ausarbeitung, so kann der Phänomenologie des Geistes – soll sie dennoch eine Funktion bei der Etablierung des Systems wahrnehmen (und daß sie das soll, darauf verweist schon ihre Verortung als „der erste Theil des Systems“15 der Wissenschaft) – nur die Aufgabe zukommen, der systematisch auszuarbeitenden These die notwendige Überzeugungskraft dadurch zu sichern, daß sie sie zureichend begründet. Als Bestätigung dieser Einschätzung kann man auch die etwas kryptisch ausgefallene Notiz zur – nie stattgefundenen – Überarbeitung In eine ähnliche Richtung scheinen mir die Ausführungen zu Methode und Ziel der Phänomenologie des Geistes von Michael N. Forster zu gehen. – Vgl.: Michael N. Forster: Hegel‘s Idea of a Phenomenology of Spirit. Chicago 1998. 186 f.) – Ein naheliegender Einwand gegen ein solches ‚transzendentalistisches‘ Argument könnte darin gesehen werden, daß es die Forderung der Voraussetzungslosigkeit nicht erfülle, da es bereits die Möglichkeit der Erkenntnis annehme. Dieser Einwand übersieht jedoch die konditionale Form dieses Arguments. Es geht nicht von der Möglichkeit der Erkenntnis als einem Faktum aus, sondern nimmt die Möglichkeit der Erkenntnis als eine Hypothese in Anspruch. Es besagt also, daß, wenn denn Erkenntnis möglich sein soll, diese und jene Bedingungen – in unserem Fall: die monistische These – erfüllt sein müssen. 15 Vgl.: GW 9, 24. – Vgl. auch das Titelblatt der Phänomenologie des Geistes. 14
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für die zweite Auflage lesen, in der es von der Phänomenologie des Geistes heißt: „[…] erster Theil eigentlich / a) Voraus, der Wissenschaft / das Bewußtseyn auf diesen Stand-/punkt zu bringen.“16 (2) Hinzu kommt, daß Hegel seine Phänomenologie des Geistes in geradezu Kant Konkurrenz machender Weise als einen Traktat über die Möglichkeit und die Voraussetzungen der Erkenntnis von Gegenständen präsentiert. Hält man nun die sog. ‚transzendentale Methode‘, also – vage ausgedrückt – das Arbeiten mit transzendentalen Argumenten, für ein ausgezeichnetes Merkmal des Kantischen Unternehmens, dann ist es schon aus Gründen der Argumentationsstrategie nicht ungeschickt, sich einer Methode zu bedienen, die wenigstens in die Nähe zu Kants transzendentaler Methode gebracht werden kann, wenn es darum geht, ein alternatives erkenntnistheoretisches Modell vorzustellen. Diese Nähe kann einem transzendentalistischen Vorgehen durchaus zugesprochen werden. (3) Auffallend ist, daß Hegel besonderes Gewicht darauf zu legen scheint, die Phänomenologie des Geistes als eine anti-skeptische Abhandlung anzupreisen (Stichwort: der „sich vollbringende Skepticismus“17). Seit Kants „Widerlegung des Idealismus“18 durch eine ‚transzendentale‘ Argumentation erfreut sich dieser Argumentationstyp gerade im Umgang mit dem Skeptiker besonderer Beliebtheit. Es ist daher immerhin nicht ganz abwegig, bei Hegel schon wegen seiner anti-skeptischen Intention ein Interesse an der Ausarbeitung von Argumenten zu vermuten, die als Spielart eines transzendentalen Arguments angesehen werden können.19 Doch dies sind äußerliche Indizien, die nichts Entscheidendes besagen. Und es ist auch für die Beurteilung der Hegelschen methodologischen Praxis in der Phänomenologie des Geistes letztlich gleichgültig, in welche Nähe man sie zu vermeintlich Kantischen Methoden bringen kann. Wenn man allerdings die von Hegel in der „Vorrede“ und der „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes vorgestellte Prozedur zur Erreichung des sog. ‚Standpunkts der Wissenschaft‘ Revue passieren läßt, kann man schwer umhin, den ‚transzendentalistischen‘ Anspruch seines Vorgehens zu konstatieren. Dies läßt sich dadurch deutlich machen, daß man sich fragt, wie denn Hegel durch das dort angegebene Vorgehen sein Ziel, den ‚Standpunkt der Wissenschaft‘ also, zu erreichen gedenkt. Vgl.: GW 9, 448. Vgl.: GW 9, 56. 18 Vgl.: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A. a. O. B 274 f. 19 Die Nähe zu Kants Projekt einer transzendentalen Deduktion und die damit in Zusammenhang zu bringende anti-skeptische Intention der Phänomenologie des Geistes wird sehr überzeugend ausgeführt von: Robert B. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness. Cambridge 1989. 94 ff. – Auf die anti-skeptischen Interessen Hegels als Motiv für das Verfahren der Phänomenologie des Geistes weisen fast alle ihre Interpreten hin, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Akzentuierung. – Vgl. neuerdings: Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003. 81–93. – Sowie: Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a. O. 15 f.; 75 f.; 109 u. ö. 16 17
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Vergegenwärtigt man sich das Szenario, das Hegel in den genannten Passagen entwirft, so ist die leitende Idee ja anscheinend die, (1) daß man diesen Standpunkt der Wissenschaft durch eine Analyse der Erfahrung, die ein Subjekt mit dem macht, was ihm Gegenstand ist, erreichen kann und (2) daß dieser Standpunkt dann ereicht sein soll, wenn die monistische These als unabweisbar ausgewiesen ist. Diese Leitidee soll nun so realisiert werden, daß nachgewiesen wird, daß die Möglichkeit des erkennenden Bezugs auf Objekte die Wahrheit der monistischen These voraussetzt. Dies deshalb, so die Hegelsche Behauptung, weil jede Konzeption von Objekten, über die wir verfügen, parasitär ist zu derjenigen, die von der monistischen These über die Verfassung der Wirklichkeit aufgestellt wird. Drückt man das Ganze konditional aus, kann man das Ziel der Hegelschen phänomenologischen Überlegung auch so fassen: Wenn denn Objekterkenntnis überhaupt möglich ist, dann nur unter monistischen Bedingungen (weil eigentlich nur das monistische Objekt, also die Wirklichkeit, aufgefaßt als Totalität, erkannt werden kann – wenn auch nicht unbedingt von Subjekten wie uns). Angesichts dieser Vorgaben stellt sich unmittelbar die Frage: Wieso ist eine Analyse ausgerechnet der Gegenstandserfahrung ein geeignetes Mittel zur Bestätigung der monistischen These? Eine (wenn auch vielleicht nicht die einzige) Antwort auf diese Frage kann gewonnen werden, wenn man nicht nur den Gehalt, sondern außerdem noch den Status der monistischen These beachtet. Was den Gehalt betrifft, so handelt es sich bei ihr, wie ausgeführt, um eine ontologische These: Sie beinhaltet eine Behauptung über die Verfassung der Wirklichkeit oder, anders gesagt, sie sagt etwas aus über die Gesamtheit der Wirklichkeit, nämlich daß sie als eine auf bestimmte Weise intern differenzierte kollektive Ganzheit, als eine allumfassende, sich selbst erkennende singuläre Entität und d. h. als ein, wenn auch einzigartiges, Objekt betrachtet werden muß. Eine Rechtfertigung der These ihrem Gehalt nach muß auf jeden Fall auch den Nachweis erbringen, daß ein solches Objekt überhaupt konzipiert werden kann, daß sich der Begriff eines solchen Objekts überhaupt konzeptuell fixieren läßt. Was den Status der These betrifft, so ist sie zunächst nichts weiter als eine unausgewiesene Behauptung über dieses einzigartige Objekt. Sie als tatsächlich zutreffend auszuweisen setzt voraus, daß es möglich ist, etwas über dieses Objekt auszusagen. Diese Möglichkeit kann aber nur dann einsichtig gemacht werden, wenn man in der Lage ist, nicht nur den Begriff dieses Objekts zu fixieren, sondern auch die Bedingungen des wahrheitsfähigen Behauptens über dieses Objekt festzulegen. Denn man darf und kann ja nicht von vornherein ausschließen, daß man zwar den Begriff dieses Objekts haben kann, daß aber dennoch nichts von ihm ausgesagt werden kann, weil es sich als epistemisch unzugänglich erweist. Man denke nur an Kants Ideen oder sein Ding an sich. Ein Weg, den man einschlagen kann, um die epistemische Zugänglichkeit
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dieses Objekts wenigstens im Prinzip zulassen zu können, besteht nun darin, die erforderlichen Zugänglichkeitsbedingungen sehr exklusiv zu gestalten, so daß sie letztlich nur von einem einzigen Subjekt erfüllt werden können. Dieses Subjekt mag nun sehr wenig mit uns, den ‚normalen‘, von Hegel im allgemeinen eher pejorativ als ‚endlich‘ apostrophierten Subjekten zu tun haben. Es muß aber dem doppelten Anspruch genügen, (1) ein epistemisches Subjekt zu sein, also Erkenntnis- oder Wissensansprüche stellen zu können (und nicht nur Anschauungen oder Vorstellungen zu produzieren oder zu haben) und (2) auf etwas als auf etwas anderes bezogen zu sein (von dem sich allerdings herausstellen mag, daß dieses andere ‚eigentlich‘ es selbst ist). Nun kann man ein solches, schon wegen seiner Einzigartigkeit äußerst exotisch wirkendes Subjekt nicht ohne irgendeinen einsichtigen Grund in Anschlag bringen. Um berechtigt zu sein, es anzunehmen, muß man auf irgendetwas verweisen können, das ohne es schlichtweg unerklärbar bliebe. Für Hegel ist dies, wie oben bereits angeführt, die Möglichkeit von Erkenntnis. Ihm zufolge läßt sich nämlich zeigen, daß ohne die Annahme dieses exotischen Subjekts der Anspruch auf Erkenntnis von Objekten welcher Art auch immer durch Subjekte welcher Art auch immer aufgegeben werden muß. Sollte dieser Nachweis gelingen, dann hat man die monistische These insofern gerechtfertigt als man den von ihr adressierten Sachverhalt, nämlich die als in sich differenzierte Einheit aufgefaßte Gesamtheit der Realität, als den einzigen Kandidaten für ein ‚wahres‘ Erkenntnisobjekt ausgewiesen hat. Auf diese Weise hat man die Möglichkeit des Erkennens von Objekten von der Akzeptanz der monistischen Auffassung abhängig gemacht und so ein ‚transzendentalistisches‘ Argument im oben angedeuteten Sinne für diese Auffassung geliefert. Die über eine Betrachtung der Möglichkeit von Erkenntnis laufende Rechtfertigung der monistischen These nimmt nun bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes ihren Ausgang von einer hier eher schematisch wiedergegebenen Charakterisierung dessen, was er unter Erkenntnis oder, was für ihn dasselbe ist, Wissen verstanden haben will. Erkenntnis bzw. Wissen ist ihm zufolge eine Relation, die dann vorliegt, wenn ein Subjekt zu Recht beanspruchen kann, einen Sachverhalt so aufzufassen, wie er ‚in Wahrheit‘ ist. Ein erkennendes Subjekt, das in dieser Relation steht, soll ausgezeichnet sein durch eine bestimmte Menge von Annahmen – von Hegel ‚Erfahrungen‘ genannt –, die seinen Begriff dessen festlegen, was unter einem Sachverhalt, wie er in Wahrheit ist, zu verstehen ist. Ein erkennendes Subjekt soll also kein rein rezeptives Relatum der Erkenntnisrelation sein, das einfach passiv irgendwelche Daten aufnimmt, sondern es soll bereits über eine Konzeption von dem verfügen, was es eigentlich heißt, etwas ‚in Wahrheit‘ zu sein. Der zu erkennende Sachverhalt, das Objekt, welches das andere Relatum der Erkenntnisrelation darstellt, wird als der intentionale Gegenstand des erkennenden Subjekts aufgefaßt. Dieser Gegenstand ist konzi-
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piert als dasjenige, worauf das erkennende Subjekt sich mit einer bestimmten Einstellung bezieht, nämlich der Einstellung, daß er der vom Subjekt gehegten Vorstellung, was er ‚in Wahrheit‘ sei, entspricht. Der Gegenstand, der in der Erkenntnisrelation eine Rolle spielen soll, ist also nicht ein auf unbestimmte Weise vorhandenes, uninterpretiertes Datum, etwas, das einfach nur unmittelbar gegeben ist, sondern ein bereits mit konzeptuellen Erwartungen an seine ‚eigentliche‘ Beschaffenheit belastetes Bezugsobjekt. Erkenntnis oder Wissen ist demnach Hegel zufolge das Ergebnis eines relativ komplexen Zusammenspiels von begrifflich strukturierten subjektiven Erwartungen und den objektiven Bedingungen ihrer Erfüllung. Dieses Zusammenspiel kann erfolgreich sein oder auch nicht: Erfolgreich ist es dann, wenn die das Subjekt definierenden konzeptuellen Erwartungen in Übereinstimmung gebracht werden können mit dem, was das jeweils intendierte Objekt an Beschreibungsmöglichkeiten fordert, soll es denn als Objekt, als konsistente Einheit, aufgefaßt werden können; nicht erfolgreich ist dieses Zusammenspiel dann, wenn das Subjekt es nicht schafft, sein intendiertes Objekt mit seinen Mitteln zu beschreiben. Die Behauptung, daß ein Subjekt ein Objekt erkennt, soll also nichts anderes besagen, als daß das Subjekt zu Recht beansprucht, mit seinem Begriff dieses Objekts es ‚in seiner Wahrheit‘ zu erfassen. Ausgehend von diesem Erkenntnisbegriff versucht Hegel deutlich zu machen, daß es eigentlich nur eine einzige Konstellation gibt, in der Subjekt und Objekt so interpretiert werden können, daß sie die Erkenntnisrelation realisieren, oder anders gesagt: daß es nur in einem einzigen Fall möglich ist, in sensu stricto von Erkenntnis zu sprechen. Diese Konstellation ist die extrem extravagante, in der das Subjekt sein Bezugsobjekt als mit sich identisch anzusehen hat – Erkenntnis ist, genau betrachtet, eigentlich immer nur als Selbsterkenntnis möglich, so Hegels wenig alltagsfreundliches epistemologisches Credo, das sich wie ein roter Faden von den Jenaer Anfängen an durch sein ganzes philosophisches Leben zieht. Zu dieser Einsicht soll uns nun der phänomenologische Prozeß verhelfen. Wie zu erwarten, stellt er sich dar als eine Prozession unterschiedlicher Objektkonzeptionen, denen jeweils ein ihnen entsprechendes Subjekt zugeordnet ist. Jede dieser Konzeptionen wird darauf hin betrachtet, mit welchen Annahmen bezüglich dessen, was es denn eigentlich ist, worauf man sich erkennend bezieht, die von ihr favorisierte Charakterisierung arbeiten muß und welche Anforderungen an das Subjekt gestellt werden müssen, das durch diese Annahmen ausgezeichnet ist. Diese Betrachtung verläuft, grob gesagt, in drei Schritten. In einem ersten Schritt, der den jeweiligen Objektbegriff betrifft, wird zweierlei gezeigt: (1) Es wird ausgeführt, worin die Annahmen genau bestehen, die für die jeweilige Konzeption von der Verfassung eines Erkenntnisobjekts konstitutiv sind, und (2) es wird nachgewiesen, daß diese Annahmen eigentlich eine ganz andere, im allgemeinen sehr viel komplexere Konzeption dessen implizie-
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ren, was ein Objekt, soll es denn erkannt (und nicht nur vorgestellt, angeschaut, gemeint usw.) werden, auszeichnet. Der zweite Schritt betrifft das Subjekt, das jeweils genau eine bestimmte Konzeption von dem unterhält, was die Verfassung seines Erkenntnisobjekts ausmacht. Auch dieser Schritt hat ein doppeltes zu leisten: Er hat zum einen (1) die Aufgabe zu zeigen, wie das Subjekt sich selbst in einer durch die begrifflichen Ressourcen der jeweiligen Konzeption vorgegebenen Weise beschreiben muß, will es an dem Anspruch festhalten, daß diese seine Konzeption dessen, was das Objekt ‚in Wahrheit‘ ist, zutrifft. Zum anderen (2) weist er nach, daß diese Selbstbeschreibung immer unvollständig in dem Sinne ist, daß in sie Elemente eingehen, die nur durch eine andere und reichere Objektbeschreibung gedeckt sind. Der dritte Schritt schließlich korreliert nun die Ergebnisse des ersten und des zweiten Schrittes und läßt so eine neue Objektkonzeption und eine ihr entsprechende Subjektbeschreibung auftreten, welche wiederum der dreischrittigen Betrachtung unterzogen werden. Jede dieser Betrachtungen ist dem Hegelschen Anspruch nach eine notwendige Folge der ihr vorhergehenden (mit Ausnahme der ersten). Sie haben ihren sozusagen ‚natürlichen‘ Endpunkt in der oben als ‚extravagant‘ bezeichneten Konstellation, in der sich erwiesen hat, daß nur die Objektkonzeption den geeigneten Kandidat für den Anspruch, Erkenntnisobjekt (und nicht Glaubens-, Meinens- oder Vorstellungsgegenstand) zu sein, darstellt, in der das Subjekt seinen eigenen Begriff realisiert findet. Diese eher formale Charakterisierung von Verfahren und Ziel des als Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins mit sich und seinen Gegenständen konzipierten phänomenologischen Gesamtprozesses weckt inhaltliche Erwartungen, die Hegel auch rigoros einlöst. So ist vor allem zu vermuten und von Hegel auch ausgeführt, daß jede der von ihm vorgestellten und in ihrem Anspruch auf Wahrheit destruierten Objektkonzeptionen sich von der ihr vorhergehenden dadurch unterscheidet, daß in sie sehr spezifische neue begriffliche Elemente eingehen. Diese Elemente müssen dazu beitragen können, das Subjekt, das die jeweilige Nachfolgekonzeption vertritt, zu nötigen, sich selbst, d. h. das, was Hegel seinen eigenen Begriff nennt, strukturell differenzierter zu interpretieren. Gäbe es nämlich nur auf der Seite der Objektkonzeptionen eine fortschreitende begriffliche Differenzierung, wäre auch gar nicht einzusehen, wieso an irgendeinem Punkt des Prozesses so etwas wie Identität von Objekt und Subjekt im für Hegels Erkenntnisbegriff relevanten Sinne behauptet werden könnte. Die Erfahrung, daß es sich selbst in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Objektkonzeption konzipiert, muß darüber hinaus von der Art sein, daß es sich selbst zunehmend in dem Objekt erkennt. Dies legt es nahe anzunehmen, daß Hegel verschiedene Rücksichten zu unterscheiden bemüht ist, in denen etwas mit etwas identisch ist. Und tatsächlich ist leicht zu sehen, daß er ein ganzes Spektrum von Identitätsbeziehungen, das von qualitativer bis zu numerischer Identität
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reicht, bei den verschiedenen Charakterisierungen der Subjekt-Objekt Relation in Anschlag bringt.20 Soviel zunächst zu Hegels Strategie bei der Begründung seiner monistischen These durch eine Phänomenologie des Geistes und zu den Grundzügen ihrer Ausführung. Was wenigstens im Ansatz deutlich gemacht werden sollte, ist das, was man die ‚metaphysische‘ Funktion der Phänomenologie des Geistes nennen könnte, die Funktion also, die sie für die Etablierung einer monistischen Metaphysik hat. Folgt man den hier angedeuteten Überlegungen, so führt sie auf ein für den monistischen Metaphysiker sicher erfreuliches, ansonsten aber eher unerfreuliches, weil sowohl intuitiv schwer zu vermittelndes als auch in der Sache ziemlich skeptisches Ergebnis, das sich schlagwortartig so zusammenfassen läßt: Von einem metaphysischen Standpunkt aus gesehen greift jeder Anspruch auf Wissen durch jedes Subjekt, das sich nicht selbst als die Gesamtheit der Wirklichkeit auffassen kann, aus prinzipiellen Gründen zu kurz. Natürlich liegt es nahe, dieses Ergebnis theologisch zu deuten, was häufig genug geschehen ist. Man kann ihm aber auch eine säkulare Lesart geben, die es zu einer fast schon trivialen Wahrheit macht:Wenn alles mit allem irgendwie zusammenhängt, dann weiß nur der etwas wirklich, der alles weiß. Bertrand Russell, dem diese ihn abstoßende Pointe nicht entgangen ist, drückt sie im Zusammenhang seiner Kritik an monistischen Wahrheitstheorien und deren Konsequenzen treffend so aus: „It means that nothing is wholly true except the whole truth, and that what seem to be isolated truths […] are really only true in the sense that they form part of the system which is the whole truth.“21
III. Von der Funktion der Phänomenologie des Geistes im Rahmen des Hegelschen Systems und der Strategie ihrer Ausführung ist die konkrete Durchführung des phänomenologischen Prozesses zu unterscheiden. Sie ist es, die zurückführt auf die Eingangsfrage nach den Bedingungen des Bezugs auf Objekte und auf Hegels Beitrag zur Erkenntnistheorie.22 Denn Hegel konstruiert diesen Prozeß Diese Praxis der Differenzierung zwischen Arten der Identität als Mittel zur methodischen Erzeugung von ‚monistischen Konstellationen‘ hat Hegel bereits sehr virtuos in der ‚Metaphysik‘ des zweiten Jenaer Systementwurfs eingesetzt. – Vgl.: Rolf-Peter Horstmann: Ontologie und Relationen. Hegel, Bradley, Russell und die Kontroverse über interne und externe Beziehungen. Königstein/Ts. 1984. 92 ff. 21 Vgl.: Bertrand Russell: Philosophical Essays. London 1966. 132. 22 Die konkrete Ausführung des phänomenologischen Prozesses ist natürlich immer wieder Gegenstand ausführlicher Analysen gewesen, deren mittlerweile übergroße Anzahl wohl kaum noch einigermaßen vollständig zu überschauen ist. Da im folgenden die erkenntnistheoretischen Aspekte dieses Prozesses von der das Objekt betreffenden Seite umrissen werden, soll hier auf 20
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als geregelte Abfolge von Objekt- und ihnen zuzuordnende Subjektkonzeptionen derart, daß sich aus ihm eine Theorie sowohl der für Erkenntnis (durch welchen Subjekttyp auch immer) zugänglichen Objektarten als auch der Bedingungen ergibt, unter denen sie epistemisch zugänglich sind.Was die diese Objektarten und deren Zugänglichkeitsbedingungen betreffende Seite dieses Prozesses betrifft, so ist der leitende Gedanke zusammen mit den von ihm in Anspruch genommenen Voraussetzungen ungefähr folgender: (1) Wir können verschiedene Weisen, in denen Subjekte Objekte als Gegenstände der Erkenntnis konzipieren, voneinander unterscheiden. (2) Jede dieser Weisen scheint nahegelegt zu sein durch die Weise der Präsenz einer bestimmten Objektart für ein erkennendes Subjekt, und es gibt keine Objektart, die nicht durch eine oder mehrere dieser Weisen charakterisierbar ist. (3) Ferner soll gelten, daß jede dieser Objektkonzeptionen mit dem Anspruch auftreten muß, das zu erfassen, was ihr zufolge die jeweils als Erkenntnisgegenstand intendierte Objektart ‚eigentlich‘ oder ‚in Wahrheit‘ ist. Dies soll deshalb gelten, weil Erkenntnis oder Wissen Wahrheit implizieren soll. (4) Als Kriterium für Wahrheit gilt Übereinstimmung. Eine Gegenstandsart soll daher nur dann ‚in Wahrheit‘ erkannt sein, wenn sie mit der von ihr unterhaltenen Konzeption übereinstimmt. Dies soll nun nach Hegel heißen: Wenn sie mit dieser ihrer Konzeption oder, Hegelianisch: mit ihrem Begriff identisch ist.23 (5) Stimmt eine Gegenstandskonzeption mit der von ihr intendierten Objektart überein, ist also die Objektart als das, was sie ‚in Wahrheit‘ ist, erkannt, dann definiert diese Konzeption eine neue Gegenstandsart.24 (6) Auch zu dieser neuen Gegenstandsart gibt es eine Objektkonzeption, die mit dieser Art übereinstimmt, sie insofern ‚in ihrer Wahrheit‘ erfaßt und eine weitere Gegenstandsart definiert. (7) Die Reihe der Gegenstandsarten und die der Objektkonzeptionen sind dann abgeschlossen, wenn sich eine Gegenstandsart ergeben hat, die sich als der Erzeuger ihrer eigenen Konzeption erkennt. Mit diesen Vorgaben ausgerüstet, so meint Hegel, läßt sich zweierlei zeigen: (1) daß schon die einfachste Objektkonzeption und d. h. diejenige, deren nur zwei Darstellungen (stellvertretend für viele) verwiesen werden, die die Subjektseite in den Vordergrund stellen: Paul Redding: Hegel’s Hermeneutics. Ithaka 1996. 72–119. – Sowie: Robert Stern: Hegel and the Phenomenology of Spirit. London 2002. 23 Hier könnte ein Problem für Hegels Erkenntnisbegriff gesehen werden: Wenn man Erkenntnis ausschließlich als Übereinstimmung auffaßt und Übereinstimmung als Identität deutet und eigentliche Identität als numerische Identität versteht, legt man damit nicht schon fest, daß Erkenntnis Selbsterkenntnis sein muß? Mit anderen Worten: Sind es nicht nur selbst verschuldete begriffliche Festlegungen, die Hegels Restriktion von ‚eigentlicher Erkenntnis‘ oder von ‚Erkenntnis im eigentlichen Sinne‘ auf ‚Selbsterkenntnis‘ decken? 24 Es versteht sich, daß in die jeweilige Defi nition auch die Weise eingeht, in der sich das Subjekt jeweils selbst konzipiert, diese also auch von der hier nicht weiter thematisierten ‚Subjektseite‘ des phänomenologischen Prozesses abhängt.
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Begriff am ärmsten ist, was die in sie eingehenden konzeptuellen Elemente betrifft, bereits implizit auf den Begriff einer komplexeren Objektkonzeption verweist, also einer solchen, deren Begriff konzeptuell reicher ist, und (2) daß es ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den konzeptuellen Ressourcen des Erkenntnissubjekts und den ihm als Erkenntnisobjekt (und nicht bloß als Objekt der Wahrnehmung, Meinung, Vorstellung usw.) zugänglichen Objektarten gibt. Folgt man dieser Skizze, dann muß man Hegels Theorie des erkennenden Bezugs auf Objekte als basierend auf der Annahme eines intrikaten Zusammenspiels von Objektkonzeptionen und durch sie definierte Objektarten beschreiben.25 Nun ist die Geschichte des Zustandekommens von Objektkonzeptionen zu unterscheiden von der des Zustandekommens von Objektarten. Beide sollen im folgenden getrennt umrissen werden. Was die Objektkonzeptionen (und die ihnen zugeordneten Subjekte) betrifft, so scheint Hegel ebenso viele solcher Konzeptionen zu unterscheiden wie er Abschnitte in seiner Phänomenologie des Geistes hat. Dies wenigstens ist eine wahrscheinlich gut zu plausibilisierende Vermutung, der hier jedoch nicht nachgegangen werden soll. Dies schon deshalb nicht, weil es alles andere als eindeutig ist, ob Hegel eine konsistente Gliederung der Phänomenologie des Geistes tatsächlich gelungen ist. Die Liste der Gliederungen kann je nach Zählart von drei (Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft) über acht (römische Zählung) bis fünfzehn reichen (römische Zählung plus Großbuchstaben), und andere Vorschläge sind auch nicht automatisch von der Hand zu weisen.26 Es ist auch deshalb hier nicht wichtig, weil es für den generellen Zuschnitt der Hegelschen These in Sachen Objekterkenntnis ohne Bedeutung ist. Sicher ist hingegen, daß für Hegel die einfachste Objektkonzeption diejenige ist, die ein Objekt als ein ‚reines Dieses‘, als hier und jetzt Gegebenes, auffaßt und insofern als etwas konzipiert, dessen Wesen bzw. – Hegelianisch gesprochen – ‚Wahrheit‘ in der unmittelbaren Gegebenheit und d. h. der nur raum-zeitlich bestimmten Präsenz besteht. Diese Objektkonzeption 25 Auch auf der Subjektseite unterscheidet Hegel zwischen Subjektkonzeptionen und Subjektarten und baut zwischen ihnen ein Zusammenspiel auf, vielleicht sogar deutlicher als auf der Objektseite. Die von Hegel nur für das Inhaltsverzeichnis der Phänomenologie des Geistes nachgetragene Gliederung gibt darüber Aufschluß, wenigstens was die ersten drei Subjektarten und die ihnen zugeordneten Subjektkonzeptionen betrifft. So lassen sich innerhalb der Subjektart ‚Bewußtsein‘ die Subjektkonzeptionen der ‚sinnlichen Gewissheit‘, der ‚Wahrnehmung‘ und des Verstandes voneinander unterscheiden, innerhalb der Subjektart ‚Selbstbewußtsein‘ die Subjektkonzeptionen, die Hegel unter IV, A und B behandelt, und innerhalb der Subjektart ‚Vernunft‘ wiederum verschiedene Subjektkonzeptionen. 26 Welche Liste man präferiert, wird auch davon abhängen, wie man sich in der Frage der Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes positioniert, ob man also dem ursprünglichen Plan einer Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins eine andere Gliederung unterstellt als der letztendlich gedruckten Phänomenologie. – Vgl. dazu neuerdings: Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Kap. 12 und 13. Frankfurt a. M. Im Erscheinen.
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wird von dem konzeptuell ärmsten Subjekt aufrecht erhalten, das sich ebenfalls als ein ‚rein Dieses‘, das nur auf Hier- und Jetzt-Daten reagiert, und als sonst nichts auffaßt und mit dem Anspruch auftritt, im epistemischen Modus der sog. „sinnlichen Gewißheit“ das zu erfassen, was ein Objekt ‚eigentlich‘ ist. Mit dieser einfachsten oder ärmsten epistemischen Konstellation beginnt die Phänomenologie des Geistes. Obwohl diese Beschreibung sowohl der anfänglichen Objekt- als auch der ihr zugeordneten Subjektkonzeption alles andere als eindeutig ist,27 genügt sie für den hiesigen Zweck. Denn hier interessiert hauptsächlich das Verfahren, durch das Hegel eine jeweils vorgegebene Subjekt-Objekt-Konstellation destruiert und uns nötigt, eine neue Konstellation an deren Stelle zu setzen. Hegel wählt zur Kritik der für die sinnliche Gewißheit typischen Objekt- und Subjektkonzeption keinen sehr naheliegenden Weg. Ein solcher naheliegender Weg wäre z. B., die dem Subjekt der sinnlichen Gewißheit unterstellte Objektauffassung schon deshalb als zu arm zu kritisieren, weil sie viele Sachverhalte, die wir durchaus als Objekte betrachten, nicht integrieren kann. Eine solche kritische Überlegung würde darauf insistieren, daß es eben einfach nicht der Fall ist, daß nur das für uns ein Objekt ist, was raum-zeitlich präsent ist. Wenn sie überhaupt etwas trifft – so die kritische Überlegung –, dann kann eine die unmittelbare sinnliche Präsenz in den Vordergrund stellende Objektkonzeption im besten Fall eine relativ kleine Anzahl physikalischer Gegenstände als mögliche Bezugsobjekte von Erkenntnis zulassen, nämlich genau solche, die wir mit Vor allem zwei Lesarten dieser Beschreibung bieten sich an, deren eine man ‚essentialistisch‘ und deren andere man ‚reduktionistisch‘ nennen könnte. Gemäß der essentialistischen Lesart würde die die sinnliche Gewißheit definierende Objektkonzeption die Behauptung beinhalten, daß man sinnvoll von einem Gegenstand, auf den man sich erkennend beziehen kann, nur dann reden darf, wenn es möglich ist, ihn erschöpfend durch eine Hier-Jetzt-Beschreibung zu charakterisieren. Ein Gegenstand in dieser essentialistischen Interpretation des Objekts der sinnlichen Gewißheit wäre dann letztlich nichts anderes als ein unmittelbar in Raum und Zeit präsentes Datum. Das essentialistisch gedeutete Subjekt der sinnlichen Gewißheit, das Ich als reines Dieses, versteht sich in analoger Weise nur dann als Erkenntnissubjekt, wenn es sich als reinen Hier-JetztDetektor auffaßt, als etwas also, dem sich Gegenstandserkenntnis im Konstatieren raum-zeitlicher Daten erschöpft. Die reduktionistische Lesart würde auf die These hinauslaufen, daß die Objektkonzeption der sinnlichen Gewißheit die Hier-Jetzt-Präsenz eines Datums zur alleinigen notwendigen Bedingung dafür erklärt, daß etwas als Gegenstand akzeptiert werden kann, auf den ein erkennender Bezug möglich ist. Dieser Lesart zufolge wäre im Rahmen dieser Objektkonzeption nur das ein Gegenstand möglicher Erkenntnis, das sich auf unmittelbar in Raum und Zeit Gegebenes reduzieren läßt. Für ein reduktionistisches Verständnis des Subjekts der sinnlichen Gewißheit gilt ähnliches: Das Ich der sinnlichen Gewißheit muß sich als ein solches auffassen, daß es, wenn es auf Gegenstände bezogen ist, auf jeden Fall auch eine Hier-Jetzt-Erfahrung machen kann – m. a. W.: Es muß seine sämtlichen Erkenntnisleistungen auf eine Hier-Jetzt-Erfahrung reduzieren können. Im gegenwärtigen Kontext ist es erfreulicherweise deshalb gleichgültig, zu welcher Lesart man neigt, weil unter keiner der beiden Lesarten eine in Hegels Augen haltbare Objekt- bzw. Subjektkonzeption entwickelt werden kann. Und dies allein ist für das Hegelsche Programm von Interesse. 27
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unseren (fünf) Sinnen erfassen können. Die Restriktion der legitimen Anwendung des Objektbegriffs auf diese kleine Klasse von Gegenständen ist aber nicht nur unplausibel, sie widerspricht auch unserer epistemischen Praxis, die mit einem sehr viel reicheren Repertoire von Gegenständen (sozialen, kulturellen, psychologischen usw.) arbeitet. Naheliegende Einwände gäbe es auch gegen die Subjektkonzeption der sinnlichen Gewißheit. So ist nicht zu erwarten, daß sich allzu viel zugunsten der Vorstellung vorbringen läßt, es sei das wesentliche Merkmal eines erkennenden Subjekts, ein Raum-Zeitstellen-Registrator oder eben ein Hier-Jetzt-Detektor zu sein. Ebenso naheliegend ist es auch einzuwenden, daß ein so konzipiertes Subjekt nicht zu behebende Defizite aufweist bezüglich seiner Fähigkeit, sich auf komplexe Sachverhalte erkennend zu beziehen: Schon über die grundlegendsten Relationsvorstellungen würde es auch nicht einmal im Ansatz verfügen können. Eine solche irgendwelche (durchaus sinnvollen) Erwartungen an ein ‚normales‘ Verständnis von Subjekt und Objekt bemühende, im Grunde am Phänomen orientierte Kritik wählt Hegel nicht – weder hier noch sonst wo in der Phänomenologie des Geistes. Statt dessen setzt er auf ein konzeptuelles Verfahren der Kritik, das die begrifflichen Vorgaben analysiert, die mit der Subjekt- und Objektkonzeption der sinnlichen Gewißheit verbunden sind. Dieses Verfahren läuft darauf hinaus, daß von dem Begriff des unmittelbar gegebenen Diesen gezeigt wird, daß das Subjekt, das ihn unterhält, bereits auf konzeptuelle Mittel rekurrieren kann, die eine ganz andere Beschreibung und d. h. einen ganz anderen Begriff sowohl des Objekts als auch des Subjekts selbst implizieren. So macht Hegel in diesem konkreten Fall geltend, daß die Hier-Jetzt-Dieses-Beschreibung des Objekts erst und nur dann einen wenigstens im Ansatz auf Objekte beziehbaren Sinn hat, also überhaupt erst als versuchte (wenn auch mißlingende) Beschreibung dessen, was es heißt, erkennbares Objekt zu sein, angesehen werden kann, wenn man in der Lage ist, Unterschiede wie den zwischen Allgemeinheit und Einzelheit, zwischen dem, was wesentlich und dem, was unwesentlich ist, und noch manche andere zu machen. Realisiert man diese Einsicht, dann heißt dies nach Hegel, daß die vermeintlich ärmste und voraussetzungsloseste Objektbeschreibung auf einen reicheren Objektbegriff verweist und bereits implizit mit ihm arbeitet, und daß das Subjekt, um diesen reicheren Objektbegriff sich zuschreiben zu können, sich sehr viel differenzierter interpretieren muß als es für die Selbstinterpretation erforderlich und geboten ist, die mit der ärmeren Objektbeschreibung verbunden ist. Für Hegel ist bekanntlich der hier zunächst einschlägige reichere Objektbegriff der des wahrgenommenen raum-zeitlichen Einzeldinges, das über seine Eigenschaften und deren Relation zu den Eigenschaften anderer Einzeldinge individuiert wird. Die diesem Objektbegriff zugeordnete Subjektkonzeption beschreibt er als wahrnehmendes Bewußtsein, das sich u. a. dadurch als reicher als das Subjekt der sinnlichen Gewißheit erweist,
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daß es über die Begriffe des Irrtums und der Täuschung sowie über diejenigen von Substanz und Akzidenz verfügen muß. Es ist hier nicht der Ort, den Gang des phänomenologischen Prozesses im Detail nachzuzeichnen.Wichtig ist hier mehr die Grobstruktur und die sich aus dem Gesamtprozeß ergebende epistemologische Botschaft. Die Grobstruktur ist schnell erzählt. Auf der Seite der Objektbegriffe folgt dem des wahrnehmbaren Einzeldinges der Begriff des durch Naturgesetze und kausale Rollen definierten Gegenstands. Dieser führt auf den des lebendigen, die Art-Gattung Differenz exemplifizierenden Sachverhalts, der wiederum den Begriff des selbstbewußten Gegenstands ermöglicht und erfordert, aus dem seinerseits sich Begriffe von Objektarten ergeben, die als soziale, kulturelle und religiöse Sachverhalte gedeutet werden müssen. Auf der Seite der Subjektkonzeptionen ergibt sich eine interessante Hierarchie, die sehr schnell bei Subjekten ankommt, die man nur noch als überindividuelle Konstrukte betrachten kann, als Formen dessen, was Hegel ‚Geist‘ nennt.28 Daß die Reihen der Objektbegriffe und der Subjektformen konvergieren derart, daß sie ihren Abschluß finden an der Stelle, wo zwischen Objektbegriff und Subjektform nicht mehr zu unterscheiden ist, nimmt angesichts der oben genannten Vorgaben des Gesamtprozesses sowie der systematischen Aufgabe, die er wahrnehmen soll – nämlich die monistische These zu rechtfertigen –, nicht wunder. Dieser Abschluß ist auch insofern zu erwarten, als er eine ingeniöse Exemplifikation der zentralen monistischen Intuition vom Primat des Ganzen vor seinen Teilen, und d. h. hier auch: des maximal Komplexen vor dem elementar Einfachen darstellt. Denn schließlich macht er deutlich, daß ohne das superkomplexe Ganze die jeweils zu unterscheidenden elementaren Teile, hier die verschiedenen Objekt- und Subjektkonzeptionen, nicht einmal zu konzipieren sind. Für die Theorie der Objektarten ergibt sich aus dieser Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins mit sich und den unterschiedlichen Objektkonzeptionen folgendes Bild: Die erste Objektart, die Hegel uns vorstellt, ist der materielle äußere Gegenstand. Er bildet im Hegelschen Panorama den Ausgangspunkt wegen der als natürlich geltenden Auffassung, daß unsere epistemisch zugängliche Welt ‚eigentlich‘ oder ‚letztlich‘ eine Ansammlung von raum-zeitlich gegebenen Gegenständen und Zuständen ist, die von uns, den erkennenden Subjekten, unterschieden sind. Als natürlich gilt diese Auffassung Hegel aus einem doppelten Grund. Zum einen, weil sie Ausdruck einer unvermeidlichen Erfahrung ist – für ‚normale‘, nicht auf Erkenntnisbedingungen reflektierende Subjekte ist eben die Welt, auf die wir uns erkennend beziehen, ein Ensemble von äußeren Dingen; Daß diese Hierarchien sowohl auf der Objekt- als auch auf der Subjektseite so aufgebaut sein sollen, daß die jeweils höhere Stufe eine begriffliche Voraussetzung der jeweils niederen darstellt, ist ein Hegelscher Anspruch, der hier wenigstens erwähnt, dessen Berechtigung jedoch nicht diskutiert werden kann. 28
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zum anderen, weil sie richtig wiederzugeben scheint, was wir unter ‚Natur‘ verstehen – eine in bestimmter Weise geordnete Mannigfaltigkeit von äußeren Gegenständen. Nun läßt sich aber nach Hegel zeigen, daß die Vorstellung von von uns unabhängigen und selbständigen Objekten keineswegs beanspruchen kann, einen überzeugenden Rückhalt in unserer epistemischen Realität zu haben. Genauer besehen sind sowohl die Selbständigkeit als auch die Unabhängigkeit des materiellen Gegenstands, wenn man ihn als Erkenntnisobjekt (und nicht als z. B. Objekt der Empfindung oder als Gegenstand praktischer Einstellungen) begreifen will, nichts weiter als Festsetzungen, die sich aus einer Evaluation der epistemischen Situation des erkennenden Subjekts selbst ergeben. Versucht das Subjekt dieser Einsicht Rechnung zu tragen, dann kann es Hegel zufolge nicht umhin, sich selbst für die Gesamtheit der Realität anzusehen: Was ihm als eine von ihm unabhängige Welt selbständiger materieller Gegenstände erscheint, erweist sich für es als seine Produktion, der Unterschied zwischen dem erkennenden Bewußtsein auf der einen Seite der Erkenntnisrelation und den von ihm strukturell unterschiedenen zu erkennenden Gegenständen auf der anderen Seite dieser Relation erweist sich als fiktiver. Dies heißt für Hegel wohlgemerkt nicht, daß die Welt materieller Gegenstände für ein solcherart ‚analysiertes‘ Bewußtsein verschwindet oder daß an ihre Stelle ersatzlos etwas ganz anderes tritt; es heißt vielmehr nur, daß die ontologische Behauptung aufgegeben werden muß, das ‚eigentlich‘ unreduzierbar Wirkliche seien uns äußere materielle Gegenstände und Zustände.29 Die Einsicht, daß die uns natürlichste, ja geradezu paradigmatische Objektart, der äußere materielle Gegenstand, ‚letztlich‘ eine Konstruktion des erkennenden Subjekts ist, die Einsicht also, daß das, was für ein erkennendes Subjekt das Paradebeispiel für etwas darstellt, das ‚außen‘ ist, eigentlich oder in Wahr-
Auf diese Diagnose gründet sich Hegels erkenntnistheoriekritische Pointe, daß ein unreflektierter (Hegel nennt ihn: absoluter) Empirismus – gedacht ist wohl an den britischen – auf einen radikalen (in Hegels Worten: leeren) Idealismus hinauslaufe. Diese These von der Identität von Empirismus und Idealismus, die explizit zuerst in der Phänomenologie des Geistes auftritt (vgl.: GW 9, 136), hält sich bis in die letzte Auflage der Enzyklopädie (vgl. die einleitende Zweite Stellung des Gedankens zur Objectivität [vgl.: GW 20, 75–99]) durch, ist also von Hegel anscheinend niemals aufgegeben worden. Sie ergibt sich im Kontext der Phänomenologie des Geistes ungefähr wie folgt: Wenn der Begriff des materiellen Gegenstands vollständig überführt werden kann in den eines Naturgesetzen konformen Objekts (wenn also die Konformität mit Naturgesetzen den materiellen Gegenstand definiert) und wenn Naturgesetze letztlich als konzeptuelle Leistungen des erkennenden Subjekts angesehen werden müssen, dann läuft die empiristische Behauptung, daß die Welt, soweit sie erfahrbar ist, aus einer Ansammlung materieller Gegenstände bestehe oder auf eine Ansammlung solcher Gegenstände reduziert werden könne, auf die idealistische These hinaus, daß ich, das erkennende Subjekt, die Welt setze und sie in diesem Sinne bin. Ob in diesem Zusammenhang die Bezeichnung ‚Empirismus‘ sehr glücklich gewählt ist, mag dahingestellt bleiben. Gegenwärtig würden wir eher von Naturalismus oder Materialismus zur Kennzeichnung der von Hegel kritisierten Position sprechen wollen. 29
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heit ‚innen‘, d. h. in ihm selbst ist, führt nun nach Hegel auf zwei Weisen auf den Begriff einer weiteren Objektart: Die eine ergibt sich aus dem Umstand, daß diese Einsicht das erkennende Subjekt zum Bewußtsein seiner selbst, zum Selbstbewußtsein verhilft, denn es weiß sich als alle Realität. Zugleich aber ist dieses Selbstbewußtsein noch nicht real oder als Objekt präsent – es hat, wie Hegel es nennt, den Begriff von sich selbst noch nicht realisiert. Denn alle Objekte, mit denen es bisher zu tun gehabt hat, geben ihm keinen Anlaß, sich selbst von ihnen so zu unterscheiden, daß es sich selbst als Objekt begreifen kann. Im Gegenteil: Da alle Objekte sich als seine Konstruktionen erwiesen haben, steht es in der Gefahr, die Vorstellung eines genuin Anderen, also eines ‚echten‘ Objekts, vollständig zu verlieren. Wenn es sich denn als erkennendes Subjekt weiterhin konzipieren will, bedarf es zunächst schon aus konzeptuellen Gründen (d. h. hier aus Gründen, die mit dem Begriff der Erkenntnis zusammenhängen) eines Objekts, von dem gilt, daß es so ist, wie es selbst, eines Objekt also, das nicht nur über Objektbewußtsein, sondern auch über Bewußtsein seiner selbst verfügt. Man muß daher andere selbstbewußte Wesen (Wesen, die sich als alle Realität verstehen) als eine weitere Objektart einführen, soll die erkennbare Welt nicht reduziert werden müssen auf materielle Gegenstände (von denen wir aber schon wissen, daß sie Produktionen des Bewußtseins sind). Das Ganze läßt sich aus einem etwas anderen Blickwinkel auch so beschreiben: Dem erkennenden Subjekt fehlen bisher die Ressourcen, sich selbst als Objekt zu konzipieren, weil alles, was für es Objekt ist, sich in seine Konstruktion verwandelt hat. Diese Ressourcen werden ihm erst dann zugänglich, wenn es etwas anderes als (strukturell identisch mit) sich selbst erfahren kann. Ohne diese Erfahrung geht ihm das Objekt verloren, und ohne Objekt gibt es keine Erkenntnisrelation. Es sind also konzeptuelle Zwänge, die das erkennende Subjekt dazu nötigen, etwas wie sich als Objekt zu fassen und die Objektart des selbstbewußten Wesens in seine Ontologie zu integrieren. Doch es sind nicht nur konzeptuelle Gründe, die die Einführung dieser neuen Objektart erforderlich machen. Hinzu kommt – und dies führt auf die zweite Weise der Einführung dieser Objektart –, daß das erkennende selbstbewußte Subjekt mit seiner Überzeugung, alle Realität zu sein, sozusagen ‚praktisch‘ scheitert. Es macht nämlich die Erfahrung, daß nicht alle Objekte der als seine Realität gewußten Welt (also alle materiellen Objekte) sich tatsächlich immer so verhalten wie sie sich verhalten müßten, wenn sie tatsächlich nur seine Konstruktionen wären. Einige Objekte erweisen sich als widerständig, als ‚lebendig‘, sie entsprechen nicht bzw. ihr Verhalten entspricht nicht den vom Subjekt vermeintlich selbst gegebenen Gesetzen. Es kann daher nicht die Annahme aufrecht erhalten, daß alles seines ist, ihm angehört, von ihm konstruiert ist. Da alle Versuche scheitern, diese widerständigen Objekte seinen Konstruktionsmaximen zu unterwerfen (es kann ihre Widerständigkeit nicht überwinden), und
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da das erkennende Subjekt bisher nur über den Begriff des materiellen Objekts (durchschaut von ihm als seine Konstruktion) und den von sich selbst (es ist sich seiner bewußt) verfügt, so kann es nicht anders als annehmen, daß diese widerständigen Objekte, wenn sie schon nicht als nur materielle Gegenstände aufgefaßt werden können, als Objekte angesehen werden müssen, die (1) so sind wie es selbst, also selbstbewußte Wesen, und die (2) von ihm tatsächlich unterschieden sind, also nicht nur als unterschieden konstruiert werden. Hegel bringt dieses Ergebnis bekanntlich in die Formel: „Es ist ein S el b stb ew u ß ts eyn fü r e in Se l b s t b ewuß t s ey n. “30 Die Annahme lebendiger selbstbewußter Wesen als einer eigenständigen (nicht vollständig auf gesetzeskonform konstruierte materielle Gegenstände reduzierbaren) Objektart ist daher das Ergebnis einer Erfahrung, die das erkennende Subjekt mit seinen Objekten bei dem Versuch macht, sie ‚in Wahrheit‘ zu erkennen.31 Für Hegel ist die Unvermeidlichkeit der Einführung dieser Objektart bekanntlich der Grund für die These, daß nur eine intersubjektiv geteilte Welt, d. h. eine Welt, in der mehrere selbstbewußte Wesen vorkommen, eine epistemisch zugängliche Welt ist, weil nur sie das notwendige Maß an ‚Öffentlichkeit‘ besitzt, um den Begriff der Objektivität nicht leer bleiben zu lassen. Denn eine private Welt, eine Welt, die vollständig ‚meine‘ ist, besitzt keine ‚wirklichen‘ (‚seienden‘) Objekte, sondern nur ‚meine‘ Konstruktionen. Doch der Begriff der intersubjektiv geteilten Welt ist nicht unproblematisch. Denn bisher gibt es für das erkennende Subjekt nur die jeweils eigene Welt, die eben aus seinen Konstruktionen und den anderen selbstbewußten Wesen besteht, die es genötigt ist, als wirklich anzuerkennen (und von denen gilt, daß auch sie ihre jeweils eigene Welt sind). Der Begriff der geteilten Welt setzt aber die Vorstellung einer gemeinsamen Welt voraus, einer Welt, die als einheitliche Ganzheit aufgefaßt werden kann. Wie läßt sich aus den bisher gegebenen begrifflichen Möglichkeiten und den bis jetzt gemachten Erfahrungen diese Vorstellung entwickeln? Vgl.: GW 9, 108. Diese äußerst verkürzte Skizze muß notgedrungen über vieles hinweggehen, was den etwas unübersichtlichen Reichtum der Hegelschen Überlegungen ausmacht. So sind für Hegel, ohne hier berücksichtigt worden zu sein, im Zusammenhang der Einführung selbstbewußter Wesen als einer eigenständigen Objektart besonders die Begriffe des Lebens und der Begierde von zentraler Bedeutung, und wahrscheinlich kann man, ohne diese Konzepte einzubeziehen, den Hegelschen Gedankengang nur unter Wert präsentieren. Ebenso ist keineswegs ausgemacht, ob Hegel selbst den oben gemachten Unterschied zwischen einer konzeptuellen und einer erfahrungsbasierten Rechtfertigung der Annahme selbstbewußter Wesen als einer eigenständigen Objektart als mit seinen Intentionen verträglich akzeptieren würde. Höchstwahrscheinlich sind für Hegel alle Rechtfertigungen konzeptuell. Auch hätte Hegel vielleicht Bedenken gegen das hier verwandte Konzept der Widerstandserfahrung als einem epistemischen Phänomen. Es mag sein, daß dieses Konzept eine gewisse Attraktivität erst vor dem Hintergrund anderer Hegel-naher Ansätze in der Metaphysik und der Erkenntnistheorie gewinnt, wie z. B. dem von Charles Sanders Peirce. 30
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Nach Hegel geschieht dies durch eine Operation, die er als unvermeidlich darstellt: Das jeweils einzelne erkennende Subjekt muß, wie er es nennt, sich aufopfern und die Weltauffassung eines anderen erkennenden Subjekts sozusagen als die Standardauffassung der Welt akzeptieren. Diese als verbindlich akzeptierte Standardauffassung wird von dem einzelnen Subjekt als durch ein anderes einzelnes Subjekt gesetzt angesehen, das – da dessen Welt als die verbindliche anerkannt wird – für das sich aufopfernde Subjekt den Status des ‚allgemeinen Selbsts‘ erhält. Dieses die Standardauffassung der Wirklichkeit repräsentierende einzelne Subjekt, das als allgemeines anerkannt wird, nennt Hegel ‚die Vernunft‘. Sie, diese Vernunft, garantiert die Einheit (verstanden i. S. sowohl von Einzigkeit als auch von Gemeinschaftlichkeit) der bewußt erfahrbaren Welt, weil sie als ‚allgemeines Selbst‘ dennoch einzelnes ist und es deshalb für sie auch nur eine Welt gibt, an der das sich aufgeopfert habende Subjekt (und alle anderen, die sich aufgeopfert haben) teilhaben. Sieht man einmal vom Hegelschen monistisch-metaphysischen Kontext ab und vergißt für einen Moment, daß für Hegel letztlich alles in dem fundiert ist, was er ‚Geist‘ nennt, sondern überlegt sich nur, was diese Theorie der Vernunft der Sache nach besagt, so ist man einer erstaunlich ideologiekritischen These konfrontiert: Das, was wir für eine durch die Autorität der Vernunft gedeckte Weltauffassung ebenso für uns selbst akzeptieren wie andere zu teilen nötigen, ist eigentlich nichts weiter als das Produkt der Privilegierung einer einzelnen Weltsicht – Vernunft ist die Summe der herrschend gewordenen Meinungen anerkannter einzelner Individuen. Doch Hegel ist weder Marx noch Feuerbach und auch nicht Nietzsche. Ihm geht es mit seinem Vernunftbegriff nicht um eine ideologiekritische Pointe, sondern um den Nachweis, daß es, um die Idee einer einheitlichen Wirklichkeit zu sichern, der Idee eines unter einzelnen Subjekten privilegierten einzelnen Subjekts, des ‚allgemeinen Selbsts‘ bedarf, dessen Weltkonzeption als Standard gilt. Dieses Subjekt, die Vernunft, ist – wie alle Subjekte bisher auch – alle Realität. Auf Grund des Umstands aber, daß die Vernunft als privilegiertes Subjekt anerkannt ist, und d. h. daß ihre Weltauffassung die allein ‚richtige‘ ist, ist eigentlich erst sie es, die ‚wirklich‘ alle Realität ist, weil sie die für alle verbindliche Konzeption von Realität ‚setzt‘. Sie ist es, die den allgemein verbindlichen konzeptuellen Rahmen schafft, innerhalb dessen sich das einzelne, nicht-allgemeine Bewußtsein bewegen muß, will es den Anspruch aufrecht erhalten, die Welt in allen ihren Aspekten als einen insgesamt einheitlichen Erkenntnisgegenstand betrachten zu können. Dies aber heißt nach Hegel, daß die Vernunft Kategorien vorgibt, Begriffe, die sagen, was (etwas) ist. Für die Vernunft sind diese Kategorien ihre Setzungen. Das einzelne, nicht-allgemeine Bewußtsein erfährt sie aber als Gesetze. Diese Erfahrung nun ist es, die einen neuen Objekttyp in den epistemischen Horizont dieses Subjekts einführt: Diese Gesetze sind nämlich nicht die
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Naturgesetze, die den Begriff des äußerlichen materiellen Gegenstands für das anfängliche Bewußtsein konstituiert haben, sondern sie sind eher so etwas wie Vorschriften oder Gebote, denen das sich der Vernunft unterwerfende Bewußtsein folgen muß, will es ein konsistentes und mit der Auffassung anderer Subjekte verträgliches Weltbild haben. Das die Vernunft akzeptierende Subjekt muß daher normative Instanzen als Objekte, auf die es sich erkennend beziehen kann, in seine Welt integrieren, es muß also Sachverhalte als real, da durch die Vernunft sanktioniert, anerkennen, die festsetzen, was geht und was nicht geht, oder – in Hegels Terminologie – was Sache ist.32 Solche normativen, durch die Vernunft gebotenen Sachverhalte können Theorien wie etwa die Physik (was die Welt der materiellen Gegenstände betrifft) sein, denn die jeweils anerkannte Physik schreibt uns vor, was in Sachen gegenständliche Welt Sache ist. Solche Sachverhalte können aber auch gesellschaftlicher Natur sein, wie z. B. der Staat, der die Normen für das zu akzeptierende Verhalten seiner Bürger festlegt.33 Die epistemische Umgebung des erkennenden Subjekts ist aber damit nicht erschöpft. Neben materiellen Gegenständen, lebendigen und selbstbewußten Wesen sowie normativen Sachverhalten bevölkern noch weitere Objektarten seine Welt. Sie kommen offenbar dadurch zustande, daß das einzelne, nicht-allgemeine Subjekt auf einem verschlungenen (und recht dunklen) Weg realisiert, daß die vermeintliche Differenz zwischen ihm und dem als privilegiert ausgezeichneten ‚allgemeinen Selbst‘, d. h. der Vernunft, nicht besteht (mit Hegel: „Das D i n g der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens hat nun für das Selbstbewußtseyn allein seine Bedeutung durch es; hierauf beruht der Unterschied eines D i n g s und einer S a c h e .“ – Vgl. GW 9, 223. – Zu beachten ist, daß das Selbstbewußtsein, von dem hier die Rede ist, nicht das einzelne, nicht-allgemeine Selbstbewußtsein, sondern die Vernunft, das sog. ‚allgemeine Selbst‘ ist. 33 Zweierlei ist anzumerken. (1) Die hier gegebene Darstellung des Hegelschen phänomenologischen Vernunftkonzepts ist nicht sehr textgetreu. Hegel führt die Vernunft, das ‚allgemeine Selbst‘, als Objekt des nicht-allgemeinen Subjekts ein. Dieses Objekt hat die Eigenschaft, selbst Subjekt oder Selbstbewußtsein zu sein und das, was ist, vorzugeben. Das Bewußtsein, das auf die Vernunft als Objekt bezogen ist, erfährt daher die Welt nur vermittelt durch die Vernunft, die für es noch ein anderes, ein Objekt, ist. Es ist also eigentlich die Vernunft, auf die bei Hegel das nicht-allgemeine Bewußtsein als normativen Sachverhalt bezogen ist. Physik und Staat sind nur insofern normative Sachverhalte als sich in ihnen die Vernunft manifestiert. (2) Daß die Vernunft als privilegiertes Subjekt, nämlich als allgemeines Selbst, im Unterschied zu den nicht-allgemeinen Subjekten eingeführt wird, ist der Grund dafür, daß sich Hegels Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins ab dem Vernunft-Kapitel als eine Geschichte der Erfahrung der Vernunft mit sich selbst präsentiert. Diese Geschichte reflektiert die Erfahrungen, die das allgemeine Subjekt, die Vernunft also, mit ihren normativen Festsetzungen macht. Sie ist es, die auf die weiteren Gestaltungen des Geistes führt. Das Vernunft-Kapitel ist das letzte, in dem zwischen einem vernünftigen und einem nicht-vernünftigen Subjekt unterschieden werden kann. Es werden deshalb in ihm im wesentlichen verschiedene Formen diskutiert, unter denen das nicht-allgemeine Subjekt an den Festsetzungen der Vernunft scheitert, sei es weil es die Vorgaben der Vernunft mißversteht oder eine falsche Einstellung zu ihnen hat. Dieses Scheitern ist schon der kunstvoll eingesetzte Vorbote der das Ergebnis des Kapitels darstellenden Diagnose der epistemischen Marginalität dieses einzelnen, nicht-allgemeinen Subjekts. 32
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Diese Differenz ist ein Unterschied, der keiner ist). Es muß sich daher nicht mehr nur als ein Subjekt sehen, „das Ve r nu n f t h a t “ (d. h. an der Vernunft teilhat), sondern als ein solches, das „Vernunft i s t“ (d. h. identisch mit ihr ist).34 Das einzelne Subjekt, das von sich geglaubt hat, sich einem anderen Subjekt, dem allgemeinen Selbst, unterworfen zu haben, stellt fest, daß es selbst dieses allgemeine Selbst oder die „ a l lg eme in e Vernunft“35 ist. Da dieses allgemeine Selbst, die Vernunft, für es das von ihm unterschiedene Objekt gewesen ist, auf das es sich als weltsetzende Autorität bezogen hat, bedeutet die Einsicht in diese Identität nach Hegel, daß es sich, insofern es sich als erkennendes Subjekt betrachtet, „als Einheit des Bewußtseyns und des Selbstbewußtseyns“36 auffassen kann oder als Subjekt, das mit seinem Objekt eins ist – als „das Individuum, das eine Welt ist.“37 Hegel nennt diese als Totalität gedachte Vernunft, diese individuelle Einheit von Subjekt und Objekt, ‚Geist‘, den er mit dem sog. ‚sittlichen Leben eines Volkes‘ identifiziert bzw. mit dem, was er ‚Sittlichkeit‘ oder auch ‚sittliche Substanz‘ nennt.38 Es kommt hier nicht darauf an, wie er im einzelnen zu dieser Einschätzung gelangt. Wichtig für die Theorie der Objektarten ist nur, daß der Prozeß der Selbstverständigung der so gefaßten Vernunft über sich selbst – oder, wenn man will, der Prozeß des Ausbuchstabierens dessen, was es für die Vernunft heißt, alle Realität zu sein – eine reiche Palette institutioneller, sozialer, ethischer und kultureller Gegenstände in den Blick bringt. Sie entsprechen jeweils Weisen, in denen diese Eine, Welt seiende Vernunft ihre eigene Realität unter der für sie konstitutiven Perspektive erfährt, eine sich selbst organisierende Totalität selbstbewußter Elemente zu sein. Für jede dieser Objektarten – zu denen als die bekanntesten das Recht, das moralische Gewissen und die Religion gehören – ist es bezeichnend, daß die Möglichkeit ihres Auftretens gebunden ist an einen bestimmten Grad der Komplexität in der Selbstorganisation der sich als Geist erkennenden Vernunft. Die Abschlußkonstellation ist, wenig überraschend, die, in der der Geist sich als die alle Realität seiende Vernunft selbst zum Gegenstand hat, auf die Art der Identität und des Unterschieds reflektiert, die zwischen ihm und seiner Welt besteht, und begreift, „daß Ich [der Geist als Subjekt, R.-P. H.] in seinem Andersseyn [der Geist als Objekt, R.-P. H.] bey sich selbst ist.“39 – so die berühmte monistische Weltformel, mit der Hegel uns als Ergebnis entläßt.40 Vgl.: GW 9, 239. Vgl.: GW 9, 193. 36 Vgl.: GW 9, 239. 37 Vgl.: GW 9, 240. 38 Diese Identifikation ist für Hegel naheliegend auf Grund des Umstands, daß die Einsicht in die Identität von dem Subjekt, das Vernunft hat, mit demjenigen, das Vernunft ist, ein sozialer Anerkennungsprozeß ist. – Vgl.: GW 9, 193. 39 Vgl.: GW 9, 428. 40 Geht man in die Details dieser konzeptuellen Selbstorganisation der Vernunft als Geist, 34 35
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IV. Soviel zur möglichen Rolle des phänomenologischen Prozesses der Objektkonstitution für die Rechtfertigung einer monistischen Metaphysik. Sieht man von diesem monistischen Hintergrund der Hegelschen Überlegungen ab, dann zeigt sich, wie hoffentlich deutlich geworden ist, daß dieser Prozeß auf jeden Fall auch als eine Theorie der Bedingungen des epistemischen Objektbezugs konzipiert ist.41 Wie bereits anfangs gesagt, ist diese Theorie des Objektbezugs und die mit ihr einhergehende Theorie der Objektkonstitution sicher nicht Hegels Hauptzweck bei der Abfassung der Phänomenologie des Geistes gewesen – dies ist und bleibt der Nachweis der Alternativelosigkeit der monistischen metaphysischen These. Der erkenntnistheoretische Aspekt ist aber prominent vorhanden. Die vielen originellen Absonderlichkeiten, mit der sie die Erkenntnistheorie meint bereichern zu müssen, mögen überraschen und zum Teil wohl auch befremden. Dennoch darf zweierlei nicht übersehen werden: Zum einen läßt sich schwer bestreiten, daß die sie leitende Grundauffassung unserer epistemischen Situation durchaus nicht ohne Rückhalt in unseren Alltagsüberzeugungen in Sachen Erkenntnis und Wissen ist. Sie läßt sich zusammenfassen in die Maxime, daß eben nicht jeder alles wissen kann, worauf er sich als auf ein Objekt durchaus erkennend beziehen kann, und daß es für uns wie für andere Wesen sowohl individuell als auch kollektiv Grenzen der Erkenntnis gibt, die
wird die Sache sehr schnell einigermaßen unübersichtlich. Bisweilen kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, daß Hegel eher etwas gewaltsam sein monistisches Ziel, in allem die als Welt gedachte Vernunft am Werke zu sehen, zu erreichen versucht. Hegel selbst scheint diesen Eindruck für nicht vollständig abwegig gehalten zu haben. Auf jeden Fall schreibt er etwas apologetisch in einem Brief an Schelling vom 1. Mai 1807: „Das Hineinarbeiten in das Detail hat, wie ich fühle, dem Ueberblick des Ganzen geschadet; dieses aber selbst ist, seiner Natur nach, ein so verschränktes Herüber- und Hinübergehen, daß es selbst, wenn es besser herausgehoben wäre, mich noch viele Zeit kosten würde, bis es klarer und fertiger dastünde.“ Diese Unübersichtlichkeit zeige vor allem die „größere Unform der letztern Partien“. – Vgl.: Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Band I: 1785–1812. Hamburg 1952. 161. 41 Darauf verweist auch die Hegelsche Rede von der Phänomenologie des Geistes als der Lehre von dem erscheinenden Wissen. Diese Rede, die die ursprüngliche Charakterisierung des phänomenologischen Unternehmens, nämlich Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins zu sein, ersetzt, hat den oft beobachteten Doppelsinn, darauf hinzuweisen, daß einerseits in der Phänomenologie Erscheinungsweisen des Wissens, also Subjekt-Objekt-Konstellationen auftreten, die allesamt die gelungene Realisierung der Erkenntnisrelation, also ‚wahres‘ Wissen prätendieren, andererseits aber diese Erscheinungsweisen (bis auf die letzte, das absolute Wissen) nur scheinbares oder ‚falsches‘ Wissen sind, weil sie eben nicht in der Lage sind, die Prätention strukturell und konzeptuell einzulösen. Es ist bemerkenswert, daß dieser Doppelsinn nur zustande kommt, wenn man den Begriff des falschen Wissens als einen bedeutungsvollen Begriff zuläßt, was Hegel explizit tut (vgl.: GW 9, 30), und ihn nicht von vornherein als widersprüchlich und deshalb sinnlos betrachtet. Wenn man Hegel darin folgt, dann ist eine Lehre vom erscheinenden Wissen, also eine Phänomenologie, immer auch ein epistemologischer Traktat.
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– gegeben eine jeweils konkrete individuelle oder kollektive Situation – einfach nicht zu überschreiten sind. Was den individuellen Fall betrifft, so ist es eine aus vielen Bereichen gut gedeckte und leidvoll akzeptierte Erfahrung, daß wir sehr häufig in Lagen geraten, in denen wir zwar durchaus den Begriff des Objekts fassen können, auf das wir mit einem Erkenntnisanspruch bezogen sind, wir aber dennoch nichts im eigentlichen Sinne (d. h. mit Anspruch auf Wahrheit) erkennen oder wissen können – das beinahe regelmäßige Scheitern von Wetteroder Börsenprognosen ist dafür hinreichendes Indiz. Der kollektive Fall mag weniger leicht zu belegen sein und ein gewisses Maß Hegelscher Metaphysik bereits voraussetzen. Doch wenigstens in einem metaphorischen Sinn sind wir durchaus bereit, davon zu sprechen, daß Regierungen oder Staaten auf Sachverhalte z. B. als Probleme oder als Mißstände aufmerksam werden, für die sie keine Lösungen oder Abhilfen schaffen können. In beiden Fällen gibt es eine spürbare Diskrepanz zwischen dem, auf das man sich im Modus des Erkennens als auf ein Objekt beziehen kann, und dem, was man von diesen Objekten mit Wahrheitsanspruch behaupten kann. Wenn dem aber so ist, dann wird man dem Hegelschen Ansatz zugestehen müssen, daß er wenigstens im Ansatz ein Modell bereitstellt, das über ein Erklärungspotential für solche Diskrepanzen verfügt, die zwar auch von der traditionellen Erkenntnistheorie häufig thematisiert worden sind (man denke nur an die bis auf die Anfänge der griechischen Philosophie zurückzuverfolgenden Diskussionen über das Verhältnis von Meinen, Glauben und Wissen), die aber dennoch selten genuin erkenntnistheoretische Antworten erhalten haben. Zum zweiten ist festzuhalten, daß das Hegelsche phänomenologische Unterfangen gegenüber der anfangs umrissenen, an kantianisierenden Vorgaben orientierten, explizierten und kritisierten Theorie für sich in Anspruch nehmen kann, in verschiedenen Hinsichten sehr viel leistungsfähiger zu sein – wenigstens dann, wenn man es nicht entweder schon im Ansatz oder in seiner Ausführung für hoffnungslos verfehlt hält. Auf drei dieser Hinsichten sei verwiesen: (1) So kann Hegel von seiner Theorie behaupten, daß sie es erlaubt, sehr viel mehr und ganz andere Objektarten als durch ‚echte‘, in der Welt tatsächlich vorhandene Gegenstände exemplifiziert zuzulassen, auf die ein erkennender Bezug möglich ist, als es ihr kantianisierender Rivale erlaubt, dem letztlich nur solche Objektarten als genuin wirklich gelten dürfen, die in das Prokrustes-Bett raumzeitlicher Bestimmungen und urteilskonformer kategorialer Ordnungsfunktionen passen. Vor allem erlaubt sie, die Bedeutung zu spezifizieren, die mit der Rede von im weitesten Sinne ‚geistigen‘ Gegenständen, also psychologischen, sozialen und kulturellen Phänomenen verbunden ist. (2) Hinzu kommt, daß Hegels phänomenologische Theorie der Bedingungen epistemischen Objektbezugs durch die für sie konstitutive Differenzierung zwischen unterschiedlichen Konstellationen von subjektiven Bedingungen für
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die Bezugnahme auf unterschiedliche Objektarten eine attraktive Erklärung dafür geben kann, warum wir uns auf vieles zwar als auf ein Objekt epistemisch beziehen können, es aber dennoch nicht im strengen Sinne erkennen können. Diese unsere Beschränktheit folgt für Hegel wohlgemerkt nicht nur aus der zu seiner Metaphysik gehörenden Einsicht, daß es sowieso nur ein einziges Objekt gibt, das Erkenntnisgegenstand in eigentlicher Bedeutung ist (wenn auch nur für ein einziges Subjekt) – wäre diese metaphysische Einsicht der einzige Grund, könnte man immerhin versucht sein, ihn als epistemologisch irrelevant zu deklarieren, um ihn mit einigermaßen gutem Gewissen vernachlässigen zu können. Die Eingeschränktheit unserer Erkenntnisansprüche folgt für Hegel vor allem aus einem rein in den Bedingungen von Erkenntnis liegenden Grund, nämlich daraus, daß jede ein jeweiliges Subjekt definierende Konstellation von subjektiven Bedingungen, die für die Zugänglichkeit einer jeweiligen Objektart charakteristisch ist, sich als eine bestimmte Menge von nur notwendigen Bedingungen darstellen läßt, die jeweils für sich nicht hinreichend sind, um das jeweils intendierte Objekt zu erkennen. In Hegelscher Sprache ausgedrückt: Die jeweiligen subjektiven Bedingungen mögen hinreichen, um von etwas zu wissen, sie reichen aber nicht dazu aus, etwas zu begreifen. (3) Und schließlich ist nicht zu übersehen, daß die in der Phänomenologie des Geistes entwickelte Theorie der unterschiedlichen Subjekttypen wenigstens im Prinzip eine Antwort auf die Frage erlaubt, wieso wir uns immerhin vorstellen können, daß das, was uns epistemisch opak bleibt und bleiben muß, nicht unter jeder Perspektive unzugänglich sein muß – Wesen wie wir mögen zwar nie genau wissen, was alles zu den relevanten Bedingungen für das adäquate Verständnis von dem gehört, was wir z. B. ‚die Börse‘ oder ‚die Liebe‘ oder ‚die Kunst‘ nennen, es wird aber andere Subjekttypen geben, denen das alles sehr viel durchsichtiger ist. Wir können sogar, folgt man Hegel, das konzeptuelle Rüstzeug namhaft machen, das diese Subjekttypen auszeichnen muß. Eine solche Behauptung mag auf den ersten Blick hybrid erscheinen. Man kann sie aber auch als die Hegelsche Diagnose des philosophischen Preises betrachten, den man bereit sein muß zu zahlen, wenn man daran festhalten will, daß Sachverhalte wie historische Prozesse, soziale Institutionen, ästhetische Produkte und religiöse Anschauungen nicht nur kontingente bzw. konventionelle und d. h. letztlich anthropomorphe Fiktionen darstellen, sondern ebenso wirkliche, objektive Elemente der Realität sind wie es für uns Bäume, Autos und Menschen sind.42 Außerdem ist sie der Preis für die Annahme, daß auch diese uns episteNatürlich soll dies nicht heißen, daß nur die Hegelsche Theorie der Objektarten in der Lage ist, nicht-materielle Gegenstände als objektiv reale Elemente der Wirklichkeit zuzulassen. Man kann sich auch Theorien vorstellen, die z. B. mit evolutionären Naturprozessen die Mannigfaltigkeit auch nicht-natürlicher Objektarten erklären. Ebenso wenig ist gemeint, daß ein an Kant orientiertes Modell der Objektkonstitution notwendig auf einen ‚Fiktionalismus‘ bezüglich 42
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misch weniger zugänglichen Objekte Bestandteile eines irgendwie geordneten, nach irgendwelchen Regeln bestimmten Weltganzen bilden. Daß Subjekte wie wir diese Regeln nur in einem sehr begrenzten Maß verstehen, spricht insofern nicht gegen ihre Annahme, als es ja auch noch andere Typen von Subjekten gibt, die für die Erkenntnis dieser Regeln besser ausgestattet sind. Mit dieser tröstlichen Botschaft entläßt uns der Hegel der Phänomenologie des Geistes. An ihr hat er, so glaube ich, zeitlebens festgehalten. Allerdings muß auch konstatiert werden, daß Hegel die Verkündung dieser Botschaft durch die Darstellung des phänomenologischen Prozesses offenbar selbst nicht dauerhaft befriedigt hat. Dies zeigt sich vor allem daran, daß er später andere Ansätze einer Einleitung in seine monistische Metaphysik favorisiert hat, deren Verhältnis zur phänomenologischen Konzeption schwer zu deuten ist. Über die Gründe seiner Unzufriedenheit lassen sich viele Vermutungen anstellen. Doch dem muß jetzt und hier nicht mehr nachgegangen werden. Man sollte lieber abschließend festhalten, daß Hegel sein phänomenologisches Unternehmen auf jeden Fall auch als den Versuch angesehen hat, in der Erkenntnistheorie gänzlich neue Wege zu gehen. Dies belegt schön die ihm zugeschriebene „Selbstanzeige der Phänomenologie“, in der es heißt: „Die Phänomenologie des Geistes soll an die Stelle [Hervorhebung von R.-P. H.] der psychologischen Erklärungen, oder auch der abstractern Erörterungen über die Begründung des Wissens treten. Sie betrachtet die Vo r b e re i t u n g zur Wissenschaft aus einem Gesichtspuncte, wodurch sie eine neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie ist.“43 Daß diese Hegelsche Selbsteinschätzung durchaus den Kern des phänomenologischen Pudels trifft, dies bestätigen die hier vorgetragenen Überlegungen – wenn sie denn nicht vollständig abwegig sind. Dies ändert allerdings nichts an der Richtigkeit der spätesten Hegelschen Selbstaussage zu diesem seinen Werk: Die Phänomenologie des Geistes ist und bleibt eine „Eigenthümliche frühere Arbeit“,44 so eigentümlich, daß selbst Hegel sich nicht mehr zugetraut hat, sie umzuarbeiten.45 nicht-materieller Gegenstände führt. Was gesagt werden soll, ist nur, daß Hegel zu Recht für sich in Anspruch nehmen kann, seinen konzeptuellen Realismus in der Erfahrungswelt verankern zu können. 43 Vgl.: GW 9, 446. 44 Vgl.: GW 9, 448. 45 Die leitende Idee dieser Arbeit geht auf Überlegungen zurück, die durch kritische Bemerkungen von James Kreines (vgl.: European Journal of Philosophy. Oxford [UK]/Malden [Mass.]. 12, 1 [2004]) zu anderen meiner Texte veranlaßt worden sind. Ihm gebührt daher als erstem Dank. Der erste Abschnitt versucht, kritische Hinweise produktiv zu berücksichtigen, die Wolfgang Carl freundlicherweise zu einer früheren Fassung gegeben hat, während der zweite und vierte (in meinen Augen) profitiert hat vom Einbeziehen von Gesichtspunkten, auf die mich Rüdiger Bubner und James Kreines aufmerksam gemacht haben. Eckart Förster hat mich vor einem eher peinlichen Fehler in Sachen Kant bewahrt. Der dritte Abschnitt ist weitgehend in Brasilien verfaßt worden, wo ich im Rahmen eines Forschungsprogramms als Gast von Maria Borges einige Zeit
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am Institut für Philosophie der Bundesuniversität von Santa Catarina in Florianopolis verbringen konnte. Beachtenswerte (und beachtete) Hinweise zum ganzen Text hat Ludwig Siep gegeben. Der kritischen Aufmerksamkeit von Susan Hahn bin ich einige Klarstellungen schuldig. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt. Mein besonderer Dank gilt Dina Emundts, deren kenntnisreiche Anteilnahme das gesamte Projekt begleitet hat. Eine sehr verkürzte englischsprachige Fassung der Abschnitte eins, zwei und vier ist erschienen unter dem Titel: Hegel’s Phenomenology of Spirit as an Argument for a Monistic Ontology. – In: Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy. New York, NY. 49 (2006), 1, 103–118.
w i l k o b au e r HEGELS THEORIE DES GEISTIGEN EIGENTUMS
A. Die Aktualität des geistigen Eigentums heute Der Kampf um das geistige Eigentum ist weltweit voll entbrannt. Dringend benötigte, in den armen Ländern der Welt hergestellte Medikamente verletzen Patente multinationaler Konzerne. Ein florierender Handel mit Konsumgütern in sich entwickelnden Ökonomien verletzt die Markenrechte westlicher Produzenten. Die dezentrale „Konsumenten-Innovation“ im Bereich quelloffener Software, die neue Entwicklungs- und Emanzipationsräume schafft, verletzt bestehende Urheber- und Patentrechte. Die Verbesserung von Forschung und Lehre durch Nutzung der technischen Möglichkeiten der Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen verletzt Rechte auf die kommerzielle Verwertung solcher Inhalte. Die Freiheit des Konsums sowie der schöpferischen Entwicklung geistiger Inhalte ist insgesamt durch ein immer restriktiveres RechteManagement der Rechte des geistigen Eigentums akut bedroht. Geistiges Eigentum hat – im Gegensatz zu „körperlichem“,1 verkörperten Eigentum – gewisse Besonderheiten aufzuweisen.2 Es ist zunächst „immateriell“, lediglich in bezug auf „abstrakte“, eben „geistige“ Gegenstände anwendbar. Ein geistiges Eigentumsrecht gewährt nicht per se ein Recht an dem körperlichen Gegenstand selbst, in dem der „geistige“ Gehalt verkörpert ist – und umgekehrt. Des weiteren sind die Grenzen eines möglichen Gegenstandes geistigen Eigentums nicht von vornherein klar definiert, jedenfalls nicht als solche „natürlich“ vorfindbar. Und schließlich ist geistiges Eigentum auch in der Zeit begrenzt. Im Recht des geistigen Eigentums werden die Interessen der Schöpfer, der Verwerter, der Konsumenten und der Allgemeinheit wertend geregelt. Die Interessenlage ist kompliziert – und dies spiegelt sich auch in der Rechtslage wieder, die in viele einzelne Regelungen zerfällt. Das Recht des geistigen Eigentums ist unterschieden in Persönlichkeitsrecht und Vermögensrecht. Die Persönlichkeitsrechte schützen die „ideellen“ Interessen des Werkschöpfers, seine persönliche Beziehung zu seinem Werk (z. B. Dieser Begriff wird hier verwandt, um das „Sacheigentum“ im Gegensatz zum „geistigen Eigentum“ zu bezeichnen, da der Ausdruck „Sache“ im Rahmen dieser Arbeit bei beiden Arten des Eigentums zentral ist. 2 Vgl. dazu: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. – In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Stuttgart. 90 (2004), 1, 23 ff. 1
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Recht auf Namensnennung, Schutz vor Entstellung). Die Vermögensrechte schützen die wirtschaftliche Verwertbarkeit und die in das Werk getätigten Investitionen. Während auf dem europäischen Kontinent die persönlichkeitsrechtliche Komponente geistigen Eigentums seit langem anerkannt ist und in Rechtsvorschriften ihren Niederschlag gefunden hat, steht z. B. im anglophonen Raum fast ausschließlich die vermögensrechtliche Seite des geistigen Eigentums im Vordergrund.3 Das ausschlaggebende Argument für die rechtliche Absicherung geistigen Eigentums ist hier, daß kulturell nicht investiert und nicht produziert werde, wenn die Gewinnaussichten der Investoren nicht durch den Schutz der geistigen Produkte abgesichert würden.
B. Hegels Theorie des geistigen Eigentums I. Einleitung Eine einheitliche Betrachtungs- und Behandlungsweise des Phänomens „geistiges Eigentum“ bleibt eine aktuelle Forderung. Aufgrund der Zersplitterung der Normtexte, der Dynamik der zugrundeliegenden Entwicklung und der grundlegenden Spaltung in „Persönlichkeit“ und „Vermögen“ als Schutzobjekte ist eine solche bisher jedoch nicht zufriedenstellend möglich. Hinter den Schwierigkeiten der Vereinheitlichung insbesondere der beiden genannten Schutzrichtungen des geistigen Eigentums („Persönlichkeit“ und „Vermögen“) verbirgt sich letztlich die Frage, wie freie, vorbehaltlos zu respektierende Spontaneität und Kreativität von Einzelnen und Gruppen – die sich grundsätzlich einem objektivierenden, verdinglichenden Zugriff entzieht – dennoch innerhalb eines „objektiven“ Systems, z. B. eines Rechtssystems oder eines Marktes integriert, gefördert und erzeugt, „bewirtschaftet“ werden könne.4 Im Rahmen der Philosophie Hegels erscheint ein solcher einheitlicherer und grundlegender Ansatz einer Theorie des geistigen Eigentums möglich, da in dieser Philosophie die Synthese von objektiven Strukturen und ursprüngVgl.: Justin Hughes:The Philosophy of Intellectual Property. – In: Adam D. Moore (Ed.): Intellectual Property: Moral, Legal, and International Dilemmas. Lanham, Md. 1997. 159 ff. 4 Dieses Problem stellt sich nicht nur auf dem Gebiet der marktgängigen Erzeugung geistiger Güter, sondern in ähnlicher Weise auf so disparaten Feldern wie der Medizin (Aktivierung der Selbstheilungskräfte, des Immunsystems des Körpers), der Psychotherapie (Heilung von Antriebsstörungen, Depressionen), in zwischenmenschlichen Beziehungen (Am-Leben-Halten spontaner, „freiwilliger“ Aufmerksamkeit) oder in der Politik (im Bereich ehrenamtliches Engagement, Beteiligung der Bürger an einer gelebten Demokratie). 3
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licher Subjektivität, von Form und (wesentlichem) Inhalt, durch das „System“ das wissenschaftstheoretische Ziel ist. Zudem ermöglicht Hegels Philosophie, begriffliche Relationen ansonsten weit voneinander entfernter Gebiete des Wissens sichtbar werden zu lassen. Alles kann zum Inhalt geistigen Eigentums gemacht werden, denn alles kann durch Kunst, durch Bearbeitung der natürlichen Umwelt oder durch Wissenschaft zum Thema geistiger Produktion werden. Umgekehrt spielt das „innere[s] Eigentum des Geistes“5 bei den verschiedenen Facetten des menschlichen Handelns – in der Sphäre des „abstrakten Rechts“ wie auch in der bürgerlichen Gesellschaft oder im politischen Staat – eine Rolle. Hegels Philosophie eignet sich daher, Anhaltspunkte für eine systematisch kohärente, formale und inhaltliche Ordnung möglichen geistigen Eigentums zu finden und anhand dieser eine gleichzeitig differenziertere und umfassendere, „ganzheitliche“ theoretische und rechtliche Behandlung perspektivisch zu eröffnen. Das vom „Inneren des Geistes“, vom „allgemeinen Ich“ Konstituierte muß die Form der „Sache“, eines (geistigen) Gegenstandes, annehmen, um Dasein zu haben. Dieses Dasein kann aufgrund seiner „Sachqualität“ ein Eigentumsobjekt werden – und muß dies nach Hegel auch, denn in der Veräußerung des „inneren Eigentums des Geistes“ realisiert sich die Freiheit des Individuums. Die Genese des „allgemeinen Ich“, der allgemeinen Bewußtseinsformen – und damit dessen, was als „Inneres des Geistes“ Gegenstand des Eigentums wird – ist bei Hegel, insbesondere in der Phänomenologie des Geistes, die objektiv-teleologische, notwendige Entfaltung der Vernunft. Damit rücken in der Kategorie des geistigen Eigentums formale und inhaltliche Aspekte so eng aneinander, daß konsequenter Weise eine stärkere Berücksichtigung der konkreten Inhalte geistigen Eigentums und deren Behandlung bzw. Gebrauch durch denjenigen, der ein Recht an ihnen geltend macht, in Rechtsphilosophie und Rechtspraxis geboten erscheint.
Hegels Philosophie des Eigentums In § 41 der Grundlinien erläutert Hegel, daß die Person „sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben [müsse], um als Idee zu sein.“ Diese äußere Sphäre der Freiheit ist das Eigentum. Das Eigentum ist das erste Dasein der Freiheit6 – und Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. – In: Ders.: Theorie-Werkausgabe. Werke 7. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970. § 43, Anmerkung, 105. (Im Folgenden: TWA 7) 6 Vgl.: TWA 7, § 45. 5
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damit nicht in erster Linie unter dem Aspekt „bloßer“ Bedürfnisbefriedigung zu sehen. Hegel legt mit seiner Philosophie des Eigentums „die Fundamente der neuzeitlichen Eigentums- und Ver tragstheorien tiefer“,7 indem er den Zusammenhang von Eigentum und Freiheit, zwischen Eigentum und Besitznahme und zwischen Bearbeitung und Gebrauch – alles Topoi des naturrechtlichen Eigentumsbegriffs – von bloßen Plausibilitäten in rein begrifflich entwickelbare Prinzipien verwandelt. Dies verbindet Hegel mit einer Kritik am erkenntnistheoretischen Realismus, insofern bei ihm das „absolute Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen“ in der grundlegenden Asymmetrie zwischen Geist und Natur begründet ist: Die „Materie der Sache“ hat eben kein Recht. Bei Hegel erschließt die tatsächliche Aneignung der Natur gleichzeitig kognitiv deren Inneres, was durch die Prozesse der Arbeit und der Bildung geschieht. Der enge Zusammenhang zwischen der Freiheit der Person und ihrem Eigentum bei Hegel kann leicht als problematisch empfunden werden. Wenn die Freiheit so stark an „Dinge“ geknüpft wird, liegt die Lukács’sche Kritik einer bloßen „Verdinglichung“ der Freiheit nahe – Freiheit würde so bei Hegel nicht verwirklicht, sondern vielmehr bourgeois und ideologisch verbrämt. Dagegen ist einerseits zu sagen, „daß Persönlichkeit Freiheit ist, und aus dieser Freiheit erst die Notwendigkeit der Objektivierung in einer äußeren Sphäre folgt – und nicht etwa umgekehrt aus dem Eigentum die Persönlichkeit.“8 Es stellt sich aber zusätzlich die Frage, was es überhaupt heißt, daß etwas ein „Ding“, eine „Sache“ ist. Da, wie weiter unten gezeigt wird, auch für Gegenstände geistigen Eigentums „Sachqualität“ Voraussetzung ist, steht diese Frage auch im Zentrum des hier behandelten Themas. Es wird sich zeigen, wie Subjektivität und „Sache“ gegenseitig verzahnt sind – und wie auch die freie, kreative Subjektivität, die zu erhalten die Absicht der Verdinglichungskritik ist, bereits für ihr bloßes Dasein auf die Verdinglichung der Welt angewiesen ist. Eine Sache ist ein vom freien Geist Verschiedenes, ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses.9 Eine solche Sache kann zunächst ein natürliches Ding sein. Eigentum setzt voraus, daß die Naturdinge zu Sachen gemacht werden und damit in die Verfügung des Menschen geraten. Solch eine Sache wird vom Vgl.: Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Frankfurt a. M. 2000. 207. (Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken herausgegeben von Herbert Schnädelbach. Band 2) – Vgl. dort auch zum Folgenden. 8 Vgl.: Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart/Weimar 2003. 378. 9 Vgl.: TWA 7, § 42. – Vgl. dazu: Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81). – In: Ludwig Siep (Hg.):Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1997. 55–72; hier 55 ff. (Klassiker Auslegen. Herausgegeben von Ottfried Höffe. Band 9) 7
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Menschen in Besitz, in die äußerliche Gewalt genommen.10 Die zur Sache gewordene Natur hat keine Selbstständigkeit in sich, sie erhält erst durch die Verfügung durch den Menschen ihre Bestimmung. Die Natur hat immer bloß den Schein der Selbstständigkeit. Gegenstände geistigen Eigentums sind jedoch ursprünglich geistig – sie haben von Beginn an Teil an der Freiheit, der Subjektivität. Diese muß ihnen, damit sie Sache sein können, zuerst genommen werden. Die Versachlichung aller Beziehungen von Personen zu Personen ist neben der „äußeren Sphäre der Freiheit“ damit die andere Seite des Eigentums.11 Alle Fähigkeiten und Geschicklichkeiten der Person werden entpersönlicht, nehmen die Form der Sache an und fungieren gesellschaftlich als Eigentum: Alle „Geschicklichkeiten, Wissenschaften, Künste, selbst Religiöses (Predigten, Messen […]), Erfindungen“, „Kenntnisse, Fähigkeiten“12 werden wie äußere Dinge versachlicht und diesen bezüglich der Art der Verfügbarkeit gleichgesetzt. Es tritt eine Versachlichung aller Verhältnisse als allgemeines Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ein. Diese „Macht der Entzweiung“ und die „Differenz“, die dadurch auf den Plan tritt,13 wird insbesondere im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft thematisiert. Dennoch ist nach Hegels reifer Auffassung die Institution des Privateigentums, die diese Verdinglichung und Entfremdung von der vorgängigen Subjektivität dieser Verhältnisse nach sich zieht, notwendig – sie ist eben auch das Positive, daß die Versachlichung die Befreiung von der Natur und die Freiheit der Individuen ist: Im Privateigentum wird „mein Wille als persönlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv“,14 indem ich selbst unmittelbar als Einzelner und „freier Wille mir im Besitze gegenständlich“15 werde. In der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht sich die „in sich unendliche Persönlichkeit des Einzelnen“. Auch in der Sphäre der „Sittlichkeit“ bleibt die Bezugnahme auf andere über Sachen „aufgehoben“, bewahrt. Hinzu tritt dort aber die „allgemeine Sache“, der geistige Boden aller, als da-seiender. Die „Versachlichung“ durch das Eigentum hat bei Hegel einen dialektischen Charakter. In diesem Beitrag soll insbesondere das Phänomen der „Verdinglichung“ von menschlichen „Fähigkeiten, Geschicklichkeiten, Talenten“ etc. – das in besonderer Weise im Zentrum der Kritik steht – nicht in erster Linie unter einem gewissermaßen kulturpessimistischen Blickwinkel betrachtet werden, sondern es soll im Folgenden die (auch) positive Rolle dieses Phänomens Vgl.: TWA 7, §§ 45, 56. Vgl.: TWA 7, § 40. – Vgl. dazu: Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81). A. a. O. 67 ff. 12 Vgl.: TWA 7, § 43. 13 Vgl.: TWA 7, § 33; Zusatz zu § 182. 14 Vgl.: TWA 7, § 46. 15 Vgl.: TWA 7, § 45. 10 11
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konkret weiter herausgearbeitet werden, indem der präzise Ort und Ablauf der „Versachlichung“ der Noch-nicht-Sache benannt wird. Dies heißt nicht, daß „Verdinglichungs-Kritik“ überflüssig würde; vielmehr wäre dieser eine begriffliche Basis zu schaffen, die das „rein Dynamische“, Nichtidentische selbst, dessen Anerkennung es zu bewahren gilt und das immer die Grundlage der Verdinglichung und Identifizierung bleibt, philosophisch aufhellt und fundiert. Dies kann selbstverständlich allein im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden.
II. Überblick Explizit hat das „geistige Eigentum“ bei Hegel seinen zentralen Ort im Systemteil „Das abstrakte Recht“;16 hier geht es um die Bedingungen der Entfaltung des freien Willens als solchen, der unabhängig von den Besonderheiten eines bestimmten Individuums und unabhängig von der normativen Sphäre eines Gemeinwesens gedacht wird. Hegel behandelt das komplexe Phänomen des geistigen Eigentums aber nicht nur an den von ihm selbst in dieser Hinsicht explizit gemachten Stellen. Im Systemteil „Das abstrakte Recht“ geht es um den äußerlichen, abtrennbaren, fungiblen Teil des geistigen Eigentums. In der Moralität geht es um die formellen Aspekte desjenigen, was untrennbar mit den konkreten, besonderen Subjekten als möglicher Inhalt geistigen Eigentums in Frage kommt, betrachtet aus einer handlungstheoretischen Sicht. Da Inhalt immer nur konkret und an bestimmten Trägern dieses Inhalts – Subjekten – vorkommt, ist hier eine Abtrennung wie in „Das abstrakte Recht“ nicht denkbar. Dasselbe gilt für die hier behandelten Abschnitte aus der Phänomenologie des Geistes, wo die begrifflich-notwendige Entwicklung der wesentlichen Formen der möglichen Inhalte geistigen Eigentums stattfindet. Die Sichtweise ist hier jedoch diejenige eines sich erfahrenden Bewußtseins. Im Systemteil „Sittlichkeit“ schließlich wird die reale, konkrete und soziale Rolle geistigen Eigentums sichtbar, als Vermögen z. B. der Familie, in Form der Bildung (als einer notwendigen Institution der bürgerlichen Gesellschaft, deren Voraussetzung und immanenter Schranke) oder als Produktionsfaktor bzw. Konsumgut innerhalb des Systems der (auch geistigen) Bedürfnisse. Schließlich hebt sich der Begriff des geistigen Eigentums auf in die Sphäre des absoluten Geistes – Kunst, Religion, Philosophie –, wo die Werke individueller Schöpfer nur noch hinsichtlich ihrer allgemeinen, wahren Bedeutung relevant sind. Hier kann von „Eigentum“ im eigentlichen Sinn nicht mehr gesprochen werden; die Wirklichkeit des Subjekts in der äußeren Welt – als 16
Vgl.: TWA 7, insbesondere §§ 64–69.
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Kern des Eigentumsbegriffs – ist hier jedoch nicht verschwunden, sondern im Gegenteil voll realisiert. Das Phänomen wird z. B. beim Thema „Phantasie“ in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst behandelt. Der Staat, als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, als das „an und für sich Ver nünftige“, bringt diese Allgemeinheit zur Geltung, etwa durch Pflege der Kultur und Gewährung und Durchsetzung von subjektiven kulturellen Teilhaberechten. Die Institution des geistigen Eigentums anerkennt, daß geistige Schöpfungen zwar Sachqualität annehmen und „verdinglicht“ werden müssen, daß sie damit aber ein „Dasein der Freiheit“ darstellen; gleichzeitig wird anerkannt, daß ein „geistiges Band“ zwischen dem Schöpfer und seinem Werk besteht und auch nach einer Veräußerung bestehen bleibt, was bei normalem, körperlichem Eigentum so nicht notwendig der Fall ist. In der Sekundärliteratur hat die Hegelsche Abhandlung des geistigen Eigentums in ihrem Eigenwert, soweit erkennbar, nur relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. In Schnädelbachs Kommentar zu Hegels „praktischer Philosophie“ finden sich zu diesem Thema nur die folgenden, knappen Ausführungen: Schnädelbach erklärt Hegels Behauptung, daß der Mensch sich durch Bildung und Sich-selbst-Erfassen selbst in Besitz nehme und das „Eigentum seiner selbst wird“, knapp zur bloßen Metapher: „[N]iemand wird in demselben Sinne ‚Eigentum seiner selbst‘, wie es das eigene Haus oder ein Buch Eigentum sind.Verdeutlicht wird dies durch Hegels These, daß nur das am Menschen veräußerbar ist, was er als Äußeres von sich abtrennen kann: also nicht Fähigkeiten, sondern nur deren Anwendungen und Resultate sind veräußerliches Eigentum […].“17
III. Geistiges Eigentum im Systemteil „Das abstrakte Recht“ Zunächst werden nun das Rechtsinstitut des geistigen Eigentums in Hegels Philosophie umrissen und seine wesentlichen Züge dargestellt. Anschließend wird insbesondere auf die Ausführungen zur Sachqualität geistigen Eigentums eingegangen. Das Konzept der „Bildung“ in diesem Zusammenhang wird daran anschließend dargestellt. Hegel behandelt im Systemteil „Das abstrakte Recht“18 das geistige Eigentum („Kunstwerke, Bücher, Erfindungen“19) im Abschnitt über „Die EntäusseVgl.: Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung. A. a. O. 209. 18 Vgl.: TWA 7, §§ 66 ff., insbesondere §§ 68 und 69. 19 Dieses und die folgenden Zitate vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift K. G. v. Griesheims 1824/25. – In: Ders.:Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 1818–1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting. Vierter Band. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 232. (Im Folgenden: 1824/25) 17
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rung des Eigenthums“20 im direkten Zusammenhang mit den unveräußerlichen und unverjährbaren Gütern: den Menschenrechten, der zeitweisen Veräußerung der Arbeitskraft sowie dem Selbstmord, der die Entäußerung des gesamten Umfangs meiner Tätigkeit – des eigenen Lebens – darstellt. Geistiges Eigentum, so stellt sich heraus, ist aber gerade dasjenige Eigentum, das nicht vollständig entäußert werden kann bzw. über das der einzelne, subjektive Wille im Verlauf des weiteren Schicksals des Eigentumsobjekts mit diesem verbunden bleibt. In den Grundlinien führt die Besitznahme des Körpers und des Geistes durch Bildung und Gewöhnung zum „innere[n] Eigentum des Geistes“;21 bereits hier tritt in Hegels System demnach das geistige Eigentum auf.22 Hegel unterscheidet zur näheren Bestimmung des geistigen Eigentums zunächst zwischen Dingen, die, wenn sie einmal hergestellt worden sind, sogleich wieder nachgemacht werden können: „[J]eder kann ein gedruktes Buch nachdrucken. Andere Produkte führen dieß nicht mit sich z. B. Kunstwerke, Gesang, theatralische Darstellung, jede Kopie, bleibt immer nur Kopie.“23 Die „Figuren auf dem Papiere“, so Hegel, seien „ganz äusserliche Sachen, während der gesungene Ton noch eine Modifikation der Subjektivität ist. Jene Zeichen einer Vorstellung geben zugleich die Vorstellung selbst […].“24 Diese letzteren Dinge sind demnach solche, zu denen die persönliche Art der Darstellung notwendig gehört.25 In den Grundlinien26 beschreibt Hegel zunächst, daß der Erwerber eines Werkexemplars daran das volle Eigentum erhalte,27 daß aber das geistige Eigentum (z. B. das Vervielfältigungs-, Bearbeitungs-, Veröffentlichungs- oder Verbreitungsrecht) beim Werkschöpfer verbleibe. „Die erste Frage ist, ob eine solche Trennung des Eigentums der Sache von der mit ihr gegebenen Möglichkeit, sie gleichfalls zu produzieren, im Begriffe zulässig ist und das volle, freie Eigentum (§ 62) nicht aufhebt […]“.28 Die Möglichkeit des Veräußerers, Vgl.: 1824/25, 224–246. Vgl.: TWA 7, § 43. 22 Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 40. 23 Vgl.: 1824/25, 232. 24 Vgl.: 1824/25, 232. 25 In diesem Zusammenhang gehört folgende Anmerkung: Hegel ging in Berlin oft und gerne in die Oper, und spätestens auf seiner Reise nach Wien 1824 wurde er zu einem begeisterten Anhänger der Italienischen Oper, wobei offenbar seine gesamte Aufmerksamkeit dem Gesang und den Sängern – nicht z. B. der Inszenierung oder dem Bühnenbild – galt. In männlichen Stimmen sah er das Wirken vollendeter Freiheit, und er betrachtete die Sänger als dem eigentlichen Komponisten gleichrangige Schöpfer der Musik. – Im heutigen Recht sind Sänger als „ausübende Künstler“ – nicht als „Urheber“ – geschützt, wobei der Schutzumfang in weiten Teilen demjenigen des Urhebers entspricht. 26 Vgl.: TWA 7, § 69. 27 Vgl.: TWA 7, § 62. 28 Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 69. 20 21
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auch diese Rechte übertragen zu können, ist die Seite an der Sache, „wonach diese nicht nur eine Besitzung, sondern ein Vermögen ist […]“.29 Die genannte Trennung ist jedoch zulässig, da sie den sachlichen Gebrauch der veräußerten körperlichen Sache nicht einschränkt; es gibt keinen „Vorbehalt einer Herrenschaft ohne utile.“ 30 Zum Umfang der Dinge, die zu geistigem Eigentum werden können, äußert sich Daniel Stengel in seinem Beitrag. Es sei, so Stengel zunächst, im Falle des geistigen Eigentums nach Hegel nicht notwendig, den Willen quasi „von außen“ in den Gegenstand zu legen, um Eigentum an ihm zu erwerben, weil bereits der Prozeß des Äußerlichmachens von Innerem als solcher ausreiche „to put the will in the object“.31 Wie beim körperlichen Eigentum könne auch alles zu geistigem Eigentum werden. Dies treffe, so Stengel, nicht zu auf Sachen, die bereits äußerlich gemacht wurden; so verweigere Hegel32 sprachlichen Zeichen die Fähigkeit, Eigentum zu werden, da sie bereits innerhalb der Gesellschaft existierten. Sie seien kein Produkt eines Einzelnen, da der individuelle Geist nur Gebrauch von diesen mache. Dies scheint zunächst gegen die Möglichkeit einer Integration z. B. des moder nen Kennzeichen-(Marken-)Rechts in das Hegelsche System zu sprechen, in dem auch an sprachlichen Zeichen Einzelnen Monopolrechte gewährt werden.Wie sich weiter unten im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Phänomenologie des Geistes ergibt, ist solch eine Integration jedoch nicht zwingend ausgeschlossen. In den Grundlinien33 beschreibt Hegel die Arten, Eigentum zu erwerben und wählt dabei einen „Gang von Äußerem zu Innerem“: Nach der unmittelbaren Besitzergreifung gibt es die Besitzergreifung, die im Gebrauch geschieht und die ein Äußeres in Besitz nimmt (aber kein unmittelbares Äußeres mehr). Schließlich kann Eigentum durch eine Besitzergreifung erworben werden, die nicht nur Besitzergreifung, sondern auch Her vorbringung der Sache ist. „Erwerbung von Eigentum α) abstrakt: Entäußerung, β) Äußerung als Produktion […]. Das innerlich Meine – Reflexion in mich. Gebrauch und unmittelbare Besitzergreifung in einem.“34 In der Begründung „inneren Eigentums des Geistes“ fallen demnach Konsumtion und Produktion zusammen. Ich nehme vom „innerlich Meine[n]“ Besitz (ich konsumiere), und ich begründe daran geistiges Eigentum (ich produziere).
29 30 31 32 33 34
Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 69. Vgl.: Ebd. Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 41. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 68. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 66. Vgl.: Ebd.
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Plagiat und Ehre Hegel anerkennt, daß es die zwar „bloß negative, aber allererste Beförderung der Wissenschaften und Künste ist, diejenigen, die darin arbeiten, gegen Diebstahl zu sichern und ihnen den Schutz ihres Eigentums angedeihen zu lassen; wie die allererste und wichtigste Beförderung des Handels und der Industrie war, sie gegen die Räuberei auf den Landstraßen sicherzustellen.“35 Es ist dies das wirtschaftspolitische, utilitaristische Argument, das auch die heutigen Debatten um das geistige Eigentum dominiert und das der Rechtfertigung der ständigen Verschärfung des Schutzes gegen „Raubkopien“ etc. dient. An dieser Stelle erstaunt es ein wenig, daß Hegel sich des Terminus „Diebstahl“ bedient – denn von einem solchen kann in diesem Zusammenhang wohl nur metaphorisch gesprochen werden, da die Sache selbst niemandem weggenommen wird. Gerade dies zeigt Hegel ja in seiner Philosophie. Hegel legt im Folgenden dar, daß ein „Geistesprodukt die Bestimmung hat, von anderen Individuen aufgefaßt und ihrer Vorstellung, Gedächtnis, Denken usf. zu eigen gemacht zu werden […].“36 Dies trifft „am bestimmtesten bei positiven Wissenschaften, der Lehre einer Kirche, der Jurisprudenz usf.“ zu. Hegel sieht hier, daß der letztendliche Sinn geistiger „Produkte“ einzig darin liegt, daß sie von anderen „nachgedacht“ und in Gebrauch genommen werden, daß sie die Basis des Lernens für andere werden. Das aus der aktuellen rechtspolitischen Debatte um das geistige Eigentum bekannte „Standing-on-the-shoulders-ofgiants“-Argument liegt hier nahe, nach welchem jede geistige Produktion in ihrem größten Teil von den Vorarbeiten unzähliger Vorgänger abhängt. Hier, so Peter Drahos, erkenne Hegels Analyse die Notwendigkeit einer positiv-rechtlich abgesicherten intellektuellen Allmende (intellectual commons) an.37 Jede erneute Äußerung dieses so Angeeigneten macht dieses zu einer veräußerbaren Sache, und diese hat „immer leicht irgendeine eigentümliche Form“. Damit entsteht – nach Hegel letztlich zu Recht – dem Individuum das Vermögen dieser Produktion und das entsprechende Vervielfältigungs-, Verbreitungsrecht etc. „Inwiefern solche Wiederholung in einem schriftstellerischen Werke ein Plagiat werde,“ lasse sich nicht genau bestimmen und gesetzlich festlegen. Irgendetwas des eigenen „Inneren des Geistes“, so Hegels Meinung, bleibe immer an einem neu hervorgebrachten Werk hängen. Und damit, so Hegel, entstehe rechtlich gesehen ein neues Werk, neues geistiges Eigentum. Hegel folgert daraus, daß es eine Sache der Ehre sein müsse, Plagiate zu unterlassen. Allerdings traut Hegel der Ehre als Mittel gegen das Plagiat nicht allzu viel zu. 35 36 37
Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 69. Vgl.: Ebd. Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. Dartmouth 1996. 82.
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Er konstatiert, daß es aufgehört zu haben scheint, gegen die Ehre zu sein, ein Plagiat zu begehen. Der Erwerber eines Werkstücks kann sich also nicht nur den darin verkörperten geistigen Gehalt, seine wesentliche Form zu eigen machen, in sein „Inneres des Geistes“ übernehmen, sich daran bilden, sondern er kann gleich von diesem „Allgemeinen“ wieder in der Form Gebrauch machen, daß er die Sache erneut produziert, sie schlicht vervielfältigt. Dies sei bei Künstlern und ihren Kunstwerken aber immer mit soviel „eigenem“ „Inneren des Geistes“ verbunden, daß „ein Nachmachen derselben wesentlich das Produkt der eigenen geistigen und technischen Geschicklichkeit ist“, und demnach kein Plagiat vorliegt, sondern eine eigene Schöpfung – eine „unabhängige Bearbeitung“, in der das alte Werk „verblaßt“, wie es im aktuellen deutschen Urheberrecht heißt. Dies gelte nach Hegel aber nicht für Werke, wo nur die Form mechanisch reproduziert werde, also bei einfachem Nachdrucken. „[S]olche Sachen als Sachen zu produzieren, gehört unter die gewöhnlichen Fertigkeiten. Zwischen den Extremen des Kunstwerks und der handwerksmäßigen Produktion gibt es übrigens Übergänge, die bald mehr, bald weniger von dem einen oder dem anderen an sich haben.“ Von diesen Übergängen leben die auf das Urheberrecht spezialisierten Juristen. Stengel behandelt in seinem Aufsatz Hegels Auffassungen zum Problem des Plagiats. Er betont, daß Hegel die Ehre als Mittel anempfehle, um überhaupt etwas Vernünftiges in diesem Bereich vorhalten zu können. Denn wenn dennoch der Versuch gemacht werde, hier mit allgemeinen Gesetzen zu Bestimmungen zu kommen, so würden diese notwendig zu einer willkürlichen Anwendung führen. Insofern ziehe Hegel die Ehre einem willkürlich angewandten Gesetz vor. Das Konzept Hegels, Plagiate durch die Anwendung der Ehre der Beteiligten zu vermeiden, hält Stengel jedoch nicht für überzeugend. Ehre als moralisches Konzept „schwebe frei“ über seiner sonstigen Theorie. Zwar sei der Schutz auf moralischer Ebene an sich kein Problem; nur als alleinige Lösung sei er unzureichend.38 Festzuhalten ist, daß mit dem Verweis auf die Ehre an dieser Stelle letztlich die Sphäre des abstrakten Rechts verlassen wird und das gesamte Korpus gesellschaftlicher Anschauungen und Sitten einfließt, das den Inhalt der Ehrvorstellungen ausmacht. Im heutigen positiven Recht findet sich eine unübersehbare Kasuistik dazu, wann ein Werk ein Plagiat oder eine sog. „selbständige Bearbeitung“ darstellt.
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Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 43.
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Wert In den Grundlinien findet sich Folgendes: „Es ist zweierlei Bestimmung, – Benutzung, – was ist die direkte Bestimmung des Verkaufs eines Exemplars? Verkauft nur das, was und insofern es Gedanken vorstellt – diesen Wert, – nicht den andern Wert, der die Vervielfältigung in sich schließt – dieser Wert ein weiteres Vermögen […] – Mein soll bleiben das Äußerliche, Wert – zum Tausche – als Vermögen.“39 Stengel weist darauf hin, daß nach dem Äußerlichmachen des Inneren der Schöpfer dieses geistigen Eigentums ein volles, ungeteiltes Eigentum an diesem genieße. Gestützt auf § 62 führt Stengel aus, daß sich daraus ergeben könnte, daß nach Hegel nach der Veräußerung eines Gegenstandes geistigen Eigentums der vorherige Eigentümer keinerlei Rechte an diesem Gegenstand zurückbehalten könne. So müsse der neue Eigentümer eines Buches konsequenter Weise berechtigt sein, das Buch zu vervielfältigen, da er ja an diesem das volle und unbeschränkte Eigentum erworben habe.40 Dieses Ergebnis habe Hegel nicht befriedigen können. Die Lösung sieht Stengel in Hegels Konzept des Wertes. In § 63 erkläre Hegel, daß der Eigentümer dies sowohl hinsichtlich des Gebrauchs wie des Wertes der Sache sei. Gegenstände geistigen Eigentums hätten, so Stengel, bei Hegel zwei Werte: Den eben genannten sowie den Wert, der darin bestehe, die Sache vervielfältigen zu können. Der neue Eigentümer könne das volle und unbeschränkte Eigentum an der Sache genießen auch ohne dieses Recht zur Vervielfältigung, weil der neue Eigentümer diesen zweiten Wert, das Vervielfältigungsrecht, nicht benötige. Dieser zweite Wert werde nicht mit dem Werkstück verkauft. Der Verkäufer eines Werkstücks möchte nicht nur den ersten Wert, denjenigen des Gebrauchs der Sache, sondern auch einen Wert erhalten, der seinen in dem Werkstück verkörperten Ideen, Gedanken etc. entspräche. Der genannte „zweite Wert“ werde von Hegel jedoch nicht klar definiert.41 Dieser zweite Wert, so Stengel, hänge nach Hegel einmal vom Geschmack des Publikums („Der schlechteste Roman kann insofern mehr Wert haben als das gründlichste Buch […].“42) und des weiteren vom getätigten „financial investment“ des Urhebers ab. So platziere Hegel geistiges Eigentum „direkt im Markt“.43 Ästhetischer Wert etc. spiele an dieser Stelle keine Rolle. Wenn dieser zweite Wert zunächst den in das Werk getätigten Investitionen entspräche, so Stengel weiter, dann könnte eine urheberrechtliche Beschränkung eines ver-
39 40 41 42 43
Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 69. Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 42. Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 45. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 64. Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 42.
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äußerten Werkes nur so lange als gültig angesehen werden, bis die getätigten Investitionen wieder „eingespielt“ seien. Die Bestimmung des Wertes aufgrund des „Verkaufs“ und des „Geschmacks des Publikums“ würde diesen Wert auf der anderen Seite sehr unbestimmt und variabel halten. Hier wäre eine Bestimmung der Rechte des Werkstück-Erwerbers kaum möglich. Hegel schreibt weiter: „Ich will den Wert, das was es mich gekostet hat, dafür erhalten –“.44 Stengel versteht diese Stelle so, daß hier der „innere“ Wert – der zum äußeren „Markt-“Wert hinzutritt – gemeint ist, der spezifisch für das geistige Eigentum ist. Zu verstehen sind die Hegelschen Ausführungen wohl so, daß hier einerseits der Tauschwert der körperlichen Sache, andererseits der Tauschwert der geistigen Sache dargestellt wird. Der Plagiator bringt den Urheber um den Tauschwert der geistigen Sache. Daß Hegel implizit auch von einem Gebrauchswert einer geistigen Sache ausgeht, wird weiter unten dargestellt.
Verjährung (insbes. § 64 der Grundlinien) Das Äußern des Willens (durch Gebrauch, Benutzung etc.) fällt in die Zeit. Ohne dieses Äußern verschwindet der Wille aus der Sache, die damit herrenlos wird. Auch der quasi innere Wert der Sache, der Wert der sich an die Übereinstimmung des Inneren der Sache mit dem „inneren Eigentum des Geistes“ des Werkschöpfers knüpft, entfällt ohne die „subjektive Gegenwart des Willens“. So begründet sich die Tatsache, daß geistiges Eigentum verjährt. Dies gilt auch für „öffentliche Denkmale“, die „durch die ihnen inwohnende Seele der Erinnerung und der Ehre als lebendige und selbständige Zwecke“ gelten. Wenn diese „Seele“ entfalle, werden die Denkmale herrenlos und zufälliger Privatbesitz.Verjährtes privates geistiges Eigentum werde dagegen herrenlos, indem es in allgemeines Eigentum, ins Allgemeingut, übergehe, wobei der Gebrauch desselben in zufälligen Privatbesitz falle. In den Notizen findet sich: „Gehört zu Wert – Verjährung durch Verschwinden des Werts – ebenso Privateigentum der Schriftsteller – Bewegliche Werte – überhaupt Veränderung des Werts.“45 Dies könnte so zu verstehen sein, daß eine Verjährung – und damit das Übergehen in allgemeines Eigentum – von geistigem Eigentum auch so stattfinden kann, daß der äußere Wert der Sache, ihr Wert auf dem Markt, verschwindet. Dies kann entweder so geschehen, daß die Sache nicht mehr nachgefragt wird, weil die Bedürfnisse, deren Befriedigung die Sache gedient hat, nicht mehr bestehen, oder dadurch, daß das Angebot keiner Knappheit mehr unterliegt (durch quasi kostenlose Vervielfältigung). 44 45
Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 68. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 64.
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Auch die Öffentlichkeit hat ein Recht an einem geistigen Erzeugnis, das dem Recht des Verfassers zuwider laufen kann, was Hegel als zusätzliche Begründung der Verjährungsregel des Urheberrechts präsentiert. Das Urheberrecht „verjährt [nach einer gewissen Zeit, nachdem der lebendige Zusammenhang des Schriftstellers mit seinen Werken durch seinen Tod beendet wurde, W. B.], das Buch wird Eigenthum des Publikums, der Nation, der Welt, es ist ein Mittel der Belehrung, der Ergötzung des Publikums, dieß hat das Recht zu verlangen daß es vervielfältigt werde. Dieß ist ein zu beachtendes Verhältniß.“46 Die Menschen eigneten sich bestimmte Informationen an, und so werden diese ein Teil des „memory of society“, so Stengel. Hegel sage nicht, daß nun jeder auch ein Vervielfältigungsrecht an dem entsprechenden Werke habe; aber, so Stengel, „it would be like a denial of culture to deny individuals to use the topic, i. e. the work.“47 Dieser Prozeß könne jedoch frühestens nach dem Tode des Urhebers einsetzen. Dann jedoch könne dieser langsame Prozeß der Aneignung auch Urheberrechte, die noch aktiv verfolgt würden (durch Erben etc.), beschränken. Die Integration dieses Prozesses des langsamen Verschwindens des Urheberrechts, der der Rechtswirklichkeit in Deutschland entspricht, ist eine besonders bemerkenswerte Leistung der Hegelschen Theorie.
Änderungen am Werk Weiter legt Hegel dar, daß dem Schriftsteller das Recht bleibt, an dem Werk Änderungen vorzunehmen, auch nachdem er es veräußert hat. Hegel identifiziert das Spezifikum des geistigen Eigentums in der Subjektivität des Schöpfers des Werkes, die in diesem ihre Darstellung und überhaupt erst ihr Dasein findet. Dadurch steht der Schöpfer in einem Zusammenhang mit seinem Werk, der auch nach der Entäußerung der Sache bestehen bleibt. Ein Erfinder oder Schriftsteller hat „mit dem produzirten Werk seine Vorstellungsweise, seinen Geist, seine Gedanken, sich selbst gezeigt für Andere, seine Subjektivität. Und wie er sich zeigt ist es ein Gebilde worin er sich gegeben hat, woran er noch ändern kann, so lange er lebt hat noch nicht das letzte Wort gesprochen. […] Der Schriftsteller hat so das Recht Veränderungen an seinen Werken vorzunehmen.“48 Das Publikum dürfe andererseits sich an ältere Ausgaben halten, auch wenn der Autor nur noch seine neue, geänderte Ausgabe vertreiben will. Im geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland findet sich dieses Recht – als eines 46 47 48
Vgl.: 1824/25, 237. Vgl.: Daniel Stengel: Intellectual Property in Philosophy. A. a. O. 44. Vgl.: 1824/25, 236.
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der wenigen, die Hegel nennt – nicht wieder: Der Urheber hat grundsätzlich das Recht, seine Werke, wenn sie unberechtigt in Umlauf gekommen sind, zu vernichten. Wahrscheinlich sind Hegels Ausführungen aber besser so zu verstehen, daß die älteren Ausgaben sich auf solche beziehen, die berechtigt in Umlauf sind – bezüglich dieser hat der Autor natürlich auch heute kein Recht, deren Nutzung zu untersagen.
Persönlichkeit im Werk und dessen Entäußerung (insbes. §§ 66–68 der Grundlinien) „Besonders interessant ist dieser Gegenstand in Beziehung auf die Entäusserung. Ich habe es hier mit einem Allgemeinen zu thun, noch mehr ist mein Eigenthum allgemein, insofern es Produkt meines Geistes ist. In dieser Rücksicht ist näher die Frage zu betrachten, in wiefern ich dergleichen veräussern kann und ob darin nicht etwas ist, was ich nicht veräussern kann, ein Allgemeines welches mir zwar objektiv wird, dessen Eigenthümer ich aber immer bleibe. Das Eigenthum enthält etwas Allgemeines, und zwar geistiger Natur, das aus meinem Inneren kommt.“49 Unveräußerlich sind nach Hegel die substantiellen Bestimmungen der Person, die das „allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion.“ Denn es besteht im Falle der Entäußerung dieser substantiellen Bestimmungen der absolute – nicht vermittelbare – Widerspruch, „anderen meine Rechtsfähigkeit, Sittlichkeit, Religiosität in Besitz gegeben zu haben, was ich selbst nicht besaß und was, sobald ich es besitze, eben wesentlich nur als das Meinige und nicht als ein Äußerliches existiert.“ Nur Dinge, die „zeitlich, vergänglich, sterblich sind – der Natur unterworfen“, können überhaupt äußerlich gemacht werden und Eigentum eines anderen sein. Nach Hegel kann nie das Ganze der „durch die Arbeit konkreten Zeit“ einer Person – und damit die Persönlichkeit selbst – veräußert und Eigentum eines anderen werden. Lediglich einzelne Produktionen können veräußert, und einem anderen kann ein in der Zeit beschränkter Gebrauch der eigenen „Möglichkeiten der Tätigkeit“ gewährt werden. Dies ist möglich, da die Beschränkung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ein bloß „äußerliches Verhältnis zu meiner Totalität und Allgemeinheit“ gewährleistet. Die Gesellschaft beschränkt sich eben auf endliche Sachen, und das heißt auch, daß alles wesentlich Nicht-Sachliche, der Einzelne als Persönlichkeit, von der Gesellschaft frei ist, zum voll entfalteten Subjekt in diesen von der Gesell-
49
Vgl.: 1824/25, 230 f.
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schaft freien Bereichen zu werden.50 Moderne Tagelöhner können sich, anders als Sklaven, nicht selbst als Sache verkaufen, sondern nur ihre Arbeitskraft, und diese nur auf Zeit. Die Unveräußerlichkeit der Persönlichkeit wird zur unübersteigbaren Schranke von Herrschaft. Freiheit wird so zum uneingeschränkten Prinzip der Gesellschaft, auch in den von Macht und Herrschaft geprägten Aspekten. „Der Freie als Person erhält die über die Gesellschaft und ihre Sachwelt hinausgehende Freiheit, sein Leben als sein eigenes zu haben und als Persönlichkeit er selbst zu sein.“51 Justin Hughes sieht die zentrale Schwachstelle in Hegels Theorie des geistigen Eigentums in der Behandlung der Entäußerung geistigen Eigentums. Der Hegelschen Konzeption der Entäußerung gesteht Hughes „some intuitive appeal“ zu, „especially in a barter-exchange framework.“52 Denn zwei Menschen würden Sachen „Zug-um-Zug“ tauschen, wenn „each thinks her own personality would be better expressed through the object presently owned by the other.“53 So vergrößere jeder der Beteiligten die Verwirklichung seiner „personality“. In einer „money economy“ verliere diese Konzeption jedoch ihren Reiz. Dort werde Eigentum wegen seines Wertes und gegen seinen Wert entäußert, um diesen dann in Sachen zu investieren, die einen profitableren „personality“-Zuwachs versprächen. Das Problem besteht jedoch nach Hughes darin, daß Entäußerung im Hegelschen Sinne nicht bloßes Aufgeben der Sache meine. Das Recht, X zu entäußern, beinhalte das Recht, zu einem gewissen Teil das zukünftige Schicksal von X zu bestimmen. Eigentlich werde nur der Empfänger der Sache bestimmt – aber „in practice“ etabliere der Akt der Entäußerung üblicher Weise klare Wahrscheinlichkeiten bezüglich des weiteren Schicksals der Sache selbst. Hughes bringt Beispiele eines Verkaufs eines Pferdes an eine Leim-Fabrik oder von Waffen an Terroristen.54 „This is the paradox of alienation under the personality model of proper ty.“55 Der gegenwärtige Eigentümer habe Eigentum, weil er die Sache als einen Ausdruck seines Selbst betrachte. Entäußerung sei die Zerstörung dieser Verbindung. Dadurch entfalle die Basis für das Eigentum. Wenn also ein Eigentümer vorhabe, die Sache zu entäußern, dann entfalle – weil diese innere Verbindung schon in der Vorwegnahme der Entäußerung Schaden nehme – die Basis für das Eigentums- und damit das Veräußerungsrecht an der Sache. Das Vgl.: Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81). A. a. O. 70. 51 Vgl.: Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81). A. a. O. 71. 52 Vgl.: Justin Hughes: The Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 153. 53 Vgl.: Ebd. 54 Vgl.: Justin Hughes: The Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 154. 55 Vgl.: Ebd. 50
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Hegelsche Modell funktioniere demnach nicht, wenn es um die vorhersehbare und bevorstehende Zerstörung des Ausdrucks von „personality“ gehe (durch den Akt der Entäußerung). Die Veräußerung (hier „abandonment“) einer „idea“ bedeute die Veräußerung von „personality“ – und diese sei in Hegels System verboten. Hughes sieht eine Analogie zur Sklaverei oder zum Selbstmord – ein ganzes Stück geistigen Eigentums bedeute bei Hegel einen zu großen Teil an „Allgemeinheit“ des Individuums, als daß die Veräußerung erlaubt sein könne. „He seemed to identify the intellectual object as an ongoing expression of its creator, not as a free, abandonable cultural object.“56 Unterstützenswert sei diese Ansicht hinsichtlich der Möglichkeit, daß auch nach der Abtrennung eines solchen Objekts der Urheber sich mit diesem immer noch weit genug identifiziere, daß er bestimmten Nutzungsarten entgegentreten können muß.57 Hughes Vorschlag in diesem Zusammenhang besteht darin, daß die persönlichkeitsrechtliche Fundierung von Eigentum lediglich für die Begründung des Bestandsschutzes von Eigentum, nicht aber für dessen Austausch tauge. Hughes wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien festzustellen sei, wann Eigentum der Selbstverwirklichung der Person diene und wann nicht. Er tut dies in einem Diskussionszusammenhang, in dem er – traditionell utilitaristisch – darstellt, wie verschiedene Grade an Selbstverwirklichung verschiedener Marktteilnehmer gegeneinander aufgerechnet werden können, um eine bestimmte Eigentumsverteilung rechtfertigen oder kritisieren zu können.58 Hier zeigt sich eine zentrale Schwäche seines Ansatzes: Hughes bildet die weitere Entfaltung der Freiheit in Form konkreter Inhalte und Zwecke der Person bzw. des Subjekts im Systemteil „Moralität“ und „Sittlichkeit“ nicht adäquat ab. Er bleibt letztlich bei einer „formalen“ Betrachtungsweise stehen, die die Auseinandersetzung mit dem konkreten Inhalt der Freiheit und damit auch des (geistigen) Eigentums vermeidet. Gerade darin liegt aber die Stärke des Hegelschen Ansatzes. Hughes scheint im übrigen hinsichtlich seines proklamierten Veräußerungsverbots von geistigem Eigentum nicht scharf genug zwischen dem äußerlich – d. h. zur Sache – gemachten „inneren Eigentum des Geistes“, das beim Schöpfer eines Werkes verbleibt, und dessen Veräußerung – Übertragung an andere – zu unterscheiden.
56 57 58
Vgl.: Justin Hughes: The Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 157. Vgl. z. B. das Entstellungsverbot im geltenden Recht. Vgl.: Justin Hughes: The Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 147.
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Die Sachqualität geistigen Eigentums Für das geistige Eigentum wesentliche Begriffe werden von Hegel in den Abschnitten vor der Behandlung des eigentlichen geistigen Eigentums dargestellt. Dabei geht es insbesondere um die Frage, inwiefern ein „Inneres“ – wie „Fähigkeiten, Geschicklichkeiten, Talente“ etc. – überhaupt zu einer „Sache“ werden kann, die dann „in der Zeit“ veräußert werden kann. Umgekehrt geht es um die Frage, wie aus natürlichen oder äußerlich gemachten „innerlichen“ Sachen erneut „Inneres“, „inneres Eigentum des Geistes“ entsteht (nämlich durch die Aneignung der wesentlichen Form einer Sache, insbesondere im Gebrauch). Zunächst geht es um die Klärung der Frage, was überhaupt Gegenstand geistigen Eigentums sein kann. Gegenstand von Eigentum können nur Sachen sein. Wie kann ein Gegenstand geistigen Eigentums als Sache begriffen werden? Wie kann also etwas, das bereits dem freien Geist angehört (Talente, Geschicklichkeiten etc.), zu etwas werden, dem „Geistigkeit“, Reflexivität gerade fehlt? Einer Sache fehlt begrifflich-notwendig (explizite) Subjektivität. Dadurch ist sie aber nicht bloß dem Subjekt ein Äußerliches, in das es seinen Willen hineinlegen kann. Mangels der reflexiven Struktur der Subjektivität ist die Sache „sich selbst das Äußerliche“. Dieser Sachverhalt ist durch eine grammatikalisch-reflexive Formulierung kaum adäquat auszudrücken; denn Reflexivität fehlt ja gerade. In der Vorlesung vom Wintersemester 1824/25 führt Hegel an dieser Stelle aus, daß die Sache „nicht blos relativ auf den Geist, sondern auch an [[und für]] sich, ihrer Natur nach [das Äußerliche ist, W. B.]. Dieß ist eine Grundbestimmung, daß wie etwas sich zum Geist verhält, es auch an sich ist.“59 In den Grundlinien wird weiter erläutert: „Raum und Zeit sind auf diese Weise äußerlich. Ich, als sinnlich, bin selbst äußerlich, räumlich und zeitlich. Ich, indem ich sinnliche Anschauungen habe, habe sie von etwas, das sich selbst äußerlich ist.“60 Die nähere Aufklärung dessen, was Hegel mit der Äußerlichkeit der Sache meint, kann letztlich nur in Auseinandersetzung mit seiner Naturphilosophie geschehen, die hier nicht geleistet werden kann. Dort – in der „Mechanik“ – wird begründet, daß natürliche Systeme immer zu einem außerhalb ihrer selbst gelegenen Mittelpunkt streben. Das Ziel solcher „äußerlicher“ Systeme ist denselben extern. Insofern ist sich die Äußerlichkeit selbst äußerlich. In Organismen und letztlich im selbstbewußten Wesen dagegen liegt das Ziel in diesen selbst, und diese sind deshalb keine bloßen Sachen.61 In den Grundlinien beschreibt Hegel die Sache als Eigentum genauer: Er unterscheidet zwischen einer Sache, die „als äußerlich mein“ Eigentum ist, und 59 60 61
Vgl.: 1824/25, 182. Vgl.: TWA 7, Zusatz zu § 42. Vgl.: Terry Pinkard: Hegel. A Biography. Cambridge 2000. 574 f.
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einer Sache, die Eigentum des Geistes „als nicht äußerlich – sondern gerade die Äußerlichkeit aufgehoben und mir innerlich angeeignet –“62 ist. Unmittelbarkeit hat eine Sache in drei verschiedenen „Arten des Äußerlichen“: 1. Sachen, die nur äußerlich abstrakt, gegen mich seiend sind (also die „normalen“ natürlichen Gegenstände); 2. Sachen, die „der natürlichen Existenz äußerlich und zugleich mir ohne Gegensatz angehörig“ sind (mein Körper); und 3. „Geistiges, – durch mich [erst, W. B.] zur Äußerlichkeit herabgesetzt.“ Dies Geistige ist zunächst innerlich, und ich mache es nur äußerlich, um es zu veräußern. Umgekehrt mache ich bei der Erwerbung einer solchen geistigen Sache „Äußerliches zu dem Meinen“. Weiter schreibt Hegel in den Grundlinien, daß „[g]eistige Geschicklichkeiten, Wissenschaften, Künste, selbst Religiöses (Predigten, Messen, Gebete, Segen in geweihten Dingen), Erfindungen usf.“ Vertragsgegenständen, „anerkannten Sachen in Weise des Kaufens, Verkaufens usf. gleichgesetzt“63 werden. Man könne aber fragen, „ob der Künstler, der Gelehrte usf. im juristischen Besitze seiner Kunst, Wissenschaft, seiner Fähigkeit, eine Predigt zu halten, Messe zu lesen usw. sei, d.i. ob dergleichen Gegenstände Sachen seien.“64 Der Verstand könne über die juristische Qualifikation dieser Sachen in Verlegenheit geraten, „da ihm nur der Gegensatz: daß etwas entweder Sache oder Nicht-Sache (wie das Entweder unendlich, Oder endlich)“65 sei, vorschwebe. Diese Kenntnisse, Wissenschaften, Talente usf. seien zunächst „dem freien Geiste eigen und ein Innerliches desselben“; aber durch die Äußerung gibt der freie Geist diesen ein äußerliches Dasein und kann sie veräußern, „wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden. Sie sind also nicht zuerst ein Unmittelbares, sondern werden es erst durch die Vermittlung des Geistes, der sein Inneres zur Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit herabsetzt.“66 Das „Innere des Geistes“ ist nicht da, existiert nicht, ohne daß es sich hervorbringt, sich äußert. Erst in der Äußerung gewinnt das „Innere des Geistes“ Dasein. „Der Geist ist nicht, sondern was er ist, das ist nur sein Hervorbringen. Dies macht es zu dem Meinigen durch mich und für mich, daß ich es hervorbringe, dadurch nehme ich es in Besitz […].“67 Bei seinen Ausführungen in den Grundlinien hat Hegel offensichtlich eine hier vorliegende Äquivokation zunächst nicht hinreichend bedacht, was eine spätere handschriftliche Notiz erkennen läßt. Denn der systematisch später eingeführte Begriff der „Veräußerung“ ist „das Aufgeben eines schon Äußerlichen, Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 42, Anmerkung. Vgl.: TWA 7, § 43. 64 Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 43. 65 Vgl.: Ebd. 66 Vgl.: Ebd. 67 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22. Herausgegeben von Hansgeorg Hoppe. Frankfurt a. M. 2004. 61. (Im folgenden: 1821/22) 62 63
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das mein Eigentum ist“ (nämlich – in bezug auf geistiges Eigentum – zur Sache gemachtes „inneres Eigentum des Geistes“). Hier geht es aber zunächst um das Äußerlichmachen, das Zur-Sache-machen selbst – Hegel spricht in der Notiz von „Äußern“ – eines noch erst Innerlichen. Durch das Äußerlichmachen des „Inneren des Geistes“ wird dieses zur Sache, zum „inneren Eigentum des Geistes“; dieses ist per se zunächst meine Sache. Diese Sache kann dann in einem weiteren Schritt – an andere per Vertrag – veräußert werden. Eine weitere Facette des Themas scheint Hegel in der Vorlesung im Wintersemester 1824/25 erläutert zu haben, jedenfalls deutet dies von Griesheims Mitschrift an. „Drittens ist aber noch dieser Gegensatz vorhanden, daß nämlich diese geistigen Fähigkeiten Möglichkeiten sind zu wirken, ein Dasein zu setzen, Produkte hervorzubringen, diese Produkte sind auf irgend eine Weise Sachen. Da sind so Talente, Fähigkeiten pp keine Sachen, haben aber eine Seite nach der sie Sache sein können.“68 Hier klingt es so, als hätten tatsächlich erst die veräußerten Produkte Sachqualität – und nicht bereits das (durch Formierung) in Besitz genommene „innere Eigentum des Geistes“. Diese Besitznahme jedenfalls ist vom Gebrauch des „inneren Eigentum des Geistes“, der in der Veräußerung desselben durch Produktion bzw. Erbringung von Dienstleistungen in der Zeit besteht, kaum zu trennen. Auch wenn es möglich erscheint, daß der hier beschriebene Sachverhalt mit demjenigen der – schlechthin, auf irgendeine Weise – äußerlich gemachten Innerlichkeit zusammenfällt, daß also in beiden Fällen dasselbe gemeint gewesen ist, so scheint aber doch ein Unterschied zu bestehen. Es stellt sich also hier die Frage, ob es einen relevanten Unterschied gibt zwischen dem bloßen Äußerlichmachen eines Innerlichen und dem Produkt, das durch dieses Äußerlichmachen erzeugt wird. In den Grundlinien merkt Hegel an, daß man gemeinhin verlange, eine Sache müsse „ein rundes, ganzes Ding“ sein. Eine Sache könne aber auch „eine Seite, Möglichkeit an Etwas sein.“ Zudem werde Geschicklichkeit usf. Sache „durch meine Entäußerung, d.i. die Äußerlichkeit, die ich ihnen in der Äußerung gebe, die sie in der Äußerung erhalten (Zeit) – in der Beziehung, daß ich sie zum Gebrauch einem Andern überlasse, oder sie zu seinem Nutzen tue (z. B. bete, Messe lese) – ebenso körperliche Arbeiten – (in der Zeit) – gehören darum zur Entäußerung des Eigentums, weil sie nur in dieser Entäußerung Äußerlichkeit, Sachen werden.“69 Wie wird nun also mein „Inneres“ zu „innerem Eigentum des Geistes“, zur Sache? Es muß a) für das äußerlich machende Subjekt zum Äußerlichen werden, und b) muß es „für sich selbst“ bloß äußerlich sein, nicht zuletzt, um von einem 68 69
Vgl.: 1824/25, 184. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 43.
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neuen Eigentümer wieder angeeignet werden zu können. Die Tatsache, daß der Prozeß des Äußerlichmachens „in der Zeit“ möglich ist, gibt einen Hinweis darauf, wie die Sache entsteht: Zeit ist an und für sich äußerlich. Die Tätigkeit des „Inneren des Geistes“, die auf dessen Äußerlichmachen gerichtet ist, kann nur in der Zeit stattfinden und gewinnt so die Qualität des an und für sich Äußerlichseins. Daß die auch unter a) fallende Trennung der Sache vom „Innerlichen“ bei den Gegenständen des geistigen Eigentums gerade nicht stattfindet, da das einmal zum „inneren Eigentum des Geistes“ Gewordene dies auch bleibt, spielt erst im Zusammenhang mit der Veräußerung des Eigentums eine Rolle. In der Vorlesung im Wintersemester 1819/20 führt Hegel aus, daß man sage, man verstehe unter einer Sache „bloß äußerliche Dinge. Die Zweideutigkeit ist darin, daß der Verstand die Bestimmung nur als äußerliche Existenz vorstellt. Die Bestimmung von Sachlichkeit ist ein Moment überhaupt: So sind Künste und Wissenschaften allerdings Sachen, d. h. ich kann sie zu S a c h e n machen, ich kann sie mitteilen etc. So ist umgekehrt, was ich sonst Sache nenne, durch meinen Willen auch keine Sache mehr, z. B., wenn ich etwas im Eigentum habe. Daß etwas Sachlichkeit hat, will sagen, daß es eine äußerliche Existenz [hat]. Wenn ich besitze, so sind beide, die äußerliche Seite und die innerliche dabei. So kann ich das Ich selbst zur Sache machen, wenn ich mich zum Sklaven mache. Etwas, das das Meinige ist, ist Sache, und zugleich, daß es das Meinige ist, ist es keine Sache. Auch hier enthält der Begriff Gegensatz in sich.“70 Die Sachqualität setzt also jedenfalls voraus, daß etwas eine äußere Seite hat. Wenn die Sache Eigentum der Person ist, dann hat sie zusätzlich eine innere Seite. Beim normalen körperlichen Eigentum verhält es sich demnach so, daß die zunächst bloß äußerliche Sache durch meinen Willen ein Inneres, eine Seele – nämlich meinen Willen – erhält; durch die Aneignung der Sache eignet sich die Person aber in letzter und vollständigster Weise das Allgemeine der Sache an, dieses wird Teil des inneren Eigentums des Geistes. Beim geistigen Eigentum läuft es umgekehrt: Das „innere Eigentum des Geistes“ wird äußerlich, indem es an einer zentralen Kategorie der Äußerlichkeit teilhat: der Zeit. Die subjektive Verbindung zum Urheber dieser neuen Sache bleibt jedoch auch in dieser Äußerlichkeit bestehen, denn die „Seele“ der Sache, des neuen Gegenstands geistigen Eigentums, ist mein „inneres Eigentum des Geistes“. Die Problematik, ob es erst eines vorhandenen Produkts bedarf, um von einer Sache sprechen zu können, oder ob es bereits eine identifizierbare Sache auf einer Vorstufe zu einem Produkt gibt, wird jedenfalls dadurch entschärft, daß der
Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Berlin 1819/ 1820. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier. Herausgegeben von Emil Angehrn, Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 14. Hamburg 2000. 20. 70
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Begriff eines solchen Produkts sehr weit zu fassen sein dürfte, so daß bereits der geäußerte, gefaßte Gedanke in Form der Sprache – z. B. in Form eines assertorischen Subjekt-Objekt-Satzes – als ein solches zu verstehen ist. Hegel nennt an anderer Stelle ohnehin „die Sp r ach e das Werk des Gedankens“.71 Welchen Status das Innerliche hat, bevor es zum „inneren Eigentum des Geistes“ wird, „ist hier nicht abzuhandeln.“72 Dies bleibt dem Systemteil vorbehalten, in dem es um die Genese des besonderen Subjekts geht („Moralität“ und insbesondere Phänomenologie des Geistes). Hegel führt weiter aus, daß die wirkliche Besitzergreifung darin bestehe, sich die Form der Sache anzueignen. Materie ist nie ohne wesentliche Form, und nur durch diese ist sie etwas.73 Er fährt fort: „Die Ausbildung meines organischen Körpers zu Geschicklichkeiten sowie die Bildung meines Geistes ist gleichfalls eine mehr oder weniger vollkommene Besitznahme und Durchdringung; der Geist ist es, den ich mir am vollkommensten zu eigen machen kann.“74 In der von Hoppe herausgegebenen Mitschrift findet sich folgende Aussage: „Das Allgemeine nehme ich nur in Besitz, indem ich Allgemeines, d. h. Denkender bin.“75 Die Besitzergreifung bleibt jedoch unterschieden vom Eigentum als solchem. Eigentum wird „durch den freien Willen vollendet.“ Im Besitz, weil er ein äußerliches Verhältnis ist, bleibt eine Äußerlichkeit zurück. Was heißt dies für das geistige Eigentum? Da das Äußerlichmachen des „inneren Eigentums des Geistes“ dieses zunächst zur Sache, zu etwas Äußerlichen, und zwar zu meiner Sache macht, kann vorher wohl nicht sinnvoll davon gesprochen werden, dieses „innere Eigentum des Geistes“ sei in meinem Besitz gewesen. Der Besitz entsteht in dem Moment, wo die Sache da ist, wo Äußerlichkeit eintritt, aber gleichzeitig die Form der Sache noch ganz die meine ist, wo die Sache noch ganz meinem „Inneren des Geistes“ entspricht. Zu diesem tritt eine Distanz ein, je weiter das „Innere“ äußerlich gemacht wird, insbesondere also bei der Veräußerung. Daß dies ein Prozeß ist, daß die Form der Sache, ihr Wesen sich verändert, sobald die Sache Dasein hat, zeigt deutlich die Dialektik von Schöpfer und Werk, wie sie in der Phänomenologie des Geistes aufgezeigt wird (s.u.). Die Mitschrift aus dem Wintersemester 1821/22 vermerkt: „Ich und das Ding sind noch unterschieden, wie erscheint das Aufheben dieses Unterschieds,
Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. (1830). Unter Mitarbeit von Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 20. Hamburg 1992. § 20, 64. 72 Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 43. 73 Vgl.: TWA 7, Anmerkung zu § 52. 74 Vgl.: Ebd. 75 Vgl.: 1821/22, § 44. 71
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die Identifizierung?“76 Im folgenden wird dann beschrieben, wie sich „dieser Unterschied“ aufhebt, nämlich über die Stufen der unmittelbaren Besitznahme, des Gebrauchs und schließlich der Veräußerung, bei der die Sache nicht mehr, aber das Allgemeine derselben doch im Besitz verbleibt, als Wert der Sache. In den Grundlinien schreibt Hegel, die Behandlung der Veräußerung vorwegnehmend, daß in dieser das Eigentum an einem „Allgemeinen mit Gleichgültigkeit seiner spezifischen Beschaffenheit“ erhalten bleibe. Er fährt fort: „Wert – und meine Innerlichkeit.“77 Der Besitz des Einzelnen und des Allgemeinen fallen, so Hegel weiter, in der Veräußerung auseinander. „Das Allgemeine teilt sich dabei selbst in ein gedoppeltes Allgemeines α) der äußerlichen Sache und β) meiner, meiner Geschicklichkeit, Talente usf.“78 Das Allgemeine der Sache ist der Wert. „Mein“ Allgemeines ist das „innere Eigentum des Geistes“. Durch die Veräußerung einer Sache, einer, der „normale“, „körperliche“ Sachqualität zukommt, sowie einer, die diese erst durch Äußerlichmachen erhält, treten demnach diese zwei Seiten des Allgemeinen auf. Diese beiden Seiten sind jeweils Dasein des Allgemeinen. Im Wintersemester 1824/25 hat Hegel zum Gebrauch der Sache ausgeführt: „Es tritt aber noch ein weiterer Unterschied ein, in der zweiten Bestimmung [im Gebrauch des Eigentums, W. B.], im Auseinanderfallen der Seiten der Allgemeinheit und der Einzelnheit. [Absatz] Wenn wir fragen wie das Allgemeine existirt, es vorhanden ist, so theilt es sich in ein gedoppeltes Allgemeines, erstens als äusserliches, die Sache, der Werth der Sache, Substanz der Sache, unterschieden von der Seite wonach sie im Gebrauch aufgeht. Das zweite Allgemeine ist nicht als äussere Sache vorhanden, dieß bin Ich, dieß allgemeine Ich, als Thätiges, mein Talent, meine Geschicklichkeit, Fertigkeit, Ich als produzirend habe ein Eigenthum durch meine Allgemeinheit. Da bin ich das Allgemeine. [Absatz] Der Gebrauch ist also einerseits Verbrauch, die zweite Seite ist produzirend, ich gebrauche meine Fertigkeit, bin so produzirend. Bei der Allgemeinheit treten also gleich diese beiden Seiten hervor, Werth der Sache und Ich selbst, meine Geschicklichkeit, Thätigkeit.“79 Sowohl im Gebrauch der Sache als auch in deren Veräußerung wird demnach das „innere Eigentum des Geistes“ (insofern es Allgemeinheit hat) real. Im Gebrauch der Sache wird das „allgemeine Ich, als Tätiges“ wirklich – hierin liegt der Gebrauchswert des geistigen Eigentums. In der Veräußerung bekommt dieses reale, tätige Ich Sachqualität, äußeres Dasein – Tauschwert.
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Vgl.: 1821/22, § 53, 64. Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 53. Vgl.: Ebd. Vgl.: 1824/25, 203.
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Ehre Hegel macht in den Grundlinien interessante Bemerkungen dazu, was er unter „Ehre“ versteht, was aber insbesondere in den USA unter den Schlagworten „identity theft“ oder Schutz der „persona“ als Ganzer diskutiert wird. Auch das generelle Thema Datenschutz – also der Schutz personenbezogener Daten, die Kontrolle darüber, was mit den Informationen über mich passiert – ist hier zu verorten. Es gebe, so Hegel, eine besondere Art des Eigentums, das im Dasein meiner Persönlichkeit in Beziehung auf andere bestehe. Hier erscheint das Stichwort „Ehre“ in den Notizen. Das Eigentumsobjekt ist hier die Vorstellung, die Meinung der anderen von meiner Persönlichkeit. Diese „fremde“ Vorstellung oder Meinung sei auch „Äußerlichkeit“ in dem für eine eigentumsgeeignete Sache notwendigen Sinne. Hegel schreibt: „Dies will ich sein in der Vorstellung Anderer – nicht meine Willkür erfüllen [Absatz] Das, als was ich mich Anderen zeigen, für sie dies sein will – wenn auch ganz meine Kaprice“.80 Etwas weiter unten: „Auf objektiven Inhalt kann ich mich dabei nicht einlassen, denn dieser ist nicht ein rein Persönliches.“ In der Mitschrift der Vorlesung 1821/22 findet sich die Formulierung: „Ehre ist auch ein Dasein, aber in der Vorstellung der anderen, so will ich in anderer Vorstellungen sein, insofern dies so verletzt wird, so ist mein freier Wille verletzt. Das Element dieses Daseins ist aber nicht eine Sache.“81
Bildung Im Rahmen der Besitzergreifung behandelt Hegel die Bildung, die der Mensch sich gibt: „Es kann heterogen erscheinen die Bildung in die Klasse dieser Bestimmungen [der Besitzergreifung, W. B.] zu setzen, indessen sie gehört hierher.“82 Der Mensch nimmt sich in Besitz „und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere“.83 Dies geschieht durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und seines Geistes und besteht wesentlich darin, daß „sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt“.84 Umgekehrt bedeutet dieser Vorgang jedoch auch, daß der Mensch das, was „er seinem Begriffe nach (als eine Möglichkeit, Vermögen, Anlage)“85 ist, verwirklicht, ins Dasein übersetzt. „[D]as Selbstbewusstsein muß allem, was seinem Begriff nach ist, Existenz geben, und hier fängt erst das ob80 81 82 83 84 85
Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 48. Vgl.: 1821/22, §§ 47, 48. Vgl.: 1824/25, 209. Vgl.: TWA 7, § 57. Vgl.: TWA 7, § 57. Vgl.: TWA 7, § 57.
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jektive Recht an.“86 Das Vernünftige muß sich verwirklichen. Diesen Prozeß bestimmt Hegel hier 1. als den Vorgang, der den Begriff, Vermögen, Anlage etc. „als das Seinige“ setzt, also das Entstehen des „inneren Eigentum des Geistes“. 2. besteht die Besitzergreifung in diesem Zusammenhang darin, dieses „innere Eigentum des Geistes“ als Gegenstand zu begreifen, der als solcher vom „einfachen Selbstbewußtsein“ unterschieden ist und so die Möglichkeit enthält, „die Form der Sache zu erhalten“. Dies ist der Prozeß, der bereits in § 43 der Grundlinien erwähnt wurde.87 „Der Mensch selbst ist frei, überhaupt im Besitze seiner selbst, nur durch Bildung. […] Die Formierung zur Freiheit selbst (Realisierung derselben) und zur Erhaltung derselben ist der Staat.“88 Daß „der Besitz ein wirklicher wird, dazu gehört die Entwickelung der Freiheit […]. Hier kann die Besitznahme des Menschen nur die sein, wonach die Weise der Besitznahme nur die Gestalt einer Sache hat.“89 Da die Sachqualität eine notwendige Bedingung für die Besitznahme überhaupt ist, die nur von einem Äußerlichen und Vereinzelten möglich ist, ist dieser letzte Satz wohl so zu verstehen, daß es hier, im „Abstrakten Recht“, eben nur auf diese Sachqualität als solche ankommt. Es kommen zu dieser notwendigen Bedingung jedoch im weiteren Verlauf zusätzliche und konkretere Bestimmungen hinzu. Auch das Allgemeine und Sittliche kann jedoch nur in der Form der – allgemeinen – Sache besessen und geeignet werden. Bildung erfolgt demnach durch die Aneignung gegebener Sachen bis hin zur „Allgemeinen Sache“ und durch Besitzergreifung dessen, was vom „rein Innerlichen“, schlechthin Nicht-Sachlichen unterschieden werden kann, eben meine Talente, Geschicklichkeiten etc. „So ist einerseits die Besitznahme ein Äusserliches und andererseits mache ich ein Inneres zu einem Äusseren, denn diese Anlagen pp sind an sich die meinigen, also innerlich, ihnen fehlt aber die Äusserlichkeit, daß sie mir Gegenstand sind, für mein Bewußtsein sind, daß ich sie wollen kann, frei äussern kann, nicht darin gehemmt bin. Was dann den Besitz den der Mensch an sich selbst hat, das Eigenthum was er an ihm selbst hat, anbetrifft, so ist die Weise dieses Besitzes das Formiren. Das beßte Eigenthum ist das was sich der Mensch so zu eigen gemacht hat.“90
86 87 88 89 90
Vgl.: 1821/22, § 57. Vgl. auch: TWA 7, Notizen zu § 57, 125 (letztes Drittel). Vgl.: TWA 7, Notizen zu § 57, 125 (am Ende). Vgl.: 1824/25, 209. Vgl.: 1824/25, 211.
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IV. Entfaltung der Inhalte des „inneren Eigentums des Geistes“ in der Phänomenologie des Geistes Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Quellen, in denen Hegel sein reifes System entfaltet, folgt die Phänomenologie des Geistes den Phänomenen der „natürlichen“ Bewußtseinsformen, die als Konstellationen von Wissen und Wahrheit, also von subjektiver Gewißheit, die mit einem Wahrheitsanspruch auftritt, und von einem jeweils Gewußten, das dieser Gewißheit jeweils als objektiver Gegenstand erscheint, dem erfahrenden Bewußtsein „unmittelbar“ auftreten, widersprüchlich werden und von einer neuen Konstellation von Wissen und Wahrheit ergänzt und abgelöst werden. In der jeweils folgenden Stufe sind die vorherigen insofern aufgehoben, als die neue Stufe eine Antwort auf die Probleme und das letztliche Scheitern der vorherigen Stufe enthält. In der Phänomenologie des Geistes entfaltet sich so das Bewußtsein auf seinem Weg zur Wahrheit zum „absoluten Wissen“. Ohne hier auf die Kontroverse über das generelle Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zu Hegels reifem System eingehen zu können, soll nun versucht werden, jenes Werk punktuell und konkret im Rahmen des hier behandelten Themas nutzbar zu machen. Die Phänomenologie des Geistes trägt für dieses Thema aus, daß in ihr die Rechtfertigung – aber auch deren Anzweiflung – einzelner Bewußtseinsgestalten besonders plastisch für das betroffene Bewußtsein geschieht. Die Gestalten des Bewußtseins werden so zunächst als gültige ausgewiesen und dann ebenso als bloß relative erkannt. Bewußtsein kann dabei immer nur Bewußtsein von Gegenständen – nicht „bloßes“ Bewußtsein – sein. Der jeweilige Inhalt und Gegenstand des Bewußtseins wird somit ebenfalls als anzuerkennender und gleichzeitig als bloß relativer Inhalt ausgewiesen. Dieser jeweilige sachliche Inhalt ist es jedoch, der mit den möglichen wesentlichen Formen der Gegenstände geistigen Eigentums zusammenfällt. Dies soll weiter verdeutlicht werden. Was überhaupt, welcher Inhalt mir zum „Inneren des Geistes“ wird, und was ich vergegenständlichend als mein „inneres Eigentum des Geistes“ in Besitz nehme und so zur Sache mache und schließlich veräußern kann, hängt davon ab, nach welchen Kriterien sich überhaupt ein Gegenstand meines Erkennens konstituiert. Ein Beispiel aus dem Systemteil „Absoluter Geist“ soll dies illustrieren: Für die alten Ägypter – so Hegel – war, was sie durch ihre Kunst auszudrücken versuchten, so abstrakt und unvollkommen erfaßt, daß die diesem Zustand adäquate künstlerische Ausdrucksform ein abstrakter Symbolismus war, für den das Auszudrückende ein (auf diese Weise) nicht darstellbares Geheimnis blieb.91 Die Ägypter hatten konsequenter Weise nicht den Anspruch, sich einen hohen 91
Vgl. dazu: Terry Pinkard: Hegel. A. a. O. 596 ff.
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Perfektionsgrad an künstlerischer Technik der Darstellung anzueignen, denn der Gegenstand ihrer künstlerischen Anstrengungen war nicht eine konkret faßbare Schönheit. Im Unterschied dazu galt den Griechen als der Gegenstand des künstlerischen Verhaltens das Ideal des konkreten Schönen, das sie letztlich in Form der idealisierten menschlichen Schönheit in technischer Perfektion darstellten. Ihre Auffassung vom „wahren“ Gegenstand der Kunst hat sie dazu geführt, sich bestimmte Fähigkeiten anzueignen und bestimmte Werke zu produzieren. Ich kann mir zwar – abstrakt – alles zum Gegenstand, zur Sache machen und es mir so als „inneres Eigentum des Geistes“ aneignen (und letztlich im „System der Bedürfnisse“ veräußern); aber die Anforderung, daß das, was ich aus meinem Inneren schöpfe und verwirkliche, eine „Sache“ sein muß, gibt doch eine Beschränkung der möglichen Gegenstände geistigen Eigentums vor. Was alles Sache, Gegenstand des Bewußtseins sein kann – deren wesentliche Formen –, wird sukzessive für jeweils konkrete Stufen der Entwicklung des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes geschildert. Der Nachvollzug der Evolution der Gegenstände des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zur Illustration sei z. B. das Bewußtsein der „naturbeobachtenden Vernunft“ genannt, dessen Gegenstand die vorfindliche Natur ist; Gegenstand des „inneren Eigentum des Geistes“ werden hier etwa allgemeine Naturgesetze. Das lustsuchende Individuum aus der BewußtseinsFormation von „Lust und Notwendigkeit“ dagegen eignet sich Gegenstände an, die diesem wesentlichen Ziel entsprechen etc. Hier wäre eine genaue Analyse noch zu leisten. In der Phänomenologie des Geistes räumt Hegel dem Resultat seiner Darstellung der Begriffsentwicklung einen ebenso hohen Stellenwert im Ganzen des Systems ein, wie dem Weg dorthin, der über jeweils sich als transitorisch erweisende Begriffsgestaltungen führt. „Vorläufige“ Gestaltungen von Gegenstand und Wahrheitsanspruch, um deren Entwicklung es hier geht, haben also durchaus ein eigenes Recht (und können insofern auch von der positiven Rechtsordnung geschützt werden). „[A]lle [von Hegels System als solche zunächst ausgewiesenen] relativen Rechte gehören in die positive Rechtswissenschaft.“92 Einen Umschlagspunkt erreicht die Entwicklung des „Inneren des Geistes“, des „allgemeinen Ich“ an sich, und des „bloßen Selbstbewußtseins“ und dessen Gegenstandes im Abschnitt über „Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“.93 Hier sucht und findet das Bewußtsein seinen Gegenstand einzig in sich selbst, und es hat den Anspruch, diesen Gegenstand in der Vgl.: 1821/22, § 57. Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede †. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 9. Hamburg 1980. 214–237. 92
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„Außenwelt“ zu verwirklichen. Das Bewußtsein tritt als Schöpfer von Werken auf – als eigentlicher „Urheber“ und Künstlerpersönlichkeit, die sich selbst in ihnen realisieren und dadurch überhaupt erst Dasein gewinnen will. Die volle Tiefe der Bedeutung des persönlichkeitsrechtlichen Schutzes des Urheberrechts tritt hier zu Tage. Hier wird auch die innere Dynamik des „inneren Eigentums des Geistes“ besonders deutlich. Denn es zeigt sich, daß diesem notwendig eine objektive Tendenz zu größerer Allgemeinheit innewohnt. Das Bewußtsein hat hier seinen Gegenstand zunächst im „Werk“, als das es sich selbst als das Wahre weiß. Im Werk, in dem nach außen gebrachten Inneren, genießt der Werkschöpfer sich selbst und erlebt an seinem Werk „reine Freude“. Als Realisation ihrer selbst im Werk erfährt die Individualität aber bald, daß diese Werke niemals unverfälschter Ausdruck des Individuums sein können. Sobald das Werk Dasein hat, ist es damit auch „für andere“ da, die es als ihre eigene Außenwelt appropriieren und dem Werkschöpfer den Genuß des Werkes und die Interpretationshoheit über sein Werk streitig machen. Das Individuum reagiert darauf, indem es die „Sache selbst“ als seinen neuen Gegenstand wählt: Die Sache selbst kann fortbestehen, auch wenn ihre Verwirklichung nie (vollständig) gelingt. Eine solche Sache jedoch ist völlig leer: Wenn sie von der Realität derart unabhängig ist, kann alles ihr Inhalt sein. Es zeigt sich daher, daß es dem Individuum nur um sich selbst und sein Engagement für irgendeine Sache geht. Darin fühlen sich die Individuen voneinander wechselseitig getäuscht und betrogen: Jeder gibt vor, es gehe ihm nur um die Sache, und doch zeigt sich, daß es ihm nur um sein eigenes Tun geht. Hier erfährt das Bewußtsein, daß Sache und Tun sowie individuelles und allgemeines Handeln ununterscheidbar sind. Sachen, die tatsächlich von bloß eigenem Tun unabhängig sind, können nur solche sein, die Gegenstand gemeinsamen Handelns und Erkennens sind, allgemeine Sachen. So bin ich schließlich – am Ende der Entwicklung – gezwungen, letztlich mir die „allgemeine Sache“ anzueignen und als „inneres Eigentum des Geistes“ zu besitzen. Als ein solches macht sie dann mein Inneres aus, insofern ich mich – über Sachen, über Sachlichkeit überhaupt, als Eigentümer im weitesten Sinne – auf andere Individuen beziehe. Es zeigt sich also durch die Dynamik der Dialektik von Schöpfer und Werk das Folgende: Unabhängig davon, was ich in mir als „Inneres des Geistes“ vorfinde – aus welchen inneren Welten, welche in Abhängigkeit von meinem „Weltbild“, also von meiner Gegenstandsauffassung und meinen Wahrheitsanforderungen konstituiert sind, ich schöpfe –, führt mich der Bezug auf dieses Innere als „inneres Eigentum des Geistes“, also als eine Art des Beziehens, die diese Innenwelt zur Sache macht (sie letztlich äußerlich, „für andere“, fungibel und zum „Werk“ macht), notwendig dahin, mir letztlich das wahrhaft Allgemeine anzueignen und dieses – im Prozeß meines lebendigen Handelns oder han-
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delnden Lebens – äußerlich zu verwirklichen. So werde nicht nur ich, sondern auch das von mir Produzierte (nach und nach) allgemein, „sittlich“. So schließt die in dem genannten Kapitel der Phänomenologie des Geistes entfaltete Bewußtseinsform dann auch die phänomenologische Betrachtung der Entwicklung des Bewußtseins im wesentlichen ab und leitet in die eigentlich philosophische Betrachtung und in den „objektiven Geist“ über. In der Bewußtseinsform von Schöpfer und Werk (bzw. derjenigen, in die diese einführt) sind aber auch alle vorhergehenden Formen begrifflich „aufgehoben“, bewahrt und impliziert. Das Werk-Schöpfer-Bewußtsein kann also „aus dem Vollen schöpfen“, kann sich aneignend alle die Gegenstände vornehmen, die die bisher entwickelten Bewußtseinsformen als „Sache“ zulassen, und diese in Werken verwirklichen. Nach dem Gesagten ist „Bildung“ somit abhängig von den Maßstäben des Bewußtseins und der Vollständigkeit der Besitzergreifung der wesentlichen Form der Gegenstände, deren Extension durch diese Maßstäbe vorgegeben wird. Da durch die Entstehung von „innerem Eigentum des Geistes“ dieses gleichzeitig als Sache und damit „äußerlich“ vorliegt, kann sich das Bewußtsein erneut aneignend darauf beziehen; es schließt sich so gewissermaßen eine Windung einer gedachten Spirale. Als Beispiel sei hier die Zeichen-Funktion von Marken (Warenzeichen) genannt, die für einen genau bestimmten Bereich die Identifikation von Waren und Dienstleistungen eines Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichen. (Sprachliche) Zeichen, als allgemeine Sache, werden so, als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, einem Individuum zugeordnet. Die abstrakten „Talente, Geschicklichkeiten“ usw., die das Individuum in Besitz nimmt und zu seinem „inneren Eigentum des Geistes“ macht, sind genau solche, die in Abhängigkeit von den möglichen, unter schiedlichen Gegenständen des Bewußtseins ausgebildet werden. Im „Abstrakten Recht“ wird dieses „innere Eigentum des Geistes“ „abstrakt“ behandelt; eine Qualifizierung findet nicht statt. Es muß sich lediglich um ein solches Inneres des Geistes handeln, das überhaupt versachlicht werden kann. Die Bedingungen dafür liegen darin, was in der Phänomenologie des Geistes entfaltet wird: Nach den dort beschriebenen Maßstäben können identische Gegenstände gebildet und erfaßt werden. Da die beschriebene Dynamik objektiv-teleologisch abläuft, liegt die Annahme nahe, daß ein versachlichtes „inneres Eigentum des Geistes“, dessen Gegenstand und Gegenstandsbezogenheit in einer „höheren“, jedenfalls allgemeineren Stufe dieser objektiven Entwicklung begründet ist – auch in Hinsicht des objektiven Geistes, in Hinsicht auf das Recht als verwirklichtes –, eine ausgezeichnete Stellung einnimmt. Gegenstände, die vernünftiger sind, verdienen einen intensiveren Schutz und eine intensivere Förderung durch die Sphäre des objektiven Geistes, als solche, die weniger vernünftig sind.
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Aber auch die relative Eigenständigkeit der abgestuften Bewußtseinsformen bleibt im objektiven Geist erhalten. Sie finden sich wieder in der „bürgerlichen Gesellschaft“, wo die freie Individualität zu ihrem vollen Recht kommt. Im System der Bedürfnisse können alle Bedürfnisse erweckt und befriedigt werden – „körperliche“ und geistige –, die überhaupt als ein Gegenstand des Bewußtseins, als Sache formuliert werden können, unabhängig von ihrem Anteil an der verwirklichten Vernunft.
V. Geistiges Eigentum im Systemteil „Sittlichkeit“, insbesondere in der „Bürgerlichen Gesellschaft“ Wie am Schluß der Behandlung des geistigen Eigentums im Systemteil „Abstraktes Recht“ gesehen, können bestimmte Sachen nicht vollständig veräußert werden: geistiges Eigentum. Es bleibt eine Verbindung zum Schöpfer-Subjekt. So erfolgt eine Aufspaltung in einen subjektiven Bestandteil („innerer“ Wert) und einen objektiven Bestandteil; der letztere wird qua Veräußerung zum äußeren (eigentlichen) Wert der Sache und vermittelt diese vollständig in die bürgerliche Gesellschaft. Die bleibende Bindung des Gegenstandes geistigen Eigentums an das Individuum bringt dieses so auch in der bürgerlichen Gesellschaft zur Geltung, gewinnt ihm Anerkennung und Wirksamkeit. Der genannte „innere“ Wert – das Vermögen94 – taucht als solcher im Abschnitt „Das Vermögen der Familie“95 wieder auf; er wird hier dem Eigentum gegenübergestellt. Im Gegensatz zu diesem ist das Vermögen ein „bleibender und sicherer Besitz“. Während im abstrakten Eigentum das Moment des besonderen Bedürfnisses des bloß Einzelnen und die Eigensucht der Begierde bloß willkürlich ist, verändert es sich hier in ein Sittliches, nämlich in die Sorge und den Erwerb für ein Gemeinsames. „In der Moralität ist es Pflicht, für das Wohl zu sorgen, seins und anderer. Hier ist es nicht unbestimmtes Wohl anderer, sondern derer, die zu dieser Familie gehören […].“96 „Worin übrigens jenes Vermögen bestehe und welches die wahrhafte Weise seiner Befestigung sei, ergibt sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft.“97
94 95 96 97
Vgl.: TWA 7, § 69. Vgl.: TWA 7, § 170. Vgl.: 1821/22, § 170. Vgl.: TWA 7, § 170.
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§ 187: Die Bildung Die Bürger der bürgerlichen Gesellschaft sind Privatpersonen, „welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben“. Dieser Zweck wird durch „das Allgemeine vermittelt“, denn der Zusammenhang der individuellen Zwecke besteht in der gegenseitigen Verwiesenheit und Angewiesenheit der individuellen Bedürfnisse und der Mittel ihrer Befriedigung im „System der Bedürfnisse“. „Unsere Bürgerlichkeit hat im Deutschen den Sinn von einer Angewiesenheit des Menschen auf seine Geschicklichkeit.“98 Das Ganze dieser Verschränkungen ist etwas Allgemeines. Diese Zusammenhänge erscheinen dem Einzelnen zunächst lediglich als Instrument, als Mittel, die Befriedigung seiner individuellen Interessen zu er reichen. Um sich dieses Mittels zu bedienen, müssen die Individuen sich selbst, ihr Wissen, Wollen und Tun „auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen.“99 Die Vernunft macht sich in dem Prozeß geltend, in dem die atomistische Einzelheit und die Natürlichkeit der Individuen – durch die Umstände und ihre eigenen Interessen gezwungen – „zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens“100 gebildet werden. Gebildet wird die Subjektivität in ihrer Besonderheit. „Die Freiheit hat keinen anderen Boden als dies Selbstbewußtsein, eben die Besonderheit des Willens.“101 Durch diese Bildung erlangt das Individuum die Fähigkeit, mit seinem Verstand die relevanten Verhältnisse der Gesellschaft zu erfassen, sie in das eigene Denken zu inkorporieren und danach – in der bürgerlichen Gesellschaft – von diesem „inneren Eigentum des Geistes“ Gebrauch zu machen. „Die Forderung ist: der Mensch soll sich brauchbar machen, diese Forderung nimt man oft übel, weil man da nur Mittel für Andere ist. Der Mensch ist Selbstzweck aber nur in der Vermittlung durch andere Individuen, durch das Ganze, seine Brauchbarkeit hängt damit zusammen, daß er als Selbstzweck existiren kann, die Befriedigung seines Zwecks erreichen kann, dies kann er nur als Glied dieses Zusammenhangs.“102
98 99 100 101 102
Vgl.: 1821/22, § 187. Vgl.: TWA 7, § 187. Vgl.: Ebd. Vgl.: 1821/22, § 187. Vgl.: 1824/25, 482 f.
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Die Expansion der bürgerlichen Gesellschaft – Peter Drahos’ Interpretation der Hegelschen Theorie Peter Drahos103 will der Hegelschen Theorie des geistigen Eigentums ausdrücklich die gesellschaftskritische Dimension bewahren. Diese gehe verloren, wenn man Hegels Ansatz vorschnell als bloße „Persönlichkeitsrechtstheorie“ verstehe, die in einem einfachen Gegensatz zu einer „Arbeitstheorie“ des Eigentums Lockescher Prägung stehe.104 Drahos arbeitet heraus, daß die Institution des geistigen Eigentums zu einem unkontrollierten Wachstum der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft führen könnte, die den Bestand des eigentlich sittlichen, politischen Staats gefährdet. Er betont dabei Hegels Rolle als Warner vor einer solchen Entwicklung. Dabei überbetont Drahos jedoch letztlich die Relevanz der „ersten Stufe“ der Entwicklung des freien Willens – nämlich derjenigen seiner Manifestation in Form der Person – auch für die späteren Systemteile und vernachlässigt deren eigene interne Struktur, die grundsätzlich einem unkontrollierten Wuchern abstrakter und egoistischer Interessen entgegenzuwirken geeignet ist. Jedenfalls hat nach Drahos das abstrakte Eigentumsrecht „no independent validity“; es sei nämlich dem Ziel der verwirklichten Freiheit als Endziel der Entwicklung des objektiven Geistes untergeordnet.105 Eigentum werde im weiteren Verlauf des Systems „systematic in character“ und müsse letztlich aufgrund seiner funktionellen Verbindungen mit dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden. Es entstehe eine soziologisch-analytische Weise der Betrachtung. Bereits im „Vertrag“ höre das Eigentum auf, lediglich die Verwirklichung der Persönlichkeit zu sein, es werde zum Gegenstand gemeinschaftlichen Willens. Das Vertragsrecht wiederum impliziere das Vorhandensein des Staates, der ein solches Recht setzt und durchsetzt. So werde das Eigentum Gegenstand einer Interaktion zwischen Personen und Staat. Drahos stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien zwischen Produzenten „körperlicher“ Gegenstände und denen „abstrakter“ Gegenstände bzw. zwischen verschiedenen Gruppen von Produzenten „abstrakter Gegenstände“ unterschieden werden könne.106 Verbinde sich mit einer solchen Unterscheidung nicht eine – ungerechtfertigte – Bewertung der jeweiligen subjektiven Freiheit und deren Verwirklichung einer Gruppe als höher als die einer anderen Gruppe? Damit wirft Drahos die durchaus relevante Frage nach der inneren Struktur der
Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. – Drahos stützt sich ausschließlich auf den Text der Grundlinien. 104 Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 75. 105 Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 78. 106 Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 81. 103
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Inhalte geistigen Eigentums auf, der in der vorliegenden Arbeit nachgegangen wird. Die Verbindungen des Hegelschen Staatskonzepts zur Theorie des Eigentums untersucht Drahos im folgenden. Zunächst führt er zutreffend aus, daß Hegel zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, dem diese überwölbenden und stützenden „Not- und Verstandesstaat“ und dem politischen Staat unterscheide. Die Unter scheidung dieser zwei „Staaten“ gelingt Drahos jedoch wenig deutlich. Nach Drahos’ Auffassung sah Hegel die Stärke des modernen Staates gerade darin, daß jedes seiner Subsysteme die ihm eigene Aufgabe erfülle, ohne daß eines dominant über ein anderes werde.107 Dabei, so Drahos, betone Hegel die Gefahr, daß insbesondere die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft die anderen Sphären infiltrieren und damit Sittlichkeit und Gemeinschaft zerstören könnten. Die Anerkennung und Ausweitung geistigen Eigentums erhöht nach Drahos den Druck der bürgerlichen Gesellschaft auf den Staat.108 Mit dem zunehmenden Bewußtsein der in der bürgerlichen Gesellschaft interagierenden Personen davon, es sei vorteilhaft, Eigentümer-Befugnisse über abstrakte Objekte auszuüben, beginnt ein Wettlauf um die Sicherung solcher Rechte.109 Gerade wegen der leichten Verletzlichkeit dieser Rechte aufgrund ihrer fehlenden „Körperlichkeit“ werden diejenigen, die an solchen Rechten ein Interesse haben, den Druck auf den Staat, neue Formen des Schutzes zu entwickeln, erhöhen. Das Bedürfnis einer globalen Sicherung dieser auch global verletzbaren Rechte steigt. Ein entsprechender Druck lastet auf den nationalen staatlichen Akteuren. Als Resultat – so Drahos – entstehe eine gegenseitige Durchdringung von bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat. „The process of the production of lawbased privileges in abstract objects promotes an integration of elements of civil society and the political state.“110 Drahos meint, Hegels Auffassung vom Staat impliziere jedenfalls, daß dieser nicht der Schöpfer und Hüter von „Privilegien“ sein solle. Genau dies sei aber die Gefahr, wenn der Staat anfange, Eigentumsinteressen bestimmter Teile der bürgerlichen Gesellschaft zu favorisieren. Zwar solle der Staat Eigentum schützen, aber dies sei etwas anderes als die Rolle des Staates als Diener von „propertied interests“. Genau diesen Zustand – daß der politische Staat bloßes Instrument der besitzenden Klasse geworden ist – beschreibt und kritisiert zu Recht Marx im Anschluß an Hegel. Nach Drahos erfährt auch das Problem der Armut durch die Institution
Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 84. Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 85. 109 Was sich zur Zeit z. B. in den USA in Form der zunehmenden Erleichterung der Erteilung von Patenten („Trivialpatente“) zeigt. 110 Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 85. 107 108
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des geistigen Eigentums eine Verschärfung,111 bzw. eine solche Verschärfung ist mit der generellen Expansion der Sphäre der egoistischen Interessen, der Marktgesellschaft, eng verknüpft. Implizit – so Drahos – sage Hegel, daß die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft durch formale Eigentumsbeziehungen bedingt seien. Dies bedeute einerseits, daß das Dasein meines Willens in Sachen anerkannt sei; andererseits können gerade durch die formale Struktur der Anerkennung von Eigentumsrechten meine Möglichkeiten begrenzt sein: Bestimmte Sachen können nicht mein Eigentum sein, weil sie Eigentum anderer sind. Dies ist nur durch einen (Austausch-)Vertrag zu ändern. Geistiges Eigentum erweitert nun die Palette möglicher Gegenstände von Eigentumsrechten nahezu unbegrenzt. Eigentum an abstrakten Gegenständen erhöhe, so Drahos, die Fähigkeit der Eigentümer, die Benutzung physischer Gegenstände einzuschränken. Um dennoch Zugang („access“) zu diesen Gegenständen zu haben, wird die Abhängigkeit von einem Vertragsmechanismus immer größer. Dieser Mechanismus erhöhe jedoch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft die ungleiche Eigentumsverteilung. Der Druck, immer neue Formen geistigen Eigentums zu etablieren und zu schützen, wächst mit der Angewiesenheit, im Wettbewerb der bürgerlichen Gesellschaft zu bestehen. Genau dieser Wettbewerb produziert nach Hegel aber immer sowohl steigenden Reichtum wie steigende Armut. Der Angriff auf die Sittlichkeit wird verschärft dadurch, daß gerade Kulturgüter, Bildung etc. Gegenstände geistigen Eigentums werden, die den an Zahl zunehmenden Armen verwehrt bleiben. Gerade der Bildung als wichtigem Beitrag zur Erhaltung der Sphäre der Sittlichkeit wird so die Grundlage entzogen. Durch ein globales System des geistigen Eigentums erhalte, so Drahos weiter, die Entfaltung der (bestimmter) Persönlichkeit(en) die Möglichkeit, in fremde Gemeinschaften einzugreifen.112 Innerhalb Hegels System ist Eigentum das Dasein der Freiheit, weil Hegel voraussetzt, daß Eigentumsbeziehungen im Kontext einer Gemeinschaft vorkommen, die ihre jeweils bestimmte Form von „Sittlichkeit“ hat, ihren „Volksgeist“. Dies trifft aber nicht unbedingt auf ein globales Geistiges-Eigentums-Regime zu. Im Gegenteil bewirkt der durch ein solches Regime erleichterte Austausch geistiger Güter eine Homogenisierung lokaler Kulturen und Gemeinschaften – also einen Verlust konkreter Sittlichkeit, konkreter Freiheit. Sicher scheint, daß geistiges Eigentum aufgrund seiner Flüchtigkeit und Verletzlichkeit das Bedürfnis nach Schutz im nationalen gleichermaßen wie im internationalen globalen Rahmen in verstärktem Maße mit sich bringt. Ein globales System des Schutzes von Eigentum – und d.h (anders als Drahos das zu sagen scheint) von Eigentum überhaupt – birgt aber per se die Gefahr, 111 112
Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 86. Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 88.
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daß die auf ein solches aufsetzende bürgerliche Gesellschaft global ist, global wirkt – und zwar ohne daß es einen globalen Staat gäbe. Ein solcher könnte zwar in Form eines globalen „Not- und Verstandesstaates“ entstehen – dies ist ja gerade in den Anfängen eines globalen Schutz-Systems dieser Rechte im Rahmen der WTO etc. zu beobachten –; ein politischer Staat kann aber – nach Hegels Theorie – im globalen Maßstab gerade nicht entstehen. Ein Staat, bei Hegel als Individuum gedacht, kann nur existieren in Abgrenzung zu anderen Individuen, anderen „Volksgeistern“, anderen Staaten. Ohne einen solchen politischen Staat, der die Kräfte der Subjektivität der bürgerlichen Gesellschaft integrieren und aufheben könnte, können diese Kräfte ihre zerstörerischen Werke auf globaler Ebene und auch in Form der Zerstörung bisher intakter lokaler Gemeinschaften ungebremst verrichten. „Once property in abstract objects becomes part of a global system, it no longer acts within communities to enable freedom but acts upon them to restrict freedom.“113 Dies scheint mir in der Quintessenz Drahos’Verständnis des Problems in Hegelscher Sicht zu sein. Geistiges Eigentum spielt für Drahos nur die Rolle der Verstärkung und Beschleunigung der Rolle von Eigentum im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, ohne daß er auf die eigene Struktur des geistigen Eigentums hinreichend eingeht.
VI. „Die Phantasie“ in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst114 Nur am Rande erwähnt werden können hier Hegels Ausführungen zum kreativen Prozeß im Rahmen seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Hegel beschreibt hier sehr plastisch, daß der Künstler sich viel in der Welt umgesehen und sich „mit ihren äußeren und inneren Erscheinungen bekannt gemacht haben“ müsse, er müsse „viel durchgemacht und durchgelebt haben, ehe er die echten Tiefen des Lebens zu konkreten Erscheinungen herauszubilden imstande“ sei. In diesem Durchdringen des Ganzen der Welt habe „der Künstler seinen Stoff und dessen Gestaltung als sein eigenstes Selbst, als innerstes Eigentum seiner als Subjekt.“ Wegen des für die Kunst wesentlichen bildlichen Anschauens als Maßstab der Wahrheit ist nach Hegel die Empfindung als integrative Kraft notwendig, die den Mangel des bloßen Anschauens, der darin bestehe, nur zu Äußerlichkeiten vorzudringen, ausgleiche. So halte diese Empfindung den Inhalt „in subjektiver Einheit mit dem inneren Selbst.“
Vgl.: Peter Drahos: A Philosophy of Intellectual Property. A. a. O. 91. Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. I. – In: Ders.: Theorie-Werkausgabe. Werke 13. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970. 365. 113 114
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Auch hier bestätigt sich demnach das bisher vorgefundene Modell des Appropriierens der wesentlichen Form – hier durch das Zusammenspiel der Anschauung und des künstlerischen Empfindens – der Gegenstände der Welt und des Selbst und des darauf aufbauenden Gestaltens von Neuem zu „konkreten Erscheinungen“, zu Werken. Wo genau dieser Umschlag geschieht, was im „Inneren“ der Dynamik des allgemeinen Bewußtseins geschieht, daß aus angeeigneten Sachen etwas Neues entsteht, das zunächst noch keinen Ding-Charakter hat, dazu äußert sich Hegel jedoch nicht.
C. Schluß Hegels Theorie des geistigen Eigentums bietet den gesamten, riesigen Hegelschen Begriffsapparat auf. Wer will, hat ein reichhaltiges und differenziertes Instrumentarium zu seiner Verfügung, mit dem das komplexe Phänomen „Geistiges Eigentum“ systematisch er- und begriffen werden kann. Es gibt wohl keinen philosophischen Ansatz, der dies in einer vergleichbaren Weite und Tiefe ermöglicht. Hegels Begriff des geistigen Eigentums umfaßt im Wesentlichen alle diejenigen Konstituenten, die das moderne Recht des geistigen Eigentums – sogar wenn man dieses sehr weit faßt und z. B. auf Elemente des Datenschutzrechts und allgemeinen Persönlichkeitsrechts-/Ehrenschutz erweitert – beinhaltet. Sowohl das Urheberrecht der Werkschaffenden, die Leistungsschutzrechte der Werkausführenden, das Recht der Erfinder (Patentrecht) als auch das Kennzeichenrecht integriert Hegel in sein System. Dies trifft – vorbehaltlich weiterer Vertiefung des hier behandelten Stoffes – auch auf das Recht der Informationen in Form des Datenschutzrechtes zu, das Hegel – als Eigentum an den Vorstellungen von meiner Person bei anderen – behandelt. Dabei werden sowohl die persönlichkeits- wie die vermögensrechtlichen Aspekte des geistigen Eigentums integriert. Erstere stehen im Vordergrund der Ausführungen im „Abstrakten Recht“, letztere treten dort ebenfalls auf (im [Tausch-]„Wert“ des Gegenstandes geistigen Eigentums); vor allem aber erlaubt die systematische Verweisung des Eigentumsbegriffs in den Systemteil „Sittlichkeit“, insbesondere in die „Bürgerliche Gesellschaft“, die systematische Integration mit gesellschaftlichen Strukturen – z. B. eine Begründung des Tauschwerts geistigen Eigentums als Produkt im „System der Bedürfnisse“.
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Von Innen nach Außen Zusammenfassend läßt sich formulieren: Das „bloße Selbstbewußtsein“ erhält Dasein durch eine jeweils konkret bestimmte Formation von Gegenstands- und Wahrheitskonzeption. Das gelebte, auf konkrete Gegenstände in der Welt angewandte „bloße Selbstbewußtsein“ ist das „Innere des Geistes“. Dieses wird zum „inneren Eigentum des Geistes“, indem es in Besitz genommen wird. Dies geschieht durch Formierung. Dadurch, d. h. in den Prozessen des Gebrauchs, der Bildung, der Arbeit, der Produktion, gewinnt gleichzeitig das „innere Eigentum des Geistes“ Äußerlichkeit, Sachqualität. So entsteht und gewinnt Dasein das „allgemeine Ich“. Das „innere Eigentum des Geistes“ kann durch Leistung an einen anderen „in der Zeit“ veräußert werden. Dabei bleibt aber das „innere Eigentum des Geistes“ als Identität des „Inneren des Geistes“ mit der wesentlichen Form des Produkts bzw. der Dienstleistung bestehen. Diese Identität im Subjekt ist der „innere Wert“ – der „Gebrauchswert“ – des geistigen Eigentums. Von Außen nach Innen Die weitgehendste Besitzergreifung einer äußeren Sache geschieht durch die Aneignung ihrer wesentlichen Form. Diese Aneignung ist aber nur möglich, wenn das „allgemeine Ich“ bereits entsprechend verständig ausgebildet ist, d. h. wenn es die richtigen, adäquaten Auffassungen bzw. Maßstäbe seines Gegenstandes hat. Dabei führt jede Besitzergreifung einer äußerlichen Sache in dieser Weise zu einem Fortschritt im Bildungsprozeß. Die neu aufgenommene wesentliche Form der Sache verändert das bloße Selbstbewußtsein in Richtung auf immer größere Allgemeinheit,Vernunft. Die neue Sache wird ein Teil dessen, was erneut innerlich hervorgebracht, in Besitz genommen und als „inneres Eigentum des Geistes“ versachlicht und veräußert werden kann.
Schlußbemerkung Für den Zusammenhang der persönlichkeitsrechtlichen und der vermögensrechtlichen Seite des geistigen Eigentums ergibt sich die folgende Perspektive: Die volle Entfaltung der Person ist einerseits bedingt durch ihre Verwirklichung durch Eigentum an äußerlichen, auch nicht-körperlichen und letztlich „allgemeinen“ Sachen; andererseits aber auch durch die volle Besitzergreifung, Entwicklung, Verwirklichung und den Gebrauch des „allgemeinen Ich“. Die Anwendung des „inneren Allgemeinen“ auf eine äußerliche Sache entfaltet für diese Sache wiederum die größten Möglichkeiten. Es entsteht so – durch die-
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se „doppelte Allgemeinheit“ – der größtmögliche (Tausch-)Wert in der Sache. Dessen Anerkennung und Schutz dient die vermögensrechtliche Seite des geistigen Eigentums. Wer optimal gebildet ist, also ein Gegenstandsbewußtsein hat, das seinem allgemeinen Ich und dem Stand des Systems der Bedürfnisse entspricht, kann die ihm zur Verfügung stehenden Sachen nach ihrer und seiner „inneren Allgemeinheit“ nutzen und aus den Sachen für sich (Gebrauchswert) und für das System der Bedürfnisse (Tauschwert) den größten Gewinn ziehen. Es ergeht hier wohl auch die Anforderung an den Einzelnen, „das Beste aus sich zu machen“. Durch die aufgezeigten systematischen Verweise zeigt sich insofern eine Pflicht der bürgerlichen Gesellschaft, dies zu ermöglichen. Im Gebrauch der Sache wiederum realisiert sich immer auch die freie Subjektivität. Solange anerkannt ist, daß diese der Grund ist und bleibt, kann das Selbstbewußtsein keine bloß passive, beobachtende – verdinglichte – Qualität annehmen. Da die Inhalte des „allgemeinen Ich“ sowie des „marktgängigen“ Eigentums immer nur konkrete sind, kommt es letztlich bei der Beurteilung der Reichweite des Schutzes geistigen Eigentums auch darauf an, um welche Art von Inhalten es sich handelt, was der „Verletzer“ mit dem „fremden“ Inhalt macht und wie das neue Werk sich auf die Vernunft – wie sie in Hegels System aufgewiesen wird – sowie auf die Gesellschaft als Ganzes bezieht. Der dem eigentlich sittlichen Staat zugehörige „Gesetzgeber“ darf hier nach Gehalt an „Sittlichkeit“ differenzieren – ohne den relativen Sphären des Rechts die grundsätzliche Anerkennung, also das Recht, sich in der gemeinsamen Sphäre zu verwirklichen, zu verweigern. Im deutschen Urheberrecht z. B. gibt es bestimmte Ausnahmen zugunsten von Wissenschaftlern, Schulen u. a., denen eine weitergehende Nutzung geistigen Eigentums anderer, ohne deren Einwilligung, gestattet ist. Der bisherige Ausnahmecharakter solcher Vorschriften wird dem Phänomen des geistigen Eigentums nicht gerecht. Im geistigen Eigentum nähern sich Form (Recht des Individuums) und Inhalt (Entfaltung des Einen Systems, des „Begriffs“) maximal an. Es kommt daher auf die konkreten Inhalte von „Bildung“ und von geistigen Produkten an. Daher muß es für eine adäquate rechtliche Erfassung eines Problems grundsätzlich immer darauf ankommen, auch die in Frage stehenden Inhalte qualitativ zu prüfen: Was geschieht durch einen „Verletzer“ mit den Gegenständen eines individuellen Herrschaftsrechts in bezug auf andere Sphären der Verwirklichung der Freiheit? Daß dies keine dem positiven Recht völlig fremde Annahme ist und daß Hegel hier jedenfalls nicht völlig abseits der heutigen Realität des geistigen Eigentums liegt, soll am Schluß eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts illustrieren, in dem die „allgemeine Sache“ des freien gesellschaftlichen Diskurses zur Geltung gebracht wird.
Hegels Theorie des geistigen Eigentums
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Das Bundesverfassungsgericht hat vor wenigen Jahren in seiner Entscheidung zu Heiner Müllers Stück Germania 3. Gespenster am toten Mann,115 in dem dieser seitenweise Passagen aus Werken Bertolt Brechts übernimmt, ausgeführt, daß das geistige Eigentum eines Künstlers – hier Brechts – unter Umständen stärkere Einschränkungen hinnehmen müsse. Das Gericht erläutert, daß „mit der Veröffentlichung ein Werk nicht mehr allein seinem Inhaber zur Verfügung steht. Vielmehr tritt es bestimmungsgemäß in den gesellschaftlichen Raum und kann damit zu einem eigenständigen, das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor werden. Es löst sich mit der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit und wird geistiges und kulturelles Allgemeingut. Dies ist einerseits die innere Rechtfertigung für die zeitliche Begrenzung des Urheberschutzes, andererseits führt dieser Umstand auch dazu, daß das Werk umso stärker als Anknüpfungspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung dienen kann, je mehr es seine gewünschte gesellschaftliche Rolle erfüllt. Diese gesellschaftliche Einbindung der Kunst ist damit gleichzeitig Wirkungsvoraussetzung für sie und Ursache dafür, daß die Künstler in gewissem Maß Eingriffe in ihre Urheberrechte durch andere Künstler als Teil der sich mit dem Kunstwerk auseinander
115
Vgl.: BVerfGE MMR (2000), 686 ff.
lu d e v o s I N S T I T U T I O N FA M I L I E Die Ermöglichung einer nicht-individualistischen Freiheit Eine Untersuchung neueren Datums bestimmt Hegels Auffassung der Familie als eine kleinbürgerliche (bourgeoise) und patriarchale Kernfamilie.1 ‚Kernfamilie‘ bedeute: Die Familie beschränke sich auf den notwendigen Kern der Eheleute, Frau und Mann, wozu gegebenfalls Kinder gehören; sie sei nicht in Großfamilien, Klans und Stämmen verwurzelt. ‚Bourgeois‘ oder ‚kleinbürgerlich‘ verweise auf die Bedeutung des Eigentums dieser Familie und auf die wichtigen Fragen der legalen Erbschaft in dieser Konzeption. Die patriarchale Ansicht sei deutlich hervorgehoben in Hegels vollständiger Disjunktion von Mann und Frau, die als gegensätzliche Personen in ihrer eigenen Natur oder Wesenheit erscheinen, wobei der Mann das Haupt der Familie sei. Mit einer solchen Beschreibung der Familie gelingt es philosophisch überhaupt nicht, diese Institution als eine vernünftige Konzeption geistiger Freiheit auch für unsere Zeit zu vertreten. Das zeitgenössische Denken verleiht ja einen letztendlichen Kernstatus nur dem (auch fragmentierten) Individuum; es behauptet für sich selbst, gerade ‚postbourgeois‘ zu sein, d. h.: Wir sind alle legalistische bourgeois; und die patriarchale Ansicht der Verhältnisse ist von internationalen Gesetzen und Recht vernichtet worden, die besser und genauer die Hegelschen Prinzipien an- und übernehmen, daß Mann und Frau beide Personen mit fundamental unverletzbaren Rechten seien. Die zuvor kurz zusammengefaßte, thematisch begrenzte, aber kritische Darstellung der Hegelschen Familie läßt erstens keine vernünftige Betrachtung der grundlegenden Prinzipien erkennen, die in Hegels Rechtsauffassung vorherrschen. Als Kritik bezweckt sie auch keine Untersuchung der Logik einer praktischen und politischen Vernunft. Mehr noch, sie hängt von einer wirklichen Bourgeois-Moralität ab, für die nur das Individuum das einzige soziale Ding ist und die einzige soziale Entität bleibt. Selbst feministisch inspirierte Kritik wird noch von einer moralistischen Version des Denkens geprägt, insofern jeder, Frau und Mann, völlig gleich sein ‚soll‘, was physisch oder biologisch eindimensional und deshalb ein wenig abstrakt zu sein scheint. Zweitens beschränkt sich diese Interpretation bei ihrer Lektüre nur auf eine Auswahl Hegelscher Argumente.2 1 Vgl.: Michael O. Hardimon: Hegels Social Philosophy. The Project of Reconciliation. Cambridge 1994. 175–189. 2 Die feministischen Kritiken werden dargelegt und geordnet von: Alison Stone: Feminist Criti-
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Ihre ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, wie ein Paar geschlechtlich unterschiedlicher Personen zusammen eine Person bildet, die zudem ihr eigenes Eigentum hat. Nichts dagegen ist bisher darüber gesagt worden, worin die spezifische Bedeutung der Familie in der geschichtlichen Entwicklung und deshalb wohl auch für Hegels Deutung gelegen hat: über die Erziehung.Vielleicht könnte eine begriffliche Lektüre und Darstellung der Hegelschen Familienauffassung die erwähnten sozialtheoretischen Schwierigkeiten ein wenig aus dem Wege räumen.3 Darum möchte ich mit begrifflichen Gründen Hegels Begriff der Familie als eine wesentliche und in ihrer wirklichen Bedeutung daseiende Erziehungsgemeinschaft verteidigen.4 In diesem Beitrag gebe ich ein ausgearbeitetes begriffliches Argument zugunsten der für das heutige Verständnis anscheinend befremdlichen Gestalt der sittlichen Freiheit (1.). Ich erläutere den Begriff der Familie in seiner inneren logischen Strukturierung (2.). Danach entwickele ich die Begrifflichkeit der Momente der Ehe (3.), des Familieneigentums (4.) und der Erziehung, die die ethische Auflösung der Familie ermöglicht (5.), und gehe dann der weiteren Bedeutung der Familie in der Darstellung der Philosophie des Rechts nach (6.). Zum Schluß, gleichsam als Resultat, mache ich einige Anmerkungen über die Bedeutung der Hegelschen substantiellen Begriffe der Familie.5
cisms and Reinterpretations of Hegel. – In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Nottingham. 45/46 (2002), 93–109. 3 Ein solches begriffliches Projekt bietet keine pseudosoziologische Lektüre wie: Sigfried Blasche: Natürliche Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Hegels Konstruktion der Familie als sittliche Intimität im entsittlichten Leben. – In: Manfred Riedel (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Band 2. Frankfurt a. M. 1975. 312–337. 4 Auch Martin Weber hat schon die Wichtigkeit der Erziehung als der wesentlichen Kernfunktion der Familie betont, diese aber doch nicht gebührend herausgearbeitet. – Vgl.: Martin Weber: Zur Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels. Berlin 1986. 90; 98. – Vgl. ebenso: André Lécrivain: Hegel et l’éthicité. Commentaire de la troisième partie des „Principes de la philosophie du droit“. Paris 2001. 50–51. – In einem Kommentar jüngeren Datums wird der Abschnitt zur Familie dagegen überhaupt nicht betrachtet: Ludwig Siep (Hg.): G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts. 2., bearbeitete Auflage. Berlin 2005. (Klassiker Auslegen. Herausgegeben von Otfried Höffe. Band 9) – Unterbestimmt bleibt sie auch bei: Philippe Soual: Le Sens de l’État. Commentaire des „Principes de la philosophie du droit“ de Hegel. Louvain-la-Neuve 2006. (Bibliothèque philosophique de Louvain. 68) – Die Idee der Erziehung ist völlig abwesend in der Problematik der Aufhebung des individuellen Denkens und Handelns bei: Jean-Claude Pinson: Hegel, le droit et le libéralisme. Paris 1989. 150–153. – Sowie bei: Paul Cobben: Postdialectische zedelijkheid. Ontwerp voor een Hegeliaans antwoord op Heidegger, Habermas, Derrida en Levinas. Kampen 1996. 260–270; 332–337. – Die gleiche sachliche Abwesenheit zeigt sich bei: Paul Franco: Hegel’s Philosophy of Freedom. New Haven/London 1999. 247–249. – Adriaan T. Peperzak: Modern Freedom. Dordrecht 2001. 421. – Und: Dudley Knowles: Hegel and the Philosophy of Right. London / New York 2002. 254–255. – Von den Werten der Familie betreffen anscheinend keine die Erziehung, denn sie werden nicht dargelegt von: Edward C. Halper: Hegel’s Family Values. – In: The Review of Metaphysics. A Philosophical Quarterly. Washington, D.C. 54 (2001), 815–858. 5 Ich referiere Hegels Rechtsphilosophie ohne weitere Angaben mit §§ und Anmerkung (A)
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1. Die Ebene der sittlichen Freiheit Die Welt des sittlichen Rechts ist für Hegel begrifflich eine Welt der Freiheit, die als gewollte da und wirklich ist.6 Um diese begriffliche Aussage richtig zu interpretieren, deute ich sie in drei Stufen. Die erste bietet einen Beweis für die sittliche Ebene einer wirklichen und gemeinsamen Freiheit, jedoch auf Grund von unzureichenden – rechtlichen oder moralischen – Voraussetzungen; auf der zweiten wird ein philosophischer oder logischer Beweis geführt, und auf der dritten werden die Implikationen für das Subjekt aufgezeigt, das in die sittliche Bewegung eingebettet ist.
a. Die Beschränkung der Voraussetzungen Die Voraussetzungen der sittlichen Welt, die als Voraussetzungen lediglich ideelle Momente des spezifischen Begriffs der Welt der Freiheit sind, bilden das abstrakte Recht (oder die abstrakten Prinzipien des Rechts) und die Moralität als eine weitere Form des Rechts (in der subjektive Prinzipien des Handelns aus moralischen Grundsätzen aufgeführt werden). Diese beiden Momente sind notwendig, aber sie erweisen sich in ihren mißlingenden Gestalten – als Unrecht (beim abstrakten Recht) bzw. als das Böse (bei der Moralität) – als unzureichende Prinzipien zur Gestaltung einer objektiven Welt, d. h. sie sind nur objektive oder subjektive Fassungen der sich gestaltenden Freiheit. Die Moralität für sich selbst allein ist so nur die Reflexion des Wollens in sich. Als Standpunkt oder Stufe des Willens, als Erkenntnis dessen, was das Gute in sich selbst ausmachen soll, verschwindet sie in dem Verständnis, daß die Moralität gerade eine institutionelle Bosheit wird, wenn sie sich zu einer eigenen Welt aufwerfen möchte. Dieses Böse, das die Moralität immer dann kennzeichnet, wenn sie nur für sich selbst ist und nur ein willkürliches oder abstraktes Recht für die Bestimmung des Guten in Anspruch nimmt, kann philosophisch erst widerlegt oder als unvermögend aufgezeigt werden, wenn es einen eigenen darstellbaren begrifflichen Inhalt gibt, der an und für sich die Entsprechung des Inhalts und der nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1967. Unveränderter Nachdruck 1967 der vierten Auflage von 1955. (Im folgenden: R) – Zusätze aus studentischen Notizen werden nicht betrachtet, mit Ausnahme der vollständig herausgegebenen Nachschriften, die gesondert aufgeführt werden. 6 Die wichtigste Einführung zu Hegels Rechtsphilosophie bleibt noch immer die – leider niederländischsprachige und nur ins Russische übersetzte – Darstellung von: Ludwig Heyde: De verwerkelijking van de vrijheid. Leuven 1987. – Eine insgesamt genaue Paraphrase der gesamten Grundlinien bietet: Philippe Soual: Le Sens de l’État. Commentaire des „Principes de la philosophie du droit“ de Hegel. A. a. O.
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Form bewirkt: wenn es eine Welt der Freiheit gibt, woraus Subjekte als Subjekte hervorgehen, und wenn es vorgegebene Institutionen gibt, die selbst aus sich als Wirklichkeit des Guten und nicht als Abstraktion desselben Geltung haben. Das Mittel gegen die Bedrohung durch das Böse ist eine institutionelle Freiheit, die zugleich mit ihr das gemeinsame Gute realisiert. Nur mit Institutionen, die die Substanz für das individuelle und reflektierende Subjekt ausmachen, gibt es deshalb begrifflich aufweisbar einen realen oder wirklichen Geist.7 Dieser Geist ist der Dreh- und Angelpunkt der Hegelschen Rechtsphilosophie. Mit ihm sind die gezeigten Positionen die eigenen Behauptungen einer Welt des (deshalb auch wirklichen) Rechts, denn dieser Geist ist kein individueller Wille mehr, sondern die lebendige Gewohnheit einer die Individuen integrierenden Welt des allgemeinen Geistes. Der lebendige Geist hat nun zu zeigen, daß und wie er eine gute Welt der Freiheit aufbaut. Um den wirklichen sittlichen Inhalt in begrifflicher und vernünftiger Weise aufzuzeigen, ist es philosophisch notwendig, die Aufhebung der vorhergehenden Momente durch die neue Bestimmtheit zu rekonstruieren. Von diesem Punkt an haben weder das abstrakte Recht noch die Moralität eine grundlegende philosophische Funktion; sie sind bloß die integrierten Voraussetzungen des wirklichen Begriffs selbst, des Begriffs der Freiheit, der instantiiert oder singularisiert ist, d. h. in jedem ‚sittlichen‘ Rechtsakt selbst aufzeigbar ist und aufgezeigt wird. Das abstrakte Recht ist nur das Prinzip des Gesetzes, jedoch schon inhärent in dem wirklichen Guten, das selbst als ein Gesetz formuliert werden kann. Die Moralität als Behauptung, selbst gut zu sein, bleibt weiter die bloße Selbstreflexion der subjektiven Freiheit, gerade und genau in der subjektiven Behauptung oder in dem Vorhaben, gut zu sein. Die Moralität bildet also von diesem Punkt an nur die subjektive Seite des Wissens einer sittlichen Institution oder Gemeinschaft, insofern diese Gemeinschaft oder Institution sich noch verantworten möchte.8 Sie beschränkt sich selbst, so daß sie sich als dem sittlichen Inhalt entsprechend zeigen kann und entweder als eine mehr beschreibende Doktrin der Tugenden oder als eine präskriptive Fassung der von den Institutionen geforderten Pflichten auftritt. In dieser begrifflichen Situation zeigt es sich endgültig, daß keine der vorhergehenden Stufen für die Bestimmung der neuen Vgl.: R, § 151. – Gerade der Geist faßt sich in jeder sittlichen Institution als eine spezifische Substanz den subjektiven Geistern gegenüber. ‚Substanz‘ bedeutet dabei, daß das notwendige Akzidens, sofern es in Beziehung auf die Substanz betrachtet wird, in der Substanz verschwindet, sofern die Institution als solche betrachtet wird. – Vgl. dazu: Susanne Brauer: Das Substanz-Akzidens-Modell in Hegels Konzeption der Familie. – In: Hegel-Studien. Hamburg. 39/40 (2005), 50. – Brauer betrachtet die Sittlichkeit als solche nicht, sondern beschränkt sich auf Familie und (ansatzweise) Staat. 8 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion. ‹a: Text›. Herausgegeben von Walter Jaeschke. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 4. ‹a: Text›. Hamburg 1985. 536. 7
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Ebene ausreichend ist. Um wirklich eine neue philosophische Bestimmtheit des Rechts zu erreichen, müssen die vorhergehenden Entwicklungen des abstrakten Rechts und der Moralität in der neuen ihre Wahrheit haben und zeigen: Die Tugend und die Gliederung eines von allen anerkannten oder für alle objektiven Gesetzes sind beides Momente, die der neuen Form inhärent sind. Diese neue Ebene des philosophischen Rechts ist dann auch als eine eigene Form einer sozialen und geschichtlich integrierten Wirklichkeit zu betrachten: Sie bildet Institutionen aus. Solche Institutionen, mit ihren wechselnden Beschreibungen, weisen spezifische Kennzeichen auf, die sie, nach der geschichtlichen Entfaltung ihrer Verschiedenheit, grundlegend von einander unterscheiden. Der ihnen inhärente Charakter des Rechts ist deshalb nicht abstrakt, noch bloß positiv, sondern die Institutionen können gestaltet und von positiven Gesetzen weiter geformt werden, die aber nur dann vernünftig sind, wenn sie den grundlegenden Prinzipien des philosophischen Rechts entsprechen oder dieses in ihnen wiedererkannt werden kann. In dieser Weise kann das Recht der Institutionen bestimmt werden, und diese können als bloße Objekte der positiven, selbst positivistischen Gesetze angesehen werden. Daß in solchen Institutionen eine Idee der Sittlichkeit gedacht werden kann, ist dagegen der Beitrag einer Philosophie, so wie die moralische Handlung des Subjekts als inhaltliche Pflicht und Tugend nur von diesen Institutionen ausgehend existieren kann. Die sittliche Bestimmung selbst kann gelebt werden; ihre ideelle oder begriffliche Deutung ist philosophisch, und nur hier ist die Wahrheit des Sittlichen begriffen. In dieser philosophischen Entwicklung gibt es also eine eigene Affirmation mit einem eigenen Namen für diese neue Bestimmtheit, die gerade in die zweiseitige subjektive und objektive Wirklichkeit singularisiert oder instantiiert werden kann. Gerade diese Entwicklung wird gesichert durch die ‚eigene‘ Logik des betrachteten Begriffs.9
9 Mit dem realphilosophischen Erreichen der Sittlichkeit gelten zahlreiche andersartige, alternative Rechtfertigungen nicht mehr: 1. Die empirische Rechtfertigung des Rechts und der Institutionen als ‚Gewohnheit‘ ist nicht mehr vertretbar, insofern diese Gewohnheit bloß kontingent oder zufällig ist. 2. Die Deduktion aus einem Naturrecht oder Naturgesetz ist zwar im Stande, einen Zwang zu rechtfertigen, aber eine soziale Gliederung des Vertrauens einerseits und der gemeinsamen Freiheit andererseits ist dadurch schwer auszumachen. 3. Der transzendentalphilosophische Ansatz ist zwar zur Deutung der bürgerlichen Gesellschaft geeignet; er ist aber nicht in der Lage, andere Institutionen klar und genau zu verorten: Kant spezifiziert die Ehe als Vertrag mit bestimmten Zügen, und Fichte bereitet eine Deduktion der Ehe vor in einem Appendix zum Naturrecht, zieht diese dann aber zurück in seiner Lehre der Sittlichkeit als einer ‚Aufgabe‘. – Eine geschichtliche Zusammenstellung der Formen der Rechtfertigung einer Gemeinschaft gibt: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Gedruckt mit Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zweiter Band. Weltepochen. (1806–1831). München/Berlin 1920. 113 ff.
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b. Die begriffliche Bewegung Die Logik, die hier in Anspruch genommen wird, ist sicherlich keine formale Logik, sondern sie zeigt die innere Entwicklung der spezifischen Bestimmungen der Philosophie auf und rechtfertigt damit die innere Kohärenz der Hegelschen Philosophie. Diese Logik ist eine Form, die Form des Denkens, welche Gegenstände (im weitesten Sinne) bewahrheitet. Die spekulative Logik ist vorerst die Selbstdarstellung der spezifischen Tätigkeit des Denkens, wodurch die Philosophie solche Gegenstände bewährt. Denn die Philosophie beansprucht, der Form oder dem Begriff nach solche Gegenstände zu rekonstruieren, die selber den Anspruch erheben, eine eigene hinreichende Wahrheit zu haben, von denen aber die Rekonstruktion erweist, wie sie für ihre Wahrheitsbehauptungen dennoch von der philosophischen Wahrheitsbehauptung abhängig sind.10 Die Philosophie ist deshalb nicht die Hervorbringung (Schöpfung) ihrer Gegenstände (Staaten z. B.), sondern sie ist die begriffliche Aktivität, diese ‚in ihrer Wahrheit‘ als dem Begriff entsprechend wiederherzustellen. In diesem Akt der philosophischen Wiederherstellung offenbart die Vernünftigkeit mit ihrem Anspruch auf Allgemeinheit den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen der wiederhergestellten Wahrheit und dem Zufälligen. Auf diese Weise ist die wiederherstellende Aktivität eine Singularisierung, Individualisierung oder Instantiierung solcher Momente, die in ihrem unmittelbaren Dasein die wahre Existenz ihres Begriffs zeigen. Die Bedeutung oder die philosophische Kraft des Begriffs liegt darin, daß er aus sich selbst – autonom – zeigt, daß er als spezifischer Begriff nicht nur für die Überwindung der vorausgesetzten Momente notwendig, sondern zugleich hinreichend zur freien Entfaltung derselben in ihrem philosophischen Recht und ihrer Würde ist.11
c. Die einzelne Person als Akzidens der geistigen Substanz In der Entfaltung des eigenen inneren Begriffs des Rechts zu einer Welt der Freiheit ist es klar, daß die einzelne Person als einzelne sich selbst mindestens einer wirklichen sozialen Gliederung zuordnen muß, die ihr gegenüber als Dies ist keine Deduktion aus der Wahrheit der absoluten Idee (oder aus irgendeiner kategorialen Ontologie), sondern es ist der Beweis, daß nichts wahrhaft wahr ist, als gerade bestimmte, spezifische, sich selbst als solche zeigende Wiederherstellungen der Idee. 11 Zur weiteren Darstellung solcher Ansicht des Fungierens des Begriffs sei der Hinweis erlaubt auf: Lu De Vos: Absolute Wahrheit. Zu Hegels spekulativem Wahrheitsverständnis. – In: Hans Friedrich Fulda / Rolf-Peter Horstmann (Hgg.): Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels. Stuttgart 1996. 179–205. (Veröffentlichungen der internationalen Hegel-Vereinigung. Band 21) 10
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selbständig und präexistierend erscheint, denn die Person ist in einer solchen geboren, und sie muß – ohne eigene Kraft einzusetzen und ohne einen Anspruch darauf zu erheben – durch diese Institution in ihrem Recht konstituiert werden. Bis zu dem Punkt, zu dem es eine wirkliche Schöpfung dieser Person gibt, gibt es nur vorausgesetzte einzelne Individuen, die als subjektive Geister frei zu sein beanspruchen und sich in ihrer vereinzelten Wirklichkeit als abstrakt frei denken und wollen. Erst innerhalb des Lebens der Sittlichkeit haben deren mögliche Glieder keine eigenständige, dominierende Position mehr: Die atomistische abstrakte Position oder Setzung muß also verschwinden, damit die wirklichen Formen der Sittlichkeit (eine wirklich freie Gemeinschaft des Geistes) hervortreten können.12 Die Sittlichkeit als solche hat deshalb einen substantiellen Charakter:13 Die Sittlichkeit ist die Substanz des Geistes. Zu ‚Substanz‘ gehören immer Akzidenzien, selbst bis zu dem Punkt, in dem diese sehen oder einsehen, daß sie innerhalb ihrer Substanz oder vielleicht gegen sie leben. Um dies etwas näher zu beleuchten: Das Ich als Subjekt kann aus der Substanz auszutreten oder selbst spezifische Formen derselben zu vernichten versuchen, aber das Subjekt kann nie all diese substantiellen Gestalten in deren substantieller Totalität vernichten – ausgenommen durch den Einsatz der Atombombe, die das irdische Leben überhaupt vernichtete; noch weniger kann irgendein Subjekt die substantielle Form (ab initio) ohne irgendeine Erinnerung an eine vorhergehende Sachlage derselben Art schöpfen oder aufstellen.14 (Wenn es keine Familien gegeben hätte, gäbe es keine andersartigen Familienverbände oder Staaten; nur die Ausdifferenzierung ist die Entfaltung der bestimmbaren Substanz.) Eine Substanz liegt also nie in meiner individuellen Macht;15 nie kann ein Individuum den Anfang einer sittlichen Gemeinschaft in einer radi-
Vgl.: R, § 303, A. Selbst wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft umgekehrt zu sein scheint: Die herrschende Position ist hier nicht den Individuen gewährt, sondern dem Markt, der unbeherrschbaren wechselseitigen Verwobenheit der sich darin betätigenden Individuen. 14 Die Wortverwendung ‚ehe-ähnliche‘ Lebensgemeinschaften selbst zeigt schon, daß Gliederungen wie Ehe und Familie nicht erfunden, sondern fortgesetzt werden. 15 Vgl. das Beispiel der Antigone in der Wannenmann-Nachschrift: Einen neuen Mann zu wählen oder ein neues Kind zu bekommen ist für sie möglich, aber einen neuen Bruder oder eine Schwester von den Eltern geschenkt zu erhalten, das steht nicht in der Macht des Individuums ‚Schwester‘; diese Relation (Bruder – Schwester) ist ein Geschenk unserer ersten Substantialität und verlangt dann auch eine erste Form der tugendhaften Entsprechung, der Pietät. – Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Herausgegeben von C. Becker,W. Bonsiepen, A. Gethmann-Siefert, F. Hogemann,W. Jaeschke, Ch. Jamme, H.-Ch. Lucas, K. R. Meist, H. Schneider mit einer Einleitung von O. Pöggeler. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 1. Hamburg 1983. 107, § 87, A. (Im folgenden: 1817/18) 12 13
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kalen und allgemeinen Weise oder schlechthin machen; solche Gründungen werden nur – nach mythischen oder religiösen Erzählungen – von mythologischen Helden gestaltet. Deshalb muß die wirkliche soziale Geistigkeit als eine Substanz eingeführt werden, um das notwendig Gemeinschaftliche der Freiheit zu erklären: Mit ihr muß wenigstens ein Akzidens gegeben sein, und hierdurch ergibt sich eine Dualität innerhalb der Substanz, für welche keine andere Selbstgenügsamkeit oder Substantialität (der gleichen Ordnung) ist; und das Subjekt, selbst als moralisches, hat sich der sittlichen Substanz gegenüber als ein solches bloßes Akzidens zu entdecken; anderenfalls wäre nichts weiter möglich als eine Zusammensetzung und ein zufälliger Vertrag zwischen dem einen und dem anderen Individuum. Eine solche Zusammensetzung kann aber nie eine unmittelbare und nicht herleitbare, ursprünglich zu nennende Einheit erklären. Sie wäre ein Aggregat, und um solche zerstörbaren Einheiten zu vermeiden, die nie das unmittelbare Zusammensein und Zusammenbleiben des Lebens und Webens innerhalb ihrer erklären können, ist die neue Ebene substantiell und deshalb in ihrer Form eine komplexe, wenigstens die genannte Dualität umfassende Einheit. Das Prinzip der Zufälligkeit oder Willkürlichkeit der Vielheit ist deshalb weder das Prinzip der Familie noch dasjenige des Staates, sofern beide behaupten, daß sie in ihrem Begriff auch substantielle Merkmale haben; solche Willkür hingegen wäre ein Verstoß gegen die Sittlichkeit.16 Innerhalb eines solchen substanziellen Verhältnisses, das Geist heißt oder ist, sind noch verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Ohne das Leben oder die Unmittelbarkeit einer solchen Ebene können keine lebendigen oder vielmehr unmittelbaren Personen in Betracht kommen. Deshalb stellt die erste Ebene der Sittlichkeit eine unmittelbare, lebendige Substanz dar: Eine solche ist die Familie.17
2. Die Familie als substantielle Institution Das Individuum kann und muß seine Substanz als eigene und lebendige Substanz fassen, damit es in ihr ein unmittelbares substantielles Verhältnis haben kann: Es kann nur Glied oder Akzidens dieser Substanz sein. Sein Wissen (als moralisch genanntes Einsehen) muß seine unmittelbare Geisteshaltung sein, sein Gefühl die Einheit mit seinem (substantiellen) Wesen. Das Recht des IndiviVgl.: R, § 281, A. Vgl. als Kommentar, in dem die ‚aktuellen Themen‘ unserer Zeit besprochen und in traditioneller Weise widerlegt werden: Christoph Jermann: Die Familie, Die bürgerliche Gesellschaft. – In: Christoph Jermann (Hg.): Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 145–182; hier 145–165. (Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus. Abteilung II: Untersuchungen. Band 5) 16 17
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duums besteht nicht so sehr in der Erkenntnis des Guten in ihrer Abstraktion und in der allgemein behaupteten Geltung des Guten, sondern sein Recht ist vielmehr ein Unmittelbares, und das Individuum hat dies Recht (an-)zu erkennen in dieser Unmittelbarkeit: Nur so ist das Individuum konkret innerhalb der Substanz, in der es eine bloße natürliche Unmittelbarkeit einer geistigen Ordnung erhält – in Hegels Terminologie, als (individuelle) Einzelheit.18 Dieser Begriff verweist auf Hegels Logik. Er hat eine doppelte Bedeutung: Er meint die erste unmittelbare Existenz eines dann ausgeführten Begriffs, wie er auch die wahrhafte völlig entfaltete Begriffsform desselben andeutet. Zu Beginn der Entfaltung wird dieser unmittelbare Terminus als unmittelbar aufgenommen, in der Bedeutung von: „Wie kann es einen Fall geben, wo die Substanz (einzelner Individuen) als unmittelbar instantiiert dasein kann?“ Die Unmittelbarkeit dieser Entsprechung wird von Hegel ‚Leben‘ genannt, und deshalb kann der Familien-Begriff, allein mit Hegels logischen Mitteln, verbunden werden mit dem Begriff des Lebens als der ersten, unmittelbaren Form des Guten, das die logische Bedeutung des realen Rechts aussagt. Von dieser doppelten Anwendung der Logik auf sich selbst können wir – interpretatorisch und versuchshalber – den Begriff des Lebens des Guten erwarten. 1. In seiner durchgängigen Bedeutung des Guten als daseienden hat das Unmittelbare oder das Leben dieses Guten, das daseiende Gute in seiner individuellen Gliederung, sich zu zeigen als soziale Person. 2. Die Voraussetzung einer nicht-lebendigen Objektivität transformiert sich als Fall des Rechts in die spezifische persönliche oder rechtliche Andersheit dieser benötigten Welt. 3. Die interne Spaltung der lebendigen Gattung – in diesem Fall des sich verwirklichenden Guten – zeigt nicht die bloße Reproduktion einer unendlichen Reihe von Individuen, sondern die Gattung zeigt das in einer Persönlichkeit als Aufgabe vorhandene Gute als die Reproduktion eines ‚freien‘ Individuums.19 18 Wo es scheinen kann, daß die Mitglieder der Familie vor der Ehe ein Verhältnis von Mitgliedern einerseits und Gemeinschaft andererseits vorfinden (Lesart 1), erscheint nur an einem solchen Absoluten, das wissender Geist ist, ein Selbstverhältnis (oder ein Verhältnis des Begriffs zu sich, das in den Beziehungen der Substanz aufgeht, Lesart 2). Solches Substantialitätsverhältnis wäre m.E. nur beim absoluten Geist einsehbar. – Vgl.: Susanne Brauer: Das Substanz-Akzidens-Modell in Hegels Konzeption der Familie. A. a. O. 49. 19 Diese Gliederung entspricht nicht der Hypothese von: Klaus Hartmann: Towards a new systematic reading of Hegel’s Philosophy of Right. – In: Studies in Foundational Philosophy. Amsterdam/ Würzburg 1988. 298 ff.; vornehmlich 305, wo die Familie als die unmittelbare natürliche Einheit eines pluralen Geistes (soweit einverstanden), mit der Allgemeinheit des Mannes, der inwendig gekehrten Rolle der Frau und dem Kind als der individuellen Totalität der Familie erscheint. – Zum Wiederauftreten des Begriffs des Lebens: Vgl.: Denis Rosenfield: Politique et Liberté. Une étude sur la structure logique de la „Philosophie du droit“ de Hegel. Paris 1984. 173. – Zur Spezifikation der Familie als Leben des Guten vgl. meine alte Hypothese in: Die Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Eine Vermutung. – In: Hegel-Studien. Hamburg. 16 (1981), 99–121. – Vgl. dazu auch: Lu De Vos: Das Leben des Staates. – In: Hegel-Jahrbuch. Das Leben denken. Erster Teil. Berlin
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Auf Grund dieser ‚Logik‘ der Familie, in welche die Formen des Lebens hineingeschoben worden sind, sind die folgenden Momente zu berücksichtigen: die Ehe, das Vermögen der Familie und die Erziehung. Die Pointe dieser Deutung ist dabei – gegen fast die gesamte Forschung –, daß im Brennpunkt der Darlegungen Hegels nicht die Ehe steht, die zwar begriffsnotwendig ist, sondern daß das Bedeutende und rechtsphilosophisch Wichtigste der Familie, das Hinreichende, erst die Erziehung ist.
3. Die Ehe Das erste spezifisch geistige oder begrifflich notwendige Moment der Familie – und deshalb nicht der vollständige, hinreichende Begriff, der erst aus dieser abstrakt-ersten Darstellung zu entfalten ist – ist dieses, daß die Familie eine unmittelbare, sittliche Beziehung ist oder eine Institution, die die (geistige) Einheit ihrer Mitglieder garantiert, so daß also die Mitglieder, wenn diese Bezeichnung zutrifft, nur Akzidenzien dieser Beziehung in ihrer Vereinigung mit dieser Einheit sind. Diese unmittelbare und zugleich komplexe sittliche Einheit muß begrifflich betrachtet werden;20 deshalb wird Hegel diese Gliederung ausführlich erläutern. ‚Sittliche Einheit‘ ist ohnehin minimal eine Substanz, wie jede sittliche Form. Aber was kann ‚Substanz‘ in Beziehung auf ein Individuum bedeuten? Ist das Leben genügend als Substanz eines freien Individuums? Sicherlich nicht, denn ‚Leben‘ ist nur hinreichend für das lebendige Individuum.21 ‚Substantielles Leben des Guten‘ aber muß ein freies, sittliches Leben bedeuten: Deshalb ist die geschlechtliche Einheit (der Gattungsglieder) nicht hinreichend zum Begriff einer (freien, institutionellen oder sittlichen) Person. Diese Einheit muß also weiter und besser spezifiziert werden; sie muß eine wissentlich (in der Form der Moralität) vollzogene und gesetzlich (rechtlich) bestimmte Einheit der beiden natürlich unterschiedenen Glieder sein. Dieser geistige Vollzug durch die mög-
2006. 340–346. – Hierbei sei angemerkt, daß gerade die bloße Reproduktion der Individuen der Substanz, die sich in Erziehung und Bildung zeigt, nicht ausreicht, um die Struktur der Grundlinien zu erläutern. – Vgl. dazu: Frederick Neuhouser: Foundations of Hegel’s Social Theory. Actualizing Freedom. Cambridge, Mass./London 2000. 148–165. 20 Vgl.: Peter J. Steinberger: Logic and Politics. Hegel’s Philosophy of Right. New Haven/London 1988. 161–189. 21 Deshalb ist jede organologische These (vgl.: Rolf-Peter Horstmann: Ontologie und Relationen. Hegel, Bradley, Russell und die Kontroverse über interne und externe Beziehungen. Königstein/ Ts. 1984. 65–92; sowie: Georg Sans: Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre. Berlin 2004. 13–20. [Hegel-Forschungen. Herausgegeben von Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann]) in Beziehung auf die Ideenlehre Hegels unzureichend. – Vgl. dazu auch: Hans Friedrich Fulda: Hegels Logik der Idee und ihre epistemologische Bedeutung. – In: Christoph Halbig/ Michael Quante/ Ludwig Siep (Hgg.): Hegels Erbe. Frankfurt a. M. 2004. 78–137; 82–93.
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lichen Mitglieder, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden, kann dann (unmittelbar) Liebe genannt werden.22 Die Familie als Substanz ist damit das minimale sittliche Leben.23 Die Ehe hat eine unmittelbare Beziehung der Einheit ihrer Glieder, aber sie kann nicht mehr unmittelbares Leben sein, denn dann wäre diese Einheit nicht frei.Wäre sie bloß als natürliche Einheit genommen, so wäre die Ehe keine Form der Sittlichkeit! Doch was für eine Art von Einheit kann sie dann sein? Eine Einheit, in der jedes Mitglied nur dann Mitglied ist, wenn die Einheit beider nicht in der Macht eines einzigen Individuums allein steht. Beide müssen zusammen die gleiche Einheit vollziehen, selbstverständlich in einer anderen, aber liebevollen Weise. In ihrem Vollzug durch zwei wirkliche besondere Glieder wird die eine und übergreifende Einheit hervorgebracht. Die besonderen Mitglieder sind freie Personen – und selbst aus verschiedenen Familien –, aber zugleich ebenso biologische Individuen. Anderenfalls wären sie, ihrer Freiheit ungeachtet, überhaupt keine lebendigen Individuen. Und die Besonderheit ist hier eine biologische Verschiedenheit, denn nur aus dem natürlichen Leben ergibt sich eine unmittelbare irreduzible, deshalb auch visuell beobachtbare, untilgbare Dualität.24 Die natürlich unterschiedenen Personen bilden zusammen eine unmittelbare Einheit, d. h. eine Person. Diese Personalität der Familie ist keine natürlich-einzelne Person, sondern sie wird eine moralische Person genannt.25
Diese Hingabe als selbstbewußte Aktivität ersetzt in Hegels Berliner Zeit vermutlich die Jenaer freie Lebendigkeit. – Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Unter Mitarbeit von Johann Heinrich Trede herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 8. Hamburg 1976. 240. 23 In seinen Ausführungen kommt Hegel auf geschichtlich andere Formen der Familie zu sprechen (griechische, römische und solche des Mittelalters); wichtig aber ist ihm nur der unreduzierbare, vermutlich minimale Begriff einer nicht-mehr-natürlichen Einheit verschiedener natürlicher Geschlechter, um eine sinnvolle und vernünftigerweise gesetzmäßige Darstellung der Ehe und der Familie zu ermöglichen. 24 Es scheint ein wirklich schöner Witz zu sein, daß gerade Hegel, der sog. Denker der indifferenten Identität, völlig akzeptiert, daß erst aus der biologischen Unterschiedenheit eine spezifische sittliche Bedeutung entsteht. Sogenannte Ehen gleichgeschlechtlicher Glieder sind – nach Hegel – eine Vernichtung der sichtbaren, biologischen Differenz; mehr noch, sie müssen als eine unvernünftige, denn abstrakte Annahme einer Behauptung der bloßen Gleichheit, die sich als Welt manifestieren will, betrachtet werden, und deshalb wären sie ein Beispiel einer unsittlichen Gewohnheit. – Das Argument der natürlichen Unterschiedenheit entstammt der Hegelschen Logik: Um eine lebendige Art zu haben und für alle vorzeigbar zu erhalten, muß diese die Einheit unterscheidbarer und in ihrer besonderen Spezifizität unterschiedener Individuen sein. Der Unterschied muß zugleich minimal und unherleitbar sein, wenn es eine lebendige Unterschiedenheit sein soll. Solche natürliche Differenz wird dann zugleich als eine geistige verstanden; Mann und Weib kommen gesetzlich bestimmt aus verschiedenen Familien. 25 Vgl.: R, § 279, A. – Diese Eine Person ist auf die Eltern und Kinder beschränkt; insofern ist Hegels Text nach der Französischen Revolution enstanden: „la loi ne reconnaît pas de domesticité“. 22
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Wann wird solche Einheit realisiert? Durch Kopulation oder Beiwohnung?26 Weder noch, denn diese Fälle sind nur physisch-biologische, und dann wäre die Substanz der Individuen bloßes Leben. Durch reines Versprechen einer unendlichen Liebe? Auch dies nicht; es wäre der vielleicht moralisch zu nennende Fall, doch solches währt nur in einer endlichen Zeit der Verliebtheit.27 Die einzig verbleibende Möglichkeit ist das Hervorbringen oder Aufstellen einer wirklich rechtlichen Einheit, anerkannt von anderen, d. h. von den Familien, durch die feierliche, öffentliche Erklärung der wechselseitigen Liebe. Nur in dieser öffentlichen und anerkennbaren Erklärung liegt Hegels Spezifikation der minimal notwendigen sittlichen Form der Ehe. Eine Ehe ist nur dann eine Ehe, zwei Personen lieben einander als eine und nur eine Person, wenn diese Vereinigung den anderen Familien oder Personen gegenüber erklärt worden sind, so daß sie wechselseitig unabhängige sozial organisierte Personen bilden. Mit dieser Provokation aller romantischen und individualistischen Seelen – wie Karl Wilhelm Friedrich Schlegel oder Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (und vielleicht der meisten unter uns) –, mit einer Abweisung aller liberalen und libertinen Geister unterstreicht Hegel die sittliche Bedeutung des hier erreichten einzigen (auf zwei Personen verteilten) Selbstbewußtseins. Das sittliche oder geistige Selbstbewußtsein, wodurch zwei als eine und dieselbe Person ihre Substanz ausmachen, ist allein dadurch wirklich und als wirklich erkannt, daß diese Form der Einheit auch öffentlich erklärt wird. Und diese Erklärung der beiden Willen schafft nun aus zwei Personen oder Subjekten nur eine gegliederte Person.28 Die feierliche Erklärung ist die grundlegende Kennzeichnung: Diese und nur diese kann anerkannt werden und ist deshalb auch gesetzlich zur Persönlichkeit bestimmt.29 Diese Anerkennung braucht nicht die weitergehende Zustimmung der Eltern oder der Familien oder anderer. 26 Vgl.: 1817/18, § 78 A. – Aus diesem Verständnis ist die Beziehung zwischen ‚Aufhebung‘ und Kopulation unmöglich, wie sie suggeriert zu werden scheint von: Jacques Derrida: Glas. Paris 1974. 127. 27 Hegels ironische Ansicht dieses Empfindens kann in folgendem Zitat über den modernen Roman ausdrücklich gefunden werden: „Das Ende wird sein, daß es [= das männliche Individuum] […] sich […] erwirbt, eine Frau, die aber […] eine Frau ist, nicht besser als die meisten anderen.“ – Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Herausgegeben von Annemarie GethmannSiefert. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 2. Hamburg 1998. 197 f. 28 Diese zeremonielle oder rituelle Installation ist zwar eine der Gemeinschaft, aber sie ist keine legalistische: Die Zeremonie muß von den staatlichen Gesetzen anerkannt werden. Sowohl in dieser Hinsicht wie in dem Fall der Lösung der Ehe scheint Hegel seinen vormaligen Freund Schelling im Gedächtnis zu haben: In dieser persönlichen Sphäre gibt es, wenigstens von Seiten Hegels, keine Aggressivität. 29 Mit diesem Kennzeichnen wird deutlich und bewußt ausgesprochen, daß die Institution
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Nur nachdem gesichert ist, daß es eine institutionelle, d. h. minimal substantielle Einheit gibt, können die Mitglieder dieser basalen Einheit in ihrer Funktion unterschieden werden: Sie finden Befriedigung in einander.30 Gerade solche Passagen, in denen Hegel zeigt, daß jede Einheit eine gegliederte Einheit unreduzierbarer Momente ist, sind fast ausnahmslos scharf kritisiert worden. Doch ohne unterschiedene Funktionen innerhalb einer Familie gibt es keine wirkliche Einheit der (gemeinsamen) Familie überhaupt.31 Die verschiedenen Funktionen sichern die gegliederte Einheit der moralischen Person in der Ehe; wenn diese nicht durch natürlich unterschiedene Individuen gesichert wird, gibt es keine gültige (sittliche) Singularisierung der Institution (und der dazu gehörenden Funktionen innerhalb ihrer), sondern bloß willkürliche Wahl.32 Deshalb verleiht diese Unterscheidung einer spezifischen geistigen Form eine sittliche Bedeutung.33 Diese spezifisch geistige Unterscheidung versucht,
der Ehe nicht im Blick auf erbschaftliche Titel oder Eigentumsverhältnisse konzipiert wird; in Gegensatz dazu scheinen gerade solche (bourgeoise) Eigentums- und Erbschaftsfragen stets bei den Verantwortungen und politischen Diskussionen der Ehen gleicher Geschlechter sowie bei Zusammenlebenskontrakten nicht-institutionalisierter eheähnlicher Verhältnisse im Vordergrund zu stehen. 30 Es gibt eine Unterscheidung zwischen Begierde (desire) und Bedürfnis (besoin): Dieses ist wesentlich nicht sozial, jene ist wesentlich sozial; sie hat ihre Befriedigung nur in der Befriedigung von Seiten eines/r unherleitbaren Anderen. Diese Befriedigung aber ist nicht der Grund der Sittlichkeit, sondern folgt geistig aus der Inanspruchnahme einer freien (substantiellen!) Gliederung. 31 Um die Differenzierung der Funktionen wiederherzustellen, könnte man die Praxis unterstützen, die darauf geht, der Familie den Namen des immer schon gestorbenen Vaters – denn nur dieser gehört der weiter vererbbaren Tradition – als geistige Andeutung zu geben, da der Mutter die Funktion des immer daseienden Lebens (bis jetzt und technisch schon nicht mehr ganz) nicht abgesprochen werden kann. Solche Verteilung könnte nur dann – von Feministen – als Diskriminierung bezeichnet werden, wenn der Name – in einer radikal liberalen Tradition – als ein eigenes Eigentum betrachtet würde. Sie kann noch immer als dual kritisiert werden, wenn die geistige Funktion mit dieser Namensgebung als außerhalb der Familie (also in Wirtschaft und Staat) Konsequenzen nach sich zöge. 32 Eine Kritik dieser Auffassung gibt Pinkard, für den die feministische Kritik gerechtfertigt zu sein scheint: „[…] it is not [Hervorhebung Lu De Vos] necessary that in social terms each of these aspects necessarily be represented by discrete individuals or groups.“ – Terry Pinkard: Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason. Cambridge 1994. 307. 33 Mit der Behauptung einer sittlichen Bedeutung scheint mir kein Problem verbunden. Mit der sittlichen Bedeutung scheint Hegel zugleich problematischerweise eine geistige Bedeutung von Mann und Frau zu verbinden (vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. [1827] Herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und HansChristian Lucas. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 19. Hamburg 1989. § 397. – Oder: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. [1830] Unter Mitarbeit von Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 20. Hamburg 1992. § 397. – Vgl. zudem: Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
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ein besonderes Problem zu lösen: Warum benötigt der (soziale oder objektive) Geist als Negation der Natur die Dualität der Natur? Oder warum haben menschliche Wesen, die unherleitbar freie Wesen sind, in ihrer Negation der Natur dennoch natürliche Unterscheidungen?34 Diese können nur dann eine Bedeutung haben, wenn die Sittlichkeit als Leben Gemeinschaften hervorbringt, in denen die natürlichen spezifischen Unterscheidungen ihre Rolle nicht nur spielen können, sondern auch müssen.35 Für die unmittelbare Form der Sittlichkeit findet sich diese Bedeutung in der Gliederung durch geistig bedeutsame natürliche Unterschiede. Denn in der Sittlichkeit sind menschliche Wesen frei als wirkliche, objektive lebendige geistige Wesen. Die Frage ist also nicht: ‚Wie können biologische Unterscheidungen menschlich werden?‘, sondern vielmehr: ‚Warum bleiben bedeutende natürliche Unterscheidungen in der Sphäre des menschlichen Rechts oder der Freiheit noch erhalten, so daß die Freiheit sich ihnen nicht widersetzt, sondern sich in ihnen findet?‘ Als Folgen der komplexen Einheit ermöglichen solche Unterschiede eine Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828. Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter. Herausgegeben von Franz Hespe und Burkhard Tuschling unter Mitarbeit von Markus Eichel, Werner Euler, Dieter Hüning, Torsten Poths und Uli Vogel. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 13. Hamburg 1994. 56 ff.), wobei kein Problem entsteht, sofern diese Bedeutung sich nur auf die sittliche beschränkt, denn Sittlichkeit ist ein geistiges Phänomen. Hegel aber scheint damit in den Grundlinien auch eine intellektuelle Unterscheidung zu verbinden. – Vgl.: R, § 165. – Dort erscheint Hegel wirklich kleinbürgerlich, sofern seine Behauptung bloß seine Zeit widerspiegelt, in der die bürgerliche verheiratete Frau zu Hause blieb, und dies wird verstärkt durch die Lektüre der Griechen. Hegels Ansicht der Unvernünftigkeit der Frauen in der Politik mag aus seinem Verständnis der schlimmen Einflüsse bestimmter französischer Maîtressen in der Landespolitik inspiriert sein. – Hegels Argument aber ist, daß für eine konkrete Philosophie das abstrakte Recht einer absoluten Gleichheit nicht hinreichend ist, um die wirklichen, konkreten Unterscheidungen der menschlichen (geistigen) Sexualpartner innerhalb einer sittlichen Institution zu begreifen. Hegel selbst scheint wenigstens mit einem Problem nicht fertig zu werden: In der Ausarbeitung einer strikten Unterscheidung zwischen der Allgemeinheit des Mannes und der Besonderheit der Frau in dieser Spaltung (vgl.: R, § 166) muß er zumindest begrifflich diese Differenz zurücknehmen, denn er kann logisch die konkrete Universalität nicht immer dem Mann zusprechen, sofern dieser nur eine von zwei Arten vertritt; nur abstrakte Allgemeinheit und abstrakte Besonderheit sind selbst Momente der gleichen Besonderheit. 34 Dieses Problem hat nichts mit der Lösung dreier Probleme zu tun, die Hegel zugesprochen werden von A. Wood: der Versöhnung der reflektiven und substantiellen Prinzipien in sozialen Rollen; der Integration des Prinzips der subjektiven Freiheit in einem substantiellen Verhältnis und dem Bewußtsein einer gleichen Würde von Frau und Mann. – Vgl.: Allen W. Wood: Hegel’s Ethical Thought. Cambridge 1990. 244–246. – Eine pertinente Widerlegung dieser Position bietet: André Wylleman: Twee vormen van Hegel-lectuur. – In: Tijdschrift voor Filosofie. Leuven. (1992), 522–526. – Terry Pinkard dagegen ist mit Wood einverstanden. – Vgl.: Terry Pinkard: Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason. A. a. O. 307. 35 Die Negation der Natur stellt sich hierbei nicht als eine abstrakte überhaupt heraus, sondern versucht, konkret zu sein. In solcher Konkretion empfängt die natürliche Funktion keine zusätzliche Bedeutung, sondern die geistige Bewegung der Person gliedert sich selbst (als solche) in die Aufnahme der natürlichen gekennzeichneten Eigenschaften.
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gültige Bedeutung nur in einer monogamen Ehe freier Personen aus wirklich unterschiedenen Familien. Solche Ehe ‚soll‘ auch unzerstörbar oder dem idealen Wesen nach unlösbar sein. Wenn die Ehe notwendig unlösbar ist, dann ist die Seite der (subjekt-verbindenden) Überzeugung nicht ausreichend, damit die Personen eine freie Einheit herstellen. Eine mechanische Sittlichkeit (die Hegel der katholischen Auffassung zuschreibt, wo die Ehe auch ohne Überzeugung erhalten bleiben muß) ist eine sittliche Unmöglichkeit. Aber auch die Ehe berühmter Personen, die jedes Jahr eine neue Ehe schließen, ist ja nicht sittlich zu nennen, sondern sie ist, wie die Ehe Ciceros, eine Wahl aus Eigennutz, als solche vielleicht gesetzmäßig, aber ohne Tugend und deshalb ganz und gar nicht sittlich.36 Die (zerbrechliche) Einheit bloß zu behaupten, ist für sich also unzureichend. Um die Unabhängigkeit der Ehe zu garantieren, um also eine eigene Sache für die Familie zu haben, muß die Ehe als zum Begriff gehörig mehr aufweisen können als die (praktische und anerkannte) Erklärung (und damit auch das Verhalten ihrer Mitglieder).
4. Das Vermögen der Familie Die Familie, begrifflich notwendig spezifiziert in der Ehe, ist eine Person, und deshalb ist es begrifflich basal, ihr etwas als ihre eigene Sache zuzuschreiben: Wie ihr Leib, der als ihr wesentliches Eigentum erscheint, für die abstrakte Person der minimale praktische Gedanke ist, ist das Mindeste einer Familie als der Raum zu denken, der zum liebevollen Zusammensein notwendig ist. Solches Vermögen ist also ein gemeinschaftliches, und nur als soziales oder gemeinsames Eigentum ist dies Eigentum sittlich;37 deshalb hat die Familie Eigentum, und nicht nur eines ihrer Mitglieder oder beide; nur insofern das Eigentum zur gemeinschaftlichen Person der Familie gehört, ist es wirklich Besitz der Familie. Weil die Familie also eine gegliederte Gemeinschaft oder nur eine Person ist, die sich als Einheit erweist, hat bloß eines ihrer Mitglieder die Funktion, das Vermögen der Familie zu vertreten. Selbstverständlich bleibt dabei die natürlichkontingente Möglichkeit bestehen, daß das Mitglied, das für das Vermögen zuständig ist, sich des Eigentums bemächtigt und es usurpiert. Solche Usurpation aber ist nicht ausreichend, um die Einheit der Person der Familie (sogleich) zu vernichten und sie durch das duale Aggregat eines immer in sich unterschiedenen Gegen solche monogame Herausstellung hat die Ethnologie weder etwas einzuwenden noch hat sie sie zu kritisieren, insofern die rechtliche Institution eine freie, praktische und keine beschreibende Bestimmtheit vorführt. 37 In dieser Bedeutung gibt es keine liberale Tradition bei Hegel, sondern sein spezifi scher solidarischer Ansatz erklärt und rechtfertigt Eigentum als eine sittliche Macht. 36
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Ganzen von Mann und Frau (in zeitgenössischem liberalen, sogenanntem nichtdiskriminierenden Recht) zu ersetzen. Solche, jetzt geforderte, Dualität ist vielmehr geeignet, die Personalität der Einheit der Familie zu vernichten. Nur wenn beide Eigner zusammen eine Person ausmachen, ist die Einheit der Ehe gegen die Bedrohung der anderen, d.h. meistens der vormaligen Familien gesichert.
5. Die Erziehung in der Familie und die Auflösung der Familie Die Erziehung des Kindes zu einem freien Individuum ist aber der Hauptpunkt der unmittelbaren sittlichen Substantialitat.38 Nur mit der Betrachtung dieser Erziehung ist ein vollständig erarbeiteter Begriff der spezifischen unmittelbaren sittlichen Gemeinschaft erreicht. Mißlingt diese Erziehung, dann gibt es keinen hinreichenden Ansatzpunkt für eine philosophische Betrachtung der Familie. Wieso? Die Erklärung der gegliederten geistigen Einheit kann durch Untreue zerstört werden; das Eigentum oder der Besitz kann durch Unglück oder Mißbrauch vernichtet werden; in beiden Fällen verschwinden die begrifflichen Bestimmungen der einen moralischen, durch die Ehe konstituierten und zu erhaltenden Person einerseits und ihre sichtbare Kennzeichnung andererseits. Die wirkliche unmittelbare begriffliche Einheit dagegen ist, auf der Ebene des natürlichen Lebens, das Kind; aber gerade die Reproduktion eines neuen menschlich-lebendigen Wesens ist in geistiger Hinsicht nicht genug. Das Kind ist nur dann eine eigene, und dies heißt auch sittliche Person, wenn es Reproduktion eines freien, nicht nur natürlich-lebendigen Wesens ist. Nur dann, wenn das Kind die Wiederherstellung der Sittlichkeit aus sittlichen Momenten ist, ist es die hinreichende geistige Instantiierung der eigenen (jetzt gerade die Unmittelbarkeit, sofern sie noch etwas bloß Lebendiges ist) aufhebenden Einheit der Familie – oder die konstituierte Einheit der Ehe zeigt sich als Affirmation der Familie. Diese resultierende Instantiierung der sittlichen Geistigkeit der Familie selbst ist dann das Resultat beider: einerseits der unmittelbaren Liebe, die gesetzliche Fortpflanzung ermöglicht, und andererseits der unmittelbaren Verleiblichung dieser erklärten Gemeinsamkeit der Liebe, des Vermögens – ein Resultat also, das strukturelle Möglichkeiten für die Erziehung mit sich bringt. Mit dieser Erziehung ist wirklich die Ebene der vollständigen Wirklichkeit der minimalen (unmittelbaren) Sittlichkeit erreicht, denn erst ein erzogenes Individuum kann abstrakte Rechte für sein persönliches Leben haben, sowie es
Vgl.: André Lécrivain: Hegel et l’éthicité. Commentaire de la troisième partie des „Principes de la philosophie du droit». A. a. O. 50–51. – Auch Frederick Neuhouser führt Erziehung und Bildung zusammen als Reproduktionsmomente der Sittlichkeit vor. – Vgl.: Frederick Neuhouser: Foundations of Hegel’s Social Theory. Actualizing Freedom. A. a. O. 38
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sich für sich ernstlich darum bemühen kann, im vollen Sinne moralisch oder handlungsfähig zu werden. Die minimale Annahme der Rechtsphilosophie, eine wirkliche Person, die sich zum Subjekt gestaltet, und nicht nur die abstrakte Begrifflichkeit oder die Prinzipialität einer solchen als objektiven Begriff zu entfalten, ist deshalb erst nach der Erziehung eines biologisch menschlichen Wesens zu einer freien Person, die Subjekt ist, aus oder von deren eigener Substantialität aus gerechtfertigt.39 Die Reproduktion eines Kindes als natürliche Einheit zweier biologisch verschiedener Personen ist schon die sichtbare Einheit ihrer Verschiedenheit, aber es ist nur die biologische Reproduktion als solche innerhalb der menschlichen Art; insofern bleibt sie bloß natürlich. In der gattungsmäßigen Reproduktion eines Kindes liegt keine Darstellung einer realen oder wirklichen Freiheit überhaupt. Zu dieser Darstellung kommt es nur, wenn aus dem Vermögen der Familie das Kind zu einem künftigen freien Mann oder einer freien Frau erzogen wird.40 Von Anfang an ist es eine künftig freie Person. Über diesen Punkt gibt es keine Diskussionen, selbst keine grundlegende philosophische Nachfrage: Die bloße Aufgabe einer Erziehung ist damit gesichert. Vielmehr steht der genaue Inhalt eines solchen Programms, nämlich wie die Erziehung im täglichen Leben zu vollziehen ist, zur Diskussion. Hegels Ausarbeitung erscheint deshalb als eine detaillierte, geschichtlich verortete Übersicht inhaltlicher Implikationen, die aber keine Erziehungsvorschriften einschließt oder vorträgt.41 Als künftig freie Person kann das Kind nie Sklave oder Bediensteter seiner Eltern sein;42 es hat nur zu tun, was es innerhalb der liebenden Gemeinschaft der Familie tun kann: keine Arbeit in den Zechen; doch vielleicht ein wenig Hilfe innerhalb der Familie. Andererseits beschränkt das Kind wegen seiner künftigen Freiheit die Willkür seiner Eltern. Dennoch sind die Eltern, entgegen Plato, die richtigen Erzieher; denn selbst schlechte Eltern sind durchgängig nicht so pervers, daß sie ihr eigenes Kind wissentlich und willentlich vernichten.43 39 Nicht die Scham – obwohl ebenfalls ein gutes Resultat einer Erziehung –, sondern eine wirklich freie persönliche Freiheit ist das endgültige Resultat oder die Wahrheit der Ehe. – Vgl.: Jacques Derrida: Glas. A. a. O. 220. 40 Es darf also keinen Mißbrauch des Kindes geben: Selbst das Nicht-Gewähren von Erziehung ist ein schwerer Mißbrauch. Gegen solchen Mißbrauch des Kindes, wenigstens schon als zukünftige wirtschaftliche Person, wird die bürgerliche Gesellschaft auftreten. 41 Moderne Gegenargumentationen können zwei Richtungen einschlagen: 1. daß unter unseren wirtschaftlichen Bedingungen Eltern nicht mehr genügend Zeit für ihre Kinder haben; 2. daß heutigentags nicht die Eltern, sondern die Medien die wirklichen Erzieher geworden sind. Begrifflich sind sie nicht vertretbar. Mit Ausnahme von verlassenen Kindern wird jedes Kind von seinen Eltern erzogen zu Vertrauen in Wort und Handlung und zu Vertrauen in beide und erst sekundär von jenen, die ihnen behilflich sein können, eben den Medien, die aber nicht die erste Erziehung, sondern vielmehr schon die Bildung (mit-)verschaffen. 42 Diese Aussage ist zwar bürgerlich, aber zugleich antikapitalistisch. 43 Vgl.: 1817/18, § 86, A. – Ob dies stimmt, steht auf einem anderen Blatt.
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Die Erziehung ist deshalb begrifflich völlig klar. Sie ist die Erhebung eines natürlich reproduzierten menschlichen Wesens zu eigenem Wert und eigener Würde; das Kind muß eine freie Person werden, zu seinem eigenen Bewußtsein der Freiheit sowie zu einem freien Willen gelangen. Solche Erziehung ist eine doppelte Bewegung innerhalb der Abgeschlossenheit der Familie: Sie produziert Vertrauen zu dem Sittlichen als einem unmittelbaren, inneren oder lebendigen Sittlichen. Freiheit ist nie ein bloßes Ziel für sich, es ist das, was weitere eigene, und zwar besondere oder allgemeine Zwecke ermöglicht. Andererseits hat diese Erziehung, gegen unsere permissive Gestimmtheit, eine negative Bestimmtheit: Es gibt Zwänge gegen jede Form von natürlicher Unmittelbarkeit. Diese Negativität aber ist eine Erhebung zur Freiheit als zur eigenen freien Aktivität der künftigen besonderen Person. Solange ja ein Kind (und eine Person) in den Abstraktionen seiner natürlichen Neigungen verfangen ist, ist es noch völlig abhängig von ihnen, also noch nicht frei; frei ist es erst, wenn diese Triebe als erzogene in der Gestalt einer gelingenden sittlichen Aufgabe wesentlich befriedigt werden können. Mit diesem Nachdruck auf der erzieherischen Rolle der Familie betont Hegel die geschichtliche Bedeutung der beschränkten familiären Gemeinschaft, die basal ist für die Entwicklung der Kultur. Gäbe es keine sprachlich weitergereichte Bildung, so bliebe alles bei einer genetischen Entwicklung; die wichtige Rolle der Erziehung ist das Weiterreichen einer gemeinsamen Kultur, die nur durch unmittelbar vorgelebte und bewußte Akte erreichbar ist und die auf einem unmittelbaren Vertrauen in die sittliche Welt selbst basiert. Solche erzieherische soziale Gliederung ist basal für menschliche (sittliche) Kultur. Im täglichen Gespräch der Eltern mit dem Kinde wird die Grundlage geschaffen für die basale Möglichkeit einer (späteren) theoretischen Richtigkeit, einer (späteren) praktisch-vertrauensvollen Ehrlichkeit und die mögliche Akzeptanz einer (durch Erziehung erreichten) Anerkennung beider. Der springende Punkt aber ist und bleibt die Erziehung zur Freiheit. Nur dann vermag die substantielle Institution ihre eigenen Glieder zu einer Besonderheit der Freiheit zu befreien, die nicht mehr länger nur unmittelbar substantiell ist, sondern eine weitere Bestimmtheit des sittlichen Geistes darstellt: ein erzogenes menschliches Wesen, das am Markt und am Staat teilnimmt, wie es denn zugleich auch, wenn es will, in eigener Sache zu sich als Individuum findet, zu einer neuen Familie. Die angedeutete Befreiung hat die Auflösung der unmittelbaren Familie zu ihrem Resultat; in dieser Auflösung zeigt sich die Zufälligkeit der notwendigen (lebendigen) Substanz. Solche Zufälligkeit kann sowohl in der wechselseitigen Entfremdung ihrer Glieder als auch im Tode des einen von ihnen liegen, doch das sittliche Ziel der nur unmittelbaren sittlichen Gemeinschaft ist ihre befreiende sittliche Auflösung, da sie ja nicht die höchste oder endgültige Form der objektiven Freiheit ist.
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Die wirkliche Auflösung ist die Scheidung der einen (moralischen) Person in die beiden individuellen Personen, die zuvor diese einheitliche Person ausmachten. Solche Spaltung kann durch eine reale Autorität vorgenommen werden, obwohl sie eine eindimensionale Vernichtung des sittlichen Moments der feierlichen konstituierenden Erklärung ist. Die natürliche Auflösung hat Konsequenzen sowohl für die Erklärung wie auch für das Vermögen: Die Einheit von zweien besteht nicht mehr.44 Die Kinder werden insgesamt Erben, und sie haben eigentlich keine Erbschaftssteuer zu entrichten, da das Vermögen der Familie ja auch und sogar wesentlich ihr eigenes ist.45 Selbst wenn Eigentum – in seiner abstrakten Bedeutung – frei ist, ist ein Testament zum Nachteil der Kinder völlig unsittlich, sofern sittliches Eigentum (der Familie) immer sozial oder gemeinschaftlich ist. Solche Restriktion des Gebrauchs der Testamente zeigt erneut Hegels begriffliche Ablehnung liberaler Tendenzen. Die dritte, die sittliche Auflösung ist gleichfalls negativ in Beziehung auf die erste Familie, aber sie geschieht durch Erziehung.46 Die erste Familie wird nur insoweit aufgelöst, als wiederum eine neue Familie gegründet wird, eine neue Generation mit neuem Vermögen und neuen erzieherischen Aufgaben: Auf diese Weise gelangt man zu einer möglichen Pluralität der Personen oder der Familien.
Vgl.: Bernard Quelquejeu: La volonté dans la philosophie de Hegel. Paris 1972. 295. Vielleicht wäre, gegen Hegel, die Restriktion der Erbschaftsgesetze doch sittlich möglich. Gibt es für Hegel wenigstens eine Ausnahme in bezug auf Erbschaft aller Kinder, bei dem Majorat, wegen der Funktion im Staate? Aber – wenn der Staat auch für die Erziehung vernachlässigter Kinder zu zahlen hat – könnte vielleicht eine Restriktion unbeschränkter Erbschaften erwogen werden? Dies wäre dann eine Überlegung und Entscheidung eines (positiven) Staates, wie auch das Majorat eine spezifische positive Funktion im Staate ist. Wenn zugleich der Staat gewisse sittliche Gesetze zu Gunsten einer realen Repräsentation der Familie in ihm aufheben oder transformieren darf, dann wäre es diesem Staat auf gleiche Weise möglich, die nicht restringierte Erbschaftsregelung so zu transformieren, daß keine maßlose Ungleichheit in der Erziehung zustande kommt. 46 Die Erziehung ist nicht das gleiche wie die Bildung, die von der bürgerlichen Gesellschaft geleistet wird: Die Familie erzieht das Kind zu einer freien (individuellen) Person innerhalb der (moralischen) Person seiner Familie, so daß es an der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann. Letztere formiert die erhaltene freie Person in theoretischer und praktischer Hinsicht (vgl.: R, § 197) zu einem besonderen Mitglied dieser Gesellschaft und auch zu einer wirklich denkenden und Universalität übernehmenden Person, d. h. zu einem wirklichen Mitglied des Staates. 44 45
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6. Der weitere Einfluß der Familienkonzeption in der Rechtsphilosophie47 Diese ausgearbeitete Konzeption der Familie hat einen Einfluß auf drei Sphären: Die Familie ist erstens eine beschränkte Sittlichkeit gegenüber sowohl der bürgerlichen Gesellschaft als auch dem Staat; es gibt eine zweite Familie in der bürgerlichen Gesellschaft, und als unmittelbares sittliches Prinzip wird die Familie von der ersten Kammer im Staat vertreten. Die Familie ist nur eine beschränkte sittliche Substanz: Mit der Auflösung in eine Mehrheit von Familien ist die minimal sittliche Substanz in sich aufgelöst. Diese Familien, von ihrem partizipierenden Mitglied in der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert, sind nicht die höchste sittliche Macht. Die bürgerliche Gesellschaft ist schon sittlich höher oder wenigstens komplexer als die Familie; sie vermag gegen Familien die Macht der eigenen, aber abstrakten Notwendigkeit durchzusetzen, sofern sie in der Lage ist, die wirtschaftliche Subsistenz der Familien zu zerstören; andererseits aber, weil Eigentum immer soziales Eigentum einer (moralischen) Person ist, ist diese Wirtschaftsgesellschaft nie eine liberale; sie bildet den Markt für die in ihr vertretenen Familien. Darin, daß ein Individuum oder eine Person erst als Vertreter der Familie arbeiten kann, erscheint die Anerkennung der Subsistenz der Familien unter der Bedingung des Marktes. Deshalb kann die bürgerliche Gesellschaft die mögliche Willkür der Eltern ihren Kindern gegenüber in eigener Macht und sittlicher Berechtigung beschränken, um die Kinder als künftige Mitglieder der eigenen Gesellschaft zu sichern. Diese Sicherung wird von der bürgerlichen Gesellschaft gerechtfertigt, sofern sie eine wirkliche Form der Subsistenz der Individuen (und d. h. gerade ihrer Familien) werden kann. Diese Form hat vorzeigbare Wirklichkeit nur in dem Funktionieren der Korporationen, als einer zweiten Familie. Diese zweite Familie ist die Präsenz der substantiellen Ebene in der Wirtschaftsgesellschaft; als substantiell ist sie auf Vorsorgemaßnahmen für die Familie in der Wirtschaftsgesellschaft ausgerichtet. Nur der Staat ist die vollständige Entfaltung des Begriffs des Rechts; er garantiert die vorhergehenden Ebenen in deren eigener, jetzt restringierter sittlicher Geltung. Die substantielle Beziehung der Familie existiert bloß zur Herstellung und Sicherung des privaten Wohls der Individuen. Und sofern der Staat nicht auf Vernichtung von Familien angelegt ist, sind mögliche Kriege nicht Diese Darstellung entkräftet die Ansicht Adriaan T. Peperzaks, daß es keinen bedeutenden Einfluß der Familie und selbst der bürgerlichen Gesellschaft auf Hegels Staat gebe. – Vgl.: Adriaan T. Peperzak: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1991. 272. (Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus. Abteilung II: Untersuchungen. Band 19) 47
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gegen Familien gerichtet. Der Staat aber hat sich selbst auf hinreichende Weise zu entfalten, wobei die erste und zweite Familie die notwendigen sittlichen Grundlagen desselben darstellen. Der Staat allein aber ist die Verwirklichung einer konkreten Freiheit; ihr idealer Teil ist in seinem ersten Auftreten gerade die Familie. Deshalb ist der Staat nie die pure Ausbreitung einer einzigen Familie (mit Ausnahme des vernichteten jüdischen Staates Sauls), sondern eine geschichtliche Formierung aus einer Mehrzahl von Familien. Die Heroen haben die Sittlichkeit begründet, sie haben zusammen mit der Ehe und der Arbeit auf den Feldern oder mit der Kultur den patriarchalen Staat als die historische Form desselben aus einer Pluralität von Familien hervorgebracht. Damit haben sie eine Sitte geprägt, die zu den später entfalteten begrifflichen Unterscheidungen der sittlichen Momente Anlaß gegeben hat. Die begriffliche Implikation der gleichwohl beschränkten Bedeutung des Familienprinzips ist, daß der Staat es auf vernünftige Weise in seiner eigenen Organisation zu reproduzieren hat. Dies allerdings geschieht in ambivalenter Weise. Denn einerseits nimmt der Staat das Familienprinzip in sich auf, wie sich in der Präsenz des sittlichen Moments der Familie in der ersten Kammer der Volksvertretung zeigt. Andererseits aber wird durch die spezifische Weise dieser Repräsentation das Familienprinzip, die Unmittelbarkeit, wieder ausgehöhlt, da unter einer möglichenVielzahl von Erben nur einer, der Erstgeborene, sowohl den Grundbesitz als auch den Sitz in der ständischen Repräsentation erbt. Hierdurch wird das Gleichheitsprinzip der allgemeinen Erbschaftsgesetze modifiziert oder gar beseitigt.48
7. Resultat Hegels philosophische Ausarbeitung der Familie ist zumindest ein vernünftiges Gegenbeispiel des gewöhnlichen Lebens gegen unsere (post-)moderne liberale Familienpolitik und gegen ein individualistisches, selbst moralisches Denken. Oder besser: In einer vernünftigen begrifflichen Entwicklung zeigen sich Freiheit, Recht und Familiengesetze als nicht-individualistisch: Die basale konstituierte Einheit ist die (moralische) Person der Familie selbst. Um vernünftig und nicht bloß positiv und historisch zu sein, hat die positive Familiengesetzgebung die Familien insgesamt als Personen zu betrachten, und nicht allein die einzelnen Mitglieder derselben. Die vernünftige Gesetzgebung ist dabei begrifflich beschränkt auf die Form der (feierlichen) Erklärung der gemeinsamen Einheit natürlich Verschiedener, die Bestimmung der positiven Regel der Monogamie 48 Daß Hegel in diesem Fall die Allgemeinheit (der Familie) und die Besonderheit (der bürgerlichen Gesellschaft) von einer spezifischen Klasse vertreten lassen möchte, scheint eine Spaltung und keine Konkretion seiner logischen Prinzipien mit sich zu bringen.
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und den Ausschluß der negativen Behinderungen einerseits der Einheit und andererseits der Funktion (nicht der Verwendung) des gemeinsamen Vermögens.49 Darüberhinaus müssen bürgerliche Gesellschaft und Staat die Kinder als ihre eigenen künftigen Mitglieder gegen Mißbrauch und mangelhafte Erziehung schützen. Eine weitergehende Gesetzgebung im Blick auf Sorge und Erziehung (in Form von Kindesrechten) ist in ihrer positiven unmittelbaren Besonderheit nicht weiter zu stipulieren. Das Anliegen des Hegelschen philosophischen Familienbegriffs ist gerade diese auf gelebtes Vertrauen gegründete Erziehung freier (und solidarischer) Individuen. Deshalb ist die Institution der Familie nicht die kulturelle Form der biologischen Reproduktion. Das philosophische Problem der Familie ist, wie ein freier Wille und dessen Welt in ihrer notwendigen Abhängigkeit von der zu integrierenden biologischen Reproduktion, welche jedoch nicht auf diese Sphäre der Reproduktion beschränkt bleibt, in ihrer Wirklichkeit begrifflich möglich wird. Die vorläufige und dennoch substantielle Antwort auf diese Frage ist die Erziehung (in) der Familie. Die Familie bildet eine solche Einheit, in welcher die Ehepartner ihrer geschlechtlichen Differenz einen Sinn geben. Dadurch entspringt die erklärte Liebe zwischen beiden, die nur dadurch eine Person ausmachen; rechtlich anschaubar wird sie in ihrem gemeinsamen Vermögen. Nicht das Kind als solches ist das Resultat der Entfaltung der Familie,50 sondern die sittliche, erzieherische Auflösung derselben in erwachsene, erzogene und erstmals wirkliche und freie Personen!
Was unterscheidet die Registration der Zusammenlebensverträge von der Erklärung der Ehe, als gerade die Abweisung der individuellen Ansprüche? Was geschieht im ersten Fall anderes als die Legalisierung einer ungesetzlichen, rein wirtschaftlichen und individualistischen Haltung? Wieso wäre eine solche Praxis in ihrem internen Widerspruch vernünftig? Das gleiche gilt vielleicht auch für die sog. neuen Familienformen: Sie verwenden die Familie als Folie mit Aussparung irgendeines Merkmals, wodurch die neue Gestalt eine abstrakte wird. 50 Vgl.: Ludwig Heyde: De verwerkelijking van de vrijheid. A. a. O. 165. 49
ta k e s h i g o n z a R E I C H S AU F L Ö S U N G, R H E I N B U N D R E F O R M E N U N D DA S P RO B L E M D E R S TA AT S S O U V E R Ä N I T Ä T * Die Entstehung der Hegelschen Souveränitätstheorie und ihr geschichtlicher Hintergrund Einleitung „In den meisten Staaten Europas war die politische Einheit das Werk des fürstlichen Absolutismus.“ Carl Schmitt hat 1928 die geschichtliche Bedeutung des Absolutismus so zusammengefaßt und auf jene eigentümlichen Umstände Deutschlands, die von der Existenz des Heiligen Römischen Reichs herkommen, mit einem Zitat aus der Hegelschen Verfassungsschrift hingewiesen. „Auf dem europäischen Festland, in Spanien, Frankreich, und in deutschen Territorialstaaten entwickelt sich der moderne Staat dadurch, daß der Fürst ‚absolut‘ wird, d. h. die wohlerworbenen feudalen und ständischen Rechte beseitigt und das Prinzip der Legitimität des status quo, auf welchem jener feudale Zustand beruhte, durchbrach und vernichtete. […] Der Begriff der Souveränität insbesondere hatte eine große weltgeschichtliche Funktion: Überwindung der Legitimität des damaligen (feudalen und ständischen) status quo.“ Dagegen wurden im „Deutschen Reich […] mittelalterliche Zustände bis zum Ende dieses Reiches, 1806, weiter geschleppt; daneben bildeten sich […] neue politische Einheiten, Staaten wie Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen. […] H e g e l hat in seiner Jugendschrift über ‚Die Verfassung Deutschlands‘ (1802) diesen Zustand am besten formuliert: ‚Das deutsche Staatsgebäude ist nichts anderes als die Summe der Rechte, welche die einzelnen Teile dem Ganzen entzogen haben‘ […].“1 Diese neuerdings bei Historikern wiederkehrende Einsicht, daß das Fortbestehen des Reichs lange Zeit den deutschen Weg zur politischen Einheit, ja
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Diese Arbeit, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Staatssouveränität und Reich“ entstanden ist, wurde mir durch das JSPS-DAAD-Stipendium (2003) und das JSPS-Forschungsstipendium (2003–2005) finanziell ermöglicht. Vielfachen Dank für die wissenschaftliche Unterstützung des Forschungsprojekts schulde ich Herrn Prof. Rüdiger Bubner (Heidelberg) und Herrn Prof. Walter Jaeschke (Bochum). Für das aufschlußreiche Gespräch über die Souveränitätsproblematik (2. Mai 2003) habe ich Herrn Prof. Jürgen Habermas (Frankfurt a. M.) besonders zu danken. Für die wertvolle Anregung und Überarbeitung des Manuskripts danke ich Herrn Dr. Gerhard Schuck (Tokyo) herzlich. 1 Vgl.: Carl Schmitt: Verfassungslehre. 8. Aufl. Berlin 1993. 47 ff.
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zum Nationalstaat verhindert hatte,2 läßt sich als eine wertvolle Perspektive in der Deutung der politischen Philosophie Hegels annehmen. Denn man hat in Deutschland nicht, wie in Frankreich oder Großbritannien, in der Zeit der konfessionellen Spaltung, sondern erst bei jenem Untergang des alten Reichs, den Hegel als Augenzeuge erlebt hat, nämlich nicht im Dreißigjährigen Krieg, sondern erst am Anfang des 19. Jahrhunderts, die Idee der politischen Einheit in Verbindung mit dem Souveränitätsbegriff klar erkannt. Insoweit kann Hegel neben Jean Bodin und Thomas Hobbes als der deutsche Philosoph, der als erster das Problem der Staatssouveränität thematisiert hat, angesehen werden, und auch die Entstehung der Hegelschen Souveränitätstheorie von der Verfassungsschrift (1801/02) bis zur Rechtsphilosophie (1820) muß vor dem Hintergrund des dem Einmarsch Napoleons nachfolgenden dramatischen Wendepunkts in der deutschen Geschichte verstanden werden. Die seit den 1960er Jahren vorherrschende Hegel-Deutung hat die Hegelsche Rechtsphilosophie als den Versuch aufgefaßt,3 die Erfahrung der Französischen Revolution als geschichtlichen Bruch mit der Kontinuität der alteuropäischen Tradition zu vermitteln und Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken. Was man sich dabei als die alteuropäische Kontinuitätslinie der Überlieferung vorgestellt hat, war die naturrechtliche Tradition seit Aristoteles, und zwar die des klassischen Naturrechts im Unterschied zum neuzeitlichen Naturrecht. Dieses Paradigma hat im Zeichen der der Auflösung des protestantischen Preußen nachfolgenden Aristoteles-Renaissance sowie der Neubelebung der naturrechtlichen Tradition als Reaktion gegen den rechtspositivistisch-dezisionistischen Gedanken unter dem Schlagwort der ‚Rehabilitierung der praktischen Philosophie‘ die spätere Hegel-Forschung beherrscht. Dagegen läßt sich zum einen der Einwand erheben, daß die Kontinuität der Überlieferung, unter der der junge Hegel in seiner Lebenswelt stand, vielmehr die hebraistisch-theologische Tradition seit Augustinus gewesen und diese christlich-theologische Wurzel erst in den Berliner Vorlesungen der 1820er Jahre von Hegel selbst zum Ausdruck gebracht worden sei.4 Im folgenden soll aber ein anderer Einwand überprüft 2 Vgl.: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Band 1. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000. 3 Vgl.: Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. Köln/Opladen 1957. 2. Auflage Frankfurt a. M. 1965. – Vgl. auch: Manfred Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1969. – Ders.: Zwischen Tradition und Revolution. Erweiterte Auflage Stuttgart 1982. – Zur Aristoteles-Rezeption der beiden vgl.: Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a. M. 1969. – Vgl. zudem: Manfred Riedel: Metaphysik und Metapolitik. Frankfurt a. M. 1975. 4 Zu den erst 1996 veröffentlichten Vorlesungsnachschriften der Hegelschen Geschichtsphilosophie 1822/23 vgl.: Takeshi Gonza: Kann ‚die Vernunft in der Geschichte‘ Allgemeingültigkeit für das Menschengeschlecht in Anspruch nehmen? Entstehung der Hegelschen Geschichtsphilosophie und ihr theologisch-verfassungsgeschichtlicher Hintergrund. – In: Hokkaido Law Review. Sapporo. 52 (2002), 6, 270–298.
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werden, nämlich daß die Erfahrung des Bruches, die ihn zur Vermittlung mit der Tradition motiviert habe, eigentlich die auf die Niederlage gegen Frankreich folgende Auflösung des Heiligen Römischen Reichs und die politisch-gesellschaftlichen Reformen unter den Rheinbundstaaten gewesen seien. Der Begriff der Staatssouveränität, der in der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1820 in den Vordergrund tritt, käme demnach von seiner Zeiterfahrung des Untergangs des Reichs bis 1806 sowie der Debatte um den Souveränitätsbegriff unter den Rheinbundpublizisten seit 1807 her, woraus sich erst die Hegelsche Souveränitätstheorie als Gegenstück zum Prinzip von der ‚Freiheit der Person und des Eigentums‘ kristallisiert hat. Im folgenden werden insbesondere auf Grund der verfassungsgeschichtlichen Forschungsergebnisse über Reichs- und Rheinbundpublizistik seit den 1990er Jahren der Gestaltungsprozeß der Hegelschen Souveränitätstheorie und ihr geschichtlicher Hintergrund rekonstruiert. Zunächst soll darauf zurückgeblickt werden, wie die Reichspublizisten im 17. Jahrhundert den Souveränitätsbegriff, der aus dem französischen Bürgerkrieg gewonnen wurde, im deutschen Kontext aufgenommen haben (1), dann soll geklärt werden, wie Hegels Zeiterlebnis des Untergangs des Reichs am Anfang des 19. Jahrhunderts den Begriff der Staatssouveränität reaktiviert hat (2). Danach soll untersucht werden, wie jene Debatte um den Souveränitätsbegriff, die sich in der Zeit der Rheinbundreformen unter den Rheinbundpublizisten entfaltete (3), die Neuformulierung des Souveränitätsbegriffs in den Hegelschen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie von 1817 bis 1819 bestimmt hat (4). Dadurch erst kann die Staatslehre der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1820, deren Zusammenhang mit dem preußischen Staat lange Zeit zur Diskussion stand, aus einer neuen geschichtlichen Perspektive umgedeutet werden.
1. Rezeption des Souveränitätsbegriffs vor und nach 1648 (1) Jean Bodin (1530–1596) definierte in seinem mitten im französischen Bürgerkrieg erschienenen Werk Les six Livres de la République (1576) die Souveränität („la souveraineté“) als „la puissance absolue & perpétuelle d’une République“, d. h. als die dem Gemeinwesen eignende absolute und ewige Gewalt, wobei ihre Ewigkeit die zeitliche Unbegrenztheit der Amtsdauer etwa im Gegensatz zum römischen Diktator, zur Wahlmonarchie und zur Regentschaft, dagegen ihre Absolutheit die Ungebundenheit an die Gesetze ihrer selbst und der Vorgänger (z. B. wohlerworbene Rechte), d. h. „princeps legibus solutus“ im römischen Rechtssatz, bedeuteten.5 Diese bahnbrechende Formel der Souve5
Vgl.: Jean Bodin: Les six Livres de la République. Paris 1576. Nachdruck der Ausgabe 1583.
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ränität hat sich im 16. und 17. Jahrhundert als Lösung für die Krisenzeit der konfessionellen Spaltung verbreitet und zugleich die Idee des monarchischen Absolutismus theoretisch vorweggenommen. In der deutschen Rezeption des Bodinschen Werks, die erst mit der lateinischen Ausgabe von 1591 begann und bis 1609 dauerte, stand seine These über das deutsche Reich im Brennpunkt der Debatte.6 Indem er das Souveränitätsdefizit des Kaisers und die Souveränität unter den Reichsständen diagnostizierte und daraus den Schluß zog, daß das Reich eine reine Aristokratie sei, rief Bodin die Diskussion darüber hervor, ob es in Deutschland die letzte Entscheidung überhaupt gebe und wem diese Gewalt gehöre. Aber die im Zusammenhang des französischen Religionskriegs entfaltete These erhielt auf dem Boden des Reichs eine völlig andere Bedeutung. Hier ging es nicht um die Überwindung des Bürgerkriegs durch Machtkonzentration, sondern um die Balancierung der selbständigen Territorialgewalten mit der Zentralgewalt, nicht um die Unterordnung unter das Kaisertum, sondern um die Bewahrung des status quo. Erstens berief man sich als Erklärungsmodell des Reichs auf die status-mixtus-Lehre, d. h. Mischverfassungstheorie, die von Aristoteles und Polybios ausgeht und seit Machiavelli im westlichen Abendland rezipiert worden war.7 Insbesondere Johannes Limnaeus rechtfertigte die funktionale Aufteilung der Souveränität als Einteilung in die der Gemeinschaft zukommende „reale Majestät“ und die dem Herrscher zukommende „personale Majestät“. Zweitens entfaltete sich die immanente Einschränkung der Formel „princeps legibus solutus“ nach Bodin als die Bindung des Souveräns an das göttliche Recht, das Naturrecht, das Völkerrecht und die Fundamentalgesetze, und fungierte damit als rechtsstaatliche Doktrin. Drittens wurde die Staatsform des Reichs meistens
Aalen 1961. Liv. 1, Chap. 8. 122 ff. – Es gibt auch eine deutsche Übersetzung: Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch. München 1981–1986. Band 1: Buch I–III. Band 2: Buch IV–VI. – Zum Souveränitätsbegriff Bodins vgl.: Helmut Quaritsch: Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806. Berlin 1986. (Schriften zur Verfassungsgeschichte 38) – Zur Formel „princeps legibus solutus“ vgl.: Dieter Wyduckel: Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre. Berlin 1979. 6 Zur deutschen Rezeption Bodins vgl.: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988. 174– 186. – Vgl. auch: Rudolf Hoke: Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts. – In: Horst Denzer (Hg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München. München 1973. 315–332. 7 Zur Herkunft und Rezeption der Mischverfassungstheorie vgl.: Wilfried Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980. (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien. Band 21) – Vgl. auch: Arihiro Fukuda: Sovereignty and the Sword: Harrington, Hobbes, and Mixed Government in the English Civil Wars. Oxford 1997. Chap. 1, 2.
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nicht als reine Aristokratie, sondern als die mit dem aristokratischen Element gemischte Monarchie betrachtet. Als einzige Ausnahme sprach Hippolithus à Lapide (Pseudonym von Philipp Bogislaw von Chemnitz [1606–1678]), der als erster die Staatsräson des Reichs behandelte, gegen Dietrich Reinking gewendet die Souveränität dem Kaiser ab und sie nach Bodin den Reichsständen zu und schlug den Weg der Parlamentarisierung vor: nach dem englischen Modell die Reichsgewalt auf den Reichstag zu zentralisieren.8 Viertens wurde auch die Kirchenhoheit als originäres Regal in den Teil der Souveränitätsrechte eingeordnet, der letztlich nach 1648 den Landesherren überlassen wurde, während das Reich seine eigene Kompetenz für Religionsfragen verlor. Das Resultat der Bodin-Rezeption in Deutschland, die Formel der Landeshoheit („superioritas territorialis“) in Analogie zur Souveränität auf der Ebene des Reichs zu begründen, kam erst nach dem Dreißigjährigen Krieg zutage. (2) Der Dreißigjährige Krieg hat schließlich gezeigt, daß es dem Reich nicht gelungen ist, entweder mit dem kaiserlichen Absolutismus (wie Frankreich) oder mit der Parlamentarisierung (wie England) die mittelalterliche Struktur der Reichsverfassung zu überwinden und zum modernen Staat überzugehen. Der Westfälische Friede (1648) garantierte das Fortbestehen des Reichs, also den status quo, in folgender Weise, wobei er damit den Weg zur Modernisierung versperrte:9 Erstens wurden als Folge der französischen Politik den Reichsständen die Landeshoheit („jus territorii et superioritatis“) nach innen sowie das Bündnisrecht und damit auch das Kriegsführungsrecht („jus belli“) nach außen zuerkannt. Zweitens wurden dagegen die Souveränitätsrechte des Kaisers, d. h. Gesetzgebung, Erklärung von Krieg und Frieden, Bündnisrecht und Oberste Gerichtsbarkeit, an die Zustimmung des Reichstags gebunden und jeder Ansatz zum kaiserlichen Absolutismus vertilgt. Daneben wurde dieser Vertrag selbst nach dem Jüngsten Reichsabschied (1654) in die Reichsfundamentalgesetze eingeordnet, worin sich sein über das Völkerrecht hinausgehender Charakter manifestiert. Drittens wurde über Religionsfragen der Bekenntnisstand von 1624 aufrechterhalten. Dadurch wurden die Reformierten erst offiziell anerkannt und die Parität, d. h. die gegenseitige Gleichheit zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten, zum bis heute geltenden Grundprinzip des
Vgl.: Hippolithus à Lapide: Dissertatio de ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico. O.O. 1640/47. – Der Titel der deutschen Übersetzung lautet: Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältnis, und Bedürfnis des Röm. Reichs Deutscher Nation. Mainz/Coblenz 1761. – Vgl. zudem: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. A. a. O. 203–206. 9 Zur Entstehung und Bedeutung des Westfälischen Friedens vgl.: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände. – In: Der Staat. Berlin. 8 (1969), 449–478. – Vgl. zudem: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. A. a. O. 225–228. 8
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Kirchenrechts erhoben. Andererseits wurde aber die Mehrheitsentscheidung in Religionssachen vermieden und die Separierung der Reichsstände in ein Corpus Evangelicorum und ein Corpus Catholicorum („itio in partes“) als Reichsverfassung institutionalisiert. Dieser Westfälische Friede machte bis 1806 prinzipiell unverändert als Fundamentalgesetz den Kern der Reichsverfassung aus. (3) Die Reichspublizistik nach 1648 versuchte sich einerseits, wie man etwa bei Hermann Conring (1606–1681) erkennen kann, von der Tradition des Römischen Rechts zu verselbständigen und die eigenen Wurzeln in der Reichsgeschichte zu suchen. Andererseits versuchte sie, wie das Beispiel Samuel Pufendorfs (1632–1694) zeigt, sich vom Muster der aristotelischen Politik zu emanzipieren und ein realistisches Bild der Reichsverfassung zu schildern.10 Severinus de Monzambano (Pseudonym von Pufendorf) lehnte in seiner wohlbekannten Schrift über die Reichsverfassung (1667) wegen der Unteilbarkeit der Souveränität die Mischverfassungslehre seit Aristoteles ab und charakterisierte die Staatsform des Reichs als „einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper“, weil es in keine Staatsform einzuordnen sei.11 Das deutsche Reich kann nach ihm am besten als ein Mittelding zwischen Monarchie und Staatenbund oder als „systema aliquod plurium civitatum“, d. h. „ein Bund mehrerer Staaten“, dessen Führer mit königlicher Gewalt ausgestatten ist, beschrieben werden. Aus dieser Quelle geht eine Reihe von „schweren Krankheiten“ des Reichs hervor, z. B. Fehlen der zentralen Leitung, gegenseitiges Mißtrauen unter den Reichsständen, schwache Reichsverteidigung, Stimmrecht der auswärtigen Kräfte einerseits, Langsamkeit der Justiz, Ineffizienz des Reichstags, Mangel am Steuerwesen, Abwesenheit des Reichsregiments andererseits. Mit dieser Diagnose hat Pufendorf den auch von anderen Zeitgenossen wie Johann Wolfgang Textor und Jakob Brunnemann geteilten allgemeinen Eindruck, daß die Bedrohung des zentralistischen Frankreichs dem pluralistisch geteilten Reich gegenüber die Effizienz eines absolutistischen Staats demonstriert hat, treffend formuliert, obwohl seine Lehre vom Reich als systema (= Staatenbund) bei ihnen mehr Anstoß erregt hat. Da die Merkmale der Bodinschen Definition der Souveränität im deutschen Reich offenkundig nicht zutrafen, blieb die Frage nach dem Ort der Souveränität im Reich immer noch in der Schwebe, so daß darüber erst die neuerliche Staatskrise um 1800 entscheiden mußte.
Zur Reichspublizistik nach 1648 vgl.: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. A. a. O. 230–236. 11 Vgl.: Severini de Monzambano Veronensis [= Samuel Pufendorf]: De Statu Imperii Germanici ad Lælium Fratrem, Dominum Trezolani, Liber Unus. Genevæ 1667. – Der Titel der deutschen Übersetzung lautet: Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches. Herausgegeben und übersetzt von Horst Denzer. Frankfurt a. M./Leipzig 1994. 198 ff. (Bibliothek des Deutschen Staatsdenkens. Herausgegeben von Hans Maier und Michael Stolleis. Band 4) 10
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2. Rehabilitierung des Souveränitätsbegriffs in der Endphase des Untergangs des Reichs Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hat in der Verfassungsschrift (1801– 1802) versucht, angesichts der Krise des Reichs die Frage nach der Souveränität zu reaktivieren, bevor er in der Rechtsphilosophie von 1820 die Souveränitätstheorie entwickelte. Obwohl sie zu Lebzeiten Hegels ein unveröffentlichtes Manuskript blieb und nach seinem Tod nur von Karl Rosenkranz und Rudolf Haym erwähnt wurde, hat die Verfassungsschrift seit der Publikation von 1893/ 1913 auf den deutschen Historismus im Wilhelminischen Zeitalter stark eingewirkt12 und ihren ersten Niederschlag in Friedrich Meineckes Werk (1924) gefunden, das im Zeichen der deutschen Niederlage von 1918 Hegels Verfassungsschrift als einen Bestandteil der von Friedrich dem Großen bis Treitschke reichenden Geschichte des deutschen Machiavellismus unter dem Aspekt der Spannung zwischen Staatsräson und Naturrechtsgedanken, Macht und Moral betrachtete.13 Von der borussisch-nationalgeschichtlichen Perspektive distanziert und basierend auf der neuen kritischen Ausgabe des Texts14 sollen hier Entstehung und Struktur der Hegelschen Verfassungsschrift aus Hegels Zeiterfahrung des Untergangs des Reichs geklärt werden. (1) Was Hegel zur Analyse der Reichsverfassung veranlaßt hat, war eine unerwartete Folge des Interventionskriegs, den das deutsche Reich mit anderen europäischen Mächten gegen das revolutionäre Frankreich führte.15 Nachdem die erste Koalition, die im Februar 1793 anläßlich der Hinrichtung Ludwigs
Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Kritik der Verfassung Deutschlands. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers herausgegeben von Dr. Georg Mollat. Nebst einer Beilage. Kassel 1893. – Neuausgabe: Die Verfassung des Deutschen Reichs. Eine politische Flugschrift von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers in der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin neu herausgegeben von Georg Mollat. Stuttgart 1935. – Vgl. auch: Hegels Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Herausgegeben von Georg Lasson. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Dr. Otto Weiß herausgegeben von Georg Lasson. Band VII: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Leipzig 1913. – 2. Auflage 1923. 13 Vgl.: Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München/Berlin 1924. – Carl Schmitt hat vermutlich von Hegels Verfassungsschrift und seiner Machiavelli-Rezeption erst durch das Werk Meineckes erfahren. – Vgl. Carl Schmitt: Zu Meineckes ‚Idee der Staatsräson‘. – In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Tübingen. 56 (1926), 1, 226–234. 14 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Schriften und Entwürfe. (1799–1808). Unter Mitarbeit von Theodor Ebert herausgegeben von Manfred Baum und Kurt Rainer Meist.Verfasser des Anhangs: Kurt Rainer Meist. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 5. Hamburg 1998. [Im folgenden: GW 5] 15 Zur politischen Situation Deutschlands nach 1789 vgl.: Max Braubach:Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß. – In: Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Band 3. Von der Französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg. 9. Auflage Stuttgart 1970. 1–96. 12
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XIV. gebildet wurde, im Oktober 1794 der französischen Armee die linksrheinischen Gebiete überliefert hatte, schloß Preußen im April 1795 in Basel den Friedensvertrag mit Frankreich und schied aus der Front aus. Der Sonderfriede von Basel, in dem Preußen die Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich anerkannte und die Neutralität Norddeutschlands unter dem Schutz Preußens gesichert bekam, wurde aber von den deutschen Reichspatrioten als eigennütziger Abfall Preußens vom Reich beklagt. Im Frieden vom Campo Formio sanktionierte Österreich im Oktober 1797 nicht nur die Abtretung Oberitaliens, sondern auch in geheimen Artikeln die Abtretung des linken Rheinufers. Der im Dezember 1797 einberufene Reichsfriedenskongreß zu Rastatt machte die französische Forderung der Rheingrenze und den Vorschlag der Entschädigung durch Säkularisation bekannt. Nachdem die zweite Koalition gegen das die Ausdehnung der Gebiete anstrebende Frankreich seit dem April 1799 gebildet worden und wegen des Austritts Rußlands auseinandergefallen war, wurde Deutschland im Februar 1801 durch den Vertrag von Lunéville gezwungen, die Abtretung des linken Rheinufers wieder zu bestätigen. Der französisch-russische Plan über die Neuordnung des Reichs, der auf die Schaffung eines ,dritten Deutschlands‘ bestehend aus den süddeutschen Fürsten zielte, wurde in der Reichsdeputation zu Regensburg im November 1802 angenommen und im Februar 1803 als der Reichsdeputationshauptschluß ratifiziert. Alle geistlichen Fürsten sollten enteignet, d. h. säkularisiert, und die kleinen Fürsten sowie Reichsstädte sollten der Reichsunmittelbarkeit entkleidet, d. h. mediatisiert werden. Mit dieser Säkularisation und Mediatisierung hat sich die politische Landschaft Deutschlands völlig verändert. Österreich, das von zahlreichen kleinen Staaten und Städten getragen worden war, verlor viel, wohingegen im Norden Preußen, im Süden Bayern, Baden und Württemberg sehr viel gewannen. Der junge Hegel begrüßte nach 1789 zunächst als dezidierter Republikaner die Gründung der Republiken nach dem französischen Muster in allen Gebieten. Nachdem er als Tübinger Stiftler „wie damals alle junge Köpfe für die Ideen der Revolution geschwärmt“ und auf einer Wiese mit einigen Freunden „einen Freiheitsbaum aufgerichtet“16 hatte, erfuhr Hegel seit 1793 in Bern als Hofmeister einer adeligen Familie die militärische Unterdrückung der Protestbewegung gegen die Berner Oligarchie im benachbarten Waadtland, das seit 1564 der Stadt Bern untergeordnet war. Unter diesem Eindruck übersetzte er die in Bern verbotene Schrift des waadtländischen Rechtsanwalts Jean Jacques Cart, der nach Paris emigriert und als Girondist tätig war, ins Deutsche und veröffentlichte sie mit eigenem Vorwort sowie Anmerkungen versehen im 16 Vgl.: Dieter Henrich: Leutwein über Hegel. Ein Dokument zu Hegels Biographie. – In: HegelStudien. Bonn. 3 (1965), 39–77; hier 61.
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Frühling 1798 in Frankfurt als Vertrauliche Briefe,17 in denen er den deutschen Leser mahnte, aus „den neuesten Begebenheiten in der Waadt“ viele „Nutzanwendungen“ zu ziehen, unmittelbar nachdem der Einmarsch der französischen Truppen im März 1798 das Ancien Régime der Schweiz gestürzt hatte und die Helvetische Republik gegründet worden war. Im Herbst 1796, als er nach Stuttgart, seiner Heimat, zurückgekehrt war, wurde andererseits in Württemberg der seit 26 Jahren nicht mehr tagende Landtag erstmals wieder einberufen, um die in den Verhandlungen mit Frankreich geforderte Entschädigung durch Steuererhöhung zu beschaffen. In Erwartung einer politischen Reform durch den Landtag, vielleicht sogar der Entstehung einer Schwäbischen Republik, schrieb Hegel eine politische Schrift mit dem programmatischen Titel Daß die Magistrate vom Volk gewählt werden müssen und forderte darin die totale Umgestaltung des Württembergischen Repräsentativsystems. Er unterließ dann allerdings im August 1798 auf Rat eines seiner Freunde den Druck,18 weil er die französische Forderung nach der Rheingrenze, die im Rastatter Kongreß erst nach dem März 1798 zutage kam, als ein „Verbrechen“ durch „die Sachwalter der großen Nation“, d. h. als Verrat an den Ideen von 1789 aus machtpolitischen Eigeninteressen heraus betrachtete. Angesichts dieser französischen Expansionspolitik nach der ‚Staatsräson‘, d. h. der Reichswerdung der Republik, lenkte Hegel seine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart des alten Reichs und sah der erst in der Niederlage aufgedeckten Spaltung des Reichs, d. h. dem Verlust des linken Rheinufers und dem Abfall der norddeutschen sowie der süddeutschen Länder ins Auge. Diese Wendung Hegels vom Westen nach Deutschland brachte ihn dazu, aus den immanenten Mängeln der Reichsverfassung den Grund der deutschen Niederlage zu erklären. Gerade in dieser Zeit des Rastatter Kongresses, am Anfang 1799, begann er mit der Niederschrift der ersten Manuskripte der Verfassungsschrift. In zwei intensiven Arbeitsphasen nach dem Vertrag von Lunéville, von Februar bis April und von Mai bis August 1801, häufte er zahlreiche Entwürfe an und brach schließlich die
17 Vgl. Hegels erste Druckschrift: Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern. Eine völlige Aufdekkung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern. Aus dem Französischen eines verstorbenen Schweizers übersezt und mit Anmerkungen versehen. Frankfurt a. M. 1798. „Vorerinnerung.“ (Nachdruck: Göttingen 1970.) – Zur Deutung der Waadtland-Schrift vgl.: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Erster Band. Lebensstationen. (1770–1806). München/Berlin 1920. 47–54. – Vgl. zudem: Otto Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. – In: Hegel-Studien. Bonn. 9 (1974), 73–107; hier 76–81. 18 Vgl.: Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Supplement zu Hegel’s Werken. Mit Hegel’s Bildniß, gestochen von K. Barth. Berlin 1844. 91–94. – Vgl. zudem: Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie. Berlin 1857. 65–67; 483–485. – Zur Deutung der Württemberg-Schrift vgl.: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Erster Band. A. a. O. 62 f. – Sowie: Otto Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. A. a. O. 81–87.
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im November 1802 angefangene Reinschrift im Februar 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluß ab.19 Die Struktur der Verfassungsschrift soll nicht zuletzt nach der zeitlichen Reihe der vier Entstehungsstufen analysiert werden. (2) Hegel versuchte zuerst die Faktoren der Auflösung des Reichs strukturell in seinem feudalen Rechtszustand zu finden. Die in allen Stufen enthaltene Einleitung (Nr. 88 / Nr. 3, 10, 11, 44) beginnt jeweils mit dem wohlbekannten Satz „Deutschland ist kein Staat mehr.“ „Ausser den Despotieen […] hat kein Staat, als Ganzes, als Staat eine elendere Verfassung, als das deutsche Reich […] der Krieg hat jedem die lebhafteste Empfindung davon gegeben; oder vielmehr ist es izt klarer geworden, daß Deutschland, gar kein Staat mehr ist […].“20 Denn das Wesen des Staates kann nicht in der alltäglichen Normalsituation, sondern erst in der außerordentlichen Grenzsituation ans Licht gebracht werden. „Der wahre Zustand eines Staats offenbart sich nicht sowohl in der Ruhe des Friedens, als in der Bewegung des Kriegs […].“21 Die deutschen Staatsrechtslehrer, die die Verfassung Deutschlands einordnen wollten, haben sich seit Pufendorf um ihren Namen bemüht, aber der auswärtige Staatsrechtslehrer Voltaire hat den Zustand Deutschlands im Zusammenhang der Kritik der Feudalmonarchie „Anarchie“ genannt, „der beste Nahme, wenn Deutschland für Einen Staat angesehen wird […].“22 Dieser Zustand der Auflösung des Staats kommt, so Hegel im Anschuß an Montesquieu, von jenem ursprünglichen Zustand der germanischen Völker, den Tacitus in Über die Sitten der Germanen beschrieb, d. h. von „der Sage von der deutschen Freiheit“ her, wonach der Besitz, den jeder sich errungen hat, als gesetzliche Rechte bestätigt wurde und die politische Gewalt kein Staatsamt, das nach der gesamten Organisation verteilt wurde, sondern ein ausschließendes Eigentum wurde, über das jeder persönlich verfügen kann. Daher ist nach „seinem ursprünglichen Rechtsgrunde […] das deutsche Staatsrecht eigentlich ein PrivatRecht, und die politischen Rechte ein gesezlicher Besiz, ein Eigenthum.“23 Das deutsche Staatsrecht ist also „ein Urbarium von den verschiedensten der nach Art des Privatrechts erworbenen Staatsrechten.“24 Mit dieser Für das Gespräch über die Entstehung der Verfassungsschrift (16. Mai 1991) danke ich Herrn Prof. Kurt Rainer Meist (Bochum) herzlich. – Im folgenden wird zum Vergleich mit der anderen Ausgabe auch die Nummer von Hegels Jugend- und Jenaer Schriften in der Datierung von Gisela Schüler und Heinz Kimmerle angegeben, zumal der Text von GW 5 im Hauptteil mit demjenigen der Suhrkamp-Ausgabe identisch ist. – Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften. Werke 1. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1971. (Im folgenden: TWA 1) 20 Vgl.: GW 5, 6. 21 Vgl.: GW 5, 53. 22 Vgl.: GW 5, 6. 23 Vgl.: GW 5, 10 f. 24 Vgl.: GW 5, 61. 19
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Formel der privatrechtlichen Form des deutschen Staatsrechts hat Hegel den feudalen Rechtszustand, in dem die Feudalherren in ihrem Territorium über alle Kompetenzen zur Gerichtsbarkeit, Steuer und Verwaltung genauso frei wie Privateigentum verfügen konnten, richtig getroffen. Aber das Bestreben, die Staatsgewalt zum Privateigentum zu machen, bedeutet nichts anderes als „den Staat auflösen, den Staat als eine Macht zernichten; dieser Macht des Allgemeinen, dem Monarchen (Kaiser) und der Ständeversammlung (Reichstag) ist damit der nothwendige Charakter [der] Souveränität in einem höchst schwachen Maase gelassen worden. Gewalten, welche nach dem Wesen eines Staats, unter der Direktion eines Mittelpunkts stehen, in einer obersten Gewalt (Monarch und Ständen) sich vereinbaren müssen, […] alles diß steht unter keiner rechtlichen obersten Gewalt.“25 Daraus zieht Hegel den Schluß, das Reich für tot zu erklären. „Das deutsche Staatsgebaüde ist nichts andres als die Summe der Rechte, welche die einzelnen Theile dem Ganzen entzogen haben […].“26 Die privatrechtliche Form des deutschen Staatsrechts hat nach Hegel das Fehlen einer einheitlichen öffentlichen Gewalt mit sich gebracht, insofern sich aus jener Form der Mangel der Souveränität als der obersten Gewalt erklären läßt. (3) Hegel sucht aber die Faktoren der Reichsauflösung nicht nur strukturell in dem das Feudalrecht prägenden Primat der feudalherrlichen Privilegien, sondern auch geschichtlich in der Reichsgeschichte seit dem 17. Jahrhundert, was er in seinem umfangreichsten Entwurf, dem Entwurf vom Mai bis August 1801 (Nr. 12), ausführt. Als ihren ersten geschichtlichen Faktor gibt er die Zerrissenheit der Staatsverbindung durch die religiöse Spaltung, d. h. die Entstehung von Landeskirchen und die Separierung der Reichsstände, welche die erste Folge des deutschen Religionskriegs waren, an. „Die Religion, statt durch ihre eigne Spaltung sich vom Staate abzusondern, hat vielmehr diese Spaltung in den Staat hineingetragen, und am meisten beygetragen, den Staat aufzuheben […].“27 Der Augsburger Religionsfriede (1555) von ‚cuius regio, eius religio‘ hat die Glaubensfreiheit nicht anerkannt, sondern die religiöse Intoleranz festgeschrieben, indem er die Bürgerrechte an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession knüpfte. Die im Westfälischen Frieden festgelegte ‚itio in partes‘, wonach der Reichstag erst nach der Zustimmung der beiden Corpora über Religionssachen beschließen kann, hat die Mehrheitsentscheidung in jeder Sache unmöglich gemacht. Dadurch wurde aber erst das moderne Prinzip der Trennung zwischen Staat und Kirche entdeckt. Indem „ihre [= der Religion, T. G.] Spaltung die Menschen in dem innersten Wesen auseinanderriß, und doch noch eine Verbin25 26 27
Vgl.: GW 5, 12 f.; Hervorhebung von T. G. Vgl.: GW 5, 63. Vgl.: GW 5, 96.
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dung bleiben sollte, so muß sie sich über aüssere Dinge […] aüsserlich verbinden; eine Verbindung, die das Princip der modernen Staaten ist.“28 Als den zweiten geschichtlichen Faktor der Reichsauflösung behandelt er die „deutsche Freiheit“ genannte Unabhängigkeit der Reichsstände, d.h. Landeshoheit, welche die zweite Folge des deutschen Religionskriegs war. Der Westfälische Friede hat, so Hegel, nicht nur „das Princip […] der Auflösung des Reichs in unabhängige Staaten“ konsolidiert, sondern auch fremden Mächten „eine rechtmässige Einmischung in die innern Angelegenheiten eingeräumt“, damit die „Staatslosigkeit Deutschlands organisirt“ und „Deutschland verhindert […] zu einem modernen Staate zu werden […].“29 „[…] Schriftsteller, wie H i p p o l y t h u s a L a pi de haben den innern Charakter und Tendenz der Nation, bestimmt ausgesprochen,“30 d.h. die von ihm befürwortete Bodinsche These, daß das Reich eine Aristokratie sei, wo die Reichsstände die Souveränität haben, hatte nach 1648 die paradoxe Funktion, die Auflösung des Reichs in souveräne Staaten zu rechtfertigen. Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) dagegen ist nach Hegel kein Religionskrieg um das religiös-allgemeine Interesse, wie protestantische Länder behaupteten, sondern „innerlicher Krieg der deutschen Stände miteinander […].“31 Dieser ‚deutschen Freiheit‘, die die Landeshoheit als Unabhängigkeit der Stände bedeutet, stellt Hegel eine andere Tradition der ‚deutschen Freiheit‘ gegenüber, die in dem Repräsentationssystem als „aüssere rechtliche Bande“32 zu finden sei. Das System der Repräsentation ist, so Hegel im Anschluß an Montesquieu,33 aus „Germaniens Wäldern“ hervorgegangen und „das System aller neuern Europäischen Staaten“34 geworden. Weil der Bürgerstand nur für eigenen Erwerb sorgte und Staatsangelegenheiten ihm fremder wurden, sammelte sich ihre Besorgung immer enger „in Einen Mittelpunkt, der in dem Monarchen und Ständen“ besteht. Die Repräsentation ist als die „dritte universale Gestalt der Weltgeistes“ „so tief in das Wesen der sich fortbildenden Lehensverfassung […] verwebt, daß es die albernste Einbildung genannt werden kan, wenn sie für eine Erfindung der neuesten Zeiten gehalten worden ist.“35 Nach dem „Ringen eines Volks nach Freyheit“ „seit zehen Jahren“ ist „ein blindes Geschrey Vgl.: GW 5, 99. Vgl.: GW 5, 105; 124. 30 Vgl.: GW 5, 124 f. 31 Vgl.: GW 5, 109. 32 Vgl.: GW 5, 101. 33 Vgl.: Charles de Montesquieu: De l’esprit des lois. Liv. 11, Chap. 6; 8. – In: Charles de Montesquieu: Oeuvres complètes. Tome 2. Paris 1951. 407; 409. – Zur Montesquieu-Rezeption vor Hegel vgl.: Rudolf Vierhaus: Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert. – In: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag von Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a. Basel/Stuttgart 1965. 403–437. 34 Vgl.: GW 5, 111. 35 Vgl.: GW 5, 111, 115. 28 29
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der Freyheit“ verschwunden, und man hat daraus im Gegensatz zu Rousseau gelernt, daß ohne „einen solchen representirenden Körper […] keine Freyheit mehr denkbar“36 ist, d. h. durch die Erfahrung der Französischen Revolution hat sich der Rousseausche Freiheitsbegriff verändert und, wie bei Montesquieu, mit dem Prinzip der Repräsentation verbunden. Unter Berufung auf die Landstände Österreichs, Böhmens und Ungarns stellt Hegel fest: „Die meisten deutschen Staaten haben eine solche Representation“.37 Als den dritten geschichtlichen Faktor der Reichsauflösung gibt Hegel den Aufstieg Preußens an, das sich mit den religiösen Interessen und der Unabhängigkeit der Stände eng verbunden habe. Preußen habe sich als „einen souveränen mächtigen Staat“ neben Österreich verstärkt, so daß es jetzt den Sonderfrieden von Basel schließen könne, indem es sich im Siebenjährigen Krieg als „den Garanten“ bzw. „den Retter ihrer [= der Protestanten, T. G.] Glaubens- und Gewissensfreiheit“ angab und gegen die Bedrohung der Universalmonarchie ‚die deutsche Freyheit‘ zu retten propagierte.38 Dagegen engagiert sich Hegel für das habsburgische Interesse, weil zum einen die protestantische Besorgnis um Proselytenmacherei durch die katholische Toleranzpolitik seit Josef II. schon verschwunden sei,39 zum anderen die deutschen Landstände und Reichsstädte die Unterstützung der ‚deutschen Freyheit‘ vom kaiserlichen Hof erwarten könnten, während die „Landstände der preussischen Provinzen […] ihre Bedeutung unter der königlichen Macht verlohren“40 haben. So hat Hegel die antiborussische Reichsgeschichte nach 1648 gemalt und die eigene Parteinahme für Österreich bekundet.41 Dieses Urteil, das durch die Bewertung der Repräsentation begründet war, wird sich etwa 30 Jahre später ins Gegenteil verkehren.42 Vgl.: GW 5, 148; 149. – Damit gemeint ist der Grundgedanke Rousseaus, daß „die Souveränität nicht repräsentiert werden kann“, und „ein Volk hört auf, frei zu sein, sobald es die Repräsentanten wählt.“ – Vgl.: Jean-Jacques Rousseau: Du contract social. Liv. 3. Chap. 15. – In: Jean-Jacques Rousseau: Oeuvres complètes. Tome 3. Paris 1964. 429; 431. – Zu Hegels Wendung von Rousseau zu Montesquieu vgl.: Hans Maier: Hegels Schrift über die Reichsverfassung. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die Reichsverfassung. Herausgegeben von Hans Maier. Nach der Textfassung von Kurt Rainer Meist. Hamburg 2004. 195–217. 37 Vgl.: GW 5, 150. 38 Vgl.: GW 5, 141, 145, 147. 39 Vgl.: GW 5, 145; 147. 40 Vgl.: GW 5, 150 f. 41 Vgl.: Otto Pöggeler: Hegels Option für Österreich. Die Konzeption korporativer Repräsentation. – In: Hegel-Studien. Bonn. 12 (1977), 83–128. 42 In Karl Hegels Nachschrift der Geschichtsphilosophie 1830/31 wird der Westfälische Frieden als der erste Schritt, durch den die protestantische Kirche die weltliche Existenz errungen hat, erfaßt und der Siebenjährige Krieg als „Religionskrieg“, Preußen als der „Schutz der protestantischen Kirche“ bewertet. – Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Nach den Vorlesungen seines Vaters. Von F. W. K. Hegel. Wintersemester 1830–1831. 488. – Der die germanische Welt betreffende Teil der im Hegel-Archiv (Bochum) aufbewahrten Nachschrift wurde vom Verfasser entziffert und transkribiert. 36
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(4) Hegel warf also in einem Hauptentwurf Preußen seine unilaterale Lossagung vom Reich vor, setzte auf den Wiederaufbau des alten Reichs und konvertierte so vom Republikaner zum Reichspatrioten. Am Schluß desselben Entwurfs (Nr. 12) präsentiert er seinen Vorschlag zur Reform der Reichsverfassung, wonach alles Militär in eine Armee zusammengeschmolzen und unter die oberste Direktion des Kaisers gestellt werden solle. Die Militärkosten sollten zwar wie jetzt von den Ländern aufgebracht, aber unmittelbar an den Kaiser abgegeben werden. Dabei sollten alle Landstände vereinigt mit dem aus den Reichsstädten bestehenden Städtekollegium ein Korpus im Reichstag ausmachen.43 Da sein Reformvorschlag den Rahmen der Reichsverfassung unangetastet ließ und nur auf eine ergänzende Revision zielte, war die Verfassungsschrift, die mit dem Reformvorschlag abschließen sollte, in dem Moment zum Scheitern verurteilt, als der Reichsdeputationshauptschluß im Februar 1803 den Plan zur radikalen Umorganisierung des Reichs durch Säkularisation und Mediatisierung zutage brachte. Aber selbst 1801, als er den Reformvorschlag schrieb, hatte Hegel Zweifel an seiner Ausführbarkeit, weil die Landstände, die ihren Bestand dem Reich verdankten, am meisten gegen die Kostenbeiträge waren. „So sehr für die Einsicht das Interesse der Länder und der Landstände daran gebunden ist, daß in Deutschland eine Staatsmacht bestehe, so sehr ist den Ländern selbst fürs Handeln diß Interesse für Deutschland fremdgeworden – […] wo her sollte ein Patriotismus für diß Land kommen“?44 Aus dieser Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis schließt der Reichspatriot Hegel endlich im Anschluß an Machiavelli, daß die deutsche Einheit erst von der „Gewalt eines Eroberers“, der als Retter Deutschlands mit dem antiken Gesetzgeber „Theseus“ verglichen wird, zu erwarten sei.45 Weil Deutschland um 1800 das Schicksal, Schauplatz innerer Kriege und Kriege von fremden Mächten zu sein, mit dem Italien des 15. Jahrhunderts teile, gelte Machiavellis Idee zur Rettung Italiens, wonach die Freiheit nur in der Staatsverbindung möglich sei, ebenfalls für Deutschland.46 Vgl.: GW 5, 154–156. Vgl.: GW 5, 154; Hervorhebung von T. G. 45 Vgl.: GW 5, 157. – Darüber, wen Hegel mit „Theseus“ als Retter Deutschlands gemeint hat, wurden unterschiedliche Interpretationen vertreten, d. h. von Napoleon (vgl.: Wilhelm Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus. – In: Ders.: Gesammelte Schriften. IV. Band. 2., unveränderte Auflage Stuttgart 1959. 131, 135 f.) über Karl Eugen (vgl.: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Erster Band. A. a. O. 125 f.) bis zu ‚niemand‘ (vgl.: Otto Pöggeler: Hegels Option für Österreich. Die Konzeption korporativer Repräsentation. A. a. O. 99; 110). – In letzter Zeit wurde die Deutung als der Eroberer Napoleon von den Rechtshistorikern reaktiviert. – Vgl.: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. A. a. O. 329. – Sowie: Hans Maier: Hegels Schrift über die Reichsverfassung. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die Reichsverfassung. Herausgegeben von Hans Maier. Nach der Textfassung von Kurt Rainer Meist. A. a. O. 213. 46 Vgl.: GW 5, 131 f., 136. 43 44
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Warum aber hat Hegel nicht eine grundlegende Umgestaltung der Reichsverfassung gefordert, obwohl er doch das Fehlen der Staatssouveränität als strukturellen Faktor der Reichsauflösung genau erkannt hatte? Der Schlüssel zu dieser Frage liegt in der letzten Einleitung jener nach dem November 1802 geschriebenen Reinschrift (Nr. 44), in der er erstmals den Begriff des Staates thematisiert. Hegel definiert darin den Staatsbegriff, der sich seit 1589 mit der Machiavellischen Lehre von ‚Ratio status‘ (= Staatsräson) in Deutschland verbreitet hatte, als eine „zur gemeinschafftlichen Vertheidigung der Gesammtheit ihres Eigenthums verbunden[e]“ Menschenmenge, deren Merkmale „eine gemeinsame Wehre und Staatsgewalt“47 sind. Dabei müssen das für die gemeinsame Staatsgewalt Notwendige und Zufällige streng unterschieden und das letztere der „lebendige[n] Freyheit und dem eigenen Willen der Bürger“ überlassen werden. Die für den Staatsbegriff zufällige Sphäre faßt er dabei sehr weit. Sie beinhaltet 1) die Staatsform, 2) die drei Gewalten Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, 3) die Frage der Gleichheit der bürgerlichen Rechte, der Gesetze und der Steuer, 4) die Frage der Gleichheit der Sitte, Bildung, Sprache und Religion,48 so daß er die drei Souveränitätsrechte und jene Bestimmungen der Rechtsverhältnisse über das Eigentum, die eigentlich die Staatssouveränität betreffen, aus dem eigentlichen Staatsbegriff ausgeschlossen hat. Der Grund dafür, die für das Wesen des Staates notwendige und zufällige Sphäre zu unterscheiden, ist die Einsicht Montesquieus in die Notwendigkeit der Monarchie in den modernen Staaten. Es „ist bey der Größe der itzigen Staaten die Realität des Ideals, nach welchem jeder freye Mann an der Berathschlagung und Bestimmung über die allgemeinen Staatsangelegenheiten, Antheil haben soll, durchaus unmöglich; die Staatsgewalt muß sich sowohl für die Ausführung, als Regierung, als auch für das Beschliessen darüber in einen Mittelpunkt concentriren; wenn dieser Mittelpunkt für sich selbst […] in der Person des nach einem Naturgesetz und [durch] die Geburt bestimmten Monarchen in seiner Unwandelbarkeit geheiligt ist, so kan eine Staatsgewalt […] den untergeordneten Systemen und Körpern frey einen grossen Theil der Verhältnisse, die in der Gesellschafft entstehen, und ihre Erhaltung nach den Gesetzen überlassen“.49 Diese Hegelsche Konzeption, die politische Zentralisation und zugleich die gesellschaftlich-administrative Dezentralisation zu verwirklichen,50 hat ihn daran Vgl.: GW 5, 165 f. Vgl.: GW 5, 167 ff. 49 Vgl.: GW 5, 173; Hervorhebung von T. G. 50 Diese Staatsansicht Hegels wurde von Rosenzweig als Nebeneinander von absolutistischen „machtstaatlichen Gedanken“ und den von Montesquieu und Benjamin Constant stammenden „liberalen Gedanken“ interpretiert (vgl.: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Erster Band. A. a. O. 110–115), wobei er aber übersehen hat, daß die beiden Gedanken bei Hegel die zwei Seiten einer Medaille ausmachen. 47 48
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gehindert, aus dem Bodinschen Souveränitätsbegriff die volle Konsequenz zu ziehen. Dabei spielte seine seit Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/97) bis zur Jenaer Fichte-Kritik reichende Abneigung gegen die mechanistische Staatsansicht51 eine große Rolle. Indem er gegen das in „den neuen zum theil ausgeführten Theorieen“ zu findende „Grundvorurtheil, daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mittheilt“, polemisierte, lehnte Hegel nicht nur die Rousseausche Theorie der Volkssouveränität, alles „der unmittelbaren Thätigkeit der höchsten Staatsgewalt [zu, T. G.] unterw[e]rfen“, sondern auch den absolutistisch-revolutionären „modernen Staat, worin alles von oben herunter geregelt ist,“52 wie die französische Republik und den preußischen Staat, ab. Hegels Position, stattdessen einen großen „Vorzug der alten Staaten Europa’s,“ die „der eignen Thätigkeit der Staatsbürger […] einen freyen Spielraum“53 lassen, d. h. die konstitutionell-alteuropäische Tradition zu würdigen und damit die administrative Zentralisation des revolutionären Frankreichs zurückzuweisen, veranlaßte ihn, den Staatsbegriff derart weit zu fassen und im Rahmen der Reichsverfassung zu bleiben. (5) Wenn man so die Struktur der Verfassungsschrift überblickt, läßt sich in der gesamten Konzeption eine innere Inkonsequenz feststellen. Obwohl er die privatrechtliche Form des deutschen Staatsrechts als den strukturellen Faktor der Reichsauflösung scharfsinnig diagnostizierte, entwickelte Hegel keinen angemessenen Reformvorschlag und Staatsbegriff, um die einheitliche öffentliche Gewalt zu schaffen. Wenn der feudalherrliche Privatbesitz der politischen Rechte wahrhaft überwunden werden sollte, mußten die Feudalprivilegien wie Gerichtsbarkeit, Steuerrecht und Verwaltungsgewalt den Feudalherren als intermediären Gewalten entzogen und auf die Staatsspitze konzentriert werden. Die dazu erforderliche Ausübung der Staatssouveränität auf die gesellschaftliche Basis lehnte Hegel jedoch letztlich ab. Denn er hatte in der Verfassungsschrift noch nicht erkannt, daß weder der strukturelle Faktor der Reichsauflösung beseitigt noch die oberste Staatsgewalt etabliert werden kann, solange die die In Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796 oder 1797) heißt es, insoweit „jeder Staat […] freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln“ muß, „soll er aufhören.“ – Vgl.: TWA 1. 234–236; hier 234 f. – Dieselbe Kritik der mechanistischen Staatsanschauung findet sich schon im sechsten Brief von Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung der Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). – In: Ders.: Sämtliche Werke. Erzählungen.Theoretischen Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Riedel. Band V. München/Wien 2004. 570–669; hier 583 ff. – Mit der Staatsansicht als Maschine ist nicht zuletzt Hobbes gemeint, der in der „Einleitung“ seines Leviathan den mit dem „Automat“ vergleichbaren „künstlichen Menschen“, den die Menschheit selbst statt Gottes geschaffen hat, als ‚Leviathan‘ bezeichnet. – Vgl.: Thomas Hobbes: Leviathan. Cambridge 1991. 9. 52 Vgl.: GW 5, 174, 172, 177. 53 Vgl.: GW 5, 172. 51
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Reichsverfassung tragende feudalherrlich-ständische Basis nicht abgeschafft wird. Zwischen seiner Zeitdiagnose über die strukturell-geschichtlichen Faktoren einerseits und seinem inkonsequenten Rezept dagegen andererseits liegt ein gravierender innerer Widerspruch, nämlich die Inkonsequenz in der Absolutheit der Souveränität: ‚princeps legibus solutus‘. Der Souveränist Hegel war hier durch den Konstitutionalisten Hegel gebunden, da er die Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch seine Montesquieu-Rezeption, die die ständische Verfassung politisch zu rechtfertigen sucht, ausgeglichen hatte. Nicht nur war sein Reformvorschlag durch die rasche Entwicklung der politischen Umstände bald überholt und als bloßer Plan auf dem Papier veraltet, sondern auch der tatsächliche Fortgang der Dinge lief gegen seinen Wunsch. Die deutschen Reichsstände trieben ihre zentrifugale Tendenz immer weiter voran. Im Mai 1804, als der Kaiser Napoleon ein neues Reich gründete, unterstützten ihn die süddeutschen Fürsten, die von Säkularisation und Mediatisierung profitierten, während die norddeutschen Länder weiter die Neutralität bewahrten. Im August 1805, als der dritte Koalitionskrieg ausbrach, schlossen die drei süddeutschen Länder – Bayern, Baden und Württemberg – mit Frankreich ein Bündnis und kämpften gegen Österreich, ein innerer Krieg, den Hegel als Folge des Westfälischen Friedens befürchtet hatte. Nachdem Napoleon in Austerlitz einen glänzenden Sieg davongetragen und Österreich im Frieden von Preßburg (Dezember 1805) den eigenen Einfluß entscheidend eingebüßt hatte, gründeten die süddeutschen Länder im Juli 1806 unter dem Protektorat Napoleons den Rheinbund und schieden aus dem Reich aus, so daß Franz II. im August 1806 die tausendjährige Geschichte des Heiligen Römischen Reichs selbst abschließen mußte. Mit dem Untergang des Reichs hatte sich die Konzeption des letzten Reichspatrioten Hegel, der auf den Wiederaufbau des Reichs gesetzt hatte, wie „‚Liebe in Zeiten der Agonie‘„54 als ein unerfüllter Traum in nichts aufgelöst. Aber der innere Widerspruch, mit dem er sich in der Verfassungsschrift konfrontiert sah, blieb als eine ungelöste Aufgabe bestehen, die er im neugeordneten Deutschland weiterhin zu lösen gezwungen war.
54 Vgl.: Michael Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert. – In: Günter Birtsch (Hg.): Patriotismus. – In: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Hamburg. 4 (1989), 2, 7–23; hier 8.
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3. Debatte um den Souveränitätsbegriff in der Phase der Rheinbundreformen (1) Obwohl er 1801–1802 durch die Erfahrung der Reichsspaltung mit dem Problem der Staatssouveränität konfrontiert worden war und die Niederlage gegen Frankreich aus dem Fehlen der Souveränität als der obersten Gewalt erklärt hatte, verwendete Hegel auch in den folgenden Jahren statt der ‚Souveränität‘ eher den ‚Mittelpunkt‘ als Schlüsselwort. So konzipierte er in der Jenaer Geistesphilosophie 1805/06 die konstitutionelle Monarchie als Staatsform, die aus dem Erbmonarchen als dem „feste[n] u n mit te lb are[ n ] Knoten des Ganzen“ und der öffentlichen Meinung als dem „geistige[n] Band“55 besteht. Unmittelbar nach dem Untergang des Reichs jedoch fand er im Eroberer Napoleon seinen gesuchten ‚Theseus‘ und konvertierte rasch zum Anhänger Napoleons. Am 13. Oktober 1806, zwei Monate nach der Reichsauflösung und am Vorabend der Schlacht bei Jena zwischen Frankreich und Preußen, sprach Hegel, der in Jena in dieser Nacht die Phänomenologie des Geistes vollendete, seine Bewunderung für Napoleon aus: „den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen […]. Wie ich schon früher tat, wünschen nun alle der französischen Armee Glück […].“56 In seiner Bamberger Zeit, ab März 1807, als Redakteur der Bamberger Zeitung, war Hegel kein neutraler Berichterstatter, und er versuchte gar nicht, die eigene Option für Napoleon zu verdecken, was ein halbes Jahrhundert später von dem Nationalliberalen Rudolf Haym mit Entrüstung kommentiert wurde. In den Zeitungsartikeln bewertete Hegel nüchtern die Ereignisse bis zur Niederlage Preußens im Juli 1807 und machte den Leser auf die von Napoleon zu schaffende Neuordnung Deutschlands, vor allem auf die Verfassung und Gesetzgebung des Königreichs Westfalen aufmerksam.57 In diesem Zusammenhang wies er am 29. August 1807 auch auf die Diskussionen unter den Rheinbundpublizisten hin. „Die deutschen Staatsrechtslehrer unterlassen nicht, eine Menge Schriften über den Begriff der Souveränetät und den Sinn der Bundesakte zu schreiben. Der große Staatsrechtslehrer sitzt in Paris. […] Die deutschen Für-
Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Unter Mitarbeit von Johann Heinrich Trede herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 8. Hamburg 1976. 263. 56 Vgl.: Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Band I: 1785–1812. 3. Auflage Hamburg 1969. 120 f. [Im folgenden: Br I] 57 Vgl.: Manfred Baum/Kurt R. Meist: Politik und Philosophie in der Bamberger Zeitung. Dokumente zu Hegels Redaktionstätigkeit 1807–1808. – In: Hegel-Studien. Bonn. 10 (1975), 87–127. – Sowie: Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung,Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie. A. a. O. 270 ff. 55
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sten haben den Begriff einer freien Monarchie noch nicht gefaßt, noch seine Realisierung versucht – Napoleon wird dies alles zu organisieren haben.“58 Im November 1807 hebt er die von den Franzosen noch einzuführende politische Freiheit, d. h. „die subjektive Freiheit“, hervor. „Bisher sahen wir bei den Nachahmungen des Französischen immer nur die Hälfte aufnehmen und die andere Hälfte weglassen, diese andere Hälfte, welche das edelste, die Freiheit des Volkes, Teilnahme desselben an Wahlen, Beschließungen oder wenigstens Darlegungen aller Gründe der Regierungsmaßregeln vor die Einsicht des Volkes enthält! […] Doch es ist bereits viel, was Deutschland von Frankreich gelernt hat, und die langsame Natur der Allemands wird mit der Zeit noch manches profitieren. Auf einmal kann nicht alles verlangt werden.“59 Am 11. Februar 1808 tritt er für den Code Napoléon von 1804 als die „Einladungsschrift, die das compelle mit sich führt“, ein. „Vor ½ Jahre neckte ich Herrn von Welden, der vornehmlich als Gutsbesitzer sich fürchtet, mit der Einführung des Code Nap[oléon] […]. Die Wichtigkeit des Code kommt aber noch in keinen Vergleich mit der Wichtigkeit der Hoffnung, die man daraus schöpfen könnte, daß auch die fernern Teile der französischen oder westfälischen Konstitution eingeführt würden.“60 Aus diesen Briefen läßt sich die Grundeinstellung Hegels herauslesen, gegenüber Frankreich das eigene Land zu öffnen und aus den Ideen von 1789 zu lernen, was zu seiner Unterstützung der Rheinbundreformen, insbesondere der Einführung des Code Napoléon und der französischen Verfassung führte. (2) Im August 1808 übernahm Hegel die Stelle eines Rektors des Gymnasiums in Nürnberg, das zu Bayern gehörte, wo unter König Max Josef vom leitenden Minister Maximilian Joseph Freiherr von Montgelas eine modernisierungsorientierte Reformpolitik in Gang gesetzt wurde. Sein Freund Friedrich Immanuel Niethammer, Adressat der obengenannten Briefe, plante seit 1807 in München als Zentralschulrat das neue Erziehungswesen und rief die ehemaligen Stiftler Hegel und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus als Gymnasialdirektor und Kreisschulrat zur Mitwirkung an der Bildungsreform auf, die aber letztlich wegen des Widerstands der das Schulwesen in der Hand habenden Kirche scheitern mußte.61 Die Montgelas-Ära Bayerns, die als das „eigentlich klassische Paradigma der rheinbündischen Reformzeit“ gilt, hat eine Reihe von grundlegenden Reformen vorangetrieben, insbesondere 1) die Reorganisation der Verwaltung mit dem Ziel, die ständischen, kirchlichen und provinziellen Zwischengewalten zurückzudrängen und die Staatsorganisation nach den
Vgl.: Br I, 185; Hervorhebungen von T. G. Vgl.: Br I, 197 f. 60 Vgl.: Br I, 218; Hervorhebung von T. G. 61 Vgl.: Horst Althaus: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München/ Wien 1992. 229 ff. 58 59
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Prinzipien der Zweckrationalität zu vereinheitlichen und zu konzentrieren, 2) die Proklamation der die Volksvertretung bestimmenden Konstitution, 3) die konstitutionelle Sicherung der Grundrechte, welche Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichmäßigkeit der Besteuerung, gleichen Zugang zu den öffentlichen Ämtern, Abschaffung der Leibeigenschaft sowie Freiheit der Person und des Eigentums, Gewissens- und Pressefreiheit in sich enthalten, 4) die Einführung des Code Napoléon, der nicht zuletzt auf die Zerschlagung des Großgrundbesitzes durch Erbteilungen, das Verbot der Personalfronden sowie der unablösbaren Grundrenten und die Aufhebung des in der Grundherrschaft gebundenen geteilten Eigentums zielte. Durch diese Reformpolitik verlor der Feudaladel die Steuerprivilegien, Patrimonialgerichtsbarkeit und Ämtermonopole, und die mit dem Grundbesitz verbundenen Feudalprivilegien verwandelten sich in privatrechtliche Eigentumstitel, so daß in den Rheinbundreformen „die größere Nähe zu den Errungenschaften der französischen Revolution viel unmittelbarer spürbar als in Reformpreußen ist.“62 (3) In der Reformzeit von 1807 bis 1814 haben die Rheinbundpublizisten über „den Souveränitätsbegriff und den Sinn der Rheinbundakte“ diskutiert, worauf Hegel im August 1807 hingewiesen hat. Im Zentrum der Debatte standen (a) die Frage der Mediatisierung von 1806 und (b) die Auffassung des Rheinbundes.63 (a) Während die Bundesakte vom Juli 1806 in § 24 den Einzelstaaten die unbeschränkte und volle Souveränität, die sie erst im Frieden von Preßburg erreicht hatten, bestätigte, gewährte sie in § 27 im Sinne der Napoleonischen Adelspolitik dem nach 1806 der Reichsunmittelbarkeit entkleideten, mediatisierten Reichsadel, d. h. den Standesherren, die alten Privilegien, was in der entscheidenden Frage der Ausübung der Souveränität entgegenstehen konnte. Souveränisten unter den Staatsrechtlern wie Johann Nikolaus Friedrich Brauer oder Karl Salomo Zachariä argumentierten, daß die Rechtsverhältnisse der Standesherren der freien Bestimmung der Souveränität unterliegen sollten, insoweit der Übergang zum Rheinbund eine Staatsumwälzung gewesen sei, und daß ihre Rechte als nur ausnahmsweise anerkannte Privilegien von jedem Souverän beschränkt oder aufgehoben werden könnten.64 Die Konstitutionalisten wie etwa Günther Vgl.: Elisabeth Fehrenbach: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten. Göttingen 1974. 133. – Dies.: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. 4. Auflage München 2001. 86–94. 63 Zum folgenden vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik. Stuttgart 1994. (Frankfurter historische Abhandlungen 36) 230 ff.; 256 ff. – Vgl. auch: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2. Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft. 1800–1914. München 1992. 62–75. 64 Vgl.: Johann Nikolaus Friedrich Brauer: Beyträge zu einem allgemeinen Staatsrecht der Rheinischen 62
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Heinrich von Berg oder Peter Adolph Winkopp vertraten dagegen die Position, daß die staatsrechtlichen Verhältnisse nicht unbedingt von der Willkür der Souveräne abhängen sollten und die Vorrechte der Standesherren als die wahren Eigentumsrechte zu respektieren seien, weil sie den einzigen Rest der konstitutionellen Bindung des Souveräns bildeten.65 Während die ersten durch den Vorrang der Politik vor dem Recht den Bruch von 1806 anerkannten, versuchten die letzten, im Namen der Rechtskontinuität die wohlerworbenen Rechte gegen die Konsequenz der Revolution zu verteidigen. Der Gegensatz der beiden Positionen war schwer zu vermitteln, insofern die Aufgabe der Rheinbundreformen in der Aufhebung der ständischen Ordnung und der Befreiung vom feudalen Legitimitätsprinzip bestand. (b) Die Rheinbundpublizisten schieden sich auch darin, wie der Rheinbund im Verhältnis zum alten Reich anzusehen sei. 1) Die ehemaligen Reichsanhänger, die den Rheinbund als die Fortsetzung des Reichs betrachteten, d. h. die aufgeklärten Reichspatrioten wie Johannes von Müller oder Peter Adolph Winkopp, argumentierten, daß die Mitgliedstaaten einen einheitlichen Bundesstaat ausmachen sollten. Ihre Argumentation zielte darauf, den Rheinbund zu nationalisieren und damit die Souveränität der Einzelstaaten einzuschränken, so daß sie an die Reichsreformdiskussion von vor 1806 anknüpfen konnten. 2) Die Anhänger Napoleons, die die Tradition des Reichs ablehnten, betrachteten dagegen den Vollender der Revolution, Napoleon, als den neuen Karl den Großen und stellten ihn der Kontinuität des Reichs gegenüber, wobei sie dabei den Illusionen über Napoleon verhaftet waren. 3) Die die einzelstaatliche Reformpolitik unterstützenden Souveränisten wie Nikolaus Thaddäus Gönner oder Johann Christian Freiherr von Aretin argumentierten, daß die bundesstaatliche Zentralgewalt mit der Souveränität der Einzelstaaten unvereinbar und der Rheinbund nur als Staatenbund akzeptabel sei, wobei sie die Staatssouveränität als den einzigen Träger der öffentlichen Gewalt anerkannten, der die selbständigen Gewalten im Inneren auflöste.66 4) Die Befürworter der auf die Nationaleinheit gerichteten Rheinbundverfassung, d. h. die Staatenbundtheoretiker wie Wilhelm Josef Behr oder Johann Gottfried Pahl, die Konstitutionalismus und moderne Bundes-Staaten in Fünfzig Sätzen. Karlsruhe 1807. – Vgl.: Karl Salomo Zachariä von Lingenthal: Das Staatsrecht der Rheinischen Bundesstaaten und das Rheinische Bundesrecht. Erläutert in einer Reihe von Abhandlungen. Heidelberg 1810. – Vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. A. a. O. 94–99; 240–242. 65 Vgl.: Günther Heinrich von Berg: Abhandlungen zur Erläuterung der Rheinischen Bundesakte. Teil 1. Hannover 1808. – Vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. A. a. O. 89–91; 243–250. 66 Vgl.: Nikolaus Thaddäus Gönner [anonym]: Über den Umsturz der teutschen Staatsverfassung und seinen Einfluß auf die Quellen des Privatrechts in den neu souverainen Staaten der rheinischen Conföderation. O.O. 1807. – Vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. A. a. O. 75–80; 283–287.
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Staatlichkeit verbinden wollten, schlugen vor, die Souveränität der Mitgliedstaaten gegenseitig anzuerkennen und die nationale Einheit als Staatenbund aufzubauen, während sie die Beschränkung der Souveränität etwa durch die Errichtung des Bundesgerichts als einen Rückfall in alte Strukturen zurückwiesen.67 Zusammenfassend läßt sich über die Debatte unter den Rheinbundpublizisten feststellen: Während die reichspatriotischen Konstitutionalisten die Kontinuität mit dem alten Reich beachteten und eine die Souveränität der Einzelstaaten einschränkende bundesstaatliche Rheinbundverfassung anstrebten, propagierten dagegen die Souveränisten, von dem Bruch von 1806 ausgehend, für eine die Staatssouveränität garantierende staatenbündische Rheinbundverfassung. In der neuesten Rheinbundforschung hat man darauf hingewiesen, daß „diese Souveränitätsposition mit der (vor allem nachkantischen) idealistischen Staatsphilosophie theoretisch eng verklammert war“ und „der Zusammenhang der Hegelschen Staatsphilosophie […] mit der Erfahrung der rheinbündischen (nicht primär preußischen) Reformen auf der Hand liegt, jedoch bisher kaum beachtet wurde“,68 weil die rheinbündische Reformzeit seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts aus der nationalgeschichtlichen Perspektive als Periode der ‚Fremdherrschaft‘ verurteilt worden war. Wenn man aber unter dem Aspekt der Konstellation der Rheinbundpublizistik die nach 1817 gestaltete Hegelsche Souveränitätstheorie ansieht, geht daraus hervor, daß Hegel nach 1807 den entscheidenden Wechsel vom Reichspatrioten zu jenem Souveränisten vollzogen hat, indem er durch die Erfahrung der Rheinbundreformen in Bayern jenen inneren Widerspruch in der Verfassungsschrift zu spüren bekommen hatte, ein Zusammenhang, der im nächsten Abschnitt diskutiert werden soll.
4. Formulierung des Souveränitätsbegriffs um 1820 (1) Obwohl er im April 1814 den Sturz Napoleons beklagt hatte – „Es ist ein ungeheueres Schauspiel, ein enormes Genie sich selbst zerstören zu sehen. – Das ist das τραγικυτατον, das es gibt.“ –, äußerte Hegel zwei Jahre später, am 5. Juli 1816 seine Überzeugung, daß die Errungenschaft der Reform trotz der
Vgl.: Wilhelm Josef Behr: Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes aus dem Standpunkt des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1808. – Ders.: Das teutsche Reich und der rheinische Bund. Eine publicistisch-politische Parallele zur Ausmittlung der Vorzüge, welche der rheinische Bund vor dem teutschen Reiche der teutschen Nation darbiethet und darbiethen wird. Frankfurt a. M. 1808. – Vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. A. a. O. 84–89; 290–298. 68 Vgl.: Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. A. a. O. 287 f. – Zur Geschichte der Rheinbundforschung vgl.: Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. A. a. O. 213 ff. 67
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„ungeheuerste[n] Reaktion, die wir gesehen [haben], gegen Bonaparte“ unwiderstehlich ist.69 „Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick und dünne. […] Die sicherste (nämlich innerlich und äußerlich) Partie ist wohl, den Avanceriesen [= Weltgeist, T. G.] fest im Auge zu behalten […].“70 Nachdem er im Oktober 1816 den Lehrstuhl in Heidelberg erhalten hatte, veröffentlichte Hegel Anfang 1817 eine anonyme Schrift Verhandlungen in der Versammlung der Landstände in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Litteratur. In der Landständeschrift, die noch aus seiner Nürnberger Zeit stammen soll, beschäftigte er sich mit dem ersten deutschen Verfassungskonflikt zwischen dem König, der eine neue Verfassung geben wollte, und dem Landtag, der dagegen opponierte, und nahm für den König Partei, mit der Konsequenz, daß seine persönliche Beziehung mit Paulus, der in derselben Zeitschrift die Position der Landstände befürwortete, zerbrach.71 Die Veränderung, die sich in den deutschen Ländern letztlich vollzogen hat, charakterisiert Hegel zunächst als den „Uebergang […] aus dem Verhältniß von R e i c h s l e h e n in das Verhältniß von s o u ve r ä n e n L ä n d e r n , d. i. von S t a a t e n .“ 72 Nachdem das Deutsche Reich als „die Co ns titu ir u n g d er A n a rch ie “ endlich sein schimpfliches Ende erreicht hatte, hat Württemberg die Unterordnung als „deutsche[s] Reichslehen“ abgeworfen und ist „in die Souveränetät […] und in die Stellung eines Staates“73 übergetreten. Indem in „der ersten Zeit ihrer Entstehung“ die Souveränität „n a c h A u ß e n “ , 74 d. h. die Existenz und Anerkennung des württembergischen Staates gewonnen wurde, ist nun die Zeit gekommen, den Völkern die freie Verfassung zu geben, die an die Monarchie die Repräsentativverfassung knüpft. Diesen „zweyten Schritt, den monarchischen Staat n a c h I n n e n zu schaffen“,75 d. h. die erste Ausübung der inneren Sou-
69 Vgl.: Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Band II: 1813–1822. Hamburg 1969. 28; 86. Hervorhebungen von T. G. [Im folgenden: Br II] 70 Vgl.: Br II, 85 f. 71 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Schriften und Entwürfe I. (1817–1825). Herausgegeben von Friedrich Hogemann und Christoph Jamme. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 15. Hamburg 1990. 30 ff. [Im folgenden: GW 15] – Vgl. auch die Wangenheim-Rezension von: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Die Idee der Staatsverfassung in ihrer Anwendung auf Würtembergs alte Landesverfassung und den Entwurf zu derer Erneuerung. – In: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur. Heidelberg. 10–12 (1817), 145–189. 72 Vgl.: GW 15, 56; alle Hervorhebungen im Original. 73 Vgl.: GW 15, 31. 74 Vgl.: GW 15, 32. 75 Vgl.: GW 15, 33.
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veränität als der verfassungsgebenden Gewalt,76 hat König Friedrich II. getan, so beurteilt Hegel die gegenwärtige Lage der „Staatsstiftung“ im Inneren und Äußeren. Dagegen, so Hegel, habe die Ständeversammlung die vom König gegebene Verfassung verworfen, weil sie „nicht d i e a l t w ü r t e m b e r g i s c h e Ve r f a s s u n g […], nicht das bloße Wiederherstellen und Wiederaufleben des Alten sey.“77 „Das Todte kann aber nicht wieder aufleben“,78 so verurteilt Hegel den Grundirrtum der württembergischen Landstände, von einem positiven Recht auszugehen, aufs schärfste, wobei er sich auf den revolutionären Grundsatz des „ewigen Rechte[s] der Vernunft“79 beruft. „Man mußte den Beginn der französischen Revolution als den Kampf betrachten, den das vernünftige Staatsrecht mit der Masse des positiven Rechts und der Privilegien, wodurch jenes unterdrückt worden war, einging; in den Verhandlungen der Wirtemb. Landstände sehen wir denselben Kampf dieser Principien, nur daß die Stellen verwechselt sind.“80 Während in Frankreich die Mehrheit der Generalstände die Rechte der Vernunft behauptete und die Regierung auf der Seite der Privilegien war, stellte sich hingegen in Württemberg der König auf die Seite des vernünftigen Staatsrechts, und die Landstände sind zu Verteidigern der Privilegien geworden. Die württembergischen Landstände haben, so Hegel, wie französische Remigranten „ ni c ht s ve r g e s s e n u n d ni ch t ge le r n t; sie scheinen diese letzten 25 Jahre, die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns lehrreichsten, weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören, ve r s c hl a f e n zu haben.“81 Gegen die Opposition der Landstände, die aus der geschichtlichen Erfahrung nichts lernen und die Errungenschaft der Reform zunichte machen wollten, setzt Hegel wie die Reformbeamten auf die Fortsetzung der Reform von oben durch den Souverän. Diese paradoxe Situation fand sich nicht nur in Württemberg, sondern auch in Westfalen, wo die Repräsentanten 1808 und 1810 die Reformgesetze zur Abschaffung der Steuerprivilegien ablehnten und gegen den in der Konstitution von 1807 festgeschriebenen Gleichheitsgrundsatz verstießen.82 Die Hegelsche Position als Befürworter der württembergischen Verfassung kann also im Zusammenhang der weitergeführten Souveränitätspolitik der Zur verfassungsrechtlichen Lehre der verfassungsgebenden Gewalt vgl.: Carl Schmitt: Verfassungslehre. A. a. O. 20 ff.; 75 ff. – Sowie: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts. – In: Ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Frankfurt a. M. 1991. 90–112. 77 Vgl.: GW 15, 54. 78 Vgl.: Ebd. 79 Vgl.: Ebd. 80 Vgl.: GW 15, 61. 81 Vgl.: GW 15, 61 f. 82 Vgl.: Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. A. a. O. 85; 89. 76
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Rheinbundreformen richtig verstanden werden. Im April 1814 hat er sogar den Sturz Napoleons als das selbstzerstörerische Resultat der von ihm eingeleiteten Reformen ausgelegt. „Die ganze Umwälzung habe ich übrigens, wie ich mich rühmen will, vorausgesagt. In meinem Werke (in der Nacht vor der Schlacht von Jena vollendet) sage ich p. 547: ‚Die absolute Freiheit […] geht aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land (ich hatte dabei ein Land im Sinne) des selbstbewußten Geistes über […].‘ “83 (2) Nachdem er in der Enzyklopädie vom Frühling 1817 den Umriß des eigenen philosophischen Systems dargestellt hatte, hielt Hegel im Wintersemester 1817/18 die erste Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft als den objektiven Geist und nach dem Umzug nach Berlin 1818/19 und 1819/20 die zweite und dritte Vorlesung über dasselbe Thema. In diesen drei Vorlesungen vor der Publikation der Rechtsphilosophie von 1820 hat Hegel im Rahmen der Staatslehre die eigene Theorie der Staatssouveränität entwickelt, deren Gestaltung erst anhand der neuerdings erschienenen drei Nachschriften der Kollegien 1817/18 sowie 1819/20 aufgeklärt werden kann. Während die Wannenmann-Nachschrift der ersten Kollegien84 schon seit dem Erscheinen (1983) als verläßlich gilt, war die Authentizität der von Dieter Henrich herausgegebenen anonymen Nachschrift des dritten Kollegs85 zwar lange Zeit umstritten, ist aber seit dem Erscheinen der Ringier-Nachschrift desselben Kollegs (2000)86 als gesichert zu bewerten, soweit man der Authentizität der letzten Nachschrift als einer während der Vorlesungsstunden geschriebenen ‚Mitschrift‘ zustimmen kann, weil die beiden Nachschriften sowohl in der Darstellungsform als auch inhaltlich im Grunde identisch sind. Im folgenden soll aufgrund der Wannenmann-, Henrich- und Ringier-Nachschrift der Entstehungsprozeß der Hegelschen Souveränitätstheorie im Zusammenhang mit seiner Zeiterfahrung rekonstruiert werden. Bevor man auf die Hegelsche Theorie der Souveränität eingeht, muß zuerst Vgl.: Br II, 28; Hervorhebungen im Original. Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Herausgegeben von C. Becker, W. Bonsiepen, A. Gethmann-Siefert, F. Hogemann, W. Jaeschke, Ch. Jamme, H.-Ch. Lucas, K. R. Meist, H. Schneider mit einer Einleitung von O. Pöggeler. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 1. Hamburg 1983. [Im folgenden: 1817] – Vgl.: Ders.: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Karl-Heinz Ilting. Stuttgart 1983. [Homeyer-Nachschrift im folgenden: 1818] 85 Vgl.: Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Herausgegeben von Dieter Henrich. Frankfurt a. M. 1983. [Im folgenden: 1819H] 86 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Berlin 1819/ 1820. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier. Herausgegeben von Emil Angehrn, Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann. – In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 14. Hamburg 2000. [Im folgenden: 1819R] 83 84
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seine Begründung jener ‚Freiheit der Person und des Eigentums‘ im ‚abstrakten Recht‘ behandelt werden,87 die nicht nur als das Prinzip der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ die unerläßliche Voraussetzung der Staatssouveränität ausmacht, sondern auch den Kern der politisch-gesellschaftlichen Reformen in den Rheinbundstaaten trifft. (a) Hegel war sich 1817 darüber ganz im klaren, daß das Prinzip der Freiheit des Eigentums insbesondere die Abschaffung der feudalen Grundherrschaft in Anspruch nimmt. In den Vorlesungen 1817/18 heißt es: „Durch das Christentum wurden zuerst die Menschen frei, aber durch die Feudalverfassung wurde das Eigentum unfrei, und dies war mit die Veranlassung zur Französischen Revolution. Das Prinzip, daß der Feudalismus aufgehoben werden sollte, war ganz gut, aber es mußte mit Entschädigung geschehen.“88 Mit dem ‚unfreien Eigentum‘ ist gemeint der alteuropäische Begriff des geteilten Eigentums, wonach nach der Erbpacht der Pächter als Besitzer (dominus utilis) den Grund nur benutzen und einen jährlichen Zins an den Grundherrn zahlen soll, der als Eigentümer im strengen Sinne (dominus directus) das ‚direkte‘ Recht zum Eigentum haben soll. Diese Trennung zwischen der Benutzung und dem abstrakten Eigentum, die mit der Rezeption des Römischen Rechts in das Germanische Lehnrecht eingeführte wurde, hatte die alteuropäische Grundherrschaft des Feudalherrn juristisch gerechtfertigt, worauf Hegels philosophische Kritik des geteilten Eigentums unmittelbar gerichtet ist. „Diese Einteilung in ‚dominium directum‘ und ‚[dominium,T. G.] utile‘ ist eine leere, indem der ‚dominus directus‘ nur ein Recht gegen den Inhaber [= dominus utilis, T. G.], nicht aber [gegen, T. G.] die Sache selbst hat. […] Das Ganze ist also ein Vertrag über ein Eigentum mit einer Form, wie sie nicht sein soll, denn der ‚dominus directus‘ hat nur ein leeres Recht und muß also auch gehalten sein, dieses leere Recht aufgeben zu wollen.“89 Das geteilte Eigentum wird später in der Rechtsphilosophie, § 62 A als das Verhältnis „einer leeren Herrenschaft“ (nicht Herrschaft!) im Sinne des Doppeleigentums, daß zwei Herren (domini) über denselben Grund nebeneinander stehen, bezeichnet und als „eine Verrücktheit der Persönlichkeit“ aus der Einheit des Begriffs der Freiheit und ihres Daseins zurückgewiesen.90 Zur Freiheit der Person und des Eigentums in der Rechtsphilosophie vgl.: Joachim Ritter: Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ §§ 34 bis 81 (1961). – In: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. A. a. O. 256–280. – Zur Begriffsgeschichte des Eigentums vgl.: Dieter Schwab: Eigentum. – In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 2. E–G. Stuttgart 1975. 65–115. 88 Vgl.: 1817, 29. 89 Vgl.: 1817, 28 f. 90 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. – In: Ders.: Theorie-Werkausgabe. Werke 7. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 87
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Hegels Position, aufgrund der Absolutheit des Eigentums als Selbstvergegenständlichung des Geistes das geteilte Eigentum, das noch im Preußischen Landrecht, § 14 sowie in der Kantischen Rechtslehre, § 17 sanktioniert war,91 zu verwerfen, entspricht genau dem Code Napoléon, dessen Bewertung er zwei Jahre später aus Anlaß des Kodifikationsstreits ausgesprochen hat. In den Vorlesungen 1819/20 befürwortet Hegel die von seinem ehemaligen Heidelberger Kollegen Anton Friedrich Justus Thibaut vertretene Notwendigkeit der Kodifikation in Deutschland, um die Gesetze dem Publikum zugänglich zu machen, und widersetzt sich dadurch dem Berliner Kollegen Friedrich Carl von Savigny, der als Stifter der historischen Rechtsschule propagierte, dem französischen Vorbild nicht zu folgen.92 „Einer gebildeten Nation die Fähigkeit, zu einem solchen Gesetzbuch zu gelangen, abzusprechen, heißt dieselbe aufs äußerste beschimpfen. […] Der Code Napoléon wird da, wo er eingeführt ist, immer noch als eine Wohltat anerkannt; daß dieses Gesetzbuch fertig geworden ist, ist wenigstens das Werk Napoléons […]. Daß man bei einer feierlichen Gelegenheit [= auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817, T. G.] den Code Napoléon verbrannt hat, kann als eine traurige Erscheinung unter unserer Jugend betrachtet werden. […] Ein großer Teil derer, die gegen den Code Napoléon geschrieben und geschrien haben, haben wohl gewußt, was ihnen gefährlich ist.93 Der Code Napoléon enthält jene große Prinzipien der Freiheit des Eigentums und der Beseitigung alles dessen, was aus der Feudalzeit herrührt.“94 In den Vorlesungen vor 1820 hat Hegel 1970. 132 f. [Im folgenden: TWA 7] – Auch in der Rechtsphilosophie, § 57 A thematisiert Hegel mit Anspielung auf die feudale Grundherrschaft „das Verhältnis der Herrenschaft [nicht Herrschaft! T. G.] und der Knechtschaft […].“ – Vgl.: TWA 7 124. 91 Vgl.: Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. – In: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band VI. Erste Abtheilung: Werke. Sechster Band. Berlin 1914. 270. 92 Zur historischen Bedeutung des Kodifi kationsstreits als Variation der rheinbündischen Debatte vgl. die „Einleitung“ in: Hans Hattenhauer (Hg.): Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. München 1973. 9–51. – Vgl. auch: Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Göttingen 1952. 234 ff. – In Heidelberg hat Hegel nicht nur als Mitherausgeber an den von Friedrich Creuzer, Anton Friedrich Justus Thibaut und anderen herausgegebenen Heidelbergischen Jahrbücher der Litteratur mitgewirkt, sondern auch als Zuhörer an den Singabenden bei Thibaut teilgenommen. – Vgl.: Begleitheft zum Universitätsmuseum Heidelberg. 30. – Nachdem er in den Vorlesungen 1818/19 die „geschichtliche[ ] Ansicht rechtlicher Verhältnisse“, die „wegen der Notwendigkeit, den bestehenden Rechtszustand zu rechtfertigen“, „in neueren Zeiten besonders empfohlen“ (vgl.: 1818, 205 f.) wurde, bestritten hatte, geißelte Hegel in der Rechtsphilosophie, § 211 A, 215 A, 216 A Friedrich Carl von Savignys Position als „einen der größten Schimpfe“ gegen eine Nation oder „eine deutsche Krankheit.“ – Vgl.: TWA 7, 363; 368 f. 93 Damit gemeint ist nicht zuletzt: August Wilhelm Rehberg: Ueber den Code Napoleon und dessen Einführung in Deutschland. Hannover 1814, aber auch die Anspielung auf Friedrich Carl von Savigny. 94 Vgl.: 1819H, 171 f.; Hervorhebungen von T. G. – Daraus erhellt, daß der folgende Satz in der Rechtsphilosophie, § 215 nicht Friedrich den Großen, sondern Napoléon meint: „Die
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also seine Grundeinstellung als Gegner der Feudalverfassung und Verfechter der Rheinbundreformen unverhohlen geäußert, die Position, die eigentlich hinter dem Satz der Rechtsphilosophie, § 62 A steckt: „Es ist wohl an die anderthalbtausend Jahre, daß die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat und unter einem übrigens kleinen Teile des Menschengeschlechts allgemeines Prinzip geworden ist. Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden.“95 (b) Auf der anderen Seite begründet Hegel schon in den Vorlesungen 1817/ 18 die Freiheit der Person damit, daß man sich dessen nicht entäußern kann, was die eigene Person ausmacht, wie die Persönlichkeit, Willensfreiheit und Religion. „Dies ist der Fall, daß ich mich nicht freiwillig zum Sklaven machen kann, denn dieser […] Besitz hört, sowie ich es will, auf. Wenn ich auch als Sklave geboren und vom Herrn ernährt und erzogen bin und wenn meine Eltern und Voreltern alle Sklaven waren, so bin ich frei im Augenblick, wo ich es will, wo ich zum Bewußtsein meiner Freiheit komme.“96 In der Rechtsphilosophie, § 66 A schließt Hegel später aus dem in der Phänomenologie des Geistes gewonnenen Begriff des Geistes als Einheit des Begriffs und Daseins, daß man durch „unendliche Rückkehr in sich“ „das bisherige Verhältnis und das Unrecht“ aufheben kann, wie „die Sklaverei, Leibeigenschaft“, und „die Unfreiheit“ des Eigentums einerseits, den „Aberglauben“ und die kirchliche Vormundschaft andererseits.97 In den Vorlesungen 1819/20 aber offenbart sich erst der theologische Hintergrund seiner Begründung der Freiheit der Person durch den Geistesbegriff. „Wenn man sagt, es sei der erste Grundsatz der Freiheit, daß die Menschen einander alle gleich seien, so ist dieses allerdings ganz richtig. […] Dieser Gedanke ist vornehmlich durch das Christentum allgemein geworden. Das Christentum enthält dieses, daß Gott Mensch geworden ist und daß die göttliche und menschliche Natur eins sind. Darin liegt das Hohe, daß Gott die menschliche Natur als solche angenommen hat. Mit der Verbreitung dieser Idee muß die Sklaverei verschwinden.“98 Aus der christlichen Idee der Menschwerdung Gottes hat Hegel also 1819/20 die Freiheit der Person und auch des Eigentums Regenten, welche ihren Völkern […] ein Landrecht, als geordnetes und bestimmtes Gesetzbuch, gegeben haben, sind nicht nur die größten Woltäter derselben geworden und mit Dank dafür von ihnen gepriesen worden, sondern sie haben damit einen großen Akt der Gerechtigkeit exerziert.“ – In den Vorlesungen 1818/19 heißt es ebenfalls: „Dieses [= das Feudalsystem, T. G.] widerspricht der Rechtsidee, indem es die Freiheit des Eigentums und der Person nicht zur vollen Entwicklung kommen läßt.“ „[…] die Franzosen haben durch die Revolution letztere [= die Freiheit des Eigentums, T. G.] schnell errungen, [durch den] Code Napoléon bestätigt […].“ – Vgl.: 1818, 207; 271. 95 Vgl.: TWA 7, 133; Hervorhebungen im Original. 96 Vgl.: 1817, 32. 97 Vgl.: TWA 7, 142 f. 98 Vgl.: 1819H, 67 f.
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abgeleitet, und später in der ‚Weltgeschichte‘ auf den trinitätstheoretisch gefaßten christlichen Gott als „Dreiheit“ von Vater, Sohn und Geist, als „das aus der Entgegensetzung in sich Zurückkehrende“99 hingewiesen. „Es ist die Idee der Menschwerdung Gottes unter den Völkern zur Anschauung gekommen, die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur. […] Das Bewußtsein, daß das göttliche Selbst eins ist mit dem menschlichen, ist in den Menschen gekommen. Indem der Mensch dies ergreift, ist er selbst ein Göttliches. […] Der Sohn ist herausgetreten und hat sich mit Gott vereint und ist so Geist geworden.“100 Durch dieses geschichtsphilosophische Grundmotiv mußte er zugleich mit der Frage konfrontiert werden, wie man in dem unchristlichen Kulturkreis, der keine immanente Idee der menschlichen Ehre und Würde kennt, die Freiheit der Person überhaupt begründen kann – eine Aporie, die er in den Vorlesungen über Geschichtsphilosophie nach 1822 zu lösen versucht.101 In der Familienlehre der Rechtsphilosophie, § 180 A kritisiert Hegel daneben die auf die Familienfideikommisse gegründete Primogenitur, weil sie nicht nur gegen das Recht der Person und des Eigentums verstößt, sondern auch ein Abstraktum wie „Haus oder Stamm“ der wirklichen Familie überordnen will.102 Insofern er durch die Gleichheit des Erbrechts die familienrechtliche Basis der adligen Grundherrschaft abzubauen vorschlägt, nimmt Hegel dieselbe Position wie der Code Napoléon ein. Auf Grund der im ‚abstrakten Recht‘ diskutierten ‚Freiheit der Person und des Eigentums‘ konnte Hegel 1820 erst jene Institutionen der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ aufbauen, die vor allem auf dem Prinzip „der subjektiven Freiheit“ oder „dem Recht des Selbstbewußtseins“ beruhen, wie Freiheit der Berufswahl (§ 206), Öffentlichkeit der Gesetze durch das allgemeine Gesetzbuch (§ 215),Vereinheitlichung und Öffentlichkeit des Gerichts (§ 224),Teilnahme des Volkes am Gericht als die Geschworenen (§ 228), religiöse Toleranz und Verleihung der bürgerlichen Rechte an die emanzipierten Juden (§ 270), was alles nicht in Deutschland vor 1807 zu finden, sondern erst durch die Rheinbund- sowie preußischen Reformen initiiert worden war. (3) Der Begriff der Souveränität, der schon in der Landständeschrift als Schlüsselwort verwandt wurde, kommt in den ersten Heidelberger Vorlesungen noch nicht zu Tage. In den Vorlesungen 1817/18 behandelt Hegel stattdessen am Anfang der Staatslehre, § 124–125 die Abschaffung der Privilegien durch die „Stiftung der Staaten“,103 wobei es mit Anspielung auf Napoleon heißt: „Die Stifter Vgl.: 1819H, 290. Vgl.: 1819R, 205. 101 Zur gesamten Problematik vgl.: Takeshi Gonza: Kann ‚die Vernunft in der Geschichte‘ Allgemeingültigkeit für das Menschengeschlecht in Anspruch nehmen? Entstehung der Hegelschen Geschichtsphilosophie und ihr theologisch-verfassungsgeschichtlicher Hintergrund. A. a. O. 102 Vgl.: TWA 7, 335 f.; 108. 103 Vgl.: 1817, 174. 99
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der Staaten müssen als Heroen angesehen werden, welche Stifter des göttlichen Rechts sind, daher ihnen das Recht des Zwanges zusteht […].“104 „In Deutschland hat nun das Oberhaupt diese Rechte des Staates einzeln verkauft, überlassen. Die Glieder des Staates haben mit dem Oberhaupt so kapituliert, daß dieses Rechte des Staates ihnen als Privatrechte überließ […]. Und in unseren Zeiten ist ein Schritt zur vernünftigen Existenz des Staates geschehen, der seit 1000 Jahren nicht geschah; das Recht der Vernunft wurde gegen die Form von Privatrecht geltend gemacht. Die Privaten schreien sehr darüber, und in Frankreich wollen die Emigranten noch immer ihre Privilegien wiederhaben. Ebenso gebrauchen die Standesherren in Deutschland immer noch den Namen des Rechts für ihre alten Privilegien. Aber nur in wenigen Fällen kann der Staat zur Entschädigung rechtlich gehalten sein.“105 Es müssen nämlich nicht die Steuerfreiheit, Gerichtsbarkeit und das ausschließliche Recht der Offizierstellen, sondern nur die Erbpacht entschädigt werden. Hegel hat hier zur Mediatisierungsfrage dieselbe Stellung wie die Souveränisten in den Debatten der Rheinbundpublizistik eingenommen, daß nämlich die alten Privilegien der Standesherren keinen Grund mehr haben, weil die in der Verfassungsschrift kritisierte privatrechtliche Form des deutschen Staatsrechts durch die Errichtung der souveränen Staaten nach 1806 unwiderruflich überwunden ist. Auf die zeitgenössische Erfahrung der Französischen Revolution gestützt vertrat Hegel dann in § 133 die gedoppelte Einheit durch Monarchen und Verfassung: „Alle Konstitutionen der Franzosen hatten diesen Fehler, daß ihnen die Spitze, die subjektive Einheit, fehlte, und sie entstand nun notwendig als kaiserliche und nun königliche Gewalt. Nebeneinander stehende Gewalten, wo keine die Spitze der Pyramide macht, führen es mit sich, daß immer eine oder die andere Gewalt über die anderen sich erhebt und über ihnen steht. […] In dieser Unabhängigkeit der Gewalten gegeneinander standen diese zwei Gewalten gegeneinander, und die Einheit mußte durch Kampf entschieden werden.“106 Die Geschichte der ersten französischen Republik wird als der ständige Konflikt zwischen der gesetzgebenden und exekutiven Gewalt, Parlament und Regierung erfaßt und im Anschluß an Hobbes als die geteilte Souveränität, wo in einem Staat zwei Souveräne nebeneinanderstehen, verworfen,107 wie es in der Landständeschrift
Vgl.: 1817, 174. Vgl.: 1817, 175; Hervorhebungen von T. G. 106 Vgl.: 1817, 187 f. 107 Zur Kritik der Mischverfassung nach der Untrennbarkeit der Souveränität vgl.: Thomas Hobbes: Leviathan. A. a. O. 127; 227 f. – Dasselbe Problem des ‚divided government‘ kehrte als Mangel der Präsidialdemokratie in der etwa einhundert Jahre später gegründeten ersten deutschen Republik, insbesondere in ihrer Staatskrise von 1932, wieder. – Vgl.: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Band 1. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. A. a. O. 520 ff. 104 105
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der Fall war: „Der Staat würde mit solchen Bestimmungen aufhören, ein Staat zu seyn, und durch die zwey souveräne Gewalten, die sich in ihm befänden, zertrümmert werden […].“108 Aus dieser geschichtlichen Erfahrung schließt er nach dem englischen Vorbild, daß die individuelle Einheit durch den Monarchen sowie die innere Einheit durch Verfassung gleichermaßen unentbehrlich sind: „Diese einfache Subjektivität, diese einfache Spitze (bei der Moral das Gewissen) ist wesentlich nach dem Begriff notwendig. In England ist auch der König diese letzte Spitze, aber durch das Ganze der Verfassung verfällt er fast zu einem Nichts.“109 In denselben Vorlesungen, §§ 135–136 erklärt Hegel dabei den Nutzen der konstitutionellen Monarchie gegenüber der Republik nach dem Montesquieuschen Vergleich zwischen den Verfassungen.110 1) Während es in der Republik, besonders in der Demokratie, nur um die politische Tugend der Vaterlands- sowie Gleichheitsliebe geht, ist dagegen in der Monarchie die in der Demokratie ausgeschlossene Verfolgung der individuellen Privatinteressen als ihre Triebkraft, d. h. als „Standesehre“111 anerkannt. 2) Obwohl in der Demokratie alle Gewalten unmittelbar in eins zusammenfallen, kann der Monarch als Einzelner nicht alles tun und muß die Gewalten teilen.112 3) Während die demokratische Verfassung nur in den kleinen Staaten stattfinden kann, kann in den großen Staaten nur die monarchische Verfassung, die das Prinzip der besonderen Interessen zuläßt, ausgeführt werden: „Je größer der Staat wird, um so mehr wird das gemeinsame Interesse den einzelnen Individuen fremd.“113 In den heutigen großen Staaten, wo sich die besonderen Interessen als die bürgerliche Gesellschaft entfaltet haben und die politische Freiheit durch Gewaltenteilung garantiert werden soll, kann also keine antike Republik mehr, sondern nur die eingeschränkte Monarchie als Verfassung angenommen werden. „Es ist daher nichts so unvernünftig, als sich auf die Verfassung der Griechen und Römer für unsere Verfassungen zu berufen […].“114 So verabschiedet sich Hegel als konstitutioneller Monarchist von seinem jugendlichen Ideal der Wiederauflebung der antiken Republik endgültig, aber mit ambivalenten Gefühlen: „[…] von einem Jüngling, der nicht die Republik wünschte, sowie von einem Alten, der nicht die Republik verwünschte, würde ich wenig halten.“115
Vgl.: GW 15, 59. Vgl.: 1817, 189. 110 Vgl.: Charles de Montesquieu: De l’esprit des lois. Liv. 3, Chap. 3–7; Liv. 8, Chap. 16–20; Liv.11, Chap. 6. – In: Charles de Montesquieu: Oeuvres complètes. Tome 2. A. a. O. 251 ff.; 362 ff.; 396 ff. 111 Vgl.: 1817, 195. 112 Vgl.: 1817, 195 f. 113 Vgl.: 1817, 198. 114 Vgl.: 1817, 197. 115 Vgl.: 1817, 194. 108 109
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Aber sein Eintreten für die Monarchie im Anschluß an Montesquieu war in einem inneren Widerspruch befangen, weil die als die Triebkraft der Monarchie angegebene „Ehre“ die ständische Tugend des Feudaladels bedeutet und damit die vorrevolutionäre ständische Ordnung voraussetzt, die doch gegen die Freiheit der Person und des Eigentums als Prinzip der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ verstößt. In den Vorlesungen 1819/20 nennt Hegel daher den Monarchiebegriff Montesquieus „Feudalmonarchie“ und distanziert sich von diesem: „Man mag schwätzen von Republik, von Feudalstaat, wie man will, so ist es nicht die vernünftige Idee. Die konstitutionelle Monarchie ist es, was die neuere Zeit vorzüglich charakterisiert. In allen anderen Verfassungen ist die Freiheit nicht zu ihrem Recht gekommen.“116 Aus der Kritik der Feudalmonarchie entwickelt Hegel erst 1819 den eigenen Begriff der Staatssouveränität. 1) Das erste Moment der Idealität der unterschiedlichen Gewalten, d. h. die Notwendigkeit der einheitlichen öffentlichen Gewalt, wird aus der Überwindung der die Feudalmonarchie charakterisierenden privatrechtlichen Form des Staatsrechts abgeleitet. „Zu dieser Souveränität gehört […], daß die verschiedenen Geschäfte des Staates, die Gewalten im Staat selbst nicht etwa ein Privateigentum sind. […] Das ist das Moment der neuen Staaten, das ist das Moment, welches dem Feudalstaat gefehlt hat.“ „Bei der Feudalmonarchie ist die Souveränität nicht im Staate gewesen, weil die Gewalten alle Eigentum waren.“117 Die einheitliche öffentliche Gewalt, die in der Rechtsphilosophie, § 276 als „die substantielle Einheit“118 des Staates bezeichnet wird, kann erst dadurch entstehen, daß dem Feudaladel, der die verschiedenen Gewalten und Geschäfte wie Privateigentum besitzt, alle Zwischengewalten entzogen und auf den Staat konzentriert werden. 2) Das zweite Moment der Subjektivität, d. h. die Notwendigkeit der in antiken Staaten nicht vorhandenen letzten Willensentscheidung, wird aus dem von Kant entdeckten Begriff der menschlichen Willensfreiheit geschlossen. „Wir sehen bei den alten Staaten, in diesen war dieser letzte Wille nicht ein eigentümliches Moment im Staat. Deswegen war es außer ihm. Aus diesen floß das Bedürfnis von Orakeln. […] In neueren Zeiten, wo der menschliche Geist sein Unendliches erfaßt hat, daß er sich die letzte Entscheidung auch zueignete, mußte auch diese letzte Spitze innerhalb der Sphäre der Freiheit sich stellen.“119 3) Das dritte Moment des wirklichen Subjekts, d. h. die Notwendigkeit des Erbmonarchen als unmittelbarer Einzelheit, wird aus der Kritik der Verfassung des Wahlreichs abgeleitet. „Fragte man die Geschichte um Rat, so sieht man, daß dies [= Wahlreich, T. G.] schon
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Vgl.: 1819R, 169. Vgl.: 1819R, 170; 171. Vgl.: TWA 7, 441. Vgl.: 1819R, 172.
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stattfinden kann, aber bei jenen einfachen Völkern – so das deutsche Reich, so Polen. Beides hat sein Ende erreicht. […] Aber Deutschland war kein Staat, es war halt nie ein Reich – etwas Unbestimmtes. […] Die auftretenden Parteien, indem sie in Ansehung der höchsten Spitze der Staatsgewalt verschieden sind, so machen sie verschiedene Staaten gegeneinander [aus]. Sie beginnen, entgegengesetzte Staaten zu bilden. Es gibt bürgerliche Kriege. So kommt es auch, daß Ausländer zu Hilfe müssen […]. In Deutschland ging es so. Durch einen Fußtritt fiel die hohle Hülse vollkommen auseinander.“120 In der Ableitung der Staatssouveränität als Monarchensouveränität wird also die in der Verfassungsschrift niedergeschlagene Erfahrung der Reichsauflösung als ein lehrreiches Beispiel angeführt. Aber in der letzten Begründung der Monarchensouveränität versucht Hegel vielmehr, den von Kant bestrittenen ontologischen Beweis vom Dasein Gottes zu rehabilitieren und die Monarchensouveränität wie Descartes in Analogie zum Gottesbeweis als den „Übergang vom Begriff zu dem Sein“121 so spekulativ zu rechtfertigen, daß wie der Begriff Gottes sein Dasein enthält, so der Begriff der Subjektivität des Staates das wirkliche Subjekt in sich schließt. Dieses das Dasein Gottes von seinem Begriff ableitende theologische Dogma, das erst aus dem Hegelschen Geistbegriff als Einheit von Begriff und Dasein zu verstehen ist,122 kann auch von Nichtchristen nachvollzogen werden, wenn wir dabei die christliche Idee der Menschwerdung Gottes, daß sich Gott in Gestalt eines wirklichen Menschen in der Welt offenbarte, im Auge haben. Wenn aber der christliche Gott dreieinig sein und der Begriff des freien Willens aus den drei Momenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit bestehen soll, muß auch die Staatssouveränität die drei Momente der gesetzgebenden, Regierungs- und monarchischen Gewalt in sich enthalten – genau dieselbe Struktur wie jene Mischverfassung als Mischung aus Demokratie, Aristokratie und Monarchie, die später die Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen als den rechtsstaatlichen Bestandteil der modernen Verfassung begründen sollte. Die Kombination der Entgegengesetzten (complexio oppositorum), ihre beiden Bestandteile, d. h. Souveränität und Gewaltenteilung zu verbinden, trifft
Vgl.: 1819R, 176 f. Vgl.: 1819R, 173. 122 Zum ontologischen Gottesbeweis, der die zentrale Idee der Hegelschen Philosophie, d. h. die Einheit des Begriffs und Seins ausdrückt, vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. (1830). Unter Mitarbeit von Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 20. Hamburg 1992. 91 f.; 202 ff. – Vgl. zudem: Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960. 120 121
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eben den Kern der Hegelschen Staatslehre, weil er sich seit 1817 bemühte, nicht nur durch die Formulierung der Staatssouveränität die bürgerliche Gesellschaft und den politischen Staat zu trennen, sondern auch durch die Einführung der korporativen Repräsentation und des Erbadels als Mitglied jeder Kammer die beiden zu vermitteln, was zugleich den ‚organischen‘ Charakter der preußischen Reformen im Unterschied zu den Rheinbundreformen kennzeichnet.123 Jene eigentümlichen Umstände Deutschlands, die in der ersten Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die Reichspublizistik im 17. Jahrhundert zum Ausdruck kamen, d. h. die konstitutionell-ständische Tradition, welche die Ausübung der Staatssouveränität immanent beschränken soll, kehrt in der zweiten Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die Rheinbundpublizistik und Hegel auch in geschwächter Form wieder und bekommt in der Restaurationszeit nach 1819 die ambivalente Funktion, den status quo der von den preußischen Reformen unangetastet gelassenen politisch-gesellschaftlichen Sphäre beizubehalten.
Schluß Der in der Verfassungsschrift gefundene theoretische Widerspruch zwischen der Diagnose der Reichsauflösung und dem Rezept dagegen wurde von Hegel 1817–1819 endgültig gelöst, weil er durch die eigene Erfahrung der Rheinbundreformen erkannt hat, daß der strukturelle Faktor der Reichsauflösung erst durch die Abschaffung der ständischen Basis der Reichsverfassung beseitigt werden kann. Das theoretische Resultat, das in den Vorlesungen vor 1820 seinen Niederschlag gefunden hat, läßt sich in zwei Punkten zusammenfassen: 1) Dadurch, dem Feudaladel seine auf die Grundherrschaft gegründeten intermediären Gewalten zu entziehen und das Eigentumsrecht zu privatisieren, kann erst die auf die Freiheit der Person und des Eigentums begründete Sphäre der Privatautonomie, d. h. die vom Staat unterschiedene ‚bürgerliche Gesellschaft‘, entstehen. 2) Dadurch, die den Feudalherren entrissenen Gewalten und Geschäfte auf die Staatssouveränität zu konzentrieren, kann erst die viel beklagte privatrechtliche Form des deutschen Staatsrechts bewältigt und die einheitliche öffentliche Gewalt als Staatsapparat geschaffen werden. Die beiden Konzeptionen über die bürgerliche Gesellschaft und den Staat sind gar nicht einander entgegengesetzt, sondern bilden eine sich ergänzende gepaarte StaatskonzepZum Vergleich zwischen den Rheinbund- und preußischen Reformen vgl.: Elisabeth Fehrenbach:Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. A. a. O. 109 ff. – Vgl. auch: Paul Nolte: Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820. Frankfurt a. M./New York 1990. – Zu Hegels Vermittlung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat vgl.: Manfred Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundproblem und Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie. Neuwied/Berlin 1970. 123
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tion, die erst die Einheit der Polarität zwischen ‚der subjektiven Freiheit‘ und ‚der substanziellen Einheit‘, wie sie in der Rechtsphilosophie, § 260 postuliert wird, ermöglichen soll. Diese Hegelsche Einsicht in das Wesen des nachrevolutionären Staates konnte aber erst aus seiner Erfahrung des geschichtlichen Bruchs der Reichsauflösung und der Rheinbundreformen geschöpft werden. Indem die Rheinbundreformen aber unter dem Protektorat Napoleons den Charakter der Revolution von oben durch Souveränität angenommen haben, haben sie nicht nur den Widerstand von unten gegen die Machtpolitik hervorgerufen, sondern auch die Ideen von 1789 diskreditiert, deren universalistischer Kern ihre unilaterale Durchsetzung mit militärischer Macht verbietet, und sogar Abneigung gegen den französischen ‚Liberalismus‘ verbreitet. Als Anhänger Napoleons hat auch Hegel aus seiner Erfahrung der ‚Befreiungskriege‘ die Lehre gezogen, daß die neu zu gebende Verfassung von der „Bildung des Selbstbewußtseins des Volkes“, d. h. von der fortschreitenden Entwicklung des Volksgeistes, abhängen und dabei das andere Prinzip der Repräsentation gegen die französische ‚Atomistik‘ aufnehmen soll.124 Dahinter steckt jene aktualisierte Problematik des ‚gerechten Krieges‘, die aus der Durchsetzung der universalistischen Idee mit überwältigenden militärischen Mitteln entsteht und aus dem nachhaltigen Ressentiment eine langdauernde Feindschaft und Spaltung innerhalb des Westens hinterläßt. Es sind ja schon zweihundert Jahre seit dem Untergang des deutschen Reiches und der Gründung des Rheinbundes vergangen. Etwa einhundert Jahre später, 1918, hat der Staatsrechtler Carl Schmitt eine gemeinsame Erfahrung der Niederlage gegen Frankreich und des Untergangs des Kaiserreiches gemacht und daraus eine radikale dezisionistische Theorie der Souveränität entwickelt. Aber in der Art und Weise, wie sie die Umbruchserfahrung verarbeiteten, unterschieden sich die beiden dramatisch voneinander, wie sich 15 Jahre später herausstellen sollte. In der Zeit vor 1820, in der Hegel die eigene Staatskonzeption vollendet hatte, brach die erste Welle des deutschen Nationalismus aus nationalem Widerstand gegen den Eroberer auf und verleitete Deutschland endlich zu einem von den anderen Ländern abgetrennten eigenen Weg. Aber vor zweihundert Jahren, nämlich in seinen Vorlesungen vor 1820, hatte Hegel eine andere Möglichkeit vorgezeichnet, aus den Ideen von 1789 zu lernen und sich den westlichen Ländern anzuschließen: nämlich jenen Weg, den Deutschland seit 1990 aus sich selbst zu nehmen begonnen hat – nicht zuletzt, weil der Rheinbund als das dritte Deutschland ohne Österreich und Preußen das erste Vorbild für eine Bundesrepublik Deutschland vorweggenommen hat.
124 Zur Hegelschen Kritik der verfassungsgebenden Gewalt und der ‚französischen Abstraktionen‘ vgl.: TWA 7, § 273 A, § 274 (439 f.) – Vgl. auch: GW 15, 44 ff.
MISZELLE
WOLFGANG ERB
D E T R A N S L AT I O N E M 道 徳 經 V I N D O B O N A V I D I S S E H E G E L I S A N N O TAT I O N E
„Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen. Wir haben auch Auszüge daraus von Jesuiten. Die Schrift ist fast ganz übersetzt. Eine Hauptstelle daraus ist sehr häufig ausgezogen worden. Es ist der Anfang des ersten Buchs.“1 Auf diese Stelle in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wird gelegentlich Bezug genommen, wenn man heute den Daoismus mit der westlichen Philosophie in Beziehung setzt. So heißt es z.B. bei Yajima: „Nach Angabe Hegels besaß man die Hauptschrift von Lao-tse noch in Wien, wo sie übersetzt worden war, und Hegel sah sie selbst dort“;2 und bei Elberfeld: „Ob Hegel selber eine vollständige Übersetzung des Daodejing gelesen hat, ist nicht klar. Wie er selber sagt, habe er in Wien eine ‚gesehen‘“.3 Auch wenn es für den Argumentationszusammenhang der beiden genannten Autoren Yajima sowie Elberfeld und auch sonst philosophisch recht unerheblich ist, ob Hegel ausgerechnet in Wien eine Übersetzung des Dàodéjīng gesehen hat oder nicht, so möchten die folgenden Ausführungen auch um einer letztlich lächerlichen Erkenntnis willen diese Aussage Hegels zurechtzurücken. Die Quintessenz sei schon an dieser Stelle vorweggenommen: Es scheint völlig unwahrscheinlich zu sein, daß Hegel in Wien eine Übersetzung des Dàodéjīng 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System und Geschichte der Philosophie. Vollständig neu nach den Quellen herausgegeben von Johannes Hoffmeister. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XVa: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung: System und Geschichte der Philosophie. Leipzig 1940. 282. (Im folgenden zitiert als: Philosophiegeschichte H mit Angabe der Seitenzahl.) 2 Kyoshiro Yajima: Dialektik im westlichen und östlichen Denken. Hegels Einschätzung von Lao-tse und die Problematik der philosophia perennis. – In: Wiener Jahrbuch für Philosophie. Wien. 24 (1992), 157–167; hier 161. 3 Rolf Elberfeld: Laozi-Rezeption in der deutschen Philosophie. Von der Kenntnisnahme zur „Wiederholung“. – In: Helmut Schneider (Hg.): Philosophieren im Dialog mit China. Gesellschaft für Asiatische Philosophie. Köln 2000. 141–165; hier 146.
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gesehen hat. Statt dessen wird die Konjektur vorgeschlagen: „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in [Paris] ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen. Wir haben auch Auszüge daraus von Jesuiten. Die Schrift ist fast ganz übersetzt.“ Um nun diese Emendation zu begründen, wird erstens dargelegt, warum Hegel eher in Paris als in Wien eine Übersetzung des Dàodéjīng gesehen haben konnte, und zweitens eine Erklärung versucht, wieso in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie steht, er habe diese Übersetzung in Wien gesehen.
1. Hegels Reise nach Wien (1824) Hegel war offenbar nur ein einziges Mal in Wien. Während seiner Reise nach Wien, seinem rund zweiwöchigen Aufenthalt dort (21. September bis 6. Oktober 1824) und seiner Rückreise schreibt er zahlreiche Briefe an seine in Berlin gebliebene Frau.4 Da in diesen Briefen nichts von einer Wiener Übersetzung des Dàodéjīng steht – es also dort keinen positiven Hinweis auf eine solche Übersetzung gibt –, so gilt es zunächst einmal zu fragen, wer denn überhaupt bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Übersetzung des Dàodéjīng angefertigt und wo sie Hegel dann eventuell gesehen haben könnte. Dabei kann es sich eigentlich nur um Übersetzungen handeln, die entweder von ChinaMissionaren oder von Sinologen in Europa angefertigt wurden, und Hegel könnte sie dann bei persönlichen Besuchen oder in Bibliotheken gesehen haben. Positiv kann aus den Wiener Briefen an seine Frau nachgewiesen werden, daß Hegel während seines Wien-Aufenthaltes abgesehen von den allabendlichen Opern- oder Theateraufführungen neben einigen Sehenswürdigkeiten der Stadt vor allem zahlreiche Galerien und mehrmals auch die KaiserlichKönigliche Hofbibliothek besuchte. Doch bis 1837 gab es dort weder den chinesischen Text noch eine Übersetzung des Dàodéjīng, die Hegel gesehen haben könnte, wenn man einmal den von Stephan Ladislaus Endlicher (1804–1849) herausgegebenen Katalog zu Grunde legt, der alle in der Bibliothek vorhandenen 125 chinesischen und mandschurischen sowie 64 japanischen und koreanischen Werke auflistet.5 4 Vgl.: Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Band III. 1823–1831. Hamburg 31969. 48–74. (Im folgenden zitiert als: Briefe III mit Angabe der Seitenzahl.) 5 Vgl.: Stephan Ladislaus Endlicher: Verzeichniss der chinesischen und japanischen Münzen des K. K. Münz- und Antiken-Cabinetes in Wien. Nebst einer Übersicht der chinesischen und japanischen Bücher der K. K. Hofbibliothek. Wien 1837. – Ein Manuskript von Pfizmaier, das dieses Verzeichnis ergänzt, führt allerdings den offenbar chinesischen Text an. – Vgl.: Hartmut Walravens: August Pfizmaier. Sinologe, Japanologe und Sprachwissenschaftler. Eine Biobibliographie. Hamburg 1984.
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Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß bereits im 19. Jahrhundert der Bücher-Klau auch in Wien unterwegs war oder die Rückgabe einer Ausleihe vergessen wurde, denn immerhin ist z. B. ebenso ein Wiener Manuskript von Hildegard von Bingens Lingua ignota vor 1830 verschwunden.6 Aus diesem Grund kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß Hegel 1824 zwar eine Übersetzung des Dàodéjīng in der Bibliothek gesehen hat, obwohl der Bibliothekskatalog von 1837 keine solche Übersetzung mehr auflistet. Eine zweite Möglichkeit nun für einen Einblick in eine Übersetzung des Dàodéjīng bestand bei persönlichen Besuchen. Die einzige Person, die in diesem Zusammenhang überhaupt näherhin in Frage kommt, ist gemäß der Briefe an seine Frau der Wiener Kollege, der Philosophieprofessor Rembold, den Hegel am 30. September 1824 besuchte: „Rembold – nicht so alt wie ich, ein ordentlicher Landsmann von mir, dem meine Schriften nicht unbekannt sind.“7 Nun hatte zwar Ludwig Rembold (1785–1844)8 gründliche Kenntnisse in verschiedenen Sprachen, aber nicht im Chinesischen, so daß es recht unwahrscheinlich ist, daß Hegel bei Rembold eine Übersetzung des Dàodéjīng gesehen haben könnte. Natürlich bedeutet das Fehlen einer direkten Aussage in Briefen an seine Frau nicht zwingend, daß Hegel nicht doch eine Übersetzung des Dàodéjīng in Wien gesehen hat. Doch es geht ja nicht nur um die Bemerkung, daß Hegel diese Übersetzung in Wien gesehen haben will, sondern daß sie dort auch angefertigt worden sein soll: „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen.“ Damit wendet sich die Suche in eine andere Richtung, nämlich die Überlegung, ob es sich um eine Übersetzung von China-Missionaren handeln könnte. Nun ist es zwar nicht unmöglich, jedoch sehr unwahrscheinlich, daß ein China-Missionar in Wien eine solche Übersetzung erarbeitet hat, wenn man, abgesehen von den Gründen, aus denen er sich auch immer in Wien aufgehalten haben mag, die Situation der christlichen China-Mission bedenkt. Die jüngsten Aktivitäten in dieser Hinsicht gingen von den evangelischen Kirchen aus. Wenige Jahre nach der Gründung der ersten Missionsgesellschaft, der Baptist Missionary Society 1792 in Kettering (Northamptonshire), konstituierte sich 1795 in London die Missionary Society. Doch sowohl für Joshua 7 und 101. – Zum Stand der Sinica-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in der Gegenwart siehe: Basilia Fang: Sinica-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien 1992. 6 Vgl.: Marie-Louise Portmann / Alois Odermatt (Hgg.): Hildegard von Bingen. Wörterbuch der unbekannten Sprache (lingua ignota). Basel 1986.VII. 7 Vgl.: Briefe III, 65. 8 Vgl.: Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 25. Wien 1873. 273 f. – Die offenkundig selbe Person wird auch als Leopold Rembold mit einem späteren Geburtsjahr, nämlich 1787, angeführt. – Vgl.: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 9. Wien 1988. 74.
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Marshman (1768–1837) von der Baptist Missionary Society als auch für Robert Morrison (1782–1834), den die London Missionary Society als ihren ersten China-Missionar entsandte, ging es hauptsächlich darum, das Evangelium vorrangig durch Übersetzungen christlicher Texte in das Chinesische zu verbreiten, so daß es unter einer solchen Zielsetzung wohl kaum zu einer Übersetzung des Dàodéjīng bis 1824 gekommen ist.9 Sieht man einmal innerhalb der östlichen Kirchen vom Nestorianismus ab, der mit Aluoben (Alopen) 635 nach China kam,10 dann begann die Russische Geistliche Mission (Пекинской Духвной Миссии) der orthodoxen Kirche zwar lange vor der evangelischen Mission, aber hinsichtlich des Schrifttums zeigt sich doch eine ähnliche Situation. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungen gab es abgesehen von Hilfsliteratur, wie Wörterbüchern und ähnlichem, zwar Übersetzungen biblischer Texte, liturgische Werke sowie Leitfäden für die Schule und Bücher geistlich-moralischen Inhalts, aber keine Übersetzung des Dàodéjīng.11 Nach Johannes von Montecorvino (1247–1328) und den Franziskanern12 wurde die katholische China-Mission seit Ende des 16. Jahrhunderts besonders von den Jesuiten getragen und war lange Zeit von der Haltung des italienischen Jesuiten Matteo Ricci (1552–1610) geprägt, die Schicht der Gebildeten, die Konfuzianer, anzusprechen. Im 18. Jahrhundert kam es jedoch im Anschluß an den missionarischen Ansatz Joachim Bouvets (1656–1730), nämlich die chinesische Kultur von ihren Wurzeln her durch die Konzeptionen einer jüdischen Kabbala, eines Neuplatonismus, einer prisca theologia und einer allegorischfigurativen Exegese mit dem Christentum in Verbindung zu bringen, im Umkreis vor allem französischer Jesuiten, der sog. Figuristen oder Symbolisten, zu einer stärkeren Beschäftigung auch mit dem daoistischen Schrifttum.13 In diesem Zusammenhang werden immer wieder drei Namen genannt, die angeblich 9 Vgl.: William Milne: A Retrospect of the First Ten Years of the Protestant Mission to China. Accompanied with Miscellaneous Remarks on the Literature, History, and Mythology of China. Malacca 1820. Bes. 267–285. – Andrew F. Walls: Mission IV. – In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. XXIII. Berlin / New York 1994. 40–59. – Jost Zetzsche: Macau, Robert Morrison und die chinesische Bibel. – In: Roman Malek (Hg.): Macau. Herkunft ist Zukunft. Nettetal 2000. 499–514. 10 Vgl.: Peter C. H. Chiu: A historical study of Nestorian Christianity in the T’ang Dynasty between a. d. 635–845. Fort Worth (Tex.) 1987. – Li Tang: A Study of the History of Nestorian Christianity in China and Its Literature in Chinese. Frankfurt a. M. 2002. 11 Vgl.: Eric Widmer: The Russian Ecclesiastical Mission in Peking During the 18th Century. Cambridge / London 1976. – Hartmut Walravens: Zur Publikationstätigkeit der russischen geistlichen Mission in Peking. – In: Monumenta Serica. Sankt Augustin. 34 (1979), 525–557. 12 Vgl.: Anastasius van den Wyngaert: Sinica franciscana. Collectio documentorum ad historiam Fratrum Minorum in Sinis spectantium. Quaracchi (Firenze) 1929 ff. – Luigi Canetti: Giovanni da Montecorvino. – In: Dizionario Biografico degli Italiani. Roma. 56 (2001), 100–103. 13 Vgl. zu dieser ganzen Thematik eine jüngere Arbeit von: Claudia von Collani: Figurismus in Franken? Hermann Schell und der Daoismus. – In: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter. Würzburg. 62/63 (2001), 195–215 (mit zahlreichen Literaturangaben).
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eine Übersetzung des Dàodéjīng vorgelegt haben, nämlich François Noël (1651– 1729), Jean François Foucquet (1665–1741) und Jean-François Noëlas (1669– 1740).14 Doch abgesehen davon, daß hinsichtlich dieser Übersetzungen noch zuviele Fragen ungeklärt sind, sind sie, wenn überhaupt, nicht in Wien erarbeitet worden. Wenn man einmal die Begegnungen nichtchristlicher Religionsgemeinschaften mit China außer acht läßt, weil es sehr unwahrscheinlich ist, daß Hegel von dort her Einblick in eine Übersetzung des Dàodéjīng hatte, wenn man darüber hinaus auf eine weitere Untersuchung der wissenschaftlichen Arbeiten von China-Missionaren aus anderen Orden verzichtet, weil eine derart intensive Beschäftigung von Seiten der China-Missionare mit dem Daoismus, die dann auch möglicherweise zu Übersetzungen des Dàodéjīng führte, vor allem ein jesuitisches Anliegen war – obwohl der Figurismus im Rahmen der Akkomodationsauseinandersetzungen und des Ritenstreits sowohl im eigenen Orden als auch in Rom sehr umstritten war –,15 dann bleibt eigentlich nur noch die Möglichkeit, daß die fragliche Übersetzung des Dàodéjīng von einem Sinologen in Europa angefertigt wurde. Doch daß diese Übersetzung ausgerechnet in Wien unternommen worden sein soll, erscheint angesichts der Anfänge der österreichischen Sinologie äußerst unwahrscheinlich. Denn auch wenn man die Beschäftigung mit China über den bereits erwähnten Endlicher hinaus bis auf die österreichischen Jesuiten der China-Mission16 zurückführen würde, so gilt doch August Pfizmaier (1808–1887) als der eigentliche Nestor der österreichischen Sinologie, und es gibt keinerlei Hinweise, daß Hegel den damals 16-jährigen (!) Pfizmaier traf, der abgesehen davon offenbar nicht nur nicht bis 1824, sondern Zeit seines Lebens keine Übersetzung des Dàodéjīng vorgelegt hat.17 Damit soll die letztlich unbefriedigend bleibende Methode des Ausschließens von Möglichkeiten einer Wiener Übersetzung des Dàodéjīng abgebrochen wer14 Vgl.: John W. Witek: Controversial Ideas in China and in Europe. A Biography of Jean-François Foucquet, S. J. (1665–1741). Roma 1982. 214–221. – Joseph Dehergne: Catéchismes et catéchèse des Jésuites de Chine de 1584 à 1800. – In: Monumenta Serica. Sankt Augustin. 47 (1999), 397–478; hier 427 f. und 439. 15 Vgl.: Ray R. Noll (Ed.): 100 Roman Documents Relating to the Chinese Rites Controversy (1645–1941). San Francisco 1992. – George Minamiki: The Chinese Rites Controversy from Its Beginning to Modern Times. Chicago 1985. – David E. Mungello (Ed.): The Chinese Rites Controversy. Its History and Meaning. Nettetal 1994. 16 Pfister (Louis Pfister: Notices biographiques et bibliographiques sur les Jésuites de l'ancienne mission de Chine 1552–1773. Tome I. Chang-Hai 1932 [reprint: Liechtenstein 1971]) führt bei Grueber (Nr. 119), Herdtricht (Nr. 126), Fridelli (Nr. 274), Messari (Nr. 279), Miller (Nr. 304), Hallerstein (Nr. 351), Laimbeckhoven (Nr. 352) und Moritz (Nr. 441) keine Übersetzung des Dàodéjīng an. 17 Vgl.: Hartmut Walravens: August Pfizmaier. Sinologe, Japanologe und Sprachwissenschaftler. Eine Biobibliographie. A.a.O. – Otto Ladstätter / Sepp Linhart (Hgg.): August Pfizmaier (1808–1887) und seine Bedeutung für die Ostasienwissenschaften. Wien 1990. – Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Die Geschichte der österreichischen Chinastudien. Bochum 2001.
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den. Statt dessen wird im folgenden Kapitel versucht, eine sehr viel größere Wahrscheinlichkeit für eine Übersetzung in Paris aufzuzeigen.
2. Hegels Reise nach Paris (1827) Drei Jahre nach seinem Wien-Aufenthalt unternimmt Hegel eine Kurfahrt nach Paris, wo er vom 2. September bis 2. Oktober 1827 weilte. Auch von dieser Reise gibt es Briefe an seine Frau.18 Allerdings lassen sich seine täglichen Unternehmungen nur in gröbsten Umrissen nachzeichnen. Doch eine für unseren Zusammenhang nicht uninteressante Aussage findet sich im Brief vom 19. September 1827: „Einige Gelehrte habe ich kennengelernt und die große Manuskripten-Bibliothek besucht; sie ist die bei weitem reichste in Europa. Am Freitag werde ich in einer Sitzung des Instituts, zu der mich Abel Remusat eingeladen, (Académie des Inscriptions) beiwohnen … .“19 Geht man einmal versuchsweise von der Richtigkeit der Emendation Paris aus, dann könnte es sich bei der fraglichen Übersetzung statt um ein Werk der sog. Jesuitensinologie20 eher um die Arbeit eines französischen Sinologen oder zumindest eines Sinologen in Paris handeln. In Paris gab es nämlich zwei Institute, an denen man neben anderen asiatischen Sprachen auch Chinesisch studieren konnte: seit 1814 an dem 1529 gegründeten Collège Royal de France und – allerdings erst seit 1843 – an der 1795 gegründeten École nationale des langues orientales vivantes. Daneben existierte auch eine Gesellschaft von Orientalisten, die mit der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres eng verbundene und 1822 gegründete Société Asiatique.21 In diesem Umkreis nun war Jean-Pierre Abel-Rémusat (1788–1832) einer der führenden Sinologen: Er wurde 1814 auf den neu errichteten Chaire de langues et littératures chinoises et tartares-mandchoues am Collège Royal de France berufen, er war seit 1816 Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres sowie zunächst Sekretär und ab 1829 Präsident der Société Asiatique.22 Somit Vgl.: Briefe III, 178–206. Vgl.: Briefe III, 189. 20 „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen. Wir haben auch Auszüge daraus von Jesuiten.“ Mit diesen Exzerpten ist wohl das monumentale, in Paris zwischen 1776 und 1814 veröffentlichte, sechzehnbändige Werk Mémoires concernant les Chinois der Jesuiten meint. 21 Vgl.: Anonymus: Briefe über den Fortgang der Asiatischen Studien in Paris. Ulm 21830. (Der Verfasser ist wohl Konrad Dieterich Haßler [1803–1873]. – Vgl.: Hartmut Walravens: Julius Klaproth (1783–1835). Leben und Werk. Wiesbaden 1999. 126 und 140.) – Herbert Franke: Sinologie im 19. Jahrhundert. – In: Otto Ladstätter/Sepp Linhart (Hgg.): August Pfizmaier (1808–1887) und seine Bedeutung für die Ostasienwissenschaften. A.a.O. 23–39. 22 Vgl.: Knud Lundbæk: Notes on Abel Rémusat and the Beginning of Academic Sinology in Europe. – In: Echanges culturels et religieux entre la Chine et l’ Occident. Dir. de Edward J. Malatesta, Yves Raguin 18 19
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liegt die Vermutung nahe, daß Abel-Rémusat das Dàodéjīng in Paris übersetzte und Hegel es bei ihm gesehen haben könnte. Doch die Veröffentlichungen Abel-Rémusats beinhalten offensichtlich keine solche Übersetzung. Angefangen von seinem ersten Werk zum Daoismus Le livre des récompenses et des peines (Paris 1816), einer Übersetzung des äußerst populären, aber nicht-kanonischen daoistischen Werkes Tàishàng gǎnyīng piān (太上感應篇) aus dem 11. Jahrhundert, bis zu seinem posthum erschienenen De la philosophie chinoise (Paris 1843) ist für unseren Zusammenhang nur Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-Tseu23 von gewissem Interesse. Es ist durchaus denkbar, daß Hegel diese letztgenannte Publikation schon vor seiner Paris-Reise kannte. Denn Friedrich August Gottreu Tholuck (1799– 1877), der bedeutende Theologe der deutschen Erweckungsbewegung, hatte im Vorwort seines Werkes Die speculative Trinitätslehre des späteren Orients (1826) Abel-Rémusats Veröffentlichung zitiert und dabei moniert, daß der Ursprung und der Umfang der Lehren des Lǎozǐ (老子) recht unklar seien.24 Hegel bedankt sich in einem Brief vom 3. Juli 1826 an Tholuck für die Zusendung der Trinitätslehre und macht dazu auch einige kritische Bemerkungen, neben anderen auch diese: „Abel Remusats Abhandlung war Ihnen freilich am nächsten zur Hand gekommen. Aber es sind darüber viel wichtigere, bestimmtere, ältere Angaben vorhanden“.25 Ganz sicher aber liegt Abel-Rémusats Arbeit Hegels Darstellung des Dàodéjīng in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zugrunde: „Abel-Rémusat, der erste Kenner des Orients, behandelt denn auch die Dogmen, Sätze, die sich bei den Chinesen finden, in dem Sinne, daß er allenthalben geneigt ist, diese als das Erste zu nehmen, so daß alles Spätere von da aus gestammt sei, daß Griechen und Römer dies daher geschöpft haben usf. Er hat
et Adrianus C. Dudink. Paris 1995. 207–221. – Hartmut Walravens: Zur Geschichte der Ostasienwissenschaften in Europa. Abel Rémusat (1788–1832) und das Umfeld Julius Klaproths (1783–1835). Wiesbaden 1999. 13–84. 23 Abel-Rémusat hielt auf einer Sitzung der Académie des Inscriptions et Belles Lettres 1820 den Vortrag Extrait d’un mémoire sur Lao-Tseu (vgl.: Journal asiatique. Paris. 3 [1823], 3–15), der leicht verändert auch publiziert wurde als Sur la vie et les opinions de Lao-Tseu. – Vgl.: Mélanges Asiatiques, ou choix de morceaux critiques et de mémoires. Tome premier. Paris 1825. 88–99. – Die längere Ausarbeitung Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-Tseu wurde in einer Sonderschrift (Paris 1823) und ein Jahr später erneut (vgl.: Mémoires de Académie des Inscriptions et Belles Lettres. Tome VII. Paris 1824. 1–54) veröffentlicht. Das genaue Datum des Vortrags wird unterschiedlich angegeben: im Journal asiatique (1823) mit 28. Juli 1820 und in den Mémoires (1824) mit 15. Juni 1820. 24 Vgl.: August Tholuck: Die speculative Trinitätslehre des späteren Orients. Eine religionsphilosophische Monographie aus handschriftlichen Quellen der Leydener, Oxforder und Berliner Bibliothek. Berlin 1826. VII. – Gunther Wenz: Tholuck. – In: Theologische Realenzyklopädie. Berlin/ New York. XXXIII (2002), 425–429. 25 Vgl.: Friedhelm Nicolin (Hg.): Briefe von und an Hegel. Band IV, Teil 2: Nachträge zum Briefwechsel, Register mit biographischem Kommentar, Zeittafel. Hamburg 31981. 61.
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uns besonders mit einem chinesischen philosophischen Buch, von Laotse, bekannt gemacht.“26 Doch die Tatsache, daß in dieser Publikation Abel-Rémusats nur die Kapitel 1, 14, 25, 41 und 42, also nur 5 von insgesamt 81 Kapiteln,27 übersetzt sind, spricht eigentlich dagegen, daß es sich bei dieser Schrift um die fragliche Übersetzung des Dàodéjīng handelt. Ansonsten wäre Hegels Aussage doch recht übertrieben gewesen, da er ja von einer fast vollständigen Übersetzung spricht: „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien [Paris] ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen. Wir haben auch Auszüge daraus von Jesuiten. Die Schrift ist fast ganz übersetzt.“ Nun ist es natürlich denkbar, daß Abel-Rémusat die, wie er selbst sagt, sehr großen Schwierigkeiten einer vollständigen Übersetzung des Dàodéjīng 28 im Laufe der Jahre überwunden und privat bereits eine fast vollständige Übersetzung schriftlich fixiert hatte, die Hegel bei dem Zusammentreffen mit ihm gesehen haben mag, die aber bisher nicht publiziert wurde. Aber die Aussage von Heinrich Kurz (1805–1873), einem Schüler von Abel-Rémusat und Mitglied der Société Asiatique, noch aus dem Jahre 1830 läßt dies als eher unwahrscheinlich erschienen: „Das Buch [Dàodéjīng, W. E.] selbst ist, wie Remusat mit vollem Rechte sagt, äußerst schwierig; dennoch wäre es sehr zu wünschen, daß dieser Gelehrte eine vollständige Uebersetzung unternähme, da er allein diesem Geschäfte gewachsen ist; denn er ist der Einzige in Europa, der mit gründlicher Kenntniß der chinesischen Sprache tiefen philosophischen Geist verbindet.“29 Wenn die fragliche Übersetzung also nicht von Abel-Rémusat herrühren sollte, welche hat Hegel dann gesehen – vielleicht die des katholischen Missionars Pottier: „Der erste Versuch einer Übersetzung des ‚Dau-dö-djing‘ ins Lateinische wurde von dem katholischen Missionar Pottier zu Ende des 18. Jhs. gemacht. Seine mißlungene Übersetzung hatte keinerlei Wert und wurde bald vergessen. Völlig unbefriedigend war auch die Übersetzung des französischen Sinologen A. Rémusat, die dieser in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts anfertigte. Dieser gelehrte Mystiker stellte das Dau als ‚höchstes Wesen, Vgl.: Philosophiegeschichte H, 264. Dieser Kapiteleinteilung und -anzahl liegt der textus receptus, die sog. Fassung von Wáng Bì (王弼), zu Grunde und nicht die beiden erst 1973 gefundenen Seidentexte (甲本, 乙本) aus Māwángduī (馬王堆) oder die drei 1993 gefundenen Bambustexte (甲組, 乙組, 丙組) aus Guōdiàn (郭店). 28 „Ce seroit une difficulté très grande s’il s’agissoit de traduire le livre entier et de l’éclaircir sous le rapport de la doctrine qu’il renferme.“ – Vgl.: Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-Tseu. A.a.O. 21. 29 Vgl.: Heinrich Kurz: Ueber des chinesischen Philosophen Laodsö Leben und Schriften. – In: Das Ausland. Ein Tagblatt fuer die Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Voelker. Stuttgart/ Muenchen/Augsburg/Tuebingen. 3 (1830), 567–569; hier 567. – Herbert Franke: Heinrich Kurz (1805–1873), der erste Sinologe an der Universität München. – In: Herbert Franke (Hg.): Studia sinoaltaica. Festschrift für Erich Haenisch zum 80. Geburtstag. Wiesbaden 1961. 58–71. 26 27
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Vernunft und Wort‘ im biblischen Sinne dar. Bekanntlich verwendete Hegel die Darstellung Rémusats. Aber Hegel war mit dem Übersetzer äußerst unzufrieden, weil dieser Laudse mit Plato verglich.“30 Doch dieser recht pauschalen Aussage muß man mit größter Vorsicht begegnen. Denn erstens wird hier ganz offensichtlich auf den bereits erwähnten Artikel von Abel-Rémusat angespielt, in dem nur fünf Kapitel übersetzt sind und der somit keine Übersetzung des ganzen Dàodéjīng darstellt; und zweitens wird als erste Übersetzung des Dàodéjīng von Seiten der China-Missionare nicht etwa Noël, Foucquet oder Noëlas, sondern offensichtlich der Apostolische Vikar von Sìchuān (四川) François Pottier (1726–1792) genannt, der 1753 nach China ging und von dem es keinerlei Hinweise auf eine Übersetzungstätigkeit gibt.31 Es drängt sich somit der Verdacht auf, daß eine angeblich von dem katholischen Missionar Pottier erarbeitete Übersetzung des Dàodéjīng wohl eher durch die Arbeiten eines Mannes mit ähnlich klingendem Namen, nämlich Pauthier, erschlossen wurde und mit dem immer wieder kursierenden Datum 1788 als der angeblich ersten Übersetzung des Dàodéjīng in eine westliche Sprache in Verbindung gebracht wird.32 Dabei handelt es sich bei dieser lateinischen Übersetzung des Dàodéjīng, die Jean Joseph de Grammont (1736–1808/1812) aus Peking Matthew Raper gegeben hatte, der sie wiederum 1788 der Royal Society schenkte, doch offensichtlich um das Essay Textus undecim ex libro Tao Te Kim excerpti quibus probatur SSmae. Trinitatis et Dei incarnati mysteria Sinicae genti olim nota fuisse (India Office Library, London, Mss. chin. H 20), das der Missionswissenschaftler Beckmann einem namentlich unbekannten Figuristen zuschreibt.33 Der französische Sinologe Jean Pierre Guillaume Pauthier (1801–1873) nun hat sowohl eine Studie zum Dao als auch eine lateinische sowie französische 30 Vgl.: Ching-Schun Jang: Der chinesische Philosoph Laudse und seine Lehre. Übersetzt aus dem Russischen von Gerhard Kahlenbach. Berlin 1955. 89. 31 Vgl.: Robert Streit/Johannes Dindinger: Bibliotheca Missionum. Bd. 7: Chinesische Missionsliteratur 1700–1799. Rom/Freiburg/Wien 21965. 372. Nr. 3538. 32 Diese Verwechslung zwischen dem katholischen Missionar Pottier mit dem französischen Sinologen Pauthier führte in einer Magisterarbeit von 1998, die im Internet veröffentlicht war und dem Verfasser als pdf-Datei vorliegt, zu der Aussage: „210 Jahre ist es her, daß der französische Missionar Pauthier 1788 das Werk des altchinesischen Weisen erstmalig in eine westliche Sprache – die lateinische – übersetzte und damit dessen Verbreitung über die okzidentale Hemisphäre einleitete.“ 33 „The great Romish missions which continue to the present day began towards the end of the sixteenth century; and there exists now in the India Office a translation of the T o Teh King in Latin, which was brought to England by a Mr. Matthew Raper. […] The chief object of the translator or translators was to show that ‚the Mysteries of the Most Holy Trinity and of the Incarnate God were anciently known to the Chinese nation.‘ The version as a whole is of little value […].“ Vgl.: The Texts of Taoism. Part I. Translated by James Legge. Oxford 1891. 12 f. – John W. Witek: Controversial Ideas in China and in Europe. A Biography of Jean-François Foucquet, S. J. (1665– 1741). A.a.O. 219. – Johannes Beckmann: Die katholischen Missionare und der Taoismus vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. – In: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft. Luzern. 26 (1970), 1–17; hier 8.
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Übersetzung der ersten 9 Kapitel des Dàodéjīng vorgelegt. Da jedoch seine Studie erst im Todesjahr Hegels (1831) und seine Übersetzung erst 1838 erschien,34 muß wie im Falle von Abel-Rémusat auch bei Pauthier offen bleiben, ob dieser privat bereits eine fast vollständige Übersetzung skizziert hatte, die bisher nicht veröffentlicht wurde, geschweige denn ob Hegel überhaupt mit letzterem in Paris zusammengetroffen ist. Daß es sich bei der von Hegel gesehenen Übersetzung des Dàodéjīng also kaum um eine publizierte Übersetzung fast aller 81 Kapitel, sondern eher um eine unveröffentlichte, fast vollständige Ausarbeitung einer Gesamtübersetzung handelte, erscheint höchst wahrscheinlich. Denn noch bis heute gilt das Werk Lao Tseu Tao Te King. Le livre de la voie et de la vertu Stanislas Aignan Juliens (1798–1873), des Lehrstuhlnachfolgers von Abel-Rémusat am Collège Royal de France, als die erste publizierte vollständige Übersetzung des Dàodéjīng in eine westliche Sprache – allerdings erst 1842 veröffentlicht. Ob nun Hegel eventuell Juliens Übersetzungsentwurf sah, kann hier nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden, obwohl dies keineswegs unmöglich gewesen wäre. Denn erstens hatte Julien diese Arbeit, die zwar erst 1842 nach einigen Überarbeitungen erschien, bereits 1826 begonnen, also ein Jahr vor Hegels Paris-Aufenthalt. Zweitens war es der französische Philosoph Victor Cousin (1792–1867), der einerseits Julien zu einer Übersetzung des Dàodéjīng riet35 und der andererseits Hegel nicht nur seit seiner Deutschlandreise (1817) persönlich kannte, sondern Cousin war auch die erste Anlaufstation Hegels nach seiner Ankunft in Paris,36 Cousin begleitete Hegel auf seiner Rückreise von Paris sogar bis nach Köln,37 ja Cousin war der mehr oder weniger stete Begleiter Hegels in Paris, so daß eine Begegnung zwischen Hegel und Julien durch die Vermittlung Cousins durchaus möglich gewesen wäre. Auch wenn hier nicht weiter untersucht werden soll, ob beispielsweise in Tagebuchaufzeichnungen oder Briefen, sei es von Cousin oder von Julien, explizit von einem tatsächlichen Treffen zwischen Hegel und Julien in Paris gesprochen wird, und obwohl somit nach all den bisherigen Ausführungen letztlich nicht nachgewiesen werden konnte, welche Übersetzung des Dàodéjīng Hegel in Paris gesehen haben mag, so ist doch hoffentlich dies deutlich geworden, daß die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer war, eine solche 1827 in Paris als in Wien 1824 zu sehen. Doch wie kam es nun zu der Aussage „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie 34 Mémoire sur l’origine et la propagation de la doctrine du Tao, fondée par Lao-Tseu. Paris 1831; Le Tao-te-king, ou le livre révéré de la raison suprême et de la vertu par Lao-tseu. Paris 1838. 35 Vgl.: Stanislas Aignan Julien: Lao Tseu Tao Te King. Le livre de la voie et de la vertu. Paris 1842. XVI f. 36 Vgl.: Briefe III, 184. 37 Vgl.: Briefe III, 203.
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selbst da gesehen. Wir haben auch Auszüge daraus von Jesuiten. Die Schrift ist fast ganz übersetzt.“ in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie?
3. Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Hegel las die Geschichte der Philosophie in Jena (WS 1805/06), in Heidelberg (WS 1816/17, WS 1817/18) und in Berlin (SoSe 1819, WS 1820/21, WS 1823/24, WS 1825/26, WS 1827/28, WS 1829/30).38 Im Laufe dieser 25 Jahre Vorlesung verschob sich der Ort, an dem er auch auf die sog. Orientalische Philosophie zu sprechen kam: „Erst im Kolleg 1825/26 findet die Behandlung der Orientalischen Philosophie denjenigen Ort, den sie auch in den Folgejahren behält: zwischen der eigentlichen Einleitung (einschließlich der Bemerkungen zur Literatur) und dem ersten Teil der Geschichte der Philosophie. Sie bildet somit nicht mehr einen bloßen Exkurs innerhalb der Einleitung, sondern wird in einem prägnanten Sinne zur Vorgeschichte der Geschichte der Philosophie.“39 Die Vorlesung von 1825/26 ist letztlich auch die Nagelprobe für die oben vorgeschlagene Konjektur. Fiel nämlich die Aussage über eine Wiener Übersetzung des Dàodéjīng in dieser Vorlesung, der einzigen nach Hegels Aufenthalt in Wien (1824) und vor Paris (1827), dann kann diese Bemerkung nicht einfach mit Paris korrigiert werden, sondern die Suche nach einer tatsächlich in Wien erarbeiteten und von Hegel dort gesehenen Übersetzung des Dàodéjīng muß tiefer graben. Wurde diese Aussage allerdings in den Vorlesungen vom WS 1827/28 oder vom WS 1829/30 (im WS 1831/32 hat Hegel bis zu seinem Tod am 14. November 1831 nur zwei Stunden gelesen) gemacht, dann ist die Emendation immerhin möglich, auch wenn der Grund für diese Ungereimtheit damit noch offen bleibt. Da Hegel seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bekanntlich nicht selbst publizierte, ist man einerseits auf den handschriftlichen Nachlaß
38 Den weiteren Ausführungen liegen zu Grunde: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Herausgegeben von D. Karl Ludwig Michelet. Erster Band. Berlin 1833. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten: D. Ph. Marheineke, D. J. Schulze, D. Ed. Gans, D. Lp. V. Henning, D. H. Hotho, D. K. Michelet, D. F. Förster. Dreizehnter Band. Berlin, 1833. (Im folgenden zitiert als: Philosophiegeschichte M mit Angabe der Seitenzahl.) – Philosophiegeschichte H. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 6. Hamburg 1994. (Im folgenden zitiert als: Philosophiegeschichte GJ mit Angabe der Seitenzahl.) 39 Vgl.: Philosophiegeschichte GJ, XVIII.
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Hegels und andererseits auf die zahlreichen Vorlesungsnachschriften angewiesen. Karl Ludwig Michelet (1801–1893) hatte bei der ersten Herausgabe der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie noch zahlreiche Manuskripte Hegels zur Verfügung, nämlich das Jenaische Heft und den Heidelberger Abriß. Und alle Zusätze, die Hegel später in seinen Berliner Vorlesungen macht, „sind Theils am Rande des jenaischen Heftes oder des Abrisses entweder ausgeführt oder angedeutet, Theils auf einer Menge von einzelnen eingelegten Blättern verzeichnet, welche, selten stilisirt, meist nur skizzenhaft den auf das Papier hingeworfenen Gedanken enthalten. Diese Blätter sind von unschätzbarem Werthe, weil sie die höchst reichen Zusätze aller Vorlesungen späterer Jahre durch seine eigene Handschrift dokumentiren […].“ 40 Speziell für die Orientalische Philosophie diente Michelet „zur näheren Bewährung [der aus nachgeschriebenen Heften entnommenen Darstellung, W. E.] eine reiche Sammlung von Kollektaneen, Excerpten aus englischen und französischen Werken über den Orient überhaupt, von denen er [Hegel, W. E.] die betreffenden, mit kurzen Randnotizen versehen, auf das Katheder genommen, um frei aus ihnen vorzutragen, Theils unmittelbar mündlich sie übersetzend, Theils einstreuend seine Bemerkungen und Urtheile.“41 Doch außer einigen Fragmenten42 ist von all diesem reichen handschriftlichen Nachlaß nichts mehr erhalten. Aber zur Klärung der Frage, ob die Aussage über eine Wiener Übersetzung des Dàodéjīng bereits im WS 1825/26 oder erst ab dem WS 1827/28 gefallen war, reichen die noch vorhandenen Vorlesungsnachschriften durchaus, auf die sich die Herausgabe des Textes der Orientalischen Philosophie aus dem WS 1825/26 stützt.43 Hegel will in einem Vorspann davon Rechenschaft geben, warum er sich nicht ausführlicher mit der orientalischen Philosophie beschäftigt: „Wir sollen, indem wir von der orientalischen Philosophie sprechen, eben von der Philosophie sprechen, aber in dieser Rücksicht ist gleich zu bemerken, daß das, was man ‚orientalische Philosophie‘ nennt, vielmehr die religiöse Vorstellungsweise der Orientalen überhaupt ist – eine religiöse Vorstellung, Weltanschauung, die sehr nahe liegt, für Philosophie zu nehmen […] Die orientalische Philosophie ist also religiöse Philosophie, religiöse Vorstellung, und es ist der Grund anzugeben, warum es näher liegt, die orientalische Religionsvorstellung auch als Vgl.: Philosophiegeschichte M, VI. Vgl.: Philosophiegeschichte M, VIII. 42 Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831). Herausgegeben von Walter Jaeschke. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 18. Hamburg 1995. 36–111. – Philosophiegeschichte GJ, XVIII–XXVI. 43 Vgl.: Philosophiegeschichte GJ, 365–400. 40 41
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Philosophie zu betrachten.“44 Als Hauptgrund nennt er dann das Fehlen des Prinzips der Freiheit und der Individualität des Göttlichen selbst, wobei er zur Exemplifizierung seiner Behauptung eigentlich nur auf indische und persische Traditionen zurückgreift, sowie als zweite Ursache auf das Verhältnis des Individuums zum Göttlichen: „Im Orient ist das Hauptverhältnis dies, daß die Eine Substanz als solche nur das Wahrhafte sei und das Individuum keinen Wert in sich hat und nicht gewinnen kann, insofern es sich erhält gegen das Anundfürsichseiende; es kann vielmehr nur wahrhaften Wert haben durch die Ineinssetzung mit dieser Substanz, worin es dann aufhört, Bewußtsein zu sein, für sich Subjekt zu sein – wo es ins Bewußtlose verschwindet. Dies ist das Grundverhältnis in den orientalischen Religionen.“45 In den sich an diesen Vorspann anschließenden beiden Kapiteln behandelt dann Hegel als erstes die Chinesen und geht dort kurz auf Kǒngzǐ (孔子), etwas ausführlicher auf das Yìjīng (易經) und die Orakeldiagramme (卦) sowie flüchtig auf die Fünf-Elementen-Lehre (五行学) des Shūjīng (書經) ein. Doch es fehlt in dieser Vorlesung aus dem WS 1825/26 jeglicher Hinweis auf den Daoismus, und nirgendwo steht etwas von einer Wiener Übersetzung des Dàodéjīng. Anders sieht es allerdings in den späteren Vorlesungen aus. Der Vorspann der Orientalischen Philosophie hat sich beispielsweise im WS 1829/30 stark geändert. Hegel will dort offensichtlich darauf aufmerksam machen, daß der einerseits zuzugestehende Zusammenhang zwischen orientalischer und griechischer Philosophie von einer solchen Art ist, daß man eigentlich nicht von einem geschichtlichen Zusammenhang sprechen kann, obwohl dies offenbar im Interesse eines besonderen Kreises von Gelehrten liege, wobei er dann auch auf AbelRémusats Artikel über Lǎozǐ zu sprechen kommt:46 „Der Zusammenhang von orientalischer Philosophie und griechischer Philosophie ist vom Altertum her sehr berühmt und als historisch auch zugestanden; […] und die Behauptung eines solchen Zusammenhangs wird dadurch noch wahrscheinlicher gemacht, daß – wie schon in der Einleitung bemerkt worden ist – die ersten Philosophien ganz abstrakt sind und beim Abstraktesten stehen bleiben. Da ist es kein Wunder, daß die ganz allgemeine Grundlage, die wir besonders in neuester Zeit kennen gelernt haben, auch in anderen Philosophien sich auffinden läßt. Aber eine solche Gemeinschaftlichkeit des ganz Abstrakten begründet noch keinen geschichtlichen Zusammenhang. […] In Ansehung des ganz Abstrakten kann man wohl überall Gleiches finden. Aber ebendarum ist solche Vergleichung das Oberflächliche; es wird dabei das Eigentümliche übersehen, z. B. das Eigentüm-
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Vgl.: Philosophiegeschichte GJ, 365. Vgl.: Philosophiegeschichte GJ, 367 f. Vgl.: Philosophiegeschichte GJ, XX.
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liche des Griechischen gegen die Orientalen, welches ihm erst seinen Wert gibt.“47 In dem dann folgenden Kapitel über die chinesische Philosophie wird die Thematik weiter ausgebaut. Hegel benennt deutlicher als im WS 1825/26 vier der Fünf Kanonischen Bücher (五經) der Chinesen, nämlich das Yìjīng, das Shūjīng, das Shījīng (詩經) und das Lǐjì (禮記).48 Und abgesehen von den Themen, die er bereits im WS 1825/26 behandelte, nämlich Kǒngzǐ, das Yìjīng und die FünfElementen-Lehre, geht er sowohl im WS 1827/28 als auch imWS 1829/3049 sehr ausführlich auf den Daoismus ein,50 wobei eben auch die Rede von der Wiener Übersetzung des Dàodéjīng ist. Da Hegel frühestens ab dem WS 1827/28, also erst nach seiner Rückkehr aus Paris, seine Ausführungen zum Daoismus in seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie einbaute, ist die vorgeschlagene Emendation Paris statt Wien nicht nur möglich, sondern vielleicht sogar geboten. Doch es bleibt immer noch die Frage, wie es denn zu einer solchen Ungereimtheit kommen konnte. Lag das Mißverständnis etwa auf der Seite eines Studenten, oder hatte sich Hegel hier vertan? Die Aussage „Die Hauptschrift des Lao-tse besitzen wir noch und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen.“ stellt eigentlich keinen schwierigen philosophischen Sachverhalt dar, den eine studentische Vorlesungsnachschrift in Folge eines ungenügenden Verständnisses ungenau oder falsch wiedergibt. Es kann vielmehr davon ausgegangen werden, daß der Zuhörer getreu das niederschreibt, was er hört. Wäre es also wirklich undenkbar, daß einem Hegel, dem „königlichen Professor publ. ordin. an der königlichen Universität zu Berlin (und zwar Professor vom Fach, nämlich der Philosophie, als des Fachs der Fächer)“,51 damals etwas passiert ist, wovor auch ein heutiger Philosophieprofessor angesichts der Anstrengung des philosophischen Begriffs in Vorlesungen nicht gefeit ist, nämlich ein lapsus linguae?
Vgl.: Philosophiegeschichte H, 263 f. Das fünfte von Hegel angeführte Werk, das Yuèjì (樂記), ist wohl in Wirklichkeit ein Teil des Lǐjì; das eigentlich fünfte kanonische Buch ist das Chūnqiū (春秋). 49 Zusätzlich erwähnt er im WS 1829/30 ganz kurz Mèngzǐ (孟子). 50 Vgl.: Philosophiegeschichte H, 279–285. 51 Vgl.: Briefe III, 72. 47 48
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22. Herausgegeben von Hansgeorg Hoppe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 237 S. Das nun publizierte Manuskript, dessen Verfasser nicht ermittelt werden konnte, wurde 1984 in Kiel entdeckt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich nicht um eine Vorlesungsnachschrift, sondern um eine Mitschrift, die sich sehr eng an den gesprochenen Text hält (26). Auch kann der Herausgeber glaubhaft machen, daß die Vorlesung im Wintersemester 1821/22 gehalten wurde, also ein Jahr nach dem Erscheinen der Grundlinien. Die zeitliche Nähe zum publizierten Text ließ darauf hoffen, nun hinsichtlich bestimmter anstößiger Passagen klärende Auskünfte zu erhalten. Zum Teil wird diese Hoffnung erfüllt. In der klassischen Kontroverse bezüglich Hegels normativer Einstellung zur preußischen Reaktion wurde die radikale Sicht Rudolf Hayms, nach der Hegel als Apologet der 1819 einsetzenden Repressionen anzusehen sei, immer wieder überprüft und teils bestätigt, teils bestritten. Am Beispiel der Stellung des Monarchen im System der ,organischen Gewaltenteilung‘ ließ sich zeigen, daß – im Kontrast zur gedruckten Version – die Vorlesungen dazu tendieren, lediglich formelle Befugnisse anzuerkennen. Den Grundlinien zufolge soll der Fürst an der Ausübung der (gesetzgebenden) Souveränität zumindest effektiven, wenn nicht dominierenden Anteil haben. Auch werden ihm, jedenfalls implizit, übergesetzliche Notstandsbefugnisse zugedacht, die mit einer vorübergehenden Aufhebung der funktionalen Gewaltenteilung einhergehen können, was gravierende Eingriffe in die bürgerliche Freiheit zur Folge hätte. Zur Klärung der Frage, welche von beiden Versionen als originär zu werten sei oder ob dies von beiden gesagt werden müsse, kann der vorliegende Text nur indirekt etwas beitragen, denn er bricht mit dem allerersten Paragraphen des „inneren Staatsrechts“ ab. Jedoch gibt schon das „Vorwort“ (36 ff.) deutliche Hinweise darauf, daß Hegel alles andere im Sinn hatte, als die vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Institutionen für vollkommene Manifestationen ihrer Vernunftbegriffe zu erklären. Diese Tendenz läßt sich besonders an der Art, wie die Kieler Vorlesung den Satz der Grundlinien variiert, den zahlreiche Interpreten für schlechthin skandalös hielten und zum Anlaß nahmen, Hegel entweder zum Apologeten zu erklären oder eine doppelte, wenn nicht gar dreifache Rechtsphilosophie zu postulieren, dessen exoterisch-esoterische Sprache geeignet war, gleichzeitig verschiedene Adressatengruppen anzusprechen. Was das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit politischer Institutionen und ihrer Vernünftigkeit angeht, so nimmt die Vorlesung von 1821/22 eine mittlere Position ein: Die veröffentlichten Grundlinien schienen eine vorbehaltlose Identifizierung beider
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Relata vorzunehmen. Immerhin heißt es: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ („Vorrede“) Die Vorlesung von 1817/18 dagegen akzentuiert die Spannungen zwischen philosophischem Begriff und existierendem Staat, wodurch die bewußte Formel einen normativen, die Praxis auf einen zukünftigen Vollendungszustand hin orientierenden Sinn erhält: „Was vernünftig ist, muß geschehen.“ (Wannenmann, 192.) Zwar wiederholt die Vorlesung von 1821/22 fast wörtlich die Formel aus den Grundlinien: „Das Vernünftige ist wirklich, und das ist Wirkliche vernünftig.“ (37) Doch Hegel vermeidet es einerseits, den (preußischen) Staat in seinem faktischen Zustand als verwirklichte Vernunft zu werten. Zwar habe es die Rechtsphilosophie „mit dem vorhandenen Staate, auch mit seiner Wirklichkeit zu tun“; doch wenn die Wirklichkeit der politischen Institutionen vernünftig genannt wird, dann sei deren „wahrhafte[ ] Wirklichkeit“ gemeint, die von allem „Unausgebildete[n]“ und „Überreife[n]“ abstrahiere. Die philosophische Betrachtung habe „durch die äußeren Erscheinungen hindurch die Idee […] eines bestehenden Staats“ zu erkennen und mithin von allen ideewidrigen Zufälligkeiten abzusehen (ebd.). Hegels Umsetzung des Parmenideischen Prinzips der Identität von Denken und Sein hat demnach selektive, konstruktive und auch ,idealisierende‘ Züge, insofern von unvollkommenen und veralteten politischen Instituten und Institutionen abgesehen werden soll. Dem Anspruch nach sollen diese Abstraktionsleistungen freilich allein zur Wesenserkenntnis des vorhandenen Staates dienen. Andererseits aber soll durch das „Erkennen des Substanziellen“ (ebd.) eine Versöhnung mit dem „Vorhandenen“ (ebd. ff) möglich werden. Der trennende „Verstand“ trete dem gesellschaftlich-politischen Status Quo mit „Gehässigkeit“ gegenüber und bringe es im günstigeren Fall zum „Tadel wegen seines Eigendünkels“ (38), im ungünstigsten Fall würden begriffliche Abstraktionen nicht nur als normative Maßstäbe der Wirklichkeit entgegengestellt, sondern diese nach Maßgabe jener umgestaltet, was, wie Hegel später sagen wird, dazu führen müsse, daß Wirklichkeit zerstört werde. Deutlich genug klingt hier die sittlichkeitstheoretische Kritik an der französischen Aufklärung an. So heißt es, Rousseau habe den „reinen Gedanken als Prinzip der Staaten aufgestellt“. Dieser übersteigerte Rationalitätsbegriff hätte eine voluntaristische Theorie der Rechtssetzung nach sich gezogen, die in der Praxis Verfassungskrisen und schlimmsten Despotismus zur Folge gehabt hätte: „so traten jene Greuel auf“ (234). Nach Hegels Überzeugung ist der krisenhafte Verlauf der französischen Staatsrechtsgeschichte aus der revolutionären ,Verwirklichung‘ abstrakter Rechts- und Verfassungsprinzipien zu erklären (ebd.; vgl. auch: Grundlinien, § 274; Wannenmann, § 134; Griesheim, § 272), während die entsprechende Entwicklung in Deutschland, auch ohne geschriebene Verfassung, als kontinuierliche Reform der politisch-institutionellen Realität nach vernunftrechtlich begründeten Prinzipien vonstatten gehe. Dies entspreche im Übrigen den verschiedenen Temperamenten, die beiden Volksgeistern eigen seien: Im Kontrast zum revolutionären Enthusiasmus speziell der Franzosen und der entsprechenden Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes plädiert Hegel zugunsten eines „geduldigen Abwartenkönnen[s]“, das in der Gewißheit geschehen könne, daß die politische Realität ihrem rechtsphilosophischen Begriff nicht auf Dauer widersprechen kann: „Eine Verfassung überhaupt, wenigstens im Occident wo subjektive
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Freiheit ist, bleibt nicht stehen, verändert sich immer […]. Das Bewußtsein läuft zwar der Wirklichkeit voraus, aber diese kann nicht bestehen, ist nur leere Existenz wenn sie als Äusseres nicht mit dem Geiste identisch ist.“ (Griesheim, § 272) Die Rechtsphilosophie soll demnach eine auf doppelte Weise heilsame Aufgabe übernehmen: Dem „Schmähsüchtigen“ (38) habe sie den Staat als daseienden (Rechts-) Begriff, als „inneren Geist“ der politischen Institutionen zu erschließen, und dem Resignierenden müsse gezeigt werden, daß jener objektive Geist „sich fortbildet“. Denn der Staat gehöre zum „Reiche des Erscheinens […], zum Boden der Besonderheit, wo man es so und besser und besser machen kann.“ (37) ,Mit Händen‘ ist hier Kants strategische Vision einer „Reform nach Prinzipien“ (Langer) zu greifen, die die republikanische Regierungsart eines Monarchen als immerhin erlaubte Stellvertretung der republikanischen Staatsform gewertet hatte, wobei allerdings strittig wäre, ob die aufgeklärt-rechtsstaatliche Monarchie ein ,negatives Surrogat‘ oder ein vollwertiges funktionales Äquivalent des von der Vernunft Geforderten wäre. Auch der ,apologetische‘ Hegel, der wie Kant Friedrich II. als „philosophische[n] König“ würdigt, hofft demnach, daß sich die Errungenschaften der Französischen Revolution auf reformerischem Wege dereinst auch in Preußen realisieren lassen: „Die große Revolution ist geschehen, das weitere ist der Zeit überlassen, Gott hat Zeit genug, was geschehen soll, wird geschehen“ (235). Vor diesem Hintergrund ist dem Herausgeber zwar darin zuzustimmen, daß Hegels Insistieren auf der Vernünftigkeit des Wirklichen nicht „Ausdruck eines demokratischen, republikanischen Denkens“ sei. In diesem Sinne ist die Rede von der „politischen Rückwärtsgewandtheit der Hegelschen Rechtsphilosophie“ sicher berechtigt. Doch daß es Hegel unmöglich gewesen wäre, „den Gedanken der Gleichheit und Freiheit aller Menschen im Sinne der Forderungen der Aufklärung sich zu eigen [zu] mach[en]“ (13), ist kaum überzeugend. Eher schon könnte man den zuletzt zitierten Satz dahingehend verstehen, daß Hegel seit den Karlsbader Beschlüssen weniger von der preußischen Regierungspolitik als von der Geschichte und mithin von langfristigen Realisierungsprozessen des Vernünftigen erwartet. Das Terrain, auf dem sich der Fortschritt im Dasein der Freiheit ereignen soll, verschöbe sich so vom Staatsrecht zur Weltgeschichte, womit das Schlußkapitel der Grundlinien zum Verbindungsglied würde. Insofern die Dialektik von Volksgeist und Weltgeist aber die historischen Wechselbeziehungen zwischen objektivem und absolutem Geist (in erster Linie der Religion) entfaltet, bedeutet dies: Der Fortschritt des preußischen Staatsrechts wird seit den Grundlinien weniger dem faktischen Souverän als der göttlichen Vorsehung anheimgestellt. Dem Volk jedenfalls, das „ohne seinen Monarchen“ lediglich eine „formlose Masse“ (Grundlinien, § 279) sei, wird in dieser Hinsicht nicht das Geringste zugetraut. Ulrich Thiele (Darmstadt)
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Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik. Wiesbaden: Marix Verlag 2004. 526 S. Hegel zu erklären bedeutet immer auch, gängige Vorstellungen von seiner Philosophie zu widerlegen. Hoffmann nähert sich deswegen dem Hegelschen Denken zunächst mit dem Teil „Zur Einführung“ (16–50), in der er auf 35 Seiten unter den Stichworten „Totalität“, „System“, „Dialektik“, „Logozentrismus“, „Philosophie in ihrer Zeit“ und „Das Absolute“ gängige Vorurteile gegenüber Hegels Philosophie erwähnt und widerlegt. Dieser Aufgabe widmet er sich dankenswerterweise immer wieder. Hegelsche Sätze, die bis in den gebildeten Alltagsverstand vorgedrungen und dort zur – teilweise entrüstet zitierten – Phrase geworden sind, stellt er in den richtigen Zusammenhang, und Fehlinterpretationen werden korrigiert; so das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit (21, 342, 415), Wahrem und Ganzen (23, 26) sowie Freiheit und Notwendigkeit (344 f.), so die Rede vom „Ende der Kunst“ (441 ff.) oder auch die Rüge für Kants zu große „Zärtlichkeit für die Dinge“ (331). Der Einstieg über die Diskussion gängiger Vorurteile ermöglicht Hoffmann, sich auch an ein breiteres Publikum zu wenden. Aber er hat glücklicherweise keine populärwissenschaftliche Einführung verfaßt; die Erarbeitung der Hegelschen Philosophie bleibt bei ihm schwer genug. Nach den Erläuterungen zur Einführung geht Hoffmann streng chronologisch vor. Da Hegels Werk hier nicht nacherzählt werden soll und auch nicht nacherzählt zu werden braucht, beschränke ich mich hier auf eine allgemeine Charakterisierung des Umgangs Hoffmanns mit Hegels Werk. Zunächst ein grober Überblick: Im ersten Teil (51–196) faßt Hoffmann die Jugendund die Jenaer Schriften zusammen, im zweiten (197–383) die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik, im dritten (384–498) das „Berliner System“. Die Gewichtung, die Hoffmann zwischen diesen drei Teilen vornimmt, macht deutlich, daß er der neueren Hegel-Interpretation darin folgt, das „Berliner System“ nicht allein in Gestalt der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse als Ergänzung zur Phänomenologie des Geistes und zur Wissenschaft der Logik heranzuziehen, die bislang stets als Hauptwerke behandelt worden sind. Das „Berliner System“ wird als eigenständiger Teil des Hegelschen Werks behandelt, zu dem die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik hinführen.Vom Umfang her sind die drei Teile des Buchs Hoffmanns fast gleichberechtigt (146 zu 189 zu 113 Seiten). – Gehen wir nun in die einzelnen Teile. Zu Beginn des ersten Teils wird Hegels Biographie dargestellt, aber sie steht im Hintergrund. Hiernach versammelt Hoffmann „Hegels Apokryphen“, also die Texte und Textfragmente Volksreligion und Christentum, das Leben Jesu, Die Positivität der christlichen Religion, Glauben und Sein, Der Geist des Christentums und sein Schicksal sowie das Systemfragment 1800. Weder an dieser Stelle noch später legt Hoffmann Wert auf die vollständige Wiedergabe sämtlicher genannten Texte Hegels. Er trifft seine Auswahl aber so, daß weit mehr als nur das Nötigste zusammengestellt ist. In den „Apokryphen“ erblickt Hoffmann die Hegelsche Philosophie „allenfalls in statu nascendi“ (75). Das allgemeine Vorhaben Hegels sei ein philosophischer und ein politischer Neuanfang sowie die Wiedergewinnung der religiösen Dimension. Ab einer bestimmten Schrift sieht
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Hoffmann eine bedeutende philosophische Veränderung im Frühwerk. Mit dem Geist des Christentums habe Hegel einen Wandel vollzogen: nämlich „eine deutliche Abkehr […] von dem Kantischen Moralprinzip“ (100). Die Jenaer Schriften unterteilt Hoffmann in „exoterische“ (Differenzschrift, Habilitationsschrift und -thesen, das Kritische Journal, Skeptizismus-Aufsatz, Krugs Schreibfeder, Glauben und Wissen und Naturrechtsaufsatz) und „esoterische“ (die drei Fassungen des Jenaer Systementwurfs und das System der Sittlichkeit). Den Grund für diese Einteilung nennt Hoffmann nicht; wahrscheinlich meint er damit einfach veröffentlicht resp. unveröffentlicht. Den Systemzyklus (1805/06) behandelt er nur äußerst knapp; das Kapitel zum System der Sittlichkeit besteht fast nur aus biographischen Angaben. Hier verspricht man sich von den Kapitelüberschriften her mehr und anderes. Der Behandlung der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik im zweiten Teil gibt Hoffmann den meisten Raum. Und dieser Teil ist der gelungenste. Die Phänomenologie des Geistes sei keine Erkenntnistheorie, sondern eine „Topographie von Erkenntnislandschaften“ (198), ein „Panorama von Bewußtseinsgestalten“ (200). Hoffmann zählt die Phänomenologie des Geistes zur Realphilosophie (198), weil Hegel hier verschiedene Stellungen durchgehe, die das Bewußtsein in seiner Unterscheidung vom Gegenstand einnehmen könne. Diese „Stellungen des Ichs zur Welt und zu den anderen“ (200) interpretiert Hoffmann nicht als Abbilder der „gesamte[n] Weltgeschichte“ (213), sie seien vielmehr eine „Idealtypik“ (200). Sie könnten für bestimmte historische Epochen stehen, folgten aber einer eigenen Logik und zeichneten keine historischen Entwicklungen nach. Vorrangig gehe es um eine Rekonstruktion und Destruktion von Bewußtseinsgestalten, bei der die Erscheinungen des Geistes in eine Systematik gebracht würden. Diese Systematik folge den Stationen des Geistes, durch die er reines Wissen, also absoluter Geist, werde (202). Hegel vollführe eine „Anamnese des menschlichen Geistes“ (226), mit dem Ziel, freies und selbstbewußtes Wissen entstehen zu lassen. Hoffmann erkennt in der Phänomenologie des Geistes „einen neuen Typus der philosophischen Problembehandlung“: Die Vernunft werde zunächst „in gebundenen Gestalten“ aufgezeigt, aus denen dann ihre „innere Vernünftigkeit“ (214) herausgearbeitet werde. Schlummernde Vernunft solle so erweckt werden. Die Wissenschaft der Logik gilt Hoffmann als „das eigentliche Hauptwerk“ (278). Sie schließe an die Phänomenologie des Geistes an, die an das absolute, d. h. sich selbst tragende Wissen herangeführt habe. In dieser „Schule des aufrechten Gangs für das sich sonst nach den Gegenständen bückende Bewußtsein“ (280) werde dieses Denken selbst systematisch entwickelt. Die innere Systematik der Logik erläutert Hoffmann wie folgt: Die „objektive Logik“ versammle diejenigen Denkbestimmungen, in denen das Denken „der Form nach bei anderem“ sei, die „subjektive Logik“ hingegen diejenigen, bei denen das Denken „der Form nach bei sich“ (281) sei. Während die objektive Logik Gedankenformen behandle, in denen die Subjektivität sich „verborgen“ sei und das Denken „im Zeichen der Notwendigkeit“ stehe, sei die subjektive Logik die Lehre von den subjektiven Formen und Funktionen des Begreifens. Die Notwendigkeit gehe hier zwar „nicht verloren“, aber der Begriff wisse nun, „daß er den Dingen nicht einfach nur nachläuft, sondern ihnen schon vorausliegt“ (349). Der Gang durch Seins-, Wesensund Begriffslogik führe das Denken also zu sich selbst. In einer näheren Beschreibung
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faßt Hoffmann die Seinslogik als die Systematik der Denkbestimmungen, „in denen sich das Denken unmittelbar am weitgehendsten vergessen hat.“ In der Wesenslogik sei das Denken immerhin „(sich) in der Gestalt der Reflexion schon da“, sei aber noch gegenständlich gebunden. Erst in der Begriffslogik werde das „eigentlich freie und selbstbewußte Denken“ (282) entfaltet. Seins- und Wesenslogik seien zwar mögliche Weltsichten, aber noch nicht die ‚richtige‘. Im Hegelschen System bilde die Wissenschaft der Logik den ersten Hauptteil. Auf sie folgten zwei weitere Hauptteile, die der Realphilosophie, nämlich die Realphilosophie der Naturphilosophie und die der Geistphilosophie (280). Das im dritten Teil erläuterte „Berliner System“ unterteilt Hoffmann in Naturphilosophie, Philosophie des subjektiven Geistes, Rechts- und Geschichtsphilosophie, Philosophie der Kunst, Philosophie der Religion und „Philosophie in ihrem Begriff und ihrer Geschichte“. In den jeweils ca. zehn bis zwanzig Seiten langen Kapiteln beschränkt Hoffmann sich meist auf ein übersichtliches Referat zum jeweiligen Thema, was zwar brauchbar, aber gerade im Vergleich zum zweiten Teil auch schade ist, da Hoffmann sich ansonsten immer wieder als ebenso kompetenter wie einfühlsamer Nach-Denker erweist, der zu einer eigenständigen Darstellung fähig ist. Hoffmann gibt nicht nur eine Übersicht über das Werk, er führt nicht nur in dessen Struktur und Gedankensphären ein. Er führt v. a. an das Hegelsche Denken heran, eine Kunst, die einem nicht geringen Teil der Sekundärliteratur leider nicht gelingt, weil sie stattdessen lediglich Gedankenschemata miteinander verkettet. Die Lebendigkeit seines Buchs liegt darin, daß er Philosophie in actu vorführt – und damit wird er Hegel gerecht. Ausdrücklich wendet er sich wie Hegel gegen die „Musealisierung“ (484) von Philosophie, wo diese dann „eher verwaltet als noch getrieben“ (498) werde. Die wenigen Schwächen des Buchs finden sich m.E. denn auch in der mangelnden Erklärungsmächtigkeit mancher Passagen. So gibt es eine bedauerliche Anzahl von Füllwörtern wie „gleichsam“ (387), „eigentlich“, „wirklich“, „wahrhaft“ (466), „in Wahrheit“ (420), „in gewisser Weise“ (404, 460), „irgendwie“ (128) oder „durchaus“ (457, 461, 462), die den Verdacht einer Unsicherheit glimmen lassen und die mehr Bedeutung anzeigen, als ihnen explizit zukommt. Beides verwundert, denn beides hat Hoffmann nicht nötig. Manchmal erschleichen Wörter wie „also“ (467) oder „das entspricht“ (417) Erklärungen, die nicht gegeben werden; eine Schwäche, die man nicht nur von der Hegel-Sekundärliteratur kennt. Es fallen einige Stellen auf, deren Argumentationen weitergetrieben werden könnten (127 f., 129, 179, 199, 387, 446), aber dankenswerterweise neigt Hoffmann nicht zu dem Unwesen, an die Stelle einer Erklärung Hegels einfach ein Hegel-Zitat zu setzen, welches dem Leser nicht weiterhilft. Ein Buch von über 500 Seiten als eine „Propädeutik“ zu bezeichnen, zeugt von Bescheidenheit, ist bei Hoffmann aber kein understatement. Er gibt eine umfangreiche Einführung in das Hegelsche Werk, die keinen Bereich ausläßt und die er „eher als eine Anleitung zur […] Lektüre denn als abschließende Darstellung“ (10) verstanden wissen möchte. Hoffmann hat so viel Achtung vor seinem Gegenstand, daß er nicht behaupten würde, ihm umfassend gerecht zu werden. Auch sein Werk muß Stückwerk, oft nur Andeutung bleiben. Seine „Propädeutik“ habe er aus der Motivation heraus verfaßt, „die Lücke zwischen den nur die gröbsten Skizzen und Informationen bieten-
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den Einführungen und der Spezialliteratur zu Hegel“ (11) zu schließen. Und dies ist ihm tatsächlich gelungen. Man kann sein Buch sowohl als Einführung oder Überblick heranziehen als auch zur Vertiefung bestimmter Problemstellungen. Der Anmerkungsapparat ist erfreulich schmal. Auch verzichtet Hoffmann – von wenigen Anmerkungen abgesehen – auf eine Diskussion der Sekundärliteratur. Lediglich an den Kapitelenden findet sich jeweils eine kleine Liste. „Allgemeine Literaturhinweise“ informieren zu Beginn über die verschiedenen Ausgaben des Hegelschen Werks, über Einführungen sowie Gesamtdarstellungen, Publikationsreihen, Dokumentationen und Hilfsmittel. Ein vernünftig geführtes Personen- und Sachregister ermöglicht den gezielten Zugriff auf bestimmte Fragen. Diese Details sowie nicht zuletzt – dies sei ausnahmsweise erwähnt – der für Literatur dieser Art sehr günstige Verkaufspreis machen Hoffmanns Buch zu einem herausragenden Studienbuch. Fabian Kettner (Bochum)
Ken Foldes: Hegel & The Solution to Our Postmodern World Crisis. From Nihilism to Kingdom Come. Essays. Xlibris Corporation: Philadelphia, Pa. 2003. XV, 592 pp. This volume is diveded into an “Introductory Essay”, three main Parts and a “Concluding Essay”. In the introductory essay (“The Solution to Our Postmodern World Crisis” [3–83]) the author outlines the unifying philosophical topic developed in the essays that follow, which consists in the attempt to understand in the light and the form of the “concept” (i. e., of speculative thought) the essence of, and the grounds for, the “nihilism” pervading the consciousness and praxis of the “postmodern world” – namely, of the Contemporary Age – and moreover to advance a theoretical and practical overcoming of it based on a reappropriation of the fundamental epistemological and metaphysical conceptions originally worked out by modern philosophical Rationalism (Descartes, Spinoza, Leibniz), and then fully developed by German Idealism (Kant, Fichte, Schelling) and especially by Hegel’s system. In the five essays collected in Part I (“Hegel, Postmodernity, and God” [85–208]) the author discusses some well-known theses by Fichte, Schelling, Hegel and Nietzsche concerning these topics in the philosophy of history, of politics, and of religion, which are more closely connected with his attempt to understand and solve the crisis of the postmodern world. Part II (“Hegel’s System of Science” [209–334]) consists of six essays (certainly the best of the volume), which analyse with subtle logical perspicacity and admirable speculative vigor the crucial theoretical kernels of Hegel’s system (i. e., Logic, Phenomenology, Philosophy of nature, and Philosophy of history). In Part III (“Before and After Hegel” [335–473]), finally, we find five essays devoted, respectively, to the vindication of a consistent idealistic interpretation of Kant’s epistemology (in polemic against opposite readings by P. F. Strawson, H. E. Allison, etc.), to a close and convincing critique of Kant’s moral theology, to the analysis of the logical structure of the 1794 Doctrine of Science and of the “secret” of the 1804 Doctrine of Science, and finally to the discussion of a crucial epistemological problem raised, but never satisfactorily solved, by today’s logical em-
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piricism and pragmatism, that of the conditions for the possible reference of scientific concepts to the (alleged) objective reality of the external world. The concluding essay (“Manifesto of The New World Order” [475–545]) betrays only in its Preface the historical occasion that prompted its composition – namely, the enthusiasm aroused in the Western world by the news of the fall of the Berlin wall in 1989. What it actually offers to its readers is, rather, a compact reconstruction of the development of the fundamental epistemological problem of the relationship between thought and being in the history of modern philosophy, culminating in a careful analysis of the solution worked out by Hegel, whose substantial validity and relevance the author intends to repropose today, on a series of grounds he lucidly expounds in the introductory essay (cf. 12–13). The first ground is that Hegel’s philosophy, and no other, as an attempt to understand the Absolute in the form of the concept, can provide us with the indispensable antidote to the pernicious nihilistic relativism characterizing, in his opinion, both contemporary historical reality as a whole and its reflexive self-consciousness in the thought of postmodernity. The second ground is that no other philosophy has so far succeeded in developing in such a perfect and systematic manner a rigorously theoretical conception of reality and knowledge, and at the same time in incorporating into it the most significant philosophical achievements worked out by the whole history of Western philosophy. The third ground is that, although Hegel’s philosophy is undeniably “metaphysical” in character, as it fundamentally consists in “the study/knowledge of Being as such, as the Whole of What is” (80, n. 1), and the author consequently polemicizes against the opposite “anti-metaphysical” Hegel interpretations upheld by R. D. Winfield and W. Maker (cf. esp. 214 ff.), yet it radically differs from all previous metaphysical systems because it is grounded on a principle – that of the Absolute Idea – which can be proved through logically close and indisputable arguments (cf. esp. 47–55), thus warranting the objective validity of all determinate categories that by virtue of the dialectical method can be deductively drawn from its concept. The fourth reason is that thanks to the working out of a fully-fledged philosophy of history it also allows us to successfully state and solve the problem of understanding the meaning of historicality, and then the character of, and the grounds for, the postmodern world crisis. Finally, Hegel’s identification of religion’s content with that of philosophy renders possible a critical, and consequently anti-dogmatic and non-fideistic, comprehension of the essence and “fate” of such a fundamental constitutive element of Western civilization as Christianity. To maintain that the Absolute Idea is the principle of philosophy does not mean in truth anything else, the author appropriately remarks, (cf. 34; 205, n. 85; 215–217) than to show that it is possible to think of any reality or objectivity whatsoever, in whatever form (be it natural, historical, or transcendent), only insofar as its negative abstractness turns without residue into the concreteness of the act of thinking that thinks of it. To know something, therefore, means in the last resort to resolve its immediate otherness into the originality of the pure “I” (or I = I): the truth and the foundation of any possible immediate being or empirical consciousness, then, is knowing’s process of pure self-consciousness. From such a viewpoint Hegel’s whole system comes to assume the shape of an original and unitary philosophy of absolute self-consciousness, for the only true
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problem it states and solves in all its most multifarious ramifications is, in the last resort, the epistemological one of the possibility of knowledge – i. e., of the relationship between subject and object, thought and being, consciousness and the external world. Consequently, the sharp separation between the epistemological and the metaphysical problem, which with greater or lesser consistency was upheld by all traditional philosophy (including that of Kant), and was grounded, in the last resort, in a dualistic contraposition between the finite human intellect and the infinite divine one, vanishes in the philosophical perspective of “Absolute Idealism”, and the author does not fail to grasp with great historical and philosophical perspicacity the concrete implications and consequences of Hegel’s rigorous epistemological monism. By holding true, on the one hand, to the objective reality of the Absolute (and then of the eternal and the divine), but by maintaining, on the other, its absolute identity with the act of the human thought that thinks of it, and, by thinking of it, “constructs” it in and through itself, so that it does not precede, but follows, philosophical thought’s historical development (this would be, according to the author’s insightful interpretation, the true meaning of Hegel’s puzzling assertion that “the Absolute is a result”: cf. 170; 491), Hegel’s idealism, first of all, allows a systematic philosophical understanding of religion (and of Christianity in particular), which, although proving its necessity and historical significance, yet peremptorily denies its fundamental ontological presupposition – namely, God’s absolute objectivity and transcendence – setting over against it the alternative principle of the originary, absolute identity of man and God (cf. 111–112 and 248, n. 14). Now, the author rightly sees in this presupposition the ultimate cause of man’s “alienation” in the world he himself has nevertheless created from himself, and then also of that ontological and moral “nihilism” which, while being already present in an implicit and unconscious way in the historical epochs dominated by the faith in the transcendent God, has finally become fully explicit and self-conscious in the atheistic and materialistic humanism by now holding sway over the Contemporary Age. As a consequence, insofar as Hegel’s philosophy denies the adequacy of religion’s “pictorial” (i. e., mythological) form, and then the nihilism involved in the affirmation of the transcendent God, and, on the other hand, by virtue of the self-grounding principle of the Absolute Idea proves the (mediated and dialectical) identity of God and man, subject and object, consciousness and self-consciousness, it, and only it, can allow a rational understanding of the reasons for religion’s decay in the contemporary world, and its likely extinction in the near future, thus obviating at the same time the loss of human existence’s meaning and value which the “death of religion” inescapably carries with itself. In this connection he does not hesitate to establish attractive (although sometimes disputable) analogies between the results of Hegel’s Christology and some influential contemporary theological conceptions such as the later Schelling’s tripartition of the history of Christianity into the “Age of Peter” (Catholicism), the “Age of Paul” (Protestantism) and the final and culminating “Age of John” or “Kingdom Come” (religion of the future, God’s humanization: cf. 90–92); Nietzsche’s announcement of the “death of God” and of Superman (cf. 92–98); and the “demystification” or “demythologization” (cf. 8) of traditional Christianity’s dogmas carried out by today’s upholders of “radical theology” or “Christian atheism” (T. J. J. Altizer, P. Tillich, D. G. Leahy, T. de Chardin, etc.: cf. 130–131).
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A further merit of the author’s interpretation of Hegel is certainly that of showing with indisputable evidence how the global articulation of Hegel’s system into a Logic, a Philosophy of Nature and a Philosophy of Spirit is necessarily grounded on the very principle of the Absolute Idea, and of thus offering a convincing reply to Schelling’s famous objection (reiterated by Croce and Gentile among others) against the alleged “weak point” of the system, namely the so-called transition of the Idea into nature. The Absolute Idea, the author maintains, (cf. 123–126; 223–226) is no static or inert entity, but infinite creative activity unfolding in a “circular” process, whose fundamental moments are: a) its self-positing in and through itself; b) its self-alienation, or the positing of an “other”; c) the other’s reflection or “return” into itself. The third moment distinguishes and at the same time identifies itself with the first: for the content posited in them is identical – namely, the self ’s infinite reality (otherwise the process would not be circular) – but their form is different: for in the first it is a potential, virtual or abstract reality, whereas in the third it is fully actual and concrete. Now, the fundamental triad into which the Idea’s infinite creative activity objectifies itself is that whose elements are the Logical Idea (i. e., the Absolute Idea in thought’s abstract element), Nature (i. e., the Idea in the form of otherness), and Spirit (i. e., the Idea returning into itself from otherness, culminating in the Begriffsbestimmung of Absolute Spirit, more precisely in Philosophy). The Logic thus presents itself of necessity in two different forms in the system: as the “first science”, dealing with a still (relatively) abstract object, and as the “last science”, coinciding with Philosophy, in which the Absolute’s actual reality itself comes to full, concrete self-consciousness. As the “first science”, the abstractness of its object needs to be integrated through the explication of what it abstracts from, namely the contingency of immediate being, whose concrete totality coincides with what one generally means by the term “nature”. The Logic (in the first meaning) is then in principle impossible and unthinkable without the construction of a subsequent philosophical science such as the Philosophy of Nature: this is the rational solution to, and ultimate legitimation of, that transition of the Idea into nature which Schelling wrongly held to be impossible. As the “last science”, however, the Logic by all means transcends the peculiar abstractness characterizing its traditional conception in terms of formal (or also symbolic or mathematical: cf. 506–507) logic, rather constituting itself as the science of the ultimate foundation and truth both of Nature and of (finite) Spirit, and therefore identifying itself without residue with metaphysics itself – a point rightly stressed by the author in polemic with Winfield, Maker and J. Flay (cf. 161, n. 21; 203, n. 72; 216–217; 468). It seems to me that the brilliant arguments developed by him on this subject repropose in substance the plausibility of that interpretation of Hegel’s philosophy which, starting with J. E. Erdmann, one is used to naming “panlogistic”. On the other hand, he also points out that Hegel’s “speculative” assertion of the identity of subject and object, of man and God, cannot and must not be misconstrued in the sense of an absurd immediate identification of the particular, empirical, natural and finite I with the Absolute itself, and then of a radical egoistic solipsism. According to Hegel, this would rather be “the standpoint of absolute evil” (65), for the finite as such is in itself nothing but negative appearance, which in the sphere of self-consciousness can be transcended only by virtue of the mutual recognition of two I’s, thanks to
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which each of them denies its immediate natural isolation, and posits itself, rather, as a non-independent moment of a wider universal self-consciousness. The universal dialectical law of the Aufhebung of any otherness into self-consciousness’s unity thus meets an “exception” in the reality of the alter-Ego, whose “integrity and independence” (309) must be acknowledged as an unavoidable condition for the constitution of any possible objectivity in consciousness. In this connection the author fittingly focuses on one of the most arduous difficulties in which all attempts (starting with Fichte’s) to work out a consistent transcendental theory of intersubjectivity have become entangled, namely, the implicit or explicit positing of a plurality of “absolutes”, which plainly contradicts the fundamental rational exigency for the Absolute’s rigorous unity. He puts forward a plausible solution to it by remarking that “[o]n the Pure level we are One, sharing the same Universal Consciousness (cf. Fichte’s ‘Absolute I’), whereas on the Empirical level we remain and function as discrete individuals.” (64) The absolute ontological originality he attributes to the alter-Ego, however, does not hold good for the State’s ethicality as well, in which – in the wake of A. Peperzak, and in polemic with L. Siep and Winfield (cf. 293–294) – he does not seem to see anything more than a “finite condition” (substantially not dissimilar to those expressed by the categories of Abstract Right and Morality) of Absolute Spirit’s pure self-comprehension (in the philosopher’s consciousness that actually states and solves the problem of the essence of the State, thus bestowing upon it the only objective validity that can be rightfully granted to it). In this regard he does not hesitate to distance himself from the Hegelian thesis, set out in the famous §§ 257–260 of the Philosophy of Right, that the State (or rather its idea or Begriffsbestimmung) is the embodiment of absolute freedom, and then of the infinitum actu in the form of the will. To this, one could reply, first of all, that if the State were in truth nothing more than a “finite condition” of Absolute Spirit, one could not understand how and why it can nevertheless constitute the required solution to Morality’s dialectic, seeing that this is, in the last resort, nothing but the peculiar expression in the will’s process of that progressus in infinitum whose radical contradictoriness is solved just by the concept of the infinitum actu. (Cf.: TWA 5, 149–171.) On the other hand, since the Absolute Idea constitutes itself as the substantial unity of thought and of the will, one does not see how and why its original actual infinity cannot and must not be explicated in both of these categories (as Hegel in fact explicitly maintains: cf.: TWA 6, 548–549; TWA 7, § 4, Zusatz), nor to what other objectification of the will one should attribute that dignity of the infinitum actu which is instead denied to the State’s ethicality. The author’s “Fichtean” emphasis on the ontological primacy of intersubjectivity over the State, however, does in fact turn out to be fully consistent with his interpretation of Hegelianism as a metaphysic of absolute self-consciousness. The most original, and in many regards stimulating, aspect of the author’s interpretation of Hegel is the solution put forward by him to the problem of the “end of history” (and of the history of philosophy: cf.: 32–34; 112–115; 165–208), which is currently much debated in the U.S.A. after the success of Fukuyama’s book. Sharply distancing himself from the communis opinio generally shared by today’s Hegel scholars (from V. Hösle and H.-P. Kainz to C. Taylor, T. Rockmore and P. T. Grier), he emphasizes the fact that a) there are not only historical-factual, but also theoretical-systematic reasons
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for maintaining that the history of philosophy has ended with Hegel; b) since philosophy is nothing but the adequate self-consciousness of historical reality, from the idealistic principle of the identity of thought and being, it necessarily follows that world-history itself has come to its completion in the Contemporary Age, in correspondence with the historical formation of Hegel’s philosophy; and c) contrary to what is generally held by contemporary anti-metaphysical thought, such a completion by no means amounts to the dissolution of Western metaphysics (and of the civilization founded on it), but rather to the affirmation of its full and definitive validity, and to the resulting opening of a new historical epoch – that of the “postmodern world”. In this connection he first of all points out (cf. pp. 189–191) that a truly “scientific” treatment of the history of philosophy is impossible if one does not possess in advance an adequate concept of philosophy, which, owing to its peculiar wholeness, can plainly be achieved in the concrete by philosophical thought only when the very totality of philosophy’s historical development has come to an end. Moreover, since the act of thinking is a process that returns into itself, the history of philosophy, which is its necessary manifestation in time, can reflect it adequately only if and when it comes to its completion. Thirdly, if the thesis of the end of history should be rejected, one should obviously conclude that the logical structure of philosophical thought’s history is the progressus in infinitum, whose insuperable logical inconsistency, however, was demonstrated, as is well-known, ad abundantiam by the “Doctrine of Being” in the Science of Logic. Finally, since the “spring” of historical becoming is contradiction, and since, in the idea of Absolute Knowing, any possible contradiction – be it epistemological or ontological – is actually solved, the statement of the theory of Absolute Knowing at the conclusion of the Phenomenology of Spirit eo ipso amounts to a proof of the fact that history has come to an end. The theory of the end of history (in Hegel’s System) provides the author with the leading thread also for a striking interpretation of the meaning of contemporary history, and of the peculiar task, both theoretical and practical, assigned in it to philosophy. The Postmodern Age, he maintains, (cf. esp. 36–42; 72–73) first of all presents itself in a negative form, namely as “negative postmodernity”, because the overcoming of the religious Vorstellungen (i. e., myths and dogmas) in and by speculative thought inevitably appears to non-philosophical consciousness as the mere negation of God’s reality, and then of the meaning of history and human existence rendered possible by it. Negative postmodernity, then, is in the first place the epoch of explicit and self-conscious nihilism: axiological relativism, existentialistic pessimism, the ingenuous faith in the truth of the positive sciences, and the uncritical cult of technology, are nothing but its particular manifestations.Yet the immediate negativity of the postmodern epoch can and must be overcome, in the subsequent phase of “positive postmodernity”, by a reappropriation of Hegel’s system that should promote its diffusion on a global scale. The country to which the implementation of such “post-historical” task would be entrusted, is not to be found, in his opinion, in Europe (which in fact would have exhausted its cultural mission just with the end of history), but – he maintains in the wake of the famous Hegelian hint at the “land of the future” in the Lectures on the Philosophy of History (cf.: TWA 12, 114) – the United States of America, which, having already gone through the
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more elementary phases of its historical evolution (the “Agrarian” one, that of civil unification, and the “Military” one), would now be entering the culminating and conclusive “‘Intellectual’ or knowledge-seeking period” (40). The primary cultural finality to be achieved in it would be a reform of the academic system and of national education inspired by the principles of Idealistic philosophy (he quotes on this subject the pedagogical ideal sketched by Schelling in his Lectures on Academic Method), and, on a more strictly theoretical level, the elaboration of “a new, updated ‘introduction to Science’ or ‘phenomenology of Spirit’, containing the current ruling one-sided perspectives on reality […] and their resolution into Absolute Knowing”. (72; cf. also 195–197) The essays collected in this volume have the merit of sketching with undeniable theoretical vigor and eloquent persuasiveness the main lines of an interpretation, which appears adequate and convincing, of modern and contemporary philosophy in general, and of Hegel’s philosophy in particular. Its reading is by all means a “must” for all those who are interested in the problems of Idealistic thought, and who, moreover, hold that neither the dead theological schemes of the Right, nor the abstractly humanistic ones of the Left, have truly succeeded in understanding and unfolding the innermost meaning and value of Hegel’s philosophy. Giacomo Rinaldi (Urbino) I would like to thank Nathan Ross (Chicago) for the linguistic revision of this review.
Mario Cingoli (Ed.): L’esordio pubblico di Hegel. Per il bicentenario della Differenzschrift. Atti del Convegno internazionale Università di Milano-Bicocca 26–28 novembre 2001. [Das öffentliche Debüt Hegels. Zum zweihundertsten Jahrestag der Differenzschrift. Akten des internationalen Kongresses der Universität Milano-Bicocca vom 26.–28. November 2001.] Milano: Guerini 2004. 380 S. Der Band diskutiert Hegels erste Publikation aus verschiedenen Perspektiven, aber ebenso werden ihre Bedeutung und ihre Rolle in der Entwicklung des Denkens Hegels sowie die Debatte, die sie ausgelöst hat, thematisiert. Die Differenzschrift wird aus zwei Gründen näher erforscht: Zum einen scheint ihr umfassender philosophiegeschichtlicher Standpunkt – Stichwort: die Loslösung Schellings von Fichte – interessant; zum anderen betrifft sie die innere Entwicklung Hegels und seinen Bund mit Schelling. Alles in allem relativiert Walter Jaeschke („Dalla filosofia trascendentale alla speculazione. Sulla preistoria della Differenzschrift“ [„Von der Transzendentalphilosophie zur Spekulation. Zur Vorgeschichte der Differenzschrift“, 15–23; traduzione di Ferdinando Vidoni]) die Bedeutsamkeit des Hegelschen Textes mit Blick auf die beiden oben erwähnten Aspekte: Weder habe die Differenzschrift zur Trennung Schellings von Fichte beigetragen noch mache sie eine erste Darstellung des Hegelschen Systems aus. Man kann diesem Urteil wohl zustimmen, obgleich die Philosophie Hegels in diesen Jahren vielfältigen Veränderungen unterworfen ist, was zumindestens hinsichtlich des zweiten Urteils zur Vorsicht mahnt.
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Leo Lugarini („La comprensione hegeliana di Kant nella Differenzschrift e i suoi sviluppi“ [„Hegels Kantverständnis in der Differenzschrift und seine Fortentwicklung“, 25–32]) behandelt Hegels erste Jenaer Schriften und bezieht sich dabei vor allem auf die transzendentale Deduktion. Angelica Nuzzo („Idea della filosofia e attività del filosofare in Kant e Hegel“ [„Idee der Philosophie und Tätigkeit des Philosophierens bei Kant und Hegel“, 33–40]) behandelt ebenso das Verhältnis Hegels zu Kant vom Standpunkt des Bedürfnisses der Philosophie aus. Nuzzo zufolge modifiziere Hegel den Kantischen Unterschied zwischen historischer und vernünftiger Erkenntnis in der „Architektonik der reinen Vernunft“, da die Philosophie in Hegels Auffassung praktisch werde. Venanzio Raspa („Dalla Differenzschrift agli scritti Giovanili“ [„Von der Differenzschrift zu den Jugendschriften“, 42–55]) thematisiert das Unterscheidungsmoment in Hegels Frühschriften, um die begriffliche Kontinuität zwischen Hegels Jugend- und der Jenaer Zeit herauszustellen. Tom Rockmore („Hegel, Reinhold e la Rivoluzione Copernicana“ [„Hegel, Reinhold und die Kopernikanische Revolution“, 57–63]) befaßt sich mit dem Vergleich zwischen Hegel und Reinhold hinsichtlich der Begründung der Philosophie: Rockmore zufolge ist die konstruktivistische Lösung Hegels dessen spezifischer Beitrag zur epistemologischen Debatte seiner Zeit. Einige Aufsätze behandeln Hegels Auseinandersetzung mit Fichte. Der Fichteschen Deutung der Philosophie Spinozas in der Berliner Periode ist der Beitrag Matteo Vincenzo D’Alfonsos („Fichte interprete di Spinoza: materiali per una riconsiderazione“ [„Fichte als Interpret Spinozas: Materialien für eine neue Betrachtung“, 65–78]) gewidmet. Die Kernthese dieser Abhandlung lautet, in der Perspektive der Spätphilosophie Fichtes stelle die Philosophie Spinozas eine Propädeutik für den transzendentalen Standpunkt dar. Die Aufsätze Marco Ivaldos („Il giudizio su Fichte nella Differenzschrift e il punto di vista trascendentale“ [„Das Urteil über Fichte in der Differenzschrift und der transzendentale Gesichtspunkt“, 79–87] und Vincenzo Vitiellos („La critica Hegeliana a Fichte e la dottrina del sillogismo“ [„Hegels Fichtekritik und die Lehre des Syllogismus“, 89–110]) zielen bestimmter auf die Auseinandersetzung zwischen Fichte und Hegel: Ivaldo hebt die Entstellung der Fichteschen Auffassung der intellektuellen Anschauung in der Differenzschrift hervor. Eine Verdeutlichung dieses Umstands ermöglicht einen lehrreicheren Vergleich beider Einsichten. Die Differenzschrift bildet in Vitiellos Aufsatz den Ausgangspunkt, denn Hegel bedenke die Lücken der Systeme Fichtes und Schellings lediglich in der Phänomenologie des Geistes sowie in der Wissenschaft der Logik. Die Kluft zwischen absolutem Wissen und Sein bleibe jedoch ungelöst, so Vitiello. Rossella Bonito Oliva („La differenza della lettera e l’affinità dello spirito. Il bisogno di sistema [„Die Differenz des Buchstabens und die Affinität des Geistes. Das Bedürfnis des Systems”, 173–184]) verbindet Hegels Einsicht über die Geschichte der Philosophie mit dessen Kritik an Fichtes Philosophie. Daniele Goldoni („Differenza e poesia. Hegel e Hölderlin“ [„Differenz und Poesie. Hegel und Hölderlin“, 111–126]) führt eine Konfrontation zwischen Hegel und Hölderlin vor auf Grund des Verständnisses von Subjekt und Objekt, das die erste Wissenschaftslehre Fichtes hervorgerufen habe. Hölderlins Poetik der Tragödie halte einen unaufhebbaren Unterschied fest, den der junge Hegel niemals aufgenommen habe.
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Des Weiteren wird Hegels Verhältnis zu Schelling breit abgehandelt. Cinzia Ferrini („La Differenzschrift: modelli di identità e filosofie della natura in Hegel e Schelling“ [„Die Differenzschrift: Identitätsmodelle und Philosophien der Natur bei Hegel und Schelling“, 127–147]) bietet eine nützliche und lehrreiche Rekonstruktion der naturphilosophischen Theorien, die sich in Hegels erster Druckschrift finden. Die im Aufsatz vorgestellten Hauptthesen kommen sehr klar zur Ausführung: 1. die vordringlichen Interessen des jungen Hegel an Astronomie, Physik und Geometrie als Basis für die systematischen Grundbegriffe der Differenzschrift, und 2. der Unterschied in den Auffassungen der Natur bei Schelling und Hegel, denn Schelling beziehe sich auf Goethes Metamorphose-Modell, Hegel dagegen auf die Geometrie. Hans Heinz Holz („La prima concezione Hegeliana della filosofia speculativa“ [„Hegels erste Konzeption der spekulativen Philosophie“, 149–157]) nimmt das Verhältnis zu Schelling als Hintergrund auf, um in der Folge den Übergang von der Reflexion zur Spekulation in Hegels Philosophie und die Rolle der transzendentalen Anschauung in ihr darzustellen. Die Anschauung behandelt auch Giorgio Bertolotti („‚Filosofare senza intuizione? Disperdersi senza fine in assolute finitezze‘“ [„‚Philosophieren ohne Anschauung? Sich ohne Ziel in absoluter Endlichkeit zerstreuen‘“, 159–171]) in der umfassenderen Perspektive der Geschichte des Idealismus von Kant zu Hegel und der Deutung dieser Geschichte in der hermeneutischen Philosophie. Dem Verf. zufolge habe die zeitgenössische Hermeneutik das adäquate Verständnis der Anschauung – indem sie diese von der Endlichkeit getrennt habe – beiseitigt, wobei jedoch der Gegenstandsbezug der Anschauung im Sinne Kants nicht wieder aufgenommen worden sei. Die Differenzschrift kann als ein Punkt in Hegels Entwicklung angesehen werden, an dem Hegels frühe Interessen eine neue Form finden. Darüber hinaus wird das Werk jedoch mit Rekurs auf die theoretischen und praktischen Interessen des frühen Hegel sowie mit Blick auf seine reife Zeit analysiert. Dies unternimmt Grazia Tagliavias Aufsatz („Assoluto e manifestazione nella Differenzschrift“ [„Das Absolute und die Manifestation in der Differenzschrift“, 185–192]), der das Thema des Bedürfnisses der Philosophie in der Differenzschrift und in der Wissenschaft der Logik diskutiert und die Berührungspunkte in den verschiedenen Perspektiven betont. Roberto Racinaro („Critica del pensiero astratto: contro il giacobinismo e lo Stato di polizia“ [„Kritik des abstrakten Denkens: gegen den Jakobinismus und den Polizeistaat“, 193–198]) bringt die Ablehnung des Subjektivismus mit der Ankündigung der schlechten Folgen einer unbestimmten Freiheit in Verbindung und erkennt darin ein Thema, das die gesamte Philosophie Hegels kennzeichne. Georges Faraklas („Critica della dominazione. Politica e filosofia nella Differenzschrift“ [„Kritik der Herrschaft. Politik und Philosophie in der Differenzschrift“, 199–215; traduzione di Michele Truglia]) verweilt bei der Kritik Hegels am Herrschaftsverhältnis, die an Hand einer Analyse der Ursache-Wirkung-Beziehung vorgeführt wird: Schon in der Differenzschrift bilde die Selbstverleugnung die Basis, auf welcher Hegel eine wirkliche Freiheit gründe. Vittorio Morfinos Aufsatz („‚Ordo et connexio‘ di Hegel traduttore di Spinoza“ [„‚Ordo et connexio‘ bei dem Spinoza-Übersetzer Hegel“, 217–225]) bietet eine philologische und theoretische Analyse der Entscheidung Hegels, Spinozas Wort „connexio“ mit „Zusammenhang“ zu übersetzen.
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Stefania Achella („La religione nella Differenzschrift“ [„Die Religion in der Differenzschrift“, 227–235]) untersucht die Entwicklung von Hegels Auffassung der Religion von den Jugendschriften bis zur Differenzschrift. Giuseppe Cantillo („Le origini dell’estetica Hegeliana: La Differenz e la Filosofia dello spirito di Jena“ [„Die Ursprünge der Hegelschen Ästhetik: Die Differenz und die Jenaer Geistesphilosophie“, 237–251]) bezieht sich vor allem auf die Geistesphilosophie der Jahre 1805/06. Die weiteren Aufsätze drehen sich um Skeptizismus und Nihilismus. Klaus Vieweg („‚Sulle pretese del buon senso nei confronti della filosofia‘. Hegel e Friedrich Immanuel Niethammer“ [„‚Über die Voraussetzung des gemeinen Menschenverstandes innerhalb der Grenzen der Philosophie‘. Hegel und Friedrich Immanuel Niethammer“, 253–262]) behandelt die englische Philosophie des common sense als gemeinsame Grundlage der philosophischen Interessen Hegels und Niethammers. Die Konfrontation mit der Rechtfertigung des Menschenverstands bei Niethammer sei in den ersten Paragraphen der Differenzschrift leicht identifizierbar. Dem Skeptizismus widmet sich auch Italo Testas Aufsatz („Riconoscere l’antinomia“ [„Die Antinomie wiedererkennen“, 333–346]), der Hegels Auffassung der Antinomie in der Frankfurter Zeit und die rationale Reflexion in den ersten Jenaer Schriften miteinander in Beziehung setzt. Dieser Themenkomplex zeigt auch eine praktische Seite, wie die Liebesauffassung des jungen Hegel und die spätere Aufnahme der Anerkennung dokumentiert. Mario Ruggenini („Modernità e nichilismo in Hegel“ [„Moderne und Nihilismus bei Hegel“, 263–277]) und Leonardo Samonà („Nichilismo e ragione nella Differenzschrift“ [„Nihilismus und Vernunft in der Differenzschrift“, 279–292]) bearbeiten die Nihilismusdebatte unter theoretischen Vorzeichen: Ruggenini deutet Hegels Denken als Radikalisierung der Spannung zwischen Endlichem und Unendlichem, die er aus der christlichen Tradition schöpfe, um die Absolutheit der modernen Subjektivität zu bezwecken. Samonà liest den vollendeten Nihilismus der ersten Jenaer Schriften als radikales Einheitsdenken, das sich gegen die relativen Identitäten von Herrschaftsbeziehungen richte. In einer ausführlichen Studie („Hegel e la filosofia analitica: scetticismo e platonismo“ [„Hegel und die analytische Philosophie: Skeptizismus und Platonismus“, 293– 332]) zeigt Franca D’Agostini, daß der Skeptizismus kraft des Platonismus überwunden werden könne. D’Agostini deutet diese Verhältnisbestimmung als Gemeinsamkeit Hegels mit Frege sowie Russell. Weitere Entwicklungen und Konfrontationen mit dem gesamten Denken Hegels beschließen den Band: Mario Cingoli („La storia della filosofia nel giovane Hegel e nel giovane Marx“ [„Die Geschichte der Philosophie beim jungen Hegel und beim jungen Marx“, 347–353]) und Ferdinando Vidoni („Hegel e l’evoluzione“ [„Hegel und die Evolution“, 355–368]). Marco Vanzulli („La filosofia come sistema e l’altro del pensiero. Feuerbach su Hegel“ [„Die Philosophie als System und das Andere des Denkens. Feuerbach über Hegel“, 369–380]) durchdenkt noch einmal Feuerbachs Deutung der Hegelschen Philosophie i. S. einer Ideologie und Vollendung christlicher Theologie. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die vielfältigen Anregungen, die aus Hegels erster Publikation gewonnen werden können, die nach wie vor intensive geschichtsphilosophische und theoretische Beschäftigung mit dieser Schrift rechtfertigt. Vom geschichtlich-genetischen Standpunkt aus mag vielleicht beklagt werden, daß in
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einigen Aufsätzen die Differenzschrift selbst zu kurz kommt und Auseinandersetzungen, die Hegel in ihr führt – und die nicht zu unterschätzen sind (wie beispielsweise diejenige mit dem logischen Realismus) – fast unberührt bleiben. Pierluigi Valenza (Roma)
Andreas Arndt/Ernst Müller: Hegels Phänomenologie des Geistes heute. Berlin: Akademie Verlag 2004. 290 S. (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Sonderband 8) Der Titel des vorliegenden Bandes ist irreführend: Hegels Phänomenologie des Geistes wird eigentlich nicht auf ihre Aktualität hin befragt. Die Phänomenologie des Geistes wird eigentlich nicht, wie die Herausgeber ankündigen, „aus der Erfahrung ihrer Nachgeschichte und aus der Perspektive heutigen Philosophierens systematisch beleuchtet“ (8). In weiten Teilen leistet der Band mehr: Hegel wird an seinem eigenen Anspruch gemessen, die Erscheinungsweisen des Geistes auf den Begriff gebracht zu haben. Diesen Anspruch anzunehmen, Hegels Ansatzpunkte ebenso auf den Prüfstand zu stellen wie der Folgerichtigkeit der Hegelschen Argumente nachzugehen, und nicht Hegels Darstellung nur als eine mögliche (vielleicht auch aktuelle) Sicht der Dinge zu betrachten, ist das eigentliche Verdienst dieses Bandes. Grund genug, das Augenmerk auf die überwiegend kritischen Beurteilungen Hegels zu richten. Deren Reigen eröffnet Falko Schmieder in „Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit in fotografietheoretischer Sicht“ (39–57). Verf. geht es um den Nachweis, daß Feuerbach „mit seinem Rekurs auf die Unmittelbarkeit nicht auf eine schon von Hegel kritisierte Position“ zurückfalle, sondern „in der Theorie die zeitgenössische praktische mediale Wende zur Fotografie“ (41) nachvollziehe. Gleichsam aber resümiert Verf., daß Feuerbachs Fixierung der Anschauung nicht nur als eine Position anzusehen sei, „die mit Hegels Philosophie letztlich nicht kritisch fertig geworden ist, sondern ihr Pochen auf Unmittelbarkeit erliegt zugleich auch einem objektiven Schein, der sich aus den Formeigentümlichkeiten des neuen, Hegel noch nicht bekannten Mediums Fotografie ergibt.“ (57) Die Ambivalenz dieser Beurteilung (so denn eine solche Ambivalenz vorliegt und nicht – ob der Objektivität des Scheines einem objektiven Schein zu erliegen – positiv zu bewerten ist) rührt u. a. aus einer ambivalenten Beurteilung des vorgeblich Neuen. Auf der einen Seite folgt Verf. Roland Barthes’ Einschätzung, daß das Subjekt in der Fotografie eine Form der Vermittlung betätige, „die das Subjekt objektiv aus der Vermittlung verdrängt.“ (54) Auf der anderen Seite aber ist Verf. bemüht, diese offenkundig problematische These – daß es der Fotografie eigentümlich sei, zu ihrem „Referenten eine Beziehung der vollständigen Unvermitteltheit, der wirklichen Ko-Präsenz und der physikalischen Kontiguität“ (55) zu unterhalten – so weit wie möglich herunterzuspielen. An Hegels Überlegungen aber scheint Verf. einfach vorbeizugehen. Ob nämlich nun eine solche „Ko-Präsenz“ (einzig) in der Fotografie gegeben ist oder nicht, ficht Hegels These, die Wahrheit der
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sinnlichen Gewißheit sei je schon schal geworden, offenbar deshalb nicht an, weil das, was der sinnlichen Gewißheit schal wird, bestenfalls in der Fotografie, aber nicht in der sinnlichen Gewißheit erhalten bleibt. Ob der Schein nun in der Fotografie Objektivität gewinnt oder nicht, so gewinnt er diese – sofern Hegel ansonsten im Recht ist – jedenfalls nicht für die sinnliche Gewißheit. Daß die sinnliche Gewißheit den Gegenstand „in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich“ (vgl.: TWA 3, 82) hat, bestreitet Hegel offenbar nicht. Was aber durch die Fotografie aufgehoben ist, ist – selbst wenn es in dieser vollständig aufgehoben ist – als solches wieder nur ein Gegenstand, den die sinnliche Gewißheit vor sich hat. Ebenso problematisch stellen sich Harald Bluhms kritische Ausführungen in „Herr und Knecht – Transformation einer Denkfigur. Eine Skizze“ (61–82) dar. Verf. geht es um den Nachweis, „daß die dualen Modelle von Herr und Knecht die Generierung von Macht, die Verknüpfung von sozialer und politischer Macht sowie die Ubiquität von Macht thematisieren, jedoch die Spezifik politischer Macht verfehlen.“ (63) Politische Macht sei „nämlich mindestens in einer dreistelligen Relation zu denken, und zwar von zwei Akteuren, die vor reellem oder virtuellem Publikum handeln und ihr Handeln legitimieren müssen.“ (63) Dieses Beweisziel ist mehr als problematisch. Nicht nur, daß Hegel das Verhältnis von Herr und Knecht nicht als das paradigmatische, sondern vielmehr als defizitäres Machtverhältnis bestimmt; darüber hinaus behandelt Hegel das Herr-Knecht-Verhältnis in der Phänomenologie des Geistes immer wieder als schlußförmig. Dafür aber, daß der von der Form geschiedene Inhalt der Ausführungen Hegels nicht in die von Hegel behauptete Form gebracht werden kann, weil das HerrKnecht-Verhältnis (gegen Hegel) der Sache nach als dualistisch bestimmt werden muß, oder dafür, daß die von Hegel als progressiv behaupteten Machtverhältnisse tatsächlich dem Muster des Herr-Knecht-Verhältnisses folgen, argumentiert Verf. nicht. Es bleibt einfach zu prüfen, ob Hegel in diesen Punkten im Unrecht ist. Christian Iber scheint bedingt dieser Auffassung zu sein. Zum einen betont er in „Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes“ (98–117) nachhaltig sowohl Hegels Bestimmung des Herr-Knecht-Verhältnisses als triadisch als auch die Mangelhaftigkeit dieser Form der Anerkennung. Zum anderen aber gibt er zu bedenken, man könne „sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Vollendung der Anerkennung im absoluten Geist nur die Form ist, die das bleibende Defizit der Anerkennungsstruktur des objektiven Geistes, die von der besonderen Einzelheit der Subjekte abstrahiert, kompensiert.“ (117) Begründet sieht Verf. dieses Bleiben des Defizits in Hegels Bestimmung des Verhältnisses der Individuen zur staatlichen Macht der bürgerlichen Gesellschaft. Hier macht er zunächst darauf aufmerksam, daß Hegels Bestimmung der „intersubjektive[n] Beziehung der Individuen in der wechselseitigen Anerkennung als Einheit von Selbstbewußtsein und Substanz […] seinen Rechtsgrund darin [habe], daß staatliche Institutionen mehr sind als intersubjektive Relationen. Sie sind zur Macht verfestigte Gestalten von intersubjektivem Verhalten“ (113), um zugleich festzuhalten, daß Hegel die „intersubjektive Anerkennung“ in der Folge als „auf einer bedingungslosen Unterwerfung unter die sittliche Substanz“ (114) beruhend fasse. „Das sich bildende Bewußtsein, das in der Abarbeitung seiner Partikularitäten zur kultivierten Selbstverallgemeinerung und darin zur Anerkennung kommt, labo-
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riert indes an dem Problem, daß es seinen Bestand nur in dieser Allgemeinheit hat, der gegenüber es in seiner Einzelheit keine Berücksichtigung findet.“ (115) Sofern diese Darstellung trifft, was Hegel meint, ist in der Tat nicht nur schwer zu sehen, wie irgendeine auf diesem Boden erwachsende Anerkennung anders als defizitär genannt werden muß. Es stellt sich dann auch die Frage, welche Konsequenzen sich hieraus ergeben. Einmal gesetzt nämlich, daß Hegels Darstellung der Erfahrung, die der Geist/das Bewußtsein mit sich macht, bis zu diesem Punkt zutreffend ist, wäre gegen Hegel einzig festzuhalten, daß, was er als Versöhnung präsentiert, nichts weiter als der bloße Anschein derselben ist. An dieser Frage entscheidet sich auch, ob die Forderung, mit der Reinhard Mehring („Unrechtserfahrungen im Recht. Zum phänomenologischen Blick auf Die Sittlichkeit“ [159–174]) an Hegels Text herantritt, überhaupt als Forderung ein Recht für sich hat. Verf. beklagt, „Hegels transindividuelle Eschatologie der Gerechtigkeit“ ermögliche keine praktischen Stellungnahmen von Individuen, weshalb „ihre akademische Aktualität wohl weniger in der normativ wertenden Philosophie als in der Rechtsgeschichte“(172) liege. Muß aber mit Iber festgehalten werden, daß, was Hegel als Versöhnung präsentiert, keine ist, weist die Philosophie darin zugleich den Anspruch, sie müsse sich wertend verhalten, als ihr unangemessen zurück. Der Gedanke, es könne eine Idee der Gerechtigkeit geben, die in Abstraktion von den je besonderen Partikularinteressen als „kritisches Korrektiv“ (174) fungiert, würde darin als in sich widersprüchlich ausgewiesen, und die Frage, wie mit widerstreitenden Interessen im einzelnen umzugehen sei, als eine Frage ausgewiesen, die eben im einzelnen zu klären ist. An diesen müßte entschieden werden, ob sie de facto oder nur scheinbar widerstreitend sind. Darin läge auch keinesfalls, wie Mehring vermutet, daß die Faktizität ins Recht gesetzt wird (172). Im Gegenteil: Diese würde vielmehr als nicht eigens zu legitimieren, als schlicht faktisch ausgewiesen. Ins Recht wird die Faktizität erst gesetzt, wenn, was Hegel als Versöhnung behauptet, de facto Versöhnung ist. Darin aber wäre sie absolut ins Recht gesetzt, während andernfalls (die Folgerichtigkeit der Hegelschen Ausführungen weiter vorausgesetzt) der Anspruch, diese in ihrem Recht beurteilen zu können, absolut ins Unrecht gesetzt wäre. Man könnte im zweiten Fall wissen, daß es hier nichts gibt, das als rechtens oder nicht rechtens bestimmt werden kann. Daß sich die Frage, ob der von Mehring an die Phänomenologie des Geistes gerichtete Anspruch überhaupt als ein solcher an diese richten läßt, zum einen an der Vorfrage entscheidet, ob, was Hegel als Versöhnung in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, als solche bestimmt werden kann, läßt dann auch den Einwand problematisch erscheinen, den Walter Jaeschke („Das absolute Wissen“ [194–214]) in der Sache gegen die Verfahrensweise der genannten Beiträge erhebt. Verf. gibt zu Bedenken, Hegel gehöre nicht zu den Autoren, „deren Texte vom Anfang her gelesen werden wollen, weil sie dort ihre Problemstellung entfalten, die sie im folgenden durchführen.“ (195) Weil Hegels Texte auf ein Telos hin angelegt seien, finde sich ihr gedankliches Zentrum vielmehr in diesem „– auch wenn der Weg dorthin keineswegs als überflüssig oder gar als Umweg mißverstanden werden darf.“ (195) Zum Einwand erhebt sich diese Überlegung, weil mit ihr implizit ausgesprochen ist, daß eine Auseinandersetzung mit Hegelschen Überlegungen, die sich auf einzelne Textpassagen stützt, entweder zu früh kommt oder, wie
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Verf. anzudeuten scheint, eine solche Auseinandersetzung streng genommen nur im Rahmen „einer künftigen Bewußtseins- und Philosophiegeschichte der beiden letzten Jahrhunderte“ (214) erfolgen könne. Beidem ist zuzustimmen, sofern es richtig ist, von einem ‚gedanklichen Zentrum‘ in Hegels Denken zu reden. Dem wäre freilich nur so, wenn Hegel mit dem Anspruch aufträte, Kategorien mittels einer dialektischen Methode systematisieren zu können. Hegel tritt aber nicht mit diesem, sondern vielmehr mit dem Anspruch auf, die den Kategorien eigentümliche Dialektik ausweisen zu können. Wenn es überhaupt so etwas wie ein gedankliches Zentrum der Hegelschen Überlegungen gibt, liegt es in diesem Anspruch, der gerade zum Inhalt hat, daß die einzelnen Schritte für sich durchsichtig gemacht werden können müssen. Genau dies eröffnet dann auch die Möglichkeit, Hegel zwar im Allgemeinen zuzustimmen, im Besonderen aber – und damit potentiell auch in der Telosthese – nicht. Hegel, scheint der Einwand zurückzugeben, gehört, ob dieses Anspruchs, glücklicherweise nicht zu den Autoren, die man von irgendwoher lesen muß. Den einzelnen Argumenten wird durch diesen Anspruch der Maßstab eingeschrieben, als entweder absolut richtig oder absolut falsch bestimmt werden zu können. Christine Weckwerth ist, wo sie in „Zur anthropologischen Wendung des Hegelschen Phänomenologie-Konzepts“ (217–244) Feuerbachs Kritik der Hegelschen Bestimmung der sinnlichen Gewißheit kommentarlos wiedergibt, offenbar der Auffassung, Hegel arbeite an diesem Punkt mit falschen Prämissen. Ob Hegel tatsächlich so agiert, muß hier dahingestellt bleiben. Feuerbachs Kritik jedenfalls scheint diesen Einwand nicht begründen zu können. Hegels Text läßt sich unmittelbar entnehmen, daß Hegel keinesfalls „das Seinsgewicht von vornherein ins Allgemeine legt“ (224). Der Tenor des ersten Kapitels der Phänomenologie des Geistes geht entschieden dahin zu zeigen, daß, was in der sinnlichen Gewißheit als bloß Einzelnes behauptet wird, sich als Allgemeines erweist. Der entscheidende Schritt hin zu diesem Resultat liegt in der Behauptung, daß die sinnliche Gewißheit „von dem, was sie weiß, nur dies aus[sagt]: es ist“. (Vgl.: TWA 3, 82.) Ausgehend von dieser Bestimmung des Inhalts der sinnlichen Gewißheit als gegen seine Bestimmungen neutral kann Hegel festhalten, daß dieser Inhalt ein Einfaches ist, „das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses“ (vgl.: TWA 3, 85), um dann darauf hinzuweisen, daß wir ein solches Einfaches ein Allgemeines nennen. Diese Ausgangsbestimmung des Inhalts der sinnlichen Gewißheit bestreitet Verf. offenbar nicht, wenn sie Adornos Kritik, die Philosophie habe ihr Interesse beim Begriffslosen, als der Feuerbachschen vergleichbar bestimmt (225). Hegels These lautet dagegen schlicht, daß sich dieses Begriffslose nicht als begriffslos erhalte. Das Begriffslose kann also nicht einfach gegen Hegel eingeklagt werden, vielmehr müßte gegen Hegel gezeigt werden, daß es sich als solches erhalte. Ob dies gelingen kann, indem man sich an den zweiten von Feuerbach benannten Einwand hält, Hegel betrachte das sinnlich Gewisse je schon in seiner sprachlichen Fixierung, scheint mir u. a. deshalb zweifelhaft, weil sich Hegel offenbar mit dem Nachweis des Unterschiedes zwischen Wesen und Beispiel (vgl.: TWA 3, 83) das Recht zu dieser Darstellung erarbeiten möchte. Ebenso wenig scheint es sinnvoll zu sein, eine Kritik an Hegel auf die dritte der von der Verf.in angeführten Feuerbachschen Thesen wider Hegels Argumentation im Abschnitt über die sinnliche Gewißheit zu stützen. Daß nämlich das wirkliche Ich nur das Ich sei, dem ein
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Du gegenüberstehe, scheint sich zunächst von Hegels These, daß das Selbstbewußtsein an und für sich sei, „indem und dadurch, daß es für ein Anderes und für sich ist“ (vgl.: TWA 3, 145) im besten Fall überhaupt nicht, im schlechten Fall aber darin zu unterscheiden, daß die Frage nach der Genese des Selbstbewußtseins einfach übergangen wird. Damit ist natürlich noch keinesfalls über die von der Verf.in referierte These Feuerbachs entschieden, daß sich Intersubjektivität „nicht erst über das Vehikel des (theoretischen) Ich-Bewußtseins [konstituiere], das in seinem ausschließenden Fürsichsein seine Anerkennung nur kämpfend durchsetzen kann“ (230) – und damit eben auch nicht über das Grundanliegen einer Anthropologisierung der Phänomenologie des Geistes. Dies aber deshalb nicht, weil über diese These nicht (allein) am Anfang derselben, sondern wesentlich entlang der Ausführung des Herr-Knecht-Kapitels zu urteilen scheint. Andreas Arndts Ausführungen („‚… wie halten wir es nun mit der hegel’schen Dialektik?‘“) gelten einem Einwand gegen Hegel, der sich aus Marx’ Kritik an Feuerbach ergibt. Marx richtet sich, wie Verf. zeigt, zunächst gegen jene „Bahnen der Hegel-Kritik, die Hegels Vermittlungsdenken unvermittelte und angeblich unvermittelbare Unmittelbarkeiten entgegenhält“ (250 f.), um dann das Resultat der Phänomenologie des Geistes als einseitig zu bestimmen. Zwar demonstriere die Phänomenologie des Geistes, daß der Mensch als Resultat seiner Arbeit begriffen werden müsse; Hegel sehe aber „‚nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative‘, indem sie das ‚Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäusserung‘ sei.“ (251 f.) Verf. meint, daß sich diese Kritik einer illegitimen „Lektüre der Phänomenologie als historischer Dialektik“ (254) verdanke. Illegitim sei diese Lesart, weil es zwischen der Arbeit des Geistes im allgemeinen und der „Bildung des Individuums, welche Erwerb und Inbesitznahme, also das Sich-Einbilden dessen sei, was der (allgemeine) Geist bereits erworben habe“ (252), zu unterscheiden gelte und Hegel, wo er von der Bildung des Geistes rede, nur letztere meine. Wenn ich richtig sehe, ist diese Unterscheidung, so richtig der Hinweis auf sie ist, nicht geeignet, den Marxschen Einwand zurückzuweisen (sofern er denn ansonsten berechtigt ist): Selbst wenn es Hegel nämlich einzig darum zu tun sei (was mir aus dem vom Verf. bemühten Zitat keinesfalls eindeutig hervorzugehen scheint), „das Sich-Einbilden […] der Resultate der Arbeit des Geistes“ (ebd.) darzustellen, so scheint es mir doch ein ganz und gar unhegelscher Gedanke zu sein, daß wir uns im einzelnen diese Resultate in grundsätzlich anderer Weise aneignen als sie entstanden sind. Illegitim würde eine Lesart der Phänomenologie des Geistes als historischer Dialektik aber offenbar erst dann, wenn – wider die Hegelsche Bestimmung dieses logischen Verhältnisses – eine solche grundsätzliche Diskrepanz vorläge, zwischen dem, was sich im Einzelnen und dem, was sich im Allgemeinen ereignet. Muß es demnach, gegen den Verf., wenigstens auch „um die (historische) Konstitution dieser Resultate“ gehen, wo es „um ihre interne Reproduktion“ (253) geht, wird man die Frage stellen müssen, ob es denn richtig ist, die Arbeit sei nur das Fürsichwerden des Menschen innerhalb seiner Entäußerung. Es stellt sich die Frage, ob denn nun mit Hegel die Dingheit überhaupt als ‚Entäußerung des Selbstbewußtseins‘ gefaßt werden muß, oder ob der Mensch mit Marx „als ein [ ] durch Gegenstände bestimmte[s] und gegenständlich tätige[s] Naturwesen[ ]“ (254) bestimmt werden müsse. Verf. scheint für die zweite Option zu plädieren, wo er zum einen der Marxschen Lektüre „eine Wahrheit“ (ebd.) zuspricht und zum anderen Marx
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zugesteht, gegen Hegel geltend machen zu können, daß das „Bewußtsein (Wissen, Denken) nicht ‚unmittelbar das andere seiner selbst‘ […] sein könne, weil die Gegenständlichkeit keine bloß gedachte sei.“ (255) Es bleibt allerdings zu prüfen, ob dieser Befund, gerade weil Hegel mit den Ausführungen über die sinnliche Gewißheit diesen akzeptieren kann (s.o.), die Marxsche Kritik legitimiert. In einem Sinn gehen die Beiträge die Frage nach der Aktualität der Phänomemologie des Geistes letztlich, wenn auch auf einem Umweg, doch an. In der Beantwortung der Frage, ob Hegel im Recht sei, läßt sich entscheiden, ob es sinnvoll ist, die Phänomenologie des Geistes u. a. heute zu lesen. Dafür spricht, daß die Versuche, Hegels Argumente als falsch zu erweisen, überwiegend nicht überzeugen können. Als erfreuliches Nebenprodukt des Bandes darf darüber hinaus festgehalten werden, daß er die kritischen Punkte in Hegels Argumentation hervorhebt. Es scheint – um der Feuerbach-Marxschen Kritik zu entgehen – sowohl notwendig zu sein, die Differenz zwischen dem, was der Gegenstand des Bewußtseins an sich und dem, was er für es ist, als auch die Beziehung beider deutlicher herauszuarbeiten. An diesen Bestimmungen scheinen sich zuletzt ineins die Fragen zu klären, ob und, wenn ja, inwiefern sich die Gegenständlichkeit zuletzt als kognitive Natur erweist, und ob, und wenn ja, inwiefern deshalb ggf. eine bedingungslose Subsumtion unter eine (darin offenbar als solche sich überhaupt erst konstituieren könnende) sittliche Substanz dennoch ob der Substantialität geboten ist – ungeachtet des Schreckens der Bedingungslosigkeit. Alexander Oberauer (Tübingen)
Markus Kleinert: Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard. Berlin: Walter de Gruyter 2005. 230 S. (Kierkegaard Studies. Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser. Monograph Series 12. Edited by Hermann Deuser) Die Rolle skeptischer Denkformen in Kierkegaards Hegel-Rezeption hat – wie Kleinert zu Recht hervorhebt – in der bisherigen Forschung keine ausreichende Beachtung gefunden. (4) Kleinerts Dissertation schließt diese Lücke. Sie spannt im ersten Teil („Hegels Begriff der Negativität“ [5–58]) den Bogen von seinen Jenaer kritischen Schriften über die Phänomenologie des Geistes bis zur welthistorischen Einordnung der Ironie und verfolgt im zweiten Teil („Die Entstehung von Kierkegaards ‚sich verzehrendem Spektizismus‘“ [59–208]) die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Erbe in Kierkegaards Schriften und Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1837–43. Kierkegaard hat diesen Zeitraum im Rückblick seine „Hegelsche Phase“ genannt. Kleinert gewinnt seine Forschungsperspektive anhand der These des „Ethikers“ in Kierkegaards Entweder/Oder, die Transformation des „wissenschaftlichen Zweifel[s]“, wie er in Gestalt des cartesischen „de omnibus dubitandum est“ der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie zugrunde liegt, in einen „persönlichen Zweifel“, d. h. eine existentielle „Verzweiflung“, sei die entscheidende Voraussetzung für das „Finden des
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Absoluten“. (Vgl.: Kierkegaard: Entweder/Oder. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest. Deutsche Übersetzung von Heinrich Fauteck. München 1975. 633, 768 ff. – Im folgenden: E/O) Kierkegaards Ethiker knüpft hiermit auf der einen Seite an die Bestimmung des Skeptizismus in der „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes an, wonach dieser den Weg des natürlichen Bewußtseins zum absoluten Wissen vorantreibt, „indem er eine Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen zustande bringt“ (vgl.: Hegel: Phänomenologie des Geistes. – In: Ders.: Theorie-Werkausgabe. Werke 3. Frankfurt a. M. 1970. 68; im folgenden: TWA 3); auf der anderen Seite ist jedoch die Gegenüberstellung von „wissenschaftlichem“ und „persönlichem“ Zweifel in Entweder/Oder nach Kleinert als Beleg dafür zu werten, daß Kierkegaard die existenzielle Dimension des „sich vollbringenden Skeptizismus“ in der Phänomenologie des Geistes verkannt habe (209): Auch bei Hegel hat die Zerstörung vermeintlicher Gewißheiten durch den Skeptizismus den Charakter einer – mit Kleinert zu sprechen – „schmerzliche[n] Reinigung“ (179), ohne die niemand „der Fülle der Wahrheit (Unbedingheit) teilhaftig“ (60) werden könne. In solcher „Läuterung“ des Bewußtseins bestehe die existenzielle Funktion des Skeptizismus bei Hegel wie bei Kierkegaard. Kleinert sieht die entscheidende Differenz zwischen beiden Autoren darin, daß der „sich vollendende Skeptizismus“ der Phänomenologie des Geistes in das absolute Wissen einmünde, während „das verwandte Projekt Kierkegaards“ eines „sich verzehrenden Skeptizismus“ zum Sprung in „einen etwaigen Glauben“ (2) motivieren solle. Kleinert erhärtet seine These, der „sich vollendende Skeptizismus“ der Phänomenologie des Geistes sei durchaus existenziell relevant, indem er ihn einerseits an Hegels Jenaer Journal-Abhandlungen anbindet, andererseits zu Hegels Beurteilung der – sokratischen und romantischen – Ironie in den Schriften und Vorlesungen der Berliner Zeit in Beziehung setzt. Der Begriff des „absolute[n] Nichts“ in Hegels Glauben und Wissen (vgl.: Hegel: Jenaer Schriften (1801–1807). – In: Ders.:Theorie-Werkausgabe. Werke 2. Frankfurt a. M. 1970. 410; im folgenden: TWA 2), der einen ontologischen mit einem existenziellen Aspekt verknüpft, zeichnet die Leitlinie von Kleinerts Untersuchung vor (vgl. 25, 58, 113 ff., 179). Beide Aspekte ergeben sich aus der Kritik, die Hegel in Glauben und Wissen an den „Reflexionsphilosophien“ (vgl.: ebd., 431) Kants, Jacobis und Fichtes übt. In ontologischer Hinsicht zielt der Begriff des „absolute[n] Nichts“ auf die „Vernichtung“ (Kleinert) der reflexionsphilosophischen Entgegensetzungen von Subjekt und Objekt, Vernunft und Sinnlichkeit, Sollen und Sein usw., d. h. auf ihr „absolute[s] Aufgehobensein“ in der – von Hegel postulierten – unendlichen „Idee“ (vgl.: ebd., 302, 410 f.). Der Begriff des „absolute[n] Nichts“ gewinnt dadurch eine existenzielle Dimension, daß Hegel den „Reflexionsphilosophien“ eine innere Verwandtschaft mit dem – von ihnen explizit abgelehnten – Eudämonismus unterstellt: Er wirft ihnen vor, sich mit der „Prosa“ der „Endlichkeit“ abgefunden und damit einer Gesinnung Vorschub geleistet zu haben, die sich „guten Gewissens“ in den Unzulänglichkeiten der empirischen Existenz einrichte (vgl.: ebd., 294). Nach Kleinert schließt sich Kierkegaard Hegels Kritik der zeitgenössischen „Reflexionskultur“ voll und ganz an (59, 151, 206 f.). Kleinert vertritt die These, Kierkegaard sehe – wie Hegel – die ‚läuternde‘ Funktion des Skeptizismus in seiner „reflexionsdestruierenden Negativität“ (206).
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Beide Autoren werten – so Kleinert – die (sokratische wie romantische) Ironie als eine „unzureichende Skepsis“ (6): Sie trage zwar auf der einen Seite zum Verlust des „vertrauten Selbst- und Weltverständnisses“ (6) bei – und damit zu der „für jede Läuterung notwendige[n] Vereinzelung“ (71) des Individuums –, auf der anderen Seite verrate sie jedoch ein „Zurückschrecken vor der Gewalt des absoluten Nichts“ (51), da sich das ironische Subjekt dem Schluß von der „Nichtigkeit“ alles Bedingten „auf seine eigene Nichtigkeit“ verweigere, um sich statt dessen selbst, „alles aburteilend“, „zum Absoluten“ (58) zu erheben. Die Konsequenz, mit der Kleinert die Kritik der „Reflexionsphilosophien“ in Hegels Glauben und Wissen zum Leitfaden seiner Interpretation der Hegel-Rezeption Kierkegaards macht, schlägt sich jedoch darin nieder, daß dessen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Begriffspaar „Moralität/Sittlichkeit“ eigentümlich verkürzt wird. (Vgl.: Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. – In: Ders.: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes. 31. Abteilung. Aus dem Dänischen übersetzt von Emanuel Hirsch. 4. Auflage Gütersloh 1998. 232 ff. [Im folgenden: BI]) Gemäß Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift „protestiert“ der Ethiker in Entweder/Oder gegen die „verzweifelten Versuche der verunglückten Hegelschen Ethik, den Staat zur letzten Instanz des Ethischen zu machen“. (Vgl.: Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift. Übersetzt von Hans Martin Junghans. 2 Bände. 3. Auflage Gütersloh 1994. Band 2. 212, Fußn.) Als maßgeblicher Repräsentant der neuzeitlichen Ethik wird in Entweder/Oder Kant genannt (vgl.: E/O, 901). Da aber zugleich Hegels „Bestimmung von Sitten“ als integraler Aspekt des Ethischen anerkannt wird (vgl.: ebd., 821), interpretiert Helmut Fahrenbach die Position des Ethikers in Entweder/Oder dahingehend, sie beziehe „den Bereich der ‚Sittlichkeit‘ ein, ohne daß sie den Standpunkt der Moralität verläßt“. (Vgl.: Helmut Fahrenbach: Kierkegaards existenzdialektische Ethik. Frankfurt a. M. 1968. 171. [Philosophische Abhandlungen. Bd.XXIX]) Wilfried Greve schließt sich der Sicht Fahrenbachs an und untermauert die These, daß sich Kierkegaards Ethiker „weigert“, „den Standpunkt der Moralität aufzugeben“, anhand der Parallelen zwischen Entweder/Oder und Fichtes Die Bestimmung des Menschen. (Vgl.: Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik. Von Entweder/Oder II zu den Stadien. Frankfurt a. M. 1990. 126 ff., 302 Fußn. 82.) Die Deutung Fahrenbachs und Greves stellt den Duktus von Kleinerts Kierkegaard-Interpretation in Frage, da der Standpunkt der „Moralität“ den „Reflexionsphilosophien“ zugehört, die laut Kleinert von Kierkegaard für die „triviale Leere“ der zeitgenössischen Kultur verantwortlich gemacht würden, welche durch den „sich verzehrenden Skeptizismus“ überwunden werden solle (59). Es überrascht daher, daß Kleinert zu Fahrenbachs und Greves Interpretation von Entweder/Oder nirgends Stellung nimmt. Die historischen Bezüge der dort entwickelten Ethik zu Kant, Fichte und Hegel erörtert er nicht näher. Daß Kleinert die Rolle Kantischer und Fichtescher „Moralität“ in Entweder/Oder ausblendet, ist kein zufälliges Versäumnis. Bereits seine Stellungnahme zur Deutung der romantischen Ironie in Kierkegaards Dissertation läßt die Tendenz erkennen, die Ambivalenzen des Textbefunds dem einmal gewählten Interpretationsansatz unterzuordnen. Kleinert weist auf einen Widerspruch in Kierkegaards Beurteilung der romantischen
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Ironie hin (124): Einerseits gibt Kierkegaard Hegel darin Recht, daß in ihr „eine überspannte Subjektivität“ (vgl.: BI, 281) zum Ausdruck komme, andererseits hält er Hegel vor, „die Wahrheit der Ironie übersehen“ (vgl.: BI, 271) zu haben. Am Schluß seiner Dissertation entwirft er das Programm einer „beherrschte[n] Ironie“: Er charakterisiert sie als eine „Reinigungstaufe“ und erklärt sie in diesem Sinne zum „absoluten Anfang“ eines authentischen „persönlichen Lebens“ (vgl.: BI, 331). Es entspricht Kleinerts grundsätzlicher Bewertung der „Reflexionskultur“, der auch die romantische Ironie zuzuordnen ist (vgl.: Vgl.: Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. – In: Ders.: Theorie-Werkausgabe. Werke 7. Frankfurt a. M. 1970. § 140; im folgenden: TWA 7), daß er diese nicht als „Korrektiv“ des Bestehenden gelten läßt (125): „Das großsprecherische Programm der beherrschten Ironie erweist sich“ – so Kleinert – „als undurchführbar.“ (133) Mit seiner Behauptung, dieses Programm werde von Kierkegaard „nicht begründet“ (ebd.), tut Kleinert jedoch dem Textbefund Unrecht. Nach Kierkegaard soll das kritische Potential der „beherrschte[n] Ironie“ dazu anspornen, „die Wirklichkeit zu verwirklichen“, wobei unter „Wirklichkeit“ im Hegelschen Sinne die Manifestation des „Wesen[s]“ in der „Erscheinung“ (vgl.: BI, 333 f.) zu verstehen ist. Kierkegaard schildert die historische Situation, in der die „romantische Schule“ eine „Verjüngung“ der „zu Stein erstarrt[en]“ sozialen Verhältnisse angestrebt habe, folgendermaßen: „Alles war vollbracht und vollendet in einem göttlichen chinesischen Optimismus, welcher kein vernünftiges Sehnen unbefriedigt ließ, keinen vernünftigen Wunsch unerfüllt. Der Sitte und Gewohnheit herrliche Grundsätze und Maximen waren Gegenstand eines frommen Gottvertrauens; alles war unbedingt das Unbedingte selber […]. Alles ging seinen geruhsamen, seinen abgezirkelten Gang, selbst der, welcher auf Freiersfüßen ging; denn er wußte ja, er ging in gesetzlicher Sache und tat einen höchst ernsthaften Schritt. […] Man verheiratete sich, man lebte für sein Hauswesen und seine Stellung im Staat; man bekam Kinder, bekam Familiensorgen, man stand in voller Manneskraft, wurde höheren Orts bemerkt in seiner segensreichen Tätigkeit […].“ (Vgl.: Ebd., 309 f.) Verknüpft man die unübersehbaren ironischen Anklänge an Hegels Begriff des „sittlichen Gemeinwesens“ in dieser Textpassage mit Kierkegaards Vorwurf, Hegel habe „der Ironie Unrecht getan“ (vgl.: ebd., 271), kann man dem Programm der „beherrschte[n] Ironie“ einen präzisen Sinn abgewinnen: Sie soll das Bewußtsein für die Diskrepanz von „Wesen“ und „Erscheinung“ in den „endlichen sozialen Verhältnissen“ (vgl.: ebd., 333) wach halten und auf diese Weise verhindern, daß Hegels Diktum: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (vgl.: TWA 7, 24) als Apologie des Bestehenden dient – wobei Hegel einem solchen Mißverständnis in der „Vorrede“ zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts selber Vorschub geleistet hat. Da in Kierkegaards Dissertation die „Wirklichkeit“ einerseits als „Gabe“, andererseits als vom Subjekt zu ergreifende „Aufgabe“ (vgl.: BI, 281) bestimmt wird, lassen sich seine widersprüchlichen Äußerungen zur romantischen Ironie als Ausdruck eines Ringens um eine Vermittlung der Hegelschen „Sittlichkeit“ mit einer reflexionsphilosophischen „Moralität“ auffassen. Kleinerts Interpretationsansatz führt auch in bezug auf Entweder/Oder zu fragwürdigen Resultaten. Nach Kleinert will Kierkegaard durch „die wechselseitige Disqualifizierung“ der gegensätzlichen Standpunkte des Ästhetikers und Ethikers, auf die der
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Titel des Buches anspielt, „zu einer radikalen und dauerhaften Verunsicherung der eigenen Gewißheiten“ (206 f.) beitragen: Das Buch verschaffe auf diese Weise dem „absoluten Nichts“ (207) im Sinne „der jedes Entweder-Oder destruierenden Negativität“ (183) Geltung. Die Formel „Entweder-Oder“ kennzeichnet in Hegels Glauben und Wissen das reflexionsphilosophische Denken in Polaritäten (vgl.: TWA 2, 411). Der Ethiker in Entweder/Oder wendet diese Formel kritisch gegen Hegels Geschichtsphilosophie (vgl.: E/O, 725 f.) – was die These Fahrenbachs und Greves stützt, daß er den Standpunkt der Moralität restituiert. Der Ästhetiker betreibt hingegen ein ironisches Spiel mit dieser Formel (vgl.: ebd., 49 ff.), welches Kleinert – zu Recht – als Attacke auf „die Reflexionskultur“ (188 f.) wertet. Kleinerts These, in Entweder/Oder solle „die Bedeutung des die Reflexion überwindenden absoluten Nichts“ (207) durch „die wechselseitige Disqualifizierung“ (206) der dargestellten Standpunkte vor Augen geführt werden, steht jedoch in offenem Widerspruch zu einer Tagebuchnotiz Kierkegaards, dergemäß der Ethiker in seiner Auseinandersetzung mit dem Ästhetiker „unbedingt siegreich“ ist. (Vgl.: Sören Kierkegaard: Die Tagebücher. Zweiter Band. Ausgewählt, neugeordnet und übersetzt von Hayo Gerdes. – In: Ders.: Gesammelte Werke. Düsseldorf/Köln 1963. 9.) Kleinert kann somit seine Interpretationslinie nur um den Preis durchhalten, daß er ein zentrales Theorem der Dissertation Kierkegaards – das der „beherrschte[n] Ironie“ – verwirft und eine Kernaussage des Autors über Entweder/Oder ignoriert. Smail Rapic (Köln/Kopenhagen)
Jon Stewart: Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered. Cambridge: Cambridge University Press 2003. XIX, 694 S. (Modern European Philosophy) Wie der Titel besagt, hat sich Jon Stewart in Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered vorgenommen, das Verhältnis Kierkegaards zu Hegel zu überdenken. Daß dieses Verhältnis einer erneuten Bearbeitung bedarf, zeigt Stewart zu Beginn seiner Untersuchung. Niels Thulstrup hat in den späten 60er Jahren mit zwei großen Studien über das Verhältnis Kierkegaards zu Hegel ein Paradigma geschaffen, welches die Forschungsdiskussion in der englischsprachigen Literatur entscheidend geprägt hat. Dieses Paradigma, Stewart bezeichnet es als „standard view“ (14), besagt, Hegels und Kierkegaards Denken hätten nichts gemeinsam, und Kierkegaard habe sein Denken aus einer absoluten Opposition gegen Hegel entwickelt. Derart gegenübergestellt gilt Hegel dann als systematischer, rationaler Denker der Objektivität und Kierkegaard als unsystematischer, irrationaler, auf Subjektivität und die Existenz des Einzelnen gerichteter Denker. Bei genauerer Kenntnis beider Philosophen ist offensichtlich, daß derartige Stereotypen weder dem Denken Hegels noch demjenigen Kierkegaards auch nur annährend gerecht werden können. Zentrale Texte Kierkegaards enthalten oberflächlich betrachtet eine ständige Polemik gegen Hegel, so daß man schlicht davon ausgegangen ist, Kierkegaards Hauptanliegen bestehe darin, die Philosophie Hegels zu bekämpfen: „If there was disagreement or discussion, then it was about the details, […], but the presumed
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fact about his (Kierkegaards, C. E.) overall anti-Hegel campaign remained unquestioned.“ (14) Stewart hingegen möchte zeigen, daß Kierkegaards Kritik nicht gegen Hegel, sondern vor allem gegen seine Zeitgenossen gerichtet ist. Anstatt die Texte Kierkegaards lediglich mit denen Hegels zu konfrontieren, untersucht Stewart primär den eigentlichen historisch-philosophischen Kontext, in dem Kierkegaards Werk entstanden ist: die philosophische, theologische und kulturelle Diskussion in Kopenhagen. Stewart skizziert kurz die Wirkung Hegels in Deutschland (45 ff.) und zeigt, wie Hegels Denken dann Eingang in Dänemark gefunden hat und von verschiedenen Denkern aufgenommen worden ist. Für die dänische Hegelrezeption sind zwei Figuren von besonderer Bedeutung: zum einen Johann Ludvig Heiberg (1791–1860), Literat, Theaterkritiker und wahrscheinlich die wichtigste Persönlichkeit des kulturellen Lebens in Kopenhagen. Heiberg hat mehrere Aufsätze veröffentlicht, in denen er sich zum Ziel gesetzt hat, die Philosophie Hegels in Dänemark auch außerhalb rein philosophischer Diskussionen bekannt zu machen (50 ff.). Kierkegaard ist zunächst bemüht gewesen, Heibergs Gunst zu erwerben und Zugang zu dessen kulturellem Zirkel zu finden. Nach einer ablehnenden Rezension Heibergs von Kierkegaards Entweder/Oder hat sich die anfängliche Bewunderung aber in offene Feindschaft gewandelt. Die andere wichtige Figur ist Hans Lassen Martensen (1808–1884), der zu Kierkegaards Studienzeit an der Universität in Kopenhagen Theologie und Philosophie gelehrt hat und später als Bischof von Kopenhagen Hauptangriffspunkt von Kierkegaards Kirchenkampf geworden ist (58). Während sich Heiberg neben Hegels Logik vor allem mit ästhetischen und geschichtsphilosophischen Themen befaßt hat, hat die Hegelrezeption Martensens und vieler anderer in einem explizit theologischen Kontext stattgefunden. Stewart legt in seiner Darstellung der dänischen Hegelrezeption Wert darauf, daß diese zum einen keine homogene Denkschule bildet, zum anderen, daß es diesen Denkern weniger um eine werkimmanente Hegelrezeption, sondern um eine produktive Aneignung für die jeweilige philosophische oder theologische Position gegangen sei. Stewart stellt die These auf, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel könne nicht eindimensional als ein bloß negatives oder positives charakterisiert werden. Im Gegensatz zum „standard view“ gehe es ihm vor allem darum zu zeigen, daß Kierkegaard auch positiv von Hegel beeinflußt worden sei. Weiterhin meint Stewart, Kierkegaards Schaffen lasse sich in bezug auf das Verhältnis zu Hegel in drei Phasen aufteilen: Die erste Phase umfasse Kierkegaards Erstlingsschriften sowie seine Dissertation Der Begriff der Ironie und Entweder/Oder. Das Ende dieser Phase werde mit Die Wiederholung eingeleitet und in Furcht und Zittern vollzogen. Stewart konstatiert, Hegels Einfluß auf Kierkegaard sei in dieser Phase ein rein positiver. In der Dissertation wird Hegel häufig zitiert, und viele Konzepte und Interpretationen aus Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie werden von Kierkegaard offen übernommen. Stewart kommt zu dem Schluß, Der Begriff der Ironie könne als Kommentar zu Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie verstanden werden (132 ff., 180 ff.) Auch in Entweder/Oder fänden sich solch deutliche Anlehnungen an Hegel, etwa an dessen Interpretation der Antigone (218 ff.).
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Heibergs Kritik von Entweder/Oder und die zunehmende Vereinnahmung der Hegelschen Philosophie durch Martensen leiten die zweite Phase ein, in der es zu Kierkegaards bekannter Polemik gegen Hegel kommt. Diese Phase umfasse die Schriften Furcht und Zittern, Philosophische Brocken, Der Begriff Angst, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift und Das Buch über Adler. Der Analyse der Kierkegaardschen Texte stellt Stewart stets auch eine kurze Darstellung der vermeintlich kritisierten Aspekte der Hegelschen Philosophie gegenüber. Des Weiteren bezieht er Tagebuch- und Journaleinträge mit ein, in denen Kierkegaard im Gegensatz zu seinen veröffentlichten Werken offen das Ziel seiner Polemik angibt. Zusammen mit der Analyse zentraler Texte der Zeitgenossen wird hierbei deutlich, daß nicht Hegel, sondern Heiberg, Martensen und andere kritisiert werden. Tatsächlich findet sich kein Hinweis, daß Kierkegaard in seinen Arbeiten dieser Phase überhaupt Bezug auf die Hegelschen Primärtexte nimmt. Kierkegaard polemisiert in dieser Phase z. B. immer wieder gegen die Unabgeschlossenheit des Systems. Während es schwierig ist, eine solche Kritik auf Hegel selber anzuwenden, trifft sie auf Kierkegaards Zeitgenossen eindeutig zu. So hat Heiberg ein System der Logik begonnen und die ersten 23 Paragraphen auch veröffentlicht, die angekündigte Fertigstellung ist jedoch nie erfolgt (427 ff., 461). Die dritte Phase sei dadurch gekennzeichnet, daß Kierkegaards Polemik gegen die Spekulation verstumme. Diesen Umstand sieht Stewart vor allem darin begründet, daß die Diskussion um die Philosophie Hegels in Dänemark nach 1846 an Bedeutung verloren habe. Die einzige Ausnahme in dieser letzten Phase sei Die Krankheit zum Tode. In diesem Werk lasse sich ähnlich wie in Der Begriff der Ironie eine positive Bezugnahme auf Hegel und eine Übernahme von Methode und Terminologie feststellen. Nach Stewart sei dies nur möglich, weil Kierkegaard sich nicht mehr von den Zeitgenossen als Anti-Hegelianer hat abgrenzen müssen (550). Wie die Analyse zeigt, kann Kierkegaards Verhältnis zu Hegel nicht auf eine Position reduziert werden. Stewart schlägt vor, von verschiedenen Beziehungen zu sprechen, die nicht pauschal, sondern im Kontext des jeweiligen Werks differenziert zu bewerten seien (615). Letztlich zieht er die Konsequenz, das Bild Kierkegaards als Anti-Hegelianer, wie überhaupt seine Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie im 19. Jahrhundert sei völlig neu zu bewerten. Dabei geht er von einer Auffassung der Philosophiegeschichte aus, in welcher Hegel als Begründer einer rationalistischen Tradition gilt, welche über Marx, den Strukturalismus bis hin zu Habermas führt (619). Demgegenüber steht eine Tradition der Rationalitätskritik von u. a. Kierkegaard, Nietzsche, Freud, Sartre bis hin zu Derrida (620). Stewart bedient sich dieses Geschichtsverständnisses jedoch nur, um es sogleich zu kritisieren. Denn wie seine Studie gezeigt hat, stehen Hegel und Kierkegaard nicht in einer derart radikalen Diskontinuität (622), wie die zuvor skizzierte Auffassung annehmen muß. Eine genaue Darstellung der Kontinuität zwischen Hegel und Kierkegaard sieht Stewart als Aufgabe zukünftiger Untersuchungen (631). Solange aber schlägt er vor, den Unterschied zwischen Kierkegaard und Hegel dadurch zu erklären, daß beide Denker völlig unterschiedliche intellektuelle Projekte verfolgten (633). Während Hegel das Programm einer Philosophie als wissenschaftliche Analyse abstrakter Begriffe verfolge (641, vgl. auch 369 f.), gehe es Kierkegaard um den Glauben des Einzelnen, der sich einer wissenschaftlichen Analyse entziehe. Dement-
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sprechend sollte Kierkegaards Projekt nicht mehr als ein philosophisches verstanden werden. Stewart schreibt: „[…] he was not a philosopher in the nineteenth-century sense of the term […].“ (641) Die den größten Teil des vorliegenden Bandes ausmachende Textanalyse erlaubt es dem Leser, genau zu verfolgen, wie sich Kierkegaards Verhältnis zur Philosophie Hegels – vor allem aber zur dänischen Hegelrezeption – im Verlauf seiner schriftstellerischen Arbeit entwickelt hat. Hierbei wird deutlich, daß die bekannte Anti-Hegel-Polemik nicht (nur) gegen Hegel gerichtet gewesen ist. Die Herstellung eines unmittelbaren Bezugs dieser Polemik auf Hegel findet sich auch unabhängig von den beiden Studien Thulstrups, die Stewart zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht. Schon in den Kommentaren der heute (noch) maßgeblichen deutschen Kierkegaard-Übersetzung Emanuel Hirschs oder z. B. in Adornos Konstruktion des Ästhetischen führt dieser Bezug zu den sonderbarsten Interpretationen. Entweder unterstellt man Kierkegaard ein völlig defizitäres Hegelverständnis und weist so Kierkegaards Angriff auf die Spekulation als völlig haltlos zurück, oder man entwirft ein der Kierkegaardschen Polemik folgendes Hegelbild, welches so gut wie nichts mit dem tatsächlichen Gehalt der Hegelschen Philosophie zu tun hat. Stewarts Studie muß daher als bahnbrechende Vorarbeit zu jeder weiteren Beschäftigung mit dem Thema angesehen werden. Erst wenn die oberflächlich vorhandene Polemik gegen Hegel als Polemik gegen die Zeitgenossen erkannt wird, wird verständlich, daß Kierkegaard unter dem Etikett des „Hegelianismus“ und der „Spekulation“ nicht Hegel, nicht die Metaphysik, sondern seine Zeitgenossen und damit die moderne Wissenschaft und den modernen Menschen kritisiert. Wie stark auch noch das späte Denken Kierkegaards von Hegel beeinflußt ist, zeigt sich im Kapitel über Die Krankheit zum Tode deutlich, wenn Stewart einen Journaleintrag zitiert, in dem Kierkegaard einen Bezug des Werks zum Thema des „unglücklichen Bewußtseins“ in Hegels Phänomenologie des Geistes herstellt (579). Stewarts abschließende Sicht auf die Philosophiegeschichte und seine Einschätzung, Kierkegaard sei kein Philosoph, wirft jedoch die Frage auf, warum man sich als Philosoph überhaupt noch mit Kierkegaard beschäftigen sollte. Obwohl Stewart zu Beginn noch Hegels bekannte Aussage zitiert, die Philosophie habe denselben Inhalt wie die Religion, wird in der abschließenden Bewertung ein absoluter Unterschied zwischen Philosophie und Religion eingefordert. Ein anderer Blick auf die Philosophiegeschichte könnte jedoch auch eine andere Perspektive auf dieses Problem eröffnen. Wenn man Hegel als Abschluß der abendländischen Metaphysik betrachtet, so erscheinen die nachfolgenden Philosophien der Moderne als disparate Versuche, nach diesem Abschluß – und damit dem Verschluß der Möglichkeit einer Metaphysik überhaupt – weiter zu philosophieren. Hierbei wird nicht nur für Kierkegaard der Begriff der Philosophie selber fraglich. Doch während in den wesentlichen philosophischen Diskursen der Moderne das Thema der Religion als ein Thema der alten Metaphysik ausgeschlossen wird, richtet Kierkegaard sein gesamtes Denken auf die Religion und steht damit in einer Kontinuität mit Hegel und der Metaphysik wie kaum ein anderer Denker. Obwohl Stewart den positiven Einfluß Hegels auf Kierkegaard herausstellen möchte, zieht er genau an diesem Punkt die Grenze. Tatsächlich stimmt Kierkegaards Kritik der Spekulation aber mit dem Denken Hegels
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überein, denn Hegel hat gezeigt, daß mit den Mitteln positiver Wissenschaft keine adäquate Behandlung religiöser Gehalte möglich ist. Kierkegaard kämpft gegen eine Aneignung der Philosophie Hegels, die genau das versucht und Hegels Denken für die Zwecke einer theologischen Dogmatik zur Position erstarren läßt. Wenn Stewarts Betonung der Unterschiedlichkeit der intellektuellen Projekte eine Loslösung Kierkegaards von Hegel bewirkt und so für die Kierkegaardforschung einen neuen Blick auf das Denken Kierkegaards eröffnen kann, so bleiben für die Philosophie doch die drängenden Fragen, die Kierkegaard, abzüglich aller oberflächlichen Polemik, an das System Hegels gestellt hat. Aus Sicht der endlichen Subjektivität ist die sich aus der ontologischen Ambivalenz des Systems ergebende, und in der Moderne ins Zentrum der Philosophie rückende Nachtseite des Begriffs nicht einfach nur das Begriffslose, sondern immer auch das noch nicht Begriffene, welches es zu begreifen gilt. Christian Engelhardt (Köln)
Konrad Utz: Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der „Wissenschaft der Logik“. Zürich: Schöningh 2001. 327 S. Utz’ Studie ist aus seiner 1997 in Tübingen vorgelegten Dissertation entstanden. Angesichts des Titels hätte man eher eine Auseinandersetzung mit dem Problem des Zufalls aus Hegels Wesenslogik erwartet; auch nach Dieter Henrichs vorzüglichem Aufsatz (vgl.: Hegels Theorie über den Zufall. – In: Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. 157–186) zu dem Thema ist dies noch ein Forschungsdesiderat. Doch Utz geht es darum nur am Rande (188–200); er beschäftigt sich mit der Notwendigkeit des Gedankengangs in der Abfolge der Denkbestimmungen innerhalb der spekulativen Logik Hegels, und das bedeutet: mit der vielfach verhandelten Methode der Dialektik in der Logik. Die Logik erhält nach Utz ihre „innere Notwendigkeit“ im voraussetzungslosen Fortschreiten von einer Gedankenbestimmung zur nächsten (17). Die Studie hat eine „Einleitung“ und vier „Teile“, deren erste drei sich nach den Stufen der dialektischen Methode in „Anfang“ (23–62), „Fortgang“ (63–200) und „Resultat“ (201–296) ergeben; dem abschließenden Kapitel „Zufall“ (297–318) folgen Literaturverzeichnis und Personenregister. In der Einleitung stellt Utz die (von Hegel unabhängige) These auf, daß dort, wo Ordnung und Notwendigkeit auftreten, sich gleichfalls Unbestimmtheits- und Unfundiertheitsmomente einstellen, welche Utz mit der Zufälligkeit identifiziert (13). Der Zufall manifestiere sich in den Voraussetzungen, die „fast jeder“ (14) Notwendigkeit zugrunde lägen. – Hier kann zum Ersten kritisiert werden, daß, wenn „fast jede“ Notwendigkeit eine Voraussetzung impliziert, nicht gefolgert werden darf, daß damit der Zufall dem Notwendigen notwendig ist; das wäre er nur, wenn jede Notwendigkeit Voraussetzungen implizierte; und zum Zweiten kann kritisiert werden, daß dieser Begriff von Voraussetzungsbelastung der Notwendigkeit nicht mit der Zufälligkeit des Notwendigen identifiziert werden darf, denn wenn etwas eine Voraussetzung hat, be-
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weist dies zunächst nur, daß es nicht als Erstes oder als Ursprung angenommen werden darf; zugleich aber auch, daß es in etwas anderem begründet ist und damit nicht mehr als zufällig angesehen werden darf, denn was begründet ist, das ist nicht notwendigerweise zufällig. Wenn man in Orientierung an Hegel den Zufall als aus fünf Komponenten – a) unmittelbare Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit, b) Formalität, c) Begründetheit in äußerlich Anderem, d) was zufällig ist, könnte auch anders sein, und e) Zersetzung (was zufällig ist, kommt zu Fall) – zusammengesetzt betrachtet, dann ist das, was sich auf eine Voraussetzung zurückführen läßt, nicht mehr grundlos, kann nicht unbedingt auch anders sein und auch nicht notwendigerweise sich selbst zersetzend. Damit erfüllt es drei Kriterien von Zufälligkeit nicht. Gegen das Problem der Zufallsbelastetheit von Ordnung und Notwendigkeit setzt Utz das Konzept „innerer Notwendigkeit“, das er in paradigmatischer Weise in Hegels Logik findet. Hegels Vermittlung von Denkbestimmungen vermittels der Dialektik bilde eine innere, sich aus sich selbst heraus begründende Notwendigkeit, die die Wissenschaftlichkeit der Logik garantiert; insofern strebe diese Notwendigkeit eine Voraussetzungslosigkeit an. Utz definiert Dialektik in einer ersten Annäherung: „Dieses Entstehen von Bestimmung durch Gegenübersetzen unter Verzicht auf einen absoluten, i. e. seinerseits wiederum relational bestimmten Referenzpunkt, ist Dialektik im weitesten Sinn […].“ (15) Dieses Dialektikverständnis ist tatsächlich sehr weit – um nicht zu sagen: vage – und trifft ebenso auf ein materialistisches, idealistisches wie auch platonisches Dialektikverständnis zu. In Utz’ Verständnis setzt die ausschließlich durch Dialektik zu generierende Ordnung den Zufall in fundamentaler Weise voraus. Henrichs Aufsatz: Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in die „Wissenschaft der Logik“ (1976), ist zentrales Vorbild für Utz (19). An den oft barsch ablehnenden und etwas rüde klingenden Ton in den Fußnoten der Studie wird sich der eine oder andere Hegel-Forscher erst gewöhnen müssen. Utz will nicht das historische Umfeld der Logik Hegels oder die Entwicklungsgeschichte berücksichtigen, vielmehr soll durch den Textbezug „interpretativ“ die Notwendigkeit der Logik nachgezeichnet werden (21). Der erste Teil „Anfang“ untersucht den Beginn logischen Denkens. Dort stellt der Autor die Voraussetzungslosigkeit des nur mit dem Denken befaßten Denkens dar. Utz sieht darin eine „reine Selbstvorgabe und Selbstvorhabe des Denkens“ (26), und daraus sei zu entwickeln, daß das Denken sich als objektiv verstehen dürfe, in dem Sinne, daß diese Wissenschaft ihren Gegenstand (d. h. das Denken) voraussetzen müsse. Die Logik könne ihren Gegenstand nicht selbst erzeugen oder beweisen (ebd.; ähnlich 33, Fußn. 25: „[…] das Denken soll sich nicht selbst erschaffen, rein sich selbst als Denken überhaupt hervorbringen“; vgl. ebenso 48 f.). Dagegen ist zu sagen, daß genau das in Hegels Logik der Fall ist, denn das Denken erschafft sich im Vollzug der Logik seinen eigenen Gegenstand, d. h., das Denken sieht sich in seiner Selbstgenerierung zu. (Vgl.: GW 20, § 17.) Würde das Denken vorausgesetzt, wäre die von Utz zu Recht geforderte, an die Notwendigkeit zu knüpfende Voraussetzungslosigkeit nicht gewahrt. Utz führt aus, daß in dem reinen Denken und in der Voraussetzungslosigkeit die Selbstbezüglichkeit des Denkens enthalten sei (28 ff.). Jedoch kann man hier einwenden, daß eine Selbstbezüglichkeit nicht aus dem bloßen Begriff des Denkens folgt
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und auch in der Unmittelbarkeit des Anfangs nicht enthalten ist. Utz vermengt zwei Aspekte des reinen Denkens: Nämlich einerseits, daß es mit sich allein und z. B. nicht mit Anschauungen oder Sinnesempfindungen beschäftigt ist, und das Bei-sich-selbstSein. Bei-sich-Sein als Sich-auf-sich-Beziehen und Allein-Sein sind jedoch zwei unterschiedliche Aspekte. Das Denken muß sich nicht notwendigerweise selbst thematisieren, wenn es vollzogen wird. So kommt z. B. Freges Urteilstheorie ohne Selbstbezüglichkeit des Denkens aus. Wenn Utz schreibt: „Diese Selbstbezüglichkeit hat noch nicht irgendein Ergebnis, sie begründet nichts und beweist nichts. Sie ist allein Kondition der Wissenschaftlichkeit der WL“ (29 f.), ist man irritiert, warum die Selbstbezüglichkeit des Denkens dann überhaupt erst thematisiert wurde; es scheint auch widersprüchlich, wenn sie a) nichts beweist und b) Kondition der Wissenschaftlichkeit ist. Hegel selbst behauptet auch nicht, das reine logische Denken sei bereits in seiner Anfangsphase selbstbezüglich, daher schreibt er dem Sein einfache Sichselbstgleichheit zu, und aus dieser entwickelt sich allererst Selbstbezüglichkeit. Daher beginnt nach Hegel innerhalb der Logik die Subjektivität – sprich Selbstbezüglichkeit – erst mit dem „Dasein“. (Vgl.: GW 21, 103.) Utz beschreibt auf einer allgemeinen Ebene, wie das reine Denken in der Logik fortschreitet (23–112). Hier werden die Unbestimmtheit des Anfangs, die bestimmte Negation, der Widerspruch und die Negation der Negation sowie die Aufhebung besprochen. – An diesem Vorgehen kann kritisiert werden, daß man die Notwendigkeit in der Logik Hegels nur dadurch feststellen kann, daß man schrittweise bei jeder einzelnen Denkbestimmung/Kategorie untersucht, ob dort jeweils ein notwendiger Gedankengang vollzogen wurde oder ob sich Fehlschlüsse eingeschlichen haben. In den drei verschiedenen Teilen der Logik kommen jeweils auch spezifische Denkmethoden zur Anwendung, die sich auf den Grad der Vermitteltheit beziehen, den die jeweiligen Denkbestimmungen erreicht haben. So gibt es in der Seinslogik eine Übergangs-, in der Wesenslogik eine Reflexions- und in der Begriffslogik eine Entwicklungsdialektik. (Vgl.: GW 20, § 240.) Es gibt in Hegels Logik eine sich kontinuierlich differenzierende Denkbewegung, der man nicht durch eine Abstraktion auf die gemeinsamen Merkmale gerecht werden kann; dies wäre in Hegels Sicht ein bloß verständiges Vorgehen. Diese Schwierigkeiten deutet der Autor zwar selbst kurz an (110), doch man fragt sich, weshalb er dann 100 Seiten über eine generelle Denkstruktur schreibt und auch im zweiten Teil der Studie bei der Untersuchung der absoluten Idee wieder nur allgemeine Merkmale der Methode herausstellt. Zu Recht hebt Utz hervor, daß der Widerspruch das Zentrum der Dialektik bildet. Unverständlich ist, wie er versichern kann, daß sich Hegel mit der Denkrichtigkeit des Widerspruchs „in keiner Weise von den Grundsätzen allgemeiner Logik“ unterscheidet; man dürfe sich „hier nicht verwirren lassen durch Hegels Insistieren auf dem Widerspruch“ (97). Hegel insistiert doch u. a. deswegen auf dem Widerspruch, weil er mit dessen Denknotwendigkeit die formelle Logik überwunden sah. Im Rahmen der ersten Kritik Utz’ an Hegel (113–146), die sich nicht immer einer schulmeisterlichen Belehrung Hegels enthält, stellt sich die Schwierigkeit ein, daß sich diese Kritik auf jenes im ersten und zweiten Teil der Studie dargelegte, allgemeine Denkkonzept Hegels richtet, das dieser in dieser Form nicht aufgestellt hat, so daß man
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häufig sagen muß, daß die Kritik zwar schön ist, Hegel aber nicht trifft. Eine Leseprobe zur Dialektik des Widerspruchs mag belegen, daß Utz’ Kritik auch nicht immer die wünschenswerte Klarheit besitzt: „Der Widerspruch des Negativen, das mit seinem Gegenteil identisch ist, soll also aufgehoben sein in das Differenzieren des Ganges, der zugleich, da seine Glieder mit innerer Notwendigkeit verbunden sind, den behaupteten unbedingten Zusammenhang von Positivität und Negativität bewahrt. Die zunächst widersprüchliche Identitätsbehauptung stellt sich nun in Kohärenz dar. Das Negative und das Positive sind eindeutig voneinander geschieden durch die erste Negation[,] und sie sind unbedingt in eins in der notwendig folgenden Aufhebung.“ (114) Dem Rezensenten erschloß sich nicht, ob es sich hierbei um Hegeldarstellung oder -kritik handelt und, sollte es Kritik sein, worin das Problem besteht. Dasselbe gilt für einen Satz wie: „Im Transzendieren der Propositionalität liegt das Erfordernis der Reflexion der Proposition selbst auf ihr Transzendental.“ (228) Eine Kritik Utz’ besagt (116), es sei in bezug auf Hegels Konzept der bestimmten Negation problematisch, woher die Bestimmtheit komme. Nach Utz gibt es zwei Alternativen: a) Die Bestimmtheit wohnt der Negation bereits in ursprünglicher Weise inne; dann sei aber nicht klar, weshalb man den die einzelnen Gedankenschritte nacheinander vollziehenden Gang der Wissenschaft der Logik noch braucht, dann müßte vielmehr mit dem ersten Auftreten des Gedankens einer Negation auch schon sämtliche folgende Bestimmtheit mitbekannt sein. b) In der Negation ist die Bestimmtheit selbst noch nicht präsent; dann müßte nach Utz der Negation die Bestimmtheit von außen zukommen, und das heißt für ihn konsequent, daß sie nur zufällig ist. Dies ist in Utz’ Sicht eine fundamentale Schwierigkeit der Logik Hegels. Doch ist die Alternative a) der Weg der Logik Hegels, und die von Utz gesehene Schwierigkeit stellt sich dort nicht. Es stellt keine Unsinnigkeit dar, wenn konzipiert wird, es gebe latente Bestimmungen, die in einer Negationsbestimmung schon mitenthalten seien, und daß allererst in einer geordneten Folge zu explizieren sei, was eigentlich am Anfang des Bestimmungsprozesses gesetzt war. Der Prozeß wird dadurch nicht unnötig; er besteht in einem „making it explicit“; daran wird deutlich, daß Prozessualität dem Denken notwendig ist, um Bestimmtheit zu generieren. Utz kritisiert auch, daß die bestimmte Negation unmittelbar sein müsse, weil anderenfalls deren Notwendigkeit und die Unbedingtheit durch Äußeres nicht gewährleistet sei (121 f.). Utz folgert daraus eine „Doppelung“ der Unmittelbarkeit, denn einerseits solle das Unmittelbare, auf das sich die Negation beziehe, unmittelbar sein, und andererseits solle die bestimmte Negation unmittelbar sein. Utz nennt dies „transzendentale Differenz“. Es handelt sich um eine Differenz, weil es zwei verschiedene Unmittelbarkeiten sind; weshalb diese „transzendental“ sein soll, erschließt sich aus den Ausführungen nicht. Dies ist ein künstlich konstruiertes Problem, das sich bei Hegel nicht stellt, weil die bestimmte Negation für ihn nicht unmittelbar, sondern natürlich vermittelt ist, nämlich durch die Position, auf die sie sich bezieht; dadurch wird die Negation aber auch nicht zufällig. Zudem ist Utz’ Terminologie der „Eintragung“ (ebd.) einer Grunddifferenz unklar; was bedeutet „Eintragung“? Wenn dies besagt, daß sich Denken wesentlich dadurch auszeichnet, daß es Unterschiedenheit impliziert, dann ist dies eine korrekte Feststellung, die Hegels Ansicht über das Denken wieder-
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gibt und die nicht sinnvoll bestritten werden kann; ohne Differenz – hier nicht i. S. Derridas – kein sinnvolles Denken. Utz versteht den Zufall als das, was einer Bestimmung „zufällt“ (122 f.); also in dem Sinne, daß ihr etwas zukommt, was nicht in ihr selbst liegt. Das ist jedoch ein anderes und weiteres Verständnis von Zufall, als es bei Hegel selbst und in der Tradition, bei Aristoteles, Leibniz oder Kant, gängig ist. Utz’ Bestimmung des Zufalls als das, was einer Entität zukommt, ist nicht aussagekräftig, denn auch einer notwendigen Entität kann etwas zukommen. Nach Utz ist Denken, sofern es sich bestimmter Negation bedienen muß, immer kontingent (146). Sofern jedoch unter Kontingenz das Zukommen zu verstehen ist, wird damit nicht so viel gesagt, wie es zunächst klingt. Würde man es im traditionellen Verständnis oder auch in Hegels Verständnis von Zufall oder Kontingenz begreifen, wären hochproblematische Konsequenzen die Folge, denn die Logik (sowohl Hegels spekulative als auch die moderne, mathematisierte sowie die traditionelle Logik) könnte keinen Anspruch mehr auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit erheben. Im Anschluß an diese Hegel-Kritik entfaltet Utz seine Analyse der dialektischen Methode in der Logik weiter. Er geht auch hier davon aus, daß es in Hegels Logik eine einfache, durchgängige Methode gibt. Diese identifiziert er nun mit der Dialektik, wie Hegel sie in der absoluten Idee am Ende der Wissenschaft der Logik entwirft (147–179). Dabei handelt es sich um eine „formelle Rekonstruktion“, d. h. Utz versucht, die Dialektik der absoluten Idee von ihren inhaltlichen Komplexionen zu reinigen – schade –, um nur die allgemein in der Logik durchgängig zu findende Methode zurückzubehalten. Die Methode müsse einfach sein, um die Anforderung der Notwendigkeit zu gewährleisten (151 f.). Warum eigentlich? Warum sollte nicht auch ein hoch komplexes und in sich vermitteltes Gebilde notwendig sein können? Dies ist doch am Ende der Logik viel eher Hegels Methodenkonzept. Utz reduziert die Dialektik zu einem unvermittelten, blutleeren Skelett, wenn er sie auf die Merkmale: „Unmittelbarkeit“, „Vermittlung“ und „Aufhebung“ beschneidet. Gleichwohl versichert der Autor, die Dialektik sei „neunstellig“ (156, 167 ff.). Thomas Kesselring hatte eine sechsstellige Struktur der Dialektik ausgemacht. Wenn die Hegel-Forschung noch einige Studien abwartet, wird man es sicherlich noch auf eine zweistellige Anzahl von Schritten der Dialektik bringen. Angesichts der Äußerung Hegels, daß die qunantifizierende Zählerei unnötig sei, erledigen sich derartige Überbietungen jedoch. Utz’ Detailuntersuchung zur absoluten Idee findet sich dann auf den Seiten 167–179. Die eigentliche Struktur der Dialektik bestehe in den „drei“ (!) Stufen: „Unmittelbarkeit“, „Vermittlung“ und „Aufhebung“. Daß Hegel in der absoluten Idee insbesondere die Begriffsbestimmungen (A., B. und E.) verwendet, analytische von synthetischer Fortgangsweise differenziert und die Methode als Syllogismus des selbstbezüglichen Begriffs konzipiert, bleibt unberücksichtigt. Das hat zur Folge, daß Utz eine vereinfachte und rudimentäre Form von Dialektik feststellt, mit dem Resultat: „Spekulativität und Dialektik können die Unbedingtheit und Notwendigkeit der WL nicht deshalb stützen, weil sie so gut begründet, so eingehend bestimmt wären. Sie können es, weil sie so einfach und anspruchslos, weil sie nach Hegels Vorstellung vollkommen einfach und anspruchslos sind: die reine Idealität ist der denkbar anspruchsloseste Ausgangspunkt für eine Wissenschaft.“ (178)
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In der anschließenden „Kritik der inneren Notwendigkeit der Methode“ (180–200) will Utz zeigen, daß es Hegel mit seiner Dialektikkonzeption nicht gelungen sei, „Geschlossenheit des inneren Zusammenhangs und Eindeutigkeit der Folge“ zu gewährleisten. Selbst wenn Utz’ Kritik berechtigt sein sollte, so ist der Weg, auf dem er zu ihr gelangt, mit einer gewissen Ungerechtigkeit gegen Hegels komplexe Ausführungen gepflastert. In dieser Kritik führt Utz wieder den zweideutigen Begriff von Zufälligkeit – das, was einer Entität zufällt (zukommt) – gegen die Notwendigkeit im Übergang von Unmittelbarkeit zu Vermittlung und Aufhebung ins Feld (182). Utz führt aus: „Aber die Notwendigkeit macht die Nichtnotwendigkeit notwendig: Unter der Bedingung bzw. im Zusammenhang von Notwendigkeit und Ordnung ist der Zufall notwendig, bzw. der Zufall ist notwendige Bedingung für diese.“ (188) Wenn hier Zufall i. S. von dem Zukommenden verstanden wird, handelt es sich um eine Trivialität; natürlich kommen der Notwendigkeit gewisse Eigenschaften zu. Wenn Zufall jedoch i. S. von einem auch anders sein könnenden Sachverhalt, der nur äußerlich begründet ist, zu verstehen ist, dann handelt es sich um philosophischen Sprengstoff, der nicht nur die Dialektik Hegels, sondern alle philosophischen Bemühungen zerstört, denn daß die Notwendigkeit letztlich in Zufälligkeit begründet sein sollte, würde bedeuten, daß es keine Notwendigkeit gibt. Der Widerspruch bei Utz ist deutlich: Wenn der Zufall für die Notwendigkeit notwendig ist, dann ist er nicht mehr Zufall, sondern ein unverzichtbarer Schritt, der, weil er nicht zu eliminieren ist, nicht anders sein kann, damit Notwendigkeit entsteht. Dann ist er aber in das Geschehen der Notwendigkeit integriert; also wäre genau das, was Hegels Anspruch ist, eingelöst, nämlich ein allumfassendes Denken, das in einem Prozeß innerer Notwendigkeit besteht, die in ihrer äußersten Konsequenz sogar noch den Zufall in sich aufhebt. Der dritte Teil „Resultat“ (201–296) ist eine Zusammenfassung, Vertiefung der Kritik und eine Problematisierung des Systemgedankens. Dieser Teil expliziert, daß ein absolutes in sich selbst geschlossenes Begreifen nicht möglich sei; vielmehr setze alles Begreifen ein Unbegreifliches, ein Unbestimmtes, ein Unfaßbares voraus (237 ff.). Dorthin müsse sich der Begriff erst durch ein Interesse des konkreten Subjekts zu einem „Aufbruch“ motivieren. Hierzu würde Hegel selbst wohl sagen, daß es sich bei diesem Unbegreiflichen um einen Mystizismus handelt und dieses Unfaßbare „für die Nacht aus[zu]geben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“. (Vgl.: GW 9, 17.) Fazit: Zwar widmet sich Utz’ Studie mit Hegels Dialektik in der Logik einem sehr anspruchsvollen Thema, doch die Arbeit wird ihrem Anspruch einer fundamentalen Kritik und sachlich präzisen Analyse der Dialektik und Logik Hegels nicht gerecht; darüber hinaus finden sich in stilistischer und gedanklicher Perspektive nicht-notwendige Kryptizismen. Rainer Schäfer (Heidelberg)
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Francesca Menegoni/Luca Illetterati: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hegel-Kongreß in Padua und Montegrotto Terme 2001. Stuttgart: Klett-Cotta 2004. 208 S. (Veröffentlichung der Internationalen Hegel-Vereinigung. Band 23) Der vorliegende Band entstand im Rahmen des universitätsübergreifenden Forschungsprojekts „Voraussetzungen und Entwicklungen der klassischen deutschen Philosophie“ und lotet ebenso die Funktion des Kategorienpaares Endlichkeit/Unendlichkeit für die logische Bewegung innerhalb von Hegels System aus, wie die Autoren die aktuellen Bemühungen beleuchten, argumentativen und doktrinalen Gehalt desselben aus neopragmatischer Perspektive zu rekonstruieren. Ich konzentriere mich im Anschluß an einen kurzen Überblick über die einzelnen Beiträge auf zwei Punkte: Hegels Anspruch, nicht eine (endliche), sondern die Darstellung des Unendlichen zu bieten einerseits und die innersystematische Funktion des Unendlichen andererseits. In der Absicht, „die Dialektik des Vergleiches […] nicht nur zu beachten, sondern sogar hervorzuheben“ (13), wurden die zehn Beiträge in fünf Abschnitte untergliedert: Der „Einleitung“ (11–14) durch Rüdiger Bubner, die Hegels Erörterung der Unendlichkeit auf dem Hintergrund des Spinozismusstreites erhellt, schließen sich die „Hegels Auseinandersetzung mit Kant“ gewidmeten Arbeiten Klaus Düsings und Antonio Morettos an. Unter dem Titel „Subjektivität und Begriff“ findet sich in den stark divergierenden Überlegungen Rolf-Peter Horstmanns, Walter Jaeschkes und Robert Pippins das Herzstück der angekündigten ‚Dialektik des Vergleichs‘. Jean-Marie Lardic geht (in der Sache an Jaeschkes Überlegungen anschließend) im Abschnitt „Endlichkeit und Unendlichkeit in der Philosophie des Geistes“ der systemimmanenten Funktion der Unendlichkeit nach, während Ludwig Siep die Frage nach der Aktualität der praktischen Philosophie Hegels in den Vordergrund stellt. Im letzten Abschnitt, „Unendlichkeit des Geistes und Formen der Transzendenz“, stellt Wolfhart Pannenberg zunächst Hegels Interpretation der Trinität als Darstellung der wahren Unendlichkeit vor, ehe Adriaan Peperzak abschließend Hegels Bestimmung des Unendlichen explizit als eine unter vielen, insofern endliche – und darin, gemessen an ihren eigenen Maßstäben, falsche – behauptet, indem er skizziert, „wie die Frage nach dem Unendlichen mit Hilfe von Levinas auf eine neue Weise gestellt und vielleicht beantwortet werden kann.“ (194) Bubner hält in seinen einleitenden Überlegungen als Hegels zentrale Einsicht fest, „daß bereits die schlichte Frage nach dem Verhältnis des Endlichen und Unendlichen den Sinn der Elemente des Verhältnisses verfälscht. […] Die Gleichbehandlung des Endlichen und Unendlichen als zwei Seiten eines Verhältnisses ist der Fehler.“ (27) Hegels entscheidender Schritt bestehe darin, an der Perspektive, aus der heraus dieser Fehler entsteht – der Verstandesfixierung auf das Endliche –, aufzuzeigen, daß diese sich selbst aufhebe: „Alles Endliche wird, ohne seinen Charakter der Endlichkeit aufzugeben, zu einem Endlichen, das sozusagen des Unendlichen eigenes Endliches darstellt und also das Ergebnis einer Selbstunterscheidung ist.“ (28) Dieser Schritt ist entscheidend, weil sich unter Voraussetzung seiner Folgerichtigkeit die Frage nach zur Hegelschen alternativen Darstellungen des Unendlichen nicht mehr stellen kann: Trifft erstens Hegels These zu, daß schon in der Frage nach dem Verhältnis von Endlichem und Unendlichem letzteres
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der Absicht entgegen stets als Endliches behandelt wird, und kann zweitens das Endliche selbst nur als Produkt einer Selbstunterscheidung des Unendlichen gedacht werden, kann (gegen Peperzak) kein Raum mehr für eine divergierende Bestimmung des Unendlichen bleiben. Zu klären bliebe nur noch, ob auch die weiteren von Hegel gezogenen Konsequenzen tatsächlich gegeben sind. Die zentrale Schwierigkeit dessen liege, so Verf., in der Frage, ob und, wenn ja, wie das Absolute, sofern es in Form der Prozessualität dargestellt wird, als sich in dieser wieder erkennend bestimmt werden könne: „Das heißt: nicht allein der unaufhaltsame Lauf und Fortlauf des Prozesses genügt, um darauf zu vertrauen, daß man es mit dem Absoluten zu tun habe.“ (29) Mit dieser Erläuterung könnte Verf. jedoch (mit Hegel) über das Ziel hinausschießen. Als Produkt einer Selbstunterscheidung ist das Endliche – das allein zunächst Thema ist und von dem allein aus das Unendliche (und darin das Absolute) zum Thema wird – etwas, das prozessual verfaßt ist. Das Endliche kündigt sich darin zugleich als in sich reflektiert, als die Nachfolgebestimmung des Seins, als das Wesen an. Ebenfalls kündigt sich an, daß das Endliche – der verhandelte Gegenstand –, weil es Produkt seiner selbst ist, als Ursache gefaßt werden muß. Sofern nun aber, wie Hegel in der Wesenslogik behauptet, die Ursache als Wechselwirkung, die sich selbst auslegt, bestimmt werden muß, ergeht nicht nur weiter an die Lehre vom Begriff die Aufgabe, diese gesetzte Identität von Bestimmtem und Bestimmung darzustellen. Darin scheint zugleich ein Bedeutungswechsel für die Rede vom Absoluten auf: Wenn Bestimmtes und Bestimmung identisch sind, können die in der objektiven Logik verhandelten Kategorien nicht länger als Prädikat eines von ihnen unterschiedenen Absoluten gedacht werden. Vielmehr stellt das je zu Bestimmende – in der verhandelten Gedankenfolge: das Endliche – selbst das Absolute dar. Absolut ist die Sache in diesem Sinn, weil die Aufgabe, sie auf den Begriff zu bringen, im Rückgang auf ihre Bestimmungen abgeschlossen ist. Die Frage, ob wir es auch tatsächlich mit dem Absoluten zu tun haben, kann dann nur noch der von Hegel eingangs zurückgewiesenen Bestimmung desselben in Gestalt des einfach vom Endlichen unterschiedenen (und darin selbst endlichen) Unendlichen gelten: der schlechten Unendlichkeit. Dieser Punkt wird unten wieder aufzugreifen sein. Zunächst gilt es, den Herausgebern folgend, die andere Seite zu hören. Die Welt, die kein Gegenstand empirischer Erfahrung ist – das vom Endlichen einfach geschiedene Unendliche –, lehrt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, sei kein Gegenstand von positiven, widerspruchsfreien Bestimmungen, weil sie für unsere Begriffe entweder zu klein oder zu groß sei (A 489/B 517). Gleichviel können und müssen die Ideen der Vernunft nach Kant als regulative Ideen bestimmt werden. Soll aber dieser Gedanke, daß die Welt sowohl Gegenstand von Bestimmung sein kann als auch nicht, nicht unmittelbar in sich widersprüchlich sein, muß unterstellt sein, daß die Welt – als (im Wortsinne) eigenartiger Gegenstand – nicht Gegenstand unserer gewöhnlichen Bestimmungen ist. Als Gegenstand eigener Art wäre die Welt dann auch nicht unmittelbar identisch mit dem Unendlichen, als dessen eigenes Produkt sich nach Hegel das Endliche erweist. In Kants Transzendentalphilosophie wäre demnach ein Begriff der Unendlichkeit entwickelt, der nicht in der Hegelschen Erörterung des Unendlichen aufgehoben ist. Gemessen an ihren eigenen Maßstäben müßte diese dann als falsch gelten. Umso bedauerlicher ist es, daß sowohl Düsing als auch Moretto einzig die beiden
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Konzeptionen nebeneinander stellen, ohne der hieraus resultierenden Frage nach Konsequenzen für Hegels Selbstverständnis explizit nachzugehen. Als stichhaltige implizite Kritik desselben können beide Beiträge freilich auch nicht gelten. Zwar ist Düsing in der Sache wohl zuzustimmen, wenn er festhält, daß „Kants eigene, über die Darstellung der Antinomien hinausführende Metaphysikkritik, die in seiner Theorie der Erkenntnisrestriktion gründet, […] von gänzlich anderer Art“ (56) als die Hegelsche sei. Aber diese Feststellung allein hilft nicht weiter, solange Hegels Ausführungen über den Sinn einer Erkenntnisrestriktion nicht auf ihr Recht hin befragt werden. Horstmanns und Pippins Beiträge gelten vordringlich dem hier nicht näher zu beleuchtenden Komplex der neopragmatischen Interpretation Hegels. Bemerkenswert ist allerdings, daß beiden Beiträgen – ungeachtet ihrer entgegengesetzten Argumentationsrichtung – die Diagnose gemein ist, daß es weniger darum zu tun sein sollte, Hegel im Lichte des Neopragmatismus zu interpretieren, als vielmehr darum, Hegel vor diesem in Schutz zu nehmen: Während Horstmann in der zentralen Stellung der Wissenschaft der Logik ein Hindernis für das kulturrelativistische Moment solcher Interpretationen sieht, versucht Pippin umgekehrt (im sachlichen Rückgang auf Sellars’ Überlegungen in Science and Metaphysics), dem Neopragmatismus mit Hegel ein nicht relativistisches, wahrheitsrealistisches Fundament einzuschreiben. In Jaeschkes Ausführungen über „Die Unendlichkeit der Subjektivität“ steht dann wieder die über die unmittelbare Bestimmung der Kategorie der Unendlichkeit hinausführende systematische Funktion derselben im Vordergrund. Verf. hält zunächst fest, daß der Begriff der unendlichen Subjektivität die „nur der logischen Analyse zugängliche notwendige Tätigkeit des Ich“ (106) erfasse, um dann die Unterscheidung zwischen formeller und wahrhaft unendlicher Subjektivität entlang der Religionsgeschichte als Geschichte des Subjektes zu skizzieren. Der Unterschied zwischen formellunendlicher und wahrhaft-unendlicher Subjektivität lasse sich dabei leicht bestimmen: „Zu den Bedingungen des Handelns der formell-unendlichen Subjektivität gehört nicht das Wissen von sich selbst als solcher Subjektivität.“ (108) „Der Weg jedoch“, merkt Verf. an, „auf dem sich diese Einsicht ausbildet, läßt sich nicht mit wenigen Strichen nachzeichnen.“ (111) – So sei hier darauf gänzlich verzichtet, um stattdessen die Unterscheidung selbst etwas näher zu betrachten: Wenn Subjektivität per se unendliche Subjektivität ist, wenn, was unter den Begriff ‚Subjektivität‘ fällt, eo ipso unter den Begriff ‚unendliche Subjektivität‘ fällt, dann muß derart Bestimmtes deshalb noch nicht seinem Begriff entsprechen. Es kommt, lehrt Hegel, auf die besondere Bestimmtheit der Sache an. Die besondere Bestimmtheit der Subjektivität, ob derer wir von wahrhaft unendlicher Subjektivität reden dürfen, finde sich nun, so Verf. Hegel folgend, „im Wissen der Subjektivität von sich als solcher Subjektivität“. Mit dieser Bestimmung der wahrhaft-unendlichen Subjektivität ist nun aber – diesseits der Frage, warum dem so sein sollte – gerade diejenige Bestimmung verknüpft, die laut Verf. der Unendlichkeit der Subjektivität im Allgemeinen gerade nicht zukomme (104): Sie muß eigens erworben werden. Dann aber scheint die wahrhaft-unendliche Subjektivität gerade ob dessen, was sie zur wahrhaften macht, nicht länger unendliche Subjektivität zu sein. Darin deutet sich, wenn ich richtig sehe, erstmals eine Schwierigkeit in Hegels Funktionalisierung des Unendlichen an. Der nächste Sinn der Hegelschen Bestimmun-
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gen des Unendlichen schien mit Bubner der zu sein, daß die Kategorien der objektiven Logik, weil sie nicht in ihrer Einheit gedacht werden, gegeneinander endliche sind. Ist dieser Mangel aber mit dem Übergang in die subjektive Logik im Allgemeinen behoben, muß der logische Fortschritt innerhalb dieser im Besonderen begründet werden. Dies führt unmittelbar die Schwierigkeit mit sich, daß der Schritt über die Lehre vom Schluß sich scheinbar nur mit der Unterstellung motivieren läßt, daß die Einlösung des Objektivitätsanspruchs von Aussagen, d. h. die Einheit ihrer Extreme, nicht deren eigentümlicher Maßstab ist, insofern der Begriff im disjunktiven Schluß Objektivität gewonnen haben soll. Das bedeutet dann aber (weil es auf diesem Standpunkt der logischen Entwicklung offenbar nicht länger genügt, die Bestimmungen in ihrer Einheit zu denken), daß die Bestimmung des Unendlichen entweder nur dann noch movens des logischen Fortschritts sein kann, wenn sich die Bestimmung der wahren Unendlichkeit grundlegend geändert hat (bzw. je schon ein anderer war), oder wenn die Unendlichkeit an diesem Punkt einfach aufhört, der Philosophie zu sein, was nach Hegel die Liese der Bäuerin ist. (Vgl.: Aphorismen aus Hegels Wastebook [1803–06]. In: TWA 2, 542.) Die Beiträge des Bandes geben (ebenso wie Hegel selbst) weder auf die Frage, wie und wo bei Hegel sich die Bestimmung des Unendlichen grundlegend geändert haben könnte, noch (deshalb) auf die Frage, was wo Lieses Stelle einnehmen könnte, eine Antwort. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob es überhaupt notwendig ist, nach einer solchen zu suchen, schließlich hat Hegels Fortschreiben der logischen Bewegung über den ersten Abschnitt der Lehre vom Begriff hinaus nicht nur primär die Rekonstruktion der im ersten Band der Wissenschaft der Logik durch ihre Bestimmung als endlich destruierte monistische Bestimmung des Absoluten zum Inhalt. Dieser Inhalt scheint auch gar kein anderer sein zu können als die von Kant zunächst als in sich widersprüchlich bestimmte und dann als im Interesse der Vernunft dennoch auflösbar behauptete positive Bestimmung der Welt, gegen welche Auflösung Hegel immer wieder anmahnt, daß nicht einzusehen sei, weshalb die Vernunft einen Widerspruch ertragen solle, den die Dinge nicht ertragen können sollen. Statt also mit Jaeschke und Hegel nach einer den Begriff übersteigenden, noch wahrhafteren Unendlichkeit zu suchen, könnte man auch gut beraten sein, diese Suche (in Grenzen ebenfalls: mit Hegel) als aussichtslos zu bestimmen und das eine Absolute einfach preiszugeben. Hegels Selbstverständnis entspricht dies sicher nicht. Ob aber z. B. die von Lardic formulierten Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie überhaupt gelöst werden können, entscheidet sich weniger, wie Verf. meint, daran, ob das Unendliche „eher als ein ‚Werden‘ und als die Selbstbeziehung verstanden werden [muß], die das Unendliche als das ‚In-sich-Zurückgekehrtseyn‘ definiert.“ (144) So richtig dies ist, entscheidet sich diese Frage letztlich daran, ob gegen Hegels eigene Einschätzung (vgl.: GW 20, § 552) nicht einfach festgehalten werden muß, daß die logische Entwicklung mit der Objektivität des Begriffs zu einem derart stabilen Resultat gelangt ist, daß eine über sie hinaus schreitende philosophische Erörterung allenfalls noch unter dem Kantischen Titel eines Interesses der Vernunft erfolgen kann, sich darin aber nicht länger in produktive, weil Kategorien generierende, sondern schlicht in Widersprüche verstrickt. Daß dem so ist, wäre natürlich im Einzelnen darzulegen. Wider die vom Verf. bemühte These Hegels, das in der logischen Form bloß
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abstrakte Moment der Erhebung des Geistes zu Gott finde in der „in der sittlichen Welt w i r k l i c h vollbrachte[n] Reinigung seines Wissens von der subjectiven Meynung und Befreiung seines Willens von der Selbstsucht der Begierde“ (vgl.: GW 20, § 552, Anmerkung) seine konkreteste Bedeutung, scheint aber (die rein praktische Seite für den Moment beiseite gelassen) doch die Rückfrage notwendig zu sein, welcher Art die Objektivität des Begriffs in der Logik noch sein soll, wenn die Subjektivität offenbar doch nicht in ihr aufgehoben ist. Die Integration der Logik in ein universales System der Wissenschaften verlangt offenbar eine Depotenzierung der innerhalb dieser erörterten Kategorien, die ganz und gar schleierhaft werden läßt, mit welchem Recht diese ihren Namen tragen. Umgekehrt aber ist diese Depotenzierung nur notwendig, wo an einem jeweils zu bestimmenden einfach geschiedenen und darin schlechten Unendlichen als dem Gegenstand der einen Wissenschaft festgehalten wird. In gewissem Sinne ist Verf. deshalb zuzustimmen, wenn er festhält, daß das „Verständnis des enzyklopädischen Systems […] von einer Logik der Unendlichkeit bestimmt [zu sein scheint, A. O.], die darauf abzielt, die Wahrheit des im Prozeß tätigen Geistes zu demonstrieren.“ (153) Aber es spricht einiges dafür, daß die Wahrheit des im Prozeß tätigen Geistes Hegels persönliches, der Sache entgegen gerichtetes Anliegen ist. Daß das rein praktische Moment in Hegels Ausführungen über die Erhebung des Geistes zu Gott nicht einfach beiseite gelassen werden sollte; daß die Frage, ob eine Reinigung des Willens von der (offenbar als Moment des Widerstreits unterstellten und deshalb nicht einfach auf ihre Vernünftigkeit hin zu befragenden) Selbstsucht der Begierde, irgendein anderes Resultat als die Hegel unterstellte Absicht der Legitimierung der bestehenden Staatsform, des Rechts des Staates gegen seine Bürger, zum Resultat haben kann; daß diese Fragen hier eigentlich nicht beiseite gelassen werden sollten, ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß erst mit ihrer Erörterung zu klären wäre, ob bzw. für wen der von Siep konstatierte positive Aspekt, „die Legitimation einer freiheitlichen Staatsordnung“ (172), nicht einfach als gesetzt, sondern auch als erfreulich bestimmt werden könnte, weil sich an dieser Frage zuletzt die nicht erst durch die gerade wieder an Aktualität gewinnende These Huntingtons des „clash of cultures“ dringlich gewordene Antwort auf die Frage entscheidet, worin diese freiheitliche Staatsordnung eigentlich bestehe. Weil diesem Punkt nachzugehen freilich den Rahmen sprengte, sei die Frage dennoch beiseite gelassen. Die beiden abschließenden Erörterungen Pannenbergs und Peperzaks schließlich machen in ihrer Anlage noch einmal die zentrale Schwierigkeit der Hegelschen Bestimmung des Unendlichen deutlich. Daß Pannenberg und Peperzak, die beide einen endlichen Begriff des Unendlichen bei Hegel vermuten, an Unendlichkeitskonzeptionen in Hegels Ausführungen über den objektiven Geist anschließen können, könnte seinen Grund gerade darin haben, daß die Philosophie, wo sie sich zu Gott (als dem einen Absoluten) erheben will, gar nicht mehr anders kann, als das schlechte Unendliche wieder aufzugreifen. Indem der Band diese Schwierigkeiten dokumentiert, sollte er entschieden dem Anliegen der Herausgeber entsprechen, zur Fortführung der Auseinandersetzung anzuregen (13). Alexander Oberauer (Tübingen)
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Cornelio Fabro: La prima riforma della dialettica hegeliana. A cura Christian Ferraro. [Die erste Reform der Hegelschen Dialektik. Herausgegeben von Christian Ferraro.] Editrice del Verbo Incarnato: Segni (RM) 2004. 255 pp. This work of Cornelio Fabro is a posthumous volume devoted to Hegel’s metaphysics. The first remark that is in order for a critical reading of this essay is that Fabro’s approach is primarily theoretical. As a matter of fact, from a historiographical point of view, it has several weaknesses, first of all in the bibliography. The references to Hegelian contemporary historiography are few; never, in any case, they are more recent than the second half of the past century. The authors that Fabro mentions, are, instead, the classics of the ancient, middle-age and modern metaphysical thought (Aristotele, Avicenna, Thomas Aquinas, Descartes, Leibniz, Wolf, Kant, etc.); the prominent figures of the philosophy of praxis (Feuerbach, Marx, etc.); the main thinkers of existentialism (Kierkegaard, Heidegger) and those of neo-idealism, especially Italian, as well as the first critics and exegetes of Hegel’s thought (Erdmann, Fischer, Trendelenburg, Rosenkranz, etc.). The theoretical question which guides Fabro in his inquiry of Hegel’s thought has ancient roots. It is in order to point out that Father Cornelio Fabro was a prominent figure of the Italian Neo-thomistic school. His interest for metaphysics is, thus, not primarily historiographical, and still less critical (in favour of a post-metaphysical thought). On the contrary, according to Fabro, metaphysics is the core of philosophy, not something that belongs to the past. “Philosophy – he claims – is the essential reflection having for subject the ‘first truth’, i. e. the original insight which is the truth of being” (12). The truth of being “should show the ground and the paradigm of every truth” (ibid.). With respect to this, “relationship between being and thought” is of uttermost importance, because the question is “whether being founds thought (realism) or thought produces and founds being (immanentism)” (ibid.). From a methodological point of view, Fabro proceeds raising some philosophical general questions. Referring to them, he considers and compares the main proposals of the classic thinkers as different options or strategies that have been applied for solving them. He somehow investigates some theoretical issues in a very general way, summoning up in a debate the greatest thinkers and showing how their thought is doomed to yield some results. Indicating the general premises of philosophical systems, of which the philosophers could be even unaware, Fabro maps the field of metaphysics doing a metaphilosophical inquiry, as it were. Owing to that theoretical initial thesis about truth, one understands the attention paid by Fabro to theoretical analysis of the problem of the beginning in Hegel’s Logic, i. e. the beginning with (the concept of) being. According to Fabro, however, this is not a question peculiar of Hegelism, but a much wider one. So he often compares the position and strategy of Hegel with those of other philosophers and schools. The main references are Thomas Aquinas and Heidegger. They are considered by Fabro as the most prominent figures of different schools that in spite of their diversity cannot be disregarded and set aside. Fabro does not aim to systematically compare them in a historiographic in-depth way (which probably does not matter to much to the author).
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Instead, he seeks to throw light on the position and on the difficulties to the different approaches on the question of the truth, in a contrastive way. According to Fabro, the problem of the beginning is of course diriment for the truth of being. The above-mentioned options, i. e. realism on the one side and immanent idealism on the other, are both unsatisfactory. Realism is the paradigm of the ancient and the scholastic metaphysics; idealism is the paradigm of modern and contemporary metaphysics. The theoretical beginning of the former is being; the beginning of the latter is thought. Owing to that alternative, Hegel’s position seems to Fabro very peculiar. On the one hand Hegel initiates with being, but on the other hand, according to Fabro, the being of Hegel’s Logic is not properly the legacy of classical metaphysics, but of Descartes’s cogito. Hegel’s being is the content of pure thought; so his metaphysics is included, after all, in the modern subjectivism, more than in the classical and scholastical ontologism. But Fabro is aware, of course, of the fact that Hegel’s aim is to refer to the ancient beginning of philosophy, i. e. to Parmenides – a thinker whose speculative fundamental questions Fabro emphasizes. The two ways of beginning, that with being and that whith thought, are in a certain sense as unilateral as complementary. Both should be overcome through a superior synthesis. One could think that Fabro follows Hegel’s steps in outlining this dichotomy and in conceiving a solution to it as a superior synthesis. This is partially true. But Fabro does not see the achievement of that synthesis in Hegel’s philosophy, but in the core of the thought of Thomas of Aquinas. As a matter of fact, Hegel’s position, according to Fabro, is trapped by subjectivism. “By Hegel Sein is referred to the subject, because it is the same of the speculative formula of the absolute and initial doubt and of the sheer cogito; Sein expresses the self-consciousness in the initial point of absolute indeterminacy […]. Thus Hegelian abstraction [i. e. Sein] consists in the progressive and total emptying from every content, as required by the traditional concept of abstraction, to which also Hegel (like Descartes, like all the scholastics philosophers and all modern thinkers) falls pray. But St. Thomas does not so” (212). Fabro acknowledges that “Hegel is the first to claim […] a methodological priority for being in modern thought […]. Unfortunately the ‘way’ in which Hegel intended and interpreted this requirement itself jeopardized the effective fulfilment of it. Not without reasons Heidegger included Hegel – with the whole of modern philosophy – in the resolution […] of the foundation of being in the subjectivity of the Subject, in the wake of Descartes-Leibniz-Kant […]. Now it can be argued that St. Thomas – only he, in the tradition, which had been interrupted and lost after Parmenides – can receive and gather the two converging issues of Hegel’s and of Heidegger’s on being as foundation” (223). Fabro makes it clear that his referring to Thomism is speculative, not historical. In this framework it is worth to point out that some important chapters are devoted to the question of the first categories of Hegel’s Logic. This is a very controversial question, regarding which the same range of interpretations seems to be proposed and cyclically repeated. Fabro passionately discusses this topic. He comes back to the nineteenth-century debates: whether the being of the beginning should be conceived of as the copula or as the existence; and what is the meaning of the identification of being with nothing, etc. We have observed this pattern in all subsequent debates.
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The issue of becoming is prominent. The question is whether it can result from the initial identification of pure being and nothing, or not. Fabro does not conceal his criticism, which is akin to that of Trendelenburg. The clarity of his taking sides gives an idea of the theoretical inspiration of this essay. Owing to the emptyness of pure being and nothing, “both becoming and the something, that Hegel calls into question, are intruders” (199). With respect to the specifications introduced by Hegel for defending his arguments, Fabro claims that “Hegel is free to say and write what he wishes, but such statements or wanderings are not coherent with his principle […]. Hegel cannot appeal to the ‘something’ neither in earth nor in the heavens: all this, for those who initiate with the empty being, does not exist any more (and could never exist, we add). Hegel not only continually changes the concept of being, but applies different and opposed concepts within the same argument. And this is not allowed and makes no sense at all” (199). Federico Perelda (Venezia/Padova)
Ute Guzzoni: Hegels Denken als Vollendung der Metaphysik. Eine Vorlesung. Freiburg i. Brsg./ München: Karl Alber Verlag 2005. 158 S. Weil das vorliegende Buch die schriftliche Fassung einer Vorlesung ist, ist der Stil recht einfach. Schwierigkeiten, die Argumentation – oder vielleicht sollte man eher sagen: Ergebnisse – der Autorin nachzuvollziehen, bleiben trotzdem. Guzzoni hat nicht die Absicht, eine Hegel-Einführung über eine detaillierte Auslegung seiner Hauptwerke zu geben. Vielmehr möchte sie versuchen darzustellen, „was es philosophisch bedeutet, daß Hegel so gedacht hat, wie er gedacht hat“ (7). Sie möchte zeigen – wie man schon dem Buchtitel entnehmen kann –, daß Hegels Philosophie die Vollendung der Metaphysik, ihrer „Grundtendenz“ (8) nach, sei. Was also ist das, was bei Hegel vollendet worden sein soll? Metaphysik sei eher „eine bestimmte Gestalt von Philosophie“ (13) als das Denken einer bestimmten philosophiegeschichtlichen Epoche. Lt. Guzzoni gebe es eine für die Metaphysik charakteristische „tragende Grundproblematik“, „eine leitende Frage […], die immer wieder, immer wieder neu und doch jeweils auf den vorhergehenden Antworten aufbauend, das abendländische Denken in spezifischer Weise geprägt und charakterisiert hat“, nämlich „die Frage nach dem Sein als dem Grund von allem Seienden“ (8 f.). Bevor Guzzoni ab Vorlesung VII. (61–70) zu Hegel kommt, geht sie durch die Philosophiegeschichte: von den Vorsokratikern Thales (15) und v. a. Parmenides (17–37) über Platon und Aristoteles (38–41) bis hin zu Descartes (V. [42–49]) und Kant (VI. [50–60]). Nach Hegel (VII.–XII. [61–131]) behandelt sie in der XIII. Vorlesung (132–144) die Hegel-Kritik Feuerbachs, Marx’ und Adornos, bis sie schließlich in der XIV. Vorlesung (145–156) mit ihren eigenen Bedenken und einem Ausblick auf Heidegger endet. Für ihre Darstellung der Geschichte und des Wesens der Metaphysik ist im Grunde nur Parmenides wichtig. Die vorsokratische Philosophie allgemein habe ihr Interesse auf „etwas“ gerichtet, das „prinzipiell nicht sinnfällig war.“ Sie habe nach dem „Einen
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in allem“ gefragt, was sie vom „Verschiedenen und Wandelbaren“ (15) abgelöst habe. Bereits Parmenides habe versucht, „ein über-menschliches, ein göttliches Wissen“ (17) zu begründen, welches vom endlichen Denken der sterblichen Menschen geschieden sei. Dieses Wissen handle vom Einen, welches bei Parmenides kein „Grundstoff“ mehr sei, sondern etwas Gedachtes, das „im gewöhnlichen Sinne unsagbar und undenkbar ist“ (26): Sein. Das Sein spiele bei Hegel eine herausragende Rolle: „das Sein ist die Sache des Denkens.“ (62) Es habe, „als das eigentliche Thema,Vorrang vor dem Denken oder der Vernunft.“ (Ebd.) Die besondere Beziehung von Sein und Denken bei Hegel bestehe lt. Guzzoni nicht nur darin, daß das Sein dasjenige sei, dem sich das Denken vorrangig widme; des weiteren sei es „als solches Denk-Bewegung“ (65), d. h. dasjenige (als Subjekt), was das Denken bewege. Das Sein, das bei Hegel „metaphysisch Grund ist“, werde „radikal als Denken gefaßt“ (67). Das Denken bringe sich selbst und die Welt hervor. Indem das Denken sich selbst und dem Sein Grund sei, sei es vom Sein nicht verschieden. Auf diese Weise seien Denken und Sein bei Hegel „zur vollendeten Einheit gelangt“ (94). Aus diesem Grund gilt Guzzoni Hegel als höchste Form des Idealismus, seine Philosophie sei der „folgerichtige[r] Schlußstein der Geschichte der Metaphysik“, ihre „unüberbietbare Apotheose“ (71). Der Vorwurf der Identifizierung von Sein und Denken wird um den ebenfalls geläufigen Vorwurf eines totalen – und das meint stets: repressiven – Systementwurfs erweitert. Auch der traditionelle metaphysische topos, das Sein sei der Grund alles Seienden, werde von Hegel zu einer „endgültigen Antwort oder Auflösung gebracht.“ Sein „philosophisches System“ befasse „grundsätzlich alles, was ist, in sich.“ In ihm habe „jedes Seiende, jeder Gedanke, alles, was ist, war oder sein wird, seinen gesicherten Platz“ (9, vgl. 149). Aus einer ‚absoluten Philosophie‘ wird unter der Hand – die semantische Nähe lockt – schnell eine „entsprechend absolutistische Ausrichtung“ (133). Der Befund befremdet, äußert sich Hegel in der Wissenschaft der Logik doch nicht gerade positiv über das „Sein“ und läßt es schnell hinter sich, denn nichts „ist in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur diß leere Denken.“ (Vgl.: GW 11, 44 resp. 21, 69.) Vom Sein zum Denken, zumal zu einem solchen, das man „vernünftig“ nennen könnte, ist es bei Hegel von hier noch ein weiter Weg. Zwar beginnt er die Wissenschaft der Logik mit dem Sein, aber aus diesem Grund ist seine Philosophie nicht vom Sein her konzipiert. Zwar kehrt er am Ende der Wissenschaft der Logik zum Sein zurück, aber dann ist das, was Hegel als „Sein“ bezeichnet, ein ganz anderes ‚Sein‘ als am Anfang und als das, was man in der Philosophie üblicherweise darunter versteht. Noch mehr befremdet, daß die Stellen, an denen Hegel sich explizit zur Metaphysik äußert, keinerlei Erwähnung finden – nichtmals die §§ 26–36 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Wie Guzzoni zu ihrem Befund gelangt, wird nicht durchsichtig. In der VII. Vorlesung wird die Rolle des Seins bei Hegel dargestellt. Ihre Hegel-Kritik ist somit abgeschlossen, bevor die Textinterpretation beginnt und das Resultat lediglich noch variiert wird. Ab der VIII. Vorlesung werden, beginnend mit der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik, Hegels Werke vorgestellt. Es folgen die Philosophie des Geistes (XI. [105–120]) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (XII. [121–131]). Ab der
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IX.Vorlesung (81–93) beginnt das extensive Zitieren, welches fast die Hälfte des Textes ausmacht. Große Textbrocken werden aneinandergereiht und mit wenigen Worten verknüpft. Guzzonis Vorhaben einer „nachvollziehende[n] Darstellung einiger Grundgedanken“ (131) ist einer bloßen „Wiedergabe“ (120) im schlechten Sinne gewichen. Da kann man auch Hegel selbst lesen – aber mit Gewinn. Nach dieser Hegel-Interpretation verwundert nicht, daß Guzzoni die Hegel-Kritik Feuerbachs und Marx’ (Stichworte: Projektion; Entfremdung von der Wirklichkeit; Subjekt-Objekt-Verkehrung) teilt, mit denen sie die „zutiefst spekulativ-philosophische Überzeugung“ (61), „das Pathos des Absoluten, das den ganzen Denkansatz Hegels durchweht“ (129), ablehnt. Mit Adorno wiederholt sie den Vorwurf, Hegels Philosophie kassiere als „Identitätsphilosophie in einem absoluten, nicht zu überbietenden Sinne“ (142) das Nichtidentische. Zwar konzediert sie noch so weit, daß Hegels Philosophie „sowohl wahr wie falsch“ (140) sei insofern, als diese „die theoretische Entsprechung zur gegenwärtigen Gestalt von Gesellschaft“ (141) sei; aber Adornos Anregung, daß man „durch Hegel hindurch gehen müsse, um über ihn hinaus zu gelangen“, geht ihr zu weit, fürchtet sie doch, darin den überlebten „Glaube[n] an eine innere Gesetzmäßigkeit des Denkens“ (143) überleben zu sehen. Denn Guzzoni dekretiert bereits vorher, „der Hegelsche Ansatz“ biete „für uns heute keine Möglichkeit des Weiterdenkens mehr.“ Wieso der absolute Geist „keine Option mehr“ (132) sei, wird nirgends erläutert. Guzzoni möchte sich „kritisch von dem Grunddenken der Metaphysik ab[zu]setzen“ (149). Auch hier geht wieder einiges durcheinander. Hatte sie vorher der Metaphysik einen Hang zum Verstiegenen, Abgehobenen vorgeworfen, so kritisiert sie sie nun für ihren Rationalismus. Auch wenn sie die Metaphysik für ihre blinde Orientierung an den Grundsätzen der formalen Logik rügt (149 ff.), so favorisiert sie selbst „ein sterbliches Denken, das wissentlich und willentlich in der endlichen Welt und bei ihr bleibt“ (146). Dort könnte Guzzoni es sich also mit dem eben noch kritisierten Positivismus einrichten, machte sie sich nicht dafür stark, „die vernunftgemäße Notwendigkeit des Denkens“ und „die Möglichkeit, von Wahrheit […] zu sprechen“ (151), aufzugeben, und favorisierte sie nicht Heidegger. Wie sie sich in dessen Philosophie wiederfinden kann, nachdem sie die Differenz von Sein und Seiendem „für ein Denken irrelevant“ erklärt hat, welches, wie das ihre, „nicht mehr nach dem Einen und Allgemeinen […] fragen will“ (145), bleibt ihr Geheimnis. Die Wirklichkeit, die Guzzoni gegen die Metaphysik reaktivieren möchte, in der sie sich unmittelbar bewegen will, kann sie nur beschwören, teilweise tautologisch, als „wirkliche[n] Wirklichkeit, die unsere tatsächliche, sinnliche Wirklichkeit ist“ (136). Wenn sie gegen eine „begriffliche, im traditionellen Sinne ontologische Struktur“ ein „inniges Geschehen“ hält, „in dem unser konkretes, lebendiges Menschsein auf dem Spiel steht“ (153), dann, so ist zu befürchten, ist die Philosophie wahrscheinlich schon wieder auf dem Marsch zum „Sein zum Tode“. Daß die „Wirklichkeit“ eine „kritische Kategorie“ (Pirmin Stekeler-Weithofer) ist, gegen die Welt als nur mögliche und erscheinende; daß man ‚den Menschen‘ nicht unmittelbar haben kann, sondern ihn in Begriffe hüllen muß, um ihn nicht zu zerbrechen, wenn man ihn fassen will: Das kann man bei Hegel lernen. Fabian Kettner (Bochum)
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Wilfried Grießer: Geist zu seiner Zeit. Mit Hegel die Zeit denken. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 662 S. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie. Band 388) Der Autor der vorliegenden Abhandlung, die an der Universität Wien als Dissertation angenommen worden ist, stellt sich die Aufgabe, „Hegels Philosophie im ‚Ganzen‘ als eine Metaphysik der Zeit“ (624) zu deuten. Diesem ambitionierten Vorhaben will Grießer dadurch gerecht werden, daß er sich nicht auf die Interpretation einschlägiger Passagen aus der Hegelschen Naturphilosophie beschränkt, sondern eine Gesamtinterpretation Hegelscher Philosophie – immer im Hinblick auf die Zeitfrage – versucht, wobei der Bogen von den Jenenser Schriften über die enzyklopädische Naturphilosophie und die Phänomenologie des Geistes bis hin zur Wissenschaft der Logik und den abschließenden Systemteilen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (§§ 575–577) gespannt wird. Dieser Aufriß spiegelt das inhaltliche Anliegen Grießers, „den systematischen Duktus eines Ganges von der sozusagen ‚bewußtlosen‘ und ‚blinden‘ Zeit der Natur über die Anfänge des Geistes und die endliche Bewußtseinsdifferenz zur für sich freigewordenen, aber reinen Zeit der Logik, um von da weg zum ‚Realen‘, Geschichtlichen zurückzukehren“ (20) zu verfolgen. Betrachtet man die Kapitel im Einzelnen, wird man wohl sagen können, daß bereits das erste („Zeit und Raum in der ‚Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie‘“ [23–194]), welches – Satz für Satz – die Zeit- und Raumpassagen aus dem Abschnitt „[I.] System der Sonne.“ (vgl.: GW 7, 187–227) interpretiert, das Herzstück der vorliegenden Monographie ausmacht. Angesichts der sich bereits und ganz besonders in diesem ersten Kapitel zeigenden mannigfaltigen und sehr differenzierten Anläufe der Textlektüre und in diesem Zusammenhang auftretenden umfassenden Verweise auf die diversen Logiken Hegels, in denen Grießer doch immer die eine Logik sieht, wird man der Arbeit wohl kaum unrecht tun, wenn man sie zumindest genauso als Meditation wie als Interpretation der Hegelschen Zeitkonzeption bezeichnet. Dabei versucht Grießer herauszustreichen, daß bereits in den Zeitbestimmungen der Jenenser Zeit – wenigstens in nuce – die Hegelsche Dialektik voll enthalten ist, wobei allerdings die Parallelen zur späteren Wesenslogik am deutlichsten hervortreten. Grießer parallelisiert nämlich den Gang von der Gegenwart über die Zukunft zur Vergangenheit mit der Entwicklung der Reflexionsbestimmungen Identität, Unterschied, Gegensatz, Widerspruch und Grund sowie den Gang von der Vergangenheit zur wiederhergestellten Gegenwart mit der Entwicklung vom Grund zur Existenz. Die Gegenwart wird bestimmt als „der eigene Unterschied, der das Jetzt schlechthin ist, den es aber in seiner ersten Einfachheit schon ausgeschlossen hat“ (63), womit es „seine Sichselbstgleichheit aus sich […] ausschließt“ (64) und so Zukunft wird. Als „bloßes Negieren der Gegenwart ist [aber, K. A.] die Zukunft gleichsam ohne Bestehen“ (77), und so greift das Unterscheiden der Gegenwart gegen die Zukunft „über beide Momente über; es zieht den äußeren Unterschied, mithin die Gegenwart als gegen die Zukunft, in sich hinein und reduziert sich als Totalität des bloßen Unterscheidens in die ‚Ruhe der Vergangenheit‘“ (92), wobei diese Totalität des Unterschieds bereits anzeigt, daß, wie Grießer an späterer Stelle sehr pointiert aufzeigt, „die Zeitdialektik […] unter der Hand immer auch schon
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Raumdialektik [ist, K. A.], und beide Dialektiken […] jeweils nur eine ‚Seite‘ eines Ganzen dar[stellen, K. A.].“ (330) Ein zentraler Gedanke der Arbeit zeigt sich ebenfalls in diesem Kapitel: Das Ehmals als gegenständlich gewordene Vergangenheit ist wiederum nichts anderes als der Unterschied des „Itzt“, weshalb Grießer in Anlehnung an das „Ich = Ich“ von einem „Itzt = Itzt“ sprechen kann (vgl. 101), in dem sich die Zeit sozusagen schon als die Negativität des Begriffs, als „Selbstbeziehung des Jetzt“ (ebd.) manifestiere. Das erste Kapitel schließt folglich mit einer Interpretation der Raumdialektik und der Bewegungslehre des Jenenser Systementwurfs Logik, Metaphysik, Naturphilosophie (1804/05), wobei Grießer, wie bereits erwähnt, die Verschränkung von Raum- und Zeitdialektik herausarbeitet. Es folgen die Kapitel 2 („Raum, Zeit und Bewegung in der ‚Jenenser Realphilosophie‘ aus 1805/06“ [195–304]) und 3 („Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘: Raum, Bewegung und ‚Bewußtsein‘“ [305–363]). Als Ertrag der darin enthaltenen Ausführungen kann wohl einerseits festgehalten werden, daß Raum und Zeit nicht nur nicht als zwei substantiierbare Sphären voneinander abgehalten werden können, sondern auch die Frage relativiert ist, ob die Raum-Zeit-Dialektik mit dem Raum oder der Zeit anzufangen habe; andererseits arbeitet Grießer in diesem Kapitel die Parallelität der Zeitdialektik des letzten Jenenser Entwurfs und der Phänomenologie des Geistes heraus. Das Kapitel 4 („Raum und Zeit in der enzyklopädischen Naturphilosophie“ [365–456]) beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der Zeitkonzeption der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, wobei Grießer durchaus plausibel machen kann, daß die Jenenser Konzeption auch für die enzyklopädische Naturphilosophie, in der die Zeitdimension nicht mehr eingehender entfaltet wird, Grundlage geblieben ist (424–437). Die inhaltlich interessantesten und generell sehr geglückten Ausführungen dieses Kapitels betreffen aber wohl die Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit (406–424). Grießer bestimmt hier in einer Interpretation der Schlußpassagen der Jenenser Geistphilosophie die Ewigkeit als das „Andere der Zeit“, wobei er dies konkret so deutet, daß die Ewigkeit einerseits die „zeitlose ‚Vorgeschichte‘“ des Menschen i. S. der „Hominidenevolution“ (411) sei, wobei entscheidend ist, daß die Ewigkeit als diese zeitlose Vergangenheit selbst als Moment der Zeit gedacht werden müßte, womit ein naives Verständnis der Zeit, wie es sich gerade heute in den Diskussionen mit den Naturwissenschaften meist findet, zu kurz griffe – beide Gedanken verfolgt Grießer leider nicht näher und kann sie so in ihrer Konsequenz nicht fruchtbar nachen; andererseits ergibt sich, wie Grießer betont, daß die „Ewigkeit, sobald die Zeit schon aufgebrochen ist, nur mehr die abstrakte Vorstellung einer ‚heilen‘ Unmittelbarkeit sein [kann, K. A.], welches Vorstellen das wahrhafte Tilgen der Zeit noch nicht vollzogen hat […].“ (Ebd.) Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der „Tilgung der Zeit“ kann dann wohl auch als die leitende Perspektive der letzten Kapitel betrachtet werden. Sie führt Grießer, nachdem er in zwei Kapiteln – „Von der Schwere zum Tier: Die Selbst-Werdung der Zeit“ (457–490) und „Raum und Zeit in der Philosophie des subjektiven Geistes“ (491–518) – sozusagen die „Gestaltwerdung“ der Zeit in der Natur und im subjektiven Geist nachzeichnet, folgerichtig in eine Lektüre der vier letzten Großkapitel der Phänomenologie des Geistes, die in eine Interpretation der Schlußpassagen des absoluten Wissens, wo sich dieser Terminus ja bekanntlich findet, mündet.
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Das Kapitel 7 „Die Zeit als Zeit. Vom Selbstbewußtsein zum absoluten Wissen“ (519– 600) läuft – nicht zuletzt in Rezeption der leider bis dato zu wenig bekannten, nichtsdestoweniger aber ebenso luziden wie phänomenal und spekulativ herausragenden Interpretation des ersten Teils des „absoluten Wissens“ von: Thomas Auinger: Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Königshausen & Neumann: Würzburg 2003. – auf eine Interpretation der Schlußpassagen des absoluten Wissens hinaus, wobei Grießer in dieser Hinführung dem „Gewissen“ und der „offenbaren Religion“ besonderes Augenmerk schenkt. Zentrale Bedeutung hat dabei die Bestimmung der Zeit als „Form der reinen Freyheit gegen anderes“ (vgl.: GW 9, 365). Grießer interpretiert diese Stelle aus Hegels Phänomenologie des Geistes wohl richtig, wenn er im Anschluß an diese Formulierung festhält: „In der Zeit zu sein, ist also nicht nur ein Mangel, sondern geradezu das Signum erlangter Wirklichkeit […].“ (574) Der Mangel der Religion besteht in diesem Zusammenhang darin, daß der Inhalt gewissermaßen noch nicht wirklich freigelassen wird und die Zeit „zwar das freie Medium wirklicher und geschichtlicher Entwicklung ist, aber noch nicht dieses konkrete Selbstbewußtsein, der wirkliche Mitmensch, der selbst diese gesamte Geschichte des Kosmos und der Welt ist; und so begegnet die Zeit gerade in ihrer erlangten Freiheit dem religiösen Bewußtsein auch noch als ein Erratisches, nicht Erkanntes.“ (575) In Fortführung dieser Überlegungen findet sich bei Grießer im Zusammenhang seiner Ausführungen über die (getilgte) Zeit und das absolute Wissen der sehr schöne Gedanke, der wohl als ein zentraler Ertrag seiner Arbeit betrachtet werden kann: „[…] so ist am Ende, wenn auch erst im absoluten Wissen, dieser Mensch (der Mitmensch) als die Zeit erkannt, die gleichsam nicht die Schicksalsmacht eines Dritten bleibt, das die Liebe noch bedroht, sondern die die sich preisgegebene und preisgebende Vermittlung selbst ist, als welche Selbst und Anderes Selbst einander wissen, und sich und einander ihrerseits preisgeben, und schon preisgegebene sind.“ (579 f.) Die letzten beiden Kapitel – „Absolutes Wissen, Logik und System“ (601–625) und „Absolutes Wissen und Geschichte“ (627–648) behandeln einerseits den Übergang vom absoluten Wissen in die Logik und das Hegelsche System, andererseits stellen sie einen Versuch einer sich bis in die Gegenwart hinziehenden Geschichtsphilosophie dar. Grießer macht hellsichtig darauf aufmerksam, daß die Wissenschaft der Logik kein zeitloser Schematismus, sondern vielmehr „Begriff der Zeit, und in diesem Sinne so etwas wie der sich vollbringende Schematismus“ (607) sei. Nicht zuletzt kann die vorliegende Arbeit für diese Einsicht geltend machen, daß die Logik „nicht gänzlich ‚zeitlos‘ sein“ (606) könne, weil in diesem Falle die Zeit deren „Außersich“ wäre, v. a. aber ist mit der Tilgung der fremden Zeitform überhaupt erst die Zeit in der Form freien Andersseins und damit als Begriff hervorgetreten. In Rückbezug auf die Jenenser Zeitreflexionen kann Grießer schließlich sogar die absolute Methode als ebenso absolute wie sich aufhebende Vermittlung (und damit absolute Unmittelbarkeit) bestimmen. Folgerichtig hält er fest: „Die [absolute, K. A.] Methode oder die Zeit ist auch nicht ‚Totalität‘ im Sinne einer ‚Hyper-Vermittlung‘ ihrer Dimensionen, als eines (und sei es auch spekulativ gedacht!) in der Vorstellung festgehaltenen Gefüges von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, und sie ist, wenn das Bild des Kreises gebraucht wird, auch kein Kreis,
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der sich schließt, sondern eben ein durch die Selbstaufhebung der Vermittlung vermitteltes Heute oder Itzt.“ (613) In Bezug auf das ganze System schließlich kann Grießer in einer Reflexion der enzyklopädischen Systemschlüsse (621–625) als Reflexion des Erscheinens festhalten, daß die Logik „nie nur logisch war“ (bereits auch 424), womit sie doch nichts anderes als den Status ewiger Vergangenheit hätte, sondern als „Tilgung der Zeit“ sich immer schon in die Geschichte des Heute abgestoßen habe. Nach diesen sehr inspirierenden Gedanken versucht Grießer folgerichtig dieses „Heute“ im letzten Kapitel „Absolutes Wissen und Geschichte“ anzudenken, wobei sich aber nach Meinung des Rezensenten der Mangel zeigt, daß die „Zeit als Freiheit gegen Anderes“ und die damit verbundene Anerkennungsstruktur nicht adäquat zur Geltung kommen. Vielleicht zeigt sich gerade an diesem Kapitel eine generelle Tendenz Grießers, an Hegels Philosophie weniger die (spekulativen) „Brüche“ und das phänomenal „Widerständige“ im Blick zu halten und stattdessen eher das „identitätsphilosophische“ Moment zu affirmieren. So ist nach Meinung des Rezensenten zwar das grundsätzliche Anliegen einer Erfassung auch des Heute im Nachvollziehen Hegels – gerade, wenn man den Thesen der Arbeit folgt – konsequent; aber es fragt sich doch, ob es notwendig ist, einen „‚roten‘“ und „‚braunen‘ Sozialismus“ (644) im selben Atemzug zu nennen bzw. stellt sich für den Rezensenten generell die Frage, ob nicht in diesem Zusammenhang eine affirmativere Sicht der Begegnung mit dem Anderen, wie sie sich heute gerade im Phänomen der Interkulturalität zeigt, an der Zeit gewesen wäre. Als Resümee kann über die Arbeit gesagt werden, daß sie äußerst kenntnisreich und fundiert die einzelnen Schriften Hegels nachzeichnet, wobei wohl kaum sachlich Unrichtiges festzumachen sein wird. Hervorzuheben ist besonders die Interpretation der Zeitdialektiken der Jenenser Schriften, die sicherlich noch nie in dieser Ausführlichkeit vorgenommen wurde. Weiter gelingt es dem Autor – und dies kann doch als ein bedeutsamer und höchst anregender Denkanstoß betrachtet werden –, plausibel zu machen, daß Hegels Werk einschließlich der Wissenschaft der Logik, also die absolute Methode, die nicht formallogisch den Inhalt außer sich hat, eine höchst relevante Zeittheorie beinhaltet oder noch deutlicher gesagt: die Darstellung der Zeit selber ist, die, wie es Grießer im Anschluß an einen in einer 2002 von Udo Rameil herausgegebenen Nürnberger Schülermitschrift sich findenden Satz ausdrückt, der „Begriff als Scheinen an dem Sein“ (376) ist. Die generelle Beurteilung der Arbeit durch den Leser/die Leserin wird wohl davon abhängen, ob man die Texte mit Grießer quasi immanent „mitmeditieren“ will – was allerdings große Hegelkenntnis voraussetzen wird – oder ob man meint, daß die Philosophie Hegels und damit seine (implizite) Zeitkonzeption weitergehender erfaßt werden könne, wenn man versucht, Hegelsche Denkbestimmungen deutlicher von der Wortwahl Hegels abzuheben und an heute aufbrechenden Fragen und Problemen zu bewähren. Kurt Appel (Wien)
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Robert B. Pippin. Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne. Mit einem Vorwort von Axel Honneth und Hans Joas. Übersetzt von Martin Hartmann, Veronika Fürchtner, Wiebke Meier, Susanne Brauer, Thomas Land. Frankfurt a. M./ New York: Campus Verlag 2005. 238 S. (Theorie und Gesellschaft. Herausgegeben von Axel Honneth, Hans Joas, Claus Offe und Peter Wagner. Band 51) Der ambitionierte Titel ist kein reißerischer Aufmacher des Verlags, sondern benennt exakt Zielpunkt und Inhalt des Aufsatzbandes. Wer Pippins Schriften kennt, wird darüber nicht überrascht sein. Der Band dokumentiert sein langjähriges Bestreben, Hegel als einen für heutiges Philosophieren relevanten Denker zu präsentieren. Und zwar nicht nur als einen unter vielen – in bezug auf das von ihm analysierte philosophische Problem der Moderne bekennt Pippin: „Ich habe versucht zu zeigen, dass Hegel […] keine bloße historische Quelle darstellt oder lediglich einen Ursprung dieser Diskussion markiert.Vielmehr sollte er als der wichtigste Teilnehmer im ‚Diskurs der Moderne‘ geschätzt werden […].“ (190) Pippin will verdeutlichen, „dass uns Hegels Projekt in seinen wichtigsten Elementen die Chance eröffnet, uns selbst zu verstehen und auch zu verstehen, warum das, was uns mittlerweile ganz selbstverständlich als achtenswert im menschlichen Leben und als glaubhaft an modernen Praktiken erscheint, tatsächlich so achtenswert ist.“ (41 f.) Hegel als derart maßgeblichen Autor zu betrachten, ist nicht selbstverständlich – weder im anglophonen noch im deutschen Sprachraum. Pippins Schriften zielen daher stets darauf ab, mittels der konkreten Offenlegung des sachlichen Anregungs- und Lösungspotenzials Hegelscher Theorie die Gründe für eine so wohlwollende Charakterisierung des vielfach verunglimpften Philosophen zu explizieren. Es ist zu wünschen, daß Pippins Interpretationen und Thesen durch diesen deutschsprachigen Sammelband einem noch größeren Publikum zugänglich werden. In diesem Zusammenhang ist es ärgerlich, daß der Campus Verlag das Manuskript offensichtlich nur unzureichend lektoriert bzw. redaktionell betreut hat: Mag man über Druckfehler einfach hinwegsehen, gelingt dies bei den gravierenden und völlig sinnentstellenden Setzfehlern nicht. Ganze Passagen werden versehentlich doppelt gedruckt (39–41), Gedanken brechen mitten im Satz ab, man muß sich erst mühsam die zugehörigen Textbausteine zusammensuchen (vgl. 41) – das ist nicht nur empörend, sondern auch ausgesprochen lästig! Die Hegel betreffenden Aufsätze stammen überwiegend aus Pippins Buch Idealism as Modernism. Hegelian Variations. Cambridge 1997. Selbst wer dieses Buch schon kennt wird durch die Erstveröffentlichung „Hegel und das Problem der Freiheit“ (59–70) sowie den die Titelgebung aufnehmenden Beitrag „Die Verwirklichung der Freiheit. Hegels Theorie und die moderne Welt“ (71–86) Neues finden. Des weiteren sind Beiträge zu Kant, Nietzsche, Hans Blumenberg sowie Leo Strauss enthalten (immer in bezug auf das Problem der Moderne) – diese Rezension konzentriert sich auf die Beiträge zu Hegel. Hatte Rüdiger Bubner in dieser Zeitschrift auf die produktiven Erkenntnisse einer neuen Generation von amerikanischen Hegelforschern mit Pippin und Pinkard an der Spitze bereits hingewiesen (vgl.: Bubner: Überlegungen zur Situation der Hegelforschung. – In: Hegel-Studien 36. 43–60; dort 52), so kündigt das insbesondere für die Aufhellung des Kontextes des Pippinschen Schaffens lesenswerte Vorwort von Axel Honneth und
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Hans Joas ebenso unmißverständlich an, die Lektüre der vorliegenden Aufsätze führe „den Leser an die Schwelle einer der aufregendsten und bedeutsamsten Kontroversen, die die gegenwärtige Philosophie zu bieten hat“ – letztendlich gehe es in Pippins Denken „um nichts weniger als den Versuch, am Leitfaden der Idee der Selbstbestimmung die Stellung des Menschen in der Gesellschaft und in seiner natürlichen Umwelt neu zu bestimmen […].“ (13) Pippin ordnet in der eigenen „Einführung“ (15–21) sowie dem Eröffnungstext „Hegelianismus?“ (23–42) die Texte in den Umkreis seiner generellen Bemühungen ein, „einige zentrale Elemente der deutschen philosophischen Moderne auf zeitgemäße Weise zu interpretieren und in bestimmten Grenzen zu verteidigen.“ (15) Um welche Elemente handelt es sich dabei? Sie betreffen „das Verhältnis von Philosophie und historischer Aktualität“ sowie die „Philosophie der Freiheit.“ (15) Im Hinblick auf die Erschließung dieser Elemente wird sodann der Aufbau des Bandes erläutert: Zunächst liegt der Fokus auf dem Ursprung des idealistischen Projekts selbst, anschließend kommen die „Reaktionen, Widersprüche und Verwerfungen“ auf jenen Ursprung in den Blick. Dabei solle letztlich die „Relevanz des Kant-Hegel-Problems“ aufgezeigt werden, und zwar in Abgrenzung einerseits von den eher „reaktiven“ Denkern (Nietzsche, Heidegger, Strauss, Blumenberg), andererseits von jenen Denkern, die das zentrale Thema der Klassischen Deutschen Philosophie „neu zu formulieren“ versucht haben (z. B. Habermas). Pippin beklagt, daß jene Denker die Radikalität der Hegelschen idealistischen Option der Moderne häufig verfehlt hätten (15, vgl. 27 u. 170); es gelte daher, nun diese „vernachlässigte Alternative“ zu würdigen und ihr eigentliches philosophisches Potenzial auszuschöpfen. (15) Pippin läßt keinen Zweifel daran, daß er das im Deutschen Idealismus ursprünglich formulierte „Problem der modernen Philosophie“ als das „Problem der Freiheit“ (23) versteht. Der philosophische Streit über die Moderne laufe im wesentlichen auf einen Streit über die Art von „Versprechen einer besseren (wertvolleren, gerechteren, illusionsfreieren) Zukunft“ (24) hinaus, „die allgemeine Behauptung der universalen normativen Überlegenheit spezifisch moderner Institutionen und Praktiken.“ (25) Das Kants und Hegels Bestrebungen zugrunde liegende Ideal sei das „einer ganz und gar kritischen, radikal selbstreflexiven oder rational sich selbst ‚autorisierenden‘ Philosophie“ (27); es gelte, die Begründung dafür zu verteidigen, warum dieses Ideal der Selbstgesetzgebung „als höchstes oder gar absolutes Ideal gepriesen“ (28) werden sollte. Indem für Kant und Hegel das Projekt der Moderne stets mit einem praktischen Anliegen verbunden war, zielten sie – wie auch der frühe Fichte, Schelling bzw. die Linkshegelianer – darauf ab, „die Möglichkeit zu freier Selbstbestimmung, Handlung, Spontaneität, Aktivität, die Möglichkeit eines selbstbestimmten ‚absichtsvollen Lebens‘ und letztlich (im Falle Hegels) einer notwendigerweise kollektiven Handlungsmacht auszuarbeiten, zu artikulieren, zu verteidigen und damit zu verwirklichen.“ (29) Dadurch seien wiederum zwei „komplizierte theoretische Fragen“ in den Blick gekommen, einerseits die Frage nach der „Möglichkeit einer ‚kritischen‘ oder nichtmetaphysischen Darstellung des Geistigen selbst“, andererseits die Frage nach der „richtige[n] Art, die normativen Dimensionen einer solchen Aktivität zu verstehen […].“ (30) Als philosophische Quelle für diese Art von Fragestellungen und die Ermöglichung der Behauptung eines „Vorrangs normengenerierter Aktivität in jeder
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Darstellung der Erfahrung und des Handelns“ werden Kants Kritik der reinen Vernunft und die mit ihr anhebende Transzendentalphilosophie genannt. (30) Pippin verteidigt die idealistische Position gegen reduktionistische Theorien empiristischen oder naturalistischen Typs. Mit Blick auf die grundlegende Frage des Verhältnisses von Geist und Welt bedeute das: „Selbst dann, wenn die Welt dem Geist am unmittelbarsten gegenwärtig ist, im Empfinden […], sollte man nicht meinen, sie spiele in unseren Rechtfertigungen und Urteilen lediglich eine psychologische oder kausale Rolle; die Rolle, die eine derart unmittelbare Gegenwart spielt, ist vielmehr schon eine normative Rolle, die sie in jenem Raum einnimmt, den man als ‚Raum der Gründe‘ bezeichnet hat.“ (32) Und das hieße, „dass weder der je gegebene Inhalt unserer Erfahrung noch irgendeine Abfolge von Ereignissen in der Natur für das, was wir glauben oder tun, verantwortlich gemacht werden kann.“ (Ebd.) Demnach sind wir selbst verantwortlich für das, „was uns in unseren Augen durch Erfahrung aufgenötigt wird, und diese Nötigung ist rational und normativ, nicht psychologisch oder (im modernen Sinne von gesetzeskonform) natürlich.“ (Ebd.) Pippin folgert: „Je intensiver und radikaler wir das Ausmaß würdigen, in dem unser Denken aus solchen geistigen ‚Entschlüssen‘ besteht – bzw. daraus, dass wir ‚Stellung beziehen‘ –, desto stärker wendet sich unsere philosophische Aufmerksamkeit den Fragen nach der Grundlage einer solchen Normativität und nach der Natur des Streits über diese Normativität“ zu. (32) Bei der Beantwortung dieser Fragen möchte Pippin eine Hegelianische, vielleicht auch neo-Hegelianische (vgl. 41) Position einnehmen und verteidigen. Hegels Ausführungen über den Geist und die wesentliche Sozialität des Mentalen solle man so verstehen, daß das Mentale genau die Fähigkeit ist, „anderen mit Blick auf die Welt oder Handlungen normativ zu begegnen […].“ (33) Man möge sich bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber Hegel oder dem Idealismus stets klarmachen, was auf dem Spiel steht. Der idealistischen Argumentationsform müsse man sich nämlich schon deshalb zuwenden, um die „Möglichkeit einer modernen Philosophie“ bewerten zu können. Das gelte besonders für den zentralen Gedanken, „die Vorstellung, dass Aktivität, menschliches Tun, Engagement und Verhalten vermutlich keine empirischen oder materiellen und auch keine nichtempirischen oder gar immateriellen Ereignisse sind. Diese Auffassung widersteht naturalistischen Auffassungen nicht deswegen, weil sie unnatürlich wäre, sondern weil sie eine gänzlich andere Art des philosophischen Explanans darstellt.“ (35) Pippin bewertet Hegels Philosophieren als den Versuch, „so etwas wie eine internalistische, radikal stufenförmige Theorie selbstgesetzter Normativität zu liefern, eine Theorie über das, was uns zur Verfügung steht und was uns nicht zur Verfügung steht, wenn wir darüber nachdenken, wie wir zu richtigen Einsichten gelangen.“ (36 f.) Es gehe mithin „um eine nichtmetaphysische, nichtpsychologische Darstellung der Geistigkeit und Normativität, ohne die kognitive Behauptungen unmöglich wären, und um eine ähnliche Darstellung der normativen Beschränkungen eines jeden möglichen Handlungsvermögens.“ (37) Für beide Darstellungen erweise sich Hegels „Theorie historischer Rationalität und Sozialität“ als hilfreich. (Ebd.) Im dritten Kapitel („Hegel und das Problem der Freiheit“) geht Pippin auf die Schwierigkeiten des Verständnisses der Hegelschen Philosophie ein und kritisiert, daß deren spekulative Dimensionen in englischsprachigen Kommentaren gewöhnlich igno-
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riert würden. (Vgl. 59 f.) Man müsse sich aber „die Radikalität vor Augen führen, mit der Hegel die Kategorien des politischen Lebens – die Art und Weise, wie wir uns selbst als Tätige und wie wir unser kollektives Leben auffassen – zu ändern sucht.“ (60) Ein angemessenes Verständnis dieser Hegelschen Implikationen hänge jedoch gerade davon ab, „dass wir Hegels Thesen über Geist, Freiheit und die Verwirklichung des einzelnen freien Geistes innerhalb (und nur innerhalb) einer spezifisch modernen Totalität oder Ganzheit verstehen und verteidigen, und zwar in der eigentümlich spekulativen Weise, in der Hegel solch eine geistige Totalität oder Sittlichkeit versteht.“ (60) Nur mittels einer Vergegenwärtigung von „Hegels systematischem Verständnis des Geistes“, vor allem seiner Erklärung des Verhältnisses zwischen subjektivem und objektivem Geist, lasse sich überhaupt seine Auffassung von der Natur des freien Willens und damit die grundlegende These, daß der Geist nur als sittliches Wesen frei sein könne, verstehen. (61) Für Pippin steht fest, daß Hegel den Geist nicht als das „Andere“ der Natur bzw. gar als nicht- oder übernatürlich auffaßt: Hegel meine also nicht, „dass der Geist irgendetwas ist, dessen Substanz die Wahrheit der Natur wäre, sondern dass der Geist selbst die Wahrheit der Natur ist und dass er nichts anders als die Wahrheit der Natur ist. Dies ist die spekulative Auffassung.“ (62) Damit lehne Hegel nun ganz offensichtlich Kants Auffassung ab, „der zufolge die Intelligibilität unseres praktischen Daseins die Annahme eines diskontinuierlichen oder nichtnatürlichen, noumenalen Bereichs des Geistes erfordert“ (62) und wodurch Geist und Natur absolut getrennt werden. Hier wird klar, weshalb Pippin Hegels Aktualität rühmt; er präsentiert ihn als Kompatibilisten (62, vgl. 65), dem es gelinge, eine antidualistische Position zu formulieren, ohne dabei reduktionistisch zu verfahren: „Hegels Position beinhaltet, dass es eine Kontinuität zwischen den notwendigen Kategorien der Natur und des Geistes gibt, und wenn das verteidigt werden könnte, hätten wir philosophisch sehr viel gewonnen.“ (63) Als Konsequenz der These, daß der Geist „nicht als Ding“, sondern „als eine Seinsweise der Natur“ behandelt wird, daß „bestimmte Kapazitäten und Fähigkeiten zwar unter kausale Gesetze gebracht werden, aber dadurch nicht erklärt werden können“, ergibt sich Folgendes: Die Frage der Willensfreiheit ist für Hegel „keine Frage nach einer besonderen Art der Verursachung […]; sie ist überhaupt keine Frage von Verursachung.“ (66) Damit würden sich aber einige der neueren Theorien gleichsam als bedeutungslos erweisen. Die Hegelsche Konzeption der Freiheit könne „weder als voluntaristisch noch als intellektualistisch noch als antiintellektualistisch charakterisiert werden“, sie sei „eine Theorie immanenter Selbstbeziehung.“ (69) Das vierte Kapitel („Die Verwirklichung der Freiheit. Hegels Theorie und die moderne Welt“) nimmt diese Problematik erneut auf. Die ohne Zweifel wichtigste Frage unseres modernen Zeitalters – und zwar sowohl in philosophischer als auch in sozialer und politischer Hinsicht – laute: „Was heißt es, ein freies Leben zu führen?“ (71) Pippin führt „die üblichen philosophischen Deutungspositionen“ vor Augen, „um dann Hegels Theorie darin zu verorten.“ (73 ff.) Hierbei wird erneut die Differenz zu Kant betont: Wenn Hegel mit Kant auch darin übereinstimme, „dass eine freie Handlung eine solche ist, die praktisch gerechtfertigt werden kann“, müsse er „noch lange nicht die kausale Kraft von Gründen verteidigen“ – Hegel sei überhaupt „sehr viel mehr daran interessiert, in welcher Weise ich meine eigenen Taten erfahre und zu einem
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Verständnis von ihnen gelange, und nicht, ob ich sie alleinig verursacht habe.“ (76) So unterscheide sich auch seine Sicht auf die Vernunft von derjenigen Kants: „Für Hegel ist Vernunft mehr eine Teilnahme an einer regelgeleiteten, sozialen Praxis und nicht die Anwendung eines formalen Kriteriums.“ (Ebd.) Wenngleich Freiheit „eine Sache des Selbstbezuges“ sei, so erfordere sie Hegel zufolge um ihres vollständigen Ausdrucks willen „ein Leben gemeinsam mit anderen“ und damit eine „Praxis des Anerkennens und des Anerkanntwerdens im institutionalisierten Leben […].“ (Ebd.) Hegel begreife Freiheit mithin als einen „Zustand“, nicht als „kausale Kraft“. (77) Daher frage Hegel „nach dem historischen Status jener geteilten, sich entwickelnden Praxis selbst. Die Freiheitsfrage tritt als eine Frage darüber auf, ob unsere Praxis des Gebens und Akzeptierens von Gründen ein bestimmtes Stadium erreicht hat (in dem ich mich erfolgreicher als zuvor mit meinen eigenen Taten und Praktiken ‚identifizieren‘ kann) […].“ (76) Prinzipiell gelte: „Wir begreifen, was Freiheit ist, nicht auf deduktivem oder begrifflichem Wege, sondern indem wir verstehen, wie verschiedene frühere Normen die graduelle und voranschreitende Verwirklichung der Freiheit ausdrücken und wie die moderne Sittlichkeit die rationale Verwirklichung solcher früheren Versuche darstellt.“ (78) Anschließend erläutert Pippin den historischen Kontext der Entstehung einer solchen Theorie und bezieht sich dabei insbesondere auf Kants Gedanken der Selbstgesetzgebung aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als den entscheidenden „Wendepunkt“ (82). Die Entwicklungsgeschichte des Geistes könne mit Kant und Hegel „als eine kollektive historische Leistung gefasst werden, als die Geschichte des wachsenden Vermögens der Menschen, zum einen immer besser zu verstehen, was eine kollektive Selbstbestimmung (bzw. eine abnehmende Abhängigkeit von der Natur und der Berufung auf die Natur) von ihnen verlangt und dass es genau das ist, was sie (immer schon) tun, und zum anderen aufgrund dieses Verständnisses jenen Bereich immer mehr auszudehnen, der unter Berufung auf Gründe, Rechtfertigungen und Normen kohärent und kollektiv geregelt und gelenkt werden kann.“ (83 f.) Ein auf diese Weise verstandener Geist – und Pippin wirbt für diese Position – „ist folglich keine Emergenz oder Realisierung einer nichtnatürlichen Substanz, sondern reflektiert allein das wachsende Vermögen von immer noch natürlich situierten Wesen, wie sie stets erfolgreicher eine Form normativer und genuin autonomer Gleichgesinntheit erzielen.“ (84) Die Autorität der Normen ist dann „nicht ein Ausdruck der Natur, sondern sie funktionieren als unabhängige Formen einer Selbstregulation“, sie konstituieren also „den normativen Bereich, den sie regulieren.“ (Ebd.) Auf diese Weise könne man schließlich sogar Hegels schwierige Formulierung – daß sich der Begriff selbst seine Wirklichkeit gebe – verstehen. Im sechsten Kapitel („Was es heißt, ein Anticartesianer zu sein. Hegel, Heidegger, Subjektivität und Sozialität“ [105–125]) will Pippin zeigen, „dass sowohl Heidegger als auch Hegel eine antiindividualistische und antimentalistische Theorie der generellen Möglichkeit von ‚Sinn‘ – der Möglichkeit, dass überhaupt etwas verständlich sein kann (Wörter, Zeichen, Zeug, das Verhalten anderer usw.) – vertreten, unabhängig davon, ob dabei sprachliche Ausdrücke involviert sind oder nicht.“ (106) Beide Autoren lehnten eine Theorie der Subjektivität im cartesischen Sinne ab und verträten stattdessen „eine Theorie des Sozialen“: Im Falle Hegels beruhe hierbei die Möglichkeit von
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Sinn „auf unserer Partizipation am Geist“, im Falle Heideggers darauf, daß „Dasein wesentlich In-der-Welt-sein ist (und […] damit letztlich auf dessen Geschichtlichkeit).“ (107) Pippin läßt bei aller theoretischen Neugierde nie Zweifel daran, daß die Aporien von Heideggers Behandlung des Problems der Normativität eine „Rückkehr zu Hegel“ geradezu notwendig machen. (108, vgl. 112.) Auf den letzten Seiten (124 f.) listet Pippin sieben zusammenfassende „Thesen über soziale Praxis“ auf, denen man verpflichtet sei, wolle man Hegels Ansatz ernst nehmen. Er verhehlt nicht, daß damit beträchtliche Schwierigkeiten verbunden sind und kaum jemand heute alle Thesen vertritt: Sofern man aber die Normativität sozialer Normen umfassend zu erklären beabsichtige – „und zwar insbesondere die kontinuierliche und zu verschiedenen Zeiten neu konzipierte Autorität, mit der soziale Normen zweckrational handelnde Akteure an sich binden“ (125) –, dürfe man den in diesen Thesen formulierten Gedankengang nicht ignorieren. Das neunte Kapitel („Hegel, die Moderne und Habermas“ [165–190]) analysiert Berechtigung, Verdienst und Mißverständnisse der Habermasschen Reaktualisierung von Hegels Projekt der Moderne. Wie im gesamten Buch wird die idealistische Position des Begründens und Rechtfertigens in Hegels Version gegen die voreilige These verteidigt, Hegel sei letztlich nur ein Bewußtseinsphilosoph, der das Absolute schlicht voraussetze. Pippin faßt seine Einwände (die bereits 1991 formuliert wurden) wie folgt zusammen: Habermas’ Kritik basiere auf einer überaus fraglichen Lesart Hegels und verschließe sich der Radikalität der Hegelschen Moderne: Hegels Position hänge weder von der „Metaphysik des absoluten Geistes“ noch von einer „Geschichtsphilosophie“ (189) ab. Zudem könne Habermas nicht „eine kritische Theorie der Moderne […] verteidigen, ohne gleichzeitig eine Hegelsche oder narrative Bewertung der Moderne und deren Implikationen zu vertreten.“ (Ebd.) Dennoch betont Pippin die Gemeinsamkeiten der Autoren: Habermas’ Ideal der Verständigung sei „ganz klar mit den zentralen, ursprünglichen Idealen der Tradition des deutschen Idealismus verbunden.“ (187) Sowohl für Hegel als auch für Habermas betreffe das vorrangige Problem der Moderne „die Natur der kulturellen Reproduktion und Sozialisation“, beide affirmierten den Versuch der Aufklärung, „die neue integrative und sozialisierende Funktion der ‚Vernunft‘ sowohl im öffentlichen Leben als auch im theoretischen Diskurs voranzutreiben.“ (181) Der „zentrale Streitpunkt“ zwischen ihnen betreffe dagegen „die Differenzen hinsichtlich der Frage, wie die Berufung auf die Vernunft in der Moderne zu verstehen ist.“ (180) Folglich stellt Pippin die Frage, worin „der Unterschied zwischen Hegels Darstellung einer kollektiv selbstgegründeten Subjektivität und Habermas’ Darstellung eines prozedural regulierten intersubjektiven Diskurses“ (180) bestehe. Hier kann nur Pippins Ergebnis festgehalten werden: Für einen Hegelianer sei es weder überzeugend noch ausreichend, „die Rationalität“ oder gar Wahrheit von Aussagen nur „hinsichtlich der Frage [zu] betrachten, ob sie in verfahrenstechnisch korrekter Weise produziert wurden, weil das, worauf man sich in dem Verfahren beruft, bereits viele geteilte Annahmen über die Details eines derartigen Aushandlungsprozesses reflektiert.“ (188) Und diese Details seien – sogar nach Habermas’ eigener Theorie – „immer in einem solchen dialogischen Aushandlungsprozess vorausgesetzt, und sie steuern ihn entscheidend.“ (Ebd.) Pippin folgert nun: „Wenn man das Habermassche Bild konkreter machen und solche
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geteilten Annahmen auch als das kumulative Ergebnis eines idealisierten Prozesses kollektiver Deliberation betrachten könnte, hätte vieles von dem, was Habermas sagen will, Bestand.“ (Ebd.) In einer Fußnote formuliert Pippin gleichsam nebenbei eine Aufgabe: Wir benötigten „eine Darstellung der wissenschaftlichen oder auch anderer Einstellungen zum Kosmos, in der diese Einstellungen als Ergebnisse einer historisch sich selbst bestimmenden, kollektiven Subjektivität aufgefasst werden.“ – Eine Untersuchung dieses „Ganzen“ könnte helfen, „den Ursprung der modernen ‚Selbstdifferenzierung‘ in radikal unterschiedliche ‚Wertsphären‘ ein wenig zu verstehen; und das ist etwas, wofür Habermas keine Erklärung hat.“ (189, Fußn. 132) Pippin beschließt den Text mit der eingangs zitierten Aufforderung, Hegel als den „wichtigste[n] Teilnehmer im ‚Diskurs der Moderne‘“ (190) zu akzeptieren. – Sein Buch ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich Hegels Denken für die Beantwortung dieser aktuellen Fragen nutzbar machen läßt und warum er generell „als anspruchsvolle Stimme in modernen philosophischen Debatten über die Natur des Selbstbewusstseins, des Geist-Welt-Verhältnisses und des sozialen und begrifflichen Wandels“ (40) vernommen werden sollte. Steffen Schmidt (Jena)
Giuseppe Duso/Gaetano Rametta (Eds.): La libertà nella filosofia classica tedesca. Politica e filosofia tra Kant, Fichte, Schelling e Hegel. [Die Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie. Politik und Philosophie zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel.] Milano: FrancoAngeli 2000. 185 S. (Per la storia della filosofia politica. In collaborazione con l’Istituto per gli Studi Filosofici) Das als Ergebnis eines in Padua abgehaltenen internationalen Kongresses veröffentlichte Buch thematisiert die in der Klassischen Deutschen Philosophie im Mittelpunkt stehende Frage der Freiheit mit der Absicht, den typisch modernen, individuumszentrierten Horizont gleichzeitig zu erweitern und zu vertiefen. Ziel der Arbeit ist, der heutigen Fragmentierung des sozialen Lebens und Denkens eine Konstellation entgegenzusetzen, welche die Freiheit in ihren spekulativen und ontologischen bzw. ontotheologischen Wurzeln erforscht und so einen produktiven Schwung für die (Um-) Gestaltung des Menschenverständnisses, der Politik und der Gesellschaft zu gewinnen. Und dies ohne banale und zwanghafte Automatismen: Wie Giuseppe Duso und Gaetano Rametta schon in der „Introduzione“ („Einleitung“, 7–10) eindeutig klarstellen, sei die Verwurzelung der Freiheit in der spekulativen Dimension ein Grund zur umfassenden Analyse und Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gewesen, die daher als prozessual und sich-selbst-schaffend hat verstanden werden können. Die „Verkomplizierung“ der theoretischen Begriffe auf der politischen Ebene, die daraus entsteht, ist dann im positiven Sinne als gegenseitige Bereicherung des Verhältnisses zwischen Denken und Welt zu verstehen, die immer wieder zu neuen Überlegungen und Lösungen auffordert, die zu neuen – und nicht unbedingt linearen – Entwicklungen führen (wie gemeinhin angenommen).
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Die unterschiedlichen Facetten und Problembereiche der Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie stellt Claudio Cesa („Libertà e libertà politica nella filosofia classica tedesca“ [„Freiheit und politische Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie“, 11–29]) analytisch dar: Begrifflichkeit und Rezeption, geschichtlich-genetische Entwicklung der Gedanken und historische Bezüge, metaphysische Einbettung des Freiheitsbegriffs und politische Anwendungsbereiche werden in einen lebendigen Zusammenhang miteinander gebracht und zugleich problematisiert und hinterfragt. Dabei warnt Cesa vor einer zu direkten Verbindung zwischen philosophisch-metaphysischem und politischem Verständnis der Freiheit. Wenn eine gewisse Konvergenz stattgefunden haben konnte, handelt es sich seines Erachtens um eine begrenzte Phase des Denkens, die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch unter dem Einfluß der Französischen Revolution erstreckt habe. In der Folgezeit seien die Verhältnisse problematischer und durchdachter geworden: Die Reflexion fokussiere hauptsächlich auf die spekulativ-metaphysische Bedeutung der Freiheit, was im übrigen nicht ausschließe, daß diese Denker und ihre Nachfolger ein tieferes Bewußtsein von Freiheit und ihren politischen demokratischen Implikationen haben erringen können. Parallel dazu bewege sich der Freiheitsbegriff von seiner überwiegend praktisch geprägten Konnotation, die beim frühen Fichte ihren Höhepunkt erreiche, zu einem Heraustreten aus dem Ganzen, welches einen Individuationsprozeß in Gang setze, aber auch die Wiederherstellung eines höheren Gleichgewichts durch Verfassung und Institutionen erfordere. Beim Versuch, den Freiheitsbegriff auszudehnen und in seiner spekulativen Dimension zu erfassen, nehmen Schellings philosophische Überlegungen gegenüber Kant den entgegengesetzten Weg: Wo Kants transzendentale Methode sich als aufsteigend erweist, indem er von den menschlichen Vermögen ausgeht, ständig um die Grenzziehung bemüht ist und erst vermöge transzendentaler Strukturen das Unendliche erblicken läßt, bewegt sich Schelling innerhalb einer ontotheologischen Dimension, welche die Freiheit kosmologisch zu begründen versucht. In Xavier Tilliettes Beitrag („Le Ricerche filosofiche di Schelling e l’ontologia della libertà“ [„Schellings Philosophische Untersuchungen und die Ontologie der Freiheit“, 31–39]) wird diese Perspektive treffend hervorgehoben: Die Freiheit wird mit der Möglichkeit des Abfalls und des Bösen in Verbindung gesetzt, welche in der ursprünglichen Dunkelheit der Schöpfung ihren latenten Anfang (wenngleich nicht ihre Wirklichkeit) finde. Die Wirklichkeit der Freiheit impliziere daher eine Verdoppelung der Perspektive: Als menschlicher Vorgang sei sie in der Kosmogonie verankerter Ausdruck einer Wahl zwischen Gutem und Bösem, wobei das letztere nicht als mangelhafte Erscheinung, sondern als durch die Ichhaftigkeit der Individuen erwirkte „positive“ Pervertierung verstanden werde; als ontotheologische Dimension ist sie Freiheitsakt der Schöpfung und sich ausdehnende Selbsterscheinung, dem sich der moralische Entscheidungsakt des Menschen qua intelligibler als analog erweise, wenn er auch durch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Bösen geprägt werde. Bei Kant dagegen wird der Bereich des Übersinnlichen und Unendlichen auf der einen Seite durch eine Grenzziehung gegenüber der Welt der Phänomene und auf der anderen Seite durch Momente und Aspekte, die auf eine Überschreitung hindeuten,
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indirekt erschlossen. Die Freiheit, wie Gabriele Tomasi („Morality not mysterious? Riflessioni sul concetto kantiano di libertà a partire da Rel B 207–222” [„Morality not mysterious? Reflexionen über Kants Freiheitsbegriff im Ausgang von Rel B 207–222“, 59–85]) bemerkt, sei eines dieser Momente, indem sie etwas Unergründliches, Unbeweisbares und Geheimnisvolles enthalte. Die Freiheit als Kausalität, die mit sich selbst und durch sich selbst beginne, könne nicht auf die Erfahrung zurückgeführt werden. Sie weise auf das Mysterium hin, indem dieses mit Leibniz’ Worten ein Überrationales (aber kein Irrationales) zum Ausdruck bringe. Dennoch könne sie bei Kant nicht ganz auf den Bereich des Mysteriums zurückgeführt werden, indem er das Geheimnis als nicht-kommunizierbar verstehe, während die durch die Freiheit eröffnete Sphäre der Moralität verallgemeinbar und kommunizierbar sei. Die Freiheit situiere sich dann zwischen Glauben und Wissen, denn sie erweise sich als nicht-widersprüchlich und sei durch das Faktum der Vernunft und ihr Gesetz in ihrer Möglichkeit beweisbar. Analog zur Schwerkraft sei die Freiheit in ihren Wirkungen erkennbar, aber nicht in ihrem Ursprung und ihrer Ursache. Das Mysterium kehre aber wieder, wenn von der Konvergenz zwischen Moralität und Glückseligkeit die Rede sei und eine höhere Harmonie zwischen Natur- und Freiheitsgesetzen beansprucht werde. Das Mysteriöse betreffe dann die Frage, wie viel in unseren Handlungen durch die Natur und wie viel durch die Freiheit bestimmt werde, und ob unser freies Handeln, dessen Gesetzlichkeit wir erkennten, tatsächlich zum höchsten Guten beitrage. Die Problematik des Grundes der Freiheit behandelt auch Wolfgang Kersting [„Libertà e obbligazione in Kant“ [„Freiheit und Verpflichtung bei Kant“, 42–57], auch wenn seine Perspektive mehr auf die politische Bedeutung der Freiheit bei Kant verweist. Kersting macht insbesondere auf die Verbindung zwischen Freiheit und Verpflichtung aufmerksam, die nach dem modernen Verzicht auf die theologische Legitimierung neue Weisen der Begründung erfordere. Im Gegensatz zu Hobbes oder Hume entbinde Kant die Selbstverpflichtung von jeglicher Berücksichtigung von Interessen. Die Verpflichtung entstehe daher aus der autonomen Gesetzgebung der Vernunft, die unabhängig sei von jedweder Voraussetzung. Dies führt aber lt. Kersting zu einer Auffassung, die zwischen Dezisionismus und Tautologie schwanke, indem diese Gesetzgebung auf der einen Seite keinem äußeren Interesse oder Motiv unterworfen sei und auf der anderen Seite nur eine Selbstautorisation der Vernunft zum Ausdruck bringe. Bezüglich Kerstings Ausdeutung könnte man aber einwenden, daß eine derartige Reduktion die Gleichsetzung von Vernunft und Willkür bedeute, während die Selbstautorisation der Vernunft immer die Feststellung einer inneren Gesetzlichkeit involviere. Kerstings Interpretation erweist sich aber als überzeugend und schlüssig, wenn die moralische Freiheit durch die Verpflichtung eine Beziehung zum Recht herstellt, die zugleich eine Begründung leistet. Das Recht behält zwar seine Eigenständigkeit, indem das Element des äußeren Zwangs eine unerläßliche Rolle spielt; dennoch ist dieser Zwang als philosophisch-rechtliches Korrelat zur moralischen Verpflichtung durch den kategorischen Imperativ zu verstehen, das in ihr a) die wirkliche (und innerliche) Begründung der rechtlichen Verpflichtung findet, b) die Seite der aktiven Beteiligung der einzelnen Subjekte am Rechtssystem zur Geltung bringt und c) die Übertragung der inneren moralischen Verpflichtung auf eine intersubjektive Ebene leistet.
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Die Freiheit wird daher zum verbindenden Begriff bzw., wie Gaetano Rametta („Libertá, scienza e saggezza nel ‚secondo‘ Fichte“ [„Freiheit, Wissenschaft und Weisheit beim ‚zweiten‘ Fichte“, 87–115]) mit Blick auf Fichte klarstellt, zum Oberbegriff. Diese Potenzierung der Freiheit bedeute sowohl eine Umwandlung ihrer Begrifflichkeit als auch eine ständige Bearbeitung und Überarbeitung ihrer Fähigkeiten und Konnotationen: Rametta stellt drei Momente der Fichteschen Reflexion heraus: 1. die Wissenschaftslehre von 1794, in der die Freiheit als Unbedingtheit das Handeln des Ich grundsätzlich konnotiere, sich durch die Wechselbeziehung zwischen Trieb und Handeln weiter bestimmt, aber nie endgültig eingrenze und dabei das Sollen als unbedingt und unerschöpflich gelten lasse; 2. Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, worin dagegen auf die Freiheit in der philosophischen Selbsterkenntnis fokussiert werde. Rametta: „Es handelt sich nicht mehr um das Sollen als praktische Forderung, die das Ich zum Handeln treibt, sondern um das Soll als logische und modale Kategorie, welche die Beweisstruktur der Wissenschaftslehre als philosophisch-transzendentales Wissen kennzeichnet“ (94) und die Freiheit immer als eine Unbedingtheit versteht, die aber das Entspringen des absoluten Wissens aus einer freiwilligen Untersuchung betrifft; 3. die Wissenschaftslehre (1811), welche eine Betonung des Soll als Ausdruck einer den gesamten wissenschaftlichen Vorgang durchdringenden Freiheit bewirke, die das Absolute als ein unendliches Vermögen erscheinen lasse. Dessen Realisierung werde niemals der Notwendigkeit des „Muß“ unterworfen und werde sich daher radikal als Freiheit ausdrücken: Das Praktische komme hier wieder zur Geltung, aber das Soll des Handelns werde durch die Einsicht in die Verbindung zwischen Absolutem und Selbsterscheinung, die die Bedingungen seiner Möglichkeit (und Ermöglichung) durchscheinen lasse, unumgänglich geprägt. Um das Sollen der Freiheit und deren Vollzug geht es auch in Luca Fonnesus Beitrag („La libertá e la sua realizzazione nella filosofia pratica di Fichte“ [„Die Freiheit und ihre Realisierung in Fichtes praktischer Philosophie“, 117–131]), wobei die Themen Verwirklichung und Erweiterung des Freiheitsbegriffs als die Konsequenz eines Ungenügens der Kantischen Behandlung verstanden werden, die Fichtes und Hegels Unternehmen vereinige, auch wenn ihre Auffassung von dem Vollzug divergiere. Fichte korrigiere daher das Kantische Verständnis der Freiheit in drei Richtungen: 1. Er verwandele Kants Begriff des Sollens in eine konkrete, zu verwirklichende Aufgabe, die sich nicht wie bei Hegel als aktuelle, in der Wirklichkeit integrierte Idee herausbilde, sondern das Handeln leite und ständig „vorbildet“; 2. er analysiere (so wie Hegel) die unterschiedlichen Sphären des Realen (Recht und Sittlichkeit) als Anwendungsbereiche des Freiheitsbegriffs, dessen Prinzip in der Spontaneität des Selbstbewußtseins und in ihrer weiteren Entwicklung als durch Bewußtsein konnotierten Willen genetisch wiedergefunden werde (daraus folge sowohl das Verständnis von Recht und Sittlichkeit als Formen freier Kausalität und objektivierter Freiheit als auch ein vertieftes Freiheitsbewußtsein, das eine radikale Umstellung der Denkungsart hervorrufe, wie Fichte durch die spätere Reflexion zum Vorschein bringe); 3. er betrachte die Freiheit in einer prinzipiellen intersubjektiven Perspektive, die sich durch Formen gegenseitiger Anerkennung einstelle und eine grundlegend gesellschaftliche Gestalt annehme, welche die Abstraktionen von Recht und Moralität wirksam überwinde.
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Die Verwirklichung der Freiheit wird zum Hauptthema auch bei Hegel, wie Angelica Nuzzo („La ‚veritá‘ del concetto di libertà secondo Hegel: ‚Dasein‘ e idea della libertà nell’eticità“ [„Die ‚Wahrheit‘ des Freiheitsbegriffs nach Hegel: ‚Dasein‘ und Freiheitsidee in der Ethik“, 147–170]) hervorhebt, indem die Freiheit die Substanz bzw. die Substantialität des Willens zum Ausdruck bringe, der Gestalt annehme und sich konkret differenziere und konfiguriere. Die Freiheit gehe vom Zustand der Möglichkeit zur Wirklichkeit und zum konkreten Dasein über: „Die Entwicklung der Freiheit als ‚Begriff‘ ist der Prozeß, der von der Freiheit als Substanz des Willens zur ethischen Substanz als wahrhafter Freiheit des Individuums in der Ausübung seines Willens führt.“ (148) Die Logik des Begriffs enthalte seine Verwirklichung, die nur durch artikulierte, durch die Subjektivität vermittelte Formen stattfinden könne und das Recht als Verwirklichung der Freiheit verstehe und vollziehe. Die Freiheit werde dann in ihrer Körperlichkeit als lebendiger, aber gleichzeitig objektivierter Organismus erfaßt. Hobbes habe auch vom politischen Körper gesprochen; dennoch sei sein Verständnis von Organismus naturalistisch gewesen, indem die geistige Komponente der Freiheit nicht zur Geltung gekommen sei. Bei Hegel dagegen sei die körperliche Freiheit des Rechts vom Geist durchdrungen, und dies erkläre, wie Nuzzo richtigerweise hervorhebt, warum man sich auch als Gefangener durch einen subjektiven Akt als frei erkennen könne, aber dabei keine objektiv-intersubjektive Anerkennung erlange. So Hegel: „[…] für den anderen bin Ich in meinem Körper; frei für den anderen bin ich nur als frei im Dasein“ (vgl.: TWA 7, § 48, A.), wodurch die objektivierte und nicht die bloß behauptete Freiheit zum Gegenstand des Rechts werde, welches sich im übrigen nur durch das konkrete gemeinschaftliche Leben und sein äußerliches Dasein, d. h. Gesetze und Institutionen, begriffsadäquat etablieren lasse. Die Adäquanz und sogar die „Adhärenz“ der Wirklichkeit zum Begriff sind aber nicht unproblematisch. Klaus Düsing („Le determinazioni della volontà libera e la libertà del concetto in Hegel“ [„Die Begrenzung der Willensfreiheit und die Freiheit des Begriffs bei Hegel“, 133–146]) und Giuseppe Duso („La libertà politica nella Rechtsphilosophie hegeliana: una traccia“ [„Die politische Freiheit in der Hegelianischen Rechtsphilosophie: eine Spur“, 171–185]) stellen diesbezüglich zwei entgegengesetzte Pole der Interpretation dar: Klaus Düsing sieht in der Philosophie von Kant zu Hegel eine Zentralität der Freiheit, die aber in einem Idealismus kulminiere, der die Freiheit des Einzelnen gefährde. Für Düsing gibt es bei Hegel eine innere Kongruenz zwischen der Entwicklung der logischen Bestimmungen des Begriffs und derjenigen des Willens, was die Korrespondenz zwischen denkendem und handelndem (sowie wollendem) Selbstbewußtsein hervorrufe. Das Ich partikularisiere sich durch einen genetischen Prozeß des Willens, der aber nicht zur absoluten Subjektivität gelange: Der Wille bleibe aus diesem Grund in der Substanz verfangen, was die Individuen zu Akzidenzien herabsinken lasse und so ihre persönliche Freiheit insbesondere im Fall einer Verkehrung des Sittlichen in einen Machtstaat in Gefahr bringe. Giuseppe Duso sieht dagegen in der Hegelschen Sittlichkeit den Ausdruck einer verwirklichten Freiheit, die über die einseitige Entgegensetzung zwischen der besonderen Freiheit der einzelnen Individuen und der Freiheit des Staates als Ganzen hinausgehe und den Begriff der Herrschaft im modernen Sinne als Quelle der Verwirklichung
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der Freiheit aller verstehe und übernehme. Die Freiheit der Bürger bedeutet dann eine Potenzierung ihrer Handlungsfähigkeit, die sich in konkreten Beziehungsnetzen äußere, ihre besonderen Interessen sowie ihr Wissen und Wollen berücksichtige und sich daher als bewußte politische Tätigkeit vollziehe. Die aktive Teilnahme beinhalte ihrerseits sowohl Wahlfreiheit und Entscheidung – welche die subjektive Seite zur Geltung bringe – als auch die Handlung innerhalb artikulierter Sphären und Situationen, was sowohl der Differenz und dem Pluralismus als auch der effektiven Objektivierung der Freiheit Rechnung trage und eine verwirklichte Integration zwischen Besonderheit und Allgemeinheit leiste. Die Frage nach der individuellen Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie scheint somit eng verbunden zu sein damit, wie der Beitrag und die Tätigkeit der Einzelnen zur Geltung kommt. Wird die Verwirklichung der Freiheit als passive Adhärenz zum Ganzen ausgelegt, so ist die Sittlichkeit dem Risiko der Entpolitisierung und der Herabsetzung des Individuums ausgesetzt. Wenn aber die sittliche Freiheit als aktive, durch die Einzelnen sowie durch die Institutionen vollzogene Teilnahme verstanden wird, die sich situationsbewußt differenziert gestaltet und intelligente Einsicht nicht mit blindem Gehorsam verwechselt, bleiben Bereiche der Entscheidung und der freien Handlung (und Gestaltung) den Individuen gewährt, die sie aktiv mitreden und -wirken lassen. Dazu ist es aber notwendig, an dem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Faktizität festzuhalten, wodurch die Logik des Begriffs einen normativen Anspruch den empirischen Zuständen gegenüber erhebt und nach wie vor als begründete Rechtfertigung für Reformen,Verbesserungen und kritische Überprüfungen gilt. Cristiana Senigaglia (Triest)
Silvia Rodeschini: Costituzione e popolo. Lo Stato moderno nella filosofia della storia di Hegel (1818–1831). [Verfassung und Volk. Der moderne Staat in Hegels Geschichtsphilosophie (1818–1831).] Quodlibet Studio: Macerata 2005. 299 S. Das Bild eines systematischen Hegel, der in seinen fünf Berliner Vorlesungen seine philosophische Konzeption der Geschichte nicht sonderlich modifiziert habe, geht aus den verschiedenen Editionen der Philosophie der Geschichte von Eduard Gans (1837), Karl Hegel (1840) und sogar von Georg Lasson (1917–1920) hervor. Nach Hegels Tod erfahren nämlich – wie Silvia Rodeschini deutlich in der „Einleitung“ („Introduzione“, 11–31) und im Anhang („Appendice“, 273–294) ihres vorliegenden Buches zeigt – auch die Überlegungen zur Philosophie der Geschichte das gleiche Schicksal, das auch andere von Hegel selbst nicht veröffentlichte Vorlesungen ereilt haben. Die Vorlesungen, die sonst für das große Publikum unbekannt geblieben wären, sind von einigen Hegelschülern ediert worden. Diesen ging es jedoch nicht vorrangig um editorische Genauigkeit, sondern eher um eine eindeutige und leicht verständliche Präsentation der Philosophie ihres Lehrers. So erklärt Eduard Gans in seiner „Vorrede“ zur Hegels Philosophie der Geschichte
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unschuldig, daß er den Lesern einen gut lesbaren Text anbieten möchte und aus dieser Sicht den mündlichen Vortrag Hegels revidiert habe. (Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von D. Eduard Gans. Neunter Band. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin 1837. XVI–XX.) Auch Karl Hegels „Vorrede“ seiner Edition entsteht in diesem Klima und ist explizit als ein Denkmal für den verstorbenen (Vater) Hegel konzipiert. (Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von Dr. Eduard Gans. Neunter Band. Zweite Auflage besorgt von Dr. Karl Hegel. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin 1840. XXI.) Und auch in der Edition Georg Lassons (1917–1920), der ausdrücklich Gans’ und Karl Hegels Arbeiten kritisiert (vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu herausgegeben von Georg Lasson. I. Hälfte. Leipzig 1917. „Vorwort des Herausgebers“. V), werden, jedoch ohne Hinweis, Texte aus verschiedenen Vorlesungen homogenisiert, wodurch es erschwert wird, die chronologische Entwicklung von Hegels philosophischer Konzeption der Geschichte zu rekonstruieren und nachzuvollziehen. Sogar Hoffmeisters Edition (1955) kann – wie Silvia Rodeschini anmerkt – nicht als kritische Ausgabe bezeichnet werden, obgleich diese Edition einen Wendepunkt darstelle. Erst sehr spät, und zwar 1996 und 2005, sind einzelne Vorlesungen publiziert worden, nämlich die erste (Wintersemester 1822/23) und die letzte (Wintersemester 1830/31), und nicht wie zuvor üblich eine verworrene Mischung aus verschiedenen Semestermanuskripten. (Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/1823. Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Herausgegeben von Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelmann. Hamburg 1996. – Sowie: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann [Winter 1830/1831]. Herausgegeben von Klaus Vieweg. München 2005. [jena-sophia. Abteilung I – Editionen. Band 3.]) Das Resultat einer vergleichenden Lektüre von im letzten Jahrzehnt edierten Manuskripten der Studenten und zuvor edierten Texten ist leider vorhersehbar: Der Hegel, der Generationen von Lesern durch die ersten Editionen bekannt war, kollidiert mit dem „anderen“ Hegel, der aus der direkten Lektüre der Nachschriften hervortritt. Allmählich hat sich jedoch eindeutig ergeben, daß eine absolut präzise und systematische Rekonstruktion aller Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte unmöglich ist, da wir heute unglücklicherweise keine Quelle zum Wintersemester 1828/ 29 besitzen. Jedoch erweist sich der Rückgriff auf die edierten und unedierten Hörermanuskripte der Hegelschen Vorlesungen als unentbehrlich für jede wissenschaftliche Arbeit – wie diejenige Silvia Rodeschinis –, die mit Recht der Entwicklung des Hegelschen Gedankens nachgehen will. Als entsprechender Nachweis können die wertvollen Analysen der Verf.in im vorliegenden Buch bezüglich eines Schlüsselbegriffs ihrer Recherche, und zwar des Begriffs Volk, gelten. Hegel verwendet die Begriffe Volk und Volksgeist seit der Frühzeit seiner philosophischen Initiativen. Es haben sich jedoch – laut Rodeschini – von den Grundlinien der Philosophie des Rechts bis zu den Berliner Vorlesungen deutliche Abweichungen
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ergeben, die zeigen, daß ein fundamentaler Begriff wie Volk eigentlich nicht endgültig ausgearbeitet worden ist. Während 1821 Volk auf eine Gesamtheit von Traditionen verweise, bezeichne es in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Wintersemester 1822/23) eine historisch-politische Entität. Wenn Hegel sich mit Volk auseinandersetze, gehe es ihm also um das gleiche, was in jenen Jahren in Frankreich mit dem Begriff Nation entwickelt werde. Die Verf.in unterstreicht jedoch, Hegel spreche niemals von Volk als etwas Natürlichem, wie dagegen z. B. Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) in Gestalt des Begriffs Deutsches Volkstum aus dem Jahr 1810. Die kollektive Identität einer Gesellschaft entstehe für Hegel niemals unvermittelt und selbsterzeugend aus einem gemeinsamen Herkunftsland oder aus einer gemeinsamen Sprache. Volk-Sein sei immer Resultat, stets reflexiver Akt. Anhand der Analyse der Vorlesungsnachschriften geht die Verf.in ausführlich auf diesen Zusammenhang im zweiten Kapitel („Considerazioni sulla razionalità storica: premesse alla filosofia della storia“ [„Überlegungen zur historischen Vernunft: Vorbemerkungen zur Philosophie der Geschichte“, 103–183]) ein. Das Volk spiegle sich in seinen Werken, seiner Religion, seinen Gesetzen und seiner Kunst. Jedes Volk ist also ein Werk, und das Volk geht nicht den Produkten des gemeinsamen Lebens voran, sondern es resultiert aus diesem Zusammenleben. Der Ursprung des Werkbegriffs in Hegels Denken ist eigentlich ein ästhetischer: Im Kunstwerk objektiviert eine politische Gemeinschaft sich selbst und drückt ihr Wesen und ihre Einheit aus. Auch in Heimanns Vorlesungsmitschrift der letzten Vorlesung des Wintersemesters 1830/31 kehrt diese enge Verknüpfung zwischen Werk und Volk wieder: Das Volk resultiere aus sich selbst, es sei ein Produkt seiner selbst. Als Beispiel dafür erwähnt Rodeschini Hegels Betrachtung der Ägypter in den Berliner Vorlesungen und zeigt, wie sich Hegels Interesse von Jahr zu Jahr auf die verschiedenen Aspekte dieser Gesellschaft konzentriert habe: von den Pyramiden und den Tempeln (Wintersemester 1822/23) bis zur Fähigkeit der Ägypter, den Nil zum eigenen Vorteil zu nutzen (Wintersemester 1830/31). Das Geistige des ägyptischen Volks werde jedoch hauptsächlich durch die Religion übertragen. Das Wesen der Ägypter drücke sich in der Religion und im Isis- und Osiris-Kult aus. Das Geistige stehe hier aber noch unvermittelt neben der Natur, jedwedes erscheine noch rätselhaft und geheimnisvoll, und noch spiele das Naturverständnis eine entscheidende Rolle in allen Lebensbereichen, von der Architektur bis zur Medizin. Wenn man demnach das Rätsel als Paradigma des ägyptischen Volks wählen könnte, sei es eher der Traum, der eine andere von Hegel in den Vorlesungen analysierte Kultur auszeichne, nämlich die indische Kultur. Im Traum verschmelzten Inneres und Äußeres, hier liege noch keine Rückkehr des Geistes zu sich vor. Aus diesen Gründen könne in diesem Zusammenhang vom Staat selbstverständlich noch nicht die Rede sein, da noch keine Voraussetzungen für seine Gründung existierten. Jedoch übe Indien als weltgeschichtliches Volk auf Hegel eine gewisse Anziehungskraft aus, was auch in seinen Berliner Vorlesungen spürbar werde, wenn er die verschiedenen Weisen und Stufen des Selbstbewußtseins der Völker und deren Beitrag zur Verwirklichung der Freiheit analysiere. So werde deutlich, daß die Inder Bewußtsein von sich durch Religion erreichten, die wesenhaft pantheistisch sei. In der Rekonstruktion Rodeschinis wird so allmählich
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klar, daß bei Hegel die Religion eine relevante gesellschaftliche Funktion ausübt, die sich jedoch nicht ausschließlich auf die antike Welt beschränkt. So gelangt man zu einem wichtigen Aspekt, der unter einer anderen Perspektive schon in der Phänomenologie des Geistes auftaucht, nämlich zur philosophischen Entdeckung des Subjekts, die eine Folge des „skandalösen“ Wesens des Christentums sei. Allein die christliche Religion ist nach Hegel die wahre. Hier werde Gott als Geist konzipiert, hier vereinten sich Subjekt und Objekt, wie sich in Christus die göttliche und die menschliche Natur vereinten. Der Mensch gelte endlich als ein solcher, was impliziere, grundsätzlich niemand mehr sollte zum Sklaven gemacht werden. Dieses neue Verständnis des Menschen hat natürlich auch politische Konsequenzen. In diesem Sinn betont Rodeschini die enge Beziehung zwischen Christentum und Politik, die aus den Berliner Vorlesungen hervorgehe und sie durchzöge. Moderne Subjektivität sei für Hegel nämlich christliche Subjektivität, und der moderne Staat beruhe darauf, daß die Subjekte innerlich gebildet und zur Überwindung der Partikularität erzogen seien. In der ersten Vorlesung des Wintersemesters 1822/23 vertritt Hegel also die Ansicht, der Staat gehe aus der Religion hervor und existiere vor dieser gar nicht. Diese harmonische Ableitungsbeziehung sei möglich, da das Volk Staat und Religion verbinde. Im modernen Staat seien Institutionen Werk des Volks, es fühle sich selbst seinem Staat verbunden. In der letzten Vorlesung des Wintersemesters 1830/31 gehe Hegel aber noch weiter. Er rechne nämlich dem Christentum nicht einfach als Verdienst an, die Freiheit der Menschen zum Hauptwert gemacht und verteidigt zu haben, sondern meine, wie Karl Hegels Manuskript dokumentiere, das Prinzip des Christentums, nämlich die Freiheit, habe auch den Inhalt der staatlichen Gesetze bestimmt. Wie also Rätsel und Traum die Quintessenz des ägyptischen und indischen Volks ausmachten, so seien Denken und Verfassung priviligierte Ausdrücke moderner Staaten, in denen das Christentum zur wesentlichen Matrix der politischen Modernität geworden sei. Auch die Verfassung sei demnach das Resultat eines reflexiven und kollektiven Objektivierungsakts. Hier spüre man die Einheit der modernen Völker, wie man in den Kunstwerken und in der Religion die Einheit der alten Völker habe entdecken können. Schon im ersten Kapitel („Spirito del popolo e costituzione: storicità e conflittualità nello Stato hegeliano tra il 1818 e il 1823“ [„Volksgeist und Verfassung: Geschichtlichkeit und Konfliktualität im Hegelschen Staat 1818 und 1823“, 35–102]) des vorliegenden Buchs hebt die Verf.in hervor, die Verfassung stelle keine bloße Reihe von Gesetzen dar, sondern bezeichne die objektive Struktur des Staats. Sie entspringe aus dem Geist des Volks und hänge direkt von diesem ab. Die Verfassung werde also auf keinen Fall von einem individuellen bzw. von einem kollektiven Subjekt „produziert“, sondern wachse mit dem Staat. Sie existiere im Staat und sei in der politischen staatlichen Struktur je schon wirksam. Die Verf.in erinnert daran, daß Hegel das Modell der Naturrechtslehre eindeutig ablehne. Staat und Gesellschaft entstünden nach Hegel nicht aus einer Konvention zwischen Individuen, denn nur im Staat könne sich die moderne Subjektivität verwirklichen. Der Staat sei der Ursprung der Politik. Die einzelnen Subjekte existierten als solche von daher überhaupt nicht vor dem Entstehen einer ethischen Einheit.
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Im dritten Kapitel („Modernità politica: L’autocoscienza della libertà e i conflitti storici dell’età moderna“ [„Moderne Politik: das Selbstbewußtsein der Freiheit und der historische Konflikt der modernen Zeit“, 185–256]) widmet sich die Verf.in dann der Analyse der Hegelschen Betrachtung der Moderne in den Berliner Vorlesungen. Sie betont, daß Hegels Reflexionen von Jahr zu Jahr revidiert und weiterentwickelt worden seien. Ein bedeutendes Ereignis für die Moderne sei natürlich die Reformation, die sowohl bedeutende Konsequenzen für die philosophische Konstitution des modernen Subjekts gehabt als auch – wie im Wintersemester 1830/31 deutlich werde – praktische und politische Transformationen verursacht habe. Das reformierte individuelle Bewußtsein emanzipiere sich von der schweren Bürde der Sensibilität und erhebe sich zu einer geistigen und abstrakten Konzeption von dem Allgemeinen und von einer unkörperlichen Präsenz Gottes. Es sei sicherlich noch vom Allgemeinen abhängig, stelle jedoch für Hegel eine wichtige Voraussetzung dar und antizipiere die moderne Freiheit des Bürgertums. Besonders in der letzten Vorlesung betrachtet Hegel aber auch die politischen Wandlungen, die die Reformation eingeleitet habe. Mit dem Ende der Religionskriege entstehe der Nationalstaat, und die tiefgreifende Reformation komme paradoxerweise jenseits der Religion zum Tragen. Besonders in Deutschland verwandle sich dank des Königs und Philosophen Friedrich II. die protestantische Freiheit in eine reelle: Im Preußischen Landrecht nämlich nehme das Prinzip des Protestantismus die Form des Rechts an. Im Gegensatz dazu blieben die romanischen und katholischen Nationen in Hegels Sicht entzweit. Eine starke Opposition zwischen dem Gewissen und den Gesetzen des Staates spalte sie, wie Karl Hegel anmerkt, während die protestantischen Nationen sich auf die Innerlichkeit und auf die positive Deutung der Arbeit und der menschlichen Aktivitäten stützten, wie nach Hegels Ansicht die Staaten der nordamerikanischen Föderation im Gegensatz zu den südamerikanischen zeigten. Anhand der Nachschriften der Berliner Vorlesungen Hegels also bietet Silvia Rodeschini dem italienischen Leser einen anregenden Text, in dem sich die theoretische Konzeption des Bewußtseins und des Subjekts allmählich sehr eng mit der Politik und der Vernünftigkeit des Staats und der modernen Institutionen verknüpft. Der direkte Zugang zu vielen noch unveröffentlichten Quellen, die sämtliche Nuancen der Entwicklung der Hegelschen Reflexionen über die Philosophie der Geschichte dokumentieren, ermöglicht es der Verf.in, eine bemerkenswerte Publikation vorzulegen. Ein schneller und aufschlußreicher Überblick über alle existierenden Editionen und über die Manuskripte der Schüler mit interessanten biographischen Notizen einiger Hörer der Vorlesungen (wie Karl Hegel und Jan Ackersdijck) schließt diese bereichernde Lektüre ab. Francesca Iannelli (Roma)
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Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons. Wiesbaden:VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 445 S. Der Buchtitel ist zweifellos vielversprechend. Opielka greift eine Thematik auf, die zu den Anfängen der – zumindest deutschen – Soziologie gehört und zugleich makrosoziologisch den anspruchsvollen Versuch einer Theorie der Gesellschaft unternimmt, der sich zugleich gegen derzeit dominante Gesellschaftstheorien positionieren will. Gemeinschaft soll neben Wirtschaft, Politik und Legitimation ein funktionales Subsystem der Gesellschaft bezeichnen und unverzichtbar für die gesellschaftliche Integrationsproblematik sein. Gesellschaft, so wäre dem Titel nach zu erwarten, ist insofern auch der Raum, in dem gemeinschaftliches Leben stattfindet und auch „konzeptionell“ stattfinden soll. Die Erfahrung des Nebeneinanders anonymisierter Individuen dürfte insofern auch nicht einer gesellschaftlichen Moderne anzulasten sein, die das Miteinander sozialer Gemeinschaft per se ausschlösse. Zum Erwartungshorizont des Titels gehört explizit aber auch, daß sich das Theoriekonzept der Viergliederung der Gesellschaft, in dem Gemeinschaft eine strukturelle Ebene darstellen soll, historisch über Vorgängertheorien und philosophische Traditionen vermittelt, dies aber weniger im Bewußtsein einer reflektierbaren, aber nicht hintergehbaren Abhängigkeit von denk- und disziplinargeschichtlichen Voraussetzungen. Die Analyse der gesellschaftlichen Vorgeschichte und die disziplinargeschichtliche Rekapitulation von Gemeinschaft und Gesellschaft, mit denen Opielka seine Untersuchung beginnt, dienen daher auch vorwiegend der Problemexposition und der Abgrenzung von dichotomischen Konzepten des Begriffspaars. Die Begründung für eine Theorie der Gesellschaft, die sich auf Hegel und dann auch auf Talcott Parsons beziehen möchte, setzt erst mit einer Klärung „metatheoretischer Fragen“ (57) im dritten Kapitel („Das System der Gesellschaft – Sozialtheorie nach Hegel“ [57–107]) ein. Die methodologisch weit gespannten Größen, mit denen Opielka hier operiert, sind Modell, Differenzierungstheorie und Logik der Wirklichkeit. Daß auf „Modelle“ in den Sozialwissenschaften nicht verzichtet werden kann, ist für Opielka evident. Modelle seien begriffliche Bezugsrahmen, ohne die formale Aussagen über komplexe Mechanismen, wie sie Gesellschaftstheorien intendierten, gar nicht möglich seien (59 f.). Allerdings hätten Modelle ein Objektivitätsproblem: Sie paßten zwar methodisch zu konventionellen soziologischen Verifikationsverfahren, insofern sie auf der Stufe der Begriffsbildung anzusiedeln seien; sie seien jedoch nicht durch Operationalisierung und Messung empirisch verifizierbar. Zwar schließt sich Opielka kritischen Theoreiimpulsen gegen einen Objektivismus der Beobachtung und Messung an, er meidet jedoch die sich dabei auch eröffnenden methodologischen Neuorientierungen. Stattdessen plädiert er für ein abgeschwächtes Verifikationskonzept, das an Modellbildungen zugunsten der Möglichkeit von komplexen Gesellschaftstheorien festhalten möchte. Wie dieses Konzept einer „neuen Bescheidenheit“ (64) allerdings methodisch aussieht, bleibt bei Opielka mehr als im Vagen. Die „Vorläufigkeit“ (63), die Modelle nunmehr haben sollen, unterstellt einen theoretisch möglichen Verifikationsfortschritt, der jedoch zu keiner Endgültigkeit führen dürfte. Einerseits sollten Modelle als komplexe
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Begriffssysteme ohnehin nur durch alternative Begriffssysteme falsifizierbar sein (vgl. 63); wie dies jedoch auf der Ebene der Begriffssysteme selbst möglich sein kann, bleibt bei Opielka unexpliziert. Andererseits soll es doch möglich sein, aus Modellen über empirische Anwendung Theorien zu bilden, dies jedoch nur in einem – vermutlich unendlichen – iterativen Prozeß, dessen Implikation jedoch ein Fortschrittskontinuum sein muß gemessen an einem wie auch immer greifbaren Objektivitätsideal. Ob hier das Mitreflektieren subjektiver Komponenten der Begriffsbildung (vgl. 63) weiterhelfen kann, ist aber ebenso ungeklärt. Denn in ihnen manifestieren sich weitere Faktoren und auch Objektivitäten, die der Methodologie weitere Implikationen auferlegen. Wenn Opielka hier selbst von einer „triviale[n] Pointe“ (64) spricht, so scheint er die Tragweite seiner methodischen Vorentscheidung und die Gesamtproblematik einer – um es mit Kant zu sagen – Epistemologie der reflektierenden Urteilskraft bei weitem zu unterschätzen. Insofern erscheint es denn auch als eine Rückzugsposition, wenn ihn der mögliche Eindruck, ein „objektivistisches Rationalitätsverständnis“ (64) rehabilitieren zu wollen, dazu veranlaßt, für Modellannahmen schließlich den Grad der Vollständigkeit von thematisierbaren sozialen Phänomenen als Kriterium einzuführen. Eine soziologische Modellbildung zur Thematisierung von Gesellschaft als Ganzem dürfte für Opielka zunächst den Schritt in eine Differenzierungstheorie bedeuten. Durch sie wird zunächst ein Theorieprogramm vorgegeben. Sie soll ein begriffliches Inventar zur Strukturanalyse der Gesellschaft und zum Prozeß der Ausdifferenzierung bereitstellen (vgl. 66). Opielka beschränkt sich jedoch auf den programmatischen Teil der Strukturanalyse und klammert den Prozeß der Ausdifferenzierung, der in der Regel als Evolution der Modernisierung konzipiert ist (66), aus. Damit setzt er sich jedoch nicht eigentlich einem Motivationsdefizit aus. Gemeinschaft mag als Verlusterfahrung der Moderne thematisierbar sein; um sie als bleibendes Strukturmoment moderner Gesellschaft analytisch zu beschreiben, wäre die Annahme einer Verlusterfahrung vorab jedoch eine Fehlorientierung. Nur unter der Prämisse, daß ein funktionales Äquivalent auch in der modernen Gesellschaft auszumachen sein müsse, kann die These von einer Gemeinschaft in Gesellschaft auf ihren Weg gebracht werden. Opielka bemängelt an vorliegenden Theorieansätzen, die gerade diesen Weg beschreiten, eine Willkürlichkeit der Problemstellung, die letztlich aber, wie man hier ergänzen sollte, auf ein bestimmtes Gesellschaftsmodell zurückzuführen sind. Um Klarheit darüber zu erlangen, auf welcher Basis sich Problemdimensionen konstituieren, glaubt Opielka nunmehr an eine Logik der Sozialwissenschaften anschließen und diese eventuell „konsensual“ (70) konzipieren zu müssen. Synthetische Theoriebildungen – wenn synthetisch denn hier überhaupt ein adäquates Attribut ist – sind aber zunächst nicht auf ein Maximum an Meinungen und insofern auf breite Akzeptanz, sondern auf einen argumentativen Diskurs bezogen, der Theorieansätze über einen Erkenntnisfortschritt vermitteln will. Als empirische oder hypothetische Theorieansätze mögen sie zwar diskursiv vermittelbar sein; ein Überstieg zu einer Logik der Sozialwissenschaft ist mit ihnen jedoch nicht zu bewerkstelligen. Es bleibt letztendlich willkürlich, wenn Opielka nunmehr mit der methodischen Orientierung an Modellen und Differenzierungstheorien auch noch ein „transzendentallogisches“ Grundsatzproblem (71) in Betracht ziehen will und ankündigt, er werde sich aus diesem Grund „im
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Folgenden positiv auf die Tradition des deutschen Idealismus beziehen und dabei mehr noch auf Hegel als auf Kant.“ (71) Mit der Annahme einer unaufhebbaren Vorläufigkeit von Modellen stellt sich gerade kein „transzendentallogisches Grundsatzproblem“, wie es sich für Kant im Falle mathematischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gestellt hat. Nun mag es freilich in der Tat unbefriedigend sein, wenn die Auswahl elementarer Problemlagen oder grundlegender Strukturannahmen einer integrativen Gesellschaftstheorie nicht begründet wird. Warum Parsons „genau vier Funktionsbereiche auswählte – und nicht mehr oder weniger“ (110), ist gewiß eine berechtigte Frage. Es bleibt jedoch selbst unbegründet, warum Opielka hier nicht andere Begründungs- oder Plausibilisierungsoptionen in Erwägung zieht, die der besagten „neuen Bescheidenheit“ eher anstünden, und stattdessen philosophische Traditionen bemühen will, um eine „Klärung der Konstruktionslogik“ (111) von Parsons’ Gesellschaftsmodell zu erreichen und so den hohen Anspruch einer Art Deduktion einer soziologischen Kategorienlehre anvisieren möchte. Es mögen letztlich subjektive, biographische Umstände sein, die Opielka in seiner „Einleitung“ (9–18) zum zentralen vierten Kapitel („Theorie der Viergliederung: Gemeinschaft in Gesellschaft“ [109–220]) seines Buchs anführt, und zudem einem günstigen Zufall geschuldet sein. Mit der Sozialphilosophie Johannes Heinrichs’ fällt Opielka ein passender Begründungsansatz gleichsam in den Schoß. Es erübrigt sich für ihn damit auch, überhaupt einen eigenen Zugang zu philosophischen Begründungsprogrammen und so auch zu Hegel zu suchen, geschweige denn Heinrichs’ Anschluß an Hegel auf Hegel selbst hin zu durchdenken; und so beschränkt er sich darauf, im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels Heinrichs Konzept zu kommentieren. Der Untertitel ist, was Hegel betrifft, deshalb irreführend. Er übergeht Heinrichs’ Distanz zu Hegel und die Originalität, die Heinrichs zweifellos beanspruchen darf. Und daß im Kontext einer Überprüfung sozialpolitischer „Anwendungsmöglichkeiten“ (16) Hegel noch einmal als Theoretiker des „Sozialstaats“ rezipiert wird, kann dieses Defizit kaum ausgleichen. Im Übrigen aber bleibt auch fraglich, welchen Gewinn eine reflektionstheoretische Begründung der „Theorie der Viergliederung“ der Gesellschaft über die von Heinrichs selbst schon entworfene Sozialphilosophie bei Opielka eigentlich hat. Das Modell der „Viergliederung“, das Opielka im genannten 4. Kapitel näher in Betracht zieht, ist im Grundentwurf keineswegs neu in die soziologische Debatte eingeführt. Neben Parsons und Heinrichs ist etwa auch Richard Münch zu nennen. (Vgl.: Richard Münch: Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1984.) Wie Opielka in dieser Konvergenz seine eigene Forschungsintention positioniert, ist kaum zu erkennen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er in der Zusammenschau bzw. Zusammenfügung der Theoriekonvergenzen selten ihre Provenienz argumentativ transparent zu machen vermag und eine nur schwer übersehbare Reihe von Detaildifferenzen ausmacht, deren beanspruchte innovative Bedeutung und eventuelle modell-modifizierende Konsequenzen kaum einzuschätzen sind. Nach dem Schema der Wiederkehr des Ganzen in den Teilen ergibt sich ein Modell der Viergliederung, in dem Gemeinschaft als ein Subsystem neben Wirtschaft, Politik und Legitimation in die Subsubsysteme
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Hilfe, Bildung, Öffentlichkeit und Kunst untergliedert wird. So unmittelbar fraglich sich diese Unterstrukturierung präsentiert, ebenso unklar bleibt auch, ob es sich um eine begriffsanalytische Strukturierung handelt oder nur um das Ergebnis einer Suche nach passenden Phänomenen mit der Vorgabe, vier Platzhalter eines Schemas zu besetzen. Letzteres kann den dabei zugleich erhobenen Anspruch der objektiven Vollständigkeit gewiß nicht begründen, ersteres aber würde in letzter Konsequenz dieses Anspruchs zu hochspekulativen philosophischen Begründungsanstrengungen veranlassen müssen. Aber schon einfache Begriffsklärungen lassen die Schematisierung fragwürdig erscheinen, so etwa der auf den ersten Blick vielleicht nicht unplausible Gedanke von Hilfe als Subsystem von Gemeinschaft. Der Ausdruck Hilfe dürfte zunächst Abhängigkeit und Nicht-Aufrechenbarkeit assoziieren lassen und insofern auch die Problematik des Altruismus (vgl. 129) aufwerfen. Sie konstitutiv für Gemeinschaft, und zwar als Repräsentation von Wirtschaft, einzustufen, dürfte jedoch kaum schlüssig sein. In dauerhaften asymmetrischen Abhängigkeiten dürften sich Beteiligte kaum zu Gemeinschaften zusammenschließen. Und insofern ist fraglich, ob Solidarität das Wertprinzip (vgl. 128) von Hilfe in Gemeinschaft ist. Gemeinschaft impliziert wenigstens Gegenseitigkeit und im Falle von Hilfe insofern auch Austausch und wechselseitigen Nutzen. Dann aber ist Solidarität nicht mehr ihr Wertprinzip. Gemeinschaft scheint sich aber auch eher auf etwas zu beziehen, das sich wohl teilen, aber nicht verteilen lässt, so etwa Schicksal, Leben, Sprache oder Kultur. Und so wäre erst noch aufzuklären, was Gemeinschaft als „Mit- und Beieinander in etwas“ eigentlich bedeutet. Auch aus Sicht der Einzelphänomene sind Zweifel daran angebracht, ob denn die mehrstufige Ausdifferenzierung von Subsystemen nach einem Verfahren der Wiederkehr des Ganzen in den Teilen zu einem phänomengerechten Ordnungsschema führt. So mag Kunst ja als ein Sub-Subsystem von Gemeinschaft in Gesellschaft klassifizierbar sein, um die Thematisierung ihrer gesellschaftlichen Funktion soziologisch zu verorten und sie dann auf Integration zu verpflichten; dies muß jedoch der intrinsischen Bedeutung von Kunst adäquat sein und auch ihren Autonomieansprüchen Beachtung schenken. Wenn Kunst – wie für Paul Celan, den Opielka hier in Anspruch nehmen will – Reflex tiefer Vereinzelung sei und jenseits aller Vergemeinschaftung das ganz andere Du im Nirgendwo suche, wenn sie vielleicht aus dem Verlust sozialer Verläßlichkeit und sozialen Urvertrauens sich im Gedicht und in dem, was einzig geblieben sei: Sprache, auf den Weg bringe zu einem sprach-immanentem Du, so wäre sie der sozialen Wirklichkeitssphäre enthoben. Sie wäre eine „Flaschenpost“ (Celan) und gewiß keine „metakommunikative Stufe kommunikativen Handelns“ (139 f.). Sie hielte wenn überhaupt auf „Gemeinschaft“, auf eine solche jenseits aller Gesellschaft überhaupt, auf eine rein sprachliche zu. Viergliederung der Gesellschaft heißt nicht eigentlich Gemeinschaft in Gesellschaft zu integrieren, sondern dem Gesellschaftsmodell das Subsystem Legitimation hinzuzufügen – jedenfalls aus der Perspektive nicht-viergliedriger Modelle wie desjenigen von Jürgen Habermas. Nachdem Opielka das Modell der Viergliedrigkeit in enger Verbundenheit mit Heinrichs, in Auseinandersetzung mit Parsons und mit Reminiszenzen an Münch zusammengefügt und durch einige Aspekte ergänzt hat, soll es sich nunmehr gegen die gegenwärtig dominanten soziologischen Gesellschaftstheorien von Haber-
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mas und Niklas Luhmann, aber auch gegen die aktuelle sozialphilosophische Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus profilieren. Interessant stellt sich hier vor allem die Auseinandersetzung mit Habermas dar. Der Begriff der Gemeinschaft, soweit Opielka ihn bisher überhaupt entwickelt hat, ist nur systemtechnisch und auffällig gehaltlos geblieben, wie nicht zuletzt das Resümee zum zentralen vierten Kapitel zeigt, in dem Opielka seine „eigene[n] Gemeinschaftstheorie“ (14) darlegen wollte (vgl. 217). Erst mit Habermas’ Begriff der Lebenswelt werden „wesentliche Elemente der ‚gemeinschaftlichen‘ Handlungsdimension sehr treffend charakterisiert“ (271). Gleichwohl sei die einseitige Betonung der Sprache als Medium ihrer Verständigungsprozesse zu kritisieren. Der Begriff des kommunikativen Handelns sei verbalistisch eingeschränkt (vgl. 269) und ziehe nicht in Betracht, daß die Teleologie des Handelns selbst reflektiert sein könne und folglich die Sprache erst in ihrer pragmatischen Dimension kommunikativ sei (268). Ebenso wenig einsichtig sei, daß Lebenswelt nicht die des Menschen sei und insofern nicht auch strategisches und sachorientiertes soziales Handeln konstitutiv mit einschließe (vgl. 273). Nun scheint Opielka allerdings in seinen Einwänden, die terminologische Bedeutung von Lebenswelt zu unterschätzen. Lebenswelt im Sinne von Habermas sei zunächst im Anschluß an Hans-Georg Gadamer durch dasjenige definiert, was dem Verstehen als Horizont vorausgehe. Lebenswelt ist ein „horizontbildender Kontext von Verständigungprozessen“, der als implizites, holistisch strukturiertes „fundamentale[s] Hintergrundwissen“ „nicht zur Disposition steht“ und „sich in der Form kultureller Überlieferung reproduziert“ (Habermas zit. bei Opielka, 271). Bezogen auf das Thema Gemeinschaft ist damit auch eine Vorentscheidung zugunsten eines Gemeinschaftlichen getroffen, das in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt besteht. Es mag auch noch andere Weisen des Gemeinschaftlichen geben, Gemeinschaft in diesem Sinne aber trifft den wesentlichen Gehalt von Erfahrungsgemeinschaften, die „konkrete Gemeinschaften“ (211) i. S. Opielkas immer auch oder sogar vor allem sind. Indem Lebenswelt gleichsam ein historisch sich bildendes und veränderndes Apriori meint, stellte es zugleich die Stufe dar, auf der auch dasjenige anzusiedeln wäre, was bei Opielka Legitimation ist. Nun ist Legitimation allerdings das Subsystem, in dem Unbedingtheitsansprüche erhoben werden sollen. Es hat „die Funktion, das Gesamtsystem an Unbedingtes rückzubinden“ und soll „die Bindung der Mitglieder der Gesellschaft an die Gesellschaft organisier[en]“ (147). Dies ist jedoch keine gesellschafts-analytische Aussage, die sich im Verhältnis zu einer Kritik möglicher Wahrheitsansprüche im Sinne Kants noch relativieren will, vielmehr übernimmt Opielka Ansprüche der Letztbegründung und absoluten Wahrheit. Er beklagt denn auch, daß „das 20. Jahrhundert zur Wucherungsepoche einer antimetaphysischen Kultur mutiert“ (382) sei. Wahrheitsdefensiveren Positionen wie derjenigen von Habermas sei folglich entgegenzuhalten, Werte seien Korrelate einer höherstufigen Reflexion, die sich einer adäquaten diskursiven Objektivierung entzögen (283). So bleibt nur anzuregen, doch noch einmal hermeneutisch nachzufragen, ob Gemeinschaft und Gesellschaft eventuell nicht doch Begriffe sind, die einer historischen Epochenerfahrung entstammen und selbst über geschichtliche Bedingungen ermöglicht sind, und ob sich eine heutige Soziologie der Gemeinschaft in Gesellschaft nicht in ihren geschichtlichen Formationsbedingungen reflektieren müßte.
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Es fällt schwer, ein Buch inhaltlich zu bilanzieren, das sich vorwiegend als Kompilation gerade aktueller gesellschaftstheoretischer und sozialphilosophischer Debatten und ihrer Detailfragen präsentiert und dabei dem eigenen Anspruch einer „synthetischen“ Vollständigkeit folgend nichts auszulassen bestrebt ist. Es war insofern auch ausgeschlossen, alle angerissenen Themen zu würdigen, zumal hier der Gewinn für die zentrale Thematik Gemeinschaft in Gesellschaft und auch die Konsistenz des „Theorieprogramms“ selbst häufig nicht zu erkennen gewesen ist. So gerät Opielkas eigene Zusammenfassung „Gemeinschaft als Chance: ein Ausblick“ (401–416) denn auch zu einem bloßen Tätigkeitsbericht. Aus philosophischer Perspektive ist aber auch nur der epistemologische Anspruch und die Rolle, die Hegel dabei zugedacht gewesen ist, herauszukristallisieren gewesen. Nicht zuletzt dies ist jedoch enttäuschend ausgefallen. Das anspruchsvoll vorgetragene Theorieprogramm steht im Mißverhältnis zu tatsächlichen Begründungs- und Explikationsleistungen. Ein selbständiger Zugang zu Hegel, der Möglichkeiten einer heutigen Soziologie nach Hegel erkundet oder mindestens in Aussicht stellen könnte, fehlt. Stattdessen wird mit einem Anspruch zu reüssieren beabsichtigt, dessen Unmittelbarkeit bisherige Hegelforschung einfach zu ignorieren scheint und einen neuen Hegelianismus reinstallieren will, der Hegels Philosophie nur wieder in Mißkredit bringen könnte (vgl. etwa 284, 287, 379 f.). Nirgends ein Zweifel daran, daß hier auch eine Modelldynamik am Werk sein könnte, die über alle nötige Phänomenoffenheit einer reflektierenden Urteilskraft hinwegsteigt. So ist das Phänomen, um das es hier – hoffentlich nicht nur „theoriepolitisch“ (300) – gegangen ist, kaum zu Wort gekommen. Die Pluralität von vertrauten, gedeuteten Welten als je gemeinsame Erfahrungswelt einer Lebenswelt birgt Destabilisierung. Mit Gemeinschaften in diesem Sinne hat die Gesellschaft immer auch ein Problem. Ob und wie die moderne Gesellschaft verschiedenen Lebenswelten Raum geben kann oder dies gar nicht muß, insofern sie ein wirkliches Äquivalent anbietet, darauf hat das Buch keine Antwort gegeben. Beate Marschall-Bradl (Heidelberg)
Erzsébet Rósza: Versöhnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie. München: Wilhelm Fink Verlag 2005. 656 S. (jena-sophia. Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik. Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg. Abteilung II – Studien. Band 7) Das Buch, welches die in Débrecen lehrende ungarische Philosophin Erzsébet Rózsa vorgelegt hat, ist in vielfacher Hinsicht beeindruckend. Sie selbst schreibt über ihre Monografie: „Das vorliegende Buch ist der Versuch, meinem alten und tiefen Interesse für Hegels praktische Philosophie, das meine langjährige intensive Forschungsarbeit und den damit verbundenen ständigen, immer erneuten ‚Kampf‘ mit Hegels Philosophie motiviert hat, eine Form zu geben.“ (11) Welcher Hegelforscher kennt sie nicht, diese „besondere“, auch für einen selbst „nicht immer erklärbare Verpflichtung gegenüber Hegels Philosophie“, von der Rózsa in ihrem Vorwort spricht. (Ebd.) Für jemanden,
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der in den letzten Jahrzehnten in Deutschland Philosophie studiert hat, ist der Weg zu Hegel nicht leicht, aber immerhin noch ohne größere Anstrengungen rekonstruierbar. Hegel gehört bei uns zum Kanon philosophischer Klassiker, die Beschäftigung mit ihm hat eine gewisse Selbstverständlichkeit. Wer sich von der Eigentümlichkeit seiner Sprache, der Komplexität seiner Argumentation und der (zumindest prima facie) Befremdlichkeit seiner Thesen nicht abgestoßen fühlt, sondern diese Charakteristika Hegels als Provokation nimmt, sich mit seinem Werk näher zu beschäftigen, der mag für sich und andere erklären können, weshalb diese Faszination entstehen konnte. Von hier ist es zu der Verpflichtung gegenüber seiner Philosophie kein allzu weiter Weg mehr. Zum einen steigt der Wert eines philosophischen Werkes zumeist mit dem biografischen Aufwand, den man auf es verwendet; und zum anderen gibt es immer die Aufgabe, Hegel gegen allzu schnelle und ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen, eine Kritik, die häufig aus oberflächlicher Lektüre oder der mangelnden Bereitschaft entspringt, sich auf die Radikalität und Konsequenz des Hegelschen Denkens einzulassen. Im Falle Rózsas jedoch greifen diese einfachen Erklärungsversuche nicht, zumindest greifen sie in entscheidenden Hinsichten zu kurz. Eingedenk der leidvollen Aspekte, die sich für Ungarn mit Deutschland aus den historischen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbinden müssen, ist die tiefe Sympathie zur deutschen Philosophie, die das gesamten philosophischen Werk Rózsas ausstrahlt, bemerkenswert (leider haben es die Autorin und der Verlag versäumt, diesem zentralen Werk Rózsas ein Verzeichnis ihrer Schriften, zumindest von denen in deutscher Sprache beizufügen). Noch beeindruckender aber ist ihre große Sympathie für Hegels Philosophie: Wenn man bedenkt, daß Rózsa unter einer Diktatur philosophisch sozialisiert worden ist, die eine Spielart des real existierenden Sozialismus war, und wenn man beachtet, daß Hegel in dem philosophischen Selbstverständnis dieser Staatsideologie eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen worden ist, dann muß es erstaunlich sein, daß Rózsa ausgerechnet das Werk Hegels ins Zentrum ihres eigenen Philosophierens gestellt hat. Daran ändert die Tatsache, daß die Ungarische Praxisphilosophie einen etwas anderen Hegel kannte als der offizielle Marxismus-Leninismus, wenig. Auch die Tatsache, daß die Hegelsche Philosophie, die man in seinen Werken entdecken kann, tatsächlich von ganz anderer Art ist, als die offiziell verordnete Lesart wahr machen wollte, kann das Erstaunen über die Intensität von Rózsas Auseinandersetzung mit Hegel nicht beheben. Denn diesen Hegel muß man sich ja erst einmal, das weiß jeder Hegelforscher, gründlich erarbeiten. Es hätte also durchaus gute Gründe und erklärende Umstände dafür gegeben, daß sich eine ungarische Philosophin nicht mit der Philosophie Hegels auseinandersetzt. Von dem sprachlichen und begrifflichen Problem der „grotesken Felsenmelodie“, von der Karl Marx mit Bezug auf Hegels Werke einst sprach, und damit das Problem meinte, daß Hegel selbst es seinen Lesern nicht leicht mache, den Gehalt seiner Philosophie zu erschließen, ganz zu schweigen. Hegel hat, wie kein Philosoph vor ihm, das Faktum der Unumkehrbarkeit individueller Autonomie zum Ausgangspunkt seiner Philosophie gemacht und zugleich die tiefen Ambivalenzen der modernen Konzeption der Individualität wahrgenommen und vielleicht nicht zu Ende gedacht, aber sich ihnen doch auf radikale Weise gestellt. Die Sehnsucht nach Vereinigung, ein zentrales Denkmotiv des jungen Hegel, entspringt
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aus der Erfahrung der Brüche und Spannungen, die das Leben der Moderne unvermeidlich mit sich bringt. Die im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung zunehmende Nüchternheit und sein immerwährender Realismus führen Hegel dazu, das Ideal der Vereinigung in das Programm einer Versöhnung zu überführen. Diesem geht Rózsa in ihrer Untersuchung nach, wobei sie – vor allem im der Hegelschen Religionsphilosophie gewidmeten – dritten Kapitel zeigen kann, daß sich dieses Projekt vom jungen Hegel bis ins reife System der Berliner Jahre durchziehe. Hegel ist sich, dies belegen ihre differenzierten Ausführungen, der Komplexität der Moderne und damit auch der Komplexität, die sein philosophisches Leitmotiv anzunehmen hat, wenn es den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verlieren will, zunehmend bewußt geworden. Für den Versuch, die Spannungen und Brüche der Moderne zum Anlaß zu nehmen, am Ideal der Einheit und der Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem festzuhalten, steht im Titel der hier vorgelegten Untersuchung der Begriff des Systems. Hegel hat bis zuletzt, trotz nie ganz verlöschender Selbstzweifel am Erfolg seiner philosophischen Bemühungen, daran festgehalten, daß man angesichts der Fragilität und Komplexität der Moderne nicht in eine postmoderne Beliebigkeit abgleiten dürfe, in welcher der Anspruch der rationalen Bewältigung der Moderne zugunsten romantischen Individualisierens preisgegeben werde. Dessen ungeachtet ist für ihn, wie Rózsa ausführlich im zweiten Kapitel nachweisen kann, die Kunst der Ort, an dem der schwankende Charakter der modernen Lebensführung und die unaufgelöste Spannung von besonderem und allgemeinem Leben artikuliert werden. Kunst und Religion seien, darin ist ihr uneingeschränkt Recht zu geben, für Hegel zentrale Medien der kulturellen Selbstverständigung. Sie sind in dem Sinne absolut, daß sie, vor allem in ihrer historischen Entwicklung betrachtet, eine für das Individuum in seiner Ganzheit niemals transzendierbare Grundlage (oder Substanz) darstellen. Zugleich, und dies ist vermutlich der wichtigste Ertrag von Rózsas Studie, geht es Hegel in seinem Projekt der Versöhnung nie allein um theoretische Bewältigung der Realität mit philosophischen Mitteln, sondern immer auch um die Reflexion auf den praktischen Beitrag, den die von ihm untersuchten sozialen Institutionen (oder Gestalten des absoluten Geistes) zur Bildung des Individuums beitragen. Diese Doppelperspektive erzwinge, wie in der „Einführung“ des Buches ausführlich gezeigt wird, auch eine Reflexion auf den Doppelcharakter der Philosophie selbst. Sie ist zugleich Philosophie als reflektierende Durchdringung der Komplexität der Moderne wie auch praktisch in dem Sinne, daß ihre Einsichten die Grundlagen für ein Selbstverständnis und eine Lebenshaltung des modernen Subjekts bereitstellen, die allein ermöglicht, mittels der „Prosa der modernen Freiheit“ die Geschichte eines individuell und sozial gelingenden Lebens zu schreiben. Die Reflexion auf diese praktische Dimension kann, wie die Kategorie der Versöhnung oder der Begriff des Systematischen auch, aus vielerlei im Detail recht komplizierten Gründen, nicht innerhalb des Systems thematisiert werden: Der versöhnende Charakter muß sich zeigen. Daher kommen diese Überlegungen primär in Vorreden, Vorbegriffen oder Einleitungen vor, die Hegel seinen Werken voranstellt, stets mit dem Hinweis, es handele sich nicht um argumentative Bestandteile des systematischen Gedankengangs selbst. Dies sollte aber nicht zu dem Fehlschluß verleiten, diese praktische
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Dimension der praktischen Philosophie sei nebensächlich. Wer Rózsas Buch gelesen hat, wird diesem Trugschluß nicht mehr aufsitzen. Der vermutlich zentrale Ort, an dem sich die Doppelstruktur von Hegels Philosophie am deutlichsten beobachten läßt, ist seine praktische Philosophie. Diese hat Hegel als eine Rechtsphilosophie vorgelegt, wobei er unter Rechten begründbare Ansprüche mit internem Bezug auf das gute und gelingende Leben versteht, so daß seine Explikation der Ethik zugleich eine umfassende Analyse aller sozialen Institutionen darstellt. Besonders hier werden die von vielen modernisierenden Aneignungen vernachlässigten sozialphilosophischen Dimensionen der Hegelschen Willenstheorie als komplexe Grammatik der modernen Welt mit all ihren Spannungen und Brüchen sichtbar. Rózsa weist nicht nur vielfach zu Recht auf die Verkürzungen hin, die z. B. im Neopragmatismus zu beobachten sind; ihr gelingt es auch überzeugend zu zeigen, daß man das Moralitätskapitel nicht nur als Handlungstheorie lesen könne, sondern komplementär auch als Konzeption der vernünftigen und versöhnten Haltung des modernen Subjekts lesen müsse. Besonders hier kommt Hegels Realismus deutlich zum Tragen, schließt doch diese Versöhnung des Subjekts mit seiner sozialen Welt die Einsicht ein, daß man sich der Spannungen und Brüche im eigenen Leben nicht vollkommen entledigen kann. Weder durch den Aufstieg in die Sphären von Kunst oder Religion noch durch das Verfolgen einer politischen Utopie, welche die bruchlose Vereinigung von Besonderem und Allgemeinem in die Sphäre des objektiven Geistes hineinzwingen will. Angesichts des Scheiterns des Marxschen Sozialismus kann man verstehen, weshalb dieser Aspekt des Hegelschen Denkens für Rózsa attraktiv und Selbstverständigung zugleich sein konnte. Dennoch bleibt zu fragen, wie sie sich selbst auf die mit Hegels Theorie einhergehende These verpflichten kann, daß die Grundhaltung des Subjekts seinen sozialen Institutionen gegenüber eine des Vertrauens und nicht etwa eine des Mißtrauens sein soll. Möglicherweise liegt in diesem Zug des Hegelschen Denkens beides, der Grund für die Zuneigung zu wie die Quelle ihres ständigen Ringens mit Hegel. Abschließend möchte ich noch auf zwei Probleme, die man mit dem vorliegenden Deutungsvorschlag haben kann, hinweisen. Zumindest jedoch auf zwei offene Enden der Argumentation Rózsas. Es fällt zum einen auf, daß eine Sphäre des absoluten Geistes in dieser umfassenden Untersuchung nicht behandelt wird – Hegels Philosophie der Geschichte der Philosophie. Man mag gelten lassen, daß ein Buch mit dem beachtlichen Umfang von 650 Seiten Argument genug sei. Aber es könnte auch einen weiterreichenden Grund geben. Der Untertitel der Monographie zeichnet Versöhnung als Prinzip der praktischen Philosophie aus. Und es gibt Gründe, weshalb „Versöhnung“ keine eigenständige Kategorie innerhalb des Hegelschen Systems sein kann. Bedenkt man aber, daß Hegel den philosophischen Skeptizismus nicht nur für ein philosophisches, sondern auch für ein lebensweltliches Problem gehalten hat, dann liegt die Vermutung nahe, daß sein Konzept spekulativer Philosophie und sein Versuch der Vermittlung aller philosophisch respektablen Einsichten – zumindest für Hegel selbst – Teil seines Versöhnungsprogramms gewesen ist. Die Ausblendung der Hegelschen Logik und seiner Metaphilosophie ist eine Auslassung, die z. B. die Frage offen läßt, ob Hegel sein gesamtes System als therapeutische Philosophie begriffen habe.
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Eine der großen Stärken von Versöhnung und System liegt darin, daß der anscheinend affirmative Charakter der Hegelschen Philosophie, den man weder als Resignation noch als Quietismus mißdeuten darf, die Aktualität der Hegelschen Philosophie ausmacht. Zugleich liegt in dieser dem gesamten Buch zugrundeliegenden These Rózsas eine große Provokation.Vielleicht kann man sie entschärfen, wenn man Hegels Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit nicht als Beisetzung des kritischen Subjekts deutet, sondern die Möglichkeit zugesteht, daß in sittlich pervertierten Strukturen das moralische Subjekt entschieden an seiner kritisch reflektierten Unversöhntheit festhalten müsse. Dann käme alles – und dies ist der zweite offene Faden von Rózsas Versöhnungsprojekt – darauf an, Kriterien für diese Ausnahmesituationen zu entwickeln und mehr Schutzzäune für das moralische Subjekt in die soziale Welt einzuziehen, als Hegel dies faktisch getan hat. Alles Philosophieren ist immer auch Selbstverständigung, sowohl über die eigene Zeit als auch über das eigene Philosophieren. Philosophische Klassiker sind solche, deren Lektüre unvermeidlich zur philosophischen Selbstverständigung provoziert. Sie sind es solange, wie sie zur begrifflichen Durchdringung des je eigenen historischen Kontextes des Lesers beitragen können. In beiden Hinsichten belegt Versöhnung und System eindrucksvoll, daß Hegel bis heute ein Klassiker ist und nicht als „toter Hund“ ins philosophische Geschichtsbuch stillgestellt werden kann. Praktisches Philosophieren ist darüber hinaus Philosophieren über unsere Praxis und zugleich bewußtes Eingreifen in dieselbe. Hegel selbst hat, wie Rózsa in ihrer Monographie differenziert und mit großer Geduld zeigt, sein gesamtes Philosophieren in diesem Sinne als aktiven Beitrag zur Ermöglichung gelingenden Lebens begriffen. Eine solche praktische Dimension muß nicht unbedingt die frontale Form einer „Kritik im Handgemenge“, zu welcher der junge Marx die Philosophie erklären wollte, annehmen (auch wenn es Zeiten geben mag, in denen die Philosophie eine solche sein sollte). Wie Hegel wählt Rózsa den Weg, über die differenzierte Analyse der komplexen Strukturen der Moderne sowie durch die klare und unbestechliche Exposition derjenigen Haltung des modernen Individuums, in der allein in der Moderne, trotz der sie charakterisierenden Schwankungen, Spannungen und ihrer damit verbundenen Fragilität gutes Leben gelingen kann. Angesichts solcher Phänomene wie mangelnder Identifikation mit dem Allgemeinen, fehlendem politischen Engagement oder auch der weit verbreiteten Reduktion der Konzeption des gelingenden Lebens auf Konsum und das Ausleben privater Interessen entwirft Rózsas Rekonstruktion von Hegels praktischer Philosophie ein Gegenmodell, welches nicht mißversteht, wer es als ethischen und politischen Imperativ auffaßt. Diese praktische Dimension ihrer Selbstverständigung über Hegels Philosophie hat die Ungarische Philosophin nicht weiter herausgestellt. Daher sei auf diese politische Dimension von Erzsébet Rózsas (partieller?) Versöhnung mit Hegels System an dieser Stelle explizit hingewiesen. Michael Quante (Köln)
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Julio De Zan: La Filosofía Práctica de Hegel. El trabajo y la propiedad privada en la génesis de la concepción hegeliana de la Filosofía Práctica. [Hegels praktische Philosophie. Die Arbeit und das Privateigentum in der Entwicklung von Hegels Konzeption der praktischen Philosophie.] Río Cuarto (Argentinien): Ediciones del ICALA 2003. 450 S. Der Ansatz des Buches kann sowohl im Rahmen einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ (Manfred Riedel) und einer Überwindung des „komplementären dualen Systems“ (Karl-Otto Apel) als auch auf der Basis der Dichotomie zwischen dem Privaten (Privatisierung der Moral) und der Öffentlichkeit (in der das Monopol einer instrumentellen, analytisch-empirischen Rationalität herrscht) gesehen werden. De Zans Arbeit verfolgt die Genesis der Hegelschen Idee einer praktischen Philosophie zunächst in Hegels Jugendschriften und den Schriften der Jenaer Zeit. Im Anschluß werden die zentralen Themen des objektiven Geistes in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie betrachtet. Die Leitfäden der Arbeit bilden die Begriffe „Arbeit“ und „Privateigentum“. Es wird untersucht, inwiefern diese Begriffe für die Entwicklung der praktischen Philosophie Hegels wesentlich sind. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der 1. Teil („Arbeit und Eigentum in den Jugendschriften“) behandelt den Zeitraum 1793–1800. Hier geht es um eine Betrachtung der Berner und Frankfurter Schriften Hegels. Diese Schriften werden aus zwei verschiedenen Perspektiven untersucht. Das 1. („Der Ursprung des Volkgeistes und die Privatisierung der Existenz“) und das 2. Kapitel („Die Konsistenz der bürgerlichen Gesellschaft und der Begriff Arbeit“) bieten eine entwicklungsgeschichtliche Analyse des Begriffs Arbeit und der Beziehung zwischen Privatem und der Öffentlichkeit. Das 3. („Die Kritik am Privateigentum“) und das 4. Kapitel („Die Kritik der Kritik und die Idee der praktischen Philosophie“) untersuchen systematisch die Problematik des Eigentums. Der 2. Teil ist Hegels Aufenthalt in Jena gewidmet. Das 5. Kapitel („Kritik und System“) übernimmt eine einleitende Funktion und thematisiert die Kritik Hegels an der Philosophie seiner Zeit, wie sie in den Schriften zwischen 1801–1802 zu finden ist. Hier werden die verschiedenen Systementwürfe betrachtet. Das 6. Kapitel („Das erste System der praktischen Philosophie“) stellt die systematische Entwicklung der praktischen Philosophie Hegels in den Mittelpunkt, die mit Hilfe der überkommenen Platonisch-Aristotelischen Idee der Sittlichkeit die „neuen“ Realitäten und Probleme der neuzeitlichen Gesellschaft zu begreifen versucht. Dieses Kapitel thematisiert darüber hinaus Hegels Rezeption der politischen Ökonomie Englands. Das 7. Kapitel („Die Philosophie der Arbeit“) erörtert die Bedeutung einer Philosophie der Arbeit in den ersten Formen der Philosophie des Geistes (1803/04) und der Realphilosophie (1805/ 06). Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs wird hier als Vermittlung zwischen Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit gesehen. Dabei spielt der Religionsbegriff eine entscheidende Rolle. Diese konzeptuelle Entfaltung bleibt aber für De Zan abstrakt, da die Betrachtung der Arbeit nicht in der Verwirklichung der neuzeitlichen Gesellschaft erkennbar sei. Dies wäre hinsichtlich der Frage der Arbeitsteilung, der Ausbildung eines Systems von Bedürfnissen und den Wirtschaftsbeziehungen näher zu untersuchen. Das geschieht dann im 8. Kapitel („Arbeit und Gesellschaft. Die Armut und die Rolle
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des Staates in der Wirtschaft“), das die Schriften der letzten Jenaer Zeit zum Gegenstand hat. Insbesondere wird hier Hegels Überwindung der Aristotelischen Idee einer praktischen Philosophie und der Umbruch in seinem Ersten Systementwurf eingehend behandelt. Dieses Kapitel faßt außerdem die Ansichten Hegels zum Wirtschaftssystem der modernen Gesellschaft, zur Analyse der internen Unstimmigkeiten dieses Systems und der regulativen Rolle des Staates zusammen. Das 9. und letzte Kapitel dieses zweiten Teils („Der Kampf um Anerkennung, der Rechtszustand und die Verfassung des Politischen“) konzentriert sich vor allem auf die Rolle der Anerkennung als „Prinzip der praktischen Philosophie Hegels“ (13). In dieser Hinsicht folgt De Zan im allgemeinen der These Ludwig Sieps u. a. De Zans Vorschlag ist, die Rolle des Arbeits- und Eigentumsbegriffs in der Anerkennungsbewegung hervorzuheben. Von hier aus geht der Autor über zur Analyse des Punkts „III. Constitution.“ (GW 8, 253–287) des Vorlesungsmanuskripts zur Realphilosophie (1805/06) – einem Textstück, das De Zan als das „reichste und interessanteste der politischen Philosophie Hegels“ (294) bezeichnet. Dieser Text wird aus dem oben erwähnten Anerkennungsprinzip heraus interpretiert. Der 3. Teil („Die Prinzipien der sittlichen Welt“) befaßt sich systematisch – und nicht mehr entwicklungsgeschichtlich wie in den zwei vorhergehenden Teilen – mit den Hauptbegriffen eines „Systems der praktischen Philosophie Hegels“ (14), wie sich dieses System ab der ersten Auflage der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Heidelberg 1817) entfaltet. Die Hegeltexte, die hier in Betracht kommen, sind die Enzyklopädie (in allen ihren drei Auflagen), die Grundlinien der Philosophie des Rechts, die Vorlesungen über die Philosophie des Rechts und die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Das 10. Kapitel („Theorie, Praxis und Poiesis“) analysiert den Einfluß dieser drei Aristotelischen Begriffe auf Hegels praktische Philosophie sowie die Bearbeitung, die jeder der Begriffe im Denken Hegels erfährt. Vor diesem Horizont wird die Umwandlung der praktischen Philosophie als Philosophie des objektiven Geistes und als Philosophie des Rechts erörtert. Im 11. Kapitel („Die Freiheit“) werden die systematischen Voraussetzungen des objektiven Geistes, die beim subjektiven Geist zu finden wären – insbesondere der Begriff eines praktischen Geistes und des freien Willens –, eruiert. Das letzte und 12. Kapitel („Recht, Moralität und Sittlichkeit. Die Philosophie des Rechts“) widmet sich der Beziehung der ersten zwei Teile der Vorlesungen über die Philosophie des Rechts zum dritten Teil. Struktur und Darstellung dieser Vorlesung bleiben erhalten. Schließlich wendet sich De Zan dem Studium des Personenbegriffs als unmittelbare Voraussetzung der Bedeutung des Rechts zu (404). De Zan ist der Ansicht, daß Hegels praktische Philosophie einen – mit (und gegen) Walter Jaeschkes Worten – „dritten Weg“ eingeschlagen habe: einen Weg „zwischen der systematischen Entfaltung des Rechtsbegriffs und der von Hegel verworfenen bloß historischen Behandlung der Rechtgeschichte“, und zwar den „Weg der philosophischen Rekonstruktion der Verwirklichung des Rechts, der von der Idee des Rechts geleiteten Geschichte der Freiheit.“ (Vgl.: Walter Jaeschke: Die vergessene Geschichte der Freiheit. – In: Hegel-Jahrbuch. Berlin. (1993/94), 65–74; hier 68.) Obgleich Hegel selbst so etwas nicht explizit getan hätte, behauptet De Zan dennoch, Hegels Rechtsphilosophie sei die rationale Rekonstruktion der Ergebnisse der Geschichte des Rechts. Und dies interpretiert De Zan als „Darstellung und Entfaltung der rationalen Elemente, die [in der
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Zeit Hegels] im höchsten Stadium der Entwicklung der Geschichte der modernen Gesellschaft Europas gesehen werden können und für diese Gesellschaft konstitutiv sind.“ (440) Der Unterschied zwischen Jaeschke und De Zan scheint mir aber in jeweils unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs „Verwirklichung“ zu bestehen: Jaeschke redet in Hegel-immanenter Sprache; De Zan will sagen, Hegels Rechtsphilosophie solle keinesfalls „aprioristisch“ verstanden werden (397), und so versteht er „Verwirklichung“ eher als hermeneutische Interpretation oder Klärung der Struktur von Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die für De Zan von der Freiheitsidee – wie er sie sich aus der Perspektive von „Arbeit“ und „Anerkennung“ ermöglicht hat – geprägt ist. Die Stärke von De Zans Buch liegt vor allem darin, daß es die Lücke im Bereich spanischsprachiger systematischer Untersuchungen der praktischen Philosophie Hegels zu unternehmen sich anschickt. Hier hat es bislang nur wenige Vorläufer gehabt. Dazu machen die gute Lesbarkeit und die Fülle ausführlicher Zitate und Hinweise auf die aktuelle Fachliteratur dieses Buch zu einer „Pflichtlektüre“ für das spanischsprachige Studium der praktischen Philosophie Hegels. Víctor Duplancic (Godoy Cruz/Mendoza, Argentinien)
Luciano Amodio: Storia e dissoluzione. L’eredità di Hegel e Marx nella riflessione contemporanea. A cura di Tito Perlini. [Geschichte und Auflösung. Hegels und Marx’ Erbe im zeitgenössischen Denken. Herausgegeben von Tito Perlini.] Macerata: Quodlibet 2003. LXXXI, 347 S. Geschichte und Auflösung ist in gewisser Weise ein nachgelassenes Werk. Luciano Amodio (1926–2001) ist zwei Jahre vor seiner Veröffentlichung gestorben. Es versammelt eine Reihe von Beiträgen, die der Verf. in den Jahren 1957–1998 publiziert und Amodios Freund und Band-Herausgeber Tito Perlini jetzt zusammengetragen hat. In ihrer Gesamtheit betrachtet handelt es sich hier um philosophische Aufsätze, die zwei Knotenpunkte, jedoch einen Leitfaden aufweisen. Denn die Geschichte des Marxismus (und der Marxisten) einerseits und die Philosophie Erich Weils andererseits, die ohne Zweifel zwei Hauptthemen Amodios bilden, gehören der untergründigen Frage nach dem Sinn von Geschichte überhaupt an, die Amodio besonders durch die Werke Kants, Hegels, Marx’ und Weils immer wieder zu beleuchten versucht hat, ohne dabei die Debatten der letzten Jahre (z. B. den Streit über den Francis-Fukuyama-Bestseller The End of History and the Last Man [1992]) unberücksichtigt gelassen zu haben. Mit Ausnahme dieser gesammelten Aufsätze hat Amodio als Philosoph noch ein Buch (Commentario al primo Lukács. [Kommentar zum frühen Lucács.] Urbino: Quattro Venti 1980) veröffentlicht sowie eine Schriftensammlung Rosa Luxemburgs (Rosa Luxemburg: Scritti scelti. [Ausgewählte Schriften.] Torino: Einaudi 1975) herausgegeben und sorgfältig kommentiert. Die intellektuelle Tätigkeit Amodios ist jedoch breiter als diejenige eines Gelehrten gewesen: Er war kein Philosoph von Berufs wegen, kein Akademiker. Bei ihm haben sich die philosophischen Interessen stets mit politischer
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Leidenschaft verflochten, so daß ein gewichtiger Teil seiner Schriften der linken italienischen Publizistik zugeschlagen werden muß. Wie man der schönen „Introduzione“ [„Einleitung“, IX–LXXXI] Perlinis entnehmen kann, zählte Amodio gemeinsam mit dem Dichter Franco Fortini (1917–1994) u. a. 1955 zunächst zu den Begründern der militanten Zeitschrift Ragionamenti; in der Folgezeit hat er außerdem Il Corpo (1965– 1968) begründet, eine weitere Zeitschrift, die eine bedeutende Rolle im kulturellen Panorama der italienischen Linke gespielt hat. Das publizistische Engagement Amodios – wie übrigens auch sein philosophisches Denken – gründet jedoch keinesfalls in irgendeinem offiziellen Programm der Linksparteien: Bereits nach der Tragödie des Ungarischen Volksaufstands (23. Oktober–4. November 1956) sind die Ragionamenti-Redakteure mit der Ideologie der Kommunistischen Partei (PCI) Togliattis in einen offenen Konflikt geraten, und seit dieser Zeit wurde der Blick Amodios immer schärfer, entmythologisierender, kritischer – bis hin zur trockenen Verwerfung der 1968er Studentenbewegung als „marcusianischen Karneval“. Für Amodio hat der Marxismus keinen Weg zur Glückseligkeit gewiesen, weil das individuelle Schicksal sich gesellschaftlich nicht einlösen lasse und das Problem des Nichts, das unweigerlich eine materialistische Einstellung berge, vor die schwierige Aufgabe stelle, dem leeren Horizont des Todes voller Würde und ohne Mystifikationen entgegentreten zu sollen. Theodor W. Adornos Minima Moralia (1951) steht dem sehr nahe. In seinem Aufsatz „I confini del marxismo classico (1978)“ [„Die Grenzenlosigkeit des klassischen Marxismus“, 43–63] versucht Amodio, seine Idee des Marxismus näher zu bestimmen, indem er eine klare Trennungslinie zwischen einer marxistischen Orthodoxie, die z. B. Georg Lukács zu umgrenzen versucht hat, und dem klassischen Marxismus zieht. „Lukács wollte im Marxismus etwas Nutzbares für jede geschichtliche Situation, ein eindeutiges Handlungs- und Zugriffsprinzip finden: […] Mit dem klassischen Marxismus meint man dagegen einen Komplex von Werten, wissenschaftlich-philosophischen Prinzipien, Tatsachen, geschichtlichen Angelegenheiten, die ein Ganzes bilden, dessen Grenzen sich lediglich bis zu einem bestimmten Punkt erstrekken können.“ (43 f.). Marx hätte so gesehen ein System angeboten, das kohärenter als vollständig und „inhaltlich und strategisch Gültigkeit lediglich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und zum Jahr 1917 hat beanspruchen können“ (44). Der klassische Marxismus könne daher gewissermaßen „als ein makro-historisch offenes Modell betrachtet werden, auf das man sich an Hand einer Reihe verändernder Größen beziehen muß, die jedoch seine Grundstruktur nicht zerstören“ (ebd.). Sogar die Einheit von Theorie und Praxis sei als flexibel anzusehen: Für Marx stelle die Rolle „des schöpferischen theoretischen Denkens“ eine Ebene dar, die ganz deutlich von der sozialen Bewegung und von der Partei zu trennen sei. Allein der Kommunismus ermögliche „durch die Rolle des organistischen Intellektuellen eine mehr oder weniger vollständige Identifizierung mit den zwei Ebenen des Überbaus“ (45). Wie gesagt taucht in den 80er Jahren in den philosophischen Interessen Amodios eine neue Figur, Erich Weil, auf, durch die er die nie vernachlässigte Beziehung HegelMarx zu vergegenwärtigen und vertiefen sucht. Nicht weniger als vier Ausätze dieses Bandes sind Weil gewidmet: „Eric Weil: Una teoria metastorica della poesia“ (1983) [„Eric Weil: eine metageschichtliche Theorie der Dichtung“, 119–124]; „Weil e la fuga
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dell’etico nella storia“ (1983/84) [„Weil und die Flucht der Ethik in die Geschichte“, 125–140]; „À propos du mal radical“ (1984) [„À propos das radikale Böse“, 141–151]; „Eric Weil e la storia“ (1984) [„Eric Weil und die Geschichte“, 153–159]. Kojève und Weil sind wichtige Anhaltspunkte Amodios im Streit über die alte Frage nach dem Ende der Geschichte, die Francis Fukuyama vor einigen Jahren wieder aufgebracht hat: In dieser Auseinandersetzung schwankt Amodio zwischen Weil und Kojève, dem Anreger Fukuyamas. Fukuyamas These, die Geschichte sei de iure an ihr Ende gelangt, wenn der Weltprozeß in einen Staat liberal-demokratischer Regierungsform, der gegenüber keine andere homogener sei, übergeleitet habe, unterschriebt auch Amodio grundsätzlich – doch mit dem Zusatz, Fukuyama habe lediglich die Diagnose Kojèves, die der russisch-französische Denker in seiner Introduction à la lecture de Hegel (1947) gerade mit Blick auf die Schlußpassagen der Phänomenologie des Geistes (1807) gestellt hat, wiederholt. Eine Zustimmung zur Hegelianisch-Kojèveschen Diagnose hätte jedoch Fukuyama dazu geführt, die Bedeutung Europas und der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert bzw. Phänomene wie den Faschismus sowie den Kommunismus zu unterschätzen – und zwar schlicht als ‚Verspätungen‘ der Geschichte (vgl.: „‚Fine della storia‘ hegeliana o posthegeliana? Considerazioni sulle tesi di Fukuyama“ [„Das Ende der Geschichte“ hegelianisch oder posthegelianisch? Bemerkungen zu Fukuyamas Thesen“], 245–260; hier 255). Die posthegelianischen Kategorien, die Weil in seiner Logique de la philosophie (1950) geschildert hat, hätten diese Vereinfachung gewiß verhindert. Wenn man aber die posthistorische Lage, den Sieg der liberalen Demokratie über den Kommunismus (1989) betrachtet, scheint Amodios Urteil sich zu verkehren: Der „allgemeine und homogene Staat“ der Postmoderne wäre wirklich jener, den Kojève beschrieben hat: und zwar das Ende der negativen, menschlichen Tat und der Rückfall in die langweilige Routine natürlicher Begierde. Die Rolle des Staates, der nach Weil darin bestehe, daß jeder die Möglichkeit habe, einen Sinn für sein Leben zu finden, vergeht in der Auflösung des „objektiven Geistes“ (269) in die „reine Alltäglichkeit“, die nur „schwereloses Gefühl“, unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist. Man könnte auch sagen, daß für Amodio in der Posthistorie bzw. Postmoderne alles ‚menschlich-allzumenschlich‘ ist. Marcello Monaldi (Trieste)
Otto Pöggeler: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München: Wilhelm Fink Verlag 2004. 197 S. Auch heute behält Sophokles’ Antigone die Bedeutung einer Urszene, „in der die individuelle Freiheit und Authentizität sich gegen rechtliche Ausgestaltungen des Politischen wehren muss“ (18), so kommentiert einleitend Otto Pöggeler die von der afghanischen Regisseurin Julia Afifi aufgeführte Inszenierung der Sophokles-Tragödie inmitten der Ruinen Kabuls und in einer von Bombenkratern bestimmten Szenographie. Daß Brüderkriege auch unsere Gegenwart bedrohen, bedarf keines Nachweises; so kann der Verweis auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York (16)
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bloß als ein zusätzliches Beispiel für dramatische Kriegs- und Wendezeiten gelten, in denen der Bezug auf den antiken Stoff der Thebanischen Geschichte dringlich und die Prinzessin zum Muster der Selbstaufopferung wird, damit Menschlichkeit gewahrt bleibe. Dies – so die vorliegende Arbeit – sei in paradigmatischer Weise während der Zeit der Französischen Revolution geschehen, als junge Intellektuelle in der Umbruchszeit um 1800 ihr Leben aufs Spiel gesetzt, oder während jenes anderen Bürgerkriegs, der Europa ab 1914 geplagt und sich bis zum Berliner Mauerfall von 1989 hingezogen habe, als wiederholt Antigone den Widerstand gegen die Besatzungsmächte und Kollaborateure ausgedrückt, die Erhebung der Stimme des Gewissens in aussichtslosen politischen Lagen ermöglicht, die Selbstbesinnung auf das Geschehene oder schlicht die Aussichtslosigkeit der Kunst und die Verzweiflung des Künstlers in einer Welt des Schreckens bedeutet habe. „Man greift zur Gestalt der Antigone, wenn man dem Widerstand gegen politische Machtausübung Pathos geben will. In dieser Sicht ist Antigone allgegenwärtig“ (18) – ob mit Kreon Wilhelm II., Marschall Pétain, Hitler oder Honecker gemeint sind. Als entscheidend nicht nur für das zeitgenössische philosophische Bewußtsein stellt Pöggeler Friedrich Hölderlins Übersetzung und Kommentar der Sophokles-Tragödien und ihre Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert dar, denen gemäß das tragische Geschehen poetisch auf Geschichte überhaupt verweise. Aus diesem Grund kann Hölderlins Ringen mit Sophokles als das wahrhafte Zentrum des Buches gelten, um das herum die anderen Kapitel sich anordnen. Am Leitfaden des Dichters („II. Hölderlins Abseits“ [79–110]) werden in der Tat Hegels Deutung der Antigone („I. Von Hegel zu Mendelssohn“ [25–77]) sowie Martin Heideggers Auseinandersetzung mit dem berühmten ersten Standlied der Tragödie präsentiert („III. Heideggers tragische Welterfahrung“ [111–174]). Auch im vierten Kapitel („IV. Antigone in der Pluralität der Künste“ [175–191]), das als Ausklang verstanden werden kann, wird die herausragende Bedeutung der Tragödie anhand jener Wiederentdeckung der Übersetzungsarbeit Hölderlins dokumentiert, die ihn als künstlerischen Mentor des 20. Jahrhunderts gekrönt und Sophokles’ Antigone in die tragende Mitte des zeitgenössischen Kunstschaffens gestellt hat. Hölderlins Übersetzung ist sogar in andere Fremdsprachen übertragen worden („[…] die Übersetzung einer eigenwilligen Übersetzung, die sich als Kunstwerk verselbständigt hatte!“ [12], so Pöggeler zur Übertragung von Hölderlins Antigonä ins Französische durch Philippe Lacoue-Labarthe); sie habe mit ihrer Sprachgewalt andere bedeutende Kunstwerke hervorbringen und ihre Nachwirkung bestimmen können, so z. B. Carl Orffs Bestrebung, die Klangwelt der Antike zurückzugewinnen und neu zu beleben oder Berthold Brechts theatralische Bearbeitung der Antigone, die vom Berliner Ensemble inszeniert und später – gar nicht paradox – gerade in den Jahren kurz vor der Wende zu einem Aufruf gegenüber der erstarrten Staatsmacht der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist. Die Entstehungszeiten des Deutschen Idealismus und einige verhängnisvolle Jahrzehnte des durch Weltkriege ‚verkürzten‘ Jahrhunderts erweisen sich für Pöggeler als Angelpunkte, in denen die Auseinandersetzung mit dem Tragischen ein neues geschichtliches Bewußtsein gestalte, das hauptsächlich in der Kreativität der Kunst und des philosophischen Denkens Ausdruck finde. Vermutlich noch in der Zeit der Zusammenarbeit mit Hegel, als das Empedokles-Pro-
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jekt gescheitert ist und die in dem Freundeskreis um Isaak von Sinclair entstandenen Hoffnungen mit dem Hochverratsprozeß bitter beendet worden sind, hat Hölderlin das erste Standlied der Antigone zu übersetzen begonnen: „Vieles gewaltge gibt’s“ (101). Der Dichter habe eigentlich von sich selbst und seiner Zeit gesprochen. Ein Traum sei ausgeträumt, die Revolution der Geister habe gedroht, zu einer Endzeit der höchsten Gefahr und des Verfalls zu führen, die Götter seien entflohen, und lediglich das Leiden des Menschen habe noch eine Ahnung des Göttlichen ermöglicht, das Vaterland sei untergegangen, die angeblichen Retter der Stadt hätten sich als Verderber entpuppt. Wie andere junge Dichter seiner Generation habe sich auch Hölderlin ins eigene Scheitern und Versagen gestürzt, so sei aus seiner Sophokles-Übersetzung eine Umdeutung, ein „Umsetzen ins Eigene“ (82) geworden, aus der Tragödie eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Schicksal. Seine Übersetzungen Oedipus der Tyrann und Antigonä sind bekanntlich 1804 erschienen, von Beginn an dem intellektuellen Schiffbruch überlassen. Friedrich Schiller hat sie verlacht, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat sie als Zeugnisse der Geisteszerrüttung wahrgenommen, Heinrich Voß spöttisch gedeutet, und Johann Wolfgang Goethe sind sie als Beitrag zur Farbenlehre empfohlen worden. Doch sie haben Überlegungen zum ‚Faktischen‘ und zum ‚Geschick‘ enthalten, die erst später haben aufgenommen werden können, sie haben eine neue Sprache geprägt, die über sich hinausgewiesen und im ‚hesperischen‘ Zeitalter auf ein neues geschichtliches Verständnis und auf neue Wege der Dichtung vorausdeutet haben (vgl. 99 ff.). Nach Karl Rosenkranz’ Zeugnis hat bekanntlich Hegel die Antigone über Jahre übersetzt und sich seit seiner Gymnasialzeit ununterbrochen mit Sophokles beschäftigt, und zwar seit seinem Symphilosophieren mit Hölderlin bis zu seinen berühmten Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, in denen die Antigone als das vortrefflichste und befriedigendste Kunstwerk der alten (und der modernen) Welt anerkannt worden ist. Die Liebe zum Griechentum ist bei Hegel allerdings immer auch mit einem Enthusiasmus für die Französische Revolution verbunden gewesen; dies habe gegolten bis zu seiner in Berlin getätigten Bemerkung, der Sturz Napoleons sei „als tragikotaton“ (41) zu nehmen gewesen. Nach einem Überblick über die bedeutendsten Stellungnahmen zur antiken Tragödie in den früheren Schriften Hegels steht aber erwartungsgemäß die Phänomenologie des Geistes im Mittelpunkt der Darstellung, jene „Wissenschafft der E r f a h r u n g d e s B e w u ß t s e y n s “ (GW 9, 61), in welcher der griechischen Tragödie eine herausragende Rolle bei der Analyse der sittlich-geschichtlichen Welt eingeräumt wird. Meisterhaft umreißt Pöggeler die logisch-ontologisch angelegten Züge des berühmten Geist-Kapitels (41 ff.):Von den Entzweiungen der sittlichen Substanz, wo Bruder und Schwester für die öffentliche Welt der gesetzlichen Staatsmacht sowie für die Familienpietät und die Penaten stehen, bis zu den Entfremdungen jenes harten Herzens, das sich bis in den Wahnsinn hinein zerrüttet und zweifellos auf den Freund Hölderlin hinweist, fragt Hegel nach den begrifflichen Rastern der Geschichte, innerhalb derer die Schicksalsspaltungen nach einer Versöhnung streben. Wie schon in dem Abschnitt über die gesetzesprüfende Vernunft sind Verweise auf die Antigone auch in den Ausführungen zur Religion zu finden, die allerdings schon ins absolute Wissen zielen, wo das Tragische und Schicksalhafte in einer begriffenen und begrifflichen Geschichte über-
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stiegen sind: „Die tragische Erfahrung des Schicksals wurde der umfassenderen Erfahrung von Geschichte eingeordnet.“ (60) Durch die Vorlesungen zieht Pöggeler dann den Bogen zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts und den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sowie den Diskussionen der Zeit, die Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs, Goethe oder Heinrich Gustav Hotho als Hauptfiguren gehabt haben. Die Auswirkungen sind allerdings nicht nur von philosophischem Interesse gewesen. In Berlin hat Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst auch Felix MendelssohnBartholdy gehört. Er hat zehn Jahre nach Hegels Tod die Chöre der Antigone für die festlichen Aufführungen in Potsdam und Berlin vertont, an denen auch viele Schüler und Freunde Hegels zusammen mit dem gelehrten Berlin, dem Königshaus und den damals führenden Militärkräften teilgenommen haben. Ein Begleitbuch zur Aufführung hat teilweise noch im Lichte der Hegelschen Begrifflichkeit gestanden, obwohl eher Berührungspunkte mit Hölderlin in den Vordergrund getreten sind und die Stunde der Wiederkehr Schellings eigentlich schon geschlagen hatte. Die Bühnenerfolge, die sich durchgesetzt haben, sind jedoch damals bereits andere gewesen, so daß die Antigone, von der her Geschichte zu deuten versucht worden ist, wieder zur Bildungslektüre abgesunken ist. Dies ist trotz des Eifers geschehen, mit dem bis zum Ende des Jahrhunderts neue Übersetzungen erschienen sind, welche jedoch ein immer breiteres Publikum erreicht haben. Auch daraus kann nach Pöggeler ein regelrechter Paradigmenwechsel abgelesen werden, denn es „hatte sich etwas Grundlegendes geändert: Nicht mehr der König Oedipus war, wie einst für Aristoteles, die Mustertragödie, sondern die Antigone.“ (75) „Als […] 1951 Carl Orffs Vertonung der Antigonae von Sophokles in der Übersetzung von Hölderlin auch in München aufgeführt wurde, fuhr Heidegger gleich zweimal zu einer Vorstellung im Prinzregententheater“ (112), obwohl er sonst kein begeisterter Theaterbesucher gewesen ist. Die Wiedererweckung der Antike, die er an dieser Inszenierung gelobt hat, hat den deutsch-griechischen Bezug auf Sophokles betroffen, der von Hölderlin vermittelt und nun beim Überspringen der eher italienisch und französisch gefärbten Operntradition neu entdeckt worden ist. „Dieser Bezug sollte in die Nähe zu den Aufgaben führen, die aus der Geschichte erwachsen und in die Zukunft weisen.“ (Ebd.) Mit Hölderlin hat sich Heidegger bekanntlich seit den schicksalhaften 30er Jahren intensiv beschäftigt, nachdem er sein politisches Engagement als Rektor der Universität Freiburg/Brsg. aufgegeben hat, obwohl er bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs die von dem am 14. Dezember 1916 in Verdun gefallenen Norbert von Hellingrath edierten Pindar-Übertragungen (1910) und späten Hymnen (1914) „wie ein Erdbeben“ (114) rezipiert hat und obgleich der Bezug auf die Antike auch von Nietzsche her als Schlüssel für die Geschichte ein durchgehender Zug seines Denkens gewesen ist. Die erste Vorlesung nach dem Rücktritt als Rektor über Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (Sommersemester 1934; vgl.: GA 38) endet mit einem versteckten Verweis auf Hölderlin geendet und auf jene Sprache der Dichtung, die das Walten des Seins im ursprünglichen Wort ausdrücke. Im Wintersemester 1934/35 hat Heidegger dann über Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein (vgl.: GA 39) gelesen, die von den Anmerkungen zu den Sophokles-Übersetzungen her gedeutet worden sind. Die „erschütternden“ Worte Hölderlins an Casimir Ulrich Böhlendorff hat
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Heidegger sogar auf sich selbst angewandt, „um die Enttäuschung über seine fruchtlosen politischen Bemühungen in eine neue Aufgabenstellung zu verwandeln: Die politische Revolution soll nun nicht mehr durch die Reform der Universität unterstützt werden, sondern vom Dichten eines Hölderlin her auf lange Sicht hin verwandelt werden.“ (121) Im Sommersemester 1935 hat die Einführung in die Metaphysik (vgl.: GA 40) eine Übersetzung des ersten Standlieds der Antigone enthalten, in welchem sich nach Heidegger die Geschichtlichkeit des Menschen als die „Bresche“ erweist, in die die Übergewalt des Seins hereinbricht. Wie hat aber, fragt Pöggeler, die Übersetzung eines dichterischen Textes in eine philosophische Vorlesung hineingeraten können, zumal das Denken sich zunächst gerade als ein Aufstand gegen die Dichter verstanden hat (vgl. 130)? In der Orientierung an Hölderlins Bezug auf die griechische Dichtung ist es Heidegger beim ersten Standlied der Antigone um das dichterisch entworfene Menschsein und die geschichtliche Erfahrung des Aufbrechens des Seins gegangen. Bei dem ‚Unheimlichen‘ und seinem ‚Walten‘, wie bei Heidegger das griechische deinon des ersten Verses wiedergegeben wird, ist das ‚Gewaltige‘ Hölderlins doch in die Übersetzung hineingenommen (vgl. 135): Man könne wohl Heideggers Auseinandersetzung mit dem ersten Standlied der Antigone „nicht ohne das Vorbild von Hölderlins Übersetzung verstehen.“ (137) Auch in bezug auf die Nähe zwischen Denkern, Dichtern und Herrschern als Schaffenden, durch die das Sein sich werkhaft in die Geschichte setze, werde die Tragik „(wie bei Hölderlin) auf den Untergang und Übergang in der Geschichte bezogen“ (138), obwohl Heidegger immer noch an die innere Größe der nationalsozialistischen Bewegung geglaubt habe. Als Hölderlin dann aber „in die unechten Hände“ (143) der kultur-politischen Propaganda geraten ist, wie Heidegger in einem Brief an Elisabeth Blochmann geschrieben hat, hat er sich allerdings auch dafür entschieden, zunächst nichts darüber verlauten oder gar publizieren zu lassen. Inzwischen sind es hauptsächlich deutsche Emigranten gewesen, wie Pöggeler betont, die in England und Amerika wieder an Hölderlin angeknüpft haben, um „den deutschen Geist gegen den Ungeist des damaligen Deutschland“ (ebd.) stellen zu können. In den 40er Jahren hat sich Heidegger nicht mehr Hölderlins Rhein-, sondern vorwiegend dessen Ister-Hymne zugewandt, in der es erneut um die Verbindung und Zwiesprache mit den Griechen geht, aus denen gelernt werden soll, „dichterisch“ auf der Erde zu wohnen und dadurch auch das ‚Ethische‘ neu zu denken. Nochmals steht das erste Standlied der Antigone im Mittelpunkt. „Heidegger folgt Hölderlin wiederum nicht in Einzelheiten, doch im Grundsätzlichen, wenn er das Unheimliche als das Unheimische fasst.“ (149) Auch in anderen Fällen sei Heidegger Hölderlin sinngemäß gefolgt, so z. B. in der Deutung Kreons als des Vertreters des Gesetzes, zu dem das Leben finden müsse, und Antigones als des noch gesetzlosen Übergangs zu Anderem, als eines Verweises „auf einen anderen Anfang“ (152). Gründlich zeigt Pöggeler die Varianten und Entwicklungen von Heideggers Übersetzung des ersten Standlieds der Antigone im Laufe der Jahrzehnte sowie ihre gegenseitige Beeinflussung in seiner Einführung in die Metaphysik (1953). Dabei geht es hauptsächlich um das Ineinanderspiel der Orientierungen an Nietzsche und Hölderlin mit Blick auf die Stürme der Zeiten, ihre Umwälzungen, Nöte und Revolutionen, um – nach dem Untergang – einen ‚verborgenen‘ Anfang in eine andere Geschichte. „Auf Heideggers Weg gibt es einen Pluralismus der
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Übersetzungen und der Auslegungen des ersten Standliedes der Antigone, doch wird er durch die Tendenz überspielt, mit Sophokles und Hölderlin den einen Ursprung unserer Geschichte für ein neues Beginnen zurückzuholen. Dabei wird das Mythische nicht metaphysisch festgelegt, sondern in der Partnerschaft von Dichten und Denken zu einem offenen Weg.“ (158) In den Schatten Hölderlins stellt Pöggeler auch jene andere Zwiesprache (und gescheiterte Begegnung) Heideggers mit Paul Celan, in denen es auch um das (Ver-)Schweigen der Zerrissenheit der näheren Vergangenheit und der geschichtlich verankerten Gegenwart gegangen sei (vgl. 167–169). Gelehrt und reich an Informationen, aber auch immer von der Leidenschaft des Denken- und Entscheiden-Müssens geleitet, bleibt Pöggelers Antigone-Band stets dem Stachel der Geschichte und ihrem Schicksal verpflichtet, man beachte z. B. die vielsagende Widmung der Arbeit dem Gedächtnis General-Feldmarschall von Witzlebens, eines Adligen aus dem Kreis der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 (20). Antigone ist also in Pöggelers Band nie bloßer Anlaß für philologische Befunde und wissenschaftliche Ausführungen – vom Autor sonst wie üblich souverän beherrscht –; vielmehr wird durch sie weiterhin die Frage nach einem von den Wirren und Erschütterungen der Brüderrivalität noch immer zutiefst bestimmten gemeinsamen Leben gestellt, wobei die Verherrlichung der helfenden Schwester den Widerstand gegen den sonst triumphierenden Ruhm des Kampfes anzeigt. Hier kann Hegels Phänomenologie des Geistes wieder orientierungsfähig werden, denn „Antigone zeigt, dass das Leben der Menschen sich nicht (wertherhaft und faustisch) in selbstbezogener, weltgewinnender Leidenschaft erfüllt […]. Vielmehr kann die Ausrichtung auf das geschwisterlich Andere, zugleich Ferne und Nähe, zu einer Liebe führen, die den Tod unter die Füße tritt, Leben zum (sittlichen) Geist erhebt.“ (29 f.) Gabriella Baptist (Cagliari)
Dae-Joong Kwon: Das Ende der Kunst. Analyse und Kritik der Voraussetzungen von Hegels These. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 221 S. Kwons Studie ist aus seiner im Wintersemester 2001/02 in Aachen vorgelegten Dissertation entstanden. Ziel der Arbeit ist ein doppeltes: zum einen die Analyse der Hegelschen These vom Ende der Kunst im Zusammenhang mit ihren systematischen Voraussetzungen; zum andern soll aus dieser Analyse eine begründete Kritik sowohl an Hegels Wesensbestimmung der Kunst als auch an der aus ihr konsequentermaßen gefolgerten These vom Vergangenheitscharakter der Kunst hervorgehen, von der aus wiederum eine plausible Modifikationsstrategie i. S. einer „kategorialen Umstellung der Kunst“ (208) vorgeschlagen wird. Kwon wählt einen durchaus interessanten Ansatz: Für ein adäquates Verständnis der Hegelschen Ästhetik sei eine Auseinandersetzung mit den Disziplinen der Logik und der Geistphilosophie nötig. Dieser systematischen Fundierung der Analyse der berühmt-berüchtigten Hegelschen These folgt auch die Einteilung seiner Arbeit: Das erste Kapitel (24–69) beschäftigt sich mit der Wahrheitsauffassung Hegels, das zweite
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(70–144) mit der Philosophie des theoretischen Geistes, das dritte und letzte (145–203) behandelt schließlich das eigentlich kunstphilosophische Thema. Kwon hält an der systematischen Tragweite der Hegelschen Behauptung vom Verlust der universalen Bedeutung der Kunst fest (und grenzt sich damit von manch alternativem Ansatz der Hegel-Forschung ab, wie etwa von demjenigen Annemarie Gethmann-Sieferts) und fragt vielmehr danach, welche systematischen Voraussetzungen der These begründet in Frage gestellt werden können müssen, um die Schlußthese modifizieren zu können. Das erste Kapitel („‚Wahrheit‘ bei Hegel: Die erste Grundlage“) skizziert vorab prägnant die historische Vorgeschichte des Wahrheitsbegriffs (24–43). Besonderes Augenmerk legt es dabei auf die bei Platon angelegte metaphysische Bedeutung der Wahrheit, der zufolge es zwischen dem Bereich des Seins und dem der Vernunft die Idee des Guten als ein beide Bereiche umfassendes Drittes gebe, die zum einen den Menschen zur Erkenntnis befähige und zum anderen dem zu erkennenden Objekt seine Wahrheit verleihe. Kwon zufolge „wiederbelebt“ (204) Hegel diese platonische Tradition des Wahrheitsbegriffs, der – beginnend mit Aristoteles, der das Urteil als den eigentlichen Wahrheitsträger bestimme und damit dem Sein letztendlich den Vorrang vor dem Denken einräume (vgl. 29), über Thomas von Aquin und dessen adaequatioFormel (und v. a. deren nachträglicher Verkürzung auf die alleinige Geltung im Bereich des Faktischen) – seinen metaphysischen Gehalt allmählich gänzlich einbüße. Die „Aporie“ (42), in die schließlich Kant mit seiner Wahrheitsauffassung gerate, zeige sich darin, daß er gleichermaßen einem korrespondenz- wie einem kohärenztheoretischen Ansatz verpflichtet bleibe, die einander, Kwon zufolge, wechselseitig voraussetzten und zugleich behinderten. Es sei schließlich Kants „hartnäckige[r] Dualismus“ (ebd.) und sein Festhalten am Ding an sich, welche die „schon im Ansatz enthaltene Schwäche“ (ebd.) der Kantischen Transzendentalphilosophie ausmachten. Kant befinde sich zwar „an der Schwelle der idealistischen Kohärenztheorie“ (ebd.), bleibe allerdings noch gefangen in einem „‚schlechte[n]‘ Zirkel“ (ebd.). Bei aller sachlich berechtigten Kritik an der Stringenz des dualistischen Ansatzes Kants sei jedoch angemerkt, daß Kwon die Leistungen Kants doch zu stark an (seine) Hegel(-Lektüre) anbindet und auch beurteilt, was sich bisweilen in einem störenden Unterton Gehör verschafft, wenn etwa pauschal von Kants „mißglückte[r], unvollständige[r] Transzendentalphilosophie“ (44) die Rede ist. Überdies wäre an dieser Stelle wenigstens eine knappe Skizze der weiteren Geschichte des Wahrheitsbegriffs nach Kant und vor Hegel wünschenswert gewesen. Im Anschluß an Kwons Kant-Kritik folgt die langerwartete Auseinandersetzung mit Hegels Wahrheitsbegriff. Mit Hegel setze der „entscheidende Fortschritt“ (45) ein: Die Subjekt-Objekt-Identität werde „zu einer höchst positiven Bestimmung des Absoluten emporgehoben.“ (Ebd.) Kwon leistet in diesem Abschnitt zweierlei: Er unterscheidet zum einen die Hegelsche Wahrheitsauffassung von der (nach-)thomistischen Tradition der Korrespondenztheorie und nimmt sich im Anschluß vor, die Hegelsche Auffassung der Wahrheit als der absoluten Identität in einem „unhintergehbar[en]“ (48) Beweis zu untermauern. Während korrespondenztheoretisch zwei heterogene Relata miteinander übereinstimmen müssen, bestehe für Hegel die Wahrheit in der Selbstübereinstimmung des Inhalts, will sagen: in „der Einheit des Begriffs und seiner Realität.“ (205) Kwon folgt – sowohl in der Explikation des Hegelschen Modells absoluter Widerspruchs-
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freiheit als auch in seiner gesamten Argumentation bis hin zu seinen abschließenden Bemerkungen über die Notwendigkeit einer nach-philosophischen Kunst, die er im dritten Kapitel entwickelt – weitgehend Vittorio Hösle, der in seiner umfangreichen Studie im Rahmen seiner Untersuchung der Logik Hegels dessen Widerspruchstheorie analysiert (vgl.: Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Band 1. Systementwicklung und Logik. Hamburg 1988. 156–210) und in seine Betrachtungen der Hegelschen Methode innerhalb der Logik einbezieht. Und gerade mit Hinblick auf die Erörterungen zum Widerspruch bzw. Selbstwiderspruch und in diesem Zusammenhang der Unterscheidung der logischen Kategorien von schlechter und wahrhafter Unendlichkeit (vgl. insbes.: Hösle: Hegels System. A. a. O. 169–179; sowie: Kwon: 54–62) ist es geboten – zumindest dem in der Hegelschen Logik noch nicht allzu Bewanderten –, die Ausführungen Kwons und Hösles neben- oder miteinander zu lesen, da Kwon nicht selten abbreviativ und pointiert formuliert, was zuvor Hösle gedanklich (nicht weniger pointiert) hergeleitet hat. Die nähere Betrachtung, wie sich die Binnenstruktur der Idee als absoluter Wahrheit positiv bestimmen lasse, erhellt die Einheit zwischen Begriff und Realität als eine negative (vgl.: GW 20, § 215 A, 218) – negativ in dem Sinne, daß das Unendliche auf das Endliche übergreift. Somit ist die Realität nicht das heterogene Andere des Begriffs, sondern vielmehr sein eigenes Anderes, und der Begriff realisiert sich durch sie (vgl. 60). Als für den weiteren Argumentationsgang bedeutsam hebt Kwon hervor, daß, wenn nun die Idee im Hegelschen Sinne die negative Einheit von Begriff und Realität betreffe, „die Idee eine höhere Bestimmung als der Begriff“ (ebd.) ausmache. Ein Gegenstand werde insofern ‚wahr‘ genannt, wenn seine Existenz, d. h. seine Realität mit seinem Intendierten (mit seinem Begriff), übereinstimme. Kwon hebt den Vorzug der Hegelschen Wahrheitstheorie „gegenüber den meisten nachthomistischen Korrespondenztheorien“ (51) hervor, der darin liege, daß der Hegelsche Wahrheitsbegriff einen normativen Charakter aufweise. Orientiere man sich in der Beurteilung, ob etwas wahr oder unwahr sei, daran, ob es seinem Begriff entspreche, d. h. ob ein Gegenstand so ist, wie er sein soll, so treffe man zugleich eine Entscheidung darüber, ob er in sich gut ist. Daß aber eine solche vollständige Kongruenz von Intendiertem und Realisation überhaupt möglich ist, liege an der Wahrheit als solcher. Hier leuchtet auch Kwons terminologische Differenzierung von Mikro- und Makrostruktur der Wahrheit ein: Kwon bestimmt die Makrostruktur der Wahrheit als die absolute Idee, die ihrer immanenten Struktur gemäß nach ihrer realen Entäußerung verlange; indem sie aber übergehe, müsse die Einheit von Begriff und Realität (wieder-)hergestellt werden. Diese konkrete Einheit von Begriff und Realität nehme dann auf der Mikroebene Gestalt an (vgl. 60 f.). Damit aber diese Wahrheitsauffassung Hegels nicht nur als hypothetische Möglichkeit rekonstruiert wird, führt Kwon (auch hier wieder in enger Anlehnung an: Hösle: Hegels System. A. a. O. 188–197) den apagogischen oder indirekten Beweis des Absoluten, d. h. genauer: Er rekonstruiert den von Hegel selbst geführten indirekten oder negativen Gottesbeweis. Hegel selbst verfahre nicht deduktiv, sondern gehe „von der Endlichkeit der endlichen Kategorien zur Unendlichkeit der unendlichen Kategorie“ (67) über. Und das eben unterscheide sein methodisches Vorgehen vom kosmologischen und vom teleologischen Gottesbeweis. Das Proprium des indirekten Beweises bestehe nun darin:
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Das Sein des Endlichen werde eben nicht als Grund für das Absolute gesetzt, sondern es sei gerade das Nicht-Sein (im strengen, widerspruchsfreien Sinne) des Endlichen, welches das Sein des Absoluten notwendig mache. Das zweite Kapitel „Der Weg der Intelligenz von der Gegenstandsbezogenheit zur Erinnerung an sich selbst: Hegels Philosophie des theoretischen Geistes als zweite Grundlage“ beginnt mit der Begründung der Notwendigkeit des argumentativen Übergangs von der Erörterung des Hegelschen Wahrheitsbegriffs zur Intelligenzlehre (was überdies das erfreulich hohe Maß an argumentativer Transparenz in Kwons Studie deutlich macht), die in der strukturellen Verwandtschaft beider Themen liege: Im Übergang von der Korrespondenztheorie zur Hegelschen Kohärenztheorie der Wahrheit (i. S. der Freiheit von innerem Widerspruch bzw. Selbstwiderspruch statt Richtigkeit des Urteils) drücke sich als eigentlich antreibende Kraft das Streben nach „zunehmender Unabhängigkeit des Subjektiven von der Gegenstandsbezogenheit“ (73) aus. Ebenso habe auch Hegels Lehre des theoretischen Geistes einzig die Autonomie des Geistes zum Ziel: Das Subjekt wende sich zunehmend vom Gegenstand ab und beziehe sich immer mehr auf sich selbst, bis im Denken der reine Selbstbezug erreicht sei. Und die strukturelle Affinität zwischen Wahrheitsbegriff und Philosophie des theoretischen Geistes (als Grundlage von Hegels Philosophie des absoluten Geistes) reicht noch tiefer: Die Struktur der Geistphilosophie im ganzen sei kongruent mit der Struktur absoluter Wahrheit. Weil der Geist im Durchgang durch die psychologischen Formen des Welt- und Selbstbezugs schließlich zu der Einsicht in die nur scheinbare Heterogenität von Subjekt und Objekt gelange und somit zur vollständigen Selbstgewißheit und Rückkehr zu sich selbst, die das Wesen des Geistes bedeute, bezeichnet Hegel, so erinnert Kwon, diese Gesamtentwicklung des Geistes auch mit dem Terminus der Erinnerung. – Mit dem Begriff der Erinnerung sei überdies eine doppelte Bewegung gegeben: zum einen die Verinnerlichung des Gegenstands, zum anderen die Rückkehr des Geistes zu sich selbst. Kwon nimmt sich viel Zeit, den Weg der Intelligenz in all ihren Formen nachzuzeichnen; hier sei jedoch nur kurz an die drei für die Auseinandersetzung mit der Philosophie der Kunst unerläßlichen Stufen der Entwicklung erinnert, welche bekanntermaßen Anschauung, Vorstellung und Denken sind. Die unterste Stufe und zugleich „die unfreiste Gestalt der Intelligenz“ (205) sei die Anschauung als noch unmittelbar auf das einzelne Objekt bezogenes Wissen, die noch ganz abstrakte Objektivität, in der sich das anschauende Subjekt verliere. Auf der zweiten Stufe gelange der Geist bereits zu einem höheren Grad von Autonomie, denn die Vorstellung hänge nicht mehr vom unmittelbaren und gegenwärtigen Vorhandensein des äußerlichen Gegenstands ab; hier sei der Gegenstand nur im Geist vorhanden. „Die eigentliche Aktivität der Vorstellung sieht Hegel in der Einbildungskraft. Diese verobjektiviert das Subjektive.“ (206) Allein: Auch der Inhalt der Vorstellung als solcher sei noch stoffartig. Insofern sei es nötig, daß der Geist zum Denken fortschreite, dessen Verfahrensweisen von Verstand, Urteil und Schluß Kwon umreißt. Mit der Frage: „Kann nicht eine Art der Kunst geschaffen werden, welche auf dem höchsten philosophischen Niveau basiert, genauso wie der wahrhafte Anfang des sich zur Sache machenden Geistes erst nach der Vollendung des theoretischen Geistes ausgeführt werden soll?“ (144) leitet Kwon über in das dritte und
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eigentlich kunstphilosophische Kapitel der Arbeit („Hegels These vom Ende der Kunst: Eine paradoxe Konsequenz aus der höchsten Aufwertung der Kunst“). Kwon unterscheidet in der Diskussion der Hegelschen These vom Ende der Kunst zunächst zwei Ebenen und Begründungszusammenhänge: zum einen den geschichtsund gesellschaftsphilosophischen Horizont (145–161), zum anderen den religionsphilosophischen (162–181). Der Weg, den Kwon innerhalb ersteren nachzeichnet, ist – um die Pointe vorwegzunehmen – ein solcher der Progression statt der Regression (vgl. 160) im Hegelschen Denkweg, und Kwon beginnt – ausgehend vom Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/97) – bei der Darstellung von Hegels frühem ästhetischen Absolutismus i. S. einer kunstphilosophischen Utopie, die noch zur Gänze auf die Wiederherstellung eines sozialen Organismus ausgerichtet gewesen sei, führt weiter über Hegels Wende und Abkehr von seinem Versuch, eine ‚neue Mythologie‘ (und sei es auch eine ‚Mythologie der Vernunft‘) zu schaffen, und endet mit Hegels Einsicht, der wahre Gegenentwurf gegen die Zerrissenheit der modernen bürgerlichen Gesellschaft liege in einem angemessenen Staatsbegriff beschlossen. In diesem nämlich strebe Hegel die Synthese aus mythischem Weltzustand und moderner bürgerlicher Gesellschaft an (vgl. ebd.). Die von Hegel hier vollzogene Wende von der ästhetischen Utopie zum progressiven Bemühen um die bürgerliche Freiheit bestehe nun aber gerade darin, daß Hegel die höchste Möglichkeit der Kunst nicht pauschal negiere, sondern sie auf die Vergangenheit einschränke. Was mithin unter dem ‚Ende‘ der Kunst zu verstehen sei, sei die „Unmöglichkeit einer Aktualisierung ihrer höchsten Blüte“ (153) und nicht – wer wollte das leugnen? – ihr völliges Verschwinden. Die zuvor genannte religionsphilosophische Dimension, in die die Hegelsche These eingebettet wird, umgreift sowohl den „‚unüberhörbaren theologischen Unterton‘“ (162, hier zitiert Kwon zustimmend Helmut Kuhn) in der Definition von Kunst als auch (hier gestützt auf Michael Theunissen) das gesamte Hegelsche System, in dem das vollständige „Universum nichts anderes [ist] als die Manifestation der Idee“, und damit sei das gesamte System im wesentlichen „rationale Theologie.“ (162, Fußn. 57.) In diesem Sinne kann dann auch der Aufhebungsprozeß des dreistufigen absoluten Geistes (Kunst – Religion – Philosophie) als ein Prozeß „der zunehmenden Vervollständigung der Religion“ (163) beschrieben werden. Die Nachzeichnung der Gesamtentwicklung des Geistes i. S. einer Vollendung und Selbst-Vollendung der Religion, wie Kwon sie hier argumentativ vorstellt, kulminiert in der Beschreibung der – in der Bewegung des zu sich selbst kommenden Geistes – impliziten immer tieferen anthropo- und theomorphisierenden Entwicklung dieses Geistes. Die Philosophie sei nämlich, so Kwon, gerade deswegen die adäquateste Beschäftigung des individuellen Geistes mit dem Absoluten, weil das Absolute selbst das reine Denken, die Philosophie somit das „realphilosophische Pendant der absoluten Idee“ (168) sei, die ihrerseits die absolute Reflexivität des Absoluten vollende. In der Hegelschen Philosophie, so schlußfolgert Kwon hier m. E. zu Recht, werde Gott im Denken des Menschen als mit diesem identisch begriffen, und eben dies mache die höchste Bestimmung des Menschen aus. Kehren wir aber vor dem Hintergrund des Gesagten zurück zum Zusammenhang von Geistphilosophie und Hegels Bestimmung der Kunst als wesenhaft an die sinnliche Anschauung gebunden, so wird Kwons Argumentationsgang sehr plausibel – allein:
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Man mag hier einwenden, das sei noch nicht recht originell. Aber das Bemerkenswerte in Kwons Ansatz, mit dem er über bekannte Antworten auf die Frage nach dem Ende der Kunst hinausgeht, besteht darin, mit dem systematisch Erarbeiteten die Frage nach den Stärken und Schwächen der These Hegels zu stellen (183–188) und denkbare Alternativen (i. S. von tatsächlich erdachten Konzeptionen von Kunst) aufzuzeigen (188–197). Ich verweise an dieser Stelle nur auf Kwons ausgewogene und besonnene Argumentation, in der er nach Legitimität und Illegitimität der Hegelschen These und deren (jüngsten) Modifikationsbemühungen fragt und nehme abschließend Stellung zu Kwons eigenem Versuch einer neuen Wesensbestimmung der Kunst (198–203). (Spätestens) nach der Lektüre der Studie Kwons muß die Frage gestattet sein, inwiefern Hegels Bestimmung der Kunst – obschon systematisch begründet – nicht doch eine zu enge und letztlich das Wesen der Kunst nicht fassende Bestimmung bietet. Denn Hegels These, Kunst sei (rein) anschauliche Erkenntnis der Wahrheit, scheint doch aus vielfachen Gründen problematisch. Gerade am Paradigma der modernen Kunst zeigt sich der hohe Intellektualisierungsanteil von Kunst – bei gleichzeitiger Unverzichtbarkeit auf das sinnliche Moment! –, der in eminenter Weise zur denkenden Betrachtung einlädt. (Kwon bezieht sich in der Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Geistigkeit in der [modernen] Kunst auf einen Aufsatz von Dieter Wandschneiders aus dem Jahr 1997; allerdings, so möchte ich hier aktualisierend ergänzen, findet sich der von Kwon vorgestellte Ansatz Wandschneiders auch in dessen jüngst erschienenen Aufsatz: Dieter Wandschneider: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. – In: Dieter Wandschneider (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 123–137.) Für einen „wahrhaft neue[n] Anfang in der Kunst“ (198) müsse und könne demnach gerade die Kompatibilität und „produktive Beziehung zwischen der künstlerischen Sinnlichkeit und der höchsten Vernünftigkeit“ (ebd.) dargelegt werden. Zugespitzt findet diese Überlegung in der These (die bereits Hösle formuliert hat) ihren Ausdruck: Kunst komme nach und nicht vor der Philosophie. Und auch hier geht Kwon noch den entscheidenden Schritt weiter: Wie nämlich, so fragt er, lasse sich behaupten, nachphilosophische Kunst sei nicht nur möglich, sondern sogar kategorial notwendig (vgl. 200)? Seine Antwort: Kategorial folge die Kunst auf die Philosophie aus dem Grund, weil durch Kunst Hegels „notorische[r] Theoretizismus“ (200), „eine Kernschwäche der ganzen Hegelschen Philosophie“ (ebd.), endlich überwunden werden könne. Besagte Kernschwäche bestehe darin, daß mit der Philosophie im Hegelschen Sinne, also mit der vollständigen Erkenntnis der absoluten Wahrheit, die gesamte Realphilosophie abgeschlossen sei – wodurch alle Philosophie lediglich retrospektiven Charakter habe. Dies aber, so Kwon, sei nicht mit der Verabsolutierung der Idee in Einklang zu bringen, in deren Natur es liege, sich in den realen Bereich zu entfalten. Das Sich-Entäußern in Wirklichkeit und Sinnlichkeit müsse demnach als eine kategorial höhere Stufe interpretiert werden, als sie die Philosophie mit dem In-sich-Bleiben des Begriffs einnehme. Der Mangel der Philosophie könne und müsse demnach durch die Kunst behoben werden, deren Fundament – dies gegen den Einwand, hier rehabilitiere jemand einen ästhetischen Absolutismus – gerade das durch die Philosophie begrifflich Erkannte sei, das sich in der Sinnlichkeit zu manifestieren habe. Diese Reobjektivierung des begrifflich Erkannten deutet Kwon
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nun wiederum als ein dem Geiste immanentes Bedürfnis, in dem der Kunst keine Autonomie zugesprochen werde; sie stehe vielmehr im Dienste der Geschichte (Kunst als Norm für politisch verantwortungsvolles Handeln). Die Frage, die der Rezensentin nach der Lektüre der Studie Kwons bleibt, ist diese: Führt dieser „neue Anfang“ der Kunst nach ihrem Ende notgedrungen in die Forderung nach einer politischen Ästhetik und nach einer Kunst, die ihren geschichtlichen Überbau benötigt, wie sie Kwon abschließend einklagt (202 f.), oder ist von hier aus (mit Kant) nicht auch eine Autonomie der Kunst denkbar? Britta Caspers (Bochum)
Veit-Justus Rollmann: Das Kunstschöne in Hegels Ästhetik am Beispiel der Musik. Marburg: Tectum Verlag 2005. 123 S. La question du beau de l’art („das Kunstschöne“) dans l’esthétique de Hegel est envisagée par Rollmann à travers l’exemple de la musique. L’auteur ne précise pas d’emblée la valeur d’un tel exemple, mais son livre pose néanmoins un certain nombre de questions fondamentales. La musique n’est-elle qu’un exemple parmi d’autres, une simple illustration du beau, ou possède-t-elle aussi une valeur d’exemplarité? La conception hégélienne de l’art est-elle affectée ou déterminée par la conception du beau musical? La musique aurait-elle dans ce cas le dernier mot de l’esthétique comme présentation du concept même du beau (et par conséquent du concept lui-même sous la forme du beau ce qui revient au même)? Le propos du livre est surtout de fournir un exposé introductif à l’esthétique musicale de Hegel. La méthode consiste à se replacer au point de vue du tout de la philosophie et de son évolution historique, lorsque précisément la question esthétique devient centrale qui prend le beau de l’art pour son objet, ce qui situe le propos entre Kant et Hegel. Le livre offre ainsi une présentation claire et concise de l’esthétique de la musique kantienne d’abord (I), puis du cours d’esthétique de Hegel en général (II), avant d’exposer pour elle-même l’esthétique hégélienne de la musique à partir d’une analyse du chapitre qui lui est consacrée dans l’édition de Hotho (III). La difficulté est néanmoins que Rollmann choisit d’utiliser pour unique matériau de son exposé les cours d’esthétique de Berlin, en renonçant à toute référence au système, à l’Encyclopédie, en particulier, ou aux textes esthétiques antérieurs, l’évolution de la pensée esthétique de Hegel n’ayant pas encore fait l’objet d’une synthèse. L’auteur rappelle qu’il est légitime, du point de vue hégélien, d’envisager l’objet pour lui-même (Hegel traite de l’esthétique de façon autonome), mais on peut se demander pourquoi il consacre l’essentiel de l’ouvrage à présenter précisément ce qui est antérieur à l’esthétique de la musique hégélienne au point de vue historique (Kant) aussi bien que thématique (le système esthétique dans son ensemble). En outre, du point de vue strictement philologique, Rollmann ne justifie pourquoi il s’appuie sur le texte des cours d’esthétique de Berlin rédigé après la mort de Hegel
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par Hotho, dont la recherche hégélienne a mis en cause depuis longtemps la validité scientifique, alors que les sources sont accessibles désormais dans leur intégralité concernant précisément la question de la musique. On ne sait pas s’il s’agit là d’un choix délibéré ou d’une forme de naïveté. Bien que l’auteur ne manifeste pas l’ambition de présenter ni de faire avancer la recherche hégélienne, il aurait pu être prudent, en tout état de cause, de ne pas ignorer les résultats de la recherche récente. Car le livre fournit malheureusement un exemple des contresens auxquels conduit un usage non-critique du texte de Hotho. L’auteur commence ainsi par rendre compte, dans la première partie de l’esthétique kantienne de la musique en s’appuyant sur le fait que Hegel discute la Kritik der Urteilskraft dans l’Introduction des Vorlesungen de Berlin. Mais une telle discussion n’est menée par Hegel que dans le dernier cours de 1828/29, où la référence à Kant n’est d’ailleurs qu’une référence parmi d’autres. Au point de vue historique, Hegel cite aussi bien Schiller, les Schlegel, Schelling, qui ont été aussi dans les faits plus déterminants pour la gestation de son esthétique. L’esthétique de la musique particulièrement ne s’est pas construite en référence à Kant, même s’il est éclairant ou légitime d’opposer, comme le fait l’auteur, l’amusie kantienne à la richesse de l’approche concrète hégélienne. De même, dans la deuxième partie du livre, Rollmann suit le plan de Hotho, alors que ce plan varie en fonction de l’évolution du cours de Berlin. La comparaison entre les arts, par exemple, est un ajout de l’éditeur. Du point de vue du contenu, l’une des principales questions qui anime l’esthétique musicale de Hegel est celle de la musique instrumentale considérée comme musique absolue, et par conséquent la question de l’autonomie de la musique. Rollmann imagine à juste titre que Hegel ne s’en tient pas à une simple dénonciation („Abwertung“) au sens de l’Aufklärung (117), mais c’est une chose établie au regard des sources que Hegel a évolué sur ce point et que les jugements contradictoires que contient le texte de Hotho s’expliquent par une évolution effective dans l’appréhension du philosophe en fonction également d’une évolution historique. L’un des aspects les plus intéressants des cours d’esthétique de Hegel est précisément qu’ils ne forment pas seulement un corpus dogmatique, mais ne cessent également d’évoluer et de se modeler, de répondre aux nouveautés du temps aussi bien qu’à la progression continue d’une pensée, y compris dans la situation berlinoise de la clôture du système. La thèse centrale du livre, présentée dans la troisième partie, consiste à envisager la notion „d’interjection cadencée“ („kadenzierte Interjektion“) comme le „concept de la musique“ pour Hegel et par extension comme une définition générale possible pour la musique aujourd’hui. L’interjection cadencée constituerait la „détermination essentielle“ (la „Wesensbestimmung“), le „ti en einai“ de la musique au sens cette fois aristotélicien (111). Or, l’expression ne se trouve comme telle que dans certaines sources. Hegel considère effectivement l’interjection (ou le cri, l’expression immédiate de la sensation) comme le point de départ de la musique, qu’il s’agit effectivement de médiatiser, et le chapitre sur la musique montre comment s’effectue l’acculturation du cri. Il est possible d’utiliser néanmoins la notion d’interjection pour tenter une définition de la musique en général, et même pour interpréter le point de vue hégélien, mais le „concept“ („Begriff“) de la musique ne saurait être en toute rigueur que le „concept“au
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sens logique, c’est-à-dire l’idée: le concept de la musique ne saurait être que la musique du concept. La proposition de Rollmann prend tout son sens si l’on considère la cadence comme un processus d’Aufhebung au sens fort (112) et si l’on observe ici le passage de l’art à une forme supérieure de présentification de l’absolu, mais cela peut s’opérer aussi à même le sensible, dans l’élément de la musique, et cela constitue ce que Hegel considère comme le „beau“ de la musique. Le „concept“ hégélien de la musique est en réalité la mélodie. Il est possible effectivement de l’appréhender comme „interjection cadencée“ à condition d’entendre tout simplement par „cadence“, au point de vue musicologique, dans le sens courant de l’improvisation vocale et instrumentale. D’une façon plus générale, il reste à savoir dans quelle mesure la notion „d’interjection“ cadencée ou „relevée“ („aufgehoben“) pourrait valoir effectivement comme définition du „beau l’art“ en général, voire comme définition même du concept et de son processus logique (si l’on entendait par exemple cet „inter-jectio“ de la nature et du sensible entre le logique et le concept dans un sens métaphysique). La musique pourrait constituer à cette condition un paradigme non seulement du „beau de l’art“ („das Kunstschöne“), mais de l’idée ou du concept d’une façon générale, ce qui répondrait à la question. Le livre ne fournit pas de réponse à cet égard. Rollmann fait valoir néanmoins, dans les différents points de son analyse, que l’esthétique hégélienne ne s’en tient pas à la conception classique du beau appréhendé sous la forme de la sculpture grecque. Il s’appuie sur une réfutation des thèses de la mort de l’art et de l’affirmation de son possible et nécessaire avenir pour envisager une „sinnvoller Kunstübung in der Gegenwart“. La musique en tant que sommet de l’art romantique apparaît comme le possible dépassement de la plasticité antique et fournit effectivement le paradigme de l’art moderne et vivant sous sa forme la plus avancée, d’où l’intérêt particulier de Hegel pour les manifestations contemporaines de la musique. Alain Patrick Olivier (Paris)
Peter C. Hodgson: Hegel and Christian Theology. A Reading of the “Lectures on the Philosophy of Religion”. Oxford: Oxford University Press 2005. IX, 308 S. Peter C. Hodgson is very well known for his books on Hegel (just to quote one, see: God in History: Shapes of Freedom. Nashville 1989) and especially for his work as editor and translator of the English edition of the Lectures on the Philosophy of Religion, published between 1984 to 1987, based on the German edition edited by Walter Jaeschke. His point of view and the way he intended to interpret Hegel is very clear from the beginning: the title of the book. In every part of his volume the Author tries to show the strong relationship between Hegel and Christian theology. The idea to investigate Hegel from this perspective is not a new one. It starts in the years ’40 of the XIX. century, after Hegel’s death. In his book Principles of the Philosophy of the Future (Zürich/Winterthur 1843) Ludwig Feuerbach was the first who demonstrated that the Hegelian thesis, based on the strong relationship between subject and object, man and
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God, is a theological theory written with rational terminology. Feuerbach’s criticism to Hegel was aimed at proving that this philosophy only formulates the world inside the concept of God and, by consequence, that theology is implicitly within Hegelian logic. Definitely, Hodgson’s position is not critical as Feuerbach, as theology means in Hegel something positive. With respect to the Hegelian scholar, on the contrary, he thinks that his philosophy has such theological significance, that it will provide for contemporary theology good philosophical arguments, like, for example, pluralism, in order to keep the distance from dogmatism or religious fundamentalism (284). The Hegelian philosophy as a matter of fact is not considered a danger, but a “possibility of fresh insight into central Christian themes” (21) and of great “significance for the work of constructive Christian theology.” (51) Hodgson follows a long tradition in the Hegelian secondary literature especially the one written by Catholic theologians since the years ’70 who present Hegel as “theologian” and considers the entire significance of Hegel’s philosophy of religion only in his theological meaning. The book starts in the “Part One, Introduction” (4–72), with a chapter that has got the title “Hegel as a Theologian of the Spirit” (this was also the title of Hegel’s English writings anthology that the Author edited). The Author’s purpose is to defend Hegel from the criticism of pantheism or atheism. Those who accused him of this latter interpreted his philosophy as an effort to “convert the subject matter of theology into a purely immanent human phenomenon”. On the opposite, for Hodgson, “the proper topic of philosophy of religion is precisely the nature and reality of God.” (12) Consequently, in order to defend his interpretation, he assumes that Hegel’s point of view is, at the beginning, that one: the investigation of the nature of God. Then, the Author has to admit the importance of God as “present in the religious belief ” (54) in the community. The real God can only be known inside and through the “Gemeinde”, because as Hegel said “the doctrine of God (Gotteslehre) is to be grasped and taught only as the doctrine of religion (Religionslehre)”. According to Hodgson’s opinion Hegel was misinterpreted, because philosophy of religion develops “a new philosophical theology […] in order to have a foundation for cognitive knowledge of God” (13). In order to understand this statement, we have to see why Hodgson calls Hegel a “Theologian of the Spirit”. The answer relies on the Author’s interpretation of Hegel’s concept of spirit (“Geist”). “The being of God […] discloses itself ” as a spirit “in sense of energy, movement, life, revelation, differentiation, and reconciliation. Spirit designates a God who is intrinsically self-revelatory, self-manifestating” (16). The evolution of the concept of the Spirit is investigated in the work The Spirit of Christianity and its Fate (1799/1800) and the Author judges this work, as it was considered in the past when the work was discovered and edited, full of “mystical language and spiritual images”. He founded his interpretation on the Hegelian definition of faith, that is “relationship of spirit to spirit” and, therefore, not extrinsic “relationship between the divine and the human” (17). So the Author assumes that Hegel’s intrinsic theology is a logical development of something given by faith. One of the most interesting part of the book is “Chapter Three” of “Part One” (“Hegel and the Theology of His Time” [52–72]). In fact, the possibility of a productive relationship between philosophy and theology in Hegel can be shown only if we study, as Hodgson does, the multifaceted criticism that he moved, in the introduction
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to the Lectures on the Philosophy of Religion in the different years, against the theology of his time. The criticism to certain theology of his time allowed him to explain his ‘new’ discipline, philosophy of religion. The originality of Hegel’s position, as Hodgson shows, aroses when he proposed an alternative, that “does not entail a return to traditional metaphysical theology” (58). Hegel devoted his condemnation to the rational theology and to its method of investigating God. Furthermore: “Such a theology knows only in general that God is, but otherwise its God is an empty and dead supreme being, not a concrete living spirit.” (61) Hodgson’s interpretation on this specific point is far away from the Hegelian thought, because the interpreter understands the living concept of spirit referring to “what church theology intends by the doctrine of the Trinity” (ibid.). On the opposite side, Hegel’s criticism to rational theology does not mean to disregard the reason and a rational consideration of the investigation of God. Also this theology which interprets Christian religion just from the historical perspective is by Hegel deeply criticised. When Hodgson mentions the Hegelian disapproval against historical attitude towards religion, he does not consider this theology as depending from positive religion, rather as “a version of theological rationalism that preoccupies itself with the historical development of doctrines but makes no attempt to articulate a contemporary doctrine of faith.” (Ibid.) This is not the real form of theology Hegel intends to show his disapproval against. Hegel wanted to criticise this theology, which depended from the positive religion and which content is the Church’s doctrine. Indeed, Hegel was against the dogmas and their positive contents, which have been considered only from the historical perspective. Finally, if it should be shown which kind of theology Hegel proposed, the conclusion is, for Hodgson’s interpretation, that “God is essentially rational”, and “only a speculative approach can reconcile reason and religion” (69). In this part of the book, as extent of a result, Hegel’s purpose is to gain the empty and abstract content of theology through the concept, that it means to try to comprehend religion by philosophy. Hodgson prefers to call it “a speculative redescription of the Christian metanarrative” (98), and he thinks it governs the whole lectures with a triadic or better trinitarian structure. Hence, when Hodgson starts to analyse the concept of God in “Chapter Five” (“The Concept, Knowledge, and Worship of God” [101–126]) ad “Six” (“Trinity: God as Absolute Spirit” [127–140]) of “Part Two” (73–243) of his book, he starts from two different perspectives. The first one, that he considers more generic, is to study the concept, the knowledge and the worship of God in the form of a philosophical theology. The second one offers “a more concrete treatment” and “specifically Christian doctrine of the Trinity” (101). For the first perspective Hodgson analyses in particular the 1827 lectures, as they present a systematic and triadic division which is helpful for showing the relationship with the trinity. In fact, the cultus, the third moment of the Concept of religion of 1827 lectures, is considered as correspondent to “the third moment of the trinitarian dialectic”, that is “the return to and participation in God of all creatures through the sanctification of the Spirit.” (123) From “Chapter Six” to “Nine” (“Trinity: God as Absolute Spirit” [127–140], “Creation, Humanity, and Evil” [141–154], “Christ and Reconciliation [155–176]” and “Spirit and Community” [177–204]) Hodgson focuses his investigation on the “central
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themes of Christian theology as they are presented in the third part of the lectures, The Consummate Religion: the triune God as absolute spirit; creation, humanity and evil; Christ and reconciliation; Spirit and community.” (VI) We can refer here only to some themes of this interpretation. With reference to trinity, Hodgson considered God, as absolute spirit, a trinitarian concept which moves thanks to a trinitarian dialectic (128). According to the Author’s thesis: What did the classical theology – and not Hegel – call the “immanent trinity”? That is the divine life ad intra, and the economic trinity, that is divine life ad extra, “both contribute to the divine life as a whole.” (131) Therefore, the speculative idea of the trinitarian God understood “not as three persons but as infinite personality or infinite subjectivity” (135). When Hodgson analyses the concept of evil that Hegel connected to the knowledge and disclosed in relationship with its tragic necessity, he is as typically critic towards Hegel as most of his interpreters. The Author is of the opinion that “Hegel does not reflect very much […] on the reinforcement and intensification of personal evil in institutional structures and social ideologies. And, while he is profoundly aware of the tragic and violent character of human history, he does not envision the sort of radical evil that is represented by the Holocaust and other forms of genocide.” (154). In a few words, Hodgson’s condemnation of Hegel relies on the fact that since he justified the evil, it seems that he did not see any evil in the most horrible periods of the history. As Hodgson considers Christ and his history, he clarifies in a footnote the difficulty to distinguish in Hegel the word ‘Christ’ “as a proper name that is synonymous with ‘Jesus of Nazareth’” (163) from the word ‘the Christ’, who is the Son of God and the idea of divine human unity. However, ‘Christ’ or Jesus of Nazareth, for Hodgson’s interpretation, is in Hegel ‘the Christ’, because the “idea of reconciliation or of divine human unity is realized (a) in the form of human individuality, indeed (b) in a single human individual who, according to Christian faith, is (c) the particular person Jesus of Nazareth.” (160) Concerning the resurrection of Christ, Hodgson is right to conceive it in relationship with the spiritual community and as “a communal, not an individual event.” (176) The community is really Hegel’s main argument, as he considered the “community itself ” as “existing Spirit” (184). For this reason, Hodgson underlines that Hegel refers to ‘the community of the Spirit’ rather than to ‘the spiritual community’, because the “community is of the Spirit, not ‘spiritual’ in an otherworldly sense.” (184, footnote 11) Therefore, the Christian religion became in Hegel the religion of the spirit, not simply spiritual religion. “Just because the community of the Spirit is not ‘spiritual’ in the vapid sense but precisely unifies God and the world, it assumes institutional forms.” (185) The emphasis is put on the Christian community of faith that “not only has but is a cultus – an activity of worship and liturgy by which life, passion, and resurrection of Christ are eternally repeated in the members of the church. At the centre of this cultic activity are the sacraments, which attest to the inner certainty of the truth and the implicit unity of divine and human nature.” (190) Hegel “means principally the sacrament of the eucharist […].” (Ibid.) The Author underlines especially the physical enjoyment and satisfaction (“Genuß”) during the eucharist, which certainly exists in Hegel’s interpretation, but Hodgson did not mention the most important moment for Hegel during this sacrament: This is the spiritual realm and the faith of each individual. It is difficult
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to agree with Hodgson, therefore, when he says that Hegel’s theology is, on this subject, “transconfessional”. Furthermore, it is also not possible to subscribe the Author’s opinion when he thinks that as Hegel placed “the sacrament of communion at the centre of the Christian cult […] he exhibits an affinity to Catholicism.” (193) Hegel, on the contrary, was a Lutheran and there are no doubts at all about his strong criticism against the Catholic religion, which for him simply venerates the host as such and only the sensible meaning of it. After having analysed the different religions in the second part of the Lectures of Philosophy of Religion and having placed Christianity among the religions of the world, Hodgson comes to his “Conclusion” in “Part Three” (245–284): “The Theological Significance of Hegel Today” (247–284). He discusses on the most recent books published in English language in the last years and identifies “six sets of distinctions or currently contested sites and their Hegelian resolution. The resultant categories – spirit, wholeness, narrative, Christ, community, pluralism – are viewed as contributing valuable resources to theological reflection today.” (VI) The book ends with a very useful “Bibliography” (285–295) and detailed “Index” of names and matters (296–308). Certainly, as the Author suggests at the beginning and at the end of his book, Hegel is the “Beethoven of philosophy”, if we compare, as Hodgson does, the “tragic wholeness of life” written “in strikingly beautiful formulations.” (3) But the relationship between Hegel and Christian theology is not simply a harmony that can be found, as the Author argues, “in and through a world of conflict”. (3) The comprehension of the specific significance of Hegelian theology is a serious argument that need to be investigated deeply in order to hear the marvellous and original sound of Hegel’s real reinterpretation of Christianity written with notes of concept. Claudia Melica (Trient)
Mariano Álvarez Gómez: Pensamiento del ser y espera de dois. [Seinsgedanke und Warten auf Gott.] Salamanca: Ediciones Sígueme 2004. 606 S. (Hermeneia 57. Colección dirigida por Miguel García-Baró) Das vorliegende Buch besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen, in denen Álvarez sich mit drei Philosophen (Nicolaus von Kues, Hegel und Martin Heidegger) beschäftigt. Die Aufsätze verfolgen ein gemeinsames Interesse, da mit Blick auf die drei Philosophen untersucht wird, wie sich das Unendliche (bzw. der „verborgene“ Gott) im Endlichen offenbare. Der Gottesgedanke und die Religion bilden somit einen Schwerpunkt in diesem Buch. Mittels Hegelscher Begrifflichkeit berücksichtigt Álvarez die Manifestation der „Wahrheit Gottes“ ebenfalls im Hinblick auf Bereiche wie Geschichte und Politik. Von Interesse sind an dieser Stelle lediglich die fünf Aufsätze, die Hegel gewidmet sind. 1. „Idea y acción. La historia como teodicea“ [„Idee und Handlung. Die Geschichte als Theodizee“, 143–174]: In diesem Aufsatz wird die Bedeutung des Theodizee-Pro-
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blems für das Verständnis der Hegelschen Begrifflichkeit abgehandelt. Der Gegenstand der Theodizee sei die Dialektik in der Geschichte: Gott werde gerechtfertigt, indem das „Positive im Negativen“ gezeigt wird (vgl. 146). Da die dialektische Methode in nichts anderem als in der Bewegung eines Inhalts bestehe, kann sie lt. Álvarez nur mittels der Analyse eines Inhalts (in diesem Fall der Geschichte) begriffen werden. Aus diesem Grund ist für ihn die These, die Geschichte sei eine Theodizee, von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Hegelschen Methode. Nach dieser allgemeinen Interpretation über die Bedeutung der Theodizee innerhalb des Hegelschen Systems wird analysiert, wie sich Hegels Formulierung der Theodizee-These konkretisiere. Begriffe und Stichwörter, die bezüglich der Hegelschen Geschichtsphilosophie immer auftauchen (Vorsehung, Freiheit, Handlung, List der Vernunft usw.), werden in einen begrifflichen Zusammenhang gebracht. Wie Álvarez zu Recht geltend macht, ist die Theodizee eine Theodizee der Freiheit, die durch Handlungen ausgeführt wird. Anhand des Hegelschen Freiheitsbegriffs interpretiert Álvarez die bewußtseinsgeschichtliche Bedeutung des Christentums und kritisiert die hierarchische Organisation des absoluten Geistes. Das Wissen über die Freiheit des Menschen – weil er Mensch ist – werde nur durch das Christentum gewonnen. Dieses Wissen der christlichen Religion sei weder in der Platonischen noch in der Aristotelischen Philosophie zu finden. Durch diesen Vergleich geistiger Manifestationen verschiedener Epochen stellt Álvarez die Hierarchie des absoluten Geistes in Frage. In dem fünften Aufsatz über Hegel werden weitere Argumente für eine Kritik an der Hierarchie des absoluten Geistes formuliert. Die „dialektische“ Rechtfertigung der Freiheit finde sich in sämtlichen Arten von Handlungen. Jede Handlungsform (z. B. die Handlungen der Heroen) verwirkliche das „Positiv-Vernünftige“. Erwähnenswert ist, daß realphilosophische Kategorien – wie der Begriff der Handlung – auf logisch-spekulative Probleme verwiesen werden. Dazu gehört die Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem oder das Verhältnis von Sein und Sollen. Diese Konkretisierung der Theodizee-These endet mit den Begriffen „Staat“ und „Volksgeist“. 2. „Experiencia de la virtud en su lucha con el curso del mundo“ [„Erfahrung der Tugend in ihrem Kampf mit dem Weltlauf“, 175–192]: In diesem Aufsatz führt Álvarez eine Interpretation des Absatzes „Die Tugend und der Weltlauff“ der Phänomenologie des Geistes (vgl.: GW 9, 208–214) anhand der folgenden Fragestellung aus: Worin besteht der Kampf der Tugend mit dem Weltlauf, und was ist sein Resultat (vgl. 175)? Es ist der einzige Aufsatz über Hegel, der sich weder mit dem Gottesgedanken noch mit der Religion beschäftigt, aber er verfolgt dennoch dasselbe systematische Interesse wie der vierte Hegel-Aufsatz. Während im vierten Aufsatz die „Macht“ bzw. die Wirksamkeit der Subjektivität (hinsichtlich der Religion) thematisiert wird, werden im vorliegenden Aufsatz mit Blick auf die Tugend die Insuffizienzen einer „wirklichkeitslosen“ Subjektivität dargelegt. Die Analyse beginnt mit einer theoretischen und praktischen Kontextualisierung der Tugend. Die theoretische Kontextualisierung stellt die Herausbildung der Hegelschen Position durch seine Kritik an den folgenden Denkweisen dar: am Idealismus, am Standpunkt der „Gesetze des Denkens“, an den „psychologischen Gesetzen“ und letztlich an den Voraussetzungen der „Physiognomik“ und der „Schädellehre“. Die praktische Kontextualisierung thematisiert die Phasen, die „Die Verwirkli-
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chung des vernünftigen Selbstbewußtseyns durch sich selbst“ (vgl.: GW 9, 193–198) konstituieren: „Die Lust und die Nothwendigkeit“ (vgl.: ebd., 198–201) und „Das Gesetz des Herzens, und der Wahnsinn des Eigendünkels“ (vgl.: ebd., 202–207). Nach dieser akribischen Kontextualisierung wird der Verlauf dieses „Kampfes“ der Tugend analysiert. Charakteristisch für Álvarez’ Interpretation ist, daß trotz des resultierenden Kampfes das Positive der Tugend hervorgehoben wird. 3. „Recuperación del sentido ético de la religión en la Fenomenología del espíritu“ [„Wiedererlangung der sittlichen Bedeutung der Religion in der Phänomenologie des Geistes“, 193–238]. In § 140 der Grundlinien der Philosophie des Rechts behauptet Hegel, er habe bereits in der Phänomenologie des Geistes den Übergang des moralischen Standpunktes „in eine – dort übrigens anders bestimmte – höhere Stufe“ abgehandelt. Da sich die Religion in der Phänomenologie des Geistes als immanentes Ziel des moralischen Standpunkts erweise und somit eine ähnliche Funktion wie die Sittlichkeit erfülle, wird die Frage gestellt, wie Religion die Ansprüche des moralischen Subjekts mit dem objektiv geltenden Recht vereinbaren könne. Mittels dieser Fragestellung beabsichtigt Álvarez zugleich, eine besondere Funktion der Religion innerhalb des Systems hervorzuheben. Die Religion ermögliche sowohl eine präzise Abgrenzung als auch eine angemessene Vereinigung der Moralität und der Sittlichkeit. Die gesamte Analyse stützt sich auf den Absatz „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeyhung“ (vgl.: GW 9, 340–362) der Phänomenologie des Geistes. Zu erwähnen ist die Anwendung des Säkularisierungsmodells auf die Hegelsche Begrifflichkeit. Der Hegelsche Begriff des Gewissens sei ein „Säkularisat“. Hegel „transponiere“ die trinitarische und die christologische Lehre in den Bereich des Gewissens (vgl. 215). Álvarez findet außerdem eine „Säkularisierung des Absoluten“ (ebd.) und eine „Säkularisierung der Bedeutung der Sünde“ (vgl. 223). Seine Antwort auf seine Fragestellung läßt sich folgendermaßen formulieren: In der Religion führe der Geist dieselbe Funktion bezüglich des moralischen Standpunkts aus wie in der Sittlichkeit (bzw. der substantielle Wille), weil die Handlung (d. h. die Äußerung des moralischen Subjekts) nur mittels der Religion die Substanz und die „Tiefe“ des Geistes gewinnen könne (vgl. 237). 4. „El poder de la subjetividad en la religion“ [„Die Macht der Subjektivität in der Religion“, 239–267]: Dieser Aufsatz thematisiert – ebenso wie der darauffolgende – das Verhältnis zwischen Religion und Staat. Álvarez konzentriert sich hier auf einen konkreten Aspekt dieses Verhältnisses und orientiert sich an folgender Frage: Aus welchem Grund kann die religiöse Gesinnung eine für sie unangemessene Gesetzgebung des Staates, so vernünftig sie letztlich sein mag, außer Kraft setzen? Der Gegenstand dieser Fragestellung sei die „Macht“ der Subjektivität. Diese „Macht“ bestehe darin, daß die subjektive Einzelheit die Wahrheit der Allgemeinheit und der Besonderheit sei. Es wird erörtert, wie Hegel die Subjektivität als eine Vermittlung zwischen Allgemeinheit und Besonderheit auffasse. Álvarez analysiert dieses Vermittlungsmodell der Subjektivität sowohl aus philosophiegeschichtlicher Perspektive (Platon und Aristoteles) anhand des § 552 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in dem Hegel das Verhältnis zwischen Religion und Staat thematisiert, als auch aus logischer Perspektive. In der logischen Analyse werden basale Bestimmungen der Subjektivität (z. B. die innere Zweckmäßigkeit) dargestellt und ihre Geltung im Bereich der
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Religion kurz erörtert. Die religiöse Subjektivität könne demnach vernünftige Gesetze aufheben, da sie nicht wirklichkeitslose, sondern konkrete Subjektivität sei. 5. „Armonía originaria de la religión y el estado“ [„Ursprüngliche Harmonie der Religion und des Staates“, 269–292]: Der Aufsatz beginnt mit einer Darstellung der diversen Bezeichnungen, die Hegel für das Verhältnis zwischen Religion und Staat verwendet („ursprüngliche Harmonie“, „Eintracht“, „Übereinstimmung“ usw.). Diese Oszillationen sind nur von Interesse, wenn sie im Hinblick auf den systematischen Ort für die Abhandlung des Verhältnisses zwischen Religion und Staat Abweichungen aufweisen: im absoluten Geist am Ende der Kunst (vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1827]) und am Ende des objektiven Geistes (vgl. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]). Der Aufsatz erörtert die unterschiedlichen Plazierungen des Verhältnisses zwischen Religion und Staat innerhalb des Systems und die Bedeutung des Ausdrucks „ursprüngliche Harmonie“ in § 563 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Gemäß der oszillierenden Stellung der Religion innerhalb des Systems analysiert Álvarez die Natur der Religion und die Begründungsverhältnisse, die in der Ordnung des Systems impliziert sind: Die Religion qua Institution unterhalte ein Verhältnis mit dem Staat und qua Form des Wissens eine Beziehung mit den anderen Formen des Wissens, welche die Sphäre des absoluten Geistes konstituierten. Im Verlauf dieser Analyse werden weitere Argumente für eine Kritik an der hierarchischen Strukturierung des absoluten Geistes geliefert: a) Die Gestalten des absoluten Geistes seien nichts anderes als verschiedene Manifestationen der Religion. Diese These wird anhand des § 554 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) gerechtfertigt, in der Hegel die Religion als eine mögliche Bezeichnung für die gesamte Sphäre des absoluten Geistes auffaßt. b) Die Aufhebung der Endlichkeit des subjektiven und objektiven Geistes vollziehe sich durch eine „Erhebung zu Gott“, die keine allgemeine Tätigkeit des absoluten Geistes sei. Vielmehr sei sie eine Operation, die nur die Religion (mit Ausschluß von Kunst und Philosophie) ausführen könne. Gleichwohl fehlt in Álvarez’ Darstellung eine Erklärung dafür, daß Kunst und Philosophie von dieser Operation des Geistes auszuschließen sind, wenn sie nach seiner Auffassung doch nichts anderes als Manifestationen der Religion sind. Álvarez interpretiert die „ursprüngliche Harmonie“ des Staates und der Religion des § 563 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827) so, daß die Religion die „Basis“ des Staates ausmache. Zu Recht wird betont, dies bedeute keine unkritische Aneignung der Kantischen Position (d. h. der Kantischen Ethikotheologie). Die „praktische Dimension“ der Religion beruhe bei Hegel vielmehr auf einer „metaphysischen Dimension“. Der Aufsatz erklärt in verschiedenen Punkten, worin diese metaphysische Dignität der Religion bestehe. Auf Grund dieser metaphysischen Relevanz könne die Religion vom Staat nicht getrennt gedacht werden. Anschließend wird das resultierende Problem erörtert: Wie kann eine Trennung zwischen Religion und Staat entstehen, wenn Religion und Staat begrifflich untrennbar sind? Da die unterschiedlichen Aufsätze gemeinsame Interessen verfolgen, tauchen gleiche Thesen und Akzente in verschieden Aufsätzen auf: die Kritik an der hierarchischen Organisation des absoluten Geistes, die Religion als „Basis“ des Staates, die Säkulari-
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sierungsthese usw. Diese Thesen und Akzente sind für Álvarez’ Ansatz charakteristisch. Eine systematisch vollständige Erörterung dieser Thesen liefern die Aufsätze jedoch nicht. Daher bleibt es dem Leser überlassen, die getrennt dargestellten Argumente zugunsten einer einheitlichen These zusammenzuführen. Álvarez setzt in seinen Ausführungen einseitige Akzente. Er selbst erwähnt hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Religion und Staat, der „aufgeklärte Hegel“ habe in anderen Texten (vgl. § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts) das Verhältnis zwischen Religion und Staat anders als in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827) dargelegt. Álvarez hat in verschiedenen Aufsätzen die Religion als „Basis“ des Staates bezeichnet und den Staat als eine unselbständige Institution charakterisiert. Demgegenüber wird die Religion in den Grundlinien der Philosophie des Rechts nicht als „Basis“ des Staates, sondern der Staat als „Selbstzweck“ dargestellt. Beide Charakterisierungen des Staates seien miteinander vereinbar, denn der Unterschied bestehe in einer Akzentverschiebung und nicht in einer Selbstkritik. Diese Akzente höben bestimmte Momente eines Gegenstandes hervor. Eine plausible Interpretation Hegels ist nicht jene, die sich an eine bestimmte Akzentuierung Hegels anschließt, sondern jene, die das Gewicht aller Akzente und deren Gründe zugleich zu erörtern vermag. Dies ist Álvarez nicht immer gelungen. Die Kritik läßt sich gleichsam auf andere Aspekte dieses Buches ausdehnen. Die Analyse des Gottesgedankens in realphilosophischen Bereichen leidet ebenfalls an Einseitigkeit. Wenn der Gottesgedanke (zu Recht) bezüglich Bereichen wie Geschichte und Recht thematisiert wird, müßte zugleich erklärt werden, inwiefern Hegel Distanz zu dem personhaften Gottesgedanken (z. B. im Theodizee-Problem) gewinnt. Hegel bezeichnet die Leidenschaften und Handlungen der Menschen als „Mittel“, ohne in eine die Menschen instrumentalisierende Konzeption der Geschichte zu geraten. Dies ist dadurch zu erklären, daß Hegel nicht mehr mit dem göttlichen Subjekt des Kirchenglaubens, sondern mit einem neuen Geistbegriff und mit einer neuen Gestalt des Gottesgedankens operiert. In einem Buch, das eigentlich den Gottesgedanken zum systematischen Schwerpunkt hat, fehlt diese Distanzierung ebenso wie andere Akzente. Wenig überzeugend ist die Anwendung des Säkularisierungsmodells auf die Hegelsche Begrifflichkeit im dritten Aufsatz. Weder die Philosophie Hegels noch das „begreifende Denken“ im allgemeinen kann durch dieses Modell erklärt werden. Dennoch lassen alle Kritikpunkte die enorme Leistung Álvarez’ unbeeinträchtigt. Die Lektüre des Buches ist auf Grund seiner akribischen Analyse sehr lohnend. Nicht zuletzt ist das Buch auch als Gegenargument im Hinblick auf jene Interpretationen zu empfehlen, die die „metaphysische Dimension“ des Hegelschen Geistbegriffs kritisieren oder diese gar vernachlässigen. Alfredo Berges (Bochum)
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Fortunato Maria Cacciatore: Protestantesimo e filosofia in Hegel. [Protestantismus und Philosophie bei Hegel]. Soveria Mannelli: Rubbettino 2003. 198 S. (Filosofia occidentale moderna) Mit diesem Buch orientiert sich Fortunato Maria Cacciatore eng an dem breit diskutierten Thema ‚Hegels Einstellung zur Reformation und insbesondere zur Theologie Martin Luthers‘. Verf. verfolgt eine wohlbekannte Interpretation sowohl früherer als auch gegenwärtiger Hegel-Forscher wie Karl Rosenkranz, Franz Rosenzweig, Eberhard Jüngel bis zu Walter Jaeschke in Deutschland und Benedetto Croce und besonders Enrico De Negri in Italien. Letztgenannter Autor, der zudem erstmals 1933 und 1936 die Phänomenologie des Geistes in zwei Bänden ins Italienische übersetzt hat, ist der Verfasser des bedeutenden Werks Die Theologie Luthers. Florenz 1967, in dem er den dialektischen Ursprung der Lutherischen Theologie analysiert. De Negris Arbeit folgend erneuert Cacciatore die Geschichte des Anfangs und der Entwicklung eines Reformationsverständnisses im Denken Hegels, wie Fulvio Tessitore im „Vorwort“ betont (6). Cacciatores Untersuchung beschäftigt sich mit den sog. Theologischen Jugendschriften (29–61) und setzt sich fort bis zu den Berliner Vorlesungen (157–192). Es werden hauptsächlich zwei unterschiedliche Probleme, die durch eine historische Methode Licht auf die Rätsel der Subjektivitätsphilosophie und der Spekulation zu werfen versuchen, in Augenschein genommen: Einerseits die historische Frage der Einstellung Hegels zur Reformation; andererseits das theoretische Problem selbst. Die historische Betrachtung über den Zusammenhang zwischen Gesetz und Evangelium helfe uns, die Natur des Geistes als Freiheit zu erklären (1. Kapitel). Das bedeute dann auch, daß laut Luther das ,Spekulative‘ und sein philosophisches Prinzip vom geistlichen Gebrauch (usus spiritualis) des Gottesgesetzes ausgehe (17). Demnach habe der Primat des Glaubens über die Taten, der die protestantische Kritik am römischen Katholizismus eingeleitet habe, eine Revolution im Bereich des Denkens ausgelöst: Das Wesen des Evangeliums werde in eine Macht (virtus), d. h. eine machthabende Möglichkeit (dynamis) transponiert, wie die Paulus-Exegese Luthers (vgl.: Röm, 1,16) aufgezeigt habe (18). Im zweiten Kapitel stellt der Verf. den Unterschied zwischen Hegels Frankfurter Interpretation des Judentums und des Geistes des Christentums vor. Wenn der „Geist des Judentums“ den Zwang eines bloßen Gesetzes ausdrücke (29), folge daraus, die geistliche Natur sei als „tyrannische Herrschaft“ (31) aufzufassen. Daraus entstehe Hegels These, es gebe im mosaischen Gesetz lediglich einen „Geist der Ahnen“ sowie den unmittelbaren Begriff vom „einzigen unendlichen Subjekt“ (37). Es folgt das Thema „Protestantismus und moderne Subjektivität“, das im weitläufigen und bedeutenden dritten Kapitel diskutiert wird (63–139). Hier werden die Jenaer Schriften aus den Jahren 1802 und 1807 im Vergleich mit den Werken Friedrich Heinrich Jacobis und Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers untersucht. Cacciatores Lesart betont besonders die Bedeutung der christlichen Religion für die Entstehung der Subjektivität der Neuzeit, die Hegel in seinen systematischen Werken (besonders in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse sowie den Grundlinien der Philosophie des Rechts) dargestellt habe. Das Christentum habe diese Revolution in die Welt des Geistes eingeführt, wie mancherorts aus vielen Schriften
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Hegels hervorgehe (z. B. den Grundlinien der Philosophie des Rechts, der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und auch den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte) (176 ff.). Im Zentrum steht hier die These, der Moderne liege das Prinzip der Freiheit zugrunde, die bei der Vermittlung der Reformation eine Hauptrolle spiele. Das Problem läßt sich somit auf die alte Debatte über die Grenzen der Modernität zurückführen. Nach Cacciatore müsse ein Schwerpunkt der Interpretation der Philosophie Hegels im Lichte der Vollendung des geistlichen Prinzips, das Luthers Begriff der Versöhnung mit Gott durch Glauben und Genuß erkläre (178 f.), gesehen werden. Daran schließe der wohlbekannte Satz der „Vorrede“ der Grundlinien der Philosophie des Rechts über das „Zeugnis des Geistes“ an. Demzufolge benötige die in der Phänomenologie des Geistes betonte „neue Form der Welt“ der Moderne die Vollendung der Entwicklung des Geistprinzips und damit die Möglichkeit des Idealismus als spekulative Philosophie. Cacciatore untersucht, ob ein solches „Zeugnis des Geistes“, das dem evangelischen Glauben zu Grunde liege, mit der Philosophie im Zusammenhang stehe; werde dies zugestanden, stelle Hegel die theologische Lehre Luthers als Prinzip der Neuzeit dar. Zudem inhäriere Luthers Religionsbegriff ein Moment der Lauterkeit des Herzens, der Innerlichkeit und des Gewissens, so daß Sittlichkeit und Einsicht auf die Grundsätze einer geistlichen Ebene gehoben würden (165, 177). Der Verf. hebt die Bedeutung der Reformation hervor, um einen angemessenen Begriff dialektischer Aufhebung zu isolieren. Das fünfte Kapitel diskutiert besonders die Geschichtsphilosophie, womit die Reformation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit angesprochen ist. So wird das Problem des objektiven Geistes zum Schwerpunkt einer allgemeinen Interpretation der spekulativen Philosophie. Es ergibt sich sodann die Frage, ob Staat und Philosophie in gegenseitigem Einverständnis koexistieren könnten. Mit Nachdruck betont der Verfasser, für den wirklichen Ursprung des sittlichen Bewußtseins im Bereich des Geistes sei Luthers Kritik an der katholischen Lehre von der Ehe in Betracht zu ziehen. Neben der Familie, der „ersten sittlichen Wurzel des Staates“, erhielten sich zwei weitere Wurzeln der Sittlichkeit: einerseits die „Rechtschaffenheit“ als Prinzip einer neuen Idee menschlicher Ehre, die dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zu Grunde liege (169); andererseits die subjektive Freiheit (170 ff.). Allerdings sollte die Frage gestellt werden, welche Grenzen der Moderne gesteckt werden könnten. Kann der Reformation mit Blick auf Hegels Idee der Modernität jemals eine Hauptrolle zugesprochen werden, auch wenn das Freiheitsprinzip vom Christentum ausgehe? Hinsichtlich dieser Frage behaupten daher die Kritiker, es sei sehr schwierig, in Hegels Philosophie ein eigentlich religiöses Gefühl auszumachen, und daher lasse sie sich leicht an eine innerweltliche Form philosophischer Wissenschaft anpassen. Zu Recht unterstreicht hier der Verf., das Religionsproblem führe die Auseinandersetzung mit Politik und Staatsverfassung ein (183 ff.), womit die Philosophie selbst auf Staatsleben und Weltweisheit reduziert werden könne (191). Dies stimmt exakt mit der Idee Benedetto Croces (1866–1952) von einem tieferen Zusammenhang zwischen Philosophie und Religion überein, den Hegel hervorgebracht hat. Jedenfalls kritisiert Croce schärfstens die Idee einer Auflösung der spekula-
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tiven Wissenschaft in der Staatspolitik, die Philosophie als eine „Religion der Freiheit“ verstehe. Stattdessen komme es in der Folge auch dazu, daß die Betonung der Staatspolitik in der sittlichen Welt dem absoluten Charakter der Philosophie ein Ende setzen könnte. Aus diesen Gründen sei die theoretische Frage nach den Grundsätzen der spekulativen Philosophie anzusetzen. Es gelte nun, den evangelischen Streit über eine „wirkliche Gegenwart“ Gottes beim Abendmahl, die im vierten Kapitel des Buchs mit gewandten Referenzen an die theologische Literatur erörtert wird, wieder aufzugreifen. Cacciatore untersucht insbesondere die Bedeutung des Glaubens mit Bezug auf die „wirkliche Gegenwart“ in der Theologie Luthers (142 ff.): Zunächst analysiert er die Unterschiede zum römischen Katholizismus, zu Ulrich Zwingli (1484–1531) und den anderen „himmlischen Propheten“ (bzw. Karlstadt alias Andreas Bodenstein [1480– 1541] und Johannes Oekolampad [1482–1531], eigentlich Johannes Heussgen), die das Rätsel des Abendmahls symbolisch (d. h. als manducatio spiritualis) ausgelegt haben (147). Anschließend zeigt Cacciatore, wie die Vermittlung von Gewissen und objectum fidei, die das gesamte mystische Verhältnis an sich auflöse, eine vollkommene dialektische Bewegung konstituiere. Aus diesem Grund stimmt der Verf. mit De Negris These einer dialektischen Natur der Theologie Luthers überein, wonach ausschließlich die beiden Seiten des Verhältnisses, d. h. das Dasein (dieses Brot und dieser Wein) und das corpus Christi, im Glauben vereint seien. Angesichts des spekulativen Idealismus werde diese Denkart im Reiche der Vernunft und der Philosophie aufgehoben. Daneben wäre es auch interessant gewesen zu zeigen, ob die christologische Gestalt der „Kenosis“ (vgl.: Phil 2, 6–11) in Hegels Rezeption vorkomme, wie De Negri betont und zuletzt auch Giuliano Marini unterstrichen hat. (Vgl.: Giuliano Marini: Cristologia e storia. Sulla moderna fortuna filosofica dell’inno cristologico di Fil 2, 6–11.– In: Danilo Barsanti (Ed.): Studi in memoria di Ildebrando Imberciadori. Pisa 1996. 329–345. [Giuliano Marini: Christologie und Geschichte. Zum modernen philosophischen Erfolg der christologischen Hymne Phil. 2, 6–11. – In: Danilo Barsanti (Hg.): Gedenkschrift für Ildebrando Imberciadori.]) Die Schlußparagraphen des fünften Kapitels (§§ 4–5) beantworten erstmals die Frage, ob es Unterschiede zwischen den beiden dialektischen Methoden gebe (180–182; 188). Lt. Hegel stelle die Versöhnung in der Religion nur eine „abstrakte Form“ des Absoluten dar, so daß das Spekulative des Protestantismus nur im Licht der Trennung überlebe. Hiermit erkläre sich auch, daß Hegel die Gestalten subjektiver Einsicht und des Gewissens von Grund auf kritisiere. In der Tat löse sich das ,Herzensprinzip‘ in bloßer Innerlichkeit, die in der moralischen Kasuistik zerstreut werde, auf. Hier liege die „Qual“ oder das Bewußtsein der „Sündhaftigkeit“ (180), womit der Widerspruch in das Reich des Geistes wieder eindringe. Zu Recht verweist der Verf. auf die Rolle des Existenzprinzips und der Verwirklichung, d. h. der Identität von Substanz und Subjekt, auf die der spekulative Idealismus Bezug nehme. Dafür halte der Charakter der dialektischen Aufhebung an der Identität von Vernunft und Wirklichkeit fest. Danach werde die Sittlichkeit zur Form eines göttlichen Geistes, weil sie ins Selbstbewußtsein übergehe, wenn auch das Sittliche seine „wirkliche Gegenwart“ erst in einem Volk und seinen Gliedern erhalte (188).
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Man könnte hier auch die Diskussion anregen, ob die Gegenwart des Geistes die Form innerweltlicher Objektivität oder des Absoluten aufweise. Eine Schlußfolgerung dieser hervorragenden Arbeit ist die These von dem Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit des Staats, die eine bestimmte Konsequenz der Reformation zum Ausdruck bringe. Deshalb sprechen wir an dieser Stelle vom Primat der sittlich-religiösen über die politische Sphäre. Danach ergibt sich nun eine ganz andere Frage, nämlich ob das Immanenz-Verhältnis der Staatssittlichkeit tatsächlich die säkulare Gestalt der Politik bestimme. Die Anmerkung zum § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts hat den Gegensatz des Staates und der Religion zum Thema, wodurch der Staat als Immanenz der Verwirklichung in Erscheinung getreten ist. Hier wird die Religion als negative Gestalt der Trennung angesehen; dagegen präsentiert sich der Staat als eine Figur der Wissenschaft. In der Anmerkung zum § 552 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) wird dieses Schema durchaus verändert, wie Cacciatore mit gutem Recht betont. Nun kommt das Prinzip der Moderne für keine säkulare Potenz auf, sondern es gelten die sittlichen Gestaltungen der modernen Institutionen, sowohl in der bürgerlichen Gesellschaft als auch im Staat (bzw. die subjektive und substantielle Freiheit), und so verweist die Sittlichkeit des Staates auf ihren höchsten Grundsatz, den absoluten Geist. Jedenfalls gebe es auf Seiten der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse keinen staatspolitischen Primat, weil das Spekulative, das die Philosophie darstelle, gemäß den Leitfäden der Religionsbewegungen aufzufassen sei (187). Und in der Tat wird hier nicht von Staatspolitik, sondern von Weltgeschichte die Rede sein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Croce zu diesen Themen zurückgekehrt: Er hat sich mit dem sog. „sittlichen Staat“ Hegels als „Kulturstaat“ auseinandergesetzt und sodann von einem Vorrang der Moralität gegenüber der Politik, die sich nun in eine Form ökonomischen Denkens verwandele, gesprochen. Diese Bemerkung leitet auch zu dem Grundbegriff seines „absoluten Historismus“, demzufolge die gesamte Menschheitsgeschichte als „heilige Geschichte“ vorzustellen sei. Nach Croce wäre nun die Geschichte selbst das Resultat der Leistungen des Idealismus als „spekulative Philosophie“. Nico De Federicis (Pisa)
Christoph Asmuth: Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 376 S. Philosophen äußern nicht nur Meinungen über verschiedene Sachverhalte, sondern sie erheben Behauptungen mit einem Geltungsanspruch. Andererseits steht dem Erheben eines Geltungsanspruchs die Geschichtlichkeit der Philosophie entgegen. In der Philosophiegeschichtsschreibung werde jedoch, wie Asmuth feststellt, entweder das Vergangene „zur defizienten Meinung“ degradiert, oder es werde ihm ein Gewicht beige-
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messen, „das es der Geschichtlichkeit entzieht.“ (10) Das Verhältnis von Wahrheit und Geschichte sei in der Philosophie ungeklärt; die Geschichte der Philosophie führe gegenwärtig „das Dasein einer Geduldeten“, was Auswirkungen habe bis in das Aufstellen von Lehrplänen: Sie sei oft nur „ein bißchen Vorspiel, um wenigstens die Grundlagen zu schaffen, damit man nicht vergißt, welche Lösungen schon vorgeschlagen und welche bereits gescheitert sind.“ (11) Asmuth stellt das Verhältnis von Wahrheit und Geschichte in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. „Interpretation“ und „Transformation“ sind dabei „implizite Voraussetzungen“ (13) für die theoretische und praktische Vermittlung von Wahrheit und Geschichte. Mit der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Geschichte berührt Asmuth das Zentrum von Hegels Philosophie. Obwohl nur einer der fünf Philosophen, deren Platoninterpretation sich das Buch widmet, steht Hegel der Fragestellung des Buches besonders nahe. Die Geschichte der Philosophie ist für Hegel nicht eine Aneinanderreihung bloßer Meinungen, sondern die Geschichte des Substantiellen und Vernünftigen. Hegels Vermittlungsvorschlag von Wahrheit und Geschichte und die Weise, wie er interpretierend und transformierend mit der Philosophiegeschichte umgeht, ist der immer wiederkehrende Bezugspunkt des Buches, sowohl in aneignender als auch in kritischer, in interpretierender und in transformierender Absicht. Asmuths an Hegel orientierte These lautet: Es ist unmöglich, den historischen Bestand der Philosophie von der Systematik zu trennen. Das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte soll „selbst philosophisch gedacht werden“ (11), jedoch nicht, indem man von außen über die Geschichte der Philosophie spricht, sondern indem man die Sache selbst zum Problem macht. Die für die Philosophie eigentümliche Verbindung von systematischen und historischen Elementen wird historisch-systematisch dargestellt, es wird ein transzendentales Gerüst aufgebaut und für eine systematische Philosophiegeschichte nutzbar gemacht. Dieses transzendentale Gerüst bestehe, so Asmuth, im Vollzug des Selbstdenkens und in der transzendentalen Begriffsgenese, die weder normativ noch deskriptiv vorgehe, sondern Grundmomente eines interpretierend-transformierenden Verstehensprozesses aufzuzeigen versuche. Die Grundlage sei die Feststellung, „daß das Denken unvertretbares Selbstdenken ist, folglich auch vergangenes Denken erst durch ein gegenwärtiges Selbstdenken lebendig gemacht werden muß.“ (22) Asmuth geht es zum einen darum, das Zusammenspiel von Aneignung bzw. Distanzverlust („Transformation“) und Differenzsetzung bzw. Distanzgewinn („Interpretation“) exemplarisch darzustellen anhand ausgesuchter Platoninterpretationen vom Beginn des 19. Jahrhunderts; zum anderen geht es ihm um das grundlegende Durchsichtigmachen des Verhältnisses von Philosophie und Philosophiegeschichte. Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, die man in zwei Teile gliedern kann. Nach der „Einleitung“ (9–22) und den fünf Kapiteln, in denen die Platoninterpretationen Fichtes (23–46), Schellings (47–124), Hegels (125–186), Schleiermachers (187–244) und Schopenhauers (245–266) erörtert werden (dem historischen Teil), erweitert sich im letzten Kapitel (267–346) des Buches (im systematischen Teil) die Untersuchung zur „Selbstreflexion“ und wird „selbst in das Spannungsfeld von Interpretation und Transformation eingebunden.“ (272)
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Die dargestellten Platoninterpretationen und -transformationen dienen als Beispiele für einen produktiven Umgang mit der Philosophiegeschichte. Dieser produktive Umgang bestehe in einer engagierten Interpretation, an die es anzuknüpfen gelte. In ihr ereigne sich die Philosophie im Vollzug des Denkens, nicht im Repräsentieren der Inhalte des Denkens. Die Spannung von Systematik und Geschichte müsse im Vollzug des Interpretierens selbst ausgetragen werden – das ist der überzeugende Ansatz des Buches: „Das ist der Weg der vorliegenden Untersuchung, die das Dilemma von Wahrheit und Geschichte, vor das der radikale Historismus die Philosophiegeschichtsforschung stellt, nicht überwinden, sondern als konstitutives Spannungsmoment nutzen will.“ (282, Fußn. 19) Für die vorliegende Rezension ist Hegels Platoninterpretation wichtig – deshalb soll auf die Darstellung der Platoninterpretationen der anderen Autoren nicht eingegangen werden. Vor allem ist jedoch die im systematischen Teil des Buches – dem letzten Kapitel – entwickelte Auseinandersetzung mit Hegels Lösungsversuch des Verhältnisses von Philosophiegeschichte und Philosophie interessant. Hegel ist die Hauptfigur des Buches, weil er nicht nur ein Beispiel für den produktiven, „engagierten“ Umgang mit Platon ist, sondern auch exemplarisch für den immer noch bedenkenswerten Lösungsversuch des Verhältnisses von Wahrheit und Geschichte steht. Es ist deshalb sinnvoll, den Bezug auf Hegel zu unterscheiden in Hegels Platon-Bild (1.) und in Hegels Philosophie der Einheit von Wahrheit und Geschichte (2.). 1. Platon sei für Hegel, so Asmuth, nicht als Mythologe oder als Schriftsteller, sondern als streng wissenschaftlicher Philosoph und Dialektiker wichtig gewesen. Die schwärmerische Verehrung Platons in der Romantik, die Forderung nach dem ironischen Stil, der Versuch, Platon gegenwärtig zu machen, werde von Hegel abgelehnt. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, demjenigen Ort, an dem die ausführlichste Auseinandersetzung mit Platon stattfindet, seien für Hegel vor allem die Dialoge aus dem Spätwerk wichtig, wie Sophistes, Parmenides und Philebos, während der Timaios bei ihm, im Gegensatz zum frühen Schelling, nur eine untergeordnete Rolle spiele. Die Philosophiegeschichte sei für Hegel mehr als „bloßes Referat von Meinungen früherer Philosophen“; in seiner Platoninterpretation spreche sich „in größter Klarheit der Anspruch einer auf Systematik angelegten Philosophiegeschichte aus.“ (125) Asmuth zeigt, wie Hegel die systematische Relevanz Platons freilegt. Er unterscheidet und erörtert sechs Schritte der kritischen Sichtung der Platonischen Philosophie Hegels: die Mischform der Darstellung; das Esoterische und das Exoterische; das Fiktionale; den Eklektizismusvorwurf; spezielle Probleme der Dialogform; die mythischen Darstellungen (18 ff.). Außerdem werden Hegels Interpretationen der Platonischen Ideenlehre, der Naturphilosophie, der Dialektik und der Philosophie des Geistes untersucht, ihre Stärken und Schwächen identifiziert. Die Stärken seien nicht so sehr in einzelnen Interpretationsvorschlägen zu suchen, sondern in der grundsätzlichen Einstellung zu Platon und somit zur Philosophiegeschichte. Zu den Schwächen (Asmuth geht es nicht in erster Linie darum, eine „wirkliche“ oder „richtige“ Platoninterpretation der Hegelschen entgegenzustellen) zähle das Fehlen der grundsätzlichen Offenheit der Dialektik, die bei Platon vorhanden, Hegels Philosophie jedoch fremd bleibe (171). So heißt es als Fazit: „Einen Eigenbestand etwa der Platonischen Philosophie gegenüber aller folgenden kann Hegel nicht wirklich einräumen. In der Philosophiegeschichte
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läßt sich der Philosoph nicht überraschen. Die Wahrheit, der er teilhaftig geworden ist, die nicht er besitzt, sondern die ihn besitzt – um Hegels Worte zu gebrauchen –, ist nur eine; sie gewinnt sich im Prozeß der Geschichte des Gedankens selbst. […] Folgt man Hegel, dürfte es schwer fallen zu begründen, daß man aus der Geschichte der Philosophie etwas lernen könne. […] Die substantielle Überraschung, etwas zu finden, was nicht schon immer im Horizont einer bereits durchdachten und durchdrungenen Wahrheit liegt, ist mit Hegel nicht möglich. […] Damit verliert er allerdings die Offenheit, die eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Gewesenen im Horizont eines vergegenwärtigenden und gegenwartsbezogenen Denkens erst garantiert.“ (139 f.) Hegels Platoninterpretation ist für Asmuth ein großer Entwurf. Hegel habe die Integration des antiken Denkens in die eigene Gedankenwelt durchgeführt, ohne dabei die Differenzen zu nivellieren. Hegels Einsicht sei „neu und radikal“: Die „bloße historische Zeit in ihrem kontingenten Verfließen“ könne nicht identisch sein „mit der Zeit des philosophischen Gedankens.“ (185) Bei Hegel schlössen sich „Interpretation“ und „Transformation“, Differenz und Identität noch ein letztes Mal zusammen; dieses „vernunftoptimistische Paradigma“, die Ambition und die reflexive Durchdringung bleiben „eine bis heute wirksame Provokation“ und „eine radikale Lösung des Problems der Philosophie und ihrer Geschichte.“ (186) 2. Im letzten Kapitel des Buches werden die theoretischen Hintergründe von Hegels Auffassung des Zusammenhangs von Wahrheit und Geschichte dargestellt. An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie wichtig der Lösungsversuch Hegels für Asmuths eigene transzendental-genetische Methode ist. Er setzt sich ausdrücklich von dem Versuch Vittorio Hösles ab, Hegels Vorgehen gegen den Historismus auszuspielen. Hösle gehe gegenüber dem Historismus „kein dialektisches, sondern nur ein ausschließendes oder polemisches Verhältnis“ ein, womit er Hegels Theorie einen „Bärendienst“ (296, Fußn. 42) erweise und seinen Einsichten die Plausibilität nehme. Nach Asmuths Überzeugung – und darin muß man ihm zustimmen – besteht Hegels Erbe gerade in dieser dialektischen Einstellung zur Philosophiegeschichte, im Ineinanderfließen von „Interpretation“ und „Transformation“, von kritischer Distanz und Aneignung. Doch etwas vermißt Asmuth bei Hegel: „das Fremde“, das „wirklich Andere“. Nicht die so oft kritisierte absolute Einheit des Denkens mit seinen Gedanken sei in Hegels Konzept das eigentliche Problem, sondern „die immanente Reduktion alles Gedachten auf die unifizierende Einheit allen Denkens, als deren Folge die Fremdheit völlig aufgelöst wird. Das sich selbst durchsichtig gewordene Denken kennt kein wirkliches Anderes, nur das Andere seiner selbst.“ (298) An diese Kritik ist jedoch die Frage zu stellen, ob man das Fremde nicht nur im Horizont des Vertrauten als Fremdes erkennen kann. Das radikal Fremde könnten wir gar nicht wahrnehmen, es würde sich außerhalb unseres Verstehenshorizontes befinden. Das Vernünftige, die Einheit des Denkens und des Gedachten ist für Hegel dieser Verstehenshorizont, innerhalb dessen wir das Fremde erst identifizieren können. Der von Asmuth als „transzendentales Gerüst“ gedeutete interpretierend-transformierende Verstehensprozeß des Ineinandergehens von Distanz (Negation) und Nähe (Identität) ist auch bei Hegel zu finden. Der Ausdruck „das Andere seiner selbst“ beschreibt eben diesen Prozeß und nicht eine endgültige Vereinnahmung des Anderen und Fremden.
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Es ist ebenso fraglich, ob Hegels Theorie tatsächlich eine der identischen Struktur von Philosophiegeschichte und Logik ist, wodurch, wie Asmuth kritisch bemerkt, „ein geschichtlich-logischer Parallelismus“ (296) entstehe. In dieser „Abbildung der Logik auf die Geschichte“ kulminiere „alles das, was an Kritik gegen Hegels Konzept der Philosophiegeschichte vorgebracht wird.“ (296) Zwar sei die Übertragung der „Logik“ auf die Geschichte notwendig, „die Kontingenz wirklichen Geschehens und Denkens“ müsse jedoch bewahrt werden gegenüber der „Fortschrittslogik“ Hegels. Hegel habe zwar „eine interessante, systematische Lösung des Problems gegeben“, die „in eine richtige Richtung“ weise – „systematisches Philosophieren [ist] nur geschichtlich, Philosophiegeschichte nur systematisch möglich“ –, seine zentralen Voraussetzungen seinen jedoch „inakzeptabel“ (287). Daß diese Standardkritik vom Parallelismus von Logik und Geschichte immer wieder vorgebracht wird, muß jedoch nicht bedeuten, daß sie zweifellos richtig ist. Die interessante Frage ist, ob in Hegels Konzept auch logische Formen ihre historische Genese haben. Diese kann man erst dann beantworten, nachdem der Begriff der absoluten Idee untersucht wurde. Viele Hegel-Interpreten widmen sich nicht ohne Erfolg dieser Aufgabe und erkennen im Konzept der absoluten Idee eine lebendige Einheit von Logik und Geschichte. Auf dieses Thema geht das Buch jedoch nicht ein. Gerade an dieser wichtigen Stelle der Untersuchung hätte man sich aber gewünscht, eine eindringlichere Interpretation von Hegels Theorie zu sehen. Asmuth versteht Hegels Begriff des Allgemeinen als die unhintergehbare Voraussetzung, die einen Primat besitzt vor dem Besonderen, und spricht diesem Gedanken Plausibilität zu. Letztlich könne jedoch Hegels Bestimmung des Allgemeinen nicht aufrechterhalten werden, da sie „mit dem Anspruch absoluter Geltung“ (291) auftrete. Doch auch hier ist zu fragen, ob das Allgemeine bei Hegel wirklich nur einen „Primat“ vor dem Besonderen habe und nicht in seiner höchsten Bestimmung als substantielles Allgemeines mehr ist als bloße „unhintergehbare Voraussetzung“. Auch hier hängt alles davon ab, wie man Idee und Freiheit interpretiert. Der kritisierte Hegel verliert durch die vorgebrachte Standardkritik (mangelnde Offenheit der Dialektik, geschichtlich-logischer Parallelismus, der Primat des Allgemeinen vor dem Besonderen, der Absolutheitsanspruch), der sich Asmuth trotz aller Sympathie für Hegels Lösungsversuch anschließt, seine Fremdheit, man weiß sozusagen immer schon, was heute nicht mehr annehmbar ist. Durch dieses Vorgehen ist Hegels Philosophie jedoch keine „Provokation“ mehr; sie wird, trotz der transzendentalphilosophisch-genetischen Methode, mit der sie untersucht wird, und trotz vieler zustimmender Äußerungen des Autors nicht in ihrer Fremdheit belassen, sondern im Kern als „inakzeptabel“ bezeichnet und so entsorgt. Vielleicht enthält das Buch in bezug auf Hegel zu viel an „Interpretation“ (Distanz) und zu wenig an „Transformation“ (Nähe) – eine Berührungsangst, die der Autor mit vielen Hegelinterpreten teilt. Es wäre interessant zu untersuchen, woher diese Berührungsangst kommt. Die Standardantwort, man könne heute nicht mehr so philosophieren, wie Hegel es getan habe, sollte selbst auf ihren Geltungsanspruch hin überprüft werden. Asmuths Hegelinterpretation erkennt zwar die Relevanz von Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Philosophiegeschichte und Philosophie, wird aber bei ihrer Ge-
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samtbeurteilung von Hegels Konzept diesem nicht immer gerecht. Darüber hinaus enthält der systematische Teil des Buches ebenso wie die Darstellung der Platoninterpretationen Fichtes, Schellings, Schleiermachers und Schopenhauers im historischen Teil wichtige Einsichten in das Wesen der „Interpretation“. Außerdem ist das Buch trotz des schwierigen und komplexen Themas in klarer Sprache geschrieben und spannend zu lesen. Kazimir Drilo (Berlin)
Frank-Peter Hansen: Vom wissenschaftlichen Erkennen. Aristoteles – Hegel – N. Hartmann. Königshausen & Neumann: Würzburg 2005. 144 S. Frank-Peter Hansens neueste Veröffentlichung besteht aus drei eigenständigen Teilen, von denen hier aus naheliegenden Gründen nur der zweite betrachtet werden soll. Aber es seien kurz einige Worte zum Aufbau des Buchs gesagt. In jedem der drei Teile entfaltet Hansen die Theorie wissenschaftlichen Erkennens bei je einem Philosophen. Im umfangreichsten ersten (15–82) setzt Hansen sich mit Aristoteles’ Erster und Zweiter Analytik, der Topik, sodann der Metaphysik sowie der Physik auseinander; im zweiten (83–118) mit Hegels Phänomenologie des Geistes sowie der Wissenschaft der Logik; im dritten und schmalsten (119–144) mit Nicolai Hartmanns Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis. Zu jedem Teil gehören ein resp. zwei Exkurse. Im Aristoteles-Kapitel setzt sich Hansen mit der Mathematik als der „Wissenschaft von den formalen Systemen“ auseinander und bespricht ausführlich das Buch: Johann Heinrich Königshausen: Ursprung und Thema von Erster Wissenschaft. Die aristotelische Entwicklung des Problems. Amsterdam 1989. Im Hegel-Kapitel wird besprochen: Heinrich Güßbacher: Hegels Psychologie der Intelligenz. Würzburg 1988. Im Hartmann-Kapitel behandelt Hansen: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Teil 1: Die Sprache. Teil 2: Das mythische Denken. Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis. Berlin 1923–1929. Zudem vollzieht Hansen mit dem Werk: Nicolai Hartmann: Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre. Berlin 1950. dessen Kritik an Albert Einstein nach. Im Hegel-Kapitel, das uns nun interessieren soll, bestimmt Hansen zunächst Grundintention und Verfahren der Phänomenologie des Geistes, und dies sehr klar und gut verständlich. Sie sei „keine Erkenntnistheorie im herkömmlichen Sinne“ (85), sondern eine „immanente Kritik“ (85, auch 86) vorfindbarer Stellungen des Bewußtseins zur Wirklichkeit. Hegel führe immer wieder vor, „daß sich in jeder Form von Weltaneignung […] immer schon eine jeweils spezifische Form von Verallgemeinerung manifestiert“ (83) – auch in den Formen, von denen das Bewußtsein selber meint, in ihnen keinerlei Verallgemeinerung zuzulassen oder vorzunehmen. In dieser immanenten Kritik läßt man das Bewußtsein tun, was es tue und konfrontiert es dann mit dem, was es meint, daß es es tue. Hierbei sehe man dann, „daß die Taten des Bewußtseins eine andere Sprache sprechen als das sie begleitende Selbstverständnis“ (84). Verallgemeinerungen entstünden v. a. durch die Formen, in denen Bewußtsein auftreten könne und
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müsse: die „des Wahrnehmens, Erinnerns, Sprechens, Denkens etc.“ (85) Diese Formen bezeichnet Hansen auch als „Funktionen“ (90). Von hier aus zweigen sich zwei weitere Topoi Hansens ab, die er m.E. nicht überzeugend verknüpfen kann: Zum einen meint er, daß, weil das Bewußtsein immer schon verallgemeinere, aus diesem Grund auch alle seine Einsichten „allenthalben […] wie auch immer bestimmtes objektives Wissen“ (91) seien. Wieso aber muß der Geist dann noch werden? Und wie weit geht das „wie auch immer“? In dieser Darstellung drohen die Differenzen zwischen den einzelnen Bewußtseinsstufen verloren zu gehen und scheinen anfängliche Stufen immer schon auf dem richtigen Weg zu sein – auch wenn diese von solch einem Weg gar nichts wissen wollen. Zum anderen betont Hansen mehrmals, daß dasjenige, was in der Philosophie als erkenntnistheoretische Aporie gilt: nämlich das Objekt ‚rein‘, d. h. ohne alle subjektive Zutat erfassen zu wollen, dies aber nur in subjektiven Formen erreichen zu können, nur scheinbar ein Dilemma des Subjekts sei (vgl. 84, 86, 90, 92, 93, 112). Man wüßte aber gerne wieso. Daß die subjektiven Formen „kein nach Möglichkeit zu umgehendes Übel [seien, F. K.], sondern der einzige Weg, den diversen Identitäten der Gegenstände auf die Spur zu kommen“ (90), bleibt bei Hansen Versicherung. Die Wissenschaft der Logik, so Hansen im zweiten Teil seines Hegel-Kapitels, schließe an die Resultate der Phänomenologie des Geistes an: Verschiedene Formen des Bewußtseins seien unterschiedliche Formen wissenschaftlichen Begreifens und objektive Formen (vgl. 95). Thema der Wissenschaft der Logik seien nun die von der Phänomenologie des Geistes verallgemeinerten objektiven Formen (vgl. 98), Gedanken des Wissens, die „in Wahrheit immer schon“ (96) objektiv seien, also nicht mehr erst dort hingeführt zu werden bräuchten. In der Wissenschaft der Logik gehe es nur noch um die „logischen Formbestimmungen, die aus den konkreten Einsichten extrahiert [ ]“ (96) worden seien. Von hier aus könne das Verhältnis zu den Wissenschaften bestimmt werden. Hegels Wissenschaft der Logik liefere das „System der verallgemeinerten Einsichten der Realwissenschaften“. Im Gegensatz zu diesen gebrauche die Wissenschaft der Logik ihre Gedanken nicht „unreflektiert“ (114). Wie allerdings dieses Extrahieren von statten gehe, inwiefern es sich von einem bloß subjektiven (und d. h. auch willkürlichen) Abstrahieren unterscheide, worin die Notwendigkeit und die Berechtigung dieses Verfahrens bestehe: Darüber wüßte man gerne mehr. Eine korrekte Wiedergabe der Wissenschaft der Logik ist noch nicht deren Erklärung. Auch wenn Hansen den grundsätzlich undogmatischen Charakter der Hegelschen Philosophie betont – nicht „aus einem vorab festgesetzten, jeglicher Überprüfung entzogenen Prinzip zu deduzieren“ (100) – und versucht, dies am Verhältnis von Anfang und Ende der Wissenschaft der Logik zu veranschaulichen, sieht er sich dennoch genötigt, an bestimmten Punkten des Hegelschen Werkes genau diese Dogmatik festzustellen. Der „folgenschwere[ ] Irrtum“ bestehe darin, daß Hegel „das Allgemeine als das schöpferische Subjekt eines apriori für vernünftig organisiert gehaltenen Universums“ (106) begreife. Indem er diese „unbewiesene Voraussetzung“ akzeptiere, werde er „unwissenschaftlich“ (107) und dogmatisch. Nach den vorangegangenen Ausführungen überrascht, daß Hansen den altbekannten Vorwurf wiederholt, Hegel setze das Denken an die Stelle der Realität. Mit Karl Marx’ Formulierung (aber ohne Marx zu nennen) wirft er Hegel vor, die „Sache der Logik“ mit der „Logik der Sache“ (109; zum Ori-
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ginal vgl.: MEW 1, 216) zu verwechseln. Diese Kritik findet er auch in der von ihm hochgelobten Studie Heinrich Güßbachers (116 ff.). Fabian Kettner (Bochum)
Željko Pavič: Hegels Idee einer logischen Hermeneutik. Die Selbstauslegung des Absoluten in der sichtbaren Unsichtbarkeit der Sprache. Sankt Augustin: Gardez! Verlag 2003. 259 S. (Hermeneutik im Gardez! Herausgegeben von Erwin Hufnagel und Jure Zovko. Band 3) Die vorliegende Studie ist die Druckfassung einer bei Richard Wisser in Mainz entstandenen Dissertation. In einem im wesentlichen chronologischen Durchgang durch Hegels Werk, und dabei in einer stetigen Auseinandersetzung sowohl mit Schleiermacher, Herder, Hamann und Wilhelm von Humboldt als auch mit der Hegelinterpretation Theodor Bodammers, Bruno Liebrucks’ und dessen Schülers Josef Simon, versucht Pavič die folgende Auffassung bzw. Rolle der Sprache für das Gesamtwerk Hegels nachzuweisen: Sie sei eine „notwendige Voraussetzung der Selbstverwirklichung des Geistes“ (7), worin dieser seiner Kategorien ansichtig werde, aber so, daß er sich in ihr und vermittels ihrer entfremde. So fungiere sie „als das, was das Geistige dem Geistigen selbst undurchsichtig macht“ (ebd.), denn sie mache Pavič zufolge etwas Unsichtbares (den Geist) sichtbar und verwickle ihn so in endliche Bestimmungen, die dieser dadurch allerdings erst begreifen könne. „Das Durchleuchten und Aufklären der sprachlichen Struktur soll das Verborgene, das Ganze als das Wahre, von den Fesseln dieser Unsichtbarkeit befreien und damit die Sprache selbst zu einem Sichtbaren, zu einem Begrifflichen machen.“ (Ebd.) Dem komme die Sprache dadurch entgegen, daß sie „ein existierendes Verschwinden“ (ebd., 82) sei, denn indem der Geist sich sprachlich realisiere, habe sich mit dessen Unmittelbarkeit auch schon die diese in das Allgemeine verkehrende Sprache aufgehoben, und im Vernehmen der Bedeutung sei sie gleichsam der schon verklungene Vermittler. So sei sie „ein verschwindendes Erscheinen des erscheinenden Verschwindens“ (198), das nur durch diese Selbstaufhebung der Vermittlung etwas, nämlich den Geist mit sich, vermittele und sich über ihren entfremdenden Charakter hinaus als „setzende[s] Nichts“ (135) erweise. Pavičs an dieser hier schon von mir vorausgeschickten Dialektik gewonnene Kernthese lautet: „wo der Geist zur Existenz kommt, da muß die Sprache verschwinden, in sich selbst zurückkehren“ (7) – wobei sich in dieser Rückkehr der Sprache in sich bereits die Kritik an Hegel verbirgt, daß die wirkliche Sprache der Menschen nicht in ihr Eigenes gebracht, sondern verstumme und durch ein „Selbstgespräch“ (8) des Begriffs substituiert sei. Mithin sei es unangebracht, mit Bruno Liebrucks „das Vernunftgeschehen“ der Hegelschen Logik „als ein Sprachgeschehen zu deuten“ (71, Fußn. 45). Dadurch, daß die Sprache Denken und Gegenstand „in eine Bewegung bringt, in welcher die kategoriale Erkenntnis überhaupt erst möglich wird“ (8), gelangt Pavič zu seiner zunächst irritierenden These, wonach die Sprache, von der doch explizit in der
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Philosophie des Geistes die Rede ist, dennoch „keinen systematischen Ort im System Hegels einnimmt“ (8). Dieses schöpfe aus einer sprachlichen Vorleistung, die es Pavič zufolge selbst nicht einhole und die zu reflektieren es erneut in eine Verwicklung mit dem Gegenständlichen zurückwürfe. Hegels Philosophie vollziehe sich indes als „eine bisher nicht erfahrene Art der Hermeneutik, in welcher das Absolute sich selbst durch das Andere seiner selbst auslegt und begreift, nicht umgekehrt, wie es in der traditionellen Hermeneutik der Fall ist, wo das Fremdverstehen die Voraussetzung des Selbstverstehens darstellt“ (9, vgl. 58 und 124 f.) – und eben diese logische Hermeneutik, deren Idee eines anfangslos Anfangenden (230) erst im letzten der fünf Kapitel kurz skizziert wird, verdanke sich der skizzierten Dialektik der Sprache. „§ 1. ‚Auf den Geist gegen die Sprache‘“ (11–31) untersucht Hegels Jugendschriften, in welchen Hegel dem Vergangenheitscharakter einer positivierenden Sprache (hierbei wäre Hegels Formulierung von der „zerspaltene[n] Reflexion“ als dem „Ergebnis einer ‚Mißbildung‘ des ganzen jüdischen Volks“ (25) als Zitat auszuweisen!) die Gegenwart des Logos entgegenstellt. Pavič resümiert: „Der Logos, nicht die Sprache, ist die reine Existenz des Geistes“ (26); die Sprache „ist nur aus dem Bedürfnis des Geistes entstanden, zu erscheinen und diese Erscheinung wie die ganze Wirklichkeit zu beherrschen.“ (24) „§ 2. Die Sprache als ‚nur‘ ideelle Existenz des Geistes“ (32–57) hat die Jenaer Systementwürfe zum Inhalt. In diesen finde sich bereits jene „abstraktiv-nominalistische Auffassung der Sprache“ (45) grundgelegt, die auch die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse auszeichne. Während jedoch Hegels Jugendschriften der bloßen „Reflexionssprache“ noch eine Mythologie der Vernunft entgegensetzten, erscheint die Sprache nunmehr „von Anfang an als der Besitz des Geistes bzw. als das Produkt seiner sich in der Andersheit vorstellenden und anschauenden ideellen Tätigkeit.“ (39, Fußn. 26) Besonders im Benennen manifestiere der Geist seine Herrschaft, aber gegen die entfremdende Zerstreuung in die Vielheit der Namen erfolge schon in der negativen Einheit des Gedächtnisses eine Aufhebung dieses „Nominalismus“ (43) und insofern der Sprache überhaupt. Wenn die Sprache etwa in der Bestimmung des Vertrages wieder auftrete, verschwinde sie zugunsten der Bedeutung, die aber ihrerseits erst durch den Staat garantiert werden könne (52 f.). – Hegel habe hier „die durch die Auffassung der Sprache als der ersten Bewußtseinspotenz mitgegebene Gelegenheit versäumt, die Sprache als ein selbständiges Phänomen, also von ihr selbst her zu hinterfragen“ (43), was ihn Pavič zufolge wesentlich von Schleiermacher, Hamann oder Wilhelm von Humboldt unterscheide, die Denken und Sprache in einer wechselseitigen Irreduzibilität ansetzen. „§ 3. Das Zusichselbstkommen des Absoluten und seine sprachliche Darstellung“ (58–178) versucht, die bisher entwickelte Sprachauffassung Hegels an der Phänomenologie des Geistes zu bewähren und stellt schon seiner Länge nach das Herzstück der Untersuchung dar. Hier muß sich entscheiden, ob Pavič mit Recht gegen Josef Simon geltend machen kann, daß Hegels grundlegende Auffassung der Sprache „als der verhüllenden Offenbarung der Gedanken“, wie sie sich „überall im Werk Hegels als Leitfaden“ anbiete, „selbst wenn die Verschiedenheit der Aspekte und die Mannigfaltigkeit seiner Zugänge zur Sprache unverkennbar bleibt“ (183), von den Jugendschriften an keine nen-
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nenswerte Veränderung erfahren habe, gerade auch, was Hegels skeptische Einstellung zur Sprache betrifft (vgl. 25, Fußn. 35). – Für jede Stufe wird der Eintritt in die Sprache als die Ermöglichung von Dialektik nachgezeichnet und deren Verkehren dargestellt, wobei die Sprache zunächst das sinnliche Unmittelbare verkehre und verallgemeinere und es erst im weiteren Durchgang zu einer zusehends sprachlichen Realisierung und Wirklichkeit des Geistes komme, die den Geist jedoch bis zur Religion (deren Trias von natürlicher, Kunst- und offenbarer Religion Pavič mit den Kunstformen sowie mit Erinnerung, Einbildungskraft und Gedächtnis als den Formen der Vorstellung des theoretischen Geistes parallelisiert) mit sich entfremde. Pavičs meist genaue und luzide, wenn auch manchmal ein wenig poetisch-metaphorisch anmutende Interpretation von Hegels frühem Hauptwerk, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann, muß natürlich selektiv verfahren. Aber gerade hier scheint mir ein wunder Punkt zu liegen: So wird etwa „A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit“ (vgl. GW 9, 240–264) ohne eine auch nur annähernd einleuchtende Begründung völlig übergangen und „B. Der sich entfremdete Geist; die Bildung“ (ebd., 264–323) fälschlicherweise als „die erste Stufe des Geistes“ (123) ausgegeben. Gerade jener Abschnitt der Phänomenologie des Geistes, der von einem schon bestehenden Geist einer Epoche ausgeht, wäre jedoch geeignet, Pavičs – und nicht Hegels – etwas zu formell und monadisch wirkende Auffassung dessen, was der Geist bzw. das Absolute sei, zu sprengen – zumal auch in diesem Abschnitt ,gesprochen‘ wird: „Die vollbrachte That verkehrt seine Ansicht; die Vo l l b r i n g u n g spricht es selbst aus, daß, was s i t t l i c h ist, w i r k l i c h seyn müsse“ usw. (GW 9, 255). – Aber bevor ich mich weiteren Erwägungen zuwende, seien die letzten beiden Kapitel skizziert: „§ 4. Enzyklopädische Verortung der Sprache“ (179–224) zeichnet sehr ausführlich und unter Heranziehung der mündlichen Zusätze den enzyklopädischen Gang von der Seele bis zum Denken nach. Zeigte sich „das Bewußtwerden des Bewußtseins […] in der Phänomenologie zuerst als die Befreiung desselben aus seiner Verfallenheit in die vorgegebene Sprache und am Ende als die Erschaffung seiner eigenen Sprache“ (nämlich der der Logik), so betrachtet Hegel die Sprache in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse nur „hinsichtlich dieses Erschaffungsprozesses“ (179). Neu gegenüber § 2. ist die Darlegung von Hegels Auseinandersetzung mit Wilhelm von Humboldts vergleichenden Sprachforschungen, der am Ende des Paragraphen ein Exkurs gewidmet ist („§ 4.5 Exkurs I: Grammatik und Begriffsbildung“ [210–223]). Pavič zeigt, daß Hegels sich auf Humboldt berufende „Behauptung über das Ungebildetwerden der Grammatik bei den gebildeten Völkern nur als eine Unterstellung oder als ein absichtliches Mißverstehen Humboldts“ (214) zu betrachten sei. Als Beleg dient ihm der Dualis, der für Humboldt den irreduziblen Gegensatz von Denken und Sein widerspiegelt und sowohl bei wenig entwickelten Völkern als auch bei den Griechen zu finden ist. „§ 5. Schluß: Die Idee einer logischen Hermeneutik“ (225–238) hat den gegenüber der Phänomenologie des Geistes nunmehr zweiten Anfang der Wissenschaft der Logik zum Inhalt, wobei es Pavič nicht um eine Rekonstruktion der „Sprache des Begriffs“ geht, sondern nur darum, „den Punkt, wo die ‚natürliche Sprache‘ sprachlos wird, zu markieren.“ (225, Fußn. 1) Hegels Logik thematisiere „das in der Sprache unthematisch anonym
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Gebliebene“ (228), nämlich die in ihr nur „instinktartig“ (229) enthaltenen Denkbestimmungen, und dabei erfolgt die „Befreiung vom konkreten Ich […] zugleich als die Befreiung von der konkreten Sprache“, deren „Fähigkeit, alles in sich zu enthalten und alles auszusprechen, nur auf die Funktion des Selbstaussprechens des logischen Inhalts zurückgeführt wird.“ (230, Fußn. 18) Indem Hegels Logik „als eine Hermeneutik der absoluten Offenbarung des Absoluten jenseits unserer kontingenten Sprache und des Seins“ (235) erscheint, fragt Pavič nach einer Zukunft im Wort, die der Geist nur dann haben könne, „wenn er bereit ist, das Andere und dessen Sprache in seiner Unberührbarkeit und Unaufhebbarkeit rein zu betrachten, damit er von ihnen in dem Seinen unbetroffen bleiben kann.“ (235) Mit Pavičs Untersuchung liegt ein inspirierender Entwurf vor, der sich wohltuend vom gerade auf dem Gebiet der Sprachphilosophie herrschenden pragmatisch-konstruktivistischen Mainstream abhebt und geeignet ist, neue Schlaglichter auf die gesamte Architektonik Hegels zu werfen. Dennoch seien abschließend einige kritische Bemerkungen bzw. weiterführende Anregungen gegeben: Sprache und Geist scheinen in Pavičs Hegelinterpretation (vermutlich unter dem Eindruck der Jugendschriften) in einer zu schroffen Polarität gefaßt, derart, daß die Sprache zugunsten des Geistes eingezogen werde, ohne daß der Geist sich wieder zu einer Sprache vermittelt, die mehr ist als bloß dessen Selbstgespräch – was Pavič veranlaßt, (nicht zuletzt mit Wilhelm von Humboldt) die Sprache gegen Hegel wieder stark machen zu wollen. Gegen diese Auffassung ließe sich geltend machen, daß der Geist in seinem Aussprechen nicht nur seine Unmittelbarkeit aufhebt und vermittels der Sprache, deren Dialektik ihn sich entfremdet wie mit sich vermittelt, im Anderen bei sich ist und das Andere als sich selbst weiß, sondern überhaupt erst Geist ist, und der Geist nur dadurch ein Bleibendes, daß er sich selbst negiert und sein eigenes Anderssein ist, wodurch er sich zu seiner wirklichen und mithin sprachlichen Existenz ebensosehr befreit. Dieser Gedanke, der zumindest eine von Pavič nicht in Betracht gezogene alternative Lesart darstellt, tritt in der Phänomenologie des Geistes als Anerkennung hervor und an deren Ende wie am Ende der Wissenschaft der Logik als ein freies Entlassen des Anderen, das gerade kraft des eigenen Andersseins des Begriffs bzw. Geistes (wie Pavič dies in seiner Bemerkung von der Zukunft im Wort fordert) in seinem Anderssein belassen bleiben darf und das ferner, wie Hegels Naturphilosophie mannigfach zeigt, seine abstrakte Unmittelbarkeit durch sich selbst (und nicht kraft des Geistes als eines Anderen) überwindet, weil es selbst bereits der ,ganze‘ existierende Geist ist. Der Andere ist in seinem eigenen Selbst-Sein schon Geist, aber dieser Aristotelismus Hegels kommt bei Pavič überhaupt nicht zum Tragen. Auch in seiner Interpretation der Phänomenologie des Geistes scheint Hegel weit über Gebühr ein monadisch-monologisches Bewußtsein unterschoben. Das Bekennen des Bösen (gleichsam eine Sprach-Handlung!) gegen Ende des Gewissens erscheint Pavič nur als ein „Selbstverlust“ des Individuums, welchem noch verschlossen ist, „daß das Sprechen jedes einzelnen Selbst in der Tat ein Selbstgespräch des Geistes im Dasein ist, durch das er seine Sichselbstgleichheit in diesen vereinzelten Individuen ausspricht“ (141), und nicht als ein Anerkennen seines Andersseins und mithin des Anderen. Es erfolge insofern auch nur „die Anerkennung des Geistigen in seiner individuellen Gestalt“ und nicht „dieser individuellen Gestalt selbst“ (141), und die Versöhnung des Gewissens, wie
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sie in der Religion thematisch wird, sei gerade wegen ihres Sprachcharakters eine nur vorgestellte (142). Den freilassenden Übergang in die Realphilosophie erwähnt Pavič an keiner Stelle, obwohl die Philosophie des Geistes und mit ihr Hegels enzyklopädische Verortung der Sprache diesen im Rücken hat. Übersehen ist auch das Selbstgespräch des Äthers als ein weiteres Zeugnis frühen Hegelschen Sprachdenkens am Anfang der Naturphilosophie (1804/05), der ebenfalls schon seinen Monolog überwindet und sich, zunächst in den Formen von Raum und Zeit, als wahrhaft unendlich aufschließt, also gerade nicht in sich verschlossen bleibt (vgl. GW 7, 190–192). Hier ist auch schon, wie dann 1807, vom tätigen Sprechen und Vernehmen die Rede, das sich deutlich von der bereits vorliegenden ,semiotischen‘ Sprachauffassung der Philosophie des Geistes unterscheidet, und es drängt sich generell die vorsichtige Frage auf, ob Pavič die letztere nicht zu sehr in Hegels Phänomenologie des Geistes hineingelesen und so deren an zentralen Stellen wesenhaft dialogischen Charakter übersprungen hat. Und überhaupt: Gehört das Verstummen der Sprache, wodurch sie den Geist vermittelt, nicht selbst noch zur Sprache, die schon in ihrer Verlautbarung erst dadurch verständlich wird, daß sie sich als Wechselspiel von Tönen und Pausen zwischen den Tönen vollzieht, weil sie sonst ein vom Schweigen ununterscheidbarer Dauerton wäre – so daß die Sprache in ihrem Verklingen nicht aufhört, Sprache zu sein, ja mehr noch: So wie der Geist erst durch seine Selbstnegation Geist ist, ist nicht auch die Sprache erst in ihrem Verklingen Sprache? So gesehen wäre der Geist, der nur dadurch Geist ist, daß er zumal Nicht-Geist ist bzw. nie nur Geist war, seinerseits so etwas wie Sprache, die er insofern weder bloß vorfindet – auf daß er sich ihrer bedient bzw. bedienen muß, um zu erscheinen und durch Negation des Andersseins zu sich zu finden – noch nur schafft und setzt. Dann wäre die Sprache in Hegels Logik und dem darauf aufbauenden System womöglich nicht wegen eines immanenten Unvermögens zugunsten des Geistes absentiert, sondern allein deswegen nicht thematisch, weil der Geist in ihr so sehr Sprache ist, daß diese im reinen Element des Logischen nicht als solche heraustritt, sondern erst wieder in der Realphilosophie. Auch Pavičs Kritik an Bruno Liebrucks und Josef Simon wäre insofern zu überdenken. Wilfried Grießer (Wien)
Paul Ricœur: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2006. 334 S. Im Frühjahr 2004 erschien mit Parcours de la reconnaissance Paul Ricœurs letztes Buch. Der Frankfurter Suhrkamp Verlag hat es nun in einer vorzüglichen Übersetzung posthum herausgebracht. So ist das Buch gleichsam das Vermächtnis des am 20. Mai 2005 verstorbenen Philosophen. Ricœur hat selbst im hohen Alter das Staunen nicht verlernt. Er ist neugierig geblieben bis zum letzten. Das belegt sein opus ultimum auf bemerkenswerte Weise, dessen Titel bewußt nicht von „Theorie“, sondern von „Wegen“ der Anerkennung spricht.
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Das ist nicht Ausdruck falscher Bescheidenheit, sondern soll nach Bekunden des Autors „das Fortbestehen des anfänglichen Staunens“ (17) dokumentieren, das ihn zu diesen philosophischen Untersuchungen veranlaßt habe – des Staunens darüber, daß die alltägliche Sprache eine enorme Differenzierungsmacht entfaltet habe (Ricœur kann auf über zwanzig verschiedene, in einschlägigen französischen Wörterbüchern verzeichnete Bedeutungen des Lexems „reconnaissance“ verweisen), indes der Begriff in der Philosophie weit verstreut auftritt, eine kohärente Theorie der Anerkennung gleichwohl nicht anzutreffen ist. Für eine solche Theorie versammeln die über dreihundert Seiten des Buches manche Bausteine. Ricœurs Studien, die dezidiert keinen Anspruch erheben, eine „Theorie“ vorzulegen, sind ein zweifellos bedeutendes, an Gelehrsamkeit reiches Reservoir für eine jede künftige Untersuchung, die als Theorie wird auftreten wollen. Ricœur macht es dem Leser freilich nicht leicht, sich in der schier unüberschaubaren Vielfalt der Überlegungen und zu Rate gezogenen Texte zurechtzufinden, den roten Faden im Blick zu behalten – eine Schwierigkeit mancher Arbeiten des Philosophen, die im Alterswerk vielleicht noch verstärkt hervortritt und nur mühsam durch eine triadische Strukturierung behoben wird, zumal der Verfasser augenscheinlich bestrebt gewesen ist, zugleich signifikante Fäden seines weitverzweigten philosophischen Lebenswerks aufzunehmen und zu verknüpfen. So überwiegt das Bemühen um Synthese und Vermittlung den Willen zu scharfer Zuspitzung und Pointierung. Die Untersuchungen gliedern sich in drei „Abhandlungen“, die aus Vorträgen in Wien und Freiburg/Brsg. hervorgegangen sind. Die Abfolge der Kapitel indiziert zugleich auch die Dynamik der Fragestellung. Der philosophische „Parcours“ führt vom (An-)Erkennen als Identifizieren (43–96) über das Sich selbst erkennen (97–192) zur wechselseitigen Anerkennung (193–306). Gibt es, so ließe sich Ricœurs Interesse umreißen, eine Beziehung zwischen dem Erkennen bei Descartes und Kant, dem Wiedererkennen (der Erinnerungen) bei Bergson und dem, was seit Hegel (wechselseitige) Anerkennung heißt (vgl. 38)? Geleitet von der Hypothese, „daß die potentiellen philosophischen Verwendungen des Verbs reconnaître eine Bahn beschreiben, die vom aktivischen zum passivischen Gebrauch führt“ (39), suchen die Studien im Gespräch mit Autoren und Texten unterschiedlichster Couleur (von Homer bis hin zu Arendt, Honneth, Levinas u. a.) zu einer philosophischen Problemerhellung beizutragen und die im Felde der Philosophie vorherrschende semantische Verwirrung in Richtung „einer geregelten Polysemie“ aufzulösen, „die derjenigen auf der lexikalischen Ebene ebenbürtig wäre.“ (16; vgl. 308 f.) Die Profilierung eines differenzierten Verständnisses dessen, was die französische Vokabel reconnaissance umfaßt (die Übersetzerinnen lassen sie zunächst mit Bedacht unübersetzt), kann nicht anders erfolgen als über eine „Arbeit an den Unterschieden“ (309). Sie enthüllt das Geflecht der Begriffsbedeutungen zunächst als eine differenzenreiche Gemengelage, die, folgt man Ricœur, indes nicht nur dechiffrierbare Übergänge, sondern auch so etwas wie eine fortschreitende Logik aufweist: Der Weg von der ersten zur dritten „Abhandlung“, von der Identität über die Alterität zur wechselseitigen Anerkennung und der Dialektik von Erkennen und Verkennen, ist ein Weg sich verdichtender Komplexität und teleologischer Steigerung. Es kann nicht verwundern, daß in diesem Zusammenhang dem Hegelschen Konzept der Anerkennung einige
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Aufmerksamkeit zuteil wird. Der einstige Hegelpreisträger, der im Blick auf Hegels Geschichtsphilosophie empfohlen hatte, „auf Hegel [zu] verzichten“, ist freilich auch am Ende seines Denkweges durchaus nicht geneigt, den spekulativen Ausgriffen des Hegelschen Denkens Kredit zu schenken. Ricœur distanziert sich ausdrücklich von einem „spekulative[n] Bezug auf Identität und Totalität“ (227), weiß dabei aber sehr wohl um das Verdienst Hegels, mit und seit seiner Jenenser Realphilosophie in Antwort auf Hobbes’ Naturzustandstheorie „das Thema Anerkennung endgültig in die philosophische Philosophie eingeschrieben“ (228) zu haben. Im Anschluß an Jacques Taminiaux und vor allem Axel Honneth geht es Ricœur darum, die Hegelsche Frage der Anerkennung in systematischer Absicht zu aktualisieren: die wechselseitige Anerkennung als Vollendung des Wegs des Sich-Erkennens zu begreifen (235). Die Formierung wechselseitiger Anerkennung in einem Kampf um Anerkennung hat bei Ricœur gleichwohl nicht das letzte Wort. Die (durchaus berechtigten) Zweifel an einem spekulativen Monismus à la Hegel lassen ihn nach einem alternativen Weg suchen. „Löst sich das Verlangen nach emotionaler, rechtlicher und gesellschaftlicher Anerkennung“, fragt Ricœur, „wegen seines militanten, konfliktträchtigen Stils nicht in ein unbegrenztes Verlangen, eine Form des ‚schlechten Unendlichen‘ auf?“ (273) Das Unbehagen angesichts dieser möglichen Aussicht motiviert, wie gesagt, zu einem Alternativvorschlag, der, in Anknüpfung an die Arbeiten Marcel Henaffs, tatsächliche, von einem Geist der Liebe bestimmte Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung in Friedenszuständen in Anschlag bringt und in ihrer „Ausstrahlungskraft bis in den Kern der durch den Kampf geprägten Transaktionen“ (274) zu bedenken empfiehlt. Sie vermöchten immerhin zu einer Art „Waffenstillstand“ oder „‚Lichtung‘ im Wald der Ratlosigkeiten“ (305) zu führen und gute von schlechter Gegenseitigkeit zu unterscheiden (303). Symbolische Formen der Anerkennung, wie sie sich vorzüglich im zeremoniellen Charakter der Gabe bekunden, lassen nach Ricœur ein Jenseits des Kampfs um Anerkennung aufscheinen, das der Hoffnung Raum gibt. Zeremonielle Gesten der Gabe könnten zwar ebensowenig wie um Vergebung bittende Gesten – Ricœur erinnert an den Warschauer Kniefall Willy Brandts – institutionalisiert werden; „doch indem sie die Grenzen der Äquivalenz-Gerechtigkeit ans Licht bringen und der Politik und dem Recht auf der nachnationalen und internationalen Ebene einen Raum der Hoffnung eröffnen, haben solche Gesten Ausstrahlungen, die im verborgenen und auf Umwegen dazu beitragen mögen, daß die Geschichte sich auf Friedenszustände hin entwickelt.“ (305) Die Wege der Anerkennung bleiben riskant und gefährdet. Andreas Großmann (Hamburg)
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Heiko Joosten: Selbst, Substanz und Subjekt. Die ethische und politische Relevanz der personalen Identität bei Descartes, Herder und Hegel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 295 S. (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie. Bd. 383). Heiko Joosten will zur Klärung der Frage beitragen, ob ein Begriff des Selbst bzw. der personalen Identität denkbar sei, der „eine wechselweise dynamische Bestimmung des Selbst“ von jeweils beiden Polen der Gegensätze erlaube, in die es thematisch „immer schon aporetisch […] eingespannt zu sein“ scheine. Gemeint sind die Pole Solipsismus und Sozialität, Innen und Außen, Individualität und Allgemeinheit, Selbst- und Fremdbestimmung (10). Ein solcher Begriff würde den Menschen als „politisches Tier“ fassen, das Politische selbst aber nicht als substantiell Allgemeines, „sondern als Prozeß der gegenseitigen Anerkennung individueller Besonderheiten.“ (Ebd.) Der Begriff des Selbst ist zwar so alt wie die Philosophie, seine eigentliche Karriere beginnt aber erst in der Neuzeit unter den Stichworten Innerlichkeit, Subjektivität und Individualität. Joosten möchte „die Entwicklung der Frage nach dem Selbst in seiner heutigen Form philosophiehistorisch als Herausbildung des begrifflichen Komplexes von Selbst, Substanz und Subjekt“ nachvollziehen und zeigen, „daß die moderne und aporetische Fragestellung der personalen Identität grundsätzlich als Agglomeration der philosophiehistorisch konträren Konzepte verstanden werden muß […].“ (12) Dabei konzentriert er sich auf Descartes, Herder und Hegel. Angesichts der „Geschichtlichkeit des Themas“ (11) legt er seiner Arbeit eine „historische[ ] Sichtweise“ (15) zugrunde. Seine Arbeit gliedert sich in die drei Kapitel: „Das Selbst als subjektivierte Substanz – Descartes“ (16–73), „Das Selbst als expressive Integrität – Herder“ (73–121) und „Substantialität und Subjektivität des Geistes – Hegel“ (122–277), wobei das Kapitel über Hegel mehr als die Hälfte der Arbeit beansprucht. Joosten leitet den Descartes-Teil mit einem Abschnitt über „Die beginnende Kultivierung des Selbst in der Renaissance“ (17–23) ein, um den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Cartesischen Philosophie zu skizzieren. In der Epoche vom frühen 14. bis frühen 17. Jahrhundert habe sich die Stellung des einzelnen Menschen in der (europäischen) Welt – und damit auch sein Selbstbewußtsein – gewandelt. Ein Zeugnis dieses Wandels sei die im frühen 15. Jahrhundert sich entwickelnde Kultur der Autobiographien, Briefe und Tagebücher. Die aufstrebenden Naturwissenschaften entzauberten mit der Natur als solcher auch die menschliche Natur und ließen das Selbst zu einem ausgezeichneten Gegenstand der Philosophie avancieren. Descartes’ Versuch, auf dem Wege des systematischen Zweifels ein unbezweifelbares Fundament alles Wissens aufzuweisen, konfrontiert Joosten mit der sprachanalytischen Kritik. Nach dieser sei die Cartesische Selbstgewißheit allein im Gebrauch des als Demonstrativum verstandenen Personalpronomens ich begründet (das Joosten groß schreibt) und basiere mithin auf der empirischen Voraussetzung, daß sich dieses auf eine tatsächlich existierende Person beziehe. Die Selbstgewißheit sei deshalb als performativ zu verstehen, und sie erweise sich in vierfacher Hinsicht als mangelhaft: Sie sei nicht apriorisch; nicht von der allgemeinen Form „Wer denkt, existiert“; sie gelte nur für die Dauer des Zweifels; und sie sei auf den Zweifel an der eigenen Existenz eingeschränkt
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(37). Trotz dieser Mängel der Selbstgewißheit leitet Descartes aus ihr den Substanzbegriff ab, der dann die Mängel „scheinbar“ (39) ausgleiche. In einer Gegenüberstellung von Cartesischem und Aristotelischem Substanzbegriff gelangt Joosten zu der These, daß man auf Grund der jeweils völlig verschiedenen „Verfahrensweisen“ in der Bestimmung der Substanz zwei gänzlich verschiedene Substanzbegriffe „annehmen muß“. „Kurz gesagt: Die Aristotelische Substanz ist die allgemeine Form der letzten Gattung, die nur in einer äußerlich hinweisenden Sicht definiert werden kann, die Cartesische Substanz hingegen ist singulär und wird introspektiv erschlossen.“ (49) Bei Descartes falle Aristoteles’ „statuarischer Substanzbegriff“ mit dem Verfahren zur Bestimmung der Substanz zusammen in der Einheit der performativen Selbstgewißheit. Der alte Substanzbegriff werde so um das Cartesische Protosubjekt erweitert und führe zu einer Repräsentation des Ich als Idee einer IchSubstanz. Joosten spricht von der „begriffliche[n] Konstruktion des Selbst als Montage von Substanz- und Subjektbegriff“ (50). Das „Repräsentationsmodell“ des Selbst habe Konsequenzen für die Ethik. So wie Descartes das Denken in sich fundiere, fundiere er auch das Wollen in sich; so wie der Mensch in erkenntnistheoretischer Hinsicht Herr seiner Gedanken sei, sei er in ethischer Hinsicht Herr seiner Affekte. Dabei beschreibe Descartes das Verhältnis der Seele zu ihren Leidenschaften noch komplexer als das von Ich und Denken, wie Joosten anhand seiner Schrift Die Leidenschaften der Seele (Amsterdam 1649) darlegt. Der ethische Sinn des Repräsentationsmodells des Selbst zeige sich darin, daß es erlaube, die Seele als Instanz zu fassen, die die Bedeutung der Affekte bestimme (281). Auch den Herder-Teil beginnt Joosten mit einer Skizze des kulturgeschichtlichen Hintergrunds seiner Philosophie. „Aufklärung, Kommerz, Theater und Empfindsamkeit“ (76–85) sind hier die entscheidenden Stichworte. Die literarische Bewegung der Empfindsamkeit reagiere auf Defizite der frühen Aufklärung. Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung des öffentlichen Lebens konstatierten Kritiker der Aufklärung eine Entfremdung der Menschen voneinander und von der Natur. Das Wohlergehen des einzelnen in der Gesellschaft scheine von ihm nicht tugendhaftes Verhalten, sondern Schauspiel- und Verstellungskunst zu erfordern. In Reaktion auf diese geforderte „Theatralik“ entstehe der Gedanke eines authentischen Selbst. Durch Rousseau maßgeblich beeinflußt, bilde sich die Überzeugung aus, die Echtheit der eigenen Gefühle sei für sich bereits eine ethische Qualität, und jeder Mensch habe seinen eigenen Weg zu gehen. In Deutschland entstehe im sog. Sturm und Drang eine Schwärmerei fürs einfache Landleben und einfache Menschen, fürs Individuelle in prometheischen Kraftgestalten, fürs Genie. Die jetzt entstehende Kunstauffassung, die Joosten mit Charles Taylor (vgl.: Taylor: Hegel. Frankfurt a. M. 1983; ders.: Quellen des Selbst. Frankfurt a. M. 1994) als Expressivismus bezeichnet, sehe den Künstler nicht länger als Nachahmer der Natur, sondern als Schöpfer, der den Bedeutungsgehalt der Natur poietisch aus sich hervorbringe. Der Expressivismus beeinflusse in entscheidender Weise die Weiterentwicklung des Begriffs des Selbst. Seine Generalthese lautet, „daß die Verwirklichung der Natur in jedem von uns zugleich eine Form von Ausdruck ist“ (Taylor). Das Programm dieser „Ausdruckstheorie“ lautet in Kürze so: „1. Der Ausdruck als Verwirklichung der menschlichen Form ist das Resultat einer inneren Kraft, die sich womöglich
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gegen äußere Widerstände der Wirklichkeit aufzwingt. 2. Im Unterschied zum antiken Substanzbegriff ist der Ausdruck aber nicht das schlichte Kundtun einer bereits bestehenden Form, sondern die Form wird erst im Ausdruck verfertigt und erst im Ausdruck wird klar, was diese Form ist.“ (282) Die damit angedeutete Dynamisierung des alten „statuarischen“ Substanzbegriffs gelinge aber nicht. Bei näherem Hinsehen drohe Herders Ausdruckstheorie ein Zirkel: Das sich durch seinen Ausdruck selbst erschaffende Subjekt setze nämlich etwas voraus, das zum Ausdruck gebracht werden könne und das diesen Ausdruck als den seinen identifizierend beurteile. Die inhaltliche Selbstbestimmung des Subjekts qua Ausdruck setze seine inhaltliche Bestimmung voraus. Darin liege für Herder die Versuchung einer Rückkehr zum überwundenen Substanzbegriff. Im Lichte seiner Sprachphilosophie, in welcher Sprache, Denken und Gefühl zuletzt zusammenfielen, drohe die Zirkularität der Selbstbestimmung im Ausdrucksgeschehen die Form eines „Kurzschlusses“ anzunehmen, denn der Ausdruck und dasjenige, dessen Ausdruck er sein solle, seien nicht mehr voneinander zu unterscheiden (284). Herders Ausdruckstheorie deute zwar an, das Selbst sei kein innerer Gegenstand, über den einfach verfügt werden könne, sondern es sei lediglich in seiner Entäußerung dasjenige, was es sei. Sie deute insofern darauf, die Begriffe Substanz und Subjekt seien in einer dynamisierten Einheit zu denken. Doch könne sie selbst diesen Gedanken nicht zu Ende denken. „Es liegt in erster Linie am Mangel einer dialektischen Methode, daß Herder seine richtungsweisenden Ideen nicht zu Ende denken und die Widersprüche zwischen substanz- und subjektartigen Konzepten gar nicht thematisieren, geschweige denn verarbeiten kann.“ (Ebd.) Über diese Methode verfüge Hegel, und nach Joosten lasse sich insbesondere an der Phänomenologie des Geistes zeigen, daß und wie Hegel hinsichtlich des Selbst Ideen der Herderschen Ausdruckstheorie aufgreife, weiterentwickele und ihr anhaftende Probleme zu lösen beanspruche. So vermöge Hegel die auch bei Herder zu konstatierenden Widersprüche zwischen Substanz- und Subjektbegriff als Widersprüche in der Selbstauffassung des Bewußtseins zu entwickeln. Zentral sei dabei der Kraftbegriff. Während Herders Versuch, vermittels des Kraftbegriffs – der bei ihm freilich nicht näher erklärt werde – den Begriff der Substanz zu dynamisieren, scheitere, gelinge dies Hegel, indem er Kraft und Selbstbewußtsein als „strukturähnlich“ bestimme. Aus dieser Strukturähnlichkeit folge zusammengefaßt: „1. Wie die Kraft kann das Selbst als substantielles In-sich-stehen und subjektive Entäußerung zugleich gedacht werden. 2. Wie die Kraft ist das Selbst jedoch gerade nur in seiner Entäußerung wirklich. Der Versuch, es zu bestimmen, hebt seine Wesenseinheit auf, weil Bestimmung Unterscheidung ist. 3. Wenn das Selbst nur in seiner Unterscheidung von sich wirklich ist, ist auch das Selbst nur für sich, insofern es für andere ist. Es findet sein Wesen nur in seinem Anderssein und ist nur als Anerkanntes.“ (285) Der Kraftbegriff Hegels enthalte bereits den wesentlichen Aspekt seines Anerkennungsbegriffs. Wenn die Kraft nur in ihrer Äußerung wirklich sei und wenn Äußerung ein Sich-von-sich-Unterscheiden sei, dann sei die Realisierung der Kraft „zugleich Verlust der Realität“ (Hegel). Die Vorstellung eines substantiellen, introspektiv gewissermaßen anschaubaren Selbst sei damit unhaltbar geworden. „Das Selbst ist schlechterdings eine soziale Relation, die nur im klar unterscheidenden Verhältnis und Verhalten
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zu anderem sich bestimmen läßt.“ (160 f.) Joosten verfolgt diesen Zusammenhang von Substanz, Kraft und Anerkennung weiter mit dem Schwerpunkt auf der Phänomenologie des Geistes, wobei er Hegels „Idee einer […] Genese des Selbstbewußtseins“ gegen Descartes und die „Reflexionsmodelle“ des Selbstbewußtseins abhebt und die Art, in der Hegel den Begriff der Begierde einführt und entwickelt, einer bedenkenswerten Kritik unterzieht. Demnach könne der Begriff der Begierde nicht immanent hergeleitet werden, und aus ihm lasse sich auch nicht immanent der des Selbstbewußtseins entwickeln. Hegel greife mit dem Begriff der Begierde auf einen „kruden Erfahrungsbegriff“ (289) zurück. Aus der Fülle der diskutierten Themen und hergestellten Beziehungen seien noch zwei Exkurse genannt: Der eine über „Substanzbegriff und Funktionsbegriff bei Ernst Cassirer“ (172–178; vgl. dessen Publikation Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910]), der andere „Über die Begriffe Selbstsein, Mitsein und Man in Martin Heideggers Sein und Zeit“ (235– 243) sowie die kritischen Anmerkungen, die Joosten auf der Basis Hegelscher Einsichten gegen Thesen der zeitgenössischen Kognitions- und Hirnforschung macht. Joostens Arbeit hinterläßt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Daß sie neben Descartes und Hegel auch Herder eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Begriffs des Selbst bzw. der personalen Identität zuweist, ist verdienstvoll. Joosten befindet sich im Einklang mit der neueren Forschung, wenn er den Akzent nicht auf die „Kuriositäten“ Herderschen Philosophierens legt, um ihn als unsystematischen Kopf oder gar vernunftfeindlichen Irrationalisten abzustempeln, sondern in seiner Philosophie Motive freilegt, die für Hegel wegweisend waren. Angesichts der recht ausführlichen Würdigung Herders fällt aber um so mehr auf, wie oberflächlich Joosten die „kanonischen“ Autoren in Sachen Selbst bzw. personaler Identität behandelt. Locke, Hume und Fichte werden nur en passant erwähnt. Dabei wird Fichte entweder explizit „aus Hegelscher Sicht“ (134) referiert, ohne daß gefragt würde, ob diese Sicht sachlich zutrifft; oder seinem Begriff der „Tathandlung“ wird eine „gravierende Ähnlichkeit […] mit der bei Descartes wenigstens implizit enthaltenen Idee des ‚Ich denke‘ als eines performativen Satzes“ (130) attestiert, ohne daß Joosten gewahr würde, daß die Tathandlung eben nicht als Cartesische „Selbstvorstellung“ interpretiert werden kann. Kant findet öfter Erwähnung, aber dies auch nur in sehr kursorischer Weise. Selbst der ihm gewidmete Unterabschnitt („Kraft- und Substanzbegriff bei Kant“ [162–166]) bleibt an der Oberfläche. Daß der Kantische Substanzbegriff nicht der des Aristoteles ist, ist bekannt. Wenn Joosten aber als Beleg für Kants Abschied „von jedweder Wesenslogik“ dessen Satz: „Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden“ (vgl.: Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 227), zitiert und fortfährt: „Deshalb ist der Satz von der Beharrlichkeit der Substanz – ein synthetischer Satz a priori – freilich tautologisch, wie Kant ausdrücklich hervorhebt“ (164, Fußn. 87) – dann hätte man sich anstelle des „freilich“ eine Erklärung dafür gewünscht, wie Kant dazu kommt, einen synthetischen Satz a priori tautologisch, mithin analytisch zu nennen. Durch das allzu kurze Verweilen bei den von Hegel als Reflexionsphilosophen Gescholtenen erweckt Joosten noch einmal den von Hegel selbst erzeugten Eindruck, deren (historische) Verdienste bestünden allenfalls darin, daß sie die Hegelsche Philo-
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sophie vorbereiten halfen. Hartgesottene Hegelianer mögen immerhin dieser Ansicht sein. Schwerer wiegt, daß auf diese Weise nicht überzeugend dargestellt werden kann, inwiefern Hegel der Sache nach tatsächlich über seine Vorgänger hinausgeht. Unklar bleibt, was Joosten unter der „historischen Sichtweise“ versteht, die er seiner Arbeit zugrunde legt. Daß es sich bei den untersuchten Theorien um solche handelt, die in dem Sinne „historisch“ sind, daß sie zum Bestand der Tradition zählen, reicht als Rechtfertigung nicht hin, zumal es Joosten durchaus darum geht, diese Theorien durch systematische Kritik auf ihre sachliche Richtigkeit hin zu überprüfen. Diese systematische Kritik ihrerseits ist methodisch nicht einheitlich angelegt. Während in bezug auf Herder und Hegel das Verfahren einer immanenten Kritik dominiert, wird die Cartesische Selbstgewißheit unvermittelt mit Argumenten der sprachanalytischen Philosophie kritisiert. Dabei bleibt unerörtert, ob die semantische Interpretation des Ich im ‚Ich denke‘ als Demonstrativum die Cartesische Argumentation tatsächlich als sachlich unhaltbar erweist oder ob sie nicht ihrerseits mit Argumenten der „Bewußtseinsphilosophie“ zu kritisieren ist. Letztere ist schließlich nicht auf die Einführung einer ominösen res cogitans zu reduzieren. Die sprachliche Gestalt der Arbeit ist bisweilen ungeeignet, die Erkenntnisse ihres Autors angemessen zu präsentieren. Neben vermeintlich lässigen Formulierungen („Allgemein ausgerückt [sic!] besteht die Paradoxie des Themas darin, daß das Selbst als Identität mit sich verstanden tautologisch ist – ,I am what I am‘ [Gloria Ganer]“ [10]), die der Einsicht nichts hinzufügen, finden sich solche, die möglicherweise vorhandene Einsichten geradezu verstellen, so etwa wenn Joosten schreibt, daß „der Substanzbegriff bei Aristoteles […] nur in äußerlicher Hinsicht verwendet [wird], also noch nicht in Verbindung mit dem modernen Subjektbegriff […].“ (141) Abgesehen davon, ob es sachlich zutrifft, Aristoteles eine äußerliche Verwendung [!] des Substanzbegriffs zuzuschreiben, erhebt sich die Frage, inwiefern Aristoteles denn statt seines eigenen einen anderen – mit dem modernen Subjektbegriff verbundenen – Substanzbegriff hätte „verwenden“ können. Frank Kuhne (Hannover)
Vincenzo Vitiello: Hegel in Italia. Dalla storia alla logica. [Hegel in Italien. Von der Geschichte zur Logik.] Guerini e Associati: Milano 2003. pp. 318. (Istituto Italiano per gli Studi Filosofici. Hegeliana 38) Hegel is a thinker who in Italy has widely and continually been read and studied. His work has been translated rather early; his thought, more than in other countries, has never ceased to be inquired. As a matter of fact, there is an abounding historiography devoted to Hegel in Italian. In Italy he has aroused not only exegetical but also theoretical interests. As Vitiello claims, there have been entire “new philosophies that even though admitting their Hegelian derivation or at least inspiration, have been developed in alternative to Hegel’s system” (13). Moreover, Hegel has had a broad cultural influence, beyond the field of philosophy.
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The international well-known figures are those of Benedetto Croce and, to a lesser extent, Giovanni Gentile. The name of the latter fell in disrepute probably owing to his ideological and political involvement with fascisms. His thought has therefore been neglected for a long time. Besides those names, there are many others. In some cases they are exegetes of Hegelian thought, some other times they are historians, or historians of art, or of literature, who have been very strongly influenced by Hegel. In other cases they are thinkers unknown to the community of Hegelian professional scholars, but who, nevertheless, while developing their philosophical proposals, have offered an original reading of his thought. This volume of Vitiello does not draw up a history of Hegel’s reception in Italy. It does more and it does less. Vitiello does not intend to follow a strict chronological order; he does not aim to achieve a complete treatment of the topic, still less to furnish a full account of bibliographical references. The order pursued by the Author, rather, depends on themes and problems. Vitiello (using a Hegelian terminology) claims that he does not want to follow “the extrinsic time of chronology, but the intrinsic one of the concept” (13). He adds that his proposal is “to evaluate to what extent Italian philosophy inspired by Hegel managed to be up to the level of Hegel himself. […] It was not Hegel’ thought, but the problem tackled by Hegel, that serves as criterion of judgement. This criterion ought to be used for judging Hegel’s thought itself ” (14). Recently also in Italy a new deflationistic reading of Hegel’s thought has spread, which emphasises the insight that the Spirit is the “space of reason,” not a metaphysical entity. Vitiello seems to be far from this view. His book is engaged with classical metaphysical and idealistic issues. He debates the question of being, nothing, becoming, absolute and finite knowledge, the foundation and the beginning of philosophy. He considers those and other topics as still relevant. This book is divided into three parts, whose titles are “relationship,” “identity,” “beyond the being.” In them Vitiello interlaces theoretical and exegetical proposals advanced by some Italian thinkers, with some (more or less still open) issues of Hegelian philosophy. For instance, the first chapter is devoted to set out the debate between the already old Benedetto Croce and the younger Enzo Paci (better known as a phenomenologist). Vitiello expounds the points of accord, disagreement, mutual understanding and misunderstanding between them. In the following chapter, instead, Vitiello deals with the exegesis and theoretical evaluation of Hegel’s theory of judgement and of syllogism. The Author considers this issue as the crux of that debate. The second part is devoted to the question of identity. First of all Vitiello considers Giovanni Gentile’s philosophical proposal. Gentile undertook an important attempt of reform of dialectics and of the relationship between abstract and concrete concepts. “Gentile attempted a solution that is completely different from that of Hegel’s. He considers the intellect, i. e. the logic of identity and of non contradiction, not as the antecedent, which the reason negates in its own realization, but as the abstraction, which the concept itself (or reason) puts as its necessary determination. In other words: the finite, the de-terminate […] is not only what the infinite eternally negates, but also what the infinite puts in realizing itself. […] The relationship between abstractness and concreteness was, according to Gentile, the way out of the logic hinging upon identity. He recognized to the latter its
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validity, but only subject to the opposite logic of becoming, of in-finite” (18 f.).Vitiello on one side acknowledges the importance of Gentile’s philosophical proposal, but on the other side criticizes it considering it grounded upon a misinterpretation of Hegel’s Philosophy: “Gentile’s reading of the first categories of the Hegelian logic is more aimed at distinguishing himself from Hegel rather than at understanding him”. This circumstance allows us to consider a generally acknowledged fact: a theoretical reading of the thought of a philosopher is often misleading. If it can be unsatisfactory from a historiographical point of view, it can be very interesting from a theoretical one. The volume takes into consideration other exponents of actualism (the current stemming from Gentile), like Ugo Spirito and Guido Calogero. A case by itself is that of Emanuele Severino, who in a certain way was also influenced by Gentile. He is a prominent figure of the Italian contemporary philosophy. He is not properly an exegete of Hegel nor of other thinkers, albeit his confrontation with the classics has always been of the uttermost importance. He developed a peculiar metaphysics which has been labelled neo-parmenidian owing to its negation of every form of becoming. Severino’s thought hinges upon a very strong conception of the principles of identity and noncontradiction on the one side, and upon the insight that becoming violates them on the other side. So becoming is impossible, in spite of the whole philosophical tradition which has attempted to solve the ancient problem of becoming without infringing any logic principles. According to Severino becoming is, all notwithstanding, the impossible identification between being and nothing. Severino’s interest for Hegel is due to the fact that Hegel claims to deduce becoming in a purely logical way, and to the fact that Hegel, according to the Italian philosopher, attempts to conceive the identity of being as a result achieved trough becoming. According to Severino, Hegel essentially transposes into a dialectical framework the Aristotelian insight of becoming conceived of as passage between opposite terms. But the proposal to give a consistent account of becoming is doomed to failure. Vitiello deals closely whith the strong exegetical and theoretical thesis of Severino’s, acknowledging their importance but submitting them to a criticism. In doing this, he refers to Hegel’s doctrine of essence and theory of identity. The third part is mainly devoted to discuss the figure of Bertrando Spaventa.Vitiello claims that he has been “the main interpreter of Hegel, not only in Italy but also in Europe […], with respect not only to the nineteenth but also to the twentieth century” (21). Unfortunately, Vitiello complains, Spaventa is not much known beyond Italy, and the references to him made by international professional scholars belonging to the Hegel-Forschung are short and often unreliable. Spaventa’s interpretation of Hegel’s thought hinges upon the relationship between Phenomenology of Spirit and the Science of Logic. Vitiello highlights that the pivotal point of Spaventa’s insight is the relation between being and thought, i. e. the objectivity of the thought, or absolute idealism. Spaventa puts forward to this regard an original account of idealism, akin to that of Fichte’s. Not less important is his contribution to the debate (having in Trendelenburg, Werder and Fischer its main figures) concerning the first categories of the Logic. This is a never concluded dispute which cyclically recurs.
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The volume includes in appendix some writings devoted to critical neo-idealistic interpretations of Marx, of the philosophy of praxis and of history. Federico Perelda (Venezia/Padova)
Hans Friedrich Fulda/Christian Krijnen (Hgg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 178 S. (Studien zum System der Philosophie im Auftrag des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici und der Internationalen Gesellschaft ‚System der Philosophie‘ herausgegeben von Karen Gloy [Luzern], Hans-Dieter Klein [Wien], Wolfgang Schild [Bielefeld]. Band 7) Der Sammelband geht aus Beiträgen eines Kolloquiums hervor, das im Jahre 2004 in Heidelberg stattfand. Er widmet sich dem lange vernachlässigten Verhältnis zwischen Hegel und dem Neukantianismus unter dem Gesichtspunkt der Systemphilosophie, der für beide in ganz besonderer Weise bestimmend war. Eine allgemeine Einleitung („Systemphilosophie als Selbsterkenntnis?“ [9–23]) der Herausgeber führt mit Kurzfassungen der Beiträge in die Themenstellung des Bandes ein. Es folgen ein Beitrag von Hans Friedrich Fulda („Methode und System bei Hegel: Das Logische, die Natur, der Geist als universale Bestimmungen einer monistischen Philosophie“ [25–50]), Beiträge von Geert Edel („‚Es gibt hier keinen definitiven Abschluß‘: Cohens System – ein Torso oder wohlbegründet offen?“ [51–65]) und Reiner Wiehl („Reflexion und Korrelation als Methodenbegriffe in den Systemphilosophien Hegels und Cohens“ [67–93]), von Jürgen Stolzenberg („Selbsterkenntnis und Systemphilosophie. Hegel und der späte Paul Natorp“ [95–111]), Christian Krijnen („Selbsterkenntnis und Systemgliederung. Hegel und der südwestdeutsche Neukantianismus“ [113–132]), Angelica Nuzzo („Logik und System bei Hegel und Lask“ [133–158]) und Kurt Walter Zeidler („Selbstkontinuation, Korrelation und Dialektik. Bruno Bauch, Richard Hönigswald und Jonas Cohn“ [159–176]), abschließend Hinweise zu den Autoren. Leider fehlen Literaturverzeichnis, Sach- und Personenregister. Entsprechend der Themenstellung des Bandes sind die Beiträge notgedrungen überblickshaft und können nicht sehr ins Detail gehen. Dies wird von den Autoren jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt. Fulda gibt eine weitgespannte Übersicht über Hegels System, die viele Fragen, wohl allzu viele, ausklammert. Wiehls Beitrag hat eher den Charakter eines Essay, der auf Stellennachweise fast ganz verzichtet. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie weit ein Vergleich zwischen Hegel und dem Neukantianismus überhaupt führen kann, da die behandelten Hauptvertreter des Neukantianismus eigentlich Kantianer bleiben und nicht als Neuhegelianer zu betrachten sind. Ein besonderer Fall stellt sicherlich der späte Paul Natorp dar, der sich Hegelschen Positionen sehr annähert. Überraschenderweise gilt dies auch für Lask, dessen Verhältnis zu Hegel bisher kaum untersucht wurde. Insofern beanspruchen die Ausführungen Stolzenbergs und Nuzzos besondere Aufmerksamkeit. Eine andere grundsätzliche Frage betrifft die Bewertung der jeweiligen Standpunkte. Kann man – wie die Herausgeber Fulda und Krijnen – die
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Überlegenheit des Hegelschen Systemdenkens über das des Neukantianismus vertreten, fällt man nicht hinter zentrale Einsichten des Neukantianismus zurück? Der nicht auf Hegels Philosophie festgelegte Leser dürfte erhebliche Schwierigkeiten haben, Fuldas Thesen zu folgen: Die Neukantianer hätten sich einem von Kant ererbten Problem (Spannung zwischen Systemphilosophie und Selbsterkenntnis) nicht gestellt, weshalb ihre Auseinandersetzung mit Hegel bis zum heutigen Tag schief sei; Hegels Epistemologie sei entgegen der Auffassung der Neukantianer nicht monistisch, sondern pluralistisch und nicht-metaphysisch, d. h. Hegel vertrete wohl einen Monismus der Idee, nicht aber des Geistes (vgl. 25 f.). Nach Fulda haben die Neukantianer Kants Anknüpfung an die alte Transzendentalien-Lehre (unum, verum, perfectum) völlig ignoriert. Wie Kant in § 12 der Kritik der reinen Vernunft ausführt, ist in jeder Erkenntnis eines Objekts 1. eine qualitative Einheit des Begriffs; 2. Wahrheit in Ansehung der Folgen, die sich aus der Erkenntnis des Gegenstands ergeben (je zahlreicher die Folgen, umso mehr objektive Realität hat der Begriff); 3. Vollkommenheit, die darin besteht, die Vielheit der Folgen in die Einheit des Begriffs zurückzunehmen. Nach Fulda setzt Hegel hier an, indem er diesen Begriff des Erkennens in seiner Wissenschaft der Logik entfalte. Jede Fixierung auf einen bestimmten Gegenstand werde hier vorab unterbunden. Erst am Schluß der Logik zeige sich dann als Gegenstand des voll entfalteten Erkennens die absolute Idee. In einer Logik, die keine anthropologisch-psychologischen und bewußtseinsphilosophischen Voraussetzungen machen darf, kann sich die Idee des Erkennens allein in Abgrenzung von der Idee des Lebens begrifflich bestimmen, wie dies Hegel in seiner Lehre von der Idee am Schluß der Logik ausführt. Erkennen als Sich-selbst-Erfassen des Begriffs ist befreit von der Bindung an den Lebensprozeß. Doch führt die Idee des Guten wieder zum Leben zurück und schließlich zum Übergang der Logik in die Naturphilosophie. Spätestens hier tritt ein Problem auf, das die gesamte dialektische Bewegung in Frage stellt, denn der Übergang zur Natur kann nicht mehr auf logischer Notwendigkeit beruhen, da – so Hegels Anspruch – alle Bewegungsformen logischer Gedanken in der Logik durchgespielt worden sind. Hegel verweist hier auf einen Akt der Freiheit der absoluten Idee, nämlich sich als Natur frei aus sich zu entlassen. Fulda behauptet, dieser Ausdruck sei nicht metaphorisch zu nehmen (vgl. 37 f.). Das Entlassen der Natur in Freiheit hat nach ihm eine eigene Plausibilität, insofern die Idee das Andere ihrer selbst aus sich entlassen müsse, um daraus zu sich zurückzukehren. Dies dürfte – wenn man nicht gerade Neuplatoniker ist – schwer nachzuvollziehen sein, wie schon die Behauptung, daß die gesamte Logik nichts anderes als die Entfaltung der kantisch verstandenen Transzendentalien-Lehre sei. Die darauf folgende Darstellung der Geistphilosophie als in sich konsistente Präzisierung der am Schluß der Logik erreichten Selbsterkenntnis mutet auch mehr als ein Nacherzählen dessen an, was Hegel unternimmt, als der Erweis eines stringenten Zusammenhangs mit der Logik. Diese fehlende kritische Distanz ergibt sich offensichtlich aus einer starken Identifizierung mit Hegel: „Die in dieser Weise Hegelisch systematisierte Philosophie pauschal als Metaphysik zu verdächtigen oder gar zu verdammen war nicht gerechtfertigt. Sie verdient es, als philosophische Selbsterkenntnis ernst genommen und diskutiert zu werden. Wir haben bis heute keine bessere.“ (48)
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Auch für Krijnen steht die Überlegenheit Hegels fest. Dessen Systemgliederung habe Selbsterkenntnis zum Strukturprinzip erhoben, während Heinrich Rickert, Cohn und Bauch an die Stelle der Selbsterkenntnis „Selbstgestaltung“ (113) setzten. Rickert ebne die Differenz von objektivem und absolutem Geist ein, beide sollten im Kulturbegriff aufgehen. Die allgemeine Kulturalisierung des Geistbegriffs führe auch zu einer Kulturalisierung des Naturbegriffs; eine der Geistphilosophie vorgeschaltete Naturphilosophie, die wie bei Hegel als Prozeß der Geistwerdung der Idee verstanden wird, fehle. Daß mit dieser Konzeption – wie auch mit Hegels Philosophie des absoluten Geistes – eigene Probleme verbunden sind, erwähnt Krijnen nicht. Weitere, differenziertere Ausführungen zu Bauch und Cohn finden sich in Zeidlers Aufsatz. Als Gegenentwurf zu Hegels System stellt Edel Hermann Cohens Systemdenken vor, das zwar vom Standpunkt Hegels als Torso erscheinen muß, aber doch einen eigenen Systemanspruch erhebt. Man sollte nach Edel Hegels Ausspruch ernst nehmen, daß seine Logik die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt erfassen wolle, und nicht als romantische Überspannung abtun. Hegel vertrete einen starken Systembegriff mit den Kriterien der Abgeschlossenheit, Vollständigkeit und Autonomie. Demgegenüber sei der Systemanspruch Cohens bescheidener. Die Einheit des Systems hänge bei ihm nicht von einem Abschluß ab, sondern von der einheitlichen Grundlegung der Teile, die durch die Platonische Idee – interpretiert als Hypothesis – bereitgestellt werde (vgl. 57). Die Grundlage des Systems könne sich nicht selber legitimieren, sie reduziere sich auf eine Grundlegung. Die vom starken Systemanspruch Hegels geforderte Vollständigkeit des Systems – die wie bei Kant auch eine Vollständigkeit der Anzahl der Kategorien impliziere – wäre nach Cohen eine offene Wunde der Logik. Das System müsse notwendig offen bleiben, da Fortschritt der reinen Erkenntnis und Fortschritt der Wissenschaft sich gegenseitig bedingten. Die letzten Grundlagen seien Erzeugnisse des Denkens, Hypothesis, Grundlegungen, die dem Wandel der Zeit unterworfen seien. Indem die Begriffe Denkforderungen befriedigten, stellten sie neue; es gebe keine letzte Antwort (vgl. 65). Wiehl nennt sowohl Gemeinsamkeiten der beiden Systemphilosophen Hegel und Cohen als auch Differenzen zwischen ihnen. Beide seien Systemphilosophen im eminenten Sinn, betonten die Bedeutung der Methode, stünden in der Tradition Platons und Aristoteles’ und transformierten diese mit Kant in eine Grundlegungswissenschaft. Als entscheidende Differenz sei festzuhalten, daß Hegels System im absoluten, sich wissenden Geist abschließe, Cohens im Kulturbewußtsein, in dessen Mittelpunkt der ideale Mensch stehe. Cohen verwerfe ausdrücklich Hegels Theorie der Selbstbewegung des Begriffs, in der er einen Rückfall in die dogmatische Ontologie sehe (vgl. 76), und entwickle stattdessen eine Logik des Ursprungs. Bei Hegel werde die Kategorie der Substanz aufgehoben (von der Substanz zur Subjektivität), bei Cohen aufgelöst (von der Substanz zur Korrelation). An die Stelle des Substanzbegriffs trete bei Cohen der der Bewegung, der in Korrelation zum Begriff der Erhaltung stehe. Korrelation sei eine Wechselbeziehung, in der Relata sich in ihrer Unvergleichbarkeit erzeugten und erhielten. Die Logik der Korrelation ziele nicht wie bei Hegel auf Vermittlung bzw. Hierarchisierung, sondern auf Gleichursprünglichkeit, d. h. sie stifte eine unverwechselbare Zusammengehörigkeit des Verschiedenen. Hegels Philosophie interpretiert Wiehl als
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Reflexionsphilosophie höherer Stufe, deren Ziel die sich begreifende, in sich vollendete Subjektivität sei. Wie schon Edel ausgeführt hat, wolle Cohen nicht ein vollendetes, geschlossenes Systemganzes konstruieren, sondern von Aufgaben ausgehen, so daß es zu keinem endgültigen Abschluß komme. Bei der Frage der Offenheit bzw. Abgeschlossenheit des Systems will Wiehl differenzieren. Der Offenheit des Cohenschen Systems stehe die Abgeschlossenheit des Hegelschen Systems gegenüber, die jedoch mit einer inneren Unabgeschlossenheit einhergehe, insofern die Elemente des Systems nicht nur einen bestimmten logischen Ort im Ganzen hätten, sondern auch Allgegenwärtigkeit an jedem anderen logischen Ort des Systems, woraus eine äußere Unabgeschlossenheit der Deutung des Systems entspringe. Es gibt also nach Wiehl eine Unabgeschlossenheit des Hegelschen Systems hinsichtlich seiner Interpretierbarkeit. Dieser Beobachtung Wiehls kann man zustimmen, wenn man auf die Rezeption der Hegelschen Philosophie schaut, die zu immer neuen Interpretationen gelangt. Dem möglichen Vorzug innerer Unabgeschlossenheit steht der starke Systemanspruchs Hegels entgegen, der nach Cohen auf der nicht zu akzeptierenden Theorie der Selbstbewegung der Begriffe und dem Abschluß des Systems im absoluten, sich wissenden Geist beruhe. Bei Hegel gebe es keine echte Revidierbarkeit des Systems, bei Cohen sei es nicht ausgeschlossen, daß der Ausgangspunkt des Systems, die Logik des Ursprungs, noch tiefer gelegt werden könnte (vgl. 82). Ein Verweis auf Natorps Cohen-Rezeption wäre hier angebracht gewesen, war doch dessen gesamtes Bemühen auf eine solche Tieferlegung ausgerichtet. Der philosophischen Entwicklung Paul Natorps widmet sich Stolzenbergs Beitrag, Ausführungen seines Buchs: Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Hermann Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin Heidegger. Göttingen 1995, zusammenfassend. Stolzenberg zeigt, wie die Auseinandersetzung Natorps mit seinem Lehrer Cohen immer mehr zu einer Abwendung von dessen Ansatz führt und in einer Spätphilosophie gipfelt, die ihren Niederschlag in den Vorlesungen über praktische Philosophie, die Natorp noch vor seinem Tod im Jahre 1924 zum Druck gegeben hat, und den erst im Jahre 1958 veröffentlichten Vorlesungen über philosophische Systematik (Sommersemester 1922 und 1923) findet. Letztere weisen eine unübersehbare Nähe zu Hegels dialektischer Philosophie auf (Idee einer allgemeinen Logik, Anfang des Systems mit dem reinen Sein, Bedeutung des Widerspruchs, der Dialektik). Gleichwohl täuscht sich nach Stolzenberg Natorp, wenn er erkläre, daß seine Philosophie mit der Hegelschen „‚der Substanz nach haarscharf‘“ (100) zusammenfalle. Bei näherem Zusehen werde deutlich, daß Natorp nicht nur das reine Sein des Anfangs, Widerspruch und Dialektik anders als Hegel versteht, sondern in Weiterentwicklung seiner frühen Psychologie zu einer Theorie der Subjektivität gelange, die eher Johann Gottlieb Fichte als Hegel nahe steht. Entsprechend beruft sich Natorp in den Vorlesungen über praktische Philosophie nicht auf Hegel, sondern auf Fichte, mit dem und fast nur mit dem er sich in sehr wesentlichen Punkten einig wisse (vgl. 111). Nicht nur der späte Natorp, sondern auch der Rickert-Schüler Lask steht für eine Entwicklung im Neukantianismus hin zu Hegel, die aber dann doch wieder ganz eigene Ziele verfolgt. Lask nimmt in seiner Schrift Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre (1911) einen objektivistischen Standpunkt der Logik ein, der dem der Hegelschen Logik ähnelt. Gleichwohl will er Kants transzendentale Methode beibehalten. Nach
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Nuzzo versucht Lask, „innerhalb eines Hegelischen Monismus des objektiven Gedankens – diesmal als Sphäre der Geltung aufgefaßt – wieder den Dualismus von Form und Inhalt zu etablieren, um das Denken zur systematischen Form der Selbsterkenntnis zu bringen.“ (143) Gegen Hegel betone Lask die Unselbständigkeit des Logischen, das immer auf ein Material bezogen bleibe, welches nicht wie bei Kant ein bloß Gegebenes sei, sondern von der Form betroffen, wenn auch nicht von ihr durchdrungen sei. Darin, daß alles Material von logischer Form betroffen sei, bestehe die spezifische Objektivität der Logik Lasks – die Panarchie des Logos im Unterschied zu Hegels Panlogismus (vgl. 152). Weil aber alles logisch Betreffbare logisch undurchdringlich bleibe, könne es kein abgeschlossenes System geben. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Hegels Begriff des reinen Seins besitzt der von Lask eingeführte Begriff des logisch Nackten, das dann aber doch ganz anders als das reine Sein Hegels verstanden werden muß. Das logisch Nackte bezeichnet die Grenze der logischen Betreffbarkeit des Materials, das Irrationale, das nicht das logisch Fremde (Alogische) darstellt, sondern ein Sein, das lediglich in ein Verhältnis zur logischen Form tritt. Lask versucht hier die Blindheit des bloßen Materials bei Kant durch einen Begriff zu ersetzen, der sowohl die Betroffenheit des Materials durch die Form als auch dessen Undurchdringlichkeit zum Ausdruck bringt. Zeidlers Beitrag stellt eine Richtung des Neukantianismus dar, die neben dem Marburger und Südwestdeutschen weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich den realistischen Neukantianismus von Otto Liebmann, Alois Riehl, Bauch und Hönigswald. Zeidler konzentriert sich auf Bauch (unter dem Stichwort Selbstkontinuation), Hönigswald (Stichwort Korrelation) und Cohn (Stichwort Dialektik). Bauch suche die Problemstellung von Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft durch eine objektivistische Deutung der Kantischen Prinzipien der Homogenität, Spezifikation, Kontinuität zu lösen. Homogenität und Spezifikation würden durch das Prinzip der Kontinuität vereinigt, das als universelles Prinzip der Natur überhaupt zugrunde gelegt werde. Im Zuge dieser Umdeutung des regulativen Prinzips der Kontinuität in ein konstitutives ontologisches Prinzip erhalte der Kantische Status der Idee als solcher eine ontologische Bedeutung (vgl. dazu auch Krijnen, 125). Entsprechend stellt Bauch Leibniz, Kant, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel und Hermann Lotze unter den Leitbegriff eines deutschen Idealismus, dem er einen abstrakten Idealismus und Realismus entgegensetze. In diesen Philosophien sei die ewige Idee-Bedingtheit des Wirklichen zur Einsicht gelangt (vgl. 163). Mit der Idee als allerrealstem Wesen, deren Selbstkontinuation und Diskretion, stehe – so betont Zeidler – Hegels absolute Methode zur Verhandlung. Hönigswald verteidige den realistischen Denkansatz seines Lehrers Riehl, der trotz Anklänge an einen naiven Realismus auf die Bedeutung des Begriffs einer gegebenen Mannigfaltigkeit aufmerksam gemacht habe. Dieser Begriff führt zu Fragen der Psychologie (Korrelation von Bedeutung und Bedeutungserlebnis, Korrelation von Ich-Bestimmtheit und Ist-Bestimmtheit, Erlebnis und Geltung, Prinzip und Faktum). Kritisch betrachte er die Transzendentalphilosophie, die psychologische Fragen ausklammere. Das Problem der Gegebenheit sehe er als ein von Hegel und der Romantik zwar erkanntes, aber nicht gelöstes Problem an. Hegel habe nicht ausreichend den Gedanken der Gegenständlichkeit geklärt, der eine Verdeutlichung von Grundbegriffen der Psychologie erfordere. Gemeint sind Begriffe wie Erleben, Denkbarkeit, Sinn, die
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nach Hönigswald Wechselbegriffe darstellen. Später erkennt Hönigswald den Ort, wo Logik und Psychologie innerhalb der Logik zusammenträfen: im Schluß und in der Idee. Also auch hier – wie bei Bauch – gipfele die Philosophie in einer Ideenlehre. Aus der Einsicht in die Bedeutung des Schlusses geht Hönigswald aber nicht wie Hegel zu einer spekulativen Logik über.Vielmehr sei der Zusammenhang von Urteilsinhalt, Idee und Schluß ein solcher von Urteilen, d. h. ein Beweisgang, der an einen Inhalt geknüpft sei, der sich als überschaubare Ganzheit manifestiere (vgl. 168). Gegen Hönigswald wendet Zeidler kritisch ein, daß die aufgewiesenen Korrelationen ebenso unbestimmt blieben wie die von Bauch beschworene Selbstkontinuation und Diskretion der Idee; Hönigswalds Korrelationsphilosophie bleibe undialektisch (vgl. 172 f.). Den Grund dafür sieht Zeidler einerseits darin, daß der Zusammenhang von Urteils- und Schlußlehre ungeklärt bleibe, andererseits in einer Psychologie, die an die Stelle der logischen Analyse des Ich-Begriffs eigentlich eine Analyse des Ich-Phänomens setze. Als Phänomen entzieht sich das Ich aber der Stetigkeit, dessen Kontinuität kann dann nicht begründet werden. Cohn setzt hier in seiner Auseinandersetzung mit der Denkpsychologie Hönigswalds an. Er unterscheidet zwischen Ich (Akteinheit) und Selbst (Gesamtheit unseres Wissens); beide Formen des Ich seien in einer bipolaren Dialektik aufeinander bezogen. Dieser kommt nach Cohn eine fundamentale Rolle für eine jede dialektische Philosophie zu, da die Dialektik des Ich alle anderen Formen der Dialektik in sich schließe. Weil Hönigswald einer undialektischen Korrelationsphilosophie verhaftet bleibe, kommt die angestrebte Theorie der konkreten Subjektivität nicht zustande; es bleibe eine Kluft zwischen Psychologie und Philosophie bestehen (vgl. 176). Abschließend kann man festhalten, daß der Band gut in Fragestellungen des Neukantianismus einführt, die sich mit denen Hegels in mancher Hinsicht berühren, aber nicht zu Hegels Systemdenken zurückführen. Wolfgang Bonsiepen (Bochum)
Dietmar H. Heidemann (Hg.): Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2002. 310 S. (problemata 146) In der Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis wendet das Denken sich auf sich selbst zurück. Hat es zuvor den Gegenstand der Erkenntnis ins Auge gefaßt, so faßt es nun sich, das Subjekt der Erkenntnis, ins Auge. Am Subjekt tritt aber die Dualität erneut zutage, indem einerseits, intentione recta, das Selbst als Gegenstand der Reflexion aufgefaßt und andererseits, intentione obliqua, der Selbstbezug als Tätigkeit bestimmt wird. Im Selbstbezug konstituiert sich das Subjekt. In dem ‚Denken der neueren Zeit‘ tritt es ins Zentrum der metaphysischen Betrachtung. Es stellt den Angelpunkt für die wissenschaftliche Erklärung des Denkens dar. Leibniz verknüpft den Begriff der Subjektivität eng mit „dem Versuch einer Begründung von Denken und Sein“. (Vgl.: Burkhard Tuschling: Begriffe, Dimensionen, Funktionen der Subjektivität: Leibniz versus Locke.
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57–84; hier 58.) Erst in der Philosophie Kants etabliert sich die Theorie des Subjekts als eine „besondere Logik“ (ebd.), die den spezifischen Problemen seiner Konstitution gewidmet ist. Der metaphysische Begriff des Subjekts präformiere, so Burkhard Tuschling, seinen transzendentalen Begriff. Indem Leibniz das logische von dem empirischen Ich trenne, verleihe er ihm jene Konstanz, die es instand setze, für die Wahrheit dessen einzustehen, was es erkenne. Die Kritik der reinen Vernunft treibe den Prozeß der Formalisierung des Ich voran. Das logische Ich sei demnach kein Gegenstand der Erkenntnis. Ihm trete, sofern es sich dennoch auf sich bezieht, das Ich in anderer Gestalt, der des empirischen Ich, entgegen. Das Ich sei in sich geschieden, es zerfalle in ein empirisches und ein transzendentales Ich. Jenes stehe unter der Beobachtung des transzendentalen Ich, des „unpersönliche[n] Ego“, das, so Xavier Tilliette, „unbeweglich, unparteiisch, geheimnisvoll, […] allen Wandlungen des Bewußtseins beiwohnt“. (Vgl.: Xavier Tilliette: Subjektivität als Einsamkeit. 227–240; hier 239.) An seiner Einheit und Formalität entzünde sich die Kritik des Subjekts. Die Theorie des Subjekts etabliert sich als eine besondere Logik, doch bleibt das Subjekt an das Objekt im doppelten Sinn gebunden. Erstens tritt es aus seiner notorisch verdunkelten Abhängigkeit von der Welt nicht heraus; zweitens verwandelt es sich unter der Hand in ein gegenständliches Subjekt, so daß die Theorie ihr Ziel, die Subjektivität des Subjekts zu erfassen, verfehlt. Um dieser Gefahr zu entgehen, widmet der vorliegende Sammelband sich den „Problemen der Subjektivität“, die in vierzehn Beiträgen zur Philosophie des Rationalismus und Idealismus, zur Phänomenologie und Existenzphilosophie sowie zum subjekttheoretischen Gehalt des Neuplatonismus vergegenwärtigt werden. Die historische Betrachtung ist von systematischer Relevanz, denn indem die Widersprüche der traditionellen Begriffe der Subjektivität dargestellt werden, wird der Gegenstand, Subjektivität, indirekt, vermittels der Reflexion ihrer Begriffe, erfaßt. In ihnen zeigt sich der flüchtige Gegenstand, der sich dem direkten Zugriff entzieht. Indem ihre Mängel – diejenigen der traditionellen Begriffe – aufgedeckt werden, gerät die Subjektivität selbst in den Blick. Der Herausgeber, Dietmar Heidemann, kennzeichnet den Terminus Subjektivität „als facettenreiche Komplexion traditioneller Problembegriffe“. (Vgl.: Heidemann: Einleitung. Die Subjektivität und ihre Problemfelder. 11–34; hier 12.) Diese Komplexion verbürge die Beständigkeit der Subjektivität: Sie sei unhintergehbar. Wenn in der Geschichte der Philosophie „systematisch ganz unterschiedlich motivierte Versuche gemacht worden [sind], die philosophische Grundbedeutung von Subjektivität begrifflich zu erfassen“ (ebd.), so verweisen nach Heidemann just diese divergierenden Versuche auf eine ‚Grundbedeutung von Subjektivität‘. Der Begriff der Subjektivität werde so aus dem Kontext herausgelöst, in dem er jeweils bestimmt und beschränkt, in dem etwa das ego cogito in der res cogitans fundiert, das logische dem empirischen Ich gegenübergestellt, der Begriff des Subjekts in denjenigen des Geistes überführt worden sei. Er sei in eben dem Maße beschränkt worden, in dem er sich zu einem Schlüsselbegriff des neuzeitlichen Denkens entwickelt habe. Der Begriff der Subjektivität schließt deren immanente Kritik ein. Wird sie als unhintergehbar festgehalten, dann verfällt sie der Abstraktion. Ausgerechnet in der Abstraktion soll sich nun ihre Aktualität erweisen. Heidemann sieht als aktuell an, was
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sich als ‚Grundbedeutung von Subjektivität‘ sedimentiert hat. So hält er sich an das, was als unbestreitbar gilt und beruft sich auf Thomas Nagel, der in seiner Studie The view from nowhere (1986) ebenfalls an unseren Sinn für Evidenz appelliere, indem er die Subjektivität als eine Tatsache des Bewußteins kennzeichne. Heidemann zitiert: „The subjectivity of consciousness is an irreducible feature of reality – without which we couldn’t do physics or anything else“ (13), und fährt fort: „Es ist Nagels Verdienst, anhand der Untersuchung der bewußtseinsphilosophischen Wie ist es, X zu sein?-Frage starke Argumente für die Irreduzibilität der Subjektivität des Bewußtseins geliefert zu haben.“ Nagel habe „das ernsthaft kaum zu bestreitende Phänomen der Subjektivität“ zu einem „unaufhebbaren theoretischen Bezugspunkt“ (15) gemacht. Die Autoren des Sammelbandes bedürfen dieses Bezugspunkts allerdings nicht. Die Mehrzahl der Aufsätze nimmt vielmehr Bezug auf einen logischen Begriff der Subjektivität, der in Opposition zu der Auffassung steht, Subjektivität bezeichne primär eine Tatsache des Bewußtseins. Die Behauptung, sie stelle ein irreduzibles ‚feature of reality‘ dar, ist ebenso vage: ungeeignet, ihren erkenntnistheoretischen Status zu klären, wie die Behauptung, daß wir ‚ohne‘ die Subjektivität des Bewußtseins nicht Physik treiben könnten; denn gerade wenn wir Wissenschaft treiben, agieren wir nicht als Subjekt qua individuelles Bewußtsein, sondern als Teilhaber des allgemeinen verallgemeinerbaren Wissens, dessen subjektiver Gehalt keineswegs offenkundig ist. In dem Sammelband werden grundlegende Probleme einer Theorie der Subjektivität erörtert. Es handelt sich erstens um das Problem der Regression der subjektbezogenen intentio obliqua auf die objektbezogene intentio recta. Diese letztere Intention, die den äußeren Gegenständen gilt, wird Karen Gloy zufolge dem Selbstbewußtsein unterschoben. (Vgl.: Gloy: Der Begriff des Selbstbewußtseins bei Kant und Fichte. 125– 140.) Kant deklariere es „zu einem Sonderfall von Gegenstandsbewußtsein“ (127). Der Selbstbezug werde als denkender Selbstbezug, als „Sich-selber-Denken“ gefaßt, so daß das Subjekt intentional auf ‚sich‘ als auf ein Objekt bezogen sei. Dem Selbstbewußtsein werde die Subjekt-Objekt-Struktur unterlegt. Konstituiert sich das Selbstbewußtsein intentione recta im Bezug auf das Objekt der reflexiven Handlung, so wirft dies zweitens das Problem der unendlichen Iteration in seiner Begründung auf. Sie ist der logische Ausdruck dessen, daß das Selbstbewußtsein sich, seine Entstehung und aktuelle Tätigkeit, nicht direkt erfassen kann. Sein Blick richtet sich auf das Selbstbewußtsein, sofern es Gegenstand der Selbsterkenntnis ist. Mit diesem Gegenstand muß es sich stets neu identifizieren. Dies setzt freilich voraus, daß es sich mit sich: mit der dinghaften Gestalt seiner selbst, schon vorab identifiziert hat – eine Identifikation, die begründet werden muß und die, solange die Subjekt-ObjektStruktur besteht, doch nicht begründet werden kann. Das Problem der unendlichen Iteration resultiert aus dem Anspruch durchgängiger Selbstbestimmung, den das Subjekt erhebt. Im Ich liegt die Vorstellung der Präsenz und der vollkommenen Einheit mit sich beschlossen. Von dieser Vorstellung zehrt das Subjekt, sofern es egologisch verfaßt ist. Es gibt vor, daß es sich selbst konstituiert: nicht bloß sich durchschaut, sondern sich geradewegs erschafft. Es leugnet die inneren und äußeren Bedingungen seiner Existenz. Dies manifestiert sich in der logischen Starrheit des Subjekts, das die Form der Einheit besitzt, die subjektive Form par excellence. Zeit-
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und wandellos, habe es an den „Wandlungen des Bewußtseins“ (Tilliette, 239) nicht teil; es werde zu einem ‚Ding‘. Drittens besteht also das Problem, daß im Subjekt, das egologisch bestimmt ist, das Ich sich gegenüber dem Bewußtsein verselbständigt. Die hier versammelten Aufsätze gehen auf Vorträge zurück, die im Rahmen einer Tagung zu Ehren Klaus Düsings an der Universität Köln gehalten worden sind. Die Aufsatzsammlung knüpft an „die vielfältigen historischen und systematischen Forschungen zur Philosophie der Subjektivität“ (9) an, in denen Düsing sich mit der sprachanalytischen, (post-) strukturalistischen und gesellschaftstheoretischen Kritik des Subjekts befaßt. Die immanente Version solcher Kritik, die in der Theorie der Subjektivität selbst entspringt, besagt, daß deren Selbstbeziehung in einer unendlichen Iteration sich verlaufe bzw. in einem Zirkel befangen bleibe – eine Annahme, die Düsing in seinem Buch: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997, zu widerlegen versucht. Konkrete Subjektivität erschöpfe sich nicht in der Selbstbeziehung; sie trete in unterschiedlichen Gestalten auf, die aufeinander bezogen werden müßten. Es gehe nicht darum, subjektive und objektive Aspekte der Subjektivität zur Deckung zu bringen, sondern eine Verlaufsform für deren besondere Ausprägungen zu finden. Düsing zeichnet die Phasen ihrer Entwicklung nach, die nicht in jedem Fall vollständig durchlaufen werden, so daß die konkrete Subjektivität ein Moment der Kontingenz bewahrt. Ihr genetischer Begriff umfaßt verschiedene Modelle des ‚Horizontmodells‘, das besagt, daß wir uns in unseren gegenständlichen Vorstellungen der subjektiven Teilhabe nur vage bewußt seien, bis hin zum Modell ‚voluntativer Selbstbestimmung‘. Die Entwicklung der Subjektivität vollzieht sich nicht teleologisch, sondern sie prägt sich individuell aus. Ein Teil der Aufsätze greift die vorgelegten Fragen Düsings auf. Karen Gloy und Daniel O. Dahlstrom (Vom Ereignis der Subjektivität. 203–225) befassen sich mit der Reflexivität des Ich, die den Zirkeleinwand provoziert. Dahlstrom weist ihn zurück, indem er sich der Heideggerschen Konzeption der Subjektivität versichert, die bezeugen soll, Subjektivität sei auch jenseits der Reflexion anzutreffen. – Die transzendentale Philosophie organisiert die mannigfaltigen Differenzen, die der Subjektivität inhärieren, im Hinblick auf einen einzigen Gegensatz. Nach Manfred Baum (Logisches und personales Ich bei Kant. 107–123) trenne Kant das logische Ich von dem empirischen Ich ab, so daß sämtliche Differenzen diesem Gegensatz unterworfen würden, der die Einheit des logischen Ich begründe. Silvestro Marcucci (Transzendentale Subjektivität und Verstandeskategorien in der Erkenntnistheorie und der Ästhetik Kants. 141–150) behauptet, in der Kritik der Urteilskraft komme eine Subjektivität zum Zuge, die weniger fest umrissen sei als die egologisch strukturierte Subjektivität. Das ästhetische Urteil stelle die universale Bedeutung des theoretischen Urteils in Frage, das Primat des logischen Ich werde gebrochen. Mario Caimi (Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Kants transzendentaler Deduktion. 85–106) untersucht, ob Kants Lehre von der Selbstaffektion, in der empirisches Bewußtsein und logische Form sich verschränken, die epistemische Einheit des Ich wiederherzustellen vermag. In seiner sprachanalytischen Untersuchung zeigt Hans-Dieter Klein (Subjektivitätstheorie als dialektische Monadologie. 151–161), der Begriff des Ich sei unentbehrlich. Zwar sei das Ich antinomisch strukturiert, doch vermöge es seine Antinomien – die Tatsache, daß es der Form
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und dem Inhalt nach „selbstwidersprüchlich und zugleich vage“ (155) sei – beständig zu korrigieren. Ludwig Siep (Subjektivität und konkrete Ethik. 165–183) behauptet, eine zeitgemäße „konkrete Ethik“ müsse sich von dem Begriff der Subjektivität lösen. Adriaan Peperzak (Subjektivität bei Hegel und Levinas. 185–199) stellt der Konzeption einer scheinhaften Intersubjektivität, die in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse anzutreffen sei, die Konzeption der Dialogizität nach Levinas entgegen. Die Untersuchungen stehen in der Tradition der Selbstkritik neuzeitlicher Subjektivität. Einzig ein Begriff der Subjektivität, der die Kritik – diejenige ihrer Spaltung und der Hypostasierung ihrer logischen Struktur – in sich aufgenommen habe, sei imstande, den veränderten Status des Subjekts heute zu reflektieren. Die Widersprüche, die in der Theorie des Subjekts zutage treten, zeigen, daß seine Konstitution und „perennierende[ ] Selbstkorrektur“ (Klein, 155), die sich im Modus der (Selbst-)Kritik vollzieht, es zu zersetzen droht. Die Kritik wird darum beständig zugunsten seiner positiven Setzung zurückgedrängt. Die Reflexion dieser Bewegung zeichnet die aktuelle Theorie der Subjektivität aus. Die Spaltung von logischem und empirischem Ich reflektiert die Widersprüche, die dem Subjekt inhärieren. Karen Gloy zeigt, daß diese Widersprüche in der transzendentalen Philosophie registriert und durch konsequente Aufteilung behoben werden (sollen). Im cartesianischen Begriff des ego cogito verschmelze das reine Denken mit dem empirischen Bewußtsein, das ego cogito verfalle dem Zweifel. Kant trenne darum das Denken von dem empirischen Bewußtsein ab. Das logische Ich, das jenseits der Sphäre des empirischen Bewußtseins angesiedelt sei, könne nicht erkannt, lediglich gedacht werden. Fichte, der untersuche, wie das logische Ich sich konstituiere, verwerfe das „Reflexionsmodell“ (129) des Selbstbewußtseins, denn die rückbezügliche Begründung des Ich erscheine ihm als mangelhaft. Die Transformation des Reflexions- in ein Produktionsmodell solle der Verdinglichung des Ich entgegenwirken, das wesentlich produktiv sei. Diese Transformation könne innerhalb der Grenzen des Ich nicht vollzogen werden: Die Wissenschaftstheorie weise das Wissen als den Träger der Selbstbeziehung aus. Die Kritik des Subjekts, seiner „egologische[n] Struktur“ (127), entspringe also in der transzendentalen Theorie des Subjekts. Kant bestimmt nach Gloy das Selbstbewußtsein als ein „denkendes Selbstverhältnis“ (ebd.), das stets auf der Höhe dessen agiere, was es aktuell unternehme oder denke. Diese Bestimmung rufe den Zirkeleinwand hervor. Gloy charakterisiert den Zirkel des Selbstbewußtseins folgendermaßen: „[D]amit das Ich qua Subjekt sich mit sich qua Objekt identifizieren kann, muß es bereits ein Wissen von dieser Identität mitbringen. Da diese aber gerade durch Selbstreflexion zustande kommen soll, setzt sie in einer petitio principii voraus, was sie erst erklären soll.“ (128) Kant sei sich dieser Problematik bewußt. Er bestreite, das Ich habe erkannt, seine „substantiale Existenz“ könne bewiesen werden; er bestreite, „daß ich als Object ein für mich selbst bestehendes Wesen oder Substanz sei.“ (Vgl.: Kritik der reinen Vernunft, B 407; zit. bei Gloy, 137.) Ich nehme, sofern ich versuche, mich, das Objekt, zu erkennen, nur meine disparaten Eigenschaften wahr, die allein in der Anschauung gegeben sind. Sofern das Ich als Subjekt fungiert, besitzt es synthetische Einheit. Diese ist ein logischer Sachverhalt, darum ist sie der Anschauung
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entzogen. Die Eigenschaften des Objekts wiederum fügen sich nicht zur Einheit des Subjekts. Das Ich-Objekt korreliert nicht mit dem Ich-Subjekt. Die Anschauung kann mit dem Begriff nicht verknüpft werden, das Ich erkennt sich nicht selbst. Diese restriktiven Bestimmungen zeigen an, daß das Ich denke die Subjekt-ObjektStruktur durchbricht. Nach Gloy bleibt es ihr verhaftet. Zwar stellt sie die transzendentale Kritik an der rationalen Seelenlehre, derzufolge das Ich, ein ‚für mich selbst bestehendes Wesen‘, existiert, ausführlich dar; sie betont jedoch, diese Kritik schütze Kant nicht davor, das Ich denke zu einem Gegenstand der Reflexion herabzusetzen. Das Selbstbewußtsein manifestiere sich als ein denkendes Selbstverhältnis; in ihm denke das Ich sich selbst. Dem Selbstbezug werde so die „Subjekt-Objekt-Struktur“ (128) implantiert, die das Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins charakterisiere. Diese Behauptung läßt allerdings die transzendentale Unterscheidung von realer und begrifflicher Definition außer acht. In seinem Buch Selbstbewußtseinsmodelle argumentiert Düsing, das Ich denke sei keineswegs dem Reflexionsmodell gemäß strukturiert, denn es werde nur mittelbar – sofern es meine Vorstellungen begleite – erfaßt. Es sei darum nicht Gegenstand der Reflexion: objektives Relatum einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern lediglich Begleiter objektiver Vorstellungen. Als begleitendes Ich erscheine es am Horizont unserer Vorstellungen und rücke sukzessive ins Zentrum der Aufmerksamkeit. (Vgl.: Selbstbewußtseinsmodelle. 105.) Es sei nicht Resultat der Reflexion, sondern umfasse den gesamten Prozeß, in dem Subjekt und Objekt aufeinander bezogen würden, ohne je zur Übereinstimmung zu gelangen. Das Ich denke unterlaufe die Subjekt-Objekt-Struktur. Gloy bestreitet dies, muß es bestreiten, weil sie das Ich in die Perspektive des Selbstbewußtseins rückt – eine Perspektive, die in der transzendentalen Theorie des Subjekts schrittweise überwunden wird. Fichte ersetzt das Reflexions- durch das Produktionsmodell, „bei dem das Ich sich selber erzeugt und nicht nur als vorgegebenes reflektiert“ (129), um so den unendlichen Regreß der stets mißlingenden Identifikation von Ich-Subjekt und Ich-Objekt zu verhindern. Gloy wendet ein, daß auch das Ich, das sich selbst erzeugt, der SubjektObjekt-Struktur unterliege. Das Produktionsmodell orientiere sich am Reflexionsmodell. Gloy konstatiert die „einsinnige[ ] Gerichtetheit, wie sie zwischen Produktion und Produkt oder Verursachung und Wirkung besteht.“ (Ebd.) Diese zeige den intentionalen Charakter des Vorgangs an. Wer etwas – auch: sich selbst – produziere, bringe es in bestimmter Weise hervor. Das Ich produziere sich, es „‚setzt sich als sich setzend‘“, so daß der „Handlungsimpuls in sich zurückläuft und sich so auf seine eigene Aktuosität bezieht. […] Rückbezüglichkeit ist also nicht eliminiert, sondern kehrt im Rahmen der Theorie der Selbstproduktion wieder.“ (130) Das Produkt sei mit der Produktion: mit dem, was sie angestoßen habe, mit dem Ich, identisch. In der Behauptung, die Produktion sei ‚einsinnig gerichtet‘: Sie ziele darauf, ein bestimmtes Produkt, das Ich, in bestimmter Weise hervorzubringen, sei aber die Diagnose, die Selbstproduktion erweise sich als selbst- bzw. als rückbezüglich, schon enthalten. Sie erscheine dann als rückbezüglich, wenn die Produktion als ein intentionaler Akt aufgefaßt werde. Diese müsse jedoch als ein durchaus ungerichteter, nicht-intentionaler Akt begriffen werden, der weder ein „einseitige[s] Dependenzverhältnis“ (129) noch ein Verhältnis der „Gleichursprünglichkeit“ (131) von Produktion und Produkt begründe. Der Gedanke selbsttä-
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tiger Produktion werde in der Wissenschaftslehre entfaltet: Fichte vermeide es, die Produktion an das Ich zurückzubinden. Kant logifiziert das Ich, indem er es auf seine kognitiven Funktionen reduziert. Es wird von dem zeitlich bestimmten Bewußtsein abgetrennt und als zeitlos festgehalten. Aus dem konsequenten Vollzug dieser Trennung erwächst der immanente Widerspruch der transzendentalen Philosophie: Soll das Ich durchgängig logisch bestimmt werden, so muß es in letzter Instanz in seine Bestimmungen aufgelöst werden; andernfalls macht es sich als das dinghaft Eine wieder geltend, das dem lebendigen Ich gegenübertritt. Kant treibt die Zweiteilung des Ich voran. Zugleich sieht er es darauf ab, die Einheit der logischen und empirischen Momente wiederherzustellen. Integrative Funktion komme, so Manfred Baum, dem personalen Ich zu. In seinem Aufsatz untersucht er das Verhältnis von „intellektuelle[m] Selbstbewußtsein“ (108) und faktischem „Einheitsund Identitätsbewußtsein“ (109). Das intellektuelle Selbstbewußtsein verbürge, daß wir uns nicht allein unserer Vorstellungen bewußt seien, sondern zugleich jene Instanz ins Auge faßten, die sich dieser Vorstellungen bewußt sei. Der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zufolge sei das intellektuelle Selbstbewußtsein das Bewußtsein derjenigen „‚Handlung, welche das Denken ausmacht‘“ (vgl.: Kant: AA VII, 141; zit. bei Baum, 111) – einer Handlung, die sich nach logischen Regeln vollziehe. Das Bewußtsein dieser Handlung sei „‚blos ein logisches (reines) Bewußtsein‘“ (vgl.: ebd., 142; zit. bei Baum, 111), das in der Preisschrift sog. „logische Ich“, das sich dieser Regeln bewußt sei. Es könne weder angeschaut noch begriffen werden. Man wisse alles von ihm, wenn man es bloß denke. Es bezeichne die „‚einfache Vorstellung des Subjects im Urtheil überhaupt‘“(vgl.: ebd., 398; zit. bei Baum, 111), durchaus kein Objekt. Somit enthalte es auch nicht die Bestimmung „des Subjekts als Objekts“ (111), die des sich auf sich selbst beziehenden Bewußtseins. Das Bewußtsein der Identität sei aber eine anthropologische Tatsache. Das identische Ich sei im inneren Sinn anzutreffen. Es sei allerdings nicht durch die innere Wahrnehmung gegeben, also keine empirische Vorstellung. Kant gehe mit Locke davon aus, daß, „[w]er immer sich als Ich denkt […], […] eine Person [ist], zu der es per definitionem gehört, ‚bei allen Veränderungen […] eine und dieselbe Person‘ zu sein“. (Vgl.: Kant: AA VII, 127; zit. bei Baum, 109.) Er bestreitet jedoch, daß die personale Einheit aus dem empirischen Bewußtsein und der recollection resultiere. Sie bestehe vielmehr „vermöge der Einheit des Bewußtseins“ (ebd.) – dessen, daß das logische Ich ‚jeweils dasselbe‘ ist. Die Identität des logischen Ich ist dem Personsein vorausgesetzt, besteht aber unabhängig von der Substantialität der Seele. Das Ich sei „‚mit völliger Identität‘ jeweils dasselbe, aber daraus folgt nicht, daß das Subjekt als denkendes Wesen selbst eine beharrliche Substanz sei.“ (Vgl.: Kant: AA IV, A 363; zit. bei Baum, 119.) Kant stellt die Idealität des gleichlautenden Ich heraus. Nicht auszuschließen sei, daß es an der möglichen „‚Umwandlung des Subjekts‘“ teilhabe, ihr ebenfalls unterliege. „Für Kant ist es […] unentschieden, ob das ‚Ich[,] (ein bloßer Gedanke)‘ nicht ebensowohl fließen könnte wie ‚die übrige[n] Gedanken‘, die er verkettet.“ (Vgl.: ebd., A 364; zit. bei Baum, 120.) Es fließt, weil keine Substanz ihm zugrunde liegt. Lediglich in logischer Hinsicht bleibt es sich gleich. Es lautet gleich, ohne der Substanz nach gleich zu sein: ohne subiectum zu sein.
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Daß das logische Ich von der seelischen Substanz abgetrennt wird, wirft die Frage auf, ob es überhaupt noch auf das empirische Selbstbewußtsein bezogen werden kann. Die Kritik der reinen Vernunft hebt die logisch-kognitiven Funktionen des Ich hervor, das sich gegenüber dem lebendigen Bewußtsein zu verselbständigen droht. Diese Ablösung bezeichnet einen Mangel der theoretischen Philosophie, der Baum zufolge erst in der praktischen Philosophie behoben werde. Diese entfalte den Begriff der Person, deren „‚[…] Identität […] in meinem eigenen Bewußtsein unausbleiblich anzutreffen‘“ sei. (Vgl.: ebd., A 362; zit. bei Baum, 119.) Das personale Ich stifte, so Baum, den Zusammenhang von logischer und empirischer Sphäre. Die Integration erfolge unter dem Gesichtspunkt der freien Handlung. Kant weise die Person als den Träger der Freiheit aus. Personalität sei empirisch nicht nachweisbar, dennoch sei es richtig, an dem „praktische[n] Personbegriff“ (120) festzuhalten. Locke bemißt ihn an dem Kriterium der Zurechenbarkeit, die sich ihm als ein empirisch-psychologischer Sachverhalt darstellt. Kant nimmt diesen Personbegriff in modifizierter Form auf. „[…] Person in praktischer Bedeutung [ist] ‚dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind‘“ (vgl.: Kant: AA VI, 223; zit. bei Baum, 121), ohne jederzeit empirisch-psychologisch zugerechnet werden zu können. Der Person würden diejenigen Handlungen zugerechnet, die nach selbst gesetzten Zwecken erfolgten. Zwecke seien Begriffe, „deren Möglichkeit das Selbstbewußtsein des Verstandes zur notwendigen Bedingung hat.“ (121) Sie gehörten der logischen ebenso wie der moralischen Sphäre an. Ihr Doppelcharakter zeige die „Zusammengehörigkeit von moralischer und logisch/ psychologischer Persönlichkeit“ (ebd.) an. Burkhard Tuschling bestreitet, daß das Subjekt der praktischen Begründung fähig sei. Ein „radikalisierter“ (61) Begriff des Subjekts weise auf das reine Ich, ipse intellectus, zurück; das Subjekt müsse epistemologisch begründet werden. Er zeigt, daß Leibniz, der das ‚Ich an sich‘ von dem aktuell-empirischen Bewußtsein separiert, ein Motiv der transzendentalen Philosophie vorwegnehme. Das reine Ich sei „Grund der Bestimmung seiner selbst als erkennendes Subjekt“ (60). Indem das Subjekt auf das Ich als auf seine Wurzel zurückgeführt wird, ergebe sich eine gegenüber der empiristischen Konzeption von mind und human understanding neue „Intension“ des Verstandes, der als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ausgewiesen werde. Es ergebe sich auch eine neue „Extension“ des Verstandes, sofern er als nous, als substantielle Form der Materie, vorgestellt werde. „Dieser Verstand hat also als reines Denken, […] das Universum zu seiner Extension – allerdings mit einer gegenüber den antiken Konzeptionen entscheidenden […] Differenz: dieser ipse intellectus a priori ist Ich, und zwar […] reines, das heißt also: nichtempirisches Ich.“ (61 f.) Das reine Ich erzeuge diejenige „Kontinuität und Einheit, die die Identität seiner selbst, des Ich, ist.“ (67) Sofern es durch die Kontinuität der spontanen Tätigkeit „jeden Übergang von einer empirischen perception oder Vorstellung zur nächsten […] möglich macht“ (71), stifte es die Identität der Person, die „vom empirischen Bewußtsein und dem Vermögen, sich zu erinnern, getrennt, von ihnen unabhängig gemacht, ja beidem übergeordnet werden“ (72) muß. Locke führt die Einheit der Person auf die Kontinuität des Bewußtseins und der Erinnerung zurück. Was unbewußt sei, gehöre der Person nicht an, denn es könne ihr nicht zugerechnet werden. Leibniz dagegen führe die Einheit der Person auf das ‚Ich
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an sich‘ zurück. Die Trennung des logischen vom empirisch-psychologischen Ich sei die Voraussetzung dessen, daß auch die perceptions insensibles der Person zugerechnet werden könnten. Das ‚Ich an sich‘ umfasse die bewußten und unbewußten Perzeptionen gleichermaßen. Was dem Bewußtsein unzugänglich sei, die perceptions insensibles oder petites perceptions, erweise sich als integraler Teil der Person. Bezeichnet das ‚Ich an sich‘ den Grund der Einheit, so ist es von dem unterschieden, was in diesen Perzeptionen erscheint, vom empirischen Ich. „[D]as empirisch seiner selbst bewußte Ich ist nicht alles, nicht die Identität des Individuums.“ (82) Die petites perceptions, deren wir uns aktuell nicht bewußt, die also virtuelle Perzeptionen seien, verwiesen auf das ‚Ich an sich‘. „[D]as Ich ist absolute Einheit aller virtuellen und aller aktuellen [oder bewußtwerdenden] Perzeptionen.“ (65 f.) Die virtuellen Perzeptionen gehen in die Erinnerung ein – eine nicht-empirische Erinnerung, die Hegel mit der Metapher des Schachtes belegt. Seinen Überlegungen zufolge, die Tuschling aufgreift, ist das Individuum „‚ein unendlicher Reichthum von Empfindungsbestimmungen, Vorstellungen, Kenntnissen, Gedanken u. s. f.; aber Ich bin darum doch ein ganz einfaches, – ein bestimmungsloser Schacht, in welchem alles dieses aufbewahrt ist ohne zu existiren‘.“ (Vgl.: Hegel, GW 20, § 403; zit. bei Tuschling, 66, Fußn. 27.) Das Individuum verfüge nicht über seine vergangenen Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Was im „Schacht“ aufbewahrt sei, liege unbewußt vor. Während die Erinnerung gewöhnlich als ein Vermögen aufgefaßt wird, vergangene Eindrücke bewußt zu machen, zeigt Hegel, daß sie auch solche Vorstellungen umfasse, die nicht wieder heraufgerufen würden. Die Erinnerung schließe das Vergessen ein. Was lediglich aufbewahrt werde, sei vom Bewußtsein abgeschieden. Es ‚existiere nicht‘, präge aber das Individuum, das also durch Empfindungen,Vorstellungen und Gedanken geprägt werde, die es vergessen habe. Die Funktion des Ich besteht nach Tuschling darin, „das Unbewußte“ und die „das Bewußtsein übergreifende Einheit […] in ihrer Differenz“ (81) als identisch mit sich zu begreifen. Was differiere, gelange in ihm zur Identität. Daß es differiere, zeige an, daß das Ich inkohärent, nicht eins mit sich sei. Die unbewußten Vorstellungen bezeichneten die Voraussetzungen seiner bewußten Existenz. Seiner dialektischen Bestimmung nach wachse das Ich über ‚sich‘ hinaus und werde doch immer wieder in die Schranken gewiesen. Es erfahre, da sei etwas, das aus ihm selber komme, das es aber nicht kontrollieren könne. Was es vergessen habe, sei Teil seiner selbst, des disparaten Ich. Tuschling bezieht die Differenz der bewußten und unbewußten Perzeptionen funktional auf die Einheit des Ich, die aus dieser Differenz resultieren soll. Das Unbewußte stehe demnach in einem kontinuierlichen Verhältnis zum Bewußtsein, es könne jederzeit bewußt werden. Stellt die erweiterte Bestimmung des Ich, das, „Unbewußtes und Bewußtes[,] übergreifend, […] beides in sich setzt und wieder aufhebt“ (62), einen „konzeptionelle[n] Gewinn für den Begriff des Subjekts“ (81) dar, so werde dieser Gewinn auf Kosten einer konzisen Bestimmung der Differenz erzielt, die das Ich zeichne. Tuschling zieht die psychoanalytische Theorie des Ich heran, um seine Argumentation zu stützen. Die Psychoanalyse begreife aber das Ich als ein widersprüchliches Gebilde, dem einerseits die Kontrolle von Wahrnehmung und Bewegung obliege und das andererseits damit betraut sei, Triebforderungen abzuwehren. Diese Abwehr vollziehe
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sich unbewußt; das Ich kenne nicht die Motive der Verdrängung. Als ‚kontrollierende Instanz‘ wisse es nicht, nach welcher Maßgabe es die Kontrolle ausübe. Tuschling dagegen traut ihm zu, darüber zu entscheiden, ob gewisse Vorstellungen zum Bewußtsein zugelassen oder von ihm ausgeschlossen werden. Es verhalte sich „aktiv wiedererwekkend oder verdrängend, auf jeden Fall äußerst selektiv, aber auch spontan“ (82). Das Ich aber verfahre, sofern es sich gewisser Abwehrtechniken bediene, selbst unbewußt; es agiere. In seinen unbewußten Vorstellungen werde es mit dem konfrontiert, was außer ihm liege. Die Psychoanalyse stelle dem Ich die konkurrierenden Instanzen des Es und des Über-Ich zur Seite, in denen diese Vorstellungen organisiert werden. Die Behauptung, das Ich verhalte sich ihnen gegenüber ‚selektiv‘ und ‚spontan‘, unterschlage, daß sie das Ich zu determinieren imstande seien. Anders als die vorbewußten Vorstellungen seien sie verdrängt worden – ein Vorgang, der dem Ich dunkel bleibe, den es allenfalls mühsam rekonstruieren könne. Solange es aber im Widerstand gegen seine eigenen Vorstellungen befangen bleibe, seien seine Kräfte gebunden. Sie freizusetzen erfordere, daß es den Widerstand aufgebe, d. h. sich von dem Ideal der Selbstkontrolle löse. Iris Harnischmacher (Frankfurt a. M.)
BIBLIOGRAPHIE
a b h a n d lu n g e n z u r h e g e l f o r s c h u n g 2 0 0 4 / 2 0 05 Zusammenstellung und Redaktion: Holger Glinka (Bochum)
Diese fortlaufende Berichterstattung sucht das nicht selbständig erschienene Schrifttum über Hegel, also Abhandlungen aus Zeitschriften, Sammelbänden usw., möglichst breit zu erfassen und durch kurze Inhaltsreferate bekanntzumachen. Sofern Abhandlungen bereits mit Inhaltsreferaten versehen sind, werden diese hier übernommen. Neu erschienene Bände des Hegel-Jahrbuchs werden in der Abteilung Literaturberichte und Kritik als ganze rezensiert; gleiches gilt für Sammelbände sowie Periodika-Sondernummern, die ausschließlich der Philosophie Hegels gewidmet sind. In der Bibliographie werden die einzelnen Abhandlungen solcher Bände nicht mehr angezeigt. Die Beiträge werden alphabetisch nach dem Namen der Autoren angeordnet. Nicht alle vorgesehenen Inhaltsreferate konnten bis Redaktionsschluß fertiggestellt werden. Sie werden im nächsten Band nachgeholt. Für diesen Band haben Berichte verfaßt oder bearbeitet: Eugenia Afinoguénova (Madrid), Georgia Apostolopoulou (Ioannina), Thomas Auinger (Wien), Gabriella Baptist (Cagliari), Paolo Becchi (Genova), Francesco Berto (Venezia/Padova), Claudia Bickmann (Köln), Myriam Bienenstock (Tours), Giovanni Bonacina (Urbino), Christophe Bouton (Bordeaux), Robert B. Brandom (Pittsburgh, Pa.), Andris Breitling (Rostock), Bill Bristow (Irvine, CA), Thom Brooks (Newcastle), Rüdiger Bubner (Heidelberg), Stanley Corngold (Princeton, NJ), Villa Dana (Princeton, NJ), Kazimir Drilo (Berlin), Will Dudley (Williamstown, Ma.), Christian Engelhardt (Köln), Nico de Federicis (Pisa), Diogo Ferrer (Coimbra), Cinzia Ferrini (Trieste), Hans Friedrich Fulda (Heidelberg), Ido Geiger (Tel-Aviv), Thomas Gilbhard (Berlin), Joshua D. Goldstein (Cleveland, Ohio), Susanne Großbötzl (Bochum), John Grumley (Sydney, Australia), Jay A. Gupta (Beirut), Christoph Halbig (Münster), Edward C. Halper (Georgia, Atl.), Thomas Sören Hoffmann (Bochum), RolfPeter Horstmann (Berlin), Stephen Houlgate (Warwick, Coventry, UK), Klaus Erich Kaehler (Köln), David Kolb (Lewiston, Maine), Eerik Lagerspetz (Jyväskylä), Hyo-Dong Lee (Nashville, TN), Loana Liccioli (Verona), Paolo Livieri (Padova), Simon Lumsden (Sydney, Australia), Ian McLean (Perth, Australia), Kurt Rainer Meist (Bochum), Thomas Mertens (Nijmegen), Dalia Nassar (Tübingen), Frederick Neuhouser (Columbia), Craig M. Nichols (Rhode Island, Kingston), Christine Noël (Grenoble), Pedro Geraldo Aparecido Novelli (São Manuel), Robert Christian van Ooyen (Lübeck/Duisburg), Raimund Ottow (Berlin), Dietmar von der Pfordten (Göttingen), Terry Pinkard (New York), Robert B. Pippin (Chicago, Ill.), Thomas Posch (Wien), Lorenz B. Puntel (München), Paul Redding (Sydney, Australia), Jeffrey Reid (Ottawa, Can.), Mark William Roche (Notre-Dame, Ind.), Silvia Rodeschini (Bologna), Hans Jörg Sandkühler (Bremen), Dieter Schönecker (Siegen), Robert Sinnerbrink (Sydney, Australia), Allen C. Speight (Boston), Michael Spieker (Freiburg/Brsg.), Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Italo Testa (Venezia/Parma), Colin Tyler (Hull, UK), Jean-Louis Vieillard-Baron (Poitiers), Lu De Vos (Leuven), Dieter Wandschneider
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(Aachen), Kenneth R. Westphal (Norwich, UK), Richard Dien Winfield (Georgia, Atl.), David Wittmann (Lyon) sowie Christoph J. Bauer,Wolfgang Bonsiepen, Britta Caspers, Dirk Felgenhauer, Holger Glinka, Carmen Götz, Catia Goretzki,Walter Jaeschke, Peter Kriegel und Annette Sell vom Hegel-Archiv (Bochum). Die über Hegel arbeitenden Autoren sind freundlich eingeladen, durch Einsendung von Sonderdrucken die Berichterstattung zu erleichtern. Allen, die solche Hilfe bisher schon geleistet haben, sei besonders gedankt.
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Abecassis, Nicole: Fin de l’histoire et mort de l’art dans la philosophie de Hegel. — In: Enseignement Philosophique. Paris. 54 (2004), 4, 19–35.
Afinoguénova, Eugenia: Un idiota español en el fin de la historia: Hegel, Kojève y el sujeto filosófico en crisis en „Historia de un idiota contada por él mismo o el contenido de la felicidad“ de Félix de Azúa. [Ein spanischer Idiot am Ende der Geschichte. Hegel, Kojève zur Krise des philosophischen Subjekts in „Die Geschichte eines Idioten berichtet von ihm selbst oder der Inhalt der Glückseligkeit“ von Félix de Azúa.] — In: Anales de la Literatura Española Contemporánea. [Annalen der spanischen Gegenwartsliteratur.] Santiago de Compostela. 29 (2004), 1, 5–32. The article analyses the H.ian and Kojèvian underpinnings of the novel Historia de un idiota contada por él mismo o El contenido de la felicidad by renowned contemporary Spanish writer, poet, and essayist Félix de Azúa. By analysing the philosophical references implicit in the novel’s language and plot, the study demonstrates that the novel’s narrator, who calls himself an ‘idiot’, fulfills the role of H.s Absolute Subject. Afinoguénova argues that the narrator’s personal story can be fully understood only if one reads it as the history of the deployment of Spirit in the specific settings of Spain (and even more specifically, of Barcelona) of the 1940s–1970s. From this point of view, the novel’s idiotnarrator embodies the end product of two lines of historical development: the philosophical history of the Western metaphysical subject and the 20th century Spanish history.The character is thus invested with the philosophical mission of documenting the end of both histories. Furthermore, Afinoguénova focuses on the impact of Kojève’s interpretation of H.s Master-Slave dialectics in the novel. This part of the article demonstrates that the author of the novel inscribed the Structuralist and post-Structuralist philosophical problematic of the ‘death of Man’ (in its literary modality of the ‘death of the Author’) in the novelistic representation of the Kojèvian theory of the End of History, applied to Spain. As the analysis suggests, Féliz de Azúa associates the idea of the ‘death of Man’ with one of Kojève’s scenarios of the End of History, namely, the End of History for the Slave via Man’s return to the animal world. The novel’s narrator rejects this scenario and privileges the other prospect traced by Kojève: the gratuitous suicide.
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Apostolopoulou, Georgia: Η Αισθητική του Hegel άλλοτε και σήµερα. [Hegels Ästhetik damals und heute.] — In: Σκέψις. [Skepsis.] Athens – Olympia. 15 (2004), ii–iii, 243–250. (= Special edition in honour of Professor Leonidas Bargeliotes) Der Beitrag bezieht sich auf die Nachschrift aus H.s Vorlesung über die Philosophie der Kunst (1823), die zuerst Annemarie Gethmann-Siefert 1998 ediert hat. Wieder zeigt sich, daß die Philologie die geltende philosophische Interpretation unterminiere. Hothos Edition im Rahmen der Freundesvereinsausgabe sei unzuverlässig, weil sie eine Kompilation verschiedener Texte darstelle, die nicht sämtlich aus H.s Feder stammten. Sie sei jedoch als H.s Philosophie der Kunst verstanden worden und übe bis heute eine breite Wirkung auf die Entwicklung der Ästhetik aus. Annemarie Gethmann-Siefert stellt die philologischen Probleme der Edition der H.schen Vorlesungen in der Einleitung zum Text der Nachschrift dar. Dieser Text sei im Vergleich zum Text der Edition Hothos zwar kürzer, komme jedoch der H.schen Fassung näher. Zudem ergäben sich aus ihm einige wichtige Differenzierungen. Die metaphysische Überforderung der Kunst werde zugunsten des Niedergangs der Humanisierung der Kunst zurückgenommen, während gewisse Aspekte, die für die Interpretation der modernen Kunst relevant sein könnten, besser beleuchtet würden. Dazu gehören die These vom ‚Ende der Kunst‘ und die Wiederkehr der Merkmale der symbolischen Kunst in der modernen Kunst.
Apostolopoulou, Georgia: Ο Σωκράτης, η αυτογνωσία και η αυτοσυνειδησία. [Sokrates, die Selbsterkenntnis und das Selbstbewußtsein.] — In: Abteilung für Philosophie der Universität Ioannina (Hg.): Ξανά για τον Σωκράτη. [Wieder über Sokrates]. Ioannina 2004. 95–109. (Festschrift für den emeritierten Professor Nikos Psimmenos) Der Band nimmt auch Bezug auf H.s Interpretation der Philosophie Sokrates’ als Wende zum Selbstbewußtsein. Allerdings sei H.s Philosophie selbst keine Philosophie des Selbstbewußtseins, denn H. betrachte das Selbstbewußtsein als eine Entwicklungsstufe in der Selbstverwirklichung des Geistes, der sich im absoluten Wissen vollende.
Bach, Thomas: Leben als Gattungsprozeß: Historisch-systematische Anmerkungen zur Unterscheidung von Pflanze und Tier bei Hegel. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 175–190. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Verf. knüpft an Dieter Wandschneiders systemtheoretische Rekonstruktion des H.schen Naturdenkens an, in der gezeigt wird, daß H.s Ausführungen zur Unterscheidung des geologischen, vegetabilischen und animalischen Organismus einen auch in der modernen Perspektive nachvollziehbaren Sinn haben. Dabei stellt er der von Wandschneider systemtheoretisch aufgezeigten Plausibilität der H.schen Gedanken eine historisch-systematische Erörterung und einige wissenschaftshistorische Anmerkungen zur Seite. Er zeigt, daß H. mit seinen Überlegungen zum Gattungsprozeß und zur Geschlechterdifferenz, die er im Anschluß an die logische Exposition des Lebens bzw. den Gestaltungs-, Assimilations- und Gattungsprozeß entwickelt, nicht nur an philosophische, sondern auch an wissenschaftshistorische Bezugspunkte seiner Zeit anknüpfe. H.s Argumentation sei, bis auf die Ablehnung der Pflanzensexualität, nicht nur in logischer Hinsicht, sondern auch in wissenschaftlicher Perspektive immer noch plausibel. Doch auch der Irrtum im Hinblick auf die Interpretation der Pflanzen sei insofern aufschlußreich, da er „einerseits die Abhängigkeit auch der logischen
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Dispositionen vom Stand der Naturforschung seiner Zeit“ zeige und andererseits deutlich mache, „daß die Entscheidung der Einbeziehung gerade dieser wissenschaftlichen Theorie […] mehr als nur historisch auszudeuten ist“ (190). H.s Interpretation der Pflanzen sei aus diesem Grund ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Verbindung von historischen und systematischen Fragestellungen.
Bangert, Claudia: Das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“. — In: Hüning, Dieter/Michel, Karin/ Thomas, Andreas: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag. Berlin 2004. 381–403. (Philosophische Schriften. Band 65) Verf.in untersucht zunächst, wie sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Einheit von Besonderheit und Allgemeinheit gestaltet: In der Korporation finde z. B. eine Verallgemeinerung des besonderen Interesses statt, was eine wichtige Quelle des Staates im besten Sinne der Sittlichkeit bedeute. Auch im Staat selbst und in seinen Institutionen wird dann das Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit weiter analysiert und besonders anhand von H.s Problematisierung des Not- und Verstandesstaats sowie bezüglich H.s Schätzung der Rolle des Krieges überprüft.
Bienenstock, Myriam: Selbstbestimmungsrecht und Staat bei Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 269–285. When a right of nations to self-determination is taken as a natural extension of the declaration of human rights, this seems to fit smoothly into the framework of a philosophy of the “subject,” or, as one often says now, a “philosophy of consciousness.” This article raises the question of the conditions and the cost of employing these kinds of epistemological and ontological models in the development of a concept of the state. Special attention is given to H. in this context. His critique of “reflection philosophies of subjectivity” goes hand in hand with a critique of a right of nations to self-determination. On the basis of a distinction between autonomy and self-determination it is shown that the H.ian conception of the state, just like Rousseau’s conception, is grounded on the general will (volonté générale), i. e., on law and thus on autonomy as self-legislation.
von Borzeszkowski, Horst-Heino/Wahsner, Renate: Gibt es eine Logik der Physik als Vorstufe zur Hegelschen Begriffslogik? — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 51–77. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Der Aufsatz geht von der Frage aus, ob eine Logik der Physik als Vorstufe der H.schen Begriffslogik gelten könne bzw. von der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften. Die Ausgangsfrage wird bejaht und beantwortet mit Hilfe des „Hamilton-Lagrange-Formalismus“, der interpretiert wird als „Logik der Physik schlechthin“. So wie Aristoteles die formale Logik von dem Gesamtsystem der peripatetischen Philosophie abhebe, so könne der Hamilton-Lagrange-Formalismus von der Newtonschen Mechanik abgehoben werden, ohne daß der Bezug zum physikalischen Inhalt der Mechanik völlig aufgegeben werde. H.s Logik, die nicht unabhängig von der Stellung des Gedankens zur Objektivität in den einzelnen Bewußtseinsstufen und nach H.s eigener Meinung verbesserungswürdig sei, könnte vielleicht durch die spezifische Methode der Physik (eben den Hamilton-Lagrange-Formalismus und dessen Bestimmung des Verhältnisses von Form und Inhalt) ein tragfähigeres Fundament bekommen.
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Bosteels, Bruno: Hegel in Mexico: Memory and Alienation in the Posthumous Writings by José Revueltas. — In: South Central Review. Texas. 21 (2004), 3, 46–69.
Bourgeois, Bernard: La notion d’époque historique dans l’idealisme allemand. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 131–143. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli, herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12)
Braßel, Bernd:Vorzüge einer Theorie der Dialektik. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 91–112. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Verf. zeichnet die Vorzüge von Dieter Wandschneiders Schrift Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels Wissenschaft der Logik. Stuttgart 1995, für das Verständnis von H.s dialektischer Methode nach. H.s Dialektik, so wie sie in der Wissenschaft der Logik entwickelt sei, werde in Wandschneiders Grundzügen aus einer Metaperspektive beschrieben, so daß ihre Eigenarten als „erklärbare Eigenschaften“ dargestellt werden könnten.Wandschneiders „antinomische Logik“ gebe eine Bestimmung der Dialektik, die sehr gut nachprüfbar sei und einen längeren Teil der dialektischen Entwicklung mit einheitlichnachvollziehbaren Mitteln rekonstruiere. Die Grundzüge beinhalteten eine Darstellung der logischen Entwicklung, die von dem zentralen Begriff des Widerspruchs und dessen Auflösung ausgehe. Dieser tragfähige Ansatz sollte, so der Verf., weiter ausgearbeitet werden, so daß er nicht nur für die Logik der Qualität, sondern auch für die Bestimmungen der Quantität und des Maßes sowie für den Übergang in die Wesenslogik fruchtbar gemacht werden könne.
Breidbach, Olaf: Überlegungen zur Typik des Organischen in Hegels Denken. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 207–227. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Breidbach versucht, die Logik in den Bestimmungen des Natürlichen aufzuzeigen, die H. erst in Jena und später in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse entwickele.Verf. rekonstruiert die grundlegenden Merkmale des Naturbegriffs H.s und erläutert den Argumentationsgang der Naturphilosophie sowie die Reihenfolge seiner Stufen anhand der Untersuchung des Einflusses von Goethes Idee einer Morphologie der Natur. Schließlich versucht Breidbach, die These zu untermauern, die H.sche Idee der Natur sei kein Abstraktum, sondern der spekulative Versuch, Kriterien für die Geltung des Naturwissens zu explizieren.
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Brooks, Thom: Hegel’s theory of international politics. A reply to Jaeger. — In: Review of International Studies. Cambridge. 30 (2004), 1, 149–152. Hans-Martin Jaeger argues in the Review of International Studies that H. endorses a ‘reluctant realism’, whereby H.s theory of international politics institutionalizes a transnationalising civil society of states. In Jaeger’s view, H.s conception of individuals in civil society is analogous to states in international politics. On the contrary, I argue H.s conception of abstract right is far more commensurable with his theory of international politics. The mutual recognition existing in civil society – which helps to produce legal relationships – does not exist beyond the state where there are no legal relationships. Thus, H. is a realist of a more familiar sort, without any ‘reluctance’.
Brooks, Thom: Is Hegel a Retributivist? — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Nottingham. 49/50 (2004), 113–126. The most widespread interpretation of H.s theory of punishment is that it is retributivist, as the criminal punished is demonstrated to be deserving of a punishment commensurable in value to the severity of his crime. Thus, H.s theory is individualistic because the only factor involved in determining a punishment’s magnitude is the criminal’s action itself. The problem with this interpretation is that it is limited to H.s preliminary discussion of punishment within his theory of abstract right. In this paper, I take seriously the structure of the Philosophy of Right to underscore the relationship between H.s treatment of punishment in abstract right and his later treatment within his theory of civil society.This reading produces substantive new insights, presenting us with a theory which determines the severity of punishment commensurable with the threat a criminal act poses for civil society, committing itself to a minimal retributivism at most.
Büttner, Stefan: Das Manko des Organischen und die Krankheit als dessen Wahrheit. Krankheit, Arzneimittel und Heilung in der Perspektive der Hegelschen Naturphilosophie – nebst einer These zum abstrakten Gesundheitsbegriff in der modernen Medizin. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 191–205. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Der Aufsatz rekonstruiert die Bestimmung von Krankheit und Tod, wie H. sie am Ende der Naturphilosophie in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse leistet. Ausgangspunkt ist hierbei der Gedanke H.s, der Organismus trage den Keim des Todes in sich. In der Realisierung seiner Allgemeinheit verliere der Organismus seine Individualität, was mit dem Tod des Organischen gleichbedeutend sei. Die Krankheit bezeichne dabei den Widerspruch des Allgemeinen und des Einzelnen im Individuum, wobei Assimilationsprozeß und Gattungsprozeß naturlogische Vorraussetzungen seien. Die Krankheit sei derart ein Äußerlichwerden des Organismus gegen sich selbst, wobei sie einerseits die Einschränkung des Organismus auf sich selbst, zugleich aber auch die Möglichkeit der Selbststeigerung des Organismus durch Überwindung ihrer selbst beinhalte. Die Erscheinung der Krankheit sei in dieser Perspektive nichts anderes als der Versuch der Heilung. Gemäß dem Grundgesetz des spekulativen Denkens sei die Präsentation einer Bestimmung zugleich ihre Aufhebung, denn die aufgehobene Bestimmung sei dann keine Totalbestimmung mehr, sondern Moment einer neuen, komplexeren Bestimmung. Das Urteil der Krankheit müsse durch Präsentwerdung der Totalität des Lebendigen aufgehoben werden. H. spreche vom Medikament als Wahrheit der Krankheit. Die durch den Arzneimittelprozeß in Gang gebrachte Negation sei nicht als bloße weitere Negation, sondern als bestimmte Negation der
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ersten Besonderung aufzufassen. Die „Magie“ des Medikaments bestehe darin, die am Organismus seiende Besonderung in eine selbst gesetzte zu verwandeln. Ein positionales Denken könne gerade diese Art des Arzneimittelprozesses nicht fassen, da es nicht einsichtig machen könne, warum eine weitere Besonderung heile und nicht eine weitere Krankheit auslöse. Schließlich stellt Verf. das aus H. gewonnene integrativ-konkrete Verständnis von Krankheit, welches dieselbe als bestimmte Negation von Gesundheit denke, einem abstrakt-reduktionistischen Verständnis von Krankheit gegenüber. Ein solches Verständnis könne Krankheit nur als äußerliches – und damit nicht notwendiges – Geschehen am Organismus deuten. Aus H.s Perspektive sei der abstrakte Begriff der Krankheit aber ein totalitärer, da er mit dem Ziel eines ideal-gesunden Menschen, den es nach der H.schen Theorie gar nicht geben könne, letztlich auf die Abschaffung von Krankheit und damit auf die Abschaffung des Menschen selber hinauslaufe.
Buchheim, Thomas: Zwischen Phänomenologie des Geistes und Vermögen zum Bösen. Schellings Reaktion auf das Debüt von Hegels System. — In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Berlin/New York. 85 (2003), 3, 304–330.
Changfoot, Nadine: Feminist Standpoint Theory, Hegel and the Dialectical Self. Shifting the foundations. — In: Philosophy and Social Criticism. London. 30 (2004), 4, 477–502. The claim that theoretical foundations are historically contingent does not draw the same intensity of fire as it did one or especially two decades ago. The aftermath of debates on the political boundaries created by foundations allows for a deeper exploration of the foundations of feminist theory. This article re-examines the (anti-)H.ian foundations of the feminist standpoint put forward by Nancy Hartsock and argues that the H.ian subject of the early Phenomenology of Spirit resists gender codification in its experience of ongoing rediscovery and fallibility in knowing. The subject against which the feminist self was constituted does not fit the masculinity thought to be natural. H.s master-slave dialectic and phenomenological subject reveal contradictions that cannot be resolved by an opposing feminist standpoint, and may provide resources that resist the rigid gender categories upon which the standpoint depends.
Comay, Rebecca: Dead Right: Hegel and the Terror. — In: South Atlantic Quarterly. Durham, North Carolina. 103 (2004), 2/3, 375–396. In seiner Analyse der ‚Säkularisierung‘ verorte H. den Terror als das Herz des politischen Experiments der Moderne, das von Abstraktionen ausgehe. Die Guillotine zeige gerade die faszinierende Vermischung von Leben und Tod. Obwohl Kant der Französischen Revolution chronologisch vorangehe, bilde er nach H. eine phänomenologische Nachfolge; damit bestätige H. die germanische beschwichtigende Auffassung, daß die aus dem Protestantismus erwachsende Philosophie ihrer Freiheit wegen nicht von Terror bedroht werde.
Corngold, Stanley: Hegel, Schopenhauer, and Cannibalism. — In: Qui Parle. Literature, Philosophy,Visual Arts, History. Berkeley, CA. 15 (2004), 1, 1–10. In The World as Will and Representation II (WWR2), Schopenhauer identifies “supreme error” with the voracity of the cannibal. This image becomes the subliminal support of his tirade against H. in chapter 6: “Gall relates that in his time a mother killed and roasted her child, in order to cure her
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husband’s rheumatism with its fat. […] The tragic side of error and of prejudice lies in the practical, the comic is reserved for the theoretical. […] In Germany it was possible to proclaim Hegel, a repulsive and dull charlatan and an unparalleled scribbler of nonsense (Unsinnschmierer), the greatest philosopher of all time.” The epithet “Schmierer” is not harmless. The charge is grave, since “The concept of Wrong […] in its most universal abstraction, is most completely, peculiarly, and palpably expressed in cannibalism.” But cannot H. defend himself against such scurrilities? Unfortunately, in his Philosophy of History, he writes: “The Negro exhibits the natural man in his completely wild and untamed state. […] The undervaluing of humanity among them reaches an incredible degree of intensity. Tyranny is regarded as no wrong, and cannibalism is looked upon as quite customary and proper. […] With the Negro […] the devouring of human flesh is altogether consonant with the general principles of the African race; to the sensual Negro, human flesh is but an object of sense – mere flesh […].” I propose that it is not in Africa that we should see cannibalism at work but in the rhetoric of this page. H. eats in advance the corpus of scorn prepared by Schopenhauer, in the sense of providing a stomach for it. Schopenhauer plainly identifies this alleged perversity in the Preface to WWR2, calling H. an “intellectual Caliban” – a word Schopenhauer knew is Shakespeare’s anagram for “cannibal.”
Deretić, Irina: Sprache und Metaphysik. Hegels Lehre vom spekulativen Satz in der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes. — In: Gloy, Karen (Hg.): Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches? Würzburg 2004. 323–332. (Studien zum System der Philosophie im Auftrag des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici und der Internationalen Gesellschaft ‚System der Philosophie‘ herausgegeben von Karen Gloy [Luzern], HansDieter Klein [Wien], Wolfgang Schild [Bielefeld]. Band 6) Durch H.s Anspruch, mit seiner Philosophie dieselbe zu vollenden, stelle H. „vielleicht unbeabsichtigt“ (321) die Frage nach dem Sinn der Philosophie und damit der Metaphysik überhaupt. Aufgabe des Textes soll es sein, den Begriff der Metaphysik im Zusammenhang mit der Sprache, die das dominierende Thema des 20. Jahrhunderts sei, am Beispiel des spekulativen Satzes zu diskutieren. Der spekulative Satz bzw. das spekulative Urteil „stellt eine Selbstreflexion über die eigene philosophische Tätigkeit dar und ist vielleicht der beste Indikator für die Untrennbarkeit der metaphysischen von den ‚linguistischen‘ Reflexionen.“ (324) Daraufhin untersucht Verf.in die Struktur und Funktion dieses Satzes oder Urteils, das eine Art von Bewegung oder Tätigkeit ermögliche. Dem Einwand, H.s Lehre vom spekulativen Satz sei nicht originell, begegnet Verf.in mit dem Hinweis auf H.s gesamten „philosophischen Diskurs“, der als spekulativer Satz verstanden werden könne und sich als Bewegung und Prozeß der Selbstreflexion, der Selbstwiderlegung und des Selbstübertreffens zeige.
Dudley, Will: Impure Reason: Hegel on the Irrationality of the Rational. — In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Chicago, Ill. 35 (2004), 1/2, 25–48. The primary aim of this paper is to investigate what H. means by “reason” and “rationality.” The paper identifies and interprets some of H.s most significant claims concerning the content of these terms, paying particular attention to his claims regarding the relation of the rational and the irrational. The resulting understanding of H.s account of reason is then used to develop an improved interpretation of H.s assertion of the equivalence of the rational and the actual.
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Dwan, David: That Ancient Sect: Yeats, Hegel, and the Possibility of Epic in Ireland. — In: Irish Studies Review. Bath. 12 (2004), 2, 201–211. Mit „ancient sect“ bezeichne der irische Dichter William Butler Yeats (1865–1939) in seinem späten Gedicht The Statues die Iren selber, um ihr anachronistisches Verhältnis zur Moderne zu benennen. Schon früh habe er zwischen epischen und lyrischen Kulturen sowie Zeitaltern unterschieden und die Iren der frühen, epischen Zeit zugerechnet. Der Aufsatz diskutiert die Unterscheidung selber, die Probleme ihrer Anwendung auf Irland sowie deren soziale und politische Implikationen. Da Verf. die historische Grundlage der Unterscheidung in der Differenz zwischen klassischer und romantischer Kunst sieht und diese nicht nur von zentraler Bedeutung für H.s Denken sei, sondern H. überdies ebenfalls nicht nur die kunstphilosophische, sondern auch die soziale und politische Dimension der Unterscheidung thematisiere, werden die H.schen Bestimmungen zum Vergleichspunkt der Analysen.
Emundts, Dina: Die Ordnung der Geschichte. Gemeinsamkeiten in den Geschichtsphilosophien von Vico und Hegel. — In: Kaltenbacher, Wolfgang (Hg.): Der Gedanke. Sieben Studien zu den deutsch-italienischen Beziehungen in Philosophie und Kunst. Einleitungstext von Gerardo Marotta. Würzburg 2004. 37–71. (Hans-Georg Gadamer in Erinnerung seiner neapolitanischen Vorlesungen am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici gewidmet) Die Autorin betont eingangs, dass nicht eine Übereinstimmung von Vicos und H.s Geschichtsphilosophie behauptet werden soll, sondern vielmehr von ‚Berührungspunkten‘ beider Denker sich sprechen lasse. Nimmt man den Zusammenhang von Vernunftkonzeption und Geschichtsbetrachtung in den Blick, so erweist sich als ein gemeinsames Motiv beider Denker gerade die Überwindung der vorausliegenden Erkenntnistheorien als Ausgangspunkt der Ausformulierung der jeweiligen Geschichtsphilosophien. Konkret gesprochen bedeutet dies, eine Parallele zwischen H.s Kant-Kritik und Vicos Descartes-Kritik zu konstatieren. Ähnlich wie H.s Denken bei der Überwindung des Kantischen Dualismus einsetzt, einer Überwindung der Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie durch die Idee einer einheitlichen Geschichte, so ist auch beim frühen Vico eine ausformulierte Kritik an der cartesianischen Erkenntnistheorie zu beobachten. Insbesondere in seinem Liber metaphysicus (1710) stellt Vico dem analytischen Erkenntnisvermögen eine synthetisch produktive Erkenntnisart zur Seite, welche er vor allem in der Geometrie verwirklicht sieht. Die Rolle der Geometrie, oder genauer das Verhältnis von Geometrie und Metaphysik in Vicos Frühwerk, findet später ansatzweise eine Parallele im Verhältnis von Metaphysik und Geschichte in seinem Hauptwerk, der Scienza Nuova. Obgleich die Autorin also derart einen vergleichbaren Ausgangspunkt für die konzeptuelle Bestimmung einer Geschichtsphilosophie bei Vico und H. anzunehmen sucht, schließt der Aufsatz mit der Andeutung der Grenzen eines solchen systematischen Vergleichs.
De Federicis, Nico: Filosofia della pratica e lavoro a Jena: Su un recente volume Hegeliano. [Praktische Philosophie und Arbeit in Jena: Zu einem neuen Buch über Hegel.] — In: verifiche. Trento. XXXII (2004), 1–2, 123–153. De Federicis bietet eine Bearbeitung der Interpretation der praktischen Philosophie H.s und des mit ihr korrelierenden Arbeitsbegriffs, die Hans-Christoph Schmidt am Busch in seinem Buch Hegels Begriff der Arbeit (vgl.: Hegel-Studien 38, 210–216) liefert. De Federicis’ Rezension bespricht aber nicht nur ein neues Buch über H., sondern versucht sowohl die Vielschichtigkeit der praktischen Philosophie des Jenaer H. wiederzugeben als auch Schmidt am Buschs Interpretation in
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eine weitere Beschreibung der neuen Interpretationsströmungen der aktuellen Hegel-Forschung einzurahmen.
Feldmann, Karen: The Binding World: Conscience and the Rhetoric of Agency in Hegel’s “Phenomenology of Spirit”. — In: Qui Parle. Literature, Philosophy,Visual Arts, History. Berkeley, California. 14 (2004), 2, 105–116. Fleischhacker, Louk: Mathematik und Natur, Verwandte oder Fremde. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 113–121. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Der Aufsatz untersucht das Verhältnis von Mathematik und Natur. Diese werden als Repräsentanten bestimmter sehr allgemeiner Paradigmen oder Urbilder gesehen, als Urbilder der Idealität des ewig Unveränderlichen und der Dynamik des Naturprozesses. Aus der Dualität der beiden Urbilder entstehe die Spannung von Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Bewußtsein und Natur. Verf. skizziert die Lösungsversuche dieser Spannung in der europäischen Philosophie von den Griechen über H. bis zu Henri-Louis Bergson und vergleicht sie mit denjenigen der indischen Philosophie. Für die europäische Philosophie sei der Gedanke zentral, daß das Ideelle innerhalb des Natürlichen wirksam sei, was zu der Möglichkeit der geschichtlichen Verwirklichung der Freiheit führe. Für die Inder sei die Natur in ihrer Äußerlichkeit die „Trägerin des karma“, sie sei die Bindung an die Vergangenheit, von der man sich nur individuell befreien könne.
Földényi, Lászlo F.: Dostoevsky reads Hegel in Siberia and bursts into Tears. — In: Common Knowledge. Durham, North Carolina. 10 (2004), 1, 93–104. Verf. stellt die Vermutung an, daß Dostojewskij Eindrücke einer H.-Lektüre in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus verarbeitet habe, die er ab 1854, also gleich zu Anfang der zweiten Phase seiner Verbannungszeit in Sibirien, niederzuschreiben begann. Er stützt seine Vermutung auf die Erinnerungen Aleksandr Wrangels, Bezirks-Staatsanwalt im sibirischen Verbannungsort Semipalatynsk und Dostojewskijs Freund, der die Subskription eines H.-Buchs erwähnt, ohne jedoch den Titel anzugeben. Verf. nun hält es für naheliegend, daß es sich um die Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte gehandelt habe, da ein unmittelbarer Bezug zu Dostojewskijs Schicksal insofern bestehe, als H. hier die kurze, aber dezidierte Bemerkung mache, Sibirien spiele im Rahmen einer Erörterung der weltgeschichtlichen Bedeutung Asiens keine Rolle. Die in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ausgeführten Gedanken zum Wesen des Verbrechens und der Verlorenheit gesellschaftlicher Außenseiter versteht Verf. nun als verzweifelte Reaktion des Autors auf diese Bemerkung H.s. Er verbindet seine Interpretation mit einer scharfen Kritik an H.s Geschichtsauffassung, der zufolge das Weltgeschehen als vernunftbestimmt zu begreifen sei, und dementsprechend in einer philosophischen Behandlung desselben alle vernunftinkompatiblen Aspekte wie das Leiden des Einzelnen, die Frage nach Gerechtigkeit und Verantwortung, das Phänomen des Zufalls etc. keinen Platz finden könnten.
Freydberg, Bernard: „Das treffliche deutsche Wort Einbildungskraft …“: On Greek Beauty and History in Hegel and Schelling. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M.
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2004. 181–190. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli, herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Verf. geht in seinem Text vier selbstgestellten Aufgaben nach. Die erste besteht darin, in Anknüpfung an Hothos Nachschrift der H.schen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst die These von der Überbietung der Kunst durch die Wissenschaft zurückzuweisen und eine neue Lesart vorzuschlagen, die sogar die Wissenschaft in die Rolle einer Dienerin der Kunst bringe. Diese neue Lesart wird dann – so die zweite Aufgabe – mit Texten Schellings zur Einbildungskraft in einen Dialog gebracht, wobei der leitende Gesichtspunkt die Frage nach der Einheit der Einbildungskraft und derjenigen der Vernunft („reason“) ist. Den dritten Gegenstand bilden Aussagen zu griechischer Kunst und Schönheit bei beiden Denkern und deren Vergleich. In einem vierten und letzten Schritt wird resümiert: Der H.sche Geist entfalte seine größte Bedeutsamkeit nicht als Wissenschaftssystem, sondern als Erweiterung der Einbildungskraft.
Frigo, Gian Franco: Aristoteles’ Einfluß auf Hegels Naturphilosophie. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 23–37. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Verf. zeigt, wie H. in seiner Naturphilosophie auf dem Weg über Aristoteles den Sinn und die Struktur der alten physis zurückgewinne, „ohne dabei auf die Errungenschaften der modernen Wissenschaften zu verzichten, indem er sie in einem Begriffsrahmen aristotelischer Prägung deutet“ (25). Verf. bezieht sich dabei nicht nur auf H.s Auffassung vom Leben und Organismus, sondern auch auf die Grundzüge der Psychologie, der Wahrnehmung, der Lehre von Raum und Zeit und auf das den chemischen Elementen innewohnende qualitative Moment. Der Artikel zeigt die Unterschiede des H.schen und Aristotelischen Konzepts der Naturdeutung auf, so im Hinblick auf das erklärende Prinzip der Natur, das praktische Verhältnis zur Natur und die anthropologische Sphäre. H. übernehme von Aristoteles die qualitative Auffassung der natürlichen Wirklichkeit und die qualitative Auffassung der Bewegung, er halte an der Unveränderlichkeit der Arten fest und an dem telos der Wirklichkeit sowie an der Auffassung, daß die höhere Funktion als Möglichkeit die niederen Funktionen enthalte. Der Einfluß von Aristoteles auf H. gehe weit über die Stellen hinaus, wo H. ihn direkt zitiere.
Galvani, Consuelo: „Quest’uomo andando nell’altro mondo si porta appresso tutta la terra“. Francesco De Sanctis in esilio (1854–1860), la riflessione hegeliana e le lezioni su Dante. [„Bei seinem Gang in die andere Welt nimmt dieser Mensch die ganze Erde mit“. Francesco De Sanctis im Exil (1854–1860), Hegels Reflexion und die DanteVorlesungen.] — In: Kaltenbacher, Wolfgang (Hg.): Der Gedanke. Sieben Studien zu den deutsch-italienischen Beziehungen in Philosophie und Kunst. Einleitungstext von Gerardo Marotta.Würzburg 2004. 73–107. (Hans-Georg Gadamer in Erinnerung seiner neapolitanischen Vorlesungen am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici gewidmet) Verf. zeigt, welche Wirkungen De Sanctis’ Auseinandersetzung mit Dante auf die Struktur seiner h.ianisierenden Ästhetik hatte und wie umgekehrt sein H.ianismus durch die Herausforderung der italienischen Tradition integriert und befruchtet wurde. Zunächst wird die Rolle des neapolitanischen H.-Einflusses im Vorfeld der liberalen Revolution (1848) kurz skizziert, sodann De Sanctis’
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H.ianismus im Rahmen des kulturellen Projekts so gedeutet, daß ein Nationalbewußtsein durch Literaturkritik gestiftet werden sollte. Dies wurde besonders in De Sanctis’ in seinem Züricher Exil gehaltenen Dante-Vorlesungen deutlich. De Sanctis’ Festhalten an einer Poetik des Realismus (als Audruck der damaligen Zeit, in welcher die Kunst in kreativer Weise doch weiter lebt) und an die bei Dante schon bestehende Vereinigung von Poesie und Wissenschaft integriert bemerktenswerter Weise den idealistischen Hintergrund und den Bezug auf H.s Ästhetik.
Gaziaux, Éric: La liberté selon Hegel: une invitation au débat pour l’éthique théologique? — In: Revue théologique de Louvain. Leuven. 35 (2004), 3, 316–342. Le présent article se propose de considérer la thématique de la liberté selon H. comme une invitation au débat pour l’éthique théologique. Après avoir mentionné, en introduction, l’actualité de la pensée h.ienne et son intérêt pour la thématique de la liberté, une première section est consacrée à la compréhension de la liberté selon la Science de la logique, clé de compréhension du système h.ien; la seconde section brosse le déploiement de cette liberté dans les sphères de l’Esprit subjectif, objectif et absolu, avant de proposer, dans une troisième section, des ouvertures pour le débat éthique actuel, et plus particulièrement pour l’éthique théologique invitée à repenser les liens entre religion et morale, réflexion éthique et discours théologique.
Geiger, Ido: Hegel’s Critique of Kant’s Practical Philosophy. Moral Motivation and the Founding of the Modern State. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 121–149. H.s Vorwurf, Kants Moralphilosophie sei leer, wird oft als eine Behauptung über den Inhalt verstanden: Aus dem katgorischen Imperativ, nur nach Gesetzen zu handeln, die ohne Widerspruch gedacht werden könnten, ließen sich keine spezifischen moralischen Pflichten ableiten. In kritischer Absetzung von dieser Interpretation wird im vorliegenden Beitrag die These vertreten, daß H.s Vorwurf sich gegen Kants Option richtet, daß das einzige wahrhaft moralisch wertvolle Motiv die reflektierte Anerkennung des universalen moralischen Gesetzes sei. Im Gegensatz hierzu behauptet H., daß das unmittelbare, nicht-reflektierte Verhalten einer Person, die in einer gerechten Gesellschaft aufwächst, moralisch sei. Allerdings verwirft H. nicht die Kantische Idee, nach der die radikale Autonomie einer Handlung – die weder durch gegebene soziale oder politische Normen noch durch natürliche Neigungen bestimmt wird – notwendige Bedingung von Moralität sei. Dies gilt H. zufolge für eine Handlung, aus der eine radikal neue Lebensform hervorgeht. Die Bedeutung solcher revolutionären Handlungen wird aber weder durch den revolutinären Akteur selbst noch durch die Gemeinschaft verstanden, die daraus entsteht; sie sind notwendig gewaltsam. Für H. stehen die Französische Revolution und ihre Folgen für die gewaltsame Begründung von Sittlichkeit in der Moderne, die im modernen Staat verkörpert wird. Damit wendet sich H. gegen Kants strikte Ablehnung der Auffassung, daß revolutionäre Gewalt eine notwendige Bedingung dafür ist, Moralität im Bereich des Politischen zu verwirklichen.
Gerhardt, Volker: Das Subjekt ist die Substanz. Laudatio auf Dieter Henrich. Zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart am 26. November 2003. — In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Berlin. 52 (2004), 1, 45–57. Sofern Henrich sich eine Distanz zum sozial geprägten Diskurs aufgebaut und die innere Einheit des Wirklichen gerade als eine ontologische gedeutet habe, habe sich seine eigene Persönlichkeit gezeigt. Auf diese Weise ermögliche er es sich, solch tragende Gedanken zu entwickeln, durch die
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die Philosophie die Welt erst wirklich vergegenwärtige, und wage, diese in einer Ordnung des Ganzen zu denken, der mit subjektiven Gründen zu begegnen sei. Dieser Grund im Subjekt, das sich als ein Einzelnes verstehe, müsse jedoch aus der reflexiven Vorgängigkeit des Geistes einsehen, daß es weder selbstexplikativ sei noch sich aus seiner eigenen Selbstbezüglichkeit rekonstruieren lasse. Solches Subjekt sei aus diesem Grund allein die Substanz, aus der wir die Welt begriffen.
Goldstein, Joshua D.: The ‘Bees Problem’ in Hegel’s Political Philosophy: Habit, Phronêsis and Experience of the Good. — In: History of Political Thought. Thorverton u. a. XXV (2004), 3, 1–27. As in the transmigration of souls after death in the Pythagorean myth that Socrates recounts in the Phaedo, for H., in the Philosophy of Right, individuals are also ‘reborn’ out of their original nature into a ‘second nature’. This article asks whether the H.ian transmigration aims at their becoming nothing higher than that ‘race of tame and social creatures … bees perhaps, wasps, or ants’ which the Pythagorean myth relates is the fate of those who ‘practiced popular and social goodness … but devoid of philosophy and intelligence’. Through an analysis of duty, virtue, rectitude, custom and habit, this article argues that H.s account of the nature of fully ethical self-consciousness contains within it a robust, practical knowledge that resists the ‘bees problem’, shifts the focus of criticism from the truncation of human possibilities to the vitality of life, and ultimately furnishes resources that can secure the latter – all without abandoning conventionality as the ethical horizon.
Gupta, Jay A.: Freedom of the Void: Hegel and Nietzsche on the Politics of Nihilism: Toward a Critical Understanding of 9/11. – In: Telos. A Quarterly Journal of Critical Thought. New York, NY. 129 (2004), 17–39. H. believed that the merely negative conception of freedom as freedom from any particular worldly content has catastrophic consequences in the spheres of politics and religion. Nietzsche in a sense shared this belief, in the form of his critique of nihilism. I examine the discussions of both thinkers, and make some conjectures based on those discussions about the theocratic nihilism that appears to be at least partly behind the events of 9/11.
Gupta, Jay A.: Hegel on logic, Determinacy, and Cognition. – In: Philosophical forum. A Quarterly. New York. 35 (2004), 1, 81–96. This paper examines how H.s theory of determinacy, developed in his Science of Logic, grounds a non-metaphysical conception of cognition. Metaphysical conceptions of cognition are conceived as having sui generis form-giving capacities that stand in principle separation from a sort of “contentconferring” determinacy located in the world. Once we have rejected this metaphysical picture of cognition, this opens up the possibility that determinacy may be thinkable without first presuming a consciousness-world distinction. H. believes that if determinacy is genuinely thinkable absent this distinction, a legitimate theoretical backdrop may be established for seeing how distinctively psychological items, for example ‘concepts’, are not only at home in the natural world, but in a sense presuppose it. Cognitive items and processes are seen from this vantage to be highly evolved, determinate instances of the same sorts of things and processes that occur in less developed and determinate ways in the rest of nature.
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Hoffmann, Thomas Sören: Staat der Freiheit – freier Staat. Deduktion, Imagination und Begriff objektiver Freiheit bei Fichte und Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 221–247. Starting from Kant and the “anarchic” principle of freedom, idealist thinking about the state faces the task of attaining an order of co-existing free beings that gives reason a concrete form. Despite parallel starting points (e. g., the thought of recognition), Fichte and H. developed two fundamentally different models. Fichte deduces right in general as a necessary moment of individual self-consciousness, and he understands the state in particular as a medium for the empirical visualization of reason and morality, a projection of reason founded in a “community of imagination.” That which binds the positing subjectivity of citizens is always a function of the faculty of imagination, which essentially anticipates a totality of reason that is not yet realized. For H., in contrast, the state and its very idea is already an actuality. The significance of the state does not lie in a mere subjectively generated image of an externality that is determined by reason and freedom. Rather, it lies in a free actuality that already presupposes itself as free in “objective” self-understanding.The state guarantees “objective recognition” that is not bound to processes of individual recognition, but rather replaces these objectively and thereby makes it possible to find one’s self recognized. Whereas Fichte’s state is to be thought of as “transitory” in relation to an ultimately state-free absolute subjectivity, for H. the sphere of the state (objective spirit) cannot be replaced and can only be transcended by the dimensions of absolute spirit.
Houlgate, Stephen: Hegel, Desmond, and the Problem of God’s Transcendence. — In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Chicago, Ill. 36 (2004/ 2005), 1, 131–152. William Desmond maintains that perserving the difference between God and humanity means retaining the transcendent otherness of God. In this article, by contrast, I argue that H. is right to maintain that insisting on God’s transcendent otherness actually turns God into a finite divinity and so eliminates the very difference Desmond wishes to retain. The only way to perserve the genuine difference between God and humanity, therefore, is to give up the idea that God is a transcendent other and to understand him to be immanent in humanity itself. I argue that this H.ian position is closer to the orthodox Christian understanding of God than Desmond allows.
Hucke, Patrizia: „Reform“ und „consequentes Festhalten“ des Hegelschen Systems. Zu Karl Rosenkranz’ und Augusto Veras Bearbeitungen von Hegels Logik. — In: Kaltenbacher, Wolfgang (Hg.): Der Gedanke. Sieben Studien zu den deutsch-italienischen Beziehungen in Philosophie und Kunst. Einleitungstext von Gerardo Marotta. Würzburg 2004. 125–146. (Hans-Georg Gadamer in Erinnerung seiner neapolitanischen Vorlesungen am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici gewidmet) Verf.in präsentiert zunächst einige Rosenkranz-Texte, in welchen seine Hochschätzung der philosophischen Leistungen Augusto Veras zum Ausdruck kommt, und stellt sie in ein Spannungsverhältnis zu den eigentlichen philosophischen Positionen von Rosenkranz selbst. Ein Vergleich zwischen den Arbeiten der beiden H.-Anhänger zu H.s Logik gibt dann näheren Aufschluß auch über ihre jeweiligen Ansätze hinsichtlich einer Systemkritik bzw. -reform. Dabei werden besonders Rosenkranz’ Wissenschaft der logischen Idee (1858–59) und Veras Einleitung zu der von ihm besorgten Übersetzung der Logik H.s. ins Französische betrachtet. Im Verhältnis zu anderen H.ianern in Deutschland und Italien standen sich beide darin nahe, daß sie sich für die Frage nach der
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Systemform der Logik in ihrem Verhältnis zur traditionellen Logik und Metaphysik interessierten und am Gedanken eines persönlichen Gottes bei H. festhielten.
Jenkins, Joseph: Detour about “The Vipers’ Nest” through Hegel, Adorno, and Mann’s “Doctor Faustus”: Temporal Views of Subject/Objekt Convergences. — In: Studies in Law, Politics, and Society. New York. 33 (2004), 25–62. Verf. faßt H.s Darstellung des Heroischen sowie die ästhetische Praxis Adrian Leverkühns und die mythische Hoffnung Dr. Chaim Breisachers in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947) als drei Versionen illusionärer unmittelbarer Einheit des Selbsts und eines ihm übertrieben wichtigen Objekts auf, deren zweite er unter wesentlicher Bezugnahme auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) einer ‚Relektüre‘ unterzieht, in der sowohl sie als auch die im Roman dargestellte ästhetische Praxis Ludwig van Beethovens im Sinne Adornos als eine nicht mehr illusionäre Version – unter gegenseitigem Auslöschen von Subjekt und Objekt und Selbstaufgabe des intentionalen Subjekts – gedeutet wird, deren Bezug auf den Kapitalismus ihm schließlich, nach einer Interpretation von François Mauriacs Le noeud de vipères (1932), Anlaß zur Hoffnung auf eine nicht mehr auf illusionäre Übertreibungen angewiesene Gesellschaft gibt. H.s „Heros“ als adäquate Wirklichkeit des „Ideals“ werde dabei als Phantasie einer Flucht aus der Moderne in eine unmittelbare Zugehörigkeit zum Ganzen der Geschichte (statt in ein selbst zu erschaffendes letztes Objekt oder in eine vorgeschichtliche Fülle) gedeutet.
Jervolino, Domenico: Renoncer à Hegel? — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 209–215. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Verf. stellt dar, aus welchen Gründen und in welchem Sinn man nach Paul Ricœur „auf Hegel verzichten“ müsse. Zunächst zeigt er, wie Ricœur in Zeit und Erzählung H.s Philosophie der Weltgeschichte als einen Versuch der „totalen Vermittlung“ zwischen dem Wirklichen und dem Vernünftigen beschreibt, der heute seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Anschließend demonstriert Verf., daß die von Ricœur konzipierte Hermeneutik des geschichtlichen Bewußtseins, die er als ein Denken der „offenen, unvollkommenen Vermittlung“ begreift, dennoch eine Reihe von Anknüpfungspunkten zu H.s Philosophie des Geistes aufweise. Wie Ricœur selbst in dem Aufsatz „Hegel aujourd’hui“ (1974) erklärt, könne seine Philosophie der Interpretation als eine „unglückliche hegelianische Philosophie“ und H.s Philosophie des Geistes umgekehrt als eine „unglückliche Philosophie der Interpretation“ charakterisiert werden.
Kellerwessel, Wulf: Reschers idealistische Dialektik. Darstellung und kritischer Vergleich mit dem gegenwärtigen objektiven Idealismus (in der Tradition Hegels). — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag.Würzburg 2004. 253–264. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Verf. skizziert zunächst die Beziehung von Nicholas Reschers „conceptual idealism“ zu H.: Neben einer moralphilosophisch initiierten Kritik stünden „deutliche Affinitäten im Bereich der
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theoretischen Philosophie und der Methodik“. Darauf baut er einen Vergleich zwischen Reschers „objektivem Idealismus und seiner dialektischen Logik“ mit dem „objektiven Idealismus Hegelscher Tradition“, den er im Werk Dieter Wandschneiders verkörpert sieht. Beide betrieben „keine bloße Hegel-Exegese“, sondern bemühten sich um eine „Melioration“ von H.s Philosophie; Reschers flexibler Ansatz stehe jedoch stärker in der amerikanischen Tradition des Fallibilismus und Pragmatismus; Wandschneiders Ansatz sei hingegen methodisch stringenter und wegen seiner ontologischen Dimension „ambitiöser“, biete allerdings auch mehr Angriffsflächen.
Kocay, Victor: From Hegel to Ingarden: Aesthetic Objects and the “Creation” of the World. — In: Analecta Husserliana. The Yearbook of Phenomenological Research. Dordrecht. 79 (2004), 467–484.
Koch, Anton Friedrich: Unmittelbares Wissen und logische Vermittlung. Hegels Wissenschaft der Logik. — In: Jaeschke, Walter/Sandkaulen, Birgit (Hgg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004. 319–336. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Band 29) Verf. stellt heraus, daß H. die Wissenschaft der Logik als seine Neukonzeption der Metaphysik in drei wesentlichen Hinsichten sowohl gegen als auch mit Friedrich Heinrich Jacobi entwickle: 1. Gegen den repräsentativ von Jacobi vertretenen Standpunkt des unmittelbaren Wissens setze H. einen Unmittelbarkeit und Vermittlung nicht mehr trennenden, sondern miteinander vermittelnden Erkenntnistyp. 2. H. greife Jacobis Kritik an der „vormaligen“ Metaphysik, daß diese mit ihrer „Methode der Demonstration schlechthin in den Kreis der starren Notwendigkeit des Endlichen gebunden“ bleibe, auf und entfalte seinerseits eine Wissenschaft des Logischen, die das Absolute nicht mehr ausschließlich substantiell, sondern als Subjekt, d. h. prozessual begreife. 3. Vor dem Hintergrund seiner so konzipierten Logik müsse H. Jacobis Auffassung zurückweisen, derzufolge die alte, auch nach H.s Ansicht in Spinozas Substanzphilosophie gipfelnde Metaphysik nur durch einen intellektuellen Sprung zu überwinden sei. Im Anschluß an diese Ausführungen untersucht Verf. die Methode der H.schen Logik, indem er die spezifischen Dialektiktypen ihrer drei Teile eingehender analysiert.
Kolb, David: Beyond the Pale: The Spectre of Formal Universality. — In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Chicago, Ill. 36 (2004), 1, 15–30. The essay discusses Frederick Neuhouser’s reading of H.s philosophy of right, praising the way it avoids many errors, but disagreeing with Neuhouser’s claim that arguments for H.s conclusions can made in independence from the Logic.The main objection made is that without some Logical foundation Neuhouser’s reading has no way to stop some of his arguments from leading to less substantial social bonds and structures than he, and H., wish.
Lagerspetz, Eerik: Hegel and Hobbes on Institutions and Collective Actions. — In: Ratio Juris. Oxford u. a. 17 (2004), 2, 227–240. H. is usually, and rightly, considered the foremost representative of the organistic conception of society. It is only natural to think that his view has nothing in common with the kind of individualistic outlook that dominates our legal and political thinking, and that I myself have tried to
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defend. I try to show why certain insights of H. are potentially important even for individualistic legal and political theories. First, I explicate some of the problems he struggled with, and compare his views with those of Thomas Hobbes. Next, I try to link his views to the modern theories of institutions and of collective action. The antidemocratic ideology expressed in the main works of Hobbes and H. is clearly outmoded. Nevertheless, in their criticism of popular sovereignty, they posed some important questions. First, how do collectives like the People exist? Second, what do we mean by saying that collectives perform actions? It seems that, in order to perform an action, an entity ought to possess will. But what does it mean that a collective has a will?
De Laurentiis, Allegra: The Tenacity of Contradiction. Hegel on Ancient and Modern Views of Paradox. — In: Hüning, Dieter/Michel, Karin/Thomas, Andreas: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag. Berlin 2004. 405–438. (Philosophische Schriften. Band 65) Verf.in untersucht H.s Auseinandersetzung mit der antiken Dialektik und mit dem (auch methodologischen) Problem des Widerspruchs besonders hinsichtlich der Thematisierung der Bewegung und deren Paradoxa bei Zenon. Diese werden zunächst mit Platos Dialektik verglichen und gemäß der Aristotelischen Wiedergabe und Kritik berücksichtigt; im Anschluß wird Kants Würdigung der Argumente in dessen Antinomienlehre und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft diskutiert. Schließlich präsentiert Verf.in H.s Lob der Eleaten als Beginn der Dialektik. Zenons Argumente, so Verf.in, gelten H. als radikale Annahme der grundlegenden Funktion des Widerspruchs im Denken und werden mit besonderem Verweis auf die Seins- und Wesenslogik und auf die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie erörtert.
Liccioli, Loana: Il retroterra Harveyano e Cartesiano nella concezione della circolazione sanguigna in Hegel. [Der Harveysche und Cartesianische Hintergrund in Hegels Auffassung des Blutkreislaufs.] — In: verifiche. Trento. XXXIII (2004), 1–2, 79–98. In dieser strikt auf das biologische Thema bezogenen Arbeit wird H.s Verständnis des Blutkreislaufs untersucht. Unter Bezugnahme auf die biologisch-medizinischen Konzepte der Zeit vor H. werden die thematischen Kernpunkte, die auf die Errungenschaften Harveys zurückzuführen sind, und die Aspekte, die den Mechanismus Descartes’ heraufbeschwören, hervorgehoben. Anhand des Moments der Irritabilität, die mit dem Kreislaufsystem zusammenhänge, entwickele H. eine ‚physiologische Dialektik‘, in der das Pulsieren (irritable sich mit sich zusammenschließende Totalität) durch die Integration der Besonderheiten, die es zusammensetzten, vollendeter Ausdruck eines sich wiederholenden Prozesses werde: Der Blutkreislauf sei nämlich Endpunkt, der auch Ausgangspunkt einer Bewegung, die ihre Rechtfertigung in sich selbst finde, sei. H. erkläre die Kreisförmigkeit der Bewegung, was ihre Teilbestimmungen betrifft, nach einem mechanistischen Modell, sehe sie jedoch in der Folge im Begriff des Pulses wieder zusammengesetzt, als Ausdruck der lebendigen Allgemeinheit des Organismus. Die mechanische Bewegung, die der Physiologie des Kreislaufs zu Grunde liege, fasse H. als vorbereitende Negativität der dialektischen Reunifikation auf, während das Pulsieren vollständiger und abgeschlossener Ausdruck eines Prozesses werde, in dem die Bewegung der Prozeß selbst sei.
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Magrì, Giovanni: Il „salto della libertà“. La critica di Trendelenburg alla dialettica hegeliana nella ricezione di Kierkegaard. [Der „Salto der Freiheit“. Trendelenburgs Kritik an Hegels Dialektik in Kierkegaards Sicht.] — In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica. Milano. XCVI (2004), 1, 87–143. Dieser Aufsatz stellt den Einfluß Friedrich Adolf Trendelenburgs auf die philosophische Ausbildung Sören Kierkegaards dar. Unter diesem Einfluß habe Kierkegaard seine H.-Kritik entwickelt. Verf. versucht darüber hinaus den Nachweis zu erbringen, Kierkegaards H.-Kritik könne die Thesen Trendelenburgs überwinden, indem der dänische Denker den Unterschied zwischen einer ontologischen und einer begrifflich-sprachlichen Bestimmung expliziere. In diesem Sinn zeige Kierkegaard eine neue philosophische Richtung, vermöge derer seine H.-Kritik in den Bereich der Phänomenologie transponiert werden könne. Es sei tatsächlich der Bezirk des Bewußtseins, für den die dialektische Bewegung nicht mehr plausibilisierbar sei: Zwar könne die Subjektivität sich selbst nicht bestimmen, dennoch liege in ihr die Möglichkeit eines transzendentalen Blicks über sich selbst hinaus beschlossen.
Marini, Giuliano: Letzter Zweck e Endzweck. Osservazioni critiche intorno a una questione non solo terminologica fra Kant e Hegel. [Letzter Zweck und Endzweck. Kritische Betrachtungen im Umkreis einer nicht nur terminologischen Frage zwischen Kant und Hegel.] — In: Riconstruzione della soggettività. [Rekonstruktion der Subjektivität.] A cura di Remo Bodei, Giuseppe Cantillo, Alessandro Ferrara, Vanna Gessa Kurotschka, Sebastiano Maffettone. Napoli 2004. 63–80.
McCumber, John: Substance and Reciprocity in Hegel. – In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Chicago, Ill. 35 (2004), 1/2, 1–24.
Meist, Kurt Rainer: Hegels „Critik des Fichteschen Naturrechts“. Über die systematischen Anfänge der „Philosophie des Rechts“. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 177–219. H.s initial response to Fichte focuses on the question of how a consciousness of freedom that has become universal can find an appropriate expression in the state. The present contribution, which makes us of the new edition of H.s so-called “System of Ethical Life” of 1802/03, places H.s critique of Fichte in the context of the political events and theoretical debates concerning the state at that time. H. was not persuaded by the kind of externally enforced distributive justice that Kant and Fichte foresaw within a state based on right. He believed it was not capable of providing a substantive sphere of guaranteed actuality for the autonomy of individuals. According to H., this can be provided only by a state whose laws ensure the equality of all its citizens in a material way.
Menegoni, Francesca: Il problema dell’origine del male in Hegel. [Das Problem des Ursprungs des Bösen bei Hegel.] — In: verifiche. Trento. XXXIII (2004), 3–4, 293–315. Verf.in setzt sich mit H.s Interpretation der Moral bzw. der Beziehung zwischen Moral, Entstehung des Bösen und Freiheit auseinander. Dabei umreißt Menegoni die wesentlichen Merkmale der H.schen Moral-Deutung sowohl im Rahmen der Rechtsphilosophie als auch anhand der für dieses Thema wichtigsten Stellen der Werke H.s, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen
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dem H.schen und Kantischen Gewissensbegriff genauer interpretieren zu können und das „Mysterium“ des Ursprungs des Bösen bei beiden Autoren im Rahmen einer Definition der Freiheit zu unterstreichen.
Miller, Elaine P.: Freedom and the Ethics of the Couple: Irigaray, Hegel, and Schelling. – In: Philosophy today. Chicago, Ill. 48 (2004), 2, 128–147. Verf.in will zeigen, daß die neueren, mehr politisch ausgerichteten Texte Luce Irigarays – insbesondere Democracy begins between two. London 2000; Why different? A culture of two subjects. New York 2000 sowie To be two. New York 2001 – keinen Abschied von der Philosophie bedeuteten (130), sondern auf Grundlage der Ausarbeitung der „Ethics of the couple“ – sinngemäß zu umschreiben als Sittlichkeit der Geschlechterdifferenz – eine Auseinandersetzung darum führten, warum Schellings Kritik an der H.schen Dialektik berechtigt sei und warum dies keine völlige Destruktion der H.schen Philosophie bedeute. Nach Auffassung der Verf.in strebe Schelling mit seiner in sich differenten höchsten Einheit, die er Ungrund (vgl. 129, 142) nenne, eine friedliche Beruhigung von nicht aufeinander reduzierbaren Dualitäten – so z. B. von Natur und Geist, männlich und weiblich – an, die in der Konsequenz der H.schen Dialektik ihre ontologisierte Tragik (vgl. 141) eines andauernden Herr-Knecht-Verhältnisses und ihre Kriegskonstruktion („the wars that construct history in Hegel’s account“ [144]) nehme. Die „Ethics of the couple“ erweitere so – als bisher weitgehend unerkannte, jedoch eigentlich wesentliche Instanz einer Vermittlung zwischen Individuum und Allgemeinheit – in Schellings Gefolge den Rahmen notwendiger Freiheitsverwirklichung (vgl.: ebd.), belasse aber der H.schen Philosophie dort ihre Berechtigung, wo sie überhaupt auf Differenz (vgl. 141) und der Beschäftigung mit dem Negativen (vgl. 138) bestehe und also Einheit niemals als in sich differenzlos begreife.
Nassar, Dalia: Heroes and Fanatics: Discernment and Critique in Hegel’s Political Philosophy. – In: Idealistic Studies. An Interdisciplinary Journal of Philosophy. Worcester, MA. 34 (2004), 2, 199–214. The possibility of positing critiques of the contemporary from within H.s political philosophy is by no means evident. In fact, H.s political philosophy has been plagued with accusations of quietism and conservatism and H. himself claims that the philosophical task is retrospective and descriptive. Yet, in spite of this claim, H. posits a critique of his contemporaries, the Jacobins. I attempt to answer the question, is H.s critique of the Jacobins consistent with his political philosophy as a whole? Or, is this critique a mere inconsistency in H.s system? In essence, is H. justified, on his own grounds, to criticize the Jacobins? In order to answer this question, I identify what H. means by the “genuinely philosophical viewpoint,” which he equates with the “world-historical perspective,” and show that this perspective is not limited to historical description, but does in fact allow and even call for political discernment and critique.
Neuser, Wolfgang: Das Anderssein der Idee, das Außereinandersein der Natur und der Begriff der Natur. — In: Hösle,Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 39–49. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Der Aufsatz zeigt in acht Schritten, wie Struktur (Idee) und Begriff der Natur bei H. aufeinander bezogen sind: 1. Die Logik der Logik; 2. Der freie Entschluß der Idee; 3. Das Anderssein der Idee;
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4. Das Außereinandersein der Idee der Natur; 5. Die Logik der Grundbegriffe der Natur; 6. Praktische und theoretische Haltung zur Natur; 7. Die Logik der Grundbegriffe der Natur und die drei Reiche in der Naturphilosophie; 8. Das phänomenologische Außereinandersein der Natur und die logische Widersprüchlichkeit der Naturbegriffe. H.s Beschreibung der Natur könne nur im Kontext des neuzeitlichen Naturbegriffs, in dem die Natur dem Subjekt äußerlich sei, angemessen begriffen werden. H.s objektiver Idealismus liefere mit der Spannung zwischen der Identität von Denken und Gedachtem einerseits und dem Auseinandersein der Natur andererseits eine logische Begründung für die Offenheit der Naturerkenntnis.
Nuzzo, Angelica: Logic and Time in Hegel’s Idea of History – Philosophical Einteilung and Historical Periodization. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 165–180. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli, herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Zunächst stellt Verf. die Entwicklung von H.s Konzeption der Geschichte sowohl in ihrer praktischen als auch theoretischen Dimension bis zur Phänomenologie des Geistes dar. An deren Ende stünden zwei unterschiedliche Auffassungen von Geschichte in einer unaufgelösten Spannung, insofern die „begriffne Geschichte“ sowohl eine Philosophie der Geschichte als auch eine Geschichte der Philosophie begründe. Dies führe zu der Frage, welche systematische Logik H.s umstrittener Entscheidung zugrundeliegt, die Weltgeschichte in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) ebenso wie später in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) dem objektiven und nicht dem absoluten Geist zuzuordnen. Um diese Frage zu klären, stellt Verf. den Begriff der Einteilung als ein systematisches Prinzip heraus, das den Übergang von logischer zu historischer Entwicklung ermögliche, insofern die Einteilung ein Grundbegriff der spekulativ-dialektischen Methode ebenso wie der geschichtlich-dialektischen Entwicklung des Rechts sei.
Oittinen,Vesa: Logik der Subjektivität und Logik der Moderne bei Hegel. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 145–163. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli, herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Ausgehend von der Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Linien einer subjektivitätslogischen und einer objektivistisch-ontologisierenden H.-Deutung will Verf. die Parallelität zwischen dem subjektivitätslogischen Prozeß und der Bewegung innerhalb des realphilosophischen Materials nachweisen, d. h. nachweisen, daß die Struktur der Moderne bei H. analog zu seinem Modell der Subjektivität als Selbstbeziehung konzipiert sei. H. sei es wesentlich darum gegangen, jene Modelle zu überwinden, welche sich durch Konzeptionen „schlechter Unendlichkeit“ auszeichnen: das Modell des Kantisch-Fichteschen Subjekts, was die Subjektivität, das Modell einer „offenen“ Bewegung, was die Geschichte betreffe. Für den Verf. erweist sich aus diesem Grunde das Schema des – wahrhaft unendlichen – Sebstbezugs als grundlegend gegenüber anderen strukturellen Momenten der H.schen Philosophie – etwa der Reflexion oder der „Lehre von den Widersprüchen“. Um die Modelle der „schlechten Unendlichkeit“ zu überwinden, bedürfe es jedoch eines „übergreifenden Allgemeinen“, das die Dichotomie zwischen Form und Inhalt in einer Identität von Begriff und Wirklichkeit im Sinne einer Negation der Negation aufhebe; es
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bedürfe des Modells des „Geistes“, der als ein Prozeß der Selbstbestimmung, der Rückkehr zu sich selbst zu verstehen sei.
Onnasch, Ernst-Otto: System und Methode in der Philosophie Hegels. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 79–89. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Angesichts der Schwierigkeiten, eine endgültige Interpretation der systematischen Struktur der Philosophie H.s zu formulieren, versucht Onnasch, das System als Spannungsfeld zwischen Denken und Sein zu rekonstruieren.
Petry, Michael John: Physik und Mathematik um 1790. Hegel und Schelling als Schüler Pfleiderers. — In: Hösle,Vittorio/Neuser,Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 145–155. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Schellings und H.s Naturphilosophien seien Teil der Reaktion auf die dogmatisierende, eindimensionale Mechanisierung des Weltbilds. Dennoch polemisiere H. gegen Schellings Naturphilosophie. Verf. untersucht den Einfluß des Mathematikers und Physikers Christoph Friedrich von Pfleiderer (1736–1821) auf H. und dessen Schelling-Kritik. H. und Schelling waren beide während ihres Studiums im Tübinger Stift Schüler von Pfleiderers, der sich vor allem mit Euklids Elementen beschäftigt habe, und zwar im Blick auf die reine Mathematik und besonders die Infinitesimalrechnung. Spuren seines Einflusses auf H. fänden sich u. a. im Seinskapitel der Wissenschaft der Logik, in der H. eine Analyse der mathematischen Kategorien vorlege, die eine Weiterentwicklung von von Pfleiderers Versuch darstelle, die Probleme der modernen Mathematik mit Hilfe von Euklids Elementen aufzulösen. Schelling habe dagegen vor allem Kants und Platons Gedanken in seine Philosophie integriert und es vermieden, sich auf mathematische oder physikalische Problematiken einzulassen. Nicht zuletzt durch von Pfleiderers Einfluß sei H. zu einem völlig anderen Ausgangspunkt in der Mathematik und Physik als Schelling gelangt.
von der Pfordten, Dietmar: Zum Begriff des Staates bei Kant und Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 103–120. This contribution is intended as a study in conceptual analysis. Starting with various aspects of meaning that are connected with the concept of a political community in an historical as well as systematic respect, it reconstructs the concept of the state in Kant and H. Kant’s conception of the state turns out above all to emphasize aspects concerning legal ethics and community membership, whereas H. places in the foreground the aspects of universality and rulership in the classical concept of the state. These differences can be traced back to divergent conceptions of freedom. Kant advocates a concept of political freedom that concerns the bonds of the individual will, which limit external force, whereas H. conceives the state as an adequate realization of an always already general free will, modeled on the polis of antiquity. In a second section, these different concepts of the state are made more precise through an analysis in terms of action theory.
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Pippin, Robert B.: Recognition and Reconciliation. Actualized Agency in Hegel’s Jena Phenomenology. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 249–267. Die meisten liberalen Versionen des Staates beruhen auf einer philosophisch anspruchsvollen Theorie über die Natur menschlicher Individualität und deren normativ relevanten Implikationen. Es wird oft angenommen, daß kontrastierende Theorien über die Unhintergehbarkeit intersubjektiver Beziehungen sowie über den abgeleiteten oder sekundären Status der Individualität potentiell, wenn nicht sogar tatsächlich illiberal sind, und H.s mutmaßliche „organische“ Theorie des Staates wird dabei oft als Beispiel angeführt. Ein Hauptschauplatz dieser Debatten ist die These solcher Neo-Hegelianer wie Charles Taylor und Axel Honneth, daß auch nur die Möglichkeit des liberalen Schlüsselbegriffs eines freien und rationalen Individuums auf einer sozialen Voraussetzung von großer politischer Relevanz beruht – der gegenseitigen Anerkennung. Ich werde mich den Quellen dieser Auseinandersetzung zuwenden (die zuweilen auch postmoderne „Identitätspolitik“ genannt wird) und damit H.s ursprünglichem Argument. Dabei werde ich untersuchen, worin genau H. zufolge die Natur der menschlichen Abhängigkeit besteht, um die es in dieser Auseinandersetzung geht, und was genau als Erfüllung einer solchen Abhängigkeitsbedingung gelten kann. Was H.s Antwort auf die erste Frage ist, wird, so meine These, sich als leichter eruierbar erweisen als die Antwort auf die zweite Frage.
Pocai, Marcello: Der „kritische Hegelianismus“ Francesco De Sanctis’. — In: Kaltenbacher, Wolfgang (Hg.): Der Gedanke. Sieben Studien zu den deutsch-italienischen Beziehungen in Philosophie und Kunst. Einleitungstext von Gerardo Marotta. Würzburg 2004. 163–180. (Hans-Georg Gadamer in Erinnerung seiner neapolitanischen Vorlesungen am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici gewidmet) Der „kritische Hegelianismus“ des Literaturwissenschaftlers Francesco De Sanctis ist einer Form des politischen Realismus verpflichtet, der damals der noch bevorstehenden Einigung Italiens zu dienen beabsichtigte. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen der aufgrund eines Vortragstextes Julius H. von Kirchmanns entstandene Aufsatz Il principio del realismo (Das Prinzip des Realismus), der 1876 veröffentlicht und von der Forschung vor allem im Kontext der Positivismuskritik gedeutet wurde, sowie der ein Jahr später in einer Zeitung veröffentlichte Artikel Il realismo moderno (Der moderne Realismus). Verf. hebt hervor, De Sanctis beschreibe die neue Strömung des italienischen Realismus parallel zur geschichtlichen Wirkung des H.schen Idealismus, dessen Rezeption er als für das neue Italien notwendig gehalten habe. Im Kontrast zu Bruno Bauer etabliere De Sanctis’ politischer Realismus eine auf der Zeitdiagnose beruhende ‚Verteidigung‘ des Bestehenden mit dem Anspruch, der realgeschichtlichen Wirklichkeit i. S. politischer Praxis kritisch entgegenzutreten.
Preterossi, Geminello: Tramonto senza fine. L’occidente politico di Hegel e Schmitt. — In: Filosofia Politica. Bologna. XVIII (2004), 1, 5–22. The most relevant political and philosophical performances regarding the West – quite a polemical and vague notion – are H.s and Schmitt’s. Both readings stem from the critical viewpoint defined by the Eurocentric political modernity. H.s and Schmitt’s West is still able of producing a political form. In H. the ‘accomplishment of reason’ includes the ‘political’ within the speculative, thereby determining a ‘fulfillment’ which is permanently crepuscular, impossible to exit: Europe is the ‘land of sunset’. For Schmitt reason is simply an absence, which renders unavoidable and always possible a ‘decision’ which produces effectiveness. So, the West is at the same time global ‘nomos’ and its breakthrough.
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Rajan,Tilottama: Philosophy as Encyclopedia: Hegel, Schelling, and the Organization of Knowledge. – In: The Wordsworth Circle. Philadelphia, Pa. 35 (2004), 1, 6–11. H.s Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ordnet Verf. in den Umkreis zeitgenössischer Enzyklopädie-Projekte ein. Von der Enzyklopädie der französischen Enzyklopädisten unterscheidet er die romantische Konzeption, die verschiedene Formen (der Schlegels, H.s und Coleridges) unter sich befasse. Die idealistische Enzyklopädie-Konzeption H.s wird also als eine Unterart der romantischen verstanden. Diese gehe von einer organischen Vernetzung des Wissens aus, das als allseitig integriert auch unendlich komplex sei und deshalb einer endgültigen Systematisierung – H.s absolutem Wissen – eigentlich widerstreite. Schelling verfaßte keine Enzyklopädie, habe jedoch geglaubt, daß seine Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums in eine solche erweitert werden könnten. Seine Philosophie der Kunst könne als enzyklopädischer Versuch angesehen werden, insofern die Kunst das Ganze der Philosophie widerspiegele. Der späte Schelling halte an dem Gedanken der Philosophie als organischem System fest, das er allerdings im Unterschied zu H. nicht ausgearbeitet habe. H.s Enzyklopädie sei neben der bei Schelling nicht entwickelten Dialektik von dem Gedanken des Systems als Subjekt getragen. Die darin implizierte Selbstreflexion des Systems äußere sich in einer komplizierten Verschachtelung der Wissens-Ebenen (Triaden in Triaden). Diese träten als selbständige Zentren auf, die aber wie in Leibniz’ Monadologie aufeinander bezogen seien. Ähnlich wie in Leibniz’ De Arte Combinatoria sei der Gesamtzusammenhang logisch strukturiert. Ein barocker Charakter sei unverkennbar. Wie Verf. anhand der Ausführungen über Krankheit am Schluß der H.schen Naturphilosophie zu zeigen versucht, enthalte H.s enzyklopädisches System unausgetragene Spannungen.
Raspa, Venanzio: Das Sittliche als historisches Subjekt. Frühe Überlegungen Hegels zu Ethik und Geschichte. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 191–208. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli, herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Verf. stellt dar, wie H. in seinen Jugendschriften den Zusammenhang von Ethik, Geschichte, Religion und Politik denkt. Im ersten Teil wird gezeigt, welchen großen Stellenwert H. schon in der Stuttgarter, Tübinger und Berner Zeit der Religion für das Leben der Völker und Staaten zuschreibe. Dabei erkennt Verf. in H.s Bestimmung des Gegensatzes von Moralität und Legalität bzw. „Positivität“ eine Anwendung Kantischer Begriffe auf die Geschichte. Im zweiten Teil wird beschrieben, inwiefern die Einführung der Begriffe Liebe und Leben, die H. in der Frankfurter Zeit dem abstrakten Begriff des Gesetzes entgegenstelle, eine Änderung seiner Position gegenüber Kant bedeute. Die historisch-politische Dimension einer Ganzheit, in der die Trennung des Sollens aufgehoben ist, zeige sich in H.s utopischer Hoffnung auf den Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem der Staat den Bedürfnissen der Bürger angepaßt sei.
Redding, Paul: Schemata, Symbols, and Syllogisms of Statehood in the Thought of Kant and Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 151–176. H.s Konzeption des Staats in der Philosophie des Rechts als „Wirklichkeit der Idee der Sittlichkeit“ mag leicht als Variante jener theozentrischen Metaphysik erscheinen, die man in Kants frühesten vorkritischen Schriften findet. In diesen Schriften werden die interaktiven materialen Substanzen, welche die Welt konstituieren, durch ein „Schema“, das in Gottes Geist existiert, in den Formen
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einer gesetzlich geregelten Gemeinschaft gehalten. Mit seiner kritischen Philosophie hat Kant dieses Schema jedoch auf eine wirkungsmächtige Weise ‚entgöttlicht‘, indem er es in zwei verschiedene Typen aufteilte, die nunmehr in den Funktionen des menschlichen Geistes am Werke sind: Einerseits wird den Verstandesbegriffen ein sinnlicher Inhalt gegeben, andererseits geben die bloß regulativen „Symbole“ den Vernunftideen zum praktischen Gebrauch eine sinnliche Präsenz. Für Kant signalisiert die Vermischung dieser beiden Arten, Begriffe und Ideen zu versinnlichen, eine Überschreitung der Grenzen der endlichen Vernunft hin zu einer dogmatischen Metaphysik oder zu einem „Mystizismus“. In diesem Beitrag verteidige ich H. gegen den Vorwurf der dogmatischen Metaphysik, indem ich die Art und Weise vergleiche, wie Kant und H. Kants vorkritische Konzeption eines göttlichen Schemas reinterpretieren.
Reid, Jeffrey: The Fiery Crucible,Yorick’s Skull, and Leprosy in the Sky: Hegel and the Otherness of Nature. – In: Idealistic Studies. An interdisciplinary Journal of Philosophy. Worcester, MA. 34 (2004), 1, 99–115. This paper deals with the problematic relationship between thought and nature in H. This entails looking at the philosophy of nature and discovering to what extent it claims to incorporate natural otherness or contingency and how it does so. I briefly summarize other approaches to this question (Maker, Winfield, Braun, Wandschneider, Hoffheimer …) while putting forward my own solution. This is expressed in an argument articulated around the three H.ian images (and their texts) in the paper’s title. We discover how the relation between philosophy and nature is a dynamic one, mediated by the actual content of the positive natural sciences. In other words, thought and nature are mediated by the human activity of scientific knowing, within the systematic project of knowing all of nature. This raises the possibility of conceiving H.s system as open to the future.
Rendón Alarcón, Jorge: La historia y el derecho en Vico y Hegel. [Die Geschichte und das Recht bei Vico und Hegel.] – In: Cuadernos sobre Vico. Sevilla. 17/18 (2004/2005), 223–228. Verf. untersucht in diesem kurzen Beitrag die Beziehungen von Geschichte und Recht im Anschluß an Überlegungen Vicos und H.s als Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft.
Richli, Urs: Ansichsein und Gesetztsein des reinen Wissens in Fichtes „Wissenschaftslehre“ und Hegels „Wissenschaft der Logik“. – In: Mohrs, Thomas/Roser, Andreas/Salehi, Djavid (Hgg.): Die Wiederkehr des Idealismus? Festschrift für Wilhelm Lütterfelds zum 60. Geburtstag. Lang: Frankfurt a. M. 2004. 61–74. Nach Verf. ist Fichtes kritische Kennzeichnung der Logik H.s als reflexiv nicht legitimiert verfehlt. H. habe die Wissenschaftslehre von 1794 gründlich studiert, man finde z. B. am Anfang der Wissenschaft der Logik und in der „Wesenslogik“ viele Anspielungen darauf.Verf. konzentriert sich hauptsächlich auf H.s Problematisierung der Reflexion und auf eine Deutung der Kategorie ‚Gegensatz‘ als Gesetz und Resultat der Prädikation.
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Rockmore, Tom: Hegel, le moderne et le post-moderne: l’avènement de l’histoire. — In: Losurdo, Domenico/Tosel, André (Éds.): L’idée d’époque historique. Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt a. M. 2004. 217–223. (Annalen der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli herausgegeben von Domenico Losurdo. Band 12) Verf. bestreitet, daß der sog. Postmodernismus eine neue Ära des Denkens eröffne. Das postmoderne Denken von Autoren wie Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze und Jacques Derrida charakterisiert er als einen Versuch, sich von dem „epistemologischen Fundamentalismus“ René Descartes’ zu distanzieren; als einen Skeptizismus, der in der Negation einen platonischen Realismus wiederhole, der auch von einigen Vertretern der heutigen analytischen Philosophie noch verteidigt werde. Die postmodernen Denker verkennten damit die entscheidende Wende von einem ahistorischen zu einem historischen Begriff der Erkenntnis, die H. in Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants vollzogen habe. Insofern sei der Postmodernismus nicht als post-, sondern vielmehr als prä-modern zu bezeichnen.
Rockwell, Russell: Hegel and Critical Social Theory: New Perspectives from the Marcuse Archives. — In: The Sociological Quarterly. Berkeley, CA. 45 (2004), 1, 141–159. Recently published archival material suggests the need to reexamine Herbert Marcuse’s interpretation of H.s thought. Social theory generally will benefit from reflections upon Marcuse’s historical attempts to understand contemporary societal domination, including its abstract forms, and his original social “translations” of H.s Subjective Logic. Following sections on Being and Essence, the latter often favored by Marxists, the final part of H.s Science of Logic was undervalued in the development of critical social theory before Marcuse’s close readings in the years 1932–1941. Marcuse took the lead among Critical Theorists in explicating H.s texts. Just as significant, Marcuse was among the first to point out the sociological relevance of key categories in the most abstract final sections of H.s most abstract work. The newly published materials document Marcuse’s unique attempts to conceive H.ian dialectic proper as itself a practical force of social transformations. Most important, these articles concern the relationship between theory and social practice that Marcuse investigated in H.s dialectic of the idea of the true and the idea of the good – the absolute idea.
Sandkühler, Hans Jörg: Revolution, bürgerliche Gesellschaft, Recht und Staat. Schelling und Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Der Begriff des Staates. Berlin. 2 (2004), 287–308. Within German Idealism, Schelling and H. exhibit two different strategies for determining the ground and function of right and the state. In their political theories they both pursue goals that are similar insofar as they are based in a comparable perception of modernity: For both of them, modernity consists in the actualization of individual freedom. They differ fundamentally, however, in their justificatory procedure. In his philosophy of freedom Schelling formulates a functional justification for right as a “second nature,” according to which right is understood as the means for securing the ever problematic freedom of the individual. On this basis, however, Schelling also grounds a critique of the state in principle: Precisely because the state is only the historically necessary condition of the guarantee of individual freedom, it cannot be regarded either as obligatory in a moral sense or as the locus of ethical life. Unlike Schelling, H. justifies the state with substantial rather than functional concepts, but still with a normative intention, on the basis of his notion of the right of the state as an ethical corrective to modern civil society: Right and
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law need to be rational because neither individuals nor the social organisation of their relations are rational a priori.
Sinnerbrink, Robert: Recognitive Freedom: Hegel and the Problem of Recognition. — In: Critical Horizons. Leiden. 5 (2004), 271–295. This paper examines the theme of recognition in H.s account of self-consciousness, suggesting that there are unresolved difficulties with the relationship between the normative sense of mutual recognition and phenomenological cases of unequal recognition. Recent readings of H. deal with this problem by positing an implicit distinction between an ‘ontological’ sense of recognition as a precondition for autonomous subjectivity, and a ‘normative’ sense of recognition as embodied in rational social and political institutions. Drawing on recent work by Robert B. Pippin and Axel Honneth, I argue that H.s conception of rational freedom provides the key to grasping the relationship between the ontological and normative senses of recognition. Recognitive freedom provides a way of appropriating H.s theory of recognition for contemporary social philosophy.
Spicer, Michael W.: A Note on Origins: Hegel, Weber, and Frederician Prussia. — In: Administrative Theory & Praxis. Journal of the Public Administration Theory Network. Nebraska, Omaha. 26 (2004), 1, 97–102. (electronic format) Dieser kurze Aufsatz schließt thematisch an einen 2003 in derselben Zeitschrift erschienenen Beitrag Scott Gales und Ralph Hummels an, der die Ähnlichkeiten der Auffassungen H.s und Max Webers in Fragen der Notwendigkeit einer staatlichen Bürokratie herausgestellt hat. Demgegenüber will Verf. auf die Grenzen (vgl. 101) einer gegenwartsorientierten Verallgemeinerung dieser Ähnlichkeiten hinweisen. Dabei charakterisiert er seinen Standpunkt als „healthy skepticism“ (102). Dies zielt in bezug auf Max Weber kritisch auf dessen These, daß in jedem modernen Staat – sei er nun kapitalistisch oder sozialistisch (vgl. 98) organisiert – eine völlig entpersonalisierte Bürokratie (vgl.: ebd.) benötigt werde, um für die beherrschten Bürger eine freiheitsschützende Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit zu etablieren. In Sachen H., den Verf. gegenüber Weber als Vertreter eines „historical determinism“ (98) charakterisiert, zielt die Kritik auf dessen über die ausgebildete Staatlichkeit und die Einstimmung des freien Willens der Einzelnen zu dieser vermitteltes Projekt, den Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit (vgl. 97) aufhebend zu lösen.Verf. gesteht zwar Unterschiede ein in den Staatsauffassungen H.s (der auf ein „universal good“ [101] abziele) und Webers (der mehr an der legitimierten Etablierung einer stabilen staatlichen Macht über ein bestimmtes Territorium [vgl. 101] interessiert sei); jedoch die zu kritisierenden ‚ambitionierten Ideen‘ („ambitious ideas“ [101]) beider fußen lt. Verf. in der verallgemeinerten Bedeutung, die H. und Weber dem historischen Preußen des 18. Jahrhunderts – mehr unbewußt als bewußt – abgewonnen hätten. Friedrich II. „used his bureaucracy in an aggressive manner to direct and manage the activities of not only his administrators, but the whole Prussian Society“ (100). Die negative Kritik des Verf.s bedarf also des konstitutiven Hinweises auf das vorbürgerlich absolutistische Preußen, um von dort ausgehend die Vereinbarkeit von Staatlichkeit, Bürokratie und bürgerlicher Freiheit bei H. und Weber dekompositorisch zu hinterfragen. Die unabweislich anwesende positive Konsequenz, H. und Weber erwiesen sich so als Denker, die gegen ihre bewußte Absicht unfähig gewesen seien, bei der Begründung der bürgerlichen Freiheit ihre vormoderne Orientierung aufzugeben, spricht Verf. allerdings – zu seinem Nachteil – nicht offen genug aus, um die These, H. sei ein preußischer Staatsphilosoph gewesen – die man insbesondere mit Blick auf H. als eine Variante des Vorwurfs ansehen kann –, von ihrer Urteilsbegründung her diskutierbar zu machen. Statt dessen warnt er vom Standpunkt eines unausgewiesen alternativen Freiheitsbegriffs davor, jenen Gehör zu schenken, die bereit seien, H. und Weber in Fragen von „governance and administration“ (102) zu folgen.
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Spieker, Michael: Anerkennung und Weltinnenpolitik. — In: Anerkennung. Zu einer Kategorie gesellschaftlicher Praxis. Herausgegeben von Hans-Helmut Gander. Würzburg: Ergon 2004. 63–76. H.s Philosophie der internationalen Beziehungen wird oft als Beleg für seine Lösung für ein Konzept der Anerkennung angesehen. Aufgrund seines Begriffs des Krieges wird er in die Ahnenreihe des „Politischen Realismus“ eingereiht und als Gegner der Kantischen Friedenstheorie dargestellt. Entgegen dessen zeigt sich, daß der philosophische Begriff des Krieges in der Endlichkeit und der daraus folgenden Kontingenz gründet; seine „sittliche Bedeutung“ hat er, indem er die Begrenztheit der Fähigkeit, Ziele zu erreichen vor Augen führt, weshalb auch kein beabsichtigter Zweck ihn wird rechtfertigen können. Indem der Staat Ausdruck und System der subjektiven Freiheit ist, zeigt sich das Maß seiner inneren Freiheit in dessen Verhältnis zu seiner Umwelt. Frei kann er nur als anerkannter sein, weshalb er nicht als Privatperson, sondern als Individuum mit kollektiv gebildeter Identität zu verstehen ist. Darin liegt für H. die Wurzel und Notwendigkeit des internationalen Rechts, das letztlich die Freiheit der Einzelnen, deren Ausdruck bereits der Staat ist, schützen und entwickeln soll.
Stekeler-Weithofer, Pirmin: Das Vernünftige ist wirklich. Hegels Logik und die Notwendigkeit in der Entwicklung von Urteilskriterien. — In: Thomas Rentsch (Hg.): Philosophie – Geschichte und Reflexion. Dresden. 2004. 86–113. (Dresdner Hefte für Philosophie. Heft 9) In diesem Aufsatz geht es darum, daß logische Analyse immer materialbegriffliche Analyse ist, also nicht „rein“ formal oder besser rein syntaktisch vorgeht. Das hat zur Folge, daß jedes Urteil darüber, ob ein Urteil oder eine Handlungsnorm vernünftig ist, die wirkliche Wahrheit bzw. die Machbarkeit längst schon mit beurteilten. Das gilt gerade auch für die Orientierung des Urteilens und Handelns an Ideen oder Idealen, die keine leeren Utopien sein dürfen.
Stekeler-Weithofer, Pirmin: Wir halten das Banner der Wahrheit. Zu Herbert Schnädelbachs Lektüre von Brandom, Hegel und anderen ‚Idealisten‘. — In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt. 29 (2004), 2, 177–188. Der Aufsatz weist einen Angriff Herbert Schnädelbachs gegen neuere H.-Lektüren als frühe Vertreter pragmatistischen Denkens (etwa Robert B. Brandoms oder Pirmin Stekeler-Weithofers) zurück. Das Argument könnte von H. selbst stammen: Eine bloß abstrakte Verteidigung der Wahrheit und Vernunft ohne konkrete, pragmatische Angaben, wie vernünftig zu urteilen ist – in unserem Fall: wie H.s Texte vernünftig zu lesen sind –, kollabiere in einen leeren Dogmatismus, in die leere Versicherung, den Text richtig gelesen zu haben.
Stekeler-Weithofer, Pirmin: Mathematisches und begriffliches Denken in Hegels Wissenschaft der Logik. — In: Hösle,Vittorio/Neuser,Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 123–144. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) H. leiste in der Wissenschaft der Logik eine Kritik formalistischen Denkens. Die Regeln der formalen Logik gelten nur in bereits schematisierten und damit schon mathematisierten Redebereichen. Mathematisch rein quantitative Bestimmungen seien, wo sie sich unmittelbar auf die Welt bezögen,
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immer auch mit qualitativen – und damit mathematisch nicht ausdrückbaren – Unterscheidungen verbunden. In jeder Rede von Quantität sei stets eine Qualität als begriffen vorausgesetzt. Das Grundproblem logischer Analysen liege somit in der Illusion einer Unmittelbarkeit. Daher frage H. nach Präsumtionen, die in Urteilen und Schlüssen unbefragt blieben. Hierbei zeige sich nicht nur, daß infinitesimale Größen keine gegenständlich kommunizierbaren Größen seien, sondern auch, daß diese für das Verstehen der Rechentechnik der Differentiation und Integration weder nötig noch hilfreich seien. H. zeige, daß mathematische Modelle nicht einfach eine Welt ‚an und für sich‘ hinter der Erfahrung abbildeten, sondern daß der Begriff der objektiven Welt von eben dieser Form der Darstellung unserer Erfahrung in der Welt selber abhänge. Daher sei zwischen bloßem Rechnen und begrifflich bewußtem Denken zu unterscheiden. Begriffliches Denken kläre externen Sinn und fundiere darin überhaupt erst die Verwendbarkeit schematischer Kalküle. Die Rede von Quantität und Größe und deren erkannter Variabilität werfe die Frage nach dem Wesen als die Frage nach dem dem Sein zu Grunde Liegenden auf. Der Begriff des Wesens ergebe sich dabei durch die Aufhebung der Voraussetzung, das Sein bzw. Seiende sei unmittelbar bestimmt. Die Frage nach dem Wesen frage danach, was wir voraussetzen, wenn wir von Gegenständen sprechen, und was einem Satz-Subjekt, qua linguistischer Form, seine Bedeutung bzw. seinen Gegenstandsbezug gebe. Daher werde abschließend die Wesenslogik als dialektische Entwicklung von Grundunterscheidungen thematisch. Hierbei zeige sich, daß es naiver Subjektivismus sei, Urteilen als etwas Selbstverständliches anzusehen. Es sei naiver Objektivismus, Messen als etwas Selbstverständliches anzusehen. Die kritische Reflexion auf je präsupponierte Maßbestimmungen, die zur Wesenslogik führe, werfe letztlich die Frage nach der eigentlichen Substanz der Welt auf.
Stengel, Daniel: Intellectual Property in Philosophy. — In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Wiesbaden. 90 (2004), 1, 20–50. The article deals with the concept of intellectual property and its basis in different philosophical theories. First, the author gives a short historical overview of the development of intellectual property, locating its roots already in pre-historical society. It is followed by an examination of today’s features of intellectual property, in contrast to ‘regular’ property. In the second part, the article analyses the theories of Locke, Kant, H., Servan and Foucault to explain intellectual property, followed by a discussion which of their theories’ features are reflected by today’s intellectual property law.
Tautz, Birgit: Die Sprache verstellt den Blick: Elfriede Jelinek liest Hegel. — In: Modern Australian Literature. Halifax, N.S. 37 (2004), 1/2, 71–86. Verf.in zeigt, wie Jelinek in Wolken.Heim (1990) aus H.s „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (sic!) vornemlich Passagen über Geschichtserzählungen und über Afrika zitiert und zur Dekonstruktion der subjektzentrierten Tradition verwendet.
Thiong’o, Ngugi wa/Sahle, Eunice Njeri: Hegel in African Literature: Achebe’s Answer. — In: Diogenes. Paris. 51 (2004), 2, 63–67. There are three facets to the colonial project: a practice, a body of knowledge, and mental engineering. The third is the result of colonialism as text, for such a text bolsters the minds behind colonizing practices and is simultaneously a prison house for the minds of the colonized. The battle between the colonial text and its dialectical opposite, the anti-colonial text, is central to decolonization. H. (Phenomenology of Spirit) and Achebe (Things Fall Apart) are shown to exemplify this struggle.
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Thomas, Paul: Property’s Properties: From Hegel to Locke. — In: Representations. Berkeley, CA. 84 (2004), 30–43. From a H.ian perspective, Locke, long famed for his supposedly “foundational” theory of property, cannot be said to have had a theory of property at all, but merely a notion of appropriation.
Tsao, Roy T.: Arendt and the Modern State: Variations on Hegel in “The Origins of Totalitarism”. — In: The Review of Politics. Notre Dame, Ind. 66 (2004), 1, 105–138. Hannah Arendt’s The Origins of Totalitarianism (1951), unlike her later books, is centrally concerned with the nature and fate of the modern state. The book presents a series of political pathologies – antisemitism, imperialism, tribalism, and totalitarianism – that Arendt regards as the result of failures in the state’s dual mission to integrate diverse social groups into a single body politic, and to uphold the uniform rule of law for all. Her underlying conception of the state bears a striking, though unacknowledged affinity to that of H. Like H., moreover, she argues that citizens’ mutual recognition of one another’s human rights, as mediated through state institutions, is an indispensable condition for full human self-consciousness and agency. Her version of this argument is developed first through an excursus on the origins and effects of racism among Europeans living in Africa, and then through an analysis of the unique plight of stateless refugees.
Tyler, Colin: Hegel, War and the Tragedy of Imperialism. — In: History of European Ideas. Amsterdam u. a. 30 (2004), 403–431. This article contextualises H.s writings on international order, especially those concerning war and imperialism. The recurring theme is the tragic nature of the struggles for recognition which are instantiated by these phenomena. Section one examines H.s analysis of the Holy Roman Empire in the context of French incursions into German territories, as that analysis was developed in his early essay on ‘The German Constitution’ (1798–1802).The significance of his distinction between the political and civil spheres is explored, with particular attention being paid to its implications for H.s theory of nationalism. The second section examines H.s development of the latter theory in the Phenomenology of Spirit (1807), stressing the tragic interpenetration of ‘culture’ and intersubjective recognition. A recurring theme here is the influence of this theory on H.s interpretation of Napoleon’s World-Historic mission, as that was revealed in his contemporaneous letters. Section three traces the tragic dynamic underlying the discussion of war between civilised states in the Philosophy of Right (1821). Section four examines three other types of imperial action in H.s mature writings, particularly the Philosophy of History (1832). These are relations between civilised states and culturally developed yet politically immature societies; colonial expansion motivated by capitalist under-consumption; and conflict between civilised states and barbarous peoples. It is concluded that it is misleading to claim that H. glorified conflict and war, and that he did not see domination by ‘civilised states’ as the ‘final stage’ of World History.
Uhlig, Claus: Shakespeare between Antiquity and Modernity. A Theme of Aesthetics in Hegel and Cohen. — In: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie. Tübingen. 122 (2004), 1, 24–43.
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Vernon, Jim: Homogeneity and Heterogeneity: Bataille and Hegel. — In: Dialogue. Kingston, Ont./Montreal. 43 (2004), 2, 317–338. L’Expérience intérieure de Georges Bataille formule une ontologie de l’hétérogénéité opposée à l’homogénéité du système de H. Bataille définit la pensée de H. comme la commensurabilité d’éléments disparates au sein d’un projet unifié, et c’est à cette homogénéité dirigée par un but qu’il oppose les éléments hétérogènes du non-savoir et du sacrifice, lesquels échappent à toute commensurabilité. Cet article se livre à une évaluation critique de l’ouvre de Bataille, tant comme ontologie viable que comme critique valide de H., et fait valoir qu’elle échoue sur ces deux plans. L’échec de Bataille tient à son refus de saisir l’essence de la pensée hégélienne: être hétérogène, cela signifie être opposé à soi.
Vieweg, Klaus: Hegel und der Anfang einer Metaphysik der Subjektivität. — In: Gloy, Karen (Hg.): Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches? Würzburg 2004. 333–340. (Studien zum System der Philosophie im Auftrag des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici und der Internationalen Gesellschaft ‚System der Philosophie‘ herausgegeben von Karen Gloy [Luzern], Hans-Dieter Klein [Wien], Wolfgang Schild [Bielefeld]. Band 6) Verf. betont die Bedeutung des Pyrrhonismus für H.s Konzeption des Anfangs der Philosophie. Nur vor diesem in der einschlägigen Sekundärliteratur nicht ausreichend berücksichtigten Hintergrund sei der Beginn der Wissenschaft der Logik und dessen Beziehung zur Phänomenologie des Geistes angemessen zu interpretieren.
De Vos, Lu: Unmittelbares Wissen und begriffenes Selbstbewußtsein des Geistes. Jacobi in Hegels Philosophie der Religion. — In: Jaeschke, Walter/Sandkaulen, Birgit (Hgg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004. 337–355. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Band 29) Verf. geht der Rehabilitierung Friedrich Heinrich Jacobis in der Spätphilosophie H.s, namentlich in der Religionsphilosophie des Jahres 1827, nach, in welcher der Standpunkt Jacobis als ein Moment des Selbstbewußtseins des Geistes gedeutet wird: als ein Moment des Wissens der reinen Freiheit nämlich.Verf. widmet sich seinem Gegenstand in fünf Schritten. Untersucht werden 1. die Beziehung der Religionsphilosophie H.s zu Jacobi; 2. die Aufnahme des Begriffs des unmittelbaren Wissens in den Begriff der Religion überhaupt und in den der vollendeten (offenbaren) Religion bei H.; 3. die Frage, ob Jacobis Position sich dergestalt „aufheben“ lasse. Im vierten Schritt wird das Verhältnis des Problems zum Thema „Pantheismus“ erörtert, und an 5. und letzter Stelle wird die Erörterung zusammengefaßt hinsichtlich der auf das Absolute bezogenen Begriffe „Grund – Ursache – freier Begriff“.
Warnek, Peter: Once more … for the first time: Aristotle and Hegel in the Logic of History. — In: Research in Phenomenology. Leiden. 34 (2004), 160–180. The paper begins by taking seriously Heidegger’s provocative claims concerning H.s relationship to the Greeks. Most notably, the enigmatic assertion that H., as the “last Greek,” brings Greek philosophy to its completion through a historical thinking is considered in terms of the strange sense of repetition it opens up: the H.ian presentation of Greek philosophy must both present that philosophy, repeat its movement, but also, in the repetition, present the truth of that movement for
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the first time. It thus must remain undecided whether H.s presentation only opens up a necessity already at work in Greek philosophical history or whether that presentation, in fact, first grants such necessity to that history.The singularity of H.s relation to the Greeks is then explored through an examination of H.s own statements concerning the singularity of Aristotle. In this way, it becomes apparent that H.s own thought, in its entirety, asserts itself as nothing other that a decisive repetition of the Aristotelian speculative thought of actuality.This exceptional position of Aristotle in H.s logic of history suggests that there is a need for another sense of history’s movement, in which that movement does not simply progress but unfolds as the singular dialogue between one Greek and one German.
Waszek, Norbert: Rechtliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens: von der Schottischen Aufklärung zu Hegel. — In: Jean-François Kervégan/Heinz Mohnhaupt (Hgg./Éd.): Wirtschaft und Wirtschaftstheorien in Rechtsgeschichte und Philosophie. Économie et théories économiques en histoire du droit et en philosophie. Viertes deutsch-französisches Symposion vom 2.–4. Mai 2002 in Wetzlar. Frankfurt a. M. 2004. 93–108.
Weckwerth, Christine: Nachhegelsche Rekurse auf Jacobi. Feuerbachs anthropologische Aufhebung der Jacobischen Gefühlsphilosophie. — In: Jaeschke,Walter/Sandkaulen, Birgit (Hgg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004. 422–452. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Band 29) Verf.in sieht den jungen Feuerbach als H.schüler damit beschäftigt, „Hegels logisch fundierte Idealsynthese der kulturellen und sozialen Objektivationen in Richtung einer reellen Synthese“ (426; vgl. 422) weiterzudenken. Dies vollziehe sich bei Feuerbach schon um die Mitte der 30er Jahre „in Erwartung einer reellen Gattungseinheit“ (430). Im Rahmen seiner Tätigkeit als H.ianisierender Philosophiehistoriker stoße Feuerbach auf die Schriften Friedrich Heinrich Jacobis, dessen „Persönlichkeitsphilosophie“ (428; 429; 431; 442) er zunächst im Fahrwasser von H.s Glauben und Wissen (1802) als Metaphysik der endlichen Subjektivität ablehne. Ob Feuerbach H.s positivere Jacobi-Rezension (1817) gekannt habe, lasse sich nicht nachweisen (428). Um 1835/36 verfertigt Feuerbach Exzerpte aus Jacobis Schriften, die die Verf.in in Auszügen nach den Archivalien mitteilt und die insbesondere mit Blick auf Jacobis Idealismuskritik und seine Realismuskonzeption des unmittelbar wechselwirkenden Mitseins von Ich und Du (436) „mehr“ (434) enthielten, als lediglich einem fortgesetzten H.ianismus zu genügen. Mit Feuerbachs anthropologischer Wende des Jahres 1839 erscheine Jacobis Philosophie nun „als eine grundlegende theoriegeschichtliche Quelle“ für dessen Religionsphilosophie. Dies wertet die Verf.in in der Konsequenz aber nicht als direkten identischen Wiederaufschluß des Anfangs der klassischen deutschen Philosophie (vgl. 422), denn Feuerbach hebe – insbesondere nach Ablösung eines zu abstrakten überhistorischen Gattungsbegriffs (vgl. 446) – Jacobis dualistisch unvermittelte Metaphysik verstandesimmanenter Endlichkeit und gefühlszentrierter Unendlichkeit zu Gunsten der Einbeziehung von „geschichtlich-kulturellen“ (451) Bildungsprozessen auf, die in der Tradition von H.s Phänomenologie des Geistes (vgl. 441, 444) stünden, so daß es nicht eigentlich Feuerbach gewesen sei, der die Jacobische Gefühlsphilosophie in die post-H.sche Philosophie eingeführt habe, sondern eher Kierkegaard.
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Wetzel, Manfred: Objektiver Idealismus und Prinzip der Subjektivität in der Philosophie der Natur. — In: Hösle,Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 9–22. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Der Aufsatz untersucht den Übergang der „Idee“ in die „Natur“ am Ende der Wissenschaft der Logik. Verf. schließt sich Dieter Wandschneiders engen Verknüpfung der „Logik“ und der „Philosophie der Natur“ an, beurteilt jedoch den Status der Subjektivität anders als dieser. Die Idee selbst entlasse sich frei in die Natur. Die Subjektivität verschwinde nicht in der „Natur“, sowenig wie in der „Logik“. Sie bleibe z. B. in den Bestimmungen der Zeit und des Raumes bestehen. Die Selbstbestimmung des Begriffs setze sich in der „Natur“ fort, die „Äußerlichkeit ohne Subjektivität“ sei nicht absolut, sondern relativ zur Subjektivität in der Selbstbestimmung des reinen logos. Verf. will den Status der H.schen Naturphilosophie auf den Begriff bringen. Zunächst vergleicht er H.s Naturphilosophie mit Platons Timaios. Dann untersucht er die von Wandschneider gezogenen Parallelen von H. zu Albert Einstein. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, daß auch in Sachen der Philosophie der Natur das „Prinzip Subjektivität“ kein subjektiver Idealismus sei, sondern „ein differenziertes System von nicht-schellingschen Indifferenzen des Subjektiven und des Objektiven – in mittlerer Reichweite“ (22).
Winfield, Richard Dien: The Types of Universals and the Forms of Judgment. — In: Cardozo Journal of Law, Policy and Ethics. New York, NY. 3 (2004), 1, 125–142. Until H., no philosopher has attempted to conceive systematically the forms of judgment. The key to understanding and evaluating H.s effort is to recognize the different types of universals that figure in each of the forms of judgment. These types consist in the abstract universal, class, genus, and the concrete universal, and past philosophers have tended to truncate reason by privileging some types to the exclusion of the others. The essay attempts to show how the types of universals and the forms of judgment can be systematically accounted for in their totality by following how the minimal form of judgment transforms itself into further forms that reach closure by generating syllogism.
Winfield, Richard Dien:The System of Syllogism. — In: Cardozo Journal of Law, Policy and Ethics. New York, NY. 3 (2004), 1, 245–268. In order to give a systematic account of syllogism, it is necessary to focus on the types of universals and types of judgment that figure within each form of syllogism and to examine how each form of syllogism transforms itself through its own workings into another type, until the point is reached where the difference between the extremes and their mediating term eliminates itself. Using H.s treatment of syllogism in his Science of Logic as a resource, the essay attempts to conceive the system of syllogism, showing thereby how reason cannot be limited to syllogism as well as how syllogism provides a necessary resource for the determination of objectivity.
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Ziche, Paul: Raumdimensionen und Prinzipienreduktion. Beweise für die Dreidimensionalität des Raumes bei Schelling und Hegel. — In: Hösle, Vittorio/Neuser, Wolfgang (unter Mitarbeit von Braßel, Bernd) (Hgg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für Dieter Wandschneider zum 65. Geburtstag. Würzburg 2004. 157–173. (In Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli) Kant habe das Problem der Dimensionalität des Raumes im Zusammenhang mit den allgemeinsten Formen der Anschauung erörtert. Bei Schelling und H. werde dieses Problem in einen sehr viel spezifischeren Kontext gestellt: Schelling handele es in Folgesätzen aus der Deduktion der Materie ab, H. stelle es an den Anfang seiner Naturphilosophie. Vor allem jedoch erhöben beide im Gegensatz zu Kant den Anspruch auf argumentative Begründbarkeit der Dreidimensionalität. Daraus ergebe sich das Problem der Beweisbarkeit der Dimensionalität des Raumes, das wiederum ein prinzipientheoretisches Problem nach sich ziehe: Wie können demonstrative Aussagen über die Strukturierung desjenigen, was aller Erkenntnis und damit auch allen Beweisen zugrunde liegt, vorgelegt werden? Verf. untersucht diese Frage und arbeitet eine fundamentale prinzipientheoretische Differenz zwischen H. und Schelling aus: Bei H. übernehme eine Systemtopologie das, was Schelling „im Blick auf Konkreta“ zu leisten suche.
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Anselmo, Annamaria: Vico and Hegel. Philosophical Sources for Morin’s Sociology. — In: World Futures. Philadelphia, Pa. u. a. 61 (2005), 470–480. The aim of this work is to show how Edgar Morin chose Vico and H. as cultural points of reference while elaborating a new method as an alternative to classical scientific knowledge.The French philosopher did this specifically when he tried to re-propose the problems of history and the event in human sciences. The origins of sociology arose from the explicit extension of the scientific method to the socio-anthropological world; that is, with the intention of studying society as a natural phenomenon to which the laws of physical and biological sciences must be applied. As a tendency against this, at the end of the 1970s Morin began a process of putting sociology into historical context, which led him to a methodological revolution of sociology itself.
Arndt, Andreas: Gegenständliche Vermittlung und Arbeit des Begriffs. Marx’ Auseinandersetzung mit Hegels Arbeitsbegriff. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 148–158. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Verf. verfolgt mit seinem Aufsatz die „Spur“ der Marxschen Auseinandersetzung mit H.s Konzeption der Arbeit – in der Phänomenologie des Geistes als Kategorie der Vergegenständlichung zum erstenmal entwickelt – unter der Perspektive, inwiefern die Arbeit des Geistes die Aufhebung oder Überwindung von Gegenständlichkeit leiste – worin für Marx eben das „Wesen der Arbeit“ liege. Den Hauptteil des Aufsatzes bildet die Analyse der Marxschen Auseinandersetzung mit H. in seinen Pariser Manuskripten (1844), in denen er ein kritisches Verhältnis zur H.schen Dialektik gewinnt. Marx schätze die von H. geleistete „Arbeit der Spekulation“, welche den „neuen Materialismus“ i. S. einer wirklichen Einheit von Natur und Geist zur Grundlage habe.Verf. beschreibt nun die Marxsche Theorie der gegenständlichen Vermittlung im Gegensatz zu derjenigen H.s nicht als ein Schaffen oder Setzen des Gegenstandes durch den Menschen, sondern als ein „Umformen“ des Gegenstandes, das ihm als das gegenständliche Produkt (geistiger) Arbeit seine eigene gegenständliche Tätigkeit zum Ausdruck bringe. Damit trage Marx sowohl den „realen“ Voraussetzungen des Setzens Rechnung wie auch dem Faktum des Setzens, womit Marx sich zwar ebenso wie H. auf dem Boden der Identitätsphilosophie und des ‚neuen Materialismus‘ bewege, die Einheit von Natur und Geist aber dennoch anders begreife.
Auinger, Thomas: Praxis und Objektivität. Anmerkungen zu Robert Brandoms postanalytischer Hegel-Interpretation. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 162–178. After a short introduction concerning efforts by two Pittsburgh philosophers, Robert B. Brandom and John McDowell, to transform analytic philosophy from a Kantian stage to a H.ian one, I discuss two important components of Brandom’s pragmatic interpretation of H. First, I thematize how Brandom’s historical understanding of rationality leads back to a conception of praxis that regards conceptual normativity as essentially for a social institution. This makes it possible to read H.s idealism as pragmatic in a fundamental sense that contrasts sharply with the instrumental orienta-
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tion of the classical American pragmatists. Secondly, I show how the method of H.s suspension of perspectives within absolute knowledge (in the Phenomenology of Spirit) serves as a model for Brandom’s determination of objectivity, which turns out to be a structural feature of the social and perspectival form of conceptual contents.
Bellan, Alessandro: Anomia e alienazione. Scienza ed epistemologia del sociale in Hegel e Durkheim. [Orientierungslosigkeit und Entfremdung. Wissenschaft und Epistemologie des Sozialen bei Hegel und Durkheim.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 91–120. Bonacina, Giovanni: Due prestiti da Gibbon per la descrizione hegeliana dell’impero romano d’Oriente. [Zwei Anleihen bei Gibbon in Hegels Schilderung des oströmischen Reiches.] — In: Quaderni di storia. Bari. 61 (2005), 25–57. Das Kapitel über das byzantinische Reich in H.s Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte enthält zwei bedeutende Stellen aus der philosophisch-theologischen Literatur der Spätantike: 1. die tiefe Klage eines heidnischen Redners über den Zusammenbruch der alten Religion mit ihren zu Gräbern gewordenen Tempeln unter der Herrschaft des Theodosius; 2. die Entrüstung eines Kirchenvaters über die Herabwürdigung der höchsten christlichen Dogmen zum Gesprächsthema von Handwerkern und Sklaven, die sich einbilden, tiefe Theologen zu sein. Ad 1.: Der heidnische Redner bleibt ungenannt (Gans, 347 f.; K. Hegel, 409; Lasson, 768 f.); ad 2.: Der Kirchenvater sollte Gregor von Nazianz sein (K. Hegel, 412 f., ohne Angabe einer Schrift), in Wirklichkeit aber ist er Gregor von Nyssa (Oratio de deitate Filii et Spiritus Sancti, Textberichtigung von Lasson, 772, ohne weitere Erklärung). Edward Gibbons Decline and Fall (Kap. XXVII–XXVIII) erweist sich als die wahre Quelle H.s im ersten sowie im zweiten Fall: 1. der heidnische Redner ist der Grieche Eunapius (Vitae sophistarum), dessen Stelle Gibbon aus Junius’ lateinischer Übersetzung (1568) auf Englisch bearbeitet hat (mit Blick auf Eunapius vgl. auch einen Aufsatz Victor Cousins [1826/ 1827]); 2. Die falsche Verfasserschaft Gregors von Nazianz stammt erneut von Gibbon, der eine Anmerkung in der Kirchengeschichte des englischen Theologen Jortin (Remarks on ecclesiastical History [1751–1773]) fehlerhaft gelesen hat. Hier liegt ein ein doppeltes Beispiel des Gestaltwandels ihrem Kontext entnommener Zitate vor, aber auch ein interessanter Beweis der H.schen Abhängigkeit von Gibbon noch in den Berliner Jahren.
Bonacina, Giovanni: Hegel, il barone d’Eckstein e l’„ala erudita della Congrégation“. [Hegel, der Baron Ecksteins und „die gelehrte Seite der Congrégation“.] — In: Rivista di storia della filosofia. Milano. 60 (2005), 3, 409–441. In H.s handschriftlicher Einleitung zu seinem geschichtsphilosophischen Kolleg der Jahre 1830/ 31, am Rand der Polemik gegen Fr. Schlegels Begriff einer göttlichen Uroffenbarung, liest man eine lange Anmerkung über den neuesten Versuch einiger französischen Gelehrten, die religiösen Grundwahrheiten des Katholizismus in uralten morgenländischen Überlieferungen wiederzufinden (dasselbe Thema findet man in der Görres-Rezension [1831]). Selbstverständlich richtet sich H. auf Hugues Félicité (François) Robert de Lamennais’ (eigentlich: La Mennais, 1782–1854) Essai sur l’indifférence en matière de religion (1817 ff.), aber mit ihm auch auf andere nicht ebenso berühmte Schrifsteller: Zitiert sind die Orientalisten Jean-Pierre Abel-Rémusat (1788–1832) und Jean Saint-Martin (ein ausgezeichneter Kenner armenischer Altertümer), Baron von Eckstein (der Herausgeber der Zeitschrift Le Catholique), letztere eine nicht näher bestimmte, aber auf die Regierung einflußreiche „gelehrte Seite der Kongregation“, welche Reisen nach dem Fernen Osten
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veranstaltet hat, um urkundliche Belege zu einer solchen vermeintlichen Uroffenbarung zu entdecken. Diese ausführliche, obgleich teils übertriebene Nachricht bezeugt H.s Aufmerksamkeit auf den französischen Streit über die Jesuiten und die sog. Congrégation (Montlosier [1826]) sowie seine Sorge um die katholische Wiedergeburt im ultramontanen Sinn. Abel-Rémusat, Saint-Martin und Eckstein nehmen an literarischen Gesellschaften (Société des Bonnes Lettres, Société des Bonnes Études) teil, die im Geruch der Congrégation stehen; Abel-Rémusat ist – unter Saint-Martins Mitwirkung – auch die Seele der neugeborenen Société Asiatique (1822) gewesen, die Eckstein dem Wohlwollen des Ministeriums sehr warm empfiehlt. H.s Quellen genau zu bestimmen, ist keine leichte Aufgabe; es steht jedoch außer Frage, daß H.s Worte über Eckstein (einen deutschen, 1814 nach Frankreich übersiedelten Neubekehrten, welcher Görres sehr wert ist, jedoch nicht ebenso den Gebrüdern Schlegel) kritische Urteile von Benjamin Constant (De la Religion [1825–1831]), Charles Rémusat (in: Le Globe [1828]) und Damiron (Essai sur l’histoire de la philosophie au XIXe siècle [1828]) widerspiegeln. Den rätselhaften Baron besprechen aber auch diejenigen unter H.s Schülern, die mit der französischen Kultur der Restaurationszeit am besten bekannt sind: Friedrich Wilhelm Carové (1789–1852) und Eduard Gans (1797–1839).
Bondeli, Martin: Ist Hegels Methode der logischen Begriffsbewegung ein Werkzeug des Erkennens? Zu Marx’ kritischem Anschluß an Hegel. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 159–170. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Seit der Jenaer Zeit übe H. Kritik an einem Denken, das mit einem ‚Instrument‘ der ‚Reflexion‘, operiere, d. h. den Weg formalisierender Abstraktion beschreite, um demgegenüber ein Denken zu begründen, das dem „Organ der ‚Spekulation‘ gerecht“ werde, d. h. synthetisierend, totalisierend vorgehe. In diesem Zusammenhang entwickele H. in der Wissenschaft der Logik einen neuen Werkzeugbegriff; dieses ‚Werkzeug‘ sei die ‚Methode‘ der logisch-dialektischen Begriffsbewegung: das Erkennen. Die Marxsche Kritik in bezug auf die Verwendung des Werkzeugbegriffs bei H. gehe dahin, daß diese zum einen mit überflüssigen und Verwirrung stiftenden theologischen, natur-, subjekt- und vereinigungsphilosophischen Annahmen behaftet sei; zum anderen verschwinde das Werkzeug als Mittel bei H. letztlich in einer absoluten Vermittlung mit sich selbst ebenso wie Subjekt und Gegenstand des Erkenntnisprozesses, worin sich das besondere Gewicht der vereinigungsphilosophischen Annahme zeige. Ohne auf den Kantischen Standpunkt zurückzufallen, d. h. erneut eine absolute Differenz zwischen Form und Inhalt, Theorie und Praxis einzufordern, zeige sich in der Marxschen Kritik an H.s absoluter Vermittlung eine Betonung der jeweiligen Differenzen, die sich gegen eine mit H. identifizierte mystifizierende Auffassung von Vereinigung u. a. auch mit dem Argument richte, diese widerspreche dem „vernünftigen Gemeinverstand“.
Bonsiepen, Wolfgang: Hegels Rezeption des Kantischen Organismusbegriffs und deren Bedeutung für seine Konzeption der Naturphilosophie und der Rolle des Werkzeugs. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 123–135. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Das im Titel angekündigte Programm setzt Verf. wie folgt um: Zunächst betrachtet er den Organismusbegriff der Kantischen Kritik der teleologischen Urteilskraft. Dabei stellt er heraus, daß sich Kant
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1. angesichts des Phänomens organisierter Wesen in der Natur zur Einführung von Naturzwecken gezwungen sehe, obwohl er diese aus der allgemeinen Idee der Natur grundsätzlich für nicht ableitbar halte, und 2. daß der aufgrund dieses Vorbehalts zunächst betonte hypothetische Charakter seiner teleologischen Naturbetrachtung von Kant nicht beibehalten und die Unterordnung der mechanischen Naturabläufe unter eine Teleologie schließlich für real erklärt werde. Anschließend untersucht Verf., wie H. sich mit diesen Ausführungen Kants im Teleologie-Kapitel seiner Wissenschaft der Logik auseinandersetzt. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, daß H., insofern er einen immanenten Zusammenhang zwischen Mechanismus und Teleologie zu konstituieren versuche, zwar nicht, wie Kant, auf eine beide Seiten vermittelnde übersinnliche „absichtlich wirkende Ursache“ zurückgreifen müsse, die zudem begrifflicher Erkenntnis nicht zugänglich sei; doch führe dieses Vorgehen H.s zu einer nicht zu legitimierenden absoluten Dominanz des Zwecke setzenden und realisierenden Organischen gegenüber mechanischen und chemischen Abläufen.
De Bortoli, Caterina: Tra logica e retorica: La teoria hegeliana della proposizione speculativa e la figura del chiasmo. [Zwischen Logik und Rhetorik: die Hegelsche Theorie des spekulativen Satzes und die Redefigur des Chiasmus.] — In: verifiche. Trento. XXXIV (2005), 3–4, 189–237. Schwerpunkt dieses Aufsatzes ist die Erläuterung des spekulativen Satzes im Rahmen der Phänomenologie des Geistes. Nach De Bortoli ist eine genauere Bestimmung dieser Thematik anhand der rhetorischen Figur des Chiasmus möglich, indem einerseits die „Form“ bzw. die „Bewegung“ des Satzes durch diese Redefigur besser gedeutet würden, andererseits das Spekulative im H.schen Sinne eine neue Interpretation des Chiasmus erschließe.Verf. setzt sich zunächst mit H.s Deutung des Spekulativen und dessen systematischer Stellung mit Blick auf die Bestimmungen des Urteils in diesem Werk auseinander zu dem Zweck, die Beziehung zwischen Syllogismus und spekulativem Satz neu zu interpretieren, und zwar so, daß Harald Horveis Interpretation der „semantischen Verschiebung“ im sog. Identitätschiasmus bzw. tautologischen Chiasmus interessante Hinweise für die Interpretation der Form des spekulativen Satzes H.s liefere.
Bouton, Christophe: Zeit und Negativität bei Hegel. — In: Wiener Jahrbuch für Philosophie. Wien. XXXVII (2005), 79–93. Wie steht es um die Verbindung zwischen Zeit und Negativität bei H.? Bringt H.s Begriff der Zeit etwas Neues gegenüber Kants Lehre der reinen Form der Anschauung? Wie kann H. überhaupt die klassischen Aporien des Problems der Zeit lösen? Um diese Fragen zu beantworten, versucht dieser Aufsatz fünf Thesen H.s hervorzuheben, die einen entscheidenden Beitrag zu dem Problem der Zeit leisten. 1) Die „Entsubjektivisierung“ der Zeit: Die Zeit ist nicht innerer Sinn des Subjekts, sie ist nicht die innere Form unseres Bewußtseins, sondern die allgemeinste Bestimmung der Natur, die in allen ihren Stufen anwesend ist. 2) Die Tätigkeit der Zeit: Die Zeit ist keine beständige Form, die „Innerzeitlichkeit“, sie ist das Werden überhaupt, d. h. die Tätigkeit des Werdens in jedem bestimmten Werden. Deshalb sind die Dinge nicht in der Zeit, sondern die Zeit selbst ist in allen Dingen als ihre innere Negativität. 3) Die Negativität der Zeit: Nach H. wird das Verständnis der Zeit keinesfalls wie bei Kant durch die Kategorien, die die Wissenschaft der Natur ermöglichen, sondern durch ihre eigene Negativität bestimmt. In der Naturphilosophie ist die Zeit als die abstrakte, zerstörende Negativität der Natur begriffen, sie macht jedes Sein zum Nicht-Sein. Dieser Begriff der Negativität ermöglicht, gundlegende Aspekte der Zeit – besonders Vergänglichkeit und Unumkehrbarkeit – zu beschreiben und zu erklären. 4) Das ekstatische Wesen der Zeit: Die Negativität der Zeit ist ein stetiges Außersichkommen, sie zerstreut das Jetzt in einer Mannigfaltigkeit von gegeneinander äußerlichen Jetzt und macht die Identität der Gegenwart mit
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sich selbst unmöglich. 5) Die Verständlichkeit der Zeit: Die Zeit ist keine fremde Macht für den Geist, kein Schicksal. Sie kann durch ihn aufgehoben werden, insofern sie gedacht, erkannt und erinnert wird. Die Erinnerung ist bei H. die Erwiderung auf die Ekstase der Zeit, sie versammelt das, was getrennt worden ist, und bringt die Vergangenheit in die Innerlichkeit des Geistes zurück. Aus diesem Grund wird der Zeitgedanke, der im Rahmen der Naturphilosophie eingeführt wird, nur durch die Philosophie des Geistes realisiert.
Brandom, Robert B.: Sketch of a Program for a Critical Reading of Hegel. Comparing Empirical and Logical Concepts. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 131–161. Ich behaupte folgendes: 1. H. zufolge unterscheiden sich logische Begriffe von bestimmten empirischen Begriffen durch ihre spezifisch expressiven Aufgaben. Während es nämlich aus prinzipiellen Gründen keine endgültige, stabile, expressiv abgeschlossene Klasse von empirischen Begriffen geben kann, gibt es eine endgültige, stabile, expressiv abgeschlossene Klasse von logischen Begriffen. 2. H. zufolge haben logische und empirische Begriffe trotz ihrer unterschiedlichen expressiven Aufgaben aber auch etwas gemeinsam: Die Inhalte beider Begriffsarten können im Prinzip nur durch eine rationale Rekonstruktion der Geschichte ihrer Entwicklung verstanden, spezifiziert oder angewendet werden. Ich zeige, daß beide Behauptungen H.s über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen empirischen und logischen Begriffen falsch sind. H. irrt darin, daß wir niemals abschließend expressive Mittel hervorbringen können, um das explizit zu machen, was implizit im Prozeß der Bestimmung empirischen begrifflichen Inhalts enthalten ist. Und obwohl empirische Begriffe allein durch eine Untersuchung ihrer semantischen Genealogie zu verstehen, zu spezifizieren oder anzuwenden sind, gilt dies für logische Begriffe aufgrund ihrer distinkten expressiven Rolle nicht.
Bristow, William: “Bildung” and the Critique of Modern Skepticism in McDowell and Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 179–207. Trotz einiger auffallender Ähnlichkeiten ist John McDowells Einschätzung des neuzeitlichen Skeptizismus in Mind and World von der H.s in der Phänomenologie des Geistes fundamental unterschieden. In McDowells Verständnis sucht der philosophische Kritiker Probleme, zu denen auch die neuzeitlichen skeptischen Herausforderungen gehören, zum Verschwinden zu bringen oder so zu behandeln, daß sie ihre ganze Dringlichkeit verlieren. Erinnerungen an die Rolle von Bildung, die in der Absicht geschehen, uns die Überzeugungen nahezubringen, die in einer Tradition einmal in Geltung standen, sollen eben diesen Effekt haben. Das letzte Ziel dieser Kritik ist es, die Tradition der neuzeitlichen Philosophie ganz auszulöschen. H.s Kritik hingegen wird von einem philosophischen Kritiker geleistet, der selber durch den Prozeß einer Kritik des neuzeitlichen Skeptizismus gebildet wurde, und diese Bildung besteht in der Erkenntnis, daß die neuzeitliche skeptische Tradition wesentlich zu der Bildung des Geistes gehört. Dies erlaubt die Rettung der spezifisch neuzeitlichen Tradition der Philosophie, einer Tradition, die H. selber in seinen frühen Jenaer Schriften preizugeben geneigt war.
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Brooks, Thom: Hegel’s Ambiguous Contribution to Legal Theory. — In: Res Publica. A Journal of Legal and Social Philosophy. Dordrecht/Boston/London. 11 (2005), 85–94. H.s legacy is particularly controversial, not least in legal theory. He has been classified as a proponent of either natural law, legal positivism, the historical school, pre-Marxism, postmodern critical theory, and even transcendental legal theory. To what degree has H. actually influenced contemporary legal theorists? This review article looks at Michael Salter’s collection Hegel and Law. I look at articles on civil disobedience, contract law, feminism, and punishment. I conclude noting similarities between H.s legal theory and that of Ronald Dworkin. I also criticize the volume’s emphasis on H.s so-called postmodern credentials, all of which I doubt.
Burger, Hotimir: Anthropologie und Ethik bei Kant, Hegel und Plessner. — In: Kellerwessel, Wulf/Cramm, Wolf-Jürgen/Krause, David/Kupfer, Hans-Christoph (Hgg.): Diskurs und Reflexion. Wolfgang Kuhlmann zum 65. Geburtstag. Würzburg 2005. 446–462. Verf. weist auf die Notwendigkeit einer Begründung der Moral nicht allein aus der Vernunft (Kant), sondern überdies aus anthropologisch zu erschließenden „andere[n] Anlässe[n] und Träger[n] im Menschen“ hin. Er beginnt seine Ausführungen mit Kant, der einerseits die empirische Anthropologie prinzipiell von der Metaphysik (der Sitten) trenne, andererseits jedoch um die Notwendigkeit der Verbindung von Ethik und Anthropologie wisse. Kant habe, und hieran schließt Verf. seine Auseinandersetzung mit H. um dessen Begriffe des Allgemeinen wie des Geistes an, zwar die Natur des Menschen in eine intelligible und eine empirische geteilt, andererseits jedoch die Überbrückung eines solchen Dualismus „auf der Ebene des Menschengeschlechtes […] gespürt“. H. schließlich denke eine solche Verbindung von Mensch und Geist, die im Werk Plessners insofern weitergedacht wird, als Plessner den Gedanken des Menschen als das Allgemeine, als Geist, in einer philosophischen Anthropologie zu begründen sucht, die den Menschen allererst zur Moralität öffne.
Ciavatta, David: Hegel on Owning One’s Own Body. — In: The Southern Journal of Philosophy. Memphis. 43 (2005), 1, 1–24. Verf. referiert die H.schen Bestimmungen des Eigentums und seiner Entäußerung im allgemeinen sowie hinsichtlich der rechtlichen Unveräußerlichkeit der „substantiellen Bestimmungen“ der Person und interpretiert in diesem Spannungsfeld deren Verhältnis zu ihrem eigenen Körper mit dem Ziel der Etablierung eines an diesem Verhältnis orientierten und gegenüber dem H.schen konkreteren allgemeinen Eigentumsbegriffs, durch den auch äußere Dinge als materiale Bedingungen der Freiheit besonderer Personen oder Personengruppen nicht-exklusiv Eigentum sein können.
Connelly, James: The Hesitant Hegelian: Collingwood, Hegel, and Inter-war Oxford. — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Stone on Hegel’s „Philosophy of Nature“. Nottingham. 51/52 (2005), 57–73. Im Durchgang durch dessen Veröffentlichungen rekonstruiert Verf. die Entwicklung im Denken Robin George Collingwoods (1889–1943) in seiner Auseinandersetzung u. a. mit den „Italienischen Idealisten“ (Benedetto Croce [1866–1952] und Giovanni Gentile [1875–1944]) und den sog. „Britischen Hegelianern“ in bezug auf die Selbsteinschätzung, er habe seinen eigenen Weg der Philosophie gefunden und sei über H. hinausgegangen. In seiner Unterscheidung von empirischen bzw. nicht-philosophischen Begriffen (Klassifizierungen) und philosophischen Begriffen;
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seiner Stufenleiter der Formen (scale of forms); seiner (gegen Croce gerichteten) Auffassung, daß philosophische Begriffe sich sowohl durch Verschiedenheit als auch durch den Gegensatz von einander unterscheiden ließen; daß sich philosophische Begriffe überschnitten und in einer Genese begriffen seien, deren Anfangs- und Endpunkt nicht eindeutig bestimmt werden könne; seiner Widerlegung des historischen Relativismus sowie seiner Auffassung, es gebe keinen Unterschied zwischen dem Begriff der Realität und der Realität selbst, zeigt sich laut Verf., daß Collingwood zwar viel von H. gelernt habe, daß er H.s Philosophie aber auch i. S. seiner eigenen kreativen Absichten verändert habe, was sich nicht zuletzt in der Verwendung eines eigenständigen Vokabulars zeige.
Csikós, Ella: Der Organismusbegriff bei Hegel und Whitehead. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 136–147. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Beide Denker, H. und Whitehead, gehörten der gleichen philosophischen Tradition an, die an einem monistisch aufgefaßten, dynamisch sich entfaltenden Aufbau der Welt interessiert sei. Beide wendeten sich gegen die Einseitigkeit der dualistischen und mechanistischen Denkart und träten für die Rehabilitation einer spekulativen Metaphysik ein, die von einem je verschiedenen Verständnis von organischem Leben ausgehe. Bei H. sei Leben bestimmt durch den die gesamte Naturphilosophie durchziehenden Widerspruch zwischen konkreter Unmittelbarkeit und abstrakter Allgemeinheit. Leben als Organismus im engeren Sinn lasse H. ein allgemeines organisches Leben (geologischer Organismus) vorangehen. Im Organismus werde der Widerspruch in der für die Natur höchstmöglichen Form aufgehoben. Die Erklärung des Organismus erfordere eine spezielle Logik, die sich nicht auf linear-kausale Zusammenhänge beschränke, sondern den im Organismus daseienden Widerspruch zu begreifen habe. Whitehead gehe von wirklichen Einzelwesen („actual entities“) aus, die keine Substanzen, sondern Konkretisationsprozesse darstellten. Sie eigneten sich als selektive Tätigkeitszentren die ihnen von Anfang an gegebenen Möglichkeiten an. Das Subjektsein dieser Einzelwesen bedeute nichts Psychisches, Bewußtes, sondern nur aktive Existenz. Ein wirkliches Einzelwesen sei Organismus nicht im biologischen, sondern philosophischen Sinn: Es weise eine organisierende Funktion auf. Das Organische im engeren Sinn unterscheide sich vom Anorganischen durch seine Fähigkeit zu reagieren, Intensitäten zu vertiefen. Während es Whitehead um Intensivierung der Erfahrung gehe, sei H. an Selbsterkenntnis interessiert. Dies werde deutlich am Übergang vom Organismus zum Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein. Bei H. weise das Leben auf sein Anderes, das Selbstbewußtsein hin, bei Whitehead sei der Rückbezug auf das Ganze nicht unbedingt durch das Bewußtsein vermittelt. Er denke weniger anthropozentrisch bzw. bewußtseinszentriert als H. Whitehead verstehe seine Philosophie als realistische Grundlegung einiger Thesen des absoluten Idealismus. Er beziehe sich dabei auf Bradley, weniger auf H., von dem er nur drei Seiten gelesen habe.
Dove, Kenley R.: Aristotelian vs. Socratic Mimesis in Hegelian Perspective. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 29–40. Verf. unterscheidet zwei Konzeptionen von ‚Mimesis‘. Die erste – ‚socratische‘ – gehe zurück auf Platon und wird im Englischen mit ‚imitation‘, im Deutschen mit ‚Nachahmung‘ übersetzt. Verf. erläutert diese Konzeption anhand der Geschichte der Malerei: ‚Socratisch‘ im engeren Sinne sei die Orientierung an Albertis Theorie der Malerei und deren Orientierung am Fluchtpunkt.
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Die zweite Bedeutung von ‚Mimesis‘ gehe zurück auf Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Bewegung im Sinne von kinesis und energeia. Diese Aristotelische Theorie der Bewegung sei für H. leitend gewesen bei seinem Projekt, spekulatives Denken für die moderne Philosophie zurückzugewinnen. Dieses Verständnis von ‚Mimesis‘ fasse die Natur nicht als eine Welt von Objekten, die es abzubilden gelte, sondern als eine Welt von Prozessen, welche die Kunst in Analogien beschreibe. Während Platon sein Welterklärungsmodell – ‚mechanistisch‘ – auf zwei Prinzipien gründe (Form und Inhalt), führe Aristoteles ein Modell der drei Prinzipien ein, welches dem determinierenden Form-Charakter des zu Grunde liegenden Inhalts Rechnung trage. Die Bewegung des ersten Modells (‚motion‘) verlaufe von Ort zu Ort, die zweite sei als Aktivität zu bezeichnen, die letztlich dem Aristotelischen Begriff der praxis entspreche, wobei nach Aristoteles Dichtkunst die Funktion habe, praxis in den mythos zu transformieren, ein Prozeß, der dafür sorge, daß die ursprünglich theoretisch nicht beschreibbare – weil überdeterminierte – praxis theoretisch durchdrungen werden könne. In H.s Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie werde deutlich, daß diese Mimesis der praxis in den mythos in der Moderne nicht mehr möglich sei, weil die Moderne sich nicht mehr durch die Entgegensetzung der Sphären von oikos und polis auszeichne.
Ferrer, Diogo: Hegel e as patologias da ideia. [Hegel und die Pathologien der Idee.] — In: Revista Filosófica de Coimbra. Coimbra. 14 (2005), 27, 131–155. Autobiographische und theoretische Hinweise H.s legen nahe, Parallelen zu ziehen zwischen der „Hypochondrie“, der „schönen Seele“ der Phänomenologie des Geistes und anderen in der Enzyklopädie beschriebenen anthropologischen und moralischen Pathologien des Geistes. H.s Texte zeigen, daß solche Pathologien im subjektiven und objektiven Geist zu finden sind, er sie jedoch als unverträglich mit dem absoluten Geist und dem logischen Denken betrachtet. Daran anschließend wird die These aufgestellt, H.s lebendiges und organisches Begriffsmodell gestatte es zwar, die Dualitäten der früheren Metaphysik zu überwinden, eröffne jedoch gleichermaßen die Möglichkeit – von H. zurückgewiesen, von der Philosophie nach ihm jedoch hin und wieder aufgegriffen –, die Vernunft im allgemeinen als krankes System zu begreifen.
Foffani, Alessandro: La transcendenza del tempo e l’eternità. Un confronto con alcuni recenti studi sul rapporto tra Heidegger e Hegel. [Die Transzendenz der Zeit und die Ewigkeit. Ein Vergleich einiger neuer Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Heidegger und Hegel.] — In: verifiche. Trento. XXXIV (2005), 1–2, 127–154.
Foffani, Alessandro: Sulla possibilità del dire originario. Un confronto con alcuni recenti interpretazioni del pensiero di Hegel. [Zur Möglichkeit ursprünglicher Rede. Ein Vergleich einiger neuer Interpretationen des Hegelschen Denkens.] — In: verifiche. Trento. XXXIV (2005), 3–4, 273–308.
Gauthier, Yvon: Moment cinétique et syllogistique dynamique chez Hegel. — In: Philosophique. Montréal, Québec. 32 (2005), 357–368. The readers of H. fail invariably to notice that the ubiquitous term “Moment” in H.s works does not refer to a temporal process, but to a dynamics of motion which has its origin in the Newtonian definition of momentum for material bodies. H.s notion of Moment is rather the momentum of a Spirit which is the driving force of a dialectical process described here as dynamical syllogistics.
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The dynamical logic of concepts could salvage what is still alive in H.ian dialectics. Finally, critical reading of H.s philosophy shows how a physical concept is endowed with metaphysical meaning and how a science of logic (Wissenschaft der Logik) is transformed into ontology. Here it is a philosophy of nature which is substituted to the science of mechanics in the transformation of physics into a supraphysical objective idealism. The paper ends with an epilogue on H.s vocabulary.
Gaziaux, Éric: La liberté dans les oeuvres de jeunesse de Hegel: Quelques jalons pour une recherche ethique — In: Ephemerides theologicae lovanienses. Louvain Journal of Theology and Canon Law. Leuven. 81 (2005), 4, 365–386. This article works through H.s early writings as regards freedom and examines firstly the period of Tübingen, then the period of Bern and finally that of Frankfurt. As far as this last period is concerned the major work presented is Der Geist des Christentums und sein Schicksal, a work in which H.s whole genius reveals itself, not yet caught in the logic of the system to come. This work is essential for the ethical concept because it is characterised by a ternary structure in which the limits of ethics are transcended in love whose limits are overcome in religion. The study discloses a development of fundamental ethics, explained in a fourth part and centred on the liberation of the human being’s freedom and the longing for reconciliation.
Geulen, Eva: Legislating Education: Kant, Hegel, and Benjamin on “Pedagogical Violence”. — In: Cardozo Law Review. New York, NY. 26 (2005), 3, 943–956. Kants Problem der Erziehung laute: Wie kann eine Unterwerfung unter Gesetze eine Förderung der eigenen Freiheit oder der Mündigkeit bedeuten? Für H. bedeute die Erziehung eine notwendige und legitime Gewalt von Seiten der erlaubten Institutionen dem unerzogenen Subjekt gegenüber. Walter Benjamin betrachte die Erziehung als die Formung eines guten Willens, der wiederum nicht von einer Erziehung getilgt werden könne.
Gonneaud, Didier: La laïcité: Kant ou Hegel, concept de la raison pure ou idée de la raison historique? — In: Nouvelle Revue Theologique. Bruxelles. 127 (2005), 4, 604–614. On the occasion of the anniversary of the promulgation of the French laws of 1905, the author evokes the topicality of the debate concerning secularism, and the difficulty encountered by the Church to focus on that debate without reference to its religious connotation. In order to throw an objective light on the question, we ought to take into consideration the theoretical instability of a secularism which has to deal with two viewpoints: pure reason and historical consideration. These two views meet around a citizenship crisis, a crisis which invites the Church to offer a theological solution to the problem of secularism.
Grumley, John: Hegel, Habermas and the Spirit of Critical Theory. — In: Critical Horizons. Leiden. 6 (2005), 1, 87–99. This paper explores the complex relation between H. and Habermas. Centring the discussion around the key themes of philosophy, modernity and political philosophy, it argues for a gradual re-approachment of Habermas towards H. In the final section on critical theory, it takes up the question of the spirit of this theory to offer a more trenchant critique of Habermas’ theoretical short-coming from this perspective.
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Halbig, Christoph: The Philosopher as Polyphemus? Philosophy and Common Sense in Jacobi and Hegel. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 261–282. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Versuche innerhalb der analytischen Philosophie, die traditionellen Frontstellungen der epistemologischen Realismus-/Idealismusdebatte zugunsten eines direkten epistemologischen Realismus im Rahmen einer therapeutischen Auffassung philosophischer Reflexion zu überwinden, analysiert der Beitrag die zwischen H. und Jacobi geführte Debatte um den Status des unmittelbaren Wissens. Gegenüber der verbreiteten Gegenüberstellung von H. als Vertreter einer hypertrophen, idealistischen Systemphilosophie einerseits, Jacobi als „entschiedenem“ und philosophiekritischen Realisten andererseits wird, ausgehend von einer Rekonstruktion der Grundstruktur von Jacobis Epistemologie und der Auseinandersetzung H.s mit ihr in seiner Jacobi-Rezension sowie im Vorbegriff der enzyklopädischen Logik, die These vertreten, daß H. und Jacobi dasselbe epistemologische Ziel, nämlich die Verteidigung eines direkten, antirepräsentationalistischen und anti-skeptischen Realismus verfolgen. Ihre Auffassungen divergieren erst auf metaphilosophischer Ebene in der Frage nach dem Status epistemologischer Reflexion und deren Bedeutung für die Sicherung der berechtigten Erkenntnisansprüche des common sense gegenüber philosophischen Zweifeln.
Halper, Edward C.: A Tale of Two Metaphysics: Alison Stone’s Environmental Hegel. — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Stone on Hegel’s “Philosophy of Nature”. Nottingham. 51/52 (2005), 1–12. In Petrified Intelligence: Nature in Hegel’s Philosophy (New York 2005), Alison Stone ascribes to H. a metaphysics that differs from the metaphysics implicit in natural science, and she details four arguments for its principal claim, that nature is internally intelligent. Since intelligence conveys intrinsic value, Stone infers that H. opens up the field of environmental ethics. This paper argues, first, that all four of her arguments presuppose an unwarranted dualism between physical nature and the metaphysics that is supposed to explain it. H. ascribes the metaphysics implicit in natural science to the faculty of understanding, in contrast with his own metaphysics which derives from reason. Whereas former deploys concepts that are separate and static, latter’s concepts are dynamic and dialectical. In consequence, the metaphysics implicit in natural science is unable to derive its concepts and so make them fully rational. Thus, Stone’s supposition that nature consists of phenomena that must be explained by some distinct conceptual scheme persists in exactly the sort of separation that a metaphysics of reason aims to overcome. Second, this paper argues that H. succeeds in overcoming this separation by treating nature and concept as internal parts of the Idea of Nature, an Idea that he defines initially as Otherness and identifies as Space. Space is other than concept in three respects: it emerges from Logic, the sphere of thought, as something distinct from it; its conceptual parts are distinct from each other, part outside part, each other than the other; and, unlike Spirit, it cannot grasp itself or relate itself to itself. H. thinks that to grasp the otherness of Space is to think it as what is unthought, but that Space is thereby, to some degree, intelligible. The Idea of Nature unfolds by further self-relations that increase the intelligibility of Nature until intelligence exists within natures, as it does in man. Hence, H.s metaphysics of Nature does not aim to explain nature: it purports to be nature. Finally, the paper argues that although Stone is right to say that intelligence in nature confers moral worth, H.s different degrees of intelligence confer varying degrees of moral worth on the parts of nature. Insofar as none of these parts can exist without the others, H.s scale of intelligence in nature could, pace Stone, be the basis of sustainable environmental ethics.
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Henry, Martin: G. W. F. Hegel: A Secularized Theologican? — In: Irish Theological Quarterly. Maynooth, Co. Kildare. 70 (2005), 3, 195–214. This article pursues an idea underlying two previous contributions by the same author to the ITQ from the year 1998. It aims to examine the extent to which H.s thought is rooted in the Western theological tradition and draws its strength from it. At the same time, it argues that H. secularized that tradition, no doubt unintentionally, by reacting too recklessly against the notion of divine transcendence.
Hercenberg, Bernard Dov: De la séparation et de ses limites dans la philosophie de Hegel. — In: Études théologiques et religieuses. Montpellier/Paris. 80 (2005), 1, 49–69. La philosophie h.ienne passe d’une conception de la séparation comme ce qui fait obstacle à la conscience du tout à une autre où la séparation devient indispensable à l’élaboration de La Phénomenologie. Bernard Dov Hercenberg s’intéresse aux étapes de cette maturation et à ce vers quoi elle conduit; il montre qu’en devenant un moment nécessaire à la constitution du principe, la séparation est mise au service de se qui est achèvement et totalité (du savoir). Ce développement l’amène à s’interroger sur la tension entre séparation nécessaire et séparation impossible.
Hösle, Vittorio: Inferentialismus bei Brandom und Holismus bei Hegel. Eine Antwort auf Richard Rorty und einige Nachfragen an Robert Brandom. — In: Kellerwessel, Wulf/Cramm,Wolf-Jürgen/Krause, David/Kupfer, Hans-Christoph (Hgg.): Diskurs und Reflexion. Wolfgang Kuhlmann zum 65. Geburtstag. Würzburg 2005. 463–486. Verf. wendet sich zunächst H.s Platz in der Geschichte der Philosophie zu. Dabei hebt er besonders H.s Interesse an der sozialen Welt und ihrer historischen Entwicklung hervor. Hauptanliegen ist es, Robert B. Brandoms Buch Making It Explicit (1994) zu betrachten, wobei Brandom Richard Rorty in Beziehung zu H. setzt. Verf. sieht die Diskussion und Kontroverse zwischen Links- und Rechtshegelianern immer noch offen. Faktum bleibe aber (und darin stimmt Verf. mit Rorty überein), daß „eine Philosophie ohne eine Theorie der sozialen Welt und der Geschichte äußerst unbefriedigend ist.“ (468) Dann setzt sich Verf. mit den grundsätzlichen Ideen Bardoms auseinander. Einen Verbindungspunkt zwischen H. und Brandom sieht er darin, daß sich für beide die Rationalität in sozialen Prozessen, im wechselseitigen Verstehen und Anerkennen zeige. „Rationalität wird bei beiden verstanden als inferentielle Aktivität: beide weisen bloße Behauptungen zurück.“ (478) Schließlich gibt Verf. Argumente dafür, daß Brandom mehr von H. hätte lernen können. Wenn H. Begriffe zueinander in Beziehung setze, so geschehe dies auf Grund der Dialektik. „Es gibt bei Brandom nichts ihrem Kern Vergleichbares.“ (483) Er setze die Begriffe in ihrer Existenz schon voraus. „Ohne ein funktionales Äquivalent zur dialektischen Methode bleibt Brandoms neohegelianische Theorie des Begriffs unbefriedigend.“ (483)
Horwitz, Noah: Contra the Slovenians: Returning to Lacan and away from Hegel. — In: Philosophy today. Chicago, Ill. 49 (2005), 1, 24–32. Die Autoren der Slowenischen Lacan-Schule interpretieren das Werk Lacans mit Hilfe von H. (und umgekehrt). Dabei gehe aber der spezifisch revolutionäre Beitrag der Psychoanalyse zum Thema Wesen und Struktur des Unbewußten verloren.Verf. arbeitet die wesentlichen Unvereinbarkeiten zwischen H. und Lacan heraus, um die ursprünglichen Einsichten Freuds und Lacans zu retten.
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Illetterati, Luca: La decisione dell’idea. L’idea assoluta e il suo „passaggio“ nella natura in Hegel. [Das Urteil der Idee. Die absolute Idee und ihr „Übergang“ in die Natur bei Hegel.] — In: verifiche. Trento. XXXIV (2005), 3–4, 239–272.
Jarvis, Simon: Musical Thinking: Hegel and the Phenomenology of Prosody. — In: Paragraph. A Journal of the Modern Critical Theory. Edinburgh. 28 (2005), 2, 57–71.
Käufer, Stephan: Hegel to Frege: Concepts and Conceptual Content in NineteenthCentury Logic. — In: History of Philosophy. Quarterly. Bowling Green. 22 (2005), 3, 259–280. Verf. zeigt einen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang zwischen H.s Logik und Gottlob Freges Einsicht in den logisch fundamentalen „begrifflichen Inhalt“ des Urteils auf. Ausgehend von Kants Unterscheidung „transzendentaler“, die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt betreffender Logik von der traditionellen, an Subsumtions- und Ausschließungsbeziehungen von Merkmalskombinationen orientierten Syllogistik als einer schlechthin inhaltslosen „allgemeinen“ Logik, in deren aufrechterhaltener Anerkennung schon Fichte einen Widerspruch gesehen habe, habe H.s Überwindung der dualistischen Erkenntnistheorie zu einer als objektbestimmend allgemeinen Logik geführt, deren mit den Beziehungen der Begriffsbestimmungen identischer Inhalt Begriffe, Urteile und Schlüsse ins innere Verhältnis logischer Artikulationsstufen versetzt habe. Die aufrechterhaltene Einsicht in die zur hinreichenden Erklärung logischer Beziehungen nötige Anerkennung objektiv gültiger Begriffe habe dann v. a. bei Trendelenburg und Lotze zur Auffassung ihrer nicht in Merkmalskombinationen repräsentierbaren organischen Einheit geführt, die schließlich Frege als den „begrifflichen Inhalt“ des Urteils im inneren Verhältnis zu dessen logischen Beziehungen gesehen habe.
Kantner, Cathleen/Tietz, Udo: Comunità, identità e istituzioni. Hegel sull’integrazione normativa delle società moderne. [Gemeinschaft, Identität und Institutionen. Hegel zur normativen Integration der modernen Gesellschaften.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 285–310. (Traduzione dal tedesco di Allesandro Bellan)
Klimatsakis, Pavlos: Hegel’s Understanding of the Classical Aesthetic Ideal. A Systematic Approach. — In: Φιλοσοφία. [Philosophia.] Athen. 35 (2005), 85–97. Der Beitrag führt aus, daß für H. die Kunst einerseits durch die Logik, andererseits durch die Philosophie des Geistes bestimmt werde. Die Kunst sei die Erscheinung der Wahrheit und verwirkliche das Schöne im Kunstwerk. Die griechische Kunst als das vollendete Beispiel der klassischen Kunst bedeute die Partikularisierung des Kunstideals unter dialektischen Voraussetzungen und geschichtlichen Gegebenheiten. H. meine zwar, die Kunst sei zu ihrem geschichtlichen Ende mit der Auflösung des Kunstideals gelangt, behalte jedoch das Klassische als die strikt systematische Bestimmung der Kunst bei und weise so den ästhetischen Nihilismus zurück.
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Lachapelle, Erick: Morality, Ethics, and Globalization: Lessons from Kant, Hegel, Rawls, and Habermas. — In: Perspectives on Global Development and Technology. Leiden. 4 (2005), 3–4, 603–644. This chapter critically examines the separation of political theory from international theory and argues that a return to the former is essential if scholars are to help provide answers to the urgent moral and ethical questions facing world politics in an era of globalization. An examination of the political philosophies of Kant and H. demonstrates the importance of political theory for the analysis and practice of global politics today, while the tension between the universal and particular, emerging from Kantian morality and H.ian ethics, is traced in the recent work of John Rawls and Jürgen Habermas.
Laden, Anthony Simon: Evaluating Social Reasons: Hobbes versus Hegel. — In: The Journal of Philosophy. New York, NY. 102 (2005), 7, 327–356. Der Aufsatz vergleicht Hobbes’ und H.s Konzepte im Hinblick auf das Zustandekommen und die Beurteilung von intersubjektiv vermittelten Vernunftgründen („social reasons“). Solche Gründe gebrauchten wir, wenn wir z. B. gegen einen Gesetzesentwurf argumentierten oder unsere Handlungen vor dem Vorwurf der Unfairneß verteidigten. Wir berieten uns in diesem Fall miteinander, argumentierten und wiesen auf die geltenden Normen hin. Wie könne die Natur dieses kollektiven Beratungsprozesses geklärt werden? Um diese Frage zu beantworten, wird Hobbes’ individualistischer Ansatz dem am Gedanken der Sittlichkeit orientierten Ansatz H.s gegenübergestellt, wobei der Verf. H.s Ansatz den Vorrang gibt. Es werden Struktur und grundlegende Annahmen des Konzepts H.s untersucht und Hobbes’ Konzept gegenübergestellt. Dabei werden auch Gemeinsamkeiten entdeckt. Das Problem der Individualität bei H. wird in dem Kontext der Frage nach dem Verhältnis der praktischen und der theoretischen Vernunft behandelt.
Laitinen, Arto: Hegel on Intersubjective and Retrospective Determination of Intention. — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Stone on Hegel’s „Philosophy of Nature“. Nottingham. 51/52 (2005), 54–72. Die Frage, ob H.s Sozialphilosophie dem einzelnen Handelnden gerecht werde oder in ein überkollektives System münde, beantwortet Verf. so, daß er beide Seiten – sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche – bei H. realisiert sieht. In seinem Text zeigt er diesen Aspekt der H.schen Philosophie besonders im Hinblick auf die intentionale Handlung bzw. die Idee von retrospektiver und intersubjektiver Bestimmung der Absicht („intention“). Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Robert B. Pippin und Charles Taylor zeigt Verf. H.s Theorie der Absicht („intention“), Handlung („action“) und Tat („deed“), die radikale Idee der retrospektiven Bestimmung der Absicht und ihre Bestimmung im Vernunft-Abschnitt der Phänomenologie des Geistes. Im letzten Teil über retrospektive Perspektiven des Handelnden, der Gesellschaft und der Weltgeschichte kommt Verf. schließlich zu der These, daß H. diese radikale Idee der retrospektiven Bestimmung der Absicht zurückweise: „in radical sense, there is no retrospective or intersubjective determination of intention.“ (68)
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Lampert, Jay: Hegel on Contingency, or, Fluidity and Multiplicity. — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Stone on Hegel’s “Philosophy of Nature”. Nottingham. 51/52 (2005), 74–82. In dem Text geht es um eine Interpretation des Kapitels über die „Wirklichkeit“ innerhalb der Wesenslogik. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe Kontingenz („contingency“), Flüssigkeit („fluidity“) und Vielheit („multiplicity“). Mit dieser Interpretation des Kapitels verbinde sich auch eine bestimmte Auffassung von Dialektik. „One might call this ‚far left Hegelianism‘.“ (74) Verf. stellt die Zusammenhänge der drei genannten Begriffe innerhalb des Wirklichkeits-Kapitels dar und bestimmt im Resultat H.s Wissenschaft der Logik als eine freie Logik, die sich durch Vielheit („multiplicity“) auszeichne.Vielheit und Begierde („desire“) seien für H. keine willkürlichen und unsystematischen Gegebenheiten, sondern Begierde „is a part of H.s account of how a subject can in the movement of life find itself as part of the truth of objects, at the same time as it finds objects as part of its own truth […].“ (Ebd.) Schließlich bestimmt Verf. die Vielheit als eine treibende Kraft der dialektischen Bewegung.
Lee, Hyo-Dong: Interreligious Dialogue as a Politics of Recognition: A Postcolonial Rereading of Hegel for Interreligious Solidarity. — In: Journal of Religion. Chicago, Ill. 85 (2005), 555–581. My paper attempts to make a case for reconfiguring the idea of interreligious dialogue with the help of the H.ian notion of ‘mutual recognition.’ The world today is characterized by a process of globalization in which religious communities are increasingly turned into co-inhabitants of a common economic, political and cultural space. My paper argues that, within such a context, the H.ian notion of mutual recognition provides interreligious dialogue with both a renewed rationale and a reformulation in the form of a ‘dialectic’ of theology of religions and comparative theology. Such a reformulation, I argue, helps interreligious dialogue to be practiced as a political theology, i. e., as a ‘politics of recognition’ equidistant from postliberalism and radical orthodoxy on the one hand and multiculturalism and identity-politics on the other.
Lumsden, Simon: Reason and the Restlessness of the Speculative: Jean-Luc Nancy’s Reading of Hegel. — In: Critical Horizons. Leiden. 6 (2005), 1, 207–224. This paper examines Jean-Luc Nancy’s interpretation of H., focusing in particular on The Restlessness of the Negative. It is argued that Nancy’s reading represents a significant break with other post-structuralist readings of H. by taking his thought to be non-metaphysical. The paper focuses in particular on the role Nancy gives to the negative in H.s thought. Ultimately Nancy’s reading is limited as an interpretation of H., since he gives no sustained explanation of the self-correcting function of reason.
MacDonald, Michael J.: Losing Spirit: Hegel, Lévinas, and the Limits of Narrative. — In: Narrative. Columbus Ohio. 13 (2005), 2, 182–194. In einer Analyse der Kritik von E. Lévinas am Idealismus (insbesondere) H.scher Prägung als einer Erzählung, die sich in ihren zirkulären narrativen Strukturen stets am Vorbild der Homerischen Odyssee orientiere, ergründet Verf. „an essential connection between narrative and knowledge in Hegel’s system of Absolute Idealism.“ Die H.sche Erzählung einer Phänomenologie des Geistes sei erzählt vom Standpunkt des allwissenden Erzählers, welcher die Entwicklungsstadien des Geistes zu einer „ideal totality“ forme. Der H.schen Ontologie, seinem Denken der Totalität, in der Be-
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wegung einer fortwährenden Heimkehr zu sich selbst, einer Reise, in deren Verlauf das Subjekt die Welt er-fahre und seine disparaten Erfahrungen und Eindrücke erzählend zu synthetisieren (und aus dieser Synthese sein Wissen zu schöpfen) vermag, setze Lévinas, so weist der Verf. an zahlreichen Texten Lévinas’ nach, sein diachrones Verständnis von Zeit i. S. des reinen (und unsynthetisierbaren) Werdens entgegen, dem keinerlei narrative Struktur mehr immanent sei. Im Zuge solcher kritischer Betrachtungen verändert sich naturgemäß auch die Auffassung dessen, was Philosophie überhaupt leisten kann und soll.
McLean, Ian: Hegel or Darwin? The Role of Tendencies in Bernard Smith’s Historiography. — In: Thesis Eleven. Critical Theory and Historical Sociology. London. 82 (2005), 54–61. Tracing the relationship between Marxism and Darwinism in Bernard Smith’s writing, the article unpacks the meaning of Smith’s claim that ‘it is the business of the art historian to reveal tendencies’. While Smith tended towards Marxism his writing is not about Marxist tendencies in art. Smith was practising a type of genealogy rather than teleology, something, that is, more Darwinian than metaphysical, philosophical or ideological. I argue that Smith’s claim is more than methodological: it also shaped the content of his historiography and particularly his interpretation of Australian art.
Mandair, Arvind-Pal Singh: The Repetition of Past Imperialism: Hegel, Historical Difference, and the Theoretization of Indic Religions. — In: History of Religions. Chicago, Ill. 44 (2005), 4, 277–299. Verf. ist Theologe und gilt als Spezialist für die indische Sikhreligion. Er liest H. im Rahmen einer Wiederkehr der Religionen („return of religion“ [277, 281]), die notwendig gegen die Repression der säkularen Modernität („religion, repressed by secular modernity“ [281]) auftrete. H. erweise sich in seiner Religionsphilosophie – gebunden durch die Allgemeinheit seiner Ontotheologie (288, 292, 293, 294, 295, 296), die am Christentum als absoluter Religion festhalte – als ein Denker der Differenz, der dieser auf Grund der ihr eingeschriebenen Hierarchisierung abspreche, einen wirklichen Dialog der Kulturen in Gang zu setzen. Lt. Verf. verschärfe sich bei H. die Schematisierung der Abwertung nicht-christlicher Religionen in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion des Jahres 1827 gegenüber 1824. Religionsphilosophie und Religionsgeschichte orientierten sich am Vergleich und am Fortschrittsdenken, so daß noch ihre spätere säkulare und antikolonial auftretende Ausformung als historischer Ausdruck dieses von H. initiierten Denkens der Differenz zu gelten hätten.Verf. bezieht sich auf Derrida (296), um der fundamentalen Repression der Andersheit („fundamental repression of otherness“ [ebd.]) dadurch entgegenzutreten, daß die anzustrebende wirkliche Koexistenz des Verschiedenen durch die Freisetzung von Universalitäten (vgl. 298) eben dieses Verschiedenen in Geltung gesetzt werden soll und pluralisiert entsprechend den – in seiner Sicht – Besonderheiten festschreibenden Aufhebungsbegriff (291), um ihn zu Gunsten einer ungehinderten Übertragbarkeit („unhindered translatabilitiy“ [ebd.]) jedes Allgemeinen aufzulösen. Wie aus dieser Freisetzung nicht vielmehr ein universeller, auf der Ungetrenntheit von Religion und Politik beruhender Kampf entsteht, thematisiert Verf. nicht. Gegen H. sieht Verf. in William Jones, Friedrich Schlegel und Schelling seine westlichen, potentiell antikolonialen Gewährsmänner (290).
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Matsuyama, Juichi: Nichts und Natur als Anfang aller Dinge. Eine Erläuterung beider Begriffe im Zen-Buddhismus und im Deutschen Idealismus. — In: Neuser, Wolfgang/ Reichold, Anne (Hgg.): Das Geheimnis des Anfangs. Würzburg 2005. 181–203. Verf. stellt die Frage nach dem Wesen des Zen-Buddhismus anhand einer altchinesischen ZenGeschichte; er entwickelt es in drei Aspekten (Nichts, Natur, Mensch) und leitet von diesen zur Besprechung von H.s drei Teilen der Enzyklopädie (Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes) über. An H.s Bestimmung des Nichts bzw. des „reinen Seins“ in der Wissenschaft der Logik kritisiert Verf. H.s Inanspruchnahme des buddhistischen Begriffs von Nichts i. S. eines Abstraktums für seinen eigenen Begriff des Nichts resp. des reinen Seins. Über eine Skizzierung der philosophischen Analyse des Nichts im Zen-Buddhismus, die der japanische Philosoph Kitarô Nishida (1870–1945) vorgelegt hat und in welcher er die selbstvergessene Schau, die Ekstase, zur Grundlage aller Philosophie und allen Wissens erkläre, gelangt Verf. zu einer gedanklichen Parallele im Werk Schellings und erkennt dabei an, daß zwei Denker, die in unterschiedlichen kulturell-religiösen Räumen gedacht haben, zu einem ähnlichen Standpunkt gelangt seien: Auch Schelling gründe das „System des menschlichen Wissens“ auf den Begriff der Ekstase; somit sei der erste Schritt des Wissens auch hier nicht ein Wissen, sondern ein Nicht-Wissen.
Mesch, Walter: Sittlichkeit und Anerkennung in Hegels Rechtsphilosophie. Kritische Überlegungen zu Theunissen und Honneth. — In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Berlin. 53 (2005), 3, 349–364. Gegen die Sichtweise, daß – ausgehend von der Annahme, H.s Begriff der Sittlichkeit sei darauf angelegt, den modernen Subjektivismus zu überwinden – auch die gegenseitige Anerkennung von Individuen vollständig in der substanziellen Sittlichkeit aufgehoben werde, zeigt Verf. nicht nur diejenigen Stellen im Rechts- und Moralitätskapitel der H.schen Rechtsphilosophie auf, in denen Anerkennung eine Rolle spiele, sondern auch entsprechende Momente im Bereich der Sittlichkeit. Charakteristisch sei, daß Anerkennung in allen drei Bereichen zwar einerseits horizontal bzw. reziprok verlaufe, darüber hinaus aber auf ein Drittes, eine „begriffliche Bestimmtheit in ihrer Allgemeinheit“ verwiesen sei – welche gleichfalls anerkannt werden müsse (Recht, Institutionen, Staat) –, weshalb Anerkennung bei H. auch linear und vertikal verlaufe. Der vertikale Prozeß vollziehe sich für den Einzelnen demnach als Prozeß der Bildung, der als Befreiung der Subjektivität zur Objektivität verstanden werden müsse. Kritisch gegen die Ansätze Michael Theunissens und Axel Honneths gewandt, welche als H.s eigentliche Einsicht eine „basale Intersubjektivität gesellschaftlichen Handelns“ ausmachten, andererseits aber das Skandalon der H.schen Konzeption darin sähen, daß er das Verhältnis von „sittlichen Mächten“ und Individuen als Verhältnis von Substanz und Akzidenzien aufgefaßt habe, bezeichnet Verf. diese Vorwürfe als Mißverständnis. Demgegenüber sei darauf zu verweisen, daß das Individuum in der vertikalen Anerkennung des Sittlichen nichts anderes als seine eigene allgemeine Substanz anerkenne.
Morresi, Ruggero: Retorica in Hegel e retorica di Hegel. [Rhetorik bei Hegel und Hegels Rhetorik.] — In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric. Berkeley. XXIII (2005), 4, 347–362. “Rhetoric in Hegel” is meant as the treatment of rhetoric in the Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, one of the author’s posthumous works. It is a short exposition whose content does not reoccur in H.s systematic works. These remarks on persuasive speech, focused on oratorical and historiographical prose, are not significant for the economy of H.s thought.Yet in his texts on aes-
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thetics and in his systematic works, traditional elocutionary and argumentative rhetorical figures appear without theoretical or historical justification. Such figures raise questions about the relationships of logic, language, and politics in H. and draw attention to analogical semantic isotopes. This is what is meant by “Hegel’s rhetoric”: a rhetoric that goes beyond the author’s own definition, that deserves analysis from the perspective of H.s dialectics, and that reflects in important ways on contemporary topicality.
Neuhouser, Frederick: L’idea hegeliana di ‚scienza‘ della società. [Die Hegelsche Idee der ‚Wissenschaft‘ der Gesellschaft.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 251–283.
Nichols, Craig M.:The Eschatological Theogony of the God who may be: Exploring the Concept of Divine Presence in Kearney, Hegel, and Heidegger. — In: Metaphilosophy. Oxford. 36 (2005), 5, 750–761. While heightening the nihilistic tension underlying the discourse of Richard Kearney, I highlight the positive contribution his book The God Who May Be makes to the debate concerning the need for a postmodern revitalization of religious symbolism. I argue for three qualifications of Kearney’s argument, suggesting, in response to Kearney’s exclusionary approach to the God who “neither is nor is not but may be,” a God whose possibility for meaningfulness arises as an “eschatological theogony” from out of the chaos (confusion and openness) of contemporary religious symbolism. Arguing that such a radical reenvisioning of God must be tempered and given meaning through reentering and reaffirming onto-theology in a qualified (hermeneutical) sense, I sketch a possible renewal of meaning for the traditional Christian parousia-concept as a hermeneutical circle between H.s systematic closure of Western metaphysics and Heidegger’s deconstructive appropriation of the hidden possibilities of presence within the onto-theological tradition.
Noël, Christine: Hegel et les insuffisances du marché. Le politique face à la pauvreté laborieuse. — In: Revue philosophie de Louvain. Louvain. 103 (2005), 3, 364–389. H.ian philosophy confirms and brings to its summit the movement begun by the reflections of Kant and of Fichte to the recognition of work as a major political issue. Confrontation with the problem of working-class poverty led H. to work out an interventionist liberalism which justified the intervention by its principle of the State in social relations through the intermediary of legislation. However, this intervention of the State cannot call into question the fundamental principles of civil society. Thus H. adopts a ‘via media’ between strict liberalism and its future questioning by socialism. However this ‘via media’ is not without its problems. How should one limit State intervention to the strictly necessary once one justifies its existence? H.s solution, which may be interpreted as an admission of powerlessness, reveals the complex relations between the politician and the sphere of work.
Novelli, Pedro Geraldo Aparecido: O ensino da filosofia segundo Hegel: Contribuções para a atualidade. [Die Lehre von Philosophie nach Hegel. Beiträge zu ihrer Wirklichkeit.]— In: Trans/Form/Ação. Revista de Filosofia. São Paulo. 28 (2005), 2, 129–148. Is it possible to teach philosophy? H. answers positively to that question; but furthermore he also indicates what has to be taught in philosophy and how. The source of H.s answer is his activity in
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the Nürnberger Gymnasium where he searches to establish the aims and the procedures so that philosophy may be taught to young people. According to H. philosophy is also meaningful when it considers what is basic for men, i. e. their life with all the questions related to it. In this way philosophy has to assume the man as its object.This ends up in the consideration of the human reality as it is so that it may be better and deeper understood through reflection and speculation.These abilities can only be obtained by the direct contact with philosophy itself in what is its specifications in its historical production or in other words, its texts. To know the history of philosophy is already to learn philosophy but such learning process needs the mediation of a teacher because one does not learn naturally or spontaneously. To learn is to learn together with someone else.
Nunziante, Antonio M.: „Singularità“ e „infinito“. Appunti per una discussione tra Leibniz e Hegel. [„Einzelheit“ und „Unendlichkeit“. Beiträge zu einer Diskussion bei Leibniz und Hegel.] — In: verifiche. Trento. XXXIV (2005), 1–2, 29–61.
Over, Stephanie: Die Abwertung des sinnlich Erscheinenden in Hegels Begriff der romantischen Kunstform. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 57–66. Bezug nehmend auf die drei von H. unterschiedenen Epochen der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform möchte Verf.in insbesondere den Übergang von der klassischen zur romantischen Kunstepoche untersuchen. Diesen Übergang versteht sie als „Entsinnlichung“ der Kunst, insofern das Verhältnis von absolutem Inhalt und seiner sinnlich-anschaulichen Darstellung, wie sie der Kunst wesentlich ist, in der klassischen Epoche zur Adäquation gebracht sei, während sich in der darauf folgenden romantischen Kunst eine Emanzipation des Inhalts von seiner sinnlichen und daher auf das Stoffliche bezogenen Darstellungsweise vollziehe. Diese Veränderung innerhalb der Geschichte der Kunst gehe wesentlich mit dem Aufkommen des Christentums einher, welches das Absolute nicht mehr als sinnliches, sondern als übersinnliches und somit anschaulich nicht mehr zu erfassendes Wesen verstehe. Eine Vermittlung mit dem Absoluten sei dem Menschen von nun an nur noch in der geistigen Innerlichkeit seiner selbst möglich. Durch diesen von H. sog. „Triumph der Innerlichkeit über das Äußere“ werde also die genuin künstlerische Darstellungsweise als obsolet verworfen, und der Kunst wachse damit, so die Verf.in, die Funktion zu, die Inadäquatheit bzw. Unwesentlichkeit ihrer Mittel mit eben diesen Mitteln darzustellen. Diese veränderte Funktion der Kunst, die H. als „Hinausgehen der Kunst über sich selbst, doch innerhalb ihres eigenen Gebiets und in der Form der Kunst selbst“, beschreibt, sei ihm zufolge zwar als eine Verfallserscheinung zu betrachten, bedeute jedoch keineswegs das Ende aller Kunstproduktion.
Piercey, Robert: Hegel, Novelty, and philosophical Novelty. — In: International Studies in Philosophy. Canton, MA. 36 (2005), 1, 143–159. Entgegen der Kritik, die von Derrida, Foucault und Deleuze an H. geübt werde (143), seine Philosophie sei in ihrer Abgeschlossenheit und ihrem Abschluß im absoluten Wissen unfähig, Platz zu lassen für das objektiv Neue und würde sich insbesondere dem philosophisch Neuen verweigern, argumentiert Verf. dafür, daß nach H.s eigenem sowohl historischem als auch logischem Vernunftkriterium der notwendigen Herausbildung des sich selbst bewußten Geistes der H.ianismus nicht notwendig mit H.s eigener Philosophie ende. In einem ersten Teil werden H.s Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte so interpretiert, daß sich ein unbedingt Neues gegen das „dialectical movement“ (148), durch welches der Geist sich als Geist erkenne, gar nicht festhalten lasse. Die
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Entstehung und Einbindung des Neuen in den Zusammenhang des Wirklichen läßt sich in einem zweiten Teil für den Verf. begrifflich nur erfassen, wenn dieses Neue methodisch durch die „determinate negation“ (‚bestimmte Negation‘, 151; 152) rekonstruiert werde, was Verf. beispielhaft insbesondere an dem Übergang von der sinnlichen Gewißheit zur Wahrnehmung in der Phänomenologie des Geistes erläutern zu können glaubt. In einem abschließenden dritten Teil wird versucht, Robert B. Pippins Interpretation der Philosophie Martin Heideggers, die in Heidegger durchgängig einen Kritiker der modernen Subjektivität sehe, komplementär negativ in einen der Kontinuität der Moderne verpflichteten Neo-H.ianismus (156) zu integrieren, wobei Verf. aber bewußt die Frage offen läßt, ob nicht insgesamt der gegenwärtige Anti-H.ianismus ein eigenes „Telos“ (158) in die Welt setze. Im Resultat kann für Verf. der H.ianismus aber nur dann fortexistieren, wenn er sich – mit H. selbst zu sprechen – die umfassende Fähigkeit erhalte, „dem Negativen ins Angesicht“ (vgl.: GW 9, 26, Z. 16 f.; hier 158) zu schauen und sich an ihm abzuarbeiten.
Puntel, Lorenz B.: Hegels Wahrheitskonzeption. Kritische Rekonstruktion und eine „analytische“ Alternative. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 208–242. The following article presents a comprehensive and critical interpretation of the truth-concept in H.s philosophy. The central interpretational thesis is that H., in an unusual manner, subjects the truth-concept to a radical transformation by transposing the concept of correspondence from the level of the relation between thinking (consciousness, the mental, language) and subject matter (reality) to the level of the “pure” subject matter (“Sache”): “truth” is the correspondence or agreement of the subject matter with itself or, in H.s most common terminology, “correspondence of the object with itself, i. e., with its concept.” The traditional notion of correspondence is then termed “mere correctness.” The article shows in detail how H.s truth-conception is put to work in the Phenomenology of Spirit, the Science of Logic, and the philosophies of nature and spirit. H.s conception is subjected to a twofold immanent critique. The first, immanent in a narrower sense, shows that H.s conception is incoherent. The second, immanent in a broader sense, reveals that H.s conception of truth is hopelessly deficient and therefore unacceptable. In a concluding section, this twofold immanent critique is further supported by a comparison between H.s understanding of truth and a specific version of an “analytic” truth-theory.
Quante, Michael/Schweikard, Daniel: „… die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen“. La struttura metafisica della filosofia sociale di Hegel. [… Die metaphysische Struktur der Gesellschaftsphilosophie Hegels.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 221–249.
Redding, Paul: G.W. F. Hegel e Pierre Bourdieu: storia, kantismo e teoria sociale. [G.W. F. Hegel und Pierre Bourdieu: Geschichte, Kantianismus und Gesellschaftstheorie.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 139–163.
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Reid, Jeffrey: La jeune fille et la mort: Hegel et le désir érotique. — In: Laval théologique et philosophique. Québec, Canada. 61 (2005), 2, 345–353. Juxtaposing some of H.s texts on erotic love with certain passages from the romantic thinker Friedrich Schlegel throws light on H.s problematic relationship with sexual desire. According to his hierarchy of types of desire, erotic desire betrays an imbalance between the desiring subject and the object of desire, typical of a purely natural, non-spiritual relation. This means that carnal knowledge, with its self-less object, represents an inferior form of knowing. The inequality between subject and object, inherent in erotic love, is only surpassed through participation in the ethical substance, requiring the reciprocal recognition of equal self-consciousnesses. In the present context, this means marriage.
Rescher, Nicolas: Über philosophische Systematisierung, Plausibilität und Hegels Vision. — In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Berlin. 53 (2005), 179–202. Rescher versteht H.s Konzeption der Philosophiegeschichte als Versuch, die geschichtlich vorgetragenen Behauptungen ungeachtet ihrer Uneinigkeit und Inkonsistenz zu vereinigen. Der „Sirenengesang“ von einem allumfassenden System habe H. auf diesen „Rosenweg des dialektischen Synkretismus“ gelockt, der jedoch statt zur tieferen Einsicht vielmehr ins Chaos führe. Verstehe man Philosophie hingegen nicht als Streben nach Wahrheit, sondern nach Plausibilität, entgehe man zwar den Aporien und gelange zu einer „Vielfalt verlockender Plausibilitäten“ und zu einem neohegelianischen Plausibilitätssynkretismus, der sich als nützlich für das Studium der Philosophie erweise, für die Begründung einer eigenen Philosophie jedoch nicht ausreiche.
Rimoldi, Monica: L’interpretazione delle parabole evangeliche negli scritti hegeliani di Tubinga e Berna. [Die Interpretation der evangelischen Gleichnisse in Hegels Tübinger und Berner Schriften.] — In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Berlin. 53 (2005), 179–202. The interpretation of the evangelic parables is an exemplary place to reflect on the relation between philosophy and theology in the H.ian writings of Tubingen and Berne. In the background of the hermeneutics of parables proposed by Ricœur, the paper confronts the philosophical interpretation of H. Then it considers the references to the parable-form, which mark transition zones in the reflection of the Young H., treating in conclusion the theme of the meaning of the parables, referring in particular to the paraphrase of Matt. 13 in Das Leben Jesu.
Rinaldi, Giacomo: Innere und äußere Teleologie bei Kant und Hegel. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 77–92. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Verf. setzt sich zunächst mit Kants Auffassung der Teleologie auseinander. Kants Ansatz der Dialektik der teleologischen Urteilskraft zeige, „daß diese Dialektik in bezug auf die von der entsprechenden Analytik erreichten bedeutendsten Resultate gerade dieselbe radikale ‚Verstellung‘ ihres innersten Wesens und ihrer Bedeutung vollbringt, die die ‚Dialektik der praktischen Vernunft‘ schon in bezug auf die in der ‚Analytik der praktischen Vernunft‘ entfaltete Lehre von
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der Autonomie des Willens durchgeführt hatte […].“ (79) Daran schließt er H.s Kritik an Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft an, indem er H.s Denken der äußeren und inneren Zweckmäßigkeit darstellt.Verf. beschließt seinen Text mit dem Hinweis auf einige „zwangsläufige erkenntnistheoretische Implikationen für die heutige Naturphilosophie“. In diesem Schlußteil stellt Verf. H.s Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit eindeutig über die Kantische Theorie der Zweckmäßigkeit. H.s Lehre der äußeren Zweckmäßigkeit lobt er als wesentliches Moment für das Verhältnis von Mensch und Natur bzw. Technik. Auch die aktuellen Naturwissenschaften sieht Verf. in der Sphäre des bloß erscheinenden Wissens, so daß sie den Bezug zur Wahrheit nur darin hätten, daß ihre Ergebnisse in das spekulative Wissen aufgehoben würden.
Roche, Mark William: Hegels Relevanz für die gegenwärtige Ästhetik. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 67–81. In diesem Essay betrachte ich verschiedene H.sche Gedanken im Lichte aktueller Entwicklungen. Ich habe vier Themen ausgewählt, die mir heutzutage von besonderer Wichtigkeit zu sein scheinen, und die ich jeweils neueren Entwicklungen gegenüberstelle. Im ersten Teil bekenne ich mich – entgegen der gegenwärtigen Bevorzugung von Produktions- und Rezeptionsästhetik – zu H.s höherer Einschätzung der Werkästhetik. Im zweiten Teil verteidige ich das Konzept einer organischen Kunst und schlage vor, daß das Häßliche, das die ästhetische Diskussion unmittelbar nach H.s Tod dominiert hat, voll in die Kunst integiert werden muß. Im dritten Teil beschäftige ich mich indirekt mit H.s These vom Ende der Kunst, indem ich darauf hinweise, daß der dominierende Aspekt der modernen Kunst ihre Selbstreflexion ist – ein Moment, welches nach H. der Kunst fehlt. Ich argumentiere jedoch auch dafür, daß zuviel Selbstreflexion den ästhetischen Gehalt von Kunst reduzieren kann. Zu der Frage zurückkehrend, was das eigentliche Objekt ästhetischer Reflexion sei, argumentiere ich im letzten Abschnitt gegen H.s Kritik am Naturschönen und behaupte, daß die Bedeutung der Natur für die moderne Ästhetik viel größer ist, als H. erkannt hat.
Rossi, Roberto: L’eterogenesi dei fini: Vico e Hegel. [Die Verschiedenartigkeiten der Grenzen: Vico und Hegel.] — In: Filosofia oggi. Genova. XXVIII (2005), 110–111, 257–269.
Sartori, Andrea: Sull’esistenza sociale in Hegel e Gehlen. [Zur sozialen Existenz bei Hegel und Gehlen.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 121–137.
Scheier, Claus-Arthur: Der Begriff der Farbe und die Farbe des Begriffs in Hegels Ästhetik. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 89–94. Vor dem Hintergrund des in der klassischen Tradition geltenden „Primats des Disegno vor dem Colore“ möchte Verf. die Umkehrung dieses auch noch von Schelling vertretenen Prinzips durch H. herausstellen. Er führt aus, daß sich in der H. zufolge durch die Verbindung von Licht und Finsternis hervorgebrachten Farbe, insofern diese als ein von der Gegenständlichkeit gelöstes Spiel des Scheins inszeniert werde, die Auflösung des Vorgestellten in das Feld des Begrifflichen vollziehe.
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Schick, Friedricke/Kress, Angelika: „Von der Logik zur Sprache“ – und darüber hinaus. Bericht vom Sechsten Internationalen Hegel-Kongress, Stuttgart, 26.–28. Mai 2005. — In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Frankfurt a. M. 59 (2005), 3, 433–443.
Schmidt, Klaus J.: Der Rückzug der Kunst aus dem Äußeren in die Innerlichkeit. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 95–112. Verf. analysiert nacheinander die von H. in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst unterschiedenen Epochen der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform, um die Entwicklung des für die Kunstproduktion wesentlichen Verhältnisses von absolutem Inhalt und äußerer Gestaltung herauszuarbeiten. Dabei hebt er zunächst hervor, daß Kunst H. zufolge überhaupt erst möglich werde, wenn der Mensch aus seinem im Natürlichen aufgehenden Dasein heraustrete und sich diesem entgegensetze. Diese Objektivierung der Natur führe schließlich zur Hervorbringung eines Über-Natürlichen, Höheren, das dem Menschen unmittelbar nicht mehr zugänglich sei und insofern als ein der äußeren Welt entzogenes Inneres begriffen werde. Einen Bezug nun versuche der Mensch herzustellen, indem er dieses Innere in eine äußere Gestalt transformiere, kurz: indem er ein Kunst produzierendes Wesen werde. Das Verhältnis dieser äußeren Gestalt zu dem durch sie zu erfassenden Inneren nun wandele sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte: In der symbolischen Kunstform, die bei den Ägyptern ihre Blüte erreiche, stelle die äußere Gestalt nur einen Verweis auf das Innere dar, während in der klassischen Kunstform der Griechen, die den Begriff der Persönlichkeit hervorbrächten, Inneres und Äußeres zu einer harmonischen Einheit gelangten. Diese Einheit löse sich in dem Moment auf, in dem die auch schon von den Griechen gedachte Allgemeinheit des Höheren mit Aufkommen des christlichen monotheistischen Gottesbegriffs nicht mehr als durch eine äußere Gestalt angemessen wiederzugeben begriffen werde. Mit der nun einsetzenden Epoche der romantischen Kunstform vollziehe sich daher ihr Rückzug aus dem Äußeren in die geistige Innerlichkeit des Menschen, mit dem die Kunst als solche an ihre Grenzen gerate. Nach diesen Ausführungen beendet Verf. seine Abhandlung mit einer allgemeinen Betrachtung des Zusammenhangs von Kunst und Religion einerseits und Wissenschaft der Logik andererseits.
Schmitt, Carl: Hegel und Marx. Ein Rundfunkvortrag aus dem Jahr 1931. — In: MarxEngels-Jahrbuch 2004. Berlin 2005. 219–225. (Mit einer Nachbemerkung von Gerd Giesler. 226.)
Speight, C. Allen: Butler and Hegel on Forgiveness and Agency. — In: Southern Journal of Philosophy. Memphis. 43 (2005), 2, 299–316. Few moral philosophers in the tradition have put more stress on the concept of forgiveness than Butler and H. Butler and H. share a view of forgiveness as involving a revision of judgment rooted in the taking of an “impersonal” stance on the action in question, one which acknowledges conditions on the action such as an agent’s fallibility, self-interest and potential for evil. They argue differently, however, for how such conditions may be construed within the context of a theory of agency.
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Stekeler-Weithofer, Pirmin: Mathematical Thinking in Hegel’s Science of Logic. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Berlin. 3 (2005), 243–260. H.s Idee einer Seinslogik wird nur verständlich, wenn man seine Kommentare zu Kants transzendentaler Analytik, insbesondere aber seine eigene Kritik an der Unterstellung der Existenz infinitesimaler Größen in der Mathematik und entsprechender Kräfte in der mathematisierten Mechanik der Newton-Nachfolge als exemplarische Paradigmen für das Vorgehen begreift. Indem er den Unterschied zwischen sinnvollen Benennungen und bloß synkategorematisch gebrauchten Wörtern erkennt, entmystifiziert H. mit den Sinnkriterien für All- und Existenzquantifikatoren die Rede über abstrakte Zahlen und Formen, aber auch über Regeln und über Unendliches.
Stern, Robert: Peirce on Hegel: Nominalist or Realist? — In:Transactions of the Charles S. Peirce Society. A Quarterly Journal in American Philosophy. Bloomington, IN. 41 (2005), 1, 65–99. Peirce kritisiert H. in zwei verschiedenen Hinsichten, die kaum miteinander vereinbar zu sein scheinen. Einmal wirft er ihm vor, Nominalist zu sein, dann kritisiert er ihn, weil er die Drittheit („Thirdness“) überbetont habe. Verf. geht dieser anscheinenden Diskrepanz nach. Der Vorwurf der Überbetonung der Drittheit richtet sich dagegen, daß H. Erstheit („Firstness“), Zweitheit („Secondness“) und Drittheit nicht als gleichberechtigte Momente anerkenne, sondern die ersten beiden im dritten Moment als dem Absoluten aufhebe. Mit Erstheit ist gemeint das Moment der im Gefühl erfaßten Gegenwärtigkeit, mit Zweitheit Kampf, Widerständigkeit der Weltanschauung, mit Drittheit die in der Natur wahrnehmbare Gesetzmäßigkeit bzw. die erfahrbare Gleichförmigkeit der Natur. Aus H.s Überbetonung der Drittheit folgt nach Peirce, daß er die ersten beiden Momente nicht in ihrer Eigenständigkeit voll anerkenne. Dies ist gegen H.s Darstellung der sinnlichen Gewißheit in der Phänomenologie des Geistes und die Seinslogik der Wissenschaft der Logik gerichtet. Auch der Kampf und die Andersheit, die immer mit Überraschung verbunden ist, werden nach Peirce von H. nicht genügend als eigenständige Momente erfaßt. Insofern wird verständlich, wie Peirce’ Vorwurf der Überbetonung der Drittheit mit einem Nominalismus-Vorwurf verbunden sein kann, nämlich bezüglich der ersten beiden Momente. Der eigentliche Fehler H.s liege für Peirce demnach in der falschen Einschätzung der Drittheit, zu der H. vor allem durch die Verkennung der Kategorie der Möglichkeit komme. H. akzeptiere nicht die unrealisierte Potentialität; das wahrhaft Allgemeine beziehe sich auf die unbestimmte Zukunft.Verf. sucht demgegenüber H. zu verteidigen. Er sieht Peirce abhängig von der verzerrten H.-Darstellung F. E. Abbots, für den H.s Philosophie in einen subjektiven Idealismus münde. Verf. ist der Auffassung, daß Peirce in H. einen Verbündeten auf dem Weg des nachkantischen Realismus hätte finden können.
Takayama, Mamoru: „Das absolute Nichts“ bei Nishida und Hegel. — In: Neuser, Wolfgang/Reichold, Anne (Hgg.): Das Geheimnis des Anfangs. Würzburg 2005. 205–227. Ausgangspunkt der Darstellung ist Kitaro Nishidas (1870–1945) Begriff der „Reinen Erfahrung“: der unmittelbar wahrgenommenen Erfahrung als einer in ihrer Indifferenziertheit alles umfassenden, subjektlosen, religiösen. Diese Momente der Fülle und Unbestimmtheit blieben in Nishidas späterer Philosophie erhalten, in deren Mittelpunkt der „Ort des absoluten Nichts“ stehe. Diesem entspreche, so Verf., „die Totalität der sinnlichen Gewissheit Hegels“, die aber bei Nishida positiv gefaßt sei als „die reichste und wahrhafteste Erkenntnis“. In Gegenführung zu Hisamatsus These, „das absolute Nichts“ sei der „Hausschatz des Ostens“ und habe keinen Platz in der Philosophie
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des Westens, geht Verf. im Anschluß auf die Philosophie H.s ein. Dabei führt er dessen als „antinomisch“ gekennzeichneten Wissensbegriff und dessen (frühe) Bestimmung des Absoluten als des „absoluten Nichts“ an. In einem abschließenden Vergleich stellt Verf. der inhaltlichen Identität der Positionen eine methodische Differenz (Nicht-Angewiesenheit auf religiöse Erfahrung bei H.) gegenüber.
Tam, Thomas: The Death of Art: Bataille, Malraux, Hegel. — In: Graduate Faculty Philosophy Journal. New York, NY. 26 (2005), 1, 161–172. 1955 hat Georges Bataille zwei Monographien über Malerei veröffentlicht: eine über die Höhlenmalereien von Lascaux als der Geburt der Kunst, die andere über Édouard Manet (1832–1883), der die Geburt der modernen Malerei repräsentiert. Verf. geht der Frage nach, in welchem Verhältnis diese letztere „Geburt“ zur ersteren stehe. Er unternimmt dies in Form einer Konfrontation mit H.s These vom Ende der Kunst, die er in drei Fragen gliedert: 1. Gibt es eine sinnvolle Rede vom Ende der Kunst, und wie ist sie zu bestimmen? 2. Wenn Kunst wirklich an ihr Ende gekommen ist, gibt es eine Möglichkeit des Weiterlebens nach diesem Ende? 3. Wenn Kunst ihren Tod zu überleben vermag, in welcher Weise ist sie dann gezeichnet von ihrem Tod? These des Verf. ist, Bataille versuche genau diese Fragen in seiner Manet-Studie zu beantworten. In der Darstellung selber werden Malraux’ Thesen zum Charakter moderner Kunst mit H.s Thesen zum Ende der Kunst und den Ausführungen Batailles zu Manet so konfrontiert, daß Bataille in eine bedeutsame Nähe zu H. rückt: Kunst sei in der Tat nicht mehr die sinnliche Vergegenwärtigung der Idee („the sensuous presentation of the Idea“), sondern deren Auflösung.
Testa, Italo: Conoscere é riconoscere. L’epistemologia hegeliana del riconscimento e il passaggio dalla prima alla seconda natura. [Erkennen ist Wiedererkennen. Hegels Wissenschaft des Wiedererkennens und der Übergang von der Ersten zur Zweiten Natur.] — In: Giornale di Metafisica. Genova. XXVII (2005), 121–144. This paper takes as its guiding thread the statement from H.s Lectures on the Philosophy of Spirit (1805/1806), that “knowledge is recognition” (“Erkennen ist Anerkennen”). In this perspective the author argues that the theory of recognition arises within H.s confrontation with epistemology and aims at responding to the questions raised by modern skepticism and concerning the accessibility of the external world, of other minds, and of one’s own mind. In the Jena period (1801–1807) H. developed an epistemological strategy that can be summarised according to the author in the following theses: 1. H. naturalises the epistemological questions; 2. to do so he critiques foundationalism qua theory of empirical cognition; 3. and qua theory of epistemic justification; 4. the critique of foundationalism is linked to a critique of the corresponding representationalistic theory of perception, with respect to which H. delineates an alternative – pragmatic and interactional – model; 5. this, in turn, is linked to a critique of the monological theories of self-consciousness and to the development of a model – itself interactional – of the rise of self-conscious knowing; 6. H. makes use of the tropes of ancient skepticism to critique the epistemological position responsible for modern skepsis; 7. H. synthesises these epistemological views in a theory of knowledge qua recognition; 8. H. roots this theory in his Naturphilosophie, thus formulating a conception that accounts for the relation between first nature and second nature, that is to say between natural recognition and spiritual recognition of a normative-conceptual type. In this sense the anthropological conception of knowledge as recognitive power makes it possible for H. to comprehend unitarily knowledge as exercise of natural capacities and knowledge as exercise of normative capacities socially articulated. H.s cognitive anthropology of recognition, on the assumption that “Anerkennung” is the basic structure of our nature, is thus a social ontology of human beings.
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Testa, Italo: Naturalmente sociali. Per una teoria generale del riconoscimento. [Von Natur aus gesellschaftlich. Für eine allgemeine Theorie der Anerkennung.] — In: Quaderni di Teoria Sociale. Perugia. 5 (2005), 165–217. This study dwells on the theme of the notion of natural recognition, whose centrality for the H.ian conception of recognition has not yet been adequately grasped. Analyzing the conception of the animal organism developed in particular in the System der Sittlichkeit (1802/03) and in the Lectures on the Philosophy of Nature (1803/04) brings to light how H. already individuates the recognitive phenomenon at the level of sexual reproduction: it is from here that he posits the natural prerequisites for the development of consciousness of self. The category of natural recognition will present itself anew in H.s analysis of the human world in the philosophy of spirit, where it concerns sexual love, reproduction and child raising: natural recognition is, then, that on the basis of which H. develops his theory that knowledge is recognition. The second part of this work deals with the question of a renewal of certain aspects that have emerged from the H.ian conception of recognition. The author proposes, as the starting point for a theory of self-consciousness in terms of “Anerkennung,” the conception of natural recognition identified in H.: only a theory that manages to evolutionally account for the unity of natural and spiritual recognition can satisfactorily respond to the puzzle posed by the paradoxes individuated by Dieter Henrich, and thus can avoid presupposing the intersubjectivity it has to explain. Finally, are delineated some of the requirements that today – within a pragmatic and evolutional conception of cognition of a postH.ian type – ought to be met by a theory of recognition, as a general theory of communicative interaction that includes linguistic communication as its case. In the last section of this work the author proposes a framework to reconstruct in terms of recognition a series of studies from various biological, psychological and linguistic disciplines, that can constitute a starting base for the formulation of a theory of this type.
Važjulin, Viktor A.: Entwicklung systematisch denken. Ein Vergleich des Systems der dialektischen Logik bei Hegel und Marx. — In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung. Berlin. 53 (2005), 2, 203–219. Bei diesem Text handelt es sich um die geringfügig gekürzte Übersetzung der Einleitung der bisher unübersetzten Monographie Važjunins Die Logik des ‚Kapitals‘ von Karl Marx, die zuerst 1968 und 2002 in zweiter Auflage in Moskau erschienen ist.Verf. charakterisiert die H.sche dialektische Logik im Wesentlichen als eine kategoriale Selbsterfassung des Denkprozesses, der unter dem Namen der Idee zum selbständigen Subjekt und zum Demiurgen des Wirklichen gemacht werde, was den „Tatsachen der lebendigen Anschauung“ (211) aber nicht gerecht werde. Diese Anschauung trage – in Absetzung vom Idealismus H.s – dadurch grundlegend zur Überwindung von dessen systematischen Verewigungs- (vgl. 204) und Abschlußtendenzen (vgl. 205) bei, indem sie sowohl von der Gegenstandsorientierung der besonderen Wissenschaften her als auch unter Einbeziehung des ‚Prinzips der historischen Vergänglichkeit‘ (vgl. 207) eine bewußte Vermittlung von Sein, Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit (vgl. 214) anleite, die anders als H.s Entwicklung der logischen Kategorien sich begrifflich der „Zukunft“ (205) öffne. Verf. sieht nun in der aktualisierenden Rekonstruktion der „Logik des Kapitals“ (204, 207, 208, 210, 212, 213, 214) den entscheidenden Ausgangspunkt für eine entsprechende Überarbeitung der H.schen Logik (vgl. 208). Die Begründung dafür, daß es diese implizite, ökonomisch ausgearbeitete und rekonstruierbare ‚Logik des Kapitals‘ mit universellem Anspruch überhaupt gebe, wird unter Berufung auf Friedrich Engels (207) und Lenin (204, 216) zu belegen versucht, wobei die kritische Abstoßung von H. deswegen nicht zu einem endgültigen Bruch mit seiner Philosophie führe, weil durch den Anspruch, im
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Rahmen der kritischen Überarbeitung einen „rationellen Kern“ (vgl.: Marx, MEW 23, 27; hier 207) der H.schen Dialektik freizulegen, eine Unentbehrlichkeit dieser Dialektik für das Verständnis der ‚Logik des Kapitals‘ ausgewiesen werde. Für den Verf. besteht dann die „Tragik Hegels“ (217) darin, daß er es nicht vermocht habe, die von ihm angenommene absolute Einheit von Subjekt und Objekt als Ausdruck einer bloß logisch reinen Untersuchung des Denkens in Beziehung zu setzen zu einer umfassenderen begrifflichen Aufarbeitung der „sinnlichen Erkenntnis“ (217), die offen dafür bleibe, „zu neuen Tatsachen der lebendigen Anschauung“ (205) und wechselwirkend damit zu neuen Begriffen überzugehen. Für Marx hält der Verf. als Resultat fest, daß der „Dialektik des Kapitals“ (204) eine verallgemeinernde „Bedeutung bei der Erforschung eines beliebigen Entwicklungsprozesses“ (204) zukomme.
Vieillard-Baron, Jean-Louis: La „Wirklichkeit“ ou réalité effective dans les „Principes de la philosophie du droit“ de Hegel. — In: Revue philosophie de Louvain. Louvain. 103 (2005), 3, 347–363. Kant entirely reserved the concept of actuality (“Wirklichkeit”) as held in the last phase of scholasticism by maintaining the irreducibility of actuality (“Wirklichkeit”) as compared with the concept. Actuality for him is existing reality. H. amplifies the disjunction between actuality (“Wirklichkeit”) and reality (“Realität”). Reality (“Realität”), not being reflected in itself, has no truth, whereas actuality (“Wirklichkeit”) is the manifestation of the Idea as the actual (“wirklich”) concept. In the Elements of the Philosophie of Right, H. presents the actualisation (“Verwirklichung”) of the concept of right in the Idea of objective Spirit. He is not satisfied with applying the unity of essence and of existence in the Idea as set out in his Logic. It is the concept of right which gives to itself actuality (“Wirklichkeit”), thereby realising the decision proper to free will. The State is the actuality (“Wirklichkeit”) of the Spirit in its objectivity; therefore it takes on substantiality (“Substantialität”) subjectively as the “Gesinnung” of the citizen attached to it by patriotism and objectively as an organism structured according to a kind of composition (“Zusammensetzung”) called constitution.The self-realisation of the Idea of the State in its philosophical actuality (“Wirklichkeit”) then presents itself as philosophy of right raising empirical reality to the level of objective Spirit.
Vieweg, Klaus: Humor als ‚ver-sinnlichte‘ Skepsis – Hegel und Jean Paul. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 113–121. Verf. geht den vielfältigen Verschränkungen von Kunst, Skeptizismus und Philosophie nach und zeigt, in welcher Weise für H. Kunst und Skeptizismus einander verwandt sind und gemeinsam den Übergang zur Philosophie bahnen. Anknüpfungspunkt ist Jean Pauls Dichtung, die den Standpunkt des Humors verkörpere, der für H. höchster Ausdruck der modernen, romantischen Kunst sei. In Komik, Witz, Humor gehe die moderne Kunst über sich selbst hinaus, nach H. und Goethe zu einer neuen Art von Orientalität, insofern sie die klassische Einheit von Gedanke und Sinnlichkeit aufhebe und zur orientalischen Unangemessenheit von Bedeutung und Gestalt zurückkehre. Der Humor verkörpere wie der Skeptizismus die negative Seite der Philosophie, die deren Vorstufe darstelle. Moderne Kunst und Skeptizismus stellten somit für H. Übergänge zur Philosophie dar, aber auch Grenzverletzungen, da sie Begriffliches und bloß Erzählerisches vermischten.
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Villa, Dana: Hegel, Tocqueville, and “Individualism”. — In: The Review of Politics. Notre Dame, Ind. 67 (2005), 4, 659–686. Critics of liberal individualism have pointed out the many failures of “atomism” as a method in social and political philosophy. Their methodological criticisms have a tendency, however, to devolve into repudiations of moral individualism as such. In part, this is due to a misreading of H. and Tocqueville, to critics of individualism who nevertheless upheld the importance of individual rights and what H. called “freedom of subjectivity.” My essay brings these two very different theorists together in order to show how each deliberately dispensed with the ontology inherited from eighteenth-century social contract theory, the better to focus on associational life and public freedom. The end result is not a relapse into the rhetoric of civic republicanism, but a refurbishment of that tradition from the standpoint of modern liberty: the liberty of the individual. The common project links H., the idealist philosopher, and Tocqueville, the liberal-republican, in unexpected but complementary ways.
De Vos, Lu: Teleologie oder Leben? Zu Hegels Mechanismus-Kritik – im Anschluß an Kant. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 110–122. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) In sechs Schritten baut Verf. seinen Text auf. Zunächst stellt er die Formen des Mechanismus dar. Zweitens beschäftigt er sich mit dem Mechanismus als objektive Bestimmung, wie sie H. in der Begriffslogik denkt. Drittes erwähnt er Kants Einfluß auf H.s Mechanismusbegriff. Im vierten Abschnitt über „Teleologie oder Leben?“ zeigt Verf., wie der Mechanismus in der Teleologie und dann im Leben aufgehoben und zugleich integriert wird. Dabei wird die innere Teleologie mit dem Leben identifiziert. „Am Leben als erste Spezifizität des inneren und objektiven Zwecks, der Idee, zeigt sich also erstmals definitiv die unzureichendheit (sic!) der notwendigen objektiven Momente, sodaß nur hier sich die hinreichende Kritik des Mechanismus zeigt, insofern das Leben an seinem eigenen Mechanismus sich vorführt.“ (118) Im fünften Schritt zeigt Verf. mechanische und teleologische Momente im Leben, um im sechsten Schritt eine realphilosophische Differenzierung der Begriffe Mechanismus, Teleologie und Leben vorzunehmen. In einer Schlußbemerkung fragt Verf., ob vor dem Hintergrund der H.schen Gedanken, die die Lösung des Mechanismus-Problems in der inneren Teleologie und somit im Leben sehe, nicht ein biologistisches Weltbild das mechanizistische ersetzen könne. Doch auch das Leben reiche nicht „als endgültiges Prädikat des erkennbaren Absoluten aus.“ (122) Hierzu sei allein die Vernunft oder die Idee fähig.
Wandschneider, Dieter: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Hegel, Heidegger, Adorno. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 123–137. Verf. begreift seinen Aufsatz über die Frage nach der Bewertung des Sinnlichen in der Kunst als einen Beitrag zu der Diskussion um H.s These vom Vergangenheitscharakter der Kunst. Motto seines Aufsatzes ist: Die These vom Ende der Kunst nach einem an H., Heidegger und Adorno geprüften Begriff der Kunst (das Verbindende dieser drei bestehe darin, in der ästhetischen Wirkung des Kunstwerks trete das Ideelle hervor) zu reformulieren und am Phänomen moderner Kunst erneut zu prüfen. Verf. stellt an die moderne Kunst die Frage, inwiefern berechtigt noch von Kunst i. S. eines werkhaften Prozesses der Vergeistigung am sinnlichen Material gesprochen
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werden könne, habe doch moderne Kunst im Unterschied zur vormodernen in eminenter Weise den „geistigen Gehalt der eigenen Autonomie“ zum Gegenstand. – Tatsächlich aber, so weist Verf. nach, bleibe moderne Kunst nicht nur stets an das Sinnliche gebunden, sondern stehe überdies vor der Herausforderung, sich an einem Material vergeistigen zu müssen, welches in noch potenzierter Weise das – im Adornoschen Sinne – „Nichtidentische“ des Geistes darstellt.
Wandschneider, Dieter: Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wissens. Eine Hegel’sche Perspektive. — In: Kellerwessel, Wulf/Cramm, Wolf-Jürgen/Krause, David/ Kupfer, Hans-Christoph (Hgg.): Diskurs und Reflexion. Wolfgang Kuhlmann zum 65. Geburtstag. Würzburg 2005. 353–372. H.s Wissenschaft der Logik erhebt den nicht geringen Anspruch absolutes, letztbegründbares Wissen zu sein. Dieses Projekt, wie es ambitiöser nicht gedacht werden kann, hat in unserem post-metaphysischen Zeitalter keine gute Presse. Indes: Daß es absolutes Wissen absolut nicht geben könne, kann nicht ohne Selbstwiderspruch behauptet werden. An der grundsätzlichen Endlichkeit des Wissens kann andererseits auch kein Zweifel bestehen. Kann absolutes Wissen aber endliches Wissen sein? Dies führt auf das Problem einer Selbstexplikation der Logik (im Sinn H.s) und weiter, wie gezeigt wird, auf eine Neubestimmung des dialektischen Verfahrens. – Dessen Stringenz ergibt sich daraus, daß genau derjenige implizite Gehalt expliziert wird, der durch den vorhergehenden Explikationsschritt selbst generiert wurde und dadurch konkret faßbar ist. Zugleich wird durch diesen Explikationsakt ein neuer impliziter Gehalt generiert, der einen neuen Explikationsschritt fordert usf. Im Sinn des so reinterpretierten dialektischen Verfahrens sind dialektische Argumente nicht erschaut, erahnt oder gar erschlichen, sondern methodisch ausweisbar. Dialektik ist dergestalt verstanden als Selbstexplikation der Logik mit logischen Mitteln und damit als Erweis der Möglichkeit von Letztbegründung in der Form absoluten und gleichwohl endlichen – und damit auch falliblen – Wissens.
Warnke, Camilla: Der Paradigmawechsel in der Biologie um 1800 und seine philosophische Reflexion durch Schelling und Hegel. — In: Wahsner, Renate (Hg.): Hegel und das mechanistische Weltbild. Vom Wissenschaftsprinzip Mechanismus zum Organismus als Vernunftbegriff. Frankfurt a. M. 2005. 94–109. (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 19) Die enge Verwandtschaft zwischen Schellings und H.s Naturphilosophie, die sogar wörtliche Übereinstimmungen betreffe, sei unübersehbar. H. verdanke Schelling in der Naturphilosophie wesentliche Innovationen.Von Kant und Fichte distanzierten sich beide auf Grund ihres Ausgangs von Spinoza. Natur werde als bewußtloses, sich selbst bewegendes Subjekt verstanden. Schelling spreche von Natur als Produktivität bzw. natura naturans. Auch bei H. trete an die Stelle des bloßen Seins, des Zustands das Tun, die Bewegung. Der Organismus wolle naturimmanent erklärt werden. An die Stelle einer linearen Kausalität setze Schelling eine zyklische. Der seit Mitte des 18. Jahrhunderts geläufige Begriff der Organisation biete eine Möglichkeit, die besondere Determinationsform des Organischen zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff der Organisation ziele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf ein funktionelles Verständnis des Organismus ab. Kant, Schelling und H. übernähmen diesen Begriff; Kant und Schelling sprächen auch von Selbstorganisation des Organischen. Für H. sei der Organismus zweckgerichtete Reproduktion; Sensibilität und Irritabilität seien lediglich Momente der Reproduktion. Der Organismus so als sich selbst erhaltendes Subjekt gedacht setze sich eine eigene Umwelt entgegen (vgl. J. von Uexkülls Umwelttheorie). Nach Auffassung der Verf.in sei Schellings spinozistische Wende durch den Perspektivenwechsel in der Biologie bewirkt worden, während dies bei H. nicht so offensichtlich sei. Zusammenfassend
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kann man festhalten, daß Schelling und H. die funktionalistische Wende in der Biologie ihrer Zeit philosophisch begleitet und bewältigt haben. Der Verf.in ist kein Fall bekannt, in dem eine so produktive Wechselwirkung zwischen Philosophie und Biologie stattgefunden hat.
Westphal, Kenneth R.: Hume, Hegel, and Abstract General Ideas. — In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Stone on Hegel’s “Philosophy of Nature”. Nottingham. 51/52 (2005), 28–56. H.s phenomenological method allows and requires him to justify his own positive views only by thorough internal critique of the views he opposes; H. calls this ‘determinate negation’ (§ 1). H.s transcendental-pragmatic epistemology is sharply opposed to empiricism. One key tenet of Modern empiricism is aconceptual ‘knowledge by acquaintance’ of particulars. This view is deeply embedded in Hume’s official ‘copy theory’ of sensory impressions and ideas. Both of these views are required by Hume’s account of abstract general ideas. Both of these views saw widespread revival in twentieth-century empiricism. Can these views be criticised on strictly internal grounds, as H. requires? This paper answers in the affirmative. More thoroughly than any other philosopher, Hume attempted to analyse our conceptual, propositionally-structured thought solely in terms of our ultimate awareness of nothing but objects, whether they be sensory impressions of their copies, ‘ideas’. In this context, Hume’s account of our ideas of space and time has long been regarded as anomalies in, if not exceptions to, his account of the generality of thought. I argue that these ideas are not anomalous, but rather are typical of Hume’s account of the generality of thought, an account that ultimately undermines Hume’s official empiricist account of the generality of thought, based on this copy theory. I reexamine Hume’s ‘idea of existence’ to identify some key equivocations between ‘ideas’ as objects and ‘ideas’ as concepts that are crucial to Hume’s attempt to account for the generality of thought.The main issue is clarified by placing it within its Modern context (§ 2).The key issues are then specified by considering Hume’s idea of existence (§ 3). The fundamental role played in Hume’s account by his equivocations are then developed in detail by examining Hume’s accounts of abstract ideas (§ 4), of distinctions of reason (§ 5), of the idea of equality (§ 6), and of the ideas of space and time (§ 7). On this basis I contend that Hume’s account of the generality of thought is fundamentally linguistically, and is rooted in judgmental discriminations of kinds and cannot be accounted for by appeal to impressions of sensation or reflection, nor their corresponding idea-objects. These conclusions are reinforced and extended by critical evaluation of Garrett’s analysis and defence of Hume’s account of abstract ideas (§ 8). Hume is thus not only the great Modern exponent of the copy theory of impressions and ideas, he is also its first and still one of its most profound critics (§ 9). To this considerable extend, not only are the most basic principles of Hume’s empiricism subject to internal critique, as H. requires, but Hume himself provides all the essentials of such a critique. These results serve to substantiate and highlight the philosophical significance of H.s critique of ‘Sense Certainty’ (§ 10).
Westphal, Kenneth R.: Hegel, epistemology, and hermeneutical philosophizing: Reply to John McCumber. — In: Continental Philosophy Review. New York, NY. 37 (2005), 4, 495–503. Verf. antwortet auf John McCumbers Rezension seines Buchs Hegel’s Epistemology: A philosophical Introduction to the Phenomenology of Spirit (= HE). McCumbers Rezension habe Ziel und Substanz seines Buches verfehlt. McCumbers Vorwurf lautet,Westphal habe keinen Textkommentar gegeben und bezeichne die Phänomenologie des Geistes als unphilosophisch. Westphal stellt demgegenüber sein Ziel mit diesem Buch dar, das keine allgemeine Einführung in die Phänomenologie des Geistes geben solle, sondern die epistemologischen Grundlagen der Phänomenologie herausarbeiten sollte.
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„‚Epistemological realism‘ as I define it includes a cognitive thesis, that we can know at least something about real things.“ (496) Außerdem verkenne McCumber die hermeneutische Tradition, der sich das Werk verpflichtet fühle (502).
Wetzel, Manfred: Das ästhetisch-tätige Subjekt, sein Gegenstand und das sinnliche Scheinen der Idee. – Reflexionen zu Kant und Hegel inclusive Notizen zu Heidegger, Schelling, Freud und Adorno. — In: Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 139–177. Verf. skizziert Grundbestimmungen einer durchzuführenden eigenen Ästhetik, indem er die Kantischen Bestimmungen des „freien Spiels der Erkenntniskräfte“ und der „ästhetischen Idee“ sowie die H.schen des „sinnlichen Scheinens der Idee“ und des Künstlers hinsichtlich eines ästhetischen „Grundverhältnisses“ analysiert, sie durch die Bestimmungen des Engagements und der Sublimation ergänzt, die er der modernen Kunst und den kunstphilosophischen Theorien Martin Heideggers, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, Sigmund Freuds und Theodor W. Adornos entnimmt, und erwartet, die H.sche These von einem Aufhören der (mindestens romantischen) Kunst durch eine Erweiterung der Begriffe des Klassischen und Romantischen und eine Verortung der modernen Kunst innerhalb einer Synthese beider korrigieren zu können.
Ziche, Paul: Wissenschaft der Natur und Philosophie des Schönen. Naturwissenschaftliches, Naturschönes und Geistiges in der Ästhetik von C. G. Carus, Schelling und Hegel. — In:Wandschneider, Dieter (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005. 179–195. Das Verhältnis von Naturphilosophie und Ästhetik ist, so Verf., durch Nähe einerseits (das Naturschöne, Natur als Gegenstand der Kunst, identische Kategorien) und Spannungsreichtum andererseits (Einheitsdrang vs. Notwendigkeit zur Differenzierung) gekennzeichnet. Dieser grundsätzlichen Ambivalenz und den aus ihr erwachsenden Schwierigkeiten geht Verf. exemplarisch anhand der Frage nach, „ob naturphilosophische Stufungen von Bedeutung sind, wenn eine idealistische oder romantische Ästhetik über die Eignung bestimmter Naturobjekte zur künstlerischen Darstellung nachdenkt“. Unter diesem Gesichtspunkt werden zunächst Carl Gustav Carus’ Ausführungen zur Landschaftsmalerei, dann Schellings Rede Über das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur (1807) und schließlich Passagen der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst H.s dargestellt. Resultat der Analyse ist, daß die Schwierigkeiten im Rekurs auf die Sonderstellung des Menschen in der Natur gelöst würden. Kontrastierend hierzu wird am Ende auf Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1904) eingegangen.
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Ottow, Raimund: Die Lehre von den Korporationen in der Rechtsphilosophie Hegels und ihre Fortschreibung durch Eduard Gans als Beitrag zur Frage der Zivilgesellschaft. — In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Wiesbaden. 87 (2001), 468–480. Starting from the assumption, that H.s legal philosophy is based on the need to articulate modern civil society as the realm of particularity on one hand, and the state as the concrete form of moral generality (‚allgemeine Sittlichkeit‘) on the other, the essay analyses how H. achieves this goal by the ‚corporations‘. Here ‚corporations‘ embrace particularity from below, and generality from above, and function as integrating links between civil society and the state. There are, however, certain ambiguities the way H. handles this issue; these problems have been pointed out in particular by H.s successor Eduard Gans, who created a more modern concept of ‚corporatism‘.
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Becchi, Paolo: Vergeltung und Prävention. Italienische Aufklärung und deutscher Idealismus (Kant – Hegel) im Vergleich. — In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Wiesbaden. 88 (2002). 549–568. Prevention and retribution are usually considered as two general approaches which contrast with one another. Those who support the retributive approach accuse the supporters of the other approach of justifying unjust punishments in the name of social usefulness; on the contrary, those who are in favour of the preventive approach accuse their opponents of being linked with an old fashioned conception; this conception would root in a way of thinking Right, which confuses it with Morals. Both of this criticisms have some basis; anyway, it is surely possible to find positive features in both approaches. In this paper we try to underline advantages and drawbacks of both ideas by taking two authors into consideration: Kant as a paradigm of a retributive conception, even as a late final achievement, and Filangieri as a paradigm of a preventive conception. We will also try to highlight the position of H., still often quoted together with Kant for his retributionism, in his attempt at building a synthesis of the two approaches. H. in fact offers the first example of a theory of punishment that overcomes the limits and one-sidedness of the two other theories in a wider vision of the problems involved. It is not sure that this synthesis solves the problem of justifying the right to punishment, but it should at least allow a limitation of punishing interventions, even in the sense hoped for by Alessandro Baratta, to whom this contribution is dedicated.
Bienenstock, Myriam: Hegel et Solger. — In: L’esthétique de K. W. F. Solger. Symbole, tragique et ironie. Sous la direction d’Anne Baillot. Tusson, Charente 2002. 99–120. In H.s Jenaer Fragmenten (1803) erweist sich das Interesse für den geschichtlichen Standpunkt als nicht in der Nachfolge, sondern vielmehr der Verabschiedung von der transzendentalen Position deutbar. Daher erklärt sich sowohl H.s Auseinandersetzung mit Schelling hinsichtlich der Problematik der Kunst und der Mythologie als auch H.s Kritik der Romantik (besonders Schlegels). Vor diesem Hintergrund solle auch H.s positive Stellungnahme zu Solger und dessen Begriff der Ironie verstanden werden. H.s Berliner Würdigung Solgers, etwa in der Anmerkung zum § 140 der Rechtsphilosophie oder in der Besprechung des Textes Über die wahre Bedeutung und Bestimmung der Philosophie, besonders in unserer Zeit (1828), heben besonders Solgers Fähigkeit, das Gegenwärtige und Wirkliche denkend wahrzunehmen, heraus.
Ferrini, Cinzia: La dialettica di etica e linguaggio in Hegel interprete dell’eroicità di Antigone. [Die Dialektik von Ethik und Sprache in Hegels Interpretation von Antigones Heldentum.] — In: Antichi e nuovi dialoghi di sapienti e di eroi. A cura di Linda M. Napolitano Valditara. Trieste 2002. 179–243. This paper takes issue with current appraisals of H.s aesthetic and phenomenological understanding of Sophocles’s Antigone, challenging some standard views, such as that she is taken as the “unwirkliche marklose Schatten” that represents female nature as such in ancient Greece, or that the rendering of v. 926 of the tragedy imposes an aprioristic, dogmatic reading on Antigone’s path towards her end, bending Sophocles’s intention to systematic needs.The main line of argument follows these steps: First, it surveys the main readings of H.s interpretation, pointing to the most debated, unresolved questions in contemporary scholarship and places H.s reading in its contem-
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poraneous context (W. v. Humboldt, Schiller, Hölderlin, Schelling). Second, it retraces in the Early Theological Writings the original features of H.s views on Greek society and on the relation between citizenship and public-private religion; it then places H.s treatment of the natural and pragmatic counterparts of consciousness’ ethical division (as feelings, experience, sense of universality) both in the whole context of the Phenomenology of Spirit and at the systematic level of Anthropology, paying special attention to the implications of self-awareness of running the risk of death. Third, against this background, it is argued that: 1. Antigone is able to challenge death solely on the grounds of an entirely subjective religion, which marks her ‘heroic’ difference in respect to “das Weibliche”; and 2. the controversy about her sense of guilt, being unaware of God’s actual punishment of the polis, and remaining convinced of embodying their justice, can also be read as the recognition, after being put to death, of having just equal, not exclusive, right in opposing Creon.
Kaehler, Klaus Erich: Hegel und die Dezentrierung des Subjekts. Versuch über das Resultat der spekulativen Selbstvollendung des Subjekts. — In: Günter Abel/Hans-Jürgen Engfer/Christoph Hubig (Hgg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser. Berlin/New York 2002. 323–336. Die Negativität, das Wesen des absoluten Subjekts, erweist sich im Resultat der absoluten Metaphysik H.s als nicht nur identische, durchgängig bei sich seiende Form aller Realität, sondern ebenso als unaufhebbares Außersichsein des Subjekts. Wird die hierin „freigelassene“ Realität, die dem Begriff auch nicht gemäß ist, nicht – wie dem spekulativen Wahrheitsanspruch zufolge – für „nichtig“ erklärt, sondern als unaufhebbare Konstitutionsbedingung des Subjekts anerkannt, so muß sich dessen Selbstverständnis und damit auch seine Konzeption als Prinzip transformieren: Es weiß sich nicht mehr als unerschütterliches Zentrum, zu dem alles „Wahre“ relativ ist, sondern findet sich unhintergehbar bezogen auf eine immer auch und immer wieder unverfügbare Äußerlichkeit und unantizipierbare Andersheit.
Kervégan, Jean-François: La teoria hegeliana della giustizia. [Hegels Theorie der Gerechtigkeit.] — In: Filosofia Politica. Bologna. XVI (2002), 1, 129–141. Die Abhandlung thematisiert ‚Gerechtigkeit‘ zunächst und hauptsächlich in ihrem Abschnitt über das Unrecht, wo sie die bloß faktische Rache als legitime Wiederherstellung des verletzten Rechts ablöse. In ihrer Wirklichkeit zeige solche Gerechtigkeit zudem eine aporetische Struktur: Die Rechtspflege betätige den Begriff der Gerechtigkeit und setze ihn als wirksamen, nicht aber in fixer, vollständig bestimmter, unwandelbarer oder ungeschichtlicher Form.
Posch, Thomas: Hegel’s Criticism of Newton’s Physics: A Reconsideration. — In: Proceedings of the Oxford Conference on “Hegel and British Thought”. St. Edmund’s Hall, Oxford (2002). (Conference Paper, EPrint) The persisting conception of H.s criticism of Newton’s physics as an irrational or at least hopelessly exaggerated one partly has its roots mainly in H.s terminology and in his style. This does not mean that a mere translation of H.s arguments into any contemporary philosophical language be sufficient to immediately convince every Newtonian scientist. However, a non-H.ian way of rephrasing the core of H.s anti-Newtonian philosophy of nature can help to understand to which extent the latter does satisfy any scientist’s criteria for a rational and self-consistent theory. To demonstrate this is the central aim of my talk, which is structured as follows: In the first part, I am trying to highlight basic features of H.s criticism of Newton’s optics and celestial mechanics, eventually focussing on his concept of a “sense of nature.” This part has the character of a review.
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Second – and that is supposed to be the “reconsideration” part of my paper – I will try to highlight the fundamental difference between Newton’s and H.s ideas of natural laws and of the relation between mathematics and physics. Third, the metaphysical background of this difference will be analyzed. It is by the analysis of this metaphysical background that I hope to render H.s criticism of Newton’s scientific revolution more understandable.
Westphal, Kenneth R.: L’ispirazione tragica della dialettica fenomenologica di Hegel. (Traduzione di Cinzia Ferrini) [Die tragische Inspiration der phänomenologischen Dialektik bei Hegel. (Übersetzung von Cinzia Ferrini)] — In: Antichi e nuovi dialoghi di sapienti e di eroi. A cura di Linda M. Napolitano Valditara. Trieste 2002. 151–177.
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nac h t r ä g e z u m b e r i c h t s z e i t rau m 2 0 0 3 Barot, Emmanuel: Le rasoir hégélien: déconstruire les forces suspectes de la mécanique newtonienne. – In: Figures de l’anti-newtonianisme. Faces of antinewtonianism. Actes du colloque international de Nanterre mai 2002. Archives Internationales d’Histoire des Sciences. Académie Internationale d’Histoire des Sciences. Paris. 150–151 (2003), 198–211. L’auteur analyse tout d’abord la critique h.ienne du concept newtonien de force, cette critique repose sur le fait que l’architecture théorique de la physique mathématique n’est pas fondée sur les liens qualitatifs que les phénomènes entretiennent les uns avec les autres, l’entendement atteignant ainsi les limites de sa rationalité. L’auteur interroge ensuite la conception h.ienne de la matière comprise à partir de la contradiction entre inertie et gravitation, il analyse la déduction conceptuelle des lois de la nature et montre comment la critique h.ienne du newtonianisme est une remise de la mathématisation à sa juste place.
Bellan, Alessandro: Alterità, logica, dialogo. Per una logica speculativa del riconoscimento. [Andersheit, Logik, Dialog. Zu einer spekulativen Logik der Anerkennung.] – In: Giornale di Metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 353–370. Durch eine Untersuchung der drei verschiedenen logisch-begrifflichen Ebenen, die über den H.ianischen Begriff der Andersheit hinausragen, zeigt der Beitrag, wie mit der H.schen Logik eine „spekulative Grammatik“, d. h. eine „Logik“ der Anerkennung möglich ist. Die H.sche Logik wird hier gefaßt als ein Andersheitsdenken, ein Denken, das die Andersheit nicht als „Unbestimmtes“ oder als unsagbare, unübersetzbare ontologische Fremdheit erfasse. Das Verhältnis zum Anderen sei bei H. nämlich nicht mehr als bloße „Grenze“ gedacht, sondern als Bedingung von Freiheit, als Bei-sich-selbst-Sein im Anderen. „Das“ und „der“ Andere sei also Bedingung für Identität, Einzelheit, Bestimmtheit und Bei-sich-selbst-Sein, und so sei die dialektische Logik eine Semantik der Andersheit, der eine Logik der Freiheit und des Dialogs entsprechen. Die Kontinuitätsverbindung zwischen Intersubjektivität, Anerkennung und Logik der Andersheit erfülle so eine nicht-äußerliche Grundlegung der Ethik und eine für die zeitgenössischen Sozialwissenschaften und die Theorie der Anerkennung neue Art, das Andere zu begreifen.
Berto, Francesco: Modus tollens: Kant, Hegel e la critica della nozione logica di sostanza. [Modus tollens: Kant, Hegel und the Kritik des logischen Begriffs der Substanz.] — In: Giornale di metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 287–304. I argue that an established notion of substance inherited by traditional metaphysics underlies the framework of most contemporary standard model-theoretic semantics. The notion is formally characterized as the concept of an object which is maximal with respect to all properties in each possible world. I show that it is possible to derive from Kant’s treatment of the issue of complete determinacy in the Transcendental Dialectic of the Critique of Pure Reason, as well as from H.s discussion of the category of Something in the Chapter on Determinate Being of the Science of Logic, a critique of the notion of substance so characterized, to the effect that, on pain of inconsistency, it ends up as unknowable to any finite mind. I finally show that the critique can be rephrased within a logical framework, by exploiting some metalogical results on the indeterminacy of reference due to Willard Van Orman Quine (1908–2000) and Hilary Putnam. A spin-off of the paper is therefore the vindication of the actuality of classical Idealism on these subjects.
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Bickmann, Claudia: Philosophie und Religion im Widerstreit. Etappen einer Problementfaltung im Horizont abendländischer Philosophie: Platon, Hegel, Derrida. — In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Wien. 4 (2003). (http:// them.polylog.org/4/fbc-de.htm) The aim of this essay is to draw attention to three different ways to interpret the relation between philosophy and religion within the horizon of Western thought development. Three major types will be distinguished: a) In concern of Platos Philosophy we ask: Is Religion regarded as the secret goal of our philosophical endeavour? b) Related to the H.ian philosophy the question is: Does philosophy absorb religion or does H. understand philosophy itself as an enlightened, advanced type of a philosophy of religion? c) As a third model we analyse the deconstructive method of Jacques Derrida. Even though Derrida rejects all philosophical claims to reach beyond the limits of our verbal expressions, we ask, does Derrida really abandon the grounding sphere of religion and belief? As for Plato our dianoetic approach may serve only heuristically as a means to approach to the grounding principle of being and thinking, but it must fail to define the highest principle in itself. H. tries to overcome these conceptual limitations by progressively incorporating the ‘idea of the absolute’ into the process itself. Derrida finally radicalises the idea of immanence without transcendence. But, as we argue, he does not abandon the horizon of the ‘noumenal sphere’. The idea of an ‘originated text’, ‘La Différance’, indicates a domain of transcendence, which may be addressed – only via negativity – by radical deconstructive thinking.
Bickmann, Claudia: Fundierungsprobleme in Platonismus und Idealismus. Absolutierung des Prinzips ‚Subjektivität‘ im Systementwurf Hegels? — In: Mojsisch, Burkhard / Summerell, Orrin F. (Hgg.): Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. München/Leipzig 2003. 195–211.
Bubner, Rüdiger: Rationalitätsformen im Namen der Subjektivität. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 29–41. A differentiation of types of rationality is a modern project. However, the principle of subjectivity does not automatically coincide with this project. The understanding of subjectivity amounts to one step, while the development of systematic achievements from this principle is quite a different matter. In this paper I discuss various solutions from Fichte’s Wissenschaftslehre to H.s Encyclopädie and twentieth century hermeneutics.
Cacciatore, Giuseppe: Storia, memoria, immagini tra Vico e Hegel. [Geschichte, Erinnerung und Bilder bei Vico und Hegel.] — In: Bollettino del Centro di Studi Vichiani. Napoli. 33 (2003), 199–208. Dieser Diskussionsbeitrag bietet eine Auseinandersetzung mit dem Buch von Stephan Otto und Vincenzo Vitiello, Vico – Hegel. La memoria e il sacro, Napoli 2001. Der Verfasser betont, wie diese Studie weniger einer der vielzähligen Versuche eines sterilen Vergleichs zwischen Vico und H. zuzurechnen ist, sondern vielmehr eine originelle Perspektive zu eröffnen versteht, in welcher beide Denker zum Ausgangspunkt einer relativ eigenständigen Betrachtung von Themen einer Philosophie der Erinnerung und der Imagination werden.
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Di Carlo, Leonardo: Il concetto hegeliano di tempo. [Hegels Begriff der Zeit.] — In: Iride. Filosofia e discussione pubblica. Firenze. XVIII (2003), 1, 107–116. Verf. betont, H.s Zeitbegriff unterliege keinerlei Entwicklung. Di Carlo zeigt, die spekulative Bedeutung der Zeit erreiche begriffliches Niveau, insofern sie die Darstellung des Begriffs ausmache. H. denke die Zeit nicht lediglich auf das einzelne Bewußtsein bezogen: Sie sei so objektiv und wirklich wie der Begriff.
Dudley, Will: Impure Reason: Hegel and the Irrationality of the Rational. — In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Chicago, Ill. 35 (2003), 1–2, 25–48. The primary aim of this paper is to investigate what H. means by “reason” and “rationality.” The paper identifies and interprets some of H.s most significant claims concerning the content of these terms, paying particular attention to his claims regarding the relation of the rational and the irrational. The resulting understanding of H.s account of reason is then used to develop an improved interpretation of H.s assertion of the equivalence of the rational and the actual.
Fulda, Hans Friedrich: Vernunft diesseits von Zwecken und Mitteln. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 43–56. According to a widespread conception, reason is to be understood as rationality, and, in the first instance, in terms of a specific relation in rationality of means to ends. One tempting way to try to correct this conception is to pin down our irritatingly vague everyday notion of reason in terms of the ancient concept of prudence and to leave it at that. It will be argued against this proposal that a) both conceptions of reason involve preconceptions that can be done justice only by a more abstract concept of reason; b) the characteristics of this concept of reason are to be found in what distinguishes reason in a formal sense, prior to ends and means; and from these characteristics a concept can be obtained that, from a Kantian and H.ian perspective is of reason in a material sense. This concept founds the “instrumental” as well as the “prudential” understanding of reason and is general enough to contain under it everything that is objective in that broadest sense that we are inclined to recognize as reason.
De Giovanni, Biagio: Hegel e Nietzsche: Europa e nihilismo. [Hegel und Nietzsche: Europa und der Nihilismus.] — In: Filosofia Politica. Bologna. XVII (2003), 1, 39–60. The author reconstructs the connection between Europe and nihilism which, in his view, closely associates H.s and Nietzsche’s reflection on Europe. H.s view of Europe as a form of spiritual life and Nietzsche’s view of Europe as decadence appear to be two forms of the same concept of Europe: the first one builds its power on self-representation, while the second stresses the difference between Europe and Asia. While for H. Europe is a manifestation of liberty, for Nietzsche Europe is the land of nihilism. Within this concept of Europe H. and Nietzsche show the unsurmountable interweaving of Europe as a geographical site and Europe as a destiny.
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Horstmann, Rolf-Peter: Hegel über Unendlichkeit, Substanz, Subjekt. Eine Fallstudie zur Rolle der Logik in Hegels System. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 183–200. Contrary to tendencies in recent Anglophone assessments of H.s philosophy, the discipline H. calls “logic” is of decisive importance to his idea of justification in philosophy. This is so because H. thinks of justification in terms of demonstrating the necessity of something or other. This is true of conceptual entities as well. According to H. philosophy is about what really is. This seems to imply for him that we have to develop a conceptual framework that provides us with the categories which constitute what really is. This conceptual apparatus is exhibited as the Science of Logic. H. claims that the categorial framework which governs our conception of reality is such that the more complex categories are necessitated by the less complex ones. This claim and the concept of necessity involved in it are the main subject of this article. Because H. takes “subjectivity” to be the most complex category, and because he thinks of the concepts of “substance” and “infinity” as essential conceptual ingredients of “subjectivity,” I try to explain how these three concepts hang together and what it could mean to characterize them as necessary. The result is that, in order to ground his idea of justification, H. is committed to categories that are necessary in his sense. Thus his Science of Logic is an indispensable element of his system.
Mertens, Thomas: Hegel and the End of Europe. — In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Wiesbaden. 89 (2003). 38–52. The issue of Europe’s identity often arises in discussions on the nature and future of the European Union. This paper presents H.s conception of Europe and in the mirror of this philosophy, it is suggested, Europe’s early 19th century understanding of its place in the world. When discussing H., particular attention will be given to the final section of the Philosophy of Right, the often, but unjustly, neglected concluding paragraphs concerning “World History.” Having outlined the structure of the rational state earlier in his work H., in this section, emphasises the significance of this state’s development. In order to understand this fully, I consider it necessary to examine the way H. contrasts Europe and the other continents, in his Lectures on the Philosophy of History. I will pay particular attention to the chapter on the “Geographical Basis of World History.” The result is a rather clear image of Europe’s superiority. Since Europe derives its identity here by emphasising its superiority over other continents and non-Europeans, H.s idea of Europe as the ‘absolute West’ can no longer be upheld.
Michelini, Francesca: Hegel „spinozista conseguente“? [Hegel, ein „konsequenter Spinozist”?] — In: Giornale di Metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 1, 271–286. Verf.in weist darauf hin, H.s Auseinandersetzung mit Spinozas Substanzbegriff sei als eines der wichtigsten spekulativen Probleme in der Wissenschaft der Logik zu betrachten. Trotz des Unterschieds der Substanzbegriffe H.s und Spinozas betont Verf.in, das Endliche in H.s Logik sei von grundlegender Konsistenz. Ausgehend von diesem Bedeutungsunterschied des Endlichen dürfe die logische Entwicklung so gedeutet werden, daß in der Identität von Substanz und Subjekt eine Kritik an Spinoza formuliert werde.
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Morani, Roberto: „Hegel encore, toujours …“. Soggettività e follia tra Foucault e Hegel. [… Subjektivität und Wahnsinn bei Foucault und Hegel.] — In: Giornale di Metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 2, 305–329. Verf. thematisiert Jacques Derridas Bemerkung, Michel Foucault sei in seinen Forschungen über den ursprünglichen Logos einer Einsicht H.s gefolgt. Derrida spreche über den Vergleich zwischen H. und Foucault, weil es – wie auch Foucault behaupte – möglich sei, Vernunft und Wahnsinn, Gesundheit und Geisteskrankheit auch in H.s Philosophie als Teile einer ursprünglichen Einheit zu begreifen. Diese Einheit stelle jedoch die Überwindung der Gegensätze dar.
Neuhouser, Frederick: Rousseau on the Relation between Reason and Self-Love (Amour propre). — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 221–239. Eine der berühmtesten Thesen H.s ist es, daß das Streben nach Anerkennung eine entscheidende Rolle in der Bildung menschlicher Wesen zu vernünftigen Subjekten spiele. Der vorliegende Beitrag untersucht einen wesentlichen Teil des philosophischen Hintergrundes dieser These. Er zeigt, daß Rousseaus Verständnis der Bedeutung der Selbstliebe (amour propre) H.s Auffassung vorwegnimmt, daß amour propre – trotz der Gefahren, die mit ihr für das menschliche Wohlergehen verbunden sind – eine unverzichtbare Rolle für die Bildung vernünftiger Subjekte spielt. Genauer gesagt, amour propre bringt Individuen dazu, in intersubjektive Beziehungen einzutreten, die unabhängig von ihrem Wollen und Wissen diejenigen kognitiven und affektiven Fähigkeiten entstehen lassen, die für die Ausübung der Vernunft notwendig sind. Der Beitrag beginnt mit einer begrifflichen Bestimmung von amour propre und unterscheidet sie von einer anderen Form der Selbstliebe, die Rousseau amour de soi nennt. Daran anschließend wird Rousseaus Begriff des Standpunktes der Vernunft rekonstruiert – die überlegte Haltung des Bürgers, der danach strebt, Gesetze in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen zu machen. Der letzte Teil schließlich zeigt, wie amour propre in menschlichen Subjekten Vernunft entstehen läßt, indem sie ihnen erlaubt, den gleichen Wert aller menschlichen Wesen zu begreifen und durch ihn zum Handeln motiviert zu werden, ferner sich selbst aus der Perspektive anderer zu sehen und zu bewerten; und schließlich die Meinungen anderer – und insbesondere den Konsensus einer demokratischen Gesellschaft – als Quelle von Normen für die eigenen Handlungen zu verstehen.
Nicolaci, Giuseppe: Soggettività e finitezza dell’essere fra Heidegger e Hegel. [Subjektivität und Endlichkeit des Seins bei Heidegger und Hegel.] — In: Giornale di Metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 2, 331–352. Verf. untersucht Martin Heideggers Vorlesung über H.s Phänomenologie des Geistes aus dem Wintersemester 1930/31. Ein Vergleich der Endlichkeit des „Daseins“ (Heidegger) mit der Idealität des Endlichen bei H. ergebe die Möglichkeit einer Analyse der grundsätzlichen Frage nach den „Sinn von Sein“. Verf. behauptet, die beiden genannten Philosopheme seien in einer endlichen Transzendenz fusionierbar.
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van Ooyen, Robert Christian: Staatliche, quasi-staatliche und nichtstaatliche Verfolgung? Hegels und Hobbes’ Begriff des Politischen in den Asyl-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. — In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Wiesbaden. 89 (2003), 387–398. The German federal constitutional court as ever defines the constitutional right of asylum for political refugees only in the case of political persecution by the authority of the state. That means not only an – unrealistic – interpretation against the wording of Art. 16a Grundgesetz. It is above all a typical point of view in the tradition of German constitutional theory, which has been formed by the political theory of H. and Hobbes. Their divinization of the sovereign political power as a form of “politische Theologie” is therefore still to be found even in the liberal constitutional theory – starting from Georg Jellinek’s Staatslehre in the beginning of the 20th century until the constitutional court’s recent judgements. This etatism is an antipluralistic understanding of society. It lets the problem of political power disappear by declaring it as “private.” As long as this theoretical concept continues, there will be neither political asylum for refugees who are “only” persecuted by warlords in civil wars nor for women who are politically suppressed because of their sex.
Pinkard,Terry: Subjects, Objects, and Normativity.What Is It Like To Be an Agent? — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 201–219. Eine zentrale These in Kants praktischer Philosophie ist es, daß ein handelndes Subjekt nur den Gesetzen unterworfen sein kann, als deren Urheber es sich selbst betrachten kann. Das bedeutet, daß das Subjekt sowohl durch Gesetze bestimmt wird, die es sich selbst gibt, wie auch durch solche, die es sich selbst nicht gibt. Das Paradox, das sich aus dieser These ergibt, hält H.s Theorie in Bewegung. Während Kant das handelnde Subjekt in einen Teil, der Urheber des Gesetzes ist, und in einen anderen Teil, der den Gesetzen unterworfen ist, trennt, spaltet H. diese Doppelung in einen Prozeß auf, der sich zwischen zwei Akteuren entfaltet. In ihm herrscht zunächst eine Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die jedoch durch eine gesellschaftliche Formation zur Versöhnung gebracht wird, in der jedes Subjekt den Gesetzen unterworfen ist, die durch andere gegeben werden, in der es aber zugleich Urheber von Gesetzen ist, denen die anderen unterworfen sind. Damit weitet H. Kants Gedanken zu einer These über normative Urheberschaft im allgemeinen aus. Auf diese Weise gelangt H. zu der Konzeption, daß wir zu solchen Akteuren in einem Sozialisierungsprozeß werden und daß die basale Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ihrerseits weder eine subjektive noch eine objektive Unterscheidung ist, sondern sich vielmehr in der Praxis des Gebens und des Einklagens von Gründen ausbildet.
Schönecker, Dieter: Kein Sein, keine Unmittelbarkeit. Hegel über die Vernunft der sinnlichen Gewißheit. — In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Berlin. 1 (2003), 241–269. I analyze the first dialectical movement of “self certainty” in H.s Phenomenology of Spirit (95–96). The main results are: 1. Sense certainty (SG) maintains that its object is absolutely individual (the nominalist thesis of being and individuality). H. refutes this thesis for all three variants of SG. 2. In the reconstruction of the testing of relevant truth claims, three different meanings of ‘now’ are to be distinguished: (i) nowI = ‘now’ as an indexical expression; (ii) nowS = ‘now’ in a categorial use: the ‘now itself ’; (iii) nowD = ‘now’ in an individuating use, as in ‘now is the night’. Assertion (1), ‘now is the night’, is to be translated as ‘the sensibly present, absolutely individual being in time is night’ (1*); assertion (4), ‘now is noon’, as ‘the sensibly present, absolutey individual being in time is
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noon’ (4*). In (1*) and (4*), SG1 identifies nowD as night and also as noon; since these are identity statements, this yields a contradiction. Here H. is using, without justification, a concept of being according to which whatever is (a being) is constant. 3. H. is not concerned primarily with proving that there is no immediate (merely sensory, nonconceptual) knowledge. Instead, in SG1 the issue is the immediacy (individuality) of the object itself.
Testa, Italo: Ragione e relazione. La Fenomenologia di Hegel come tropologia. [Vernunft und Verhältnis. Hegels Phänomenologie als Tropologie.] — In: Giornale di Metafisica. Genova. Nuova Serie XXV (2003), 1, 371–392. This paper investigates some aspects connecting theory of knowledge, theory of self-consciousness and theory of rationality in the Phenomenology of Spirit. According to this reading the phenomenological method is a kind of sceptical tropology: thus ancient scepticism plays a meta-categorial role and its tropes bring into light the formal structure of the negative dialectics which is the core of the phenomenological movement. H. takes into account not only the form of ancient scepticism but also the metaphysical content of this form, whose ‘truth’ is contained in the trope of relation. Relation is thus the sceptical structure that H. uses to criticise the foundational and solipsistic presuppositions of modern theory of knowledge – leading to modern scepticism about external world and other minds – and that makes it possible to articulate a relational and intersubjective conception of self-consciousness and of rationality. The theory of Anerkennung, i. e. the recognition of the relational character of self-consciousness, is a particular token of the general type of the logical recognition of the relational character of every determination. Thus H.s theory of rationality, assuming that reason is the truth of self-consciousness, understands reason as relation. H.s phenomenological method implies a criticism of the epistemological foundationalism based on the Cartesian subject and on the myth of the given but does not imply the anti-foundational, post-modern view that rejects the task of rational self-justification for philosophical enterprise. H.s philosophy should be rather understood as a middle term between foundationalism and antifoundationalism, a “third philosophy”, as H. says, that assumes a new metaphilosophical model of justification as reflexive equilibrium of a holistic system.