Hermann-Hesse-Jahrbuch: Band 3 [2006] 9783484605480


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German Pages 215 [194] Year 2008

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Hermann-Hesse-Jahrbuch: Band 3 [2006]
 9783484605480

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I

VII

Mythos / Musik

Mauro Ponzi Der Jugendmythos bei Hermann Hesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Fabrizio Cambi «Das Typische ist schon das Mythische». Ethik und Humanismus in Joseph und seine Brüder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß Die «Wiedergabe des schönen Bildes». Der Briefwechsel 1935–1952 zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Margarete und Edi Kallista

27

Christoph Gellner Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Gabriele Guerra Byzanz liegt in der Schweiz. Hugo Balls Byzantinisches Christentum als theologisch-politische Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Friedhelm Brusniak «Wege zu Mozart» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Siglind Bruhn «Sie entsteht aus dem Maß und wurzelt in dem großen Einen»: Musik als Inhalt, Form und Metapher in Hesses Kastalischer Utopie . . . . . . . . .

95

Elio Matassi Hesse und die «Neupythagoreische Musiklehre» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Panagiota Theodorou «Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen» (Friedrich Nietzsche). ‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

II Besprechungen Michael Limberg, Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung. (Christine Mondon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Inhalt VI

Dirk Jürgens, Die Krise der bürgerlichen Subjektivität im Roman der dreißiger und vierziger Jahre – dargestellt am Beispiel von Hermann Hesses Glasperlenspiel. (Rasmus Frederich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Hermann Hesse, «Liebes Herz», Briefwechsel mit seiner zweiten Frau Ruth. (Elke Minkus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Ingeborg Bachmann – Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft. (Annedoris Baumann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

Elio Matassi, Der Blick der Eurydike. (Mario De Caro; dt.Karin Ertl) . . . . . . . .

164

III Mitteilungen Auf Hesses Spuren in Umbrien und der Toskana. (Flavia Arzeni) . . . . . . . . . . . . . . .

173

Daoistische Philosophie und Hermann Hesses Schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Hermann Hesse – Humanist und Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Entdeckung der Wurzeln Hermann Hesses im Baltikum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Polaritätsstrukturen im Werk Hermann Hesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

Institutionelles Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft: Das Hermann-Hesse-Kolleg in Horb am Neckar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

Beziehungen zur Hermann-Hesse-Gesellschaft Nepal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

Neues institutionelles Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft: Hermann-Hesse-Stiftung in Szeged/Ungarn gegründet . . . . . . . . . . . . . . 181 Veröffentlichung eines Mitglieds aus Usbekistan: «Steppenwolf» auf Usbekisch von Mirzali Akbarov . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV Hesse-Bibliographie 2005

182

zusammengestellt von Michael Limberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Siglen-Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Die Autoren dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

Vorwort Hermann Hesses Werke bestehen aus einer Konstellation von Mythen (der Orient, die ewige Jugend, das Wanderleben, der Künstler, usw.) und sie sind – wie bekannt – selbst zum Mythos für die jungen amerikanischen Generationen geworden. Dieser Band ist einigen dieser Mythen aus Hesses Werk gewidmet, jedoch nicht ausschließlich, denn es sollte daran erinnert werden, daß es unsere Absicht ist, Hermann Hesses Werk im Zusammenhang mit seiner Zeit zu betrachten, um dadurch den Wert seiner künstlerischen Produktion im Kontext der Kultur seiner Epoche hervorzuheben. Einer dieser künstlerischen Aspekte, die von Hesse zum Mythos erhoben wurden, ist die Musik. Der vorliegende Band ist daher hauptsächlich der Musik und ihrer symbolischen Bedeutung in Hesses Werk gewidmet, insbsondere auch der Figur Mozarts – dessen Jubiläum in diesem Jahr gefeiert wird –, eine Figur, die von Hesse mehrmals mythologisiert wurde. Wir veröffentlichen unter anderem auch den Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Margarete und Edi Kallista. Diese Briefe wurden im Nachlaß Kallista 2004 in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin von Toni Bernhart, Hanka Loos und Birgit Reiß entdeckt. «Von Interesse ist die Korrespondenz auch hinsichtlich der Medienwahl: Es sind nicht einfach nur Karten und Briefe, die man sich gegenseitig schickt, sondern auch Fotos, Texte (gedruckt oder getippt, eigene und auch fremde), Sonderdrucke und Dokumentationen des künstlerischen Schaffens und der autobiografischen Erlebniswelt» – soweit Toni Bernhart. Absicht der Jahrbuch-Redaktion ist, die Hesse-Forschung zu fördern und die Rezeption dieses Autors zu verbreiten und zu vertiefen. So haben wir sein Werk aus einer interdisziplinären Perspektive betrachtet. Malerei und Musik sind Bestandteile seiner wirkenden Kunst. Und in dieser «Multimedialität» steht das Interesse des hier veröffentlichten Briefwechsels sowie der Raum, den wir der Musik in diesem Heft widmen.

Mauro Ponzi

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse Hermann Hesses Werk geht eine exzentrische Bahn, die Überraschungen, Paradoxe, Wandlungen enthält, welche manchmal die Literaturwissenschaftler, aber fast nie die Leser verwirren. Wenn man den Kern, die starke Mitteilung seiner Werke – abgesehen von der Fabel und von den Einflüssen der europäischen und nicht-europäischen Kulturen – herausschälen will, dann findet man ein positives, fast metaphysisches Signal, ein festes Vertrauen auf die schöpferische Kraft des Lebens, welche sich in jedem einzelnen Individuum offenbart. Wenn es stimmt, daß die jungen amerikanischen Hesse-Leser den eigentlichen Sinn seines Werks mißverstanden haben, weil sie es aus dem kulturellen Kontext, in dem es entstand, herausgelöst haben1, stimmt es ebenso, daß sie den Kern seiner literarischen Produktion recht gut verstanden haben: nämlich den Glaube an die Möglichkeit eines Individuums, Horizont und Ziel seiner eigenen Existenz in jedem Moment seines Lebens neu zu setzen. Hesses Erzählungen und Romane sind Geschichten einer Selbstbefreiung, sie stellen die Fähigkeit des Menschen dar, sich selbst total erneuern zu können. Dennoch führt dieser selbstbefreiende Weg zu einem überraschenden Ende: er geht durch Transgression und Rebellion, er führt aber zur Versöhnung mit der kosmischen Ordnung. Er lehnt die traditionelle Auffassung der Bildung ab, aber er erweist sich im Grunde als ein Bildungsgang, der Hesses Werken einen pädagogischendidaskalischen Charakter verleiht. Auch das berühmte Motiv des Orients kann auf die Sehnsucht nach Kindheit, auf die Figur seines Großvaters und auf die MalajamLieder, die seine Mutter für ihn sang, zurückgeführt werden. Im Mittelpunkt seiner Reise nach Indien (1913) steht der Singapore-Traum, in dem Hesse die Figur seines Vaters sieht: Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. Sein Gesicht war mir bekannt, ohne daß ich seinen Namen wußte. Er bewegte sich, stützte die Ellbogen auf, nahm eine goldene Brille ohne Ränder von den Augen und begann sie mit einem weichen, flanellenen Tüchlein sorgfältig zu reinigen. Da erkannte ich ihn; es war mein Vater. «Wohin fahren wir?» fragte ich schläfrig. Er putzte, ohne aufzublicken, an seiner Brille weiter und sagte ruhig: «Wir fahren nach Asien». Wir redeten Malaiisch, mit Englisch vermischt, und dieses Englisch erinnerte mich daran, daß meine Kindheit lang vorüber sei, denn damals besprachen meine Eltern ihre Geheimnisse alle englisch, und ich verstand nichts davon. 1

Vgl. R. Koester, Hermann Hesse, Stuttgart 1975; Hermann Hesses weltweite Wirkung. Internationale Rezeptionsgeschichte, hrsg. von M. Pfeifer, Frankfurt a.M. 1977; R. Freedman, HesseWelle und akademische Skepsis in den USA 1960–1980. Ein Stück Rezeptionsgeschichte, in «Hermann-Hesse-Jahrbuch», 1 (2004), S. 133–145.

Mauro Ponzi 2 «Wir fahren nach Asien» wiederholte mein Vater, und plötzlich wußte ich alles wieder. Jawohl, wir fuhren nach Asien, und Asien war nicht ein Weltteil, sondern ein ganz bestimmter, doch geheimnisvoller Ort, irgendwo zwischen Indien und China. Von dort waren die Völker und ihre Lehren und Religionen ausgegangen, dort waren die Wurzeln alles Menschenwesens und die dunkle Quelle alles Lebens, dort standen die Bilder der Götter und die Tafeln der Gesetze. Oh, wie hatte ich das nur einen Augenblick vergessen können! Ich war ja schon so lange Zeit unterwegs nach jenem Asien, ich und viele Männer und Frauen, Freunde und Fremde2.

In dieser entscheidenden Stelle kann man eine Art poetischer Erklärung lesen, da hier deutlicher als anderswo geäußert wird, was Hesse mit dem Begriff ‹Asien› meint. Hier bekennt der Autor den Ursprung seines Orient-Motivs, der aus seiner Familie herstammte. Das europäische, romantische und pietistische Kennzeichen wird dadurch doppelt explizit, nicht nur weil in der Stelle die Vatersfigur auftaucht, sondern vielmehr, weil sie in einem typisch romantischen Topos – nämlich im Traum – erscheint, und weil der Dialog zwischen Vater und Sohn auf einen entscheidenden und sehr berühmten Topos der deutschen Romantik hinweist: In Heinrich von Ofterdingen – dem Roman, in dem das Symbol der blauen Blume erscheint, das als solche die Poetik der deutschen Romantik zusammenfaßt – stellt die Hauptperson an Klingsor die schicksalhafte Frage: «Wo gehen wir hin?»; und die poetisch entscheidende Antwort lautet: «Immer nach Hause». Jede Reise – sei sie exotisch und magisch wie man will – ist immer eine ‹falsche Bewegung›, eine Reise nach Innen, in die Tiefe der menschlichen Seele, in die Höhle der individuellen Psyche. In dem Moment aber, in dem Hesse den Ursprung seines Orientmotivs enthüllt, erklärt er auch dessen Nebenbedeutungen: es handelt sich hier um die britischen Indien aus der Sicht eines Missionars. Die obsessive Geste des Vaters, der an seiner Brille weiter putzt, entspricht dem Gedächtnis des Sohnes, seiner Suche nach der verlorenen Zeit, sie ist aber gleichzeitig das unfreiwillige – in diesem Fall muß man tatsächlich nach Freud ‹unbewußte› sagen – Auftauchen des westlichen und pietistischen Filters, mit dem Hesse die östliche Welt betrachtet. Johannes Hesse veröffentlichte 1913 die Biographie eines Missionärs mit dem Titel Henry Martyn, ein Mann Gottes, und 1914 ein Buch mit dem Titel Lao-tse, ein vorchristlicher Wahrheitszeuge. Der Orient war damals für Hermann Hesse ein literarisches Motiv, um aus seiner persönlichen Krise herauszukommen, um die Vergangenheit zu bewältigen. Seine Reise nach Indien war eigentlich eine Reise in die Vergangenheit, eine Suche nach den Orten, von denen er in seiner Kindheit viele Erzählungen gehört hatte, eine Suche nach der Welt, in der sein Vater gelebt hatte und in der seine Mutter geboren worden war. Hesses Indien hat nichts exotisches, es ist vielmehr die Suche nach einer unwiderruflich verlorenen, aber immer wieder mythisierten Zeit. Asien ist also ein mythischer Ort «zwischen Indien und China», wie er in seinem Singapore-Traum schreibt, ein literarischer Ort, eine «Landschaft der Seele», die er als 2

GW, 6, S. 243.

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse

solche schon 1911 (oder besser gesagt 1913 als der Reisebericht erschien) schildert. Ein Topos, dem er bis zum Ende treu blieb und der ein Bezugspunkt in seinem Buch Morgendlandfahrt (1932) wird: ein Buch der Visionen, in dem der Autor eine phantastische Reise nach Orient zusammen mit den Hauptpersonen seiner eigenen Romane, zusammen mit den «Unsterblichen», mit denjenigen, die «das Lächeln der Einheit» hatten, unternimmt. Dieser Zustand war eigentlich die Eigenschaft seiner Mutter und seines Großvaters, die sowohl die Vielfältigkeit des Lebens und der Welt als auch die Gleichwertigkeit der unzähligen Wege zur Wahrheit begriffen hatten. Die Tatsache, daß Hermann Hesse schon 1911 den Orient als Topos, um den ein mit der Romantik verbundenes Motiv literarisch entwickeln zu können, feststellte, ist entscheidend, weil sie verständlich macht, wie er dieses Motiv mit seinen «Erwachen» in der Zeit des ersten Weltkrieges – eben im lateinischen Sinn der contaminatio – verflochten hat. Das Orientmotiv wäre – trotz seiner Suggestionen – nicht so fruchtbar gewesen, wenn es nicht mit anderen verflochten worden wäre wie dem Pazifismus, dem Antinationalismus, der Psychoanalyse und dem Nietzscheanischen Nihilismus, wodurch der erzählerische Ton seines Werks überhaupt seinen Rang erhalten hat und der Autor zu einem Fall der Weltliteratur geworden ist. Vielleicht besteht der ‹Fehler› (wenn man so sagen darf) der amerikanischen Rezeption darin, daß sie Hesses Erzählwerk beim Wort nahm, daß sie den Orient, Asien, Indien als geographischen Ort und nicht als Landschaft der Seele verstanden hat, oder aber daß sie diesen inneren Ort mit einem Ort der psychedelischen Visionen verwechselt hat. Hesses literarisches Verfahren ist viel komplexer. Wenn es stimmt, daß – wie der Autor selber schreibt –, das ‹indische› Element aus seiner Kindheit stammt, so ist es leicht, es in seinen Werken vor 1919 aufzuspüren, wenngleich es dort eine andere Funktion hatte. Der Autor selbst spricht nämlich mehrfach in seinen autobiographischen Aufzeichnungen und in seinen Briefen von einer «Wende», von einem «Erwachen» – oder, besser gesagt, von einer Reihe von Erwachungen, die sich zwischen 1914 und 1917 ereigneten. Diese Wendungen spielten nicht nur biographisch sondern auch literarisch eine entscheidende Rolle. Kein Zweifel, daß die Werke, die diesen Autor weltberühmt gemacht haben – mit der einzigen Ausnahme von Unterm Rad (1906) – nach 1918 entstanden: so daß man in seiner literarischen Produktion von einem Qualitätssprung, von einer Anhebung des erzählerischen Tons sprechen kann, die von jenem Erwachen verursacht worden ist. Das Orientmotiv in Hesses Erzählwerk wurde von der Literaturwissenschaft ganz genau analysiert und erforscht. Vridhagiri Ganeshan behauptet in seinem 1977 veröffentlichten Aufsatz, Hermann Hesse und Indien – ein Kapitel der Mißverständnisse, daß «die Hippies, die die frustrierte junge Generation der Wohlstandsländer verkörpern, weder Hesse noch Indien richtig verstanden haben»3. Indem er betont, daß der 3

V. Ganeshan, Hermann Hesse und Indien – ein Kapitel der Mißverständnisse, in «Text und Kritik», 10/11 (1977), S. 76.

3

Mauro Ponzi 4

literarische Topos bei Hesse sich als Alternative der technologischen Gesellschaft und ihrer Rationalität zu dem damaligen herrschenden Nationalismus stellte, und daß er eine Funktion der Wiederentdeckung des Individuums als Mittelpunkt jeder Spiritualität, jeder Aktion und jedes Wertes ist, behauptet Ganeshan, daß Hesses Indien weder mit dem Indien von Buddha noch mit dem real existierenden Indien verwechselt werden darf. Er ist auch der Meinung, daß Hesse in Siddhartha sich näher dem Hinduismus als dem Buddhismus erweist. Adrian Hsia bemüht sich dagegen zu beweisen, daß die Philosophie des Lao-Tse und Hesses religiöse Prinzipien übereinstimmen und er führt seine Weltanschauung zum Taoismus, den er als chinesische Version des Buddhismus betrachtet, zurück4. Hesses tiefe Verbindung zum Fernosten wurde in der Rezeption von dem außerordentlichen Erfolg von Siddhartha unterstrichen, dessen Geschichte die Jugendlichen aus Amerika – aber auch aus anderen Ländern –, jene von der Wohlstandsgesellschaft «frustrierte» und gelangweilte Jugend, wovon Ganeshan spricht – als ein Manifest des Buddhismus und als Aufforderung, nach Indien zu reisen, gelesen haben. Der Roman ist tatsächlich voll von klug dosierten Suggestionen, die der ‹einfachen› Geschichte Zugang für eine mystische und visionäre Sinngebung verleihen. Siddhartha ist übrigens einer der Namen Buddhas, er heiß «derjenige, der sein Ziel erreicht hat», Buddha selbst erscheint als Person in einer Stelle des Romans, und die Stufen des Lebenslaufs der Hauptperson folgen den Grundstufen der Biographie des ‚Erhabenen‘. Dennoch stellen alle diese Andeutungen und Anklänge nur die äußere Seite der Beziehung Hesses zum Buddhismus. Die Ursache des außerordentlichen Erfolgs der «indischen Dichtung» muß man in anderen strukturellen Elementen suchen, die auf eine ‚westliche‘ Fragestellung hinweisen und ihre Wurzel in der Ablehnung des Bildungskonzepts der wilhelminischen Zeit findet. Im Mittelpunkt aller Romane Hermann Hesses steht die Bildung eines Individuums, fast alle stellen als Hauptperson einen Jüngling dar, der jene ‹Schattenschwelle› zwischen Adoleszenz und Reife überschreiten muß. Und diese Überschreitung verändert das Subjekt – nach dem üblichen Paradigma des Bildungsromans –, sie bewirkt ein Erwachen, sie eröffnet ihm eine neue Welt, sie verursacht eine Wiedergeburt; das Subjekt wird dadurch «derjenige, der sein Ziel erreicht hat», d.h. der jene Harmonie mit der Welt erreicht hat, die ihm den Zugang zu dem Kreis der «Erlesenen» öffnet, die ihm ermöglicht, jene von dem Lächeln der Unsterblichen gekennzeichnete Weisheit zu erreichen, die der junge Hesse im Gesicht seiner Mutter und seines Großvaters gesehen hatte. Die literarische Kraft des Romans Siddhartha besteht in der Tatsache, daß diese «Suche nach sich selbst» mit einem Abschied von dem Vater explizit anfängt. Der Generationenkontrast als unüberbrückbarer Gegensatz der Weltanschauungen ist bei Hesse werkimmanent: diese Konfrontation ist eine Konstante sowohl in seinen frü4

A. Hsia, Hermann Hesse und China, Frankfurt a.M. 1974.

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse 5

heren als auch in seinen späteren Werken: im Mittelpunkt des Glasperlenspiels zum Beispiel steht der kontrastive Vergleich zwischen zwei Bildungskonzepten. Das Hauptthema der Romane von Hesse ist nämlich die Bildung; die erzählerische Kraft seines Werks – die gleichzeitig die Ursache seines Erfolgs bei den jungen Lesern ist – besteht darin, daß er in jeder Stelle seiner Erzählwerke behauptet, daß die Erfahrung unübermittelbar sei. Er verteidigt nämlich das Bedürfnis, die unterschiedlichen Wege zur Wahrheit persönlich zu erleben, und den festen Glauben, daß alle Wege im Grunde gleichwertig sind, weil alle – auch wenn durch unterschiedliche Gänge – zur Einheit des Seins führen. Nach seiner Auffassung muß die Bildung die traditionellen Kriterien ablehnen und überschreiten. Seine paradigmatischen Geschichten erzählen die Rebellion des Sohnes gegen den Vater. Und es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, daß am Ende immer eine Versöhnung zustande kommt. Alle Hauptpersonen der Hesseschen Romane gewinnen am Ende – aufgrund der Einheit der Gegensätze, aufgrund der Zusammenstellung des Ein-Allen – die Positionen jener Figuren zurück, von denen sie sich verabschiedet hatten und gegen die sie einst rebellierten; sie verkennen aber nie ihren persönlichen Weg zur Wahrheit. Die Vielzahl der möglichen, allen in gleicher Weise gültigen Erfahrungen zu bejahen, schließt die Rebellion nicht aus, sie schließt im Gegenteil als Voraussetzung ein, daß die Jünglinge die vorherbestehenden Regeln überschreiten, um ihre eigene Bildung erreichen zu können. Hesses Begeisterung für die Jugend hat nicht nur einen biographischen – denkt man an seine Schwierigkeiten mit den strengen Bildungsanstalten der Wilhelminischen Zeit und an die Figuren der rebellierenden Jünglinge, die er in seinen frühen Werken geschildert hat – sondern auch einen epochalen Charakter. Hauptthema der deutschen Literatur der Jahrhundertwende war nämlich der Vater-Sohn-Konflikt, das Unbehagen der jungen Generationen an dem Lebensmodell, das die «Erwachsenen», die «Väter» durchsetzen wollten, die Rebellion und oft auch die tragische Vernichtung derjenigen, die versuchten, sich dieser Bildung und dieser ‹Normalisierung› zu entziehen. Das Unbehagen der jungen Leute an der ‹bürgerlichen› Lebensweise und die existentielle Rebellion vor dem ‹Philistertum› waren Kennzeichen nicht nur der expressionistischen Literatur, sondern auch der Werke von anderen Autoren, deren Sprache vielleicht nicht so experimentell war, deren Weltanschauung aber nichtsdestoweniger sozialkritisch war: denkt man an Törless von Musil, an die frühen Erzählungen von Rilke, an Unterm Rad von Hermann Hesse. Sogar der preußische Beamte Theodor Fontane stellte in den Mittelpunkt seiner Romane die Überschreitung der strengen gesellschaftlichen Regeln. Walter Benjamin, der damals in der Organisation einer studentischen Bewegung engagiert war, die als Hauptziel eine befreiende Schulreform hatte, die jenes strenge und autoritäre Bildungssystem abschaffen wollte, veröffentlichte 1913 unter dem Pseudonym Ardor in der Zeitschrift «Der Anfang» einen Artikel mit dem Titel Erfahrung. Die sonderbare Assonanz seiner hier geäußerten Thesen mit Hesses Grundpo-

Mauro Ponzi 6

sitionen über die autoritäre Bildung weist darauf hin, daß die Ablehnung der Erfahrung der ‹Väter› in dieser Zeit ein sehr verbreitetes Thema in der deutschen Kultur war, so daß es eine Studentenbewegung bewirkte und daß es im Lauf von Jahrzehnten Gedichte, Erzählungen, Romane, Aufsätze, in deren Mittelpunkt neue Bildungskonzepte standen, hervorgebracht hat. Benjamin lehnt die «Geistlosigkeit» des «Philisters», der nur die seines eigenen Scheiterns überliefern will, ab; er behauptet, daß die Lebenserfahrung im Grunde unübermittelbar sei, und daß die Jungend das volle Recht habe, ihren «eigenen Weg zur Wahrheit» zu suchen – was eigentlich mit dem Kernpunkt des Hesseschen Erzählwerks übereinstimmt. Benjamin schließt seinen Artikel mit einem expliziten Hinweis auf Nietzsche, der eigentlich den theoretischen und philosophischen Hintergrund für die geistige Rebellion der jungen Generationen gegen die ‹bürgerliche›, deutsch-nationale Philisterkultur geliefert hatte: Man erlebt immer nur sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der Philister macht seine «Erfahrung», es ist die ewig Eine der Geistlosigkeit. Der Jüngling wird den Geist erleben, und je weniger er Großes mühelos erreichen wird, desto mehr wird er überall auf seiner Wanderung und in allen Menschen den Geist finden. Der Jüngling wird gütig sein als Mann. Der Philister ist intolerant5.

In diesem Artikel von Walter Benjamin werden Prinzipien kräftig verteidigt, die auch im Mittelpunkt des Hesseschen Werkes stehen und die von Künstlern und Schriftstellern dieser Zeit geteilt wurden, sie stellten einen gemeinsamen Kulturbestand einer (oder vielleicht mehrerer) Generation von Intellektuellen dar, die das Modell der philisterhaften Doppelmoral und der strengen und autoritären Bildung ablehnten. Statt sich der Erziehungsdisziplin zu unterwerfen, statt auf die inneren Schwünge, auf die Träume, auf die Schwärmerei, auf die Neugierde auf die Welt zu verzichten, versuchten die jungen Intellektuellen der Jahrhundertwende, ihren eigenen Weg zum Leben und zur Wahrheit zu gehen. Während das autoritäre Bildungskonzept auf der Prämisse gründete, daß die Lehrer und die «Erwachsenen» die einzige erkennbare Wahrheit – die immergleiche und absolute und als eine mathematische Formel überlieferbare sei – besäßen, theoretisierte die Jugendbewegung die Vielzahl der möglichen Erfahrungen und die davon abstammende gleichwertige Würde jeder Erfahrung. Die jugendliche Ablehnung der autoritären Bildung, die zunächst als existentielles Unbehagen und individuelle Rebellion entstand, übernimmt ihre politischen Implikationen – wenngleich sie in allgemeinen Termini geäußert wurden: sie waren eher durch das, das man nicht will, als durch das, das man durchsetzen möchte gekennzeichnet – durch die Verweigerung der Philistermentalität, welche von der Intoleranz, von dem Anspruch, die einzige mögliche Lebensweise zu führen, von der Verherrlichung der nationalen Identität und von 5

W. Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977, Bd. II.1, S. 56.

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse 7

der Verteufelung des Fremden gekennzeichnet wurde. Diese alternative Einstellung war sehr verbreitet im Wien der Jahrhundertwende und in Süd-Deutschland bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Die Künstlerkreise stellten sich als alternative dar, um «épater le bourgeois», den Spießbürger zu provozieren, und sie waren alle mehr oder weniger von Nietzsches Denken beeinflußt, der damals als ein ‚alternativer‘, kritischer, als ein Gegner der bürgerlichen und Philistermentalität, als derjenige, der einen Blick ins Chaos des Unbewußten geworfen hatte, als derjenige, der die Schwäche des westlichen Denkens aufdeckt und einige Aspekte der östlichen Philosophie zurückgewinnt, rezipiert wurde. Von diesem Standpunkt aus gleicht das Fernostmotiv bei Hesse nicht nur der Faszination für Indien, die er von seiner Mutter und von seinem Großvater ererbt hatte, nicht nur dem Prinzip von Toleranz und Respekt, das sein Vater und sein Großvater ihr Leben lang im Namen des Pietismus verteidigten und predigten, sondern es gleicht auch jener vagen Suche nach einer Alternative, die Teil der deutschen Kultur der Jahrhundertwende charakterisierte. Hesse fügt sich also in eine weithin anerkannte kulturelle Tradition, welche die ‹bürgerlichen› Werte, die Sicherheit, die absoluten Überzeugungen, die ‹vorgefertigte› Wahrheit und die Intoleranz vor den Fremden und den Sonderlingen ablehnte, um die entgegengesetzten Werte zu verherrlichen. Diese Gegenüberstellung findet auch ihre räumliche, sozusagen geographische, Dimension. Wenn einer der Bausteine der Philistermentalität darin bestand, die ‚Überlegenheit‘ der westlichen Kultur überhaupt und der deutschen Kultur insbesondere als Höhepunkt des Allgemeinmenschlichen zu behaupten, bedeutete dagegen die Verherrlichung des Untergangs des Abendlandes und die Zurückgewinnung von Denken und Bildern des Fernosten, jene angebliche Überlegenheit verneinen zu wollen, die Werte der deutschen Kultur abzulehnen und andere Wege zur Wahrheit, zur Kunst und zur Kultur zu suchen. Auf das Fernost hinzuweisen bedeutete, sich für die Toleranz zu entscheiden und den Autoritarismus abzulehnen. Seine zeitgenössischen Leser haben diese Nebenmitteilungen und diese Einstellungen ganz genau verstanden. Hesse war in den 20er Jahren wortwörtlich ein ‹alternativer› Autor, da er sich von den idealen und literarischen Werten der deutschen Kunstproduktion, die das Eigene, die Spezifizität und im Grunde die Überlegenheit der deutschen Kultur verherrlichte, radikal unterschied. Kein Zufall, daß der erste Teil von Siddhartha Romain Rolland gewidmet ist: der Autor selbst war sich vollkommen bewußt, daß sein Roman einen (selbstverständlich allgemeinen) politischen Charakter als Stellungnahme zu den großen Fragen seiner Zeit hatte. In Siddhartha wird – deutlicher als anderswo – jene Bejahung jeder Erfahrung dargestellt, die ein wiederkehrendes Motiv der Hesseschen Romane ist. Die Hauptperson geht durch unterschiedliche Bildungserlebnisse: zunächst lernt er bei den Samanan die Kunst der Askese, dann lernt er im Dorf die Kunst des Handelns und bei Kamala die Kunst der Liebe, endlich lernt er am Flußufer, wie man sein inneres

Mauro Ponzi 8

Ziel erreicht und im Einklang mit der Welt leben kann. Man kann den Sinn des Romans dem Vergleich der Vater-Sohn-Dialoge, welche am Anfang und am Ende des selben Romans stehen, entnehmen. Siddhartha will von seinem Vater, dem Brahmanen, die Genehmigung haben, seinen eigenen Weg zur Wahrheit zu gehen. Der Vater meint, die Wahrheit zu besitzen, sie mit den Worten (mit einer Lehre) als absolute und offenbarte Wahrheit überliefern zu können. Der junge Siddhartha ist dagegen überzeugt, er soll nach der Wahrheit durch den eigenen Weg suchen. Der Gegensatz zwischen Vater und Sohn ist demzufolge unüberbrückbar. Der Brahmane meint, es sei zwecklos, unter den Samana die Wahrheit zu suchen, weil er selber in der Lage sei, sie dem eigenen Sohn zu «erklären». Der Brahmane fordert Gehorsam von seinem Sohn, aber er muß vor dem Eigensinn des Jugendlichen nachgeben. Siddhartha bleibt in der gleichen Körperhaltung die ganze Nacht, stehend, mit gekreuzten Armen, in Erwartung der Erlaubnis seines Vaters, das Haus zu verlassen. Eben diesen passiven Widerstand, diesen Eigensinn haben die jungen Generationen in der Figur Siddharthas bewundert. Die scheinbare Unterwerfung unter die Regeln der Tradition (die Anfrage nach der Erlaubnis seines Vaters) verbirgt in der Tat eine schon getroffene Entscheidung, einen Bruch mit der Weltanschauung seines Vaters, sie schließt jede Gesprächsmöglichkeit aus. Siddharthas Erwartung von des Vaters Genehmigung ist im Grunde eine reine Formalität, da er sich schon lange für die Reise entschieden hat. Siddharthas Entscheidung geht über den unmittelbaren Zweck seiner Reise (das asketische Leben der Samana) hinaus. Siddhartha wird von einer inneren Unzufriedenheit gedrängt, sein Leben zu ändern; er stellt fest, daß der Horizont des Hauses seines Vaters – obgleich gemütlich – zu eng ist, um seinen Durst nach Lebenserfahrung zu stillen. In Siddharthas Entscheidung, seinen eigenen Weg zu gehen, spiegelt sich die ganze deutsche Literatur der Jahrhundertwende, in ihr werden das Unbehagen und die Leiden zweier junger Generationen der Jahrhundertwende zusammengefaßt und sublimiert, in ihr haben sich Tausende von jungen Leuten identifiziert, eben weil diese Ablehnung des Vaterhauses und der Elternlebensweise so radikal und so lakonisch geäußert wird, daß sie in jeder Situation paradigmatisch gelten kann. Hesse ist es gelungen, die Unzufriedenheit der Jungend seiner Zeit, die von anderen Autoren vor und nach ihm geschildert und analysiert wurde, in einer entfremdeten und unhistorischen Weise auszudrücken. Er hat nämlich die Ablehnung der deutsch-nationalen und ‚Philister‘-Mentalität so abgeklärt, daß sie zu einer existenziellen Ablehnung der Vaterfigur geworden ist und als eine archetypische menschliche Lage dargestellt wird. In diesem Sinn hätte die Episode keine andere Lösung haben können als diese, die sie gehabt hat: nämlich Siddharthas Abreise. In diesem Sinn ist die Alternative die einzige mögliche Antwort auf die Unzufriedenheit des jungen Mannes mit der Lebensweise seines Vaters: und zwar seinem inneren Trieb nachzugehen, seinen eigenen Weg zu gehen. Obwohl der Jugendliche

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keine Sicherheit, keine feste Überzeugung, sondern nur Zweifel, Unzufriedenheit und Unbehagen hat. Die Reise, der Abschied vom Vater, und der Verzicht auf das ruhige und sichere «bürgerliche» Leben des Brahmanen, heißt, den Zweifeln eine Antwort geben zu wollen, nach einer Lösung zu suchen. Die Reise als solche ist aber keineswegs die Lösung. Die Wahrheit, die ‹Antwort›, findet man erst am Ende «des langen Suchens», am Ende der Reise, am Ende des Lebenslaufes. Am Ende des Romans, als die Hauptperson «sein Ziel erreicht hat», d.h. jene Weisheit, die ihn in Einklang mit dem kosmischen Rhythmus setzt, erworben hat, kippt die Situation um. Siddharthas Sohn kämpft radikal gegen den Vater, er verachtet seine Askese und seine Lebensweise, er sucht nach der Bequemlichkeit und nach dem Reichtum des Stadtlebens. Siddhartha verwendet kein autoritäres Bildungsmodell, er macht manche Arbeit für seinen Sohn, langsam hofft er, «ihn zu gewinnen, durch freundliche Geduld». Als der Sohn in die Stadt flieht und das Boot kaputt macht und die wenigen Silbermünzen stiehlt, welche die Fährleute als Fährlohn erhielten, will Siddhartha ihm nachgehen, will er ihn zurückbringen, will er ihn richtig bilden. Hier taucht das Thema der Erfahrung, das der Kern der VaterSohn-Beziehung ist, wieder auf. Die Eltern – die ‹Erwachsenen› – hatten den Anspruch erhoben, die Jungen aufgrund ihrer eigenen Erfahrung zu belehren: sie wollten sie mahnen, jene Fehler, die sie gemacht hatten, nicht zu machen. Der alte Vasudeva läßt Siddhartha über die Sinnlosigkeit seiner Angst und über sein Irrtum, was die Bildung anbelangt, nachdenken: Glaubst du denn wirklich, daß du deine Torheiten begangen habest, um sie dem Sohn zu ersparen? Und kannst du denn deinen Sohn vor Sansara schützen? Wie denn? Durch Lehre, durch Gebet, durch Ermahnung? […] Glaubst du denn, Lieber, dieser Weg bleibe irgend jemandem vielleicht erspart? Vielleicht deinem Söhnchen, weil du es liebst, weil du ihm gern Leid und Schmerz und Enttäuschung ersparen möchtest? Aber auch wenn du zehnmal für ihn stürbest, würdest du ihm nicht den kleinsten Teil seines Schicksals damit abnehmen können6.

Als Siddhartha, in Schwermut über die Flucht seines einzigen Sohnes geraten, den Fluß überquert und sein Gesicht im Wasser gespiegelt sieht, merkt er plötzlich, daß es dem Gesicht seines Vaters, des Brahmanen, gleicht. Er sieht im Wasser das Bild seines Vaters. Die Identifizierung des alten Siddhartha mit dem Brahmanen – die selbstverständlich von dem Anspruch verursacht wird, seinem eigenen Sohn Leid und Schmerz durch seine übermittelbare Erfahrung abnehmen zu können – schließt den Kreis des Lebens. Siddhartha bemerkt, daß er den gleichen Fehler wie sein Vaters begangen hat und er verzichtet auf den Anspruch, seinen Sohn zu belehren. Die Vernichtung jeder möglichen Bildungslehre – sowohl die autoritäre der Wilhelminischen Zeit als auch die permissive, welche er praktiziert hatte – gründet auf

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H. Hesse, Siddharta, Frankfurt a.M. 1977, S. 163f.

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dem festen Glauben an die Fähigkeit jedes einzelnen Individuums, seinen eigenen Weg zur Wahrheit zu gehen. Diese Überzeugung bringt zwei wichtige miteinander eng verbundene Konsequenzen mit sich: die eine ist die Bejahung der Vielfältigkeit aller möglichen Erfahrungen, und die zweite ist die Gewißheit, daß die Stufen jeder individuellen Erfahrung durch archetypische Schemata gehen, welche die Einheit des Ganzen zusammensetzen. Hesses Romane und Erzählungen drücken die Bejahung aller möglichen menschlichen Lebenserfahrungen aus. Alle möglichen Lebensläufe, alle möglichen Lebenserfahrungen, die in der Lebenspotenzialität jedes Individuums enthalten sind, sind ebenfalls gleichwertig, sie enthalten als Lebensmöglichkeiten eine ähnliche Würde, und sie führen bestenfalls zu einem ähnlichen Ende, nämlich zur Annahme dieser Vielfältigkeit. Daher hat es keinen Sinn, dem Sohn nachzugehen: auch Siddharthas Sohn wird durch Irrtümer, durch Leiden, durch Wendungen seine Stufe von Weisheit und Wahrheit erreichen, und zwar jene Stufe, die sein Leben ihm zugänglich gemacht haben wird. Die Einheit des Seins garantiert nämlich die archetypischen Stufen jedes einzelnen Lebens. So wie der Fluß, der in dem Roman eine symbolische entscheidende Rolle spielt, ist immer anders und zugleich immer gleich, so ist das Leben, in seinem ständigen Werden, unzerstörbar: es ist in der Lage, sich immer erneuern zu können. Derjenige, der sein Ziel erreicht hat, ist in der Lage, diesen Lebensrhythmus zu verstehen, zu fühlen. Sein eigenes Schicksal anzunehmen, heißt eigentlich, sich selbst als Teil des Ganzen zu verstehen und daher aufzuheben zu suchen: «Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben». Der Rhythmus des Erzählwerks von Hesse wird eigentlich von dieser doppelten Bewegung der Bejahung aller möglichen Formen der Erfahrung und der Anerkennung der wesentlichen Einheit des Seins bestimmt. Millionen von jungen Leuten haben diese Ablehnung jeglicher Lehre mit Begeisterung gelesen und haben den Hinweis, ihren eigenen Weg zur Wahrheit selbstständig zu suchen, mit Jubeln begrüßt. Dieser Weg zur Anerkennung der Einheit des Seins ist aber – genauer gesehen – immer noch ein Bildungsgang, der von der Ablehnung jeder Pädagogik ausgeht, und zur Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Bildungssysteme führt. Nur die Einheit des Seins ermöglicht die Vielfältigkeit der Erfahrungen. Die Einheit der Gegensätze und die Einseitigkeit der Lehren sind nur Variationen über das Thema der Vielfältigkeit der möglichen Erfahrungen, über das Thema der ähnlichen Gültigkeit jedes individuellen Wegs. Kein Zufall, daß diese Überzeugung durch die berühmte Rede über den Stein geäußert wird – auch wenn man zugeben muß, daß das ganze letzte Kapitel aufschlußreich ist, weil man hier den poetischen Schlüssel finden kann, um Hesses Weltanschauung richtig zu verstehen: «Dieser Stein ist Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dies oder jenes werden könnte, son-

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dern weil er alles längst und immer ist»7. Die Einheit der Gegensätze löst sich in der Identität des Seins, welche den Weisen zwingt, jede Form des Seins, auch die scheinbar niedrigeren, wie den Stein, zu verehren (Siddhartha sagt sogar zu «lieben»), weil die Formen der Existenz vorübergehend sind. Selbst der Stein wird sich mit der Zeit ändern und wird andere Formen (Sand, Staub, usw.) annehmen. Der Respekt vor allen Geschöpfen und vor allen kosmischen Formen ist – wie mehrere Literaturwissenschaftler betont haben – eher auf den heiligen Franziskus – über den Hesse einen schönen Aufsatz geschrieben hat – als auf Buddha zurückzuführen. Der erzählerische Ton des Romans – abgesehen von der indischen Färbung – erinnert an den Kern der pietistischen Grundpositionen des Doktors Hermann Gundert. Glücklich sein, heißt den Rhythmus des Kosmos sobald wie möglich zu verstehen zu fühlen. Im Einklang mit dem Welt-Rhythmus zu sein, heißt seine eigene Individualität zu reduzieren. Wir finden hier wiederum eines der vielen Paradoxe der Hesseschen Prosa: so wie seine deutliche Ablehnung jeder Bildungsform die Darstellung eines individuellen Bildungsgangs hervorbringt, der im Grunde genommen die gleichen Zwecke jedes Bildungssystems – auch wenn durch individuelle und exzentrische Wege erreicht –, so hat sein radikaler Individualismus als Endziel die Vernichtung des Individuums. Der eigene Weg nach Innen führt zur unübermittelbaren und mit Worten nicht überlieferbaren Weisheit, in deren Mittelpunkt aber die radikale Reduktion der individuellen Bedürfnisse steht. Es geht darum, die Wiedervereinigung des Einzelnen mit dem Ganzen – soweit es möglich ist – vorwegzunehmen, auf die Einseitigkeit des Einzelnen zugunsten der Ewigkeit des Lebens zu verzichten. (Das hier gemeinte Leben ist selbstverständlich das allgemeine, das kosmische und keineswegs das individuelle.) Dieser Nihilismus, der gewiß aus Nietzsche herkommt, auch wenn mit indischen Farben verkleidet, wird von Hesse durch seine kosmische Mystik überwunden und er verliert dadurch jene dionysische Raserei, die Nietzsches Werk kennzeichnet. Dennoch taucht diese nihilistische Komponente an Ort und Stelle in Hesses Werk wieder auf, und zwar dort, wo sie von dem pietistischen Element nicht ganz vermildert wird. Die Kraft der Erzählungen und Romane von Hesse besteht darin, daß die Hauptpersonen den Weg nach Innen durch Erlebnisse gehen, die am meisten sich in einer Reise bzw. einer Bildungsreise verwirklichen. Obwohl die Bildung eines Individuums am Ende als eine falsche Bewegung, als eine Suche nach der Innerlichkeit sich erweist, welche die Wahrheit in dem Nachbarn in dem Gewöhnlichen in dem alttäglich bekannten Ort entdecken läßt, braucht diese Entdeckung als notwendige Stufe den Abstand, die Erfahrung der Ferne, des Fremden. Die Reise braucht die Mythisierung des Anderswo. Das ist aber eine innere Notwendigkeit zur Bildung des Selbstbildnis eines Einzelnen, daher ist sie weder historisch noch geographisch an einen konkreten Ort gebunden. Es ist ein Topos: die Reise ist eine 7

H. Hesse, a.a.O., S. 189.

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Suche nach einem Ort, in dem das Subjekt diese obere Wahrheit finden und anschauen kann. Die Reise nach einem mythischen Ort, der «überall und niergendswo» liegt, und als «Orient» bezeichnet wird, der zu einer «Landschaft der Seele» wird, wird von Hesse in Morgendlandfahrt (1932) geschildert. Hier verwendet der Autor diesen visionären und phantastischen Erzählton, den man auch im ‹Singapore-Traum› von Indien und im ‹magischen Theater› von Steppenwolf aufspüren kann. Er stellt die unhistorische und unzeitliche Lage dar, in der «eine Welle im ewigen Storm der Seele» als «Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts» strömt8. Der Zugang zur Großen Zeit ermöglicht, einen Blick auf das Leben und auf die Wahrheit zu werfen, die zeitliche Kontinuität zu brechen. Obwohl dieser Blick auf die Einheit des Seins schwer – und wenn überhaupt dann sehr kurz – erreichbar sein kann, ermöglicht er, den Sinn des Weltlaufs zu «sehen», zu «verstehen» – so wie es den «Auserlesenen» (Goethe, Mozart, Buddha, Paul Klee) gelungen ist; er ermöglicht demzufolge, mit ihnen sprechen zu können, ihre Gedanken zu denken, ihre Erlebnisse neu zu erfahren. Der symbolische Charakter sowohl der Reise als auch des Ortes entzieht Hesses Erzählprosa jeglicher geografischen Identifizierung, jeder Möglichkeit, das ‹Anderswo› mit einer bestimmten Region (und Religion) zu identifizieren. Sein Orient ist eine sonderbare Mischung von indischen Suggestionen und Pietismus – wie Ralph Freedman in seinem Buch aufschlußreich bewiesen hat9. Sein Werk wurzelt in der deutschen Romantik. Das wichtigste und tiefere Element der Romantik, das Hesse auf seine Weise strukturell verarbeitet, ist eben die symbolische Darstellung eines ästhetischen und geistigen Ideals als utopischer und außergeschichtlicher Topos – nämlich der schon erwähnte ‹unterschwellige Ort›, den man nur durch eine Reise erreichen kann. Er ‹erbt› aus einer langen literarischen Tradition die Überzeugung, daß Makrokosmos und Mikrokosmos übereinstimmen und daß das Individuum demzufolge ‹durch Sprunge gehend› (wie Novalis schreibt)10 die Welt kennen kann, indem es sich selbst kennt, indem es in die Höhle seiner eigenen Seele hinuntergeht. In diesem Abstieg in die Höhle seines eigenen Geistes besteht der Urkern jenes Weges nach Innen, auf dem alle Romane Hesses gründen und der fast immer zu einer Bildungsreise wird. Dann wird die mythische Lebenssaison, in der es möglich ist, die Zeitlichkeit zu überschreiten, entscheidende Erfahrungen zu haben, jene «Wendungen», jenes «Er8 9 10

GS, 8, S. 329. R. Freedman, Hermann Hesse. Pilgrim of Crisis, London 1978; Id., Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, hrsg. von V. Michels, Frankfurt a.M. 1979. «Ich weiß nicht» – schreibt Novalis – «aber mir dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unabsehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast ein Sprung nur, der Weg der inneren Betrachtung» (Novalis, Schriften, hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel, Stuttgart 1960, Bd. I, S. 208).

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wachen» zu erleben, die Hesses Hauptpersonen kennzeichnen, mit der Jugend identifiziert. Die Jugend ist der privilegierte Ort, um eine Bildungsreise zu unternehmen. Der Wanderer, der Pilger, der junge Reisende, der nach seiner künstlerischen Bildung sucht, sind übliche Figuren der romantischen Erzählprosa. Das Reiseziel zu erreichen heißt, eine Wendung der Hauptperson wahrzunehmen. Das Ziel eines langen Suchens ist eine Weisheit, eine neue und tiefere Weltanschauung zu erreichen. Und hier kommt eines der vielen Paradoxe der Werke von Hesse zustande: seine so exzentrische Erzählprosa, die sich der deutschen Kultur gegenüber so alternativ stellte, die sich den Allmachtphantasien der Deutsch-Nationalen entgegenstellte, wird eigentlich nach sehr traditionellen literarischen Kriterien, die tief in der deutschen Romantik wurzeln, aufgebaut. Seine Romane erzählen im Grunde Reiseerfahrungen als Lebenserfahrungen, welche die innere Wendung des Protagonisten bewirken und ihm den Zugang zur Wahrheit öffnen. Hesse verwendet also mit Erfolg die literarische Formel des Bildungsromans wieder, die seinem Werk einen pädagogischen Charakter verleiht. Was die Erzählstruktur anbelangt, geht Hesse auf sicherem Grunde, indem er schon erprobte Formeln weiterverbringt. Die Kenntnis der Theorien von Freud und Jung waren für den Autor wichtig über die Lösung seiner psychologischen Krise hinaus: sie boten ihm einen Interpretationsschlüssel an, um die Traumbilder, die Angst, die Phantasien, die Traumwünsche, welche in seinen Romanen bislang keine Koordination hatten, zu organisieren. Man kann in diesem Zusammenhang von einem «zweiten Erwachen» sprechen. Die Offenbarung besteht darin, daß er die Kompräsenz von zwei Welten, die den Prinzipien von Eros und Thanatos entsprechen, entdeckt. Gut und Böse, Leben und Tod, Bewußte und Unbewußte existieren im Inneren jedes Individuums. Der Abschied von dem Vater, der ein Leitmotiv der deutschen Literatur der Jahrhundertwende gewesen war, könnte jetzt seine richtige Stelle im Rahmen eines Entwicklungsprozesses finden, der als Selbstanalyse der psychoanalytischen Therapie gleich war. Es handelt sich im Grunde um die Entdeckung des Unbewußten: die allmähliche Entdeckung jener Urtriebe, die von der manichäischen Moral verteufelt und verurteilt werden, die aber im Inneren jedes Einzelnen existieren und wirken. Jene Reise nach Innen, die im Mittelpunkt aller hesseschen Romane steht, übernimmt demzufolge eine Reihe von Valenzen, die ihre Bedeutungen verstärken und vervielfältigen, weil sie nicht nur zur romantischen Entdeckung der Welt, sondern auch zur psychoanalytischen Erkenntnis der Struktur seiner eigenen Psyche mit ihren inneren Trieben wird. Auch der romantische Mythos der ewigen Jugend findet hiermit eine wissenschaftliche Legitimierung mit der Darstellung der Figur des ewigen Adoleszenten, weil die obengenannte Entdeckung der Urtriebe, der Welt der Finsternis, der Welt des Unbewußten während des ‹Wachstums›, der Reifung eines Individuums vorkommt. So wie der Topos, in dem das ‚Anderswo‘ mythisiert wird, der Orient ist, ist die Jugend die Zeit, in der man die entscheidenden Erfahrungen, welche eine Wen-

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dung bewirken, erlebt. Sowohl der Orient als auch die Jugend müssen aber als Landschaften der Seele, die überall reproduzierbar sind, mythisch und symbolisch verstanden werden. Die Jugend ist der priviligierte Zustand, in dem man die Bildungsreise machen kann. «Hesses Werke, vom ersten bis zum letzten, sind für und über junge Leute geschrieben» – wie Egon Schwarz behauptet11. Sie sind großteils von dem romantischen Mythos der ewigen Jugend gekennzeichnet, aber dieser Mythos wird verarbeitet und erneut, er wird von einer mystisch-exotischen Faszination bemäntelt, die dem selben Mythos neue Kraft verleiht. Die Themen der Reise, der Rebellion, des Andersseins sind mit der mythischen Figur des ewigen Knaben eng verbunden; und diese Figur taucht in Hesses Werk entweder explizit als Adoleszent oder in vermittelter Form einer ‹innerlich jungen› Person immer wieder auf. Die Prüfung, welche die Hauptpersonen bestehen müssen, um die weite Welt zu kennen und in das Leben einzugehen, ist die typische Reifeprüfung, welcher sich die jungen Leute im Bildungsroman unterziehen. Oft wird diese Prüfung bei Hesse zu einer Einweihung in die obere Wirklichkeit, die man nur durch Exerzitien und Meditationen erreichen kann. Die Prüfung ist aber nie konventionell und die Wahrheit, die man damit erwirbt, ist von besonderer Art, sie stellt sich den bestehenden Kriterien der westlichen ‹bürgerlichen› Kultur und Gesellschaft gegenüber: Hesses kosmischer Optimismus ist eine Funktion der Verherrlichung einer Lebensphase als die einzige, die es sich lohnt, in absoluter Freiheit zu erleben. Und die «obere Wahrheit», die Hesse meint, zu kennen, besteht eben in dem verzweifelten Versuch, die biologische Jugend in einen jederzeit und überall gültigen ‹Zustand der Seele› zu verwandeln. Der Mythos der ewigen Jugend übernimmt weder die Form einer unmöglichen Suche nach der verlorenen Zeit noch die der melancholischen Erinnerung noch die traditionelle des Pakts mit dem Teufel, sie wird dagegen eine ‹Kategorie des Geistes›, eine Einstellung des Subjekts zur Welt, der Glaube an die Unzerstörbarkeit des Lebens. Und eben dieser Glaube an die Fähigkeit des Individuums, sich radikal zu erneuern, verleiht Hesses Erzählprosa einen mitreißenden Rhythmus, einen metaphysischen Optimismus. Die Wende, welche die Hauptpersonen seiner Romane charakterisiert, besteht einerseits in der Ablehnung der bürgerlichen Konventionen (die mit der deutsch-nationalen Mentalität übereinstimmen) und andererseits in der Entdeckung eines Wegs nach Innen, den der Autor mit allen psychoanalytischen Zügen darstellt. Hesse tut ein kleines Wunder der ‹Alchemie der Gegensätze›, indem es ihm gelingt, eine nietzscheanische und nihilistische Weltanschauung mit einem metaphysischen Optimismus zu kombinieren (und manchmal sogar zu versöhnen) und damit paradigmatische Geschichten vom Erwachen zum Leben zu 11

Vgl.: E. Schwarz, Hermann Hesse, die amerikanische Jugendbewegung und Probleme der literarischen Wertung, in: Über Hermann Hesse, hrsg. von V. Michels, Frankfurt a.M. 1977, S. 79– 98.

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erzählen. Die Überwindung der westlichen und bürgerlichen untergehenden Kultur ereignet sich in einer nietzscheanischen Perspektive zur Verwirklichung des Übermenschen, dessen Prototypen Hesses Hauptpersonen (Klingsor, Harry Haller, Demian, Joseph Knecht) sind. Dieser Prozess von Selbstbefreiung wird fast als Initiationsritus als eine typische jugendliche Erfahrung dargestellt, er ist aber auf der Ablehnung des Existierenden (d.h., sich von dem Vater unterscheiden zu müssen) und auf einer Enteignung des Ichs gegründet. Die Erwachung zum Leben setzt nach Hesse eine systematische Zerstörung der Subjektivität des Bildungsbürgertums, also eine Art von Gegenbildung, einen Abbau der konventionellen Prinzipien voraus. Der Nihilismus äußert sich in der Auszehrung des Ichs, in der Notwendigkeit, alles mögliche zu erfahren, um wiedergeboren zu werden, um zu verjüngen. Die Wandlung, die Wiedergeburt setzt eine Todeserfahrung voraus, die als Abschied von dem Vater, als ein Verlassen der früheren Lebensweise, als eine Reise, als Bruch, als Überschreitung und als Erfahrung der Welt dargestellt wird. Die merkwürdige Leistung der Erzähltechnik von Hesse besteht in seiner Fähigkeit, den romantischen Mythos der Jugend, der Wanderlust, der Lebenserfahrung weiter zu verwenden und ihn mit der psychoanalytischen Theorie zu kombinieren und zu verstärken. Der Abschied von dem Vater übernimmt die Bedeutung der Ablehnung seiner Bildungskriterien, seiner Lebensweise und darüber hinaus der ganzen Kultur und Gesellschaft, in der der Knabe erwachsen ist. Als Alternative unternimmt der junge Mann eine lange Reise in die weite Welt, die seine Rebellion in eine Bildungsreise verwandelt. Wenn dieses Paradigma, auf dem fast alle Romane Hesses gegründet sind, uns helfen kann, den weltweiten Erfolg seines Werkes bei den jungen Leuten zu verstehen, muß es aber auch uns veranlassen, über den literarischen Wert seiner Romane nachzudenken: die Wiedererwerbung des romantischen Mythos der ewigen Jugend, seine Kombination mit den psychoanalytischen Elementen, seine Aktualisierung und seine Verflechtung mit Nietzsches Denken sind Zeichen einer kühnen und großen künstlerischen Konstruktion. Es handelt sich hier keineswegs um eine ‚leichte‘, ‚einfache‘ ‚spontane‘ Schreibweise, sondern um ein komplexes literarisches Verfahren, das aus mehreren und verschiedenartigen Schichtungen, Kombinationen, Verflechtungen besteht. Der weltweite Erfolg seiner Werke wurde von den besonderen historischen Zusammenhängen, die eine subjektive Lesestrategie ermöglicht haben, verursacht; seine Erzählprosa enthält aber strukturelle Elemente, die mit einer leicht rezipierbaren Sprache eine lebendige und optimistische Weltanschauung liefern, welche das Negativ der Existenz nicht ausschließt, sondern es durch Schmerz, Scheitern, Nihilismus, und sogar durch die Selbstvernichtung des Subjekts als Voraussetzung zur Erreichung der Harmonie mit der Natur in einer Weltordnung darstellt. Die beatgeneration hat Hesse wahrscheinlich mißverstanden, sie hatte keine Ahnung von seiner Bildung und von seiner Kultur, sie kannte seinen literarischen Kontext auch

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nicht, sie hat aber recht gut den Kern seines Werks begriffen: den Vitalismus, den Glauben an die Möglichkeit eines Individuums, in jedem Moment seiner Existenz sich selbst total erneuen zu können und die Richtlinien seines Lebens zu ändern, die Bejahung jedes neuen Erlebnisses; und sie hatte das alles in einer geglückten und utopischen Formel zusammengefaßt: forever young.

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«Das Typische ist schon das Mythische» Ethik und Humanismus in Joseph und seine Brüder

Die Gleichungen «Das Typische ist schon das Mythische» und «Der Typus ist mythisch, und das Wesen des Mythos ist Wiederkehr, Zeitlosigkeit, ImmerGegenwart» kehren bei Thomas Mann seit Mitte der zwanziger Jahre immer häufiger wieder, als der Autor beginnt, die Tetralogie Joseph und seine Brüder zu schreiben, die ihn für mehr als zwanzig Jahre beschäftigen wird. In der Rede über Lessing (1929), um das Wesen der Klassik in Lessings Werk zu erklären, «die anfängliche Gründung einer geistigen Lebensform durch das Lebendig-Individuelle»1, nimmt Mann jene Kategorie der Klassik im Mythos auf, indem er ihr die normative kanonische Bildhaftigkeit entzieht und sie mit den zeitgenössischen Reflexionen über Joseph und die Welt der biblischen Patriarchen in Verbindung bringt. Die Darstellung der Mythologeme der Bilder und biblischen Szenen, welche das Leben der Menschheit von den primitiven bis zu den zeitgenössischen Stadien einteilen und die von Verdrängung, Unbewußtsein und einer mechanischen Vision der Realität gekennzeichnet sind, entspricht einem präzisen und kohärenten ästhetisch-poetologischen Konzept von Thomas Mann, der nach einer extensiven Evolution seines Werkes und einer Erweiterung seiner Erzählungshorizonte strebt. Die Leidenschaft des Autors für ein geordnetes Leben, für die Einteilung seiner Hauptwerke gemäß arithmetischer Maßstäbe ist bekannt, man muß jedoch zugleich seinen programmatischen Willen, seine gesuchte Progression des Erzählspektrums und des Handlungsverlaufs im universellen und objektiven Sinn durchzuführen, in Betracht ziehen. Das von Mann dargebotene Evolutionsschema ist einfach und zugleich anspruchsvoll und allerdings in seinen Grundsätzen verwirklicht: «Als Jüngling schrieb ich Buddenbrooks, Verfall einer Familie. Mit 50 den Zauberberg. Jetzt, wo ich mich den 70 nähere, steht das Erscheinen des Schlußbandes von Joseph und seine Brüder bevor. Das erste war ein deutscher Roman, das zweite ein europäischer, das dritte ein mythisch-humoristisches Menschheitslied»2. Der Weg, der von der Krise der bürgerlichen Subjektivität, der dynamischen und variablen Beziehung zwischen Leben und Kunst, bis zur erhofften ökumenischen 1 2

Th. Mann, Rede über Lessing, in Essays, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1988, S. 244. Brief an Clemence B. Boutell vom 21.1.1944, in Briefe, hrsg. v. E. Mann, Frankfurt a.M. 1961–5, Bd. II, S. 354.

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Feier der Menschheit führt und dabei den Tunnel durchquert, der ideologisch um den ersten Weltkonflikt erbaut und im Epilog des Zauberberg von einem vorübergehenden Licht der Demokratie erhellt wurde, bringt seinerseits eine Revision und eine Änderung der Position des Autors gegenüber dem Mythos mit sich. Anderseits sollte man immer berücksichtigen, mehr als Mann selbst dazu geneigt war, sich einzugestehen, daß eine Erweiterung der Handlung – und demzufolge die Aufhebung der vorherigen – nicht unbedingt bedeutet, daß Motive und Perspektiven, die in seinen vergangenen Werken gegenwärtig waren, annulliert oder verwischt werden, sondern daß sie wieder in eine Strategie eingegliedert werden, in der sie mit kombinierten Verknüpfungen im neuen Roman in größerem Maße assimiliert werden. Die Figur des Joseph ruft eindeutig ein autobiographisches Echo hervor, der Konflikt zwischen Leben und Kunst taucht in einer erneuerten Form wieder auf und der Dialog und der Vergleich mit Goethe, beide «Lieblinge der Götter», wird weitergeführt wie auch der mit seinem Bruder Heinrich, der in diesen Jahren die Romane Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938) verfaßt; es ist jedoch alles in eine Dimension der ewigen Gegenwart projiziert und sublimiert, in eine Aktualität, die ein Profil des homo humanus und das Ziel eines Neuhumanismus anbieten, übersetzen und entschlüsseln, das sich mit der Gegenwart auseinandersetzen muß und will. Der humanisierende und psychologisierende Prozeß des Mythos, die Wahl des alttestamentlichen Arguments, die als Gegenmittel für die irrationalen pangermanischen Trinkorgien und den faschistischen Obskurantismus dargestellt werden, heben Manns ästhetisch-ideologischen Weg weder auf, noch ordnen sie sich ihm unter. Mit seinem politischen und zivilen Engagement will Mann, dessen Mobilmachung diesmal im Gegensatz zu der in den Betrachtungen eines Unpolitischen geäußerten steht, seine Gegenwärtigkeit in dem tragischen Moment der Geschichte bescheinigen; er behauptet und verfolgt dabei jedoch gleichzeitig eine wirkliche Vereinigung von Mythographie und Geschichte in einer Wechselbeziehung, in der die eine Grund und Ursache für die andere sein kann. Die geschichtliche Konjunktur verstärkt und verabschiedet definitiv ein episches Projekt, dessen Idee außerdem viele Jahre vor Hitlers Auftreten entstanden war und, wenn überhaupt, in der Atmosphäre von Mario und der Zauberer begonnen hatte, wo der italienische Faschismus zum ersten Mal zur Rechenschaft gezogen wurde. Eine Steigerung der epischen Struktur wird vollzogen, aber auch eine Verdeutlichung auf erzählerischer Ebene der noch verborgenen schöpferischen Möglichkeiten. Auf der Konferenz über die Tetralogie, die 1942 in Washington stattfand, schließt die Erinnerung an ein Schulerlebnis, das ein vorzeitiges Interesse an der Zivilisation Ägyptens enthüllt, mit dem Kommentar: «Ein Werk muß lange Wurzeln haben in meinem Leben, geheime Verbindungen müssen laufen von ihm zu frühesten Kindheitsträumen, wenn ich mir in Recht darauf zuerkennen, an die Legitimität meines Tuns glauben soll. Der willkürliche Griff nach einem Stoff, auf

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den man nicht althergebrachtes Liebes- und Wissensanrecht hat, scheint mir sinnlos und dilettantisch»3. Die Lektüre der Mythologie der Griechen von Károly Kerényi, mit einem jugendlichem Geist durchgeführt, wie Mann selbst dem Autor auf einer Postkarte von 1951 mitteilt, bestätigt seinen karstigen Weg, der aus dem Brunnen seiner eigenen Vergangenheit verborgene Erlebnisse wieder ans Licht bringt. Wenn es eine Uhr gibt, die die Zeit des erzählerischen Aufbaus einteilt und anhält, um Werken wie Die vertauschten Köpfe und Lotte in Weimar, die zwischen dem dritten und dem vierten Band von Joseph und seine Brüder entstanden sind, Zeit zu lassen, so bleiben die Methode und der Plan, sich stufenweise der mythologischen Dimension zu nähern, unverändert und sind die Frucht eines Reifungsprozesses, wenn nicht sogar eines regelrechten Veraltens. Mann selbst betont es in einem Brief vom 27. Januar 1934, mit dem der Briefwechsel mit Kerényi beginnt. Nachdem er sich bei dem Religionshistoriker und klassischem Philologen für den ihm zugesandten Aufsatz Unsterblichkeit und Apollonreligion bedankt hat, in dem ihm die «Idee des ‹dunklen›, des ‹wölfischen› Apoll» beeindruckt, gesteht er sein spätes Interesse für die Geschichte der Religionen und den Mythos: «Es ist ein Produkt meiner Jahre und war in Jugendzeiten überhaupt nicht vorhanden. Jetzt aber ist es sehr lebhaft und wird vorhalten zur Durchführung des sonderbaren Roman-Unternehmens, von dem Ihnen, wie es scheint, der erste Band vor Augen gekommen ist»4. Nachdem er betont, daß «der Sanatoriumsroman […] das Mittelglied zwischen dem realistischen Jugendwerk Buddenbrook und dem manifest mythologischen Werk meiner annähernd sechzig Jahre» bildet, führt er die evolutionäre Geste vom individual-bürgerlichen zum «typischen, allgemeinen und menschlichen» Element auf ein Phänomen der Senilität zurück. Die Darstellung der «großen und ergreifenden menschlichen Thematik», die universell und immer aktiv ist, überträgt sich in einem grandiosen epischen Wiederaufbau, der in einer synchronischen Version den von der Menschheit gelebten Mythos mit einer dialektischen Strategie sammelt und erzählt, und der als Alternative zu einem ebenso großen Ritt durch die dreitausend Jahre, wie im zweiten Buch von Goethes Faust, vorkommt. Das Bewußtsein der Assimilierung der mythologischen Sphäre, das in der künstlerischen Schöpfungsphase des sozusagen alten Thomas Mann deutlich wird, berücksichtigt den ideologisch-dichterischen Weg des Autors. In dem Aufsatz Der alte Fontane (1910), zu einer Zeit, wo das literarische Werk Manns von der Darstellung historischer und begrenzter ästhetischer Bereiche, die nie in eine universelle Eigentümlichkeit versetzt wurden, gekennzeichnet ist, ist die Bewahrung und Revitalisierung des Mythos ein Zeichen für Konservativismus, denn die Vereinigung von Mythos und Psychologie kam noch nicht zustande, die 3

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Th. Mann, Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, in Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a.M. 1960, hier Bd. XI, S. 661. Von nun an wird diese Ausgabe mit der Abkürzung GW angegeben, der die Bandnummer und die Seitenangabe folgen. Brief an Károly Kerényi vom 27.1.1934, in GW XI, S. 629–630.

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in der Lage war, die Mythologeme einer Menschheit, deren wirkliche Einheit nicht durch zeitliche Distanz und geschichtliche Evolution ausgelöscht werden kann, zu übertragen und in der Gegenwart zu verkörpern, so wie es am Ende der Höllenfahrt, und zwar im Prolog der Geschichten Jaakobs, verdeutlicht wird: «Hinab denn und nicht gezagt! Nicht viel tiefer als dreitausend Jahre tief. Geht es denn schließlich, sagt er zu sich, ans Ende der Welt und aus aller Gewohnheit? Gar nicht, sondern nur da- oder dorthin, wo schon viele waren, einen Tag oder zwei von Hause»5. Die Unvereinbarkeit des Mythos, der nur von einem konservativen Dichter in Betracht gezogen werden kann, mit der Psychologie, verstanden als «das schärfste Minierwerkzeug demokratischer Aufklärung»6, wird im Text der Konferenz Leiden und Größe Richard Wagners im Februar 1933, wenige Monate vor der Veröffentlichung der Geschichten Jaakobs, eindeutig übertroffen. Hier wird die Beziehung bis zu dem Punkt umgekehrt, an dem die Musik Wagners es schafft, jene «Mächte und geniale Begabungen, die man für feindlich einander entgegengesetzt halten sollte und deren kontradiktorisches Wesen man wirklich gerade heute wieder gern behauptet: sie heißen Psychologie und Mythus»7, der «organischen Wirklichkeit» anzunähern und in ihr zu verschmelzen. Wagner als Psychologe, der «die Technik des Erinnerungsmotivs» reich an psychologischen Hinweisen gebraucht, dessen poetischer Charakter das Libretto übertrifft, indem zum Beispiel der Geist von Siegfrieds Gefühlsambivalenzen analytisch dargestellt und eine «intuitive Übereinstimmung mit einem anderen typischen Sohn des neunzehnten Jahrhunderts, mit Sigmund Freud, dem Psychoanalytiker» enthüllt wird, vereint sich mit «Wagner als Mythiker», für den «alles, was war und immer ist […] dieser mythische Blick umfaßt». Das Psychologisieren des Mythos führt zu seiner Humanisierung und fördert gleichzeitig seine epische Attraktion in der Gegenwart. Es bleibt noch den Charakter des von Mann geplanten Neuhumanismus zu klären und die Gründe, die dazu führten, dem Ungestalten eine erzählerische Form zu geben und dabei auf den Mythos zurückzugreifen, genau das Element, das sich traditionsgemäß jeglichem rationalen Aufbau entzieht. Die Kombination Mythos, im Sinne von Jugenderzählung der individuellen Seele, Thema der Literatur in der modernen Zeit, und Psychoanalyse – es sei hier an den Einfluß von Freuds Totem und Tabu und Jungs Tibetanischen Totenbuch auf die Fassung von Joseph in Ägypten gedacht –, die «die gelebte Vita» im «gelebten Mythus» einschließt, ist Manns Schlüssel, der ihm Zugang zu «jene[r] Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründen»8 verschafft. Dieses Zitat stammt aus dem drei Jahre später entstandenen 5 6 7 8

Th. Mann, Die Geschichten Jaakobs, Frankfurt a.M. 1986, S. 54. Th. Mann, Der alte Fontane, in Leiden und Größe der Meister, hrsg. v. P. De Mendelssohn, Frankfurt a.M. 1982, S. 611. Th. Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in Leiden und Größe der Meister, a.a.O., S. 721. Th. Mann, Freud und die Zukunft, in Leiden und Größe der Meister, a.a.O., S. 921.

Ethik und Humanismus in Joseph und seine Brüder

Vortrag Freud und die Zukunft (1936), der zur Feier des 80. Geburtstags des Meisters im Konzerthaus von Wien gehalten wurde. Indem er Freud zelebriert, klärt Mann die Basis seines mythischen Romans, der durch eine «Begegnung zwischen dichtender Literatur und der psychoanalytischen Sphäre» möglich geworden war und unterstützt sein dichterisches Vorgehen bedeutungsvoll mit den Versen Angelus Silesius: «Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; / Werd’ ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben»9. Silesius’ theologisch-existentieller dichterischer Intuition entspricht Manns Übertragung eines epischen Schlüssels des Jungschen theologisch-psychologischen Prinzips, das der Initiation des Orients beigemessen wird: «Dieser Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervorgedacht […] Gottes gewaltige Eigenschaften – und damit Gott selbst – sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm»10. Der Pakt zwischen Gott und Abraham, bei dem wir geneigt wären, ihn als eine umgekehrte Variante der Wette zwischen Faust und Mephistopheles zu lesen – eine Vermutung, die durch eine Tagebuchaufzeichnung vom 2. Mai, in der steht, daß die Redaktion der Abschlußrede von der Lektüre Nietzsches, des Faust und des Zauberbergs begleitet war, noch unterstützt wird –, nährt sich von dem menschlichen und schöpferischen Irdischen, das in der Wiederholung und der Imitation vieler Eliezer der Vergangenheit verewigt und in die Gegenwart projiziert wird. In einer kommentierten Zusammenfassung des Traktats Zur Psychologie älterer Biographik (1935) von Ernst Kris, in offenem Einklang mit dem Autor, schreibt Mann unter anderem: «Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen. […] Der Aufsatz bezeichnet haargenau den Punkt, wo das psychologische Interesse ins mythische Interesse übergeht. Er macht deutlich, daß das Typische auch schon das Mythische ist. Der gelebte Mythus aber ist die epische Idee meines Romans. Denn Mythus ist Lebensgründung. […] Der Mythus ist die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe»11. Der Verweis auf das Leben anhand einer humanisierten und historisierten Mythologie, die auf einer hebräisch-christlichen Tradition beruht, im Gegensatz zu der Mythologisierung, die der Nationalsozialismus in ein ekstatisches germanisches Heidentum eingefügt hatte, bedeutet, Mythen und alte Rituale, die gemäß dem alten Modell der Feiern von festlichen Anlässen fröhlich aktualisiert werden müssen, in das Bewußtsein zurückzurufen und dabei die Existenz des Menschen zu bewahren und zu revitalisieren. Laut Mann sollte die Annäherung an den Mythos eine therapeutische Wirkung haben, so wie die Psychoanalyse mit dem Unbewußten eine ironisch-künstlerische Beziehung aufbauen und das Es mit einem ausgegliche9 10 11

a.a.O., S. 917. a.a.O., S. 918. a.a.O., S. 919, 920 und 924.

21

Fabrizio Cambi 22

nen, verantwortungsbewußten Ich ersetzen sollte, so daß ein «angst- und haßbefreite[r], zum Frieden gereifte[r] Humanismus» erzeugt werden kann, der den Zügen des alten Faust entspricht. Mit der epischen Darstellung des mythischen Selbstverständnisses, das in die Vergangenheit mit ihren wiederkehrenden Zyklen und mit dem Versinken in die Abgründe des Unbewußten und der menschlichen Seele wurzelt, wollte Mann dem Leben wieder einen Sinn und eine Richtung geben, da es durch die Abweichungen einer anderen vorherrschenden mythischen Dimension wie betäubt war – heute würde man vielleicht sagen, dem die historischen und moralischen Koordinaten genommen worden waren. Der Aufruf zu einer Wiederaneignung einer «mythische[n] Würde, welche auch dem elenden und nichtswürdigen Charakter noch zukommt» stimmt mit dem Aufruf zu einer «natürliche[n] Würde» überein, d.h. also zu einem Neuhumanismus, der in seinem festlichen und kühnen Spiel antiker Rituale, Masken, Kostüme, Theaterstücke und Imitationen die Beispielhaftigkeit der großen Autoren mit einbezieht, in primis Goethe, dessen «imitatio […] noch heute aus dem Unbewußten ein Schriftstellerleben führen und mythisch bestimmen (kann)», so wie Lessing einige Jahre zuvor als «der Klassiker des dichterischen Verstandes, der Erzvater alles klugen und wachen Dichtertums» bezeichnet worden war. Auch Goethes imitatio, bzw. die hermeneutische Verbindung, die im Fall von Joseph und seine Brüder der Gestaltung und der Erweiterung einer Idee, eines Projekts von Goethe entspricht, an die in Dichtung und Wahrheit erinnert wird, ruht auf dem Prinzip eines zyklischen Ablaufs von Themen und Vorbildern. Ein Beispiel: in der Rezension des Bandes Ur und die Sintflut von Charles Wooley, in dem wichtige Quellenhinweise auf die Romane zu finden sind, stellt sich Mann die Frage: «Was ist Ur? Es ist ‹Ur Kaschdim›, das Ur der Chaldäer, woher Abraham kam, der Mondwanderer», und entwickelt das Stammwort weiter: «Or sive Ur [gehört] zu den Worten, die nicht nur im Hebräischen, sondern auch im arischen Sprachgebiet vorkommen, mit dem lateinischen oriri zusammenhängt und dasselbe bedeutet wie unser deutsches ‚Ur‘»12, wobei er offensichtlich das Ursprüngliche Goethes heraufbeschwört. Es ist ein zyklischer Ablauf, der eine Linearität nicht ausschließt, sondern sich als in ihr enthalten beweist und in einer Steigerung, die den vom Geist der Selbstparodie beherrschten und verwalteten erzählerischen Verlauf kennzeichnet, gemäß den Koordinaten einer nüchternen und gleichzeitig illuminierenden objektiven Mittelstellung, die eben durch eine Ader der Parodie und vor allem des Humors genährt wird, die die Distanz zwischen der Welt der Patriarchen und der modernen Welt verringern sollte. Mann schreibt in einem Brief vom 28. August 1952 an Irita Van Doren: «Tatsächlich fühle ich mich in erster Linie als Humorist – und das ist eine Art von Selbstgefühl, das sich mit dem Olympischen und Pompösen schlecht zusammenreimt. Humor, sollte ich denken, ist ein Ausdruck der Menschenfreundlichkeit und guter Erdenkameradschaft, kurz der Sympa12

Th. Mann, Ur und die Sintflut, in GW X, S. 749.

Ethik und Humanismus in Joseph und seine Brüder 23

thie, welche es darauf absieht, den Menschen ein Gutes zu tun, sie das Gefühl der Anmut zu lehren und befreiende Heiterkeit unter ihnen zu verbreiten»13. So wie das seit den Zeiten des Kröger und der Betrachtungen eines Unpolitischen ausgearbeitete ironische Verhalten eine distanzierte und objektive Darstellung gestattet und die Neigung zur Selbstzerstörung vertreibt, so ist die Parodie ein Kunstgriff, der nicht darauf zielt, Dinge und Traditionen ihres Sinnes zu entleeren, sondern sie gutmütig zu relativieren, um so eine hermeneutische Verbindung mit der Vergangenheit beizubehalten. Durch die Identifizierung mit dem Mythologen, aber auch durch die Relativierung derselben Funktion mittels der Parodie, verfaßt der Autor diese Romane mit dem Anspruch, zu erklären, wie sich die Tatsachen möglicherweise abgespielt haben könnten, oder wie sie sich laut der inneren Wahrheit des Werks wirklich abspielten, indem sie neu erdacht und hermeneutisch aktualisiert werden, denn in jedem von uns ist oder sollte ein Teil von Joseph zugegen sein. Der Auslöser der Aktion ist natürlich Joseph, dessen Schicksal als Auserwählter ihn gleich zweimal in die Tiefe des Brunnens stürzt, wo die Lichtstrahlen der Sterne und des Monds dennoch eindringen, als Beweis des Göttlichen; vor allem aber schafft er die Verbindung zum Leben der Patriarchen und übt eine ständige konstruktive und arbeitsame Wirkung aus, als moralischer Führer, der reich an idealen und materiellen Kräften ist. Joseph, «ein Zelebrant des Lebens», aber auch «ein Künstler, insofern er spielt, nämlich mit seiner imitatio Gottes auf dem Unbewußten»14, «der Liebhaber des Mondes, in der Anthropogenie des Romans der erste Künstler»15 ist eine stilisierte, in gewisser Hinsicht selbstbezogene Projektion seines Autors – siehe die Übereinstimmung mit dem Horoskop –, der das Wesen der Kunst in Mission und Aktion überträgt. Mit der androgynen Symbolik des Monds (der Mond ist Hathor, der reisende Vagabund, das Himmelssymbol Thots, des weißen Pavians, der die Vereinigung von Körper und Geist, von Schönheit und Weisheit fördert, und er ist auch Osiris, Hüter der periodischen Zeitenregelung und der Wiederholung des Unveränderlichen, womit dem wagnerschen und biblischen Prinzip der Wiederholung eine kosmische Universalität verliehen wird), mit der sich sein Liebhaber Joseph identifiziert, vertraut Mann dem Patriarchen die Mission des von Gott Gesandten an, in dem Schönheit und Weisheit, Eros und Sophia, freier und göttlicher Wille vereinigt sind. Joseph, mit seiner leuchtenden androgynen Charakterisierung, verkörpert die Utopie des integralen Menschen, die restitutio ad unum, die in der Entmythologisierung der unerkennbaren Transzendenz die Leere zunichte macht und das Leben mit schöpferischer Fülle, aber auch mit liebevoller Empathie bereichert, mit der Wärme, die einen Adrian Leverkühn im Doktor

13 14 15

Brief an Irita Van Doren vom 28.8.1951, in Briefe, a.a.O, Bd. III, S. 220. Th. Mann, Freud und die Zukunft, a.a.O., S. 925 und 927. Th. Mann, Zum Problem des Antisemitismus, in GW XIII, S. 489.

Fabrizio Cambi 24

Faustus eben nicht erfüllen kann, weil dessen Pakt mit dem Teufel das ganze Leben und die Beziehungen zu den Menschen erstarren läßt. Der Geist der Epik, die sich zeitlich ausbreitet, da die Tetralogie nicht aus Zeitromanen sondern aus Überzeitromanen oder noch besser aus Romanen, in denen die Zeitlichkeit sich verdichtet und vergegenwärtigt, besteht, feiert eine Struktur des Menschlichen, die einer versöhnenden und apollinischen Bestätigung des Lebens entspricht und somit die Dekadenz vermenschlicht als Gegenmittel für die Leere und die Kräfte des Bösen. Die in Lotte in Weimar betonte Konsonanz mit Goethe ist offensichtlich: «Das, was vergänglich ist, bewahrt mein Lied. […] Dies Leben ist nur Wandel der Gestalt, Einheit im Vielen, Dauer in dem Wandel»16. Auf der anderen Seite symbolisiert der Tod den Zugang zur Allgegenwart, wie es im Vorspiel: Höllenfahrt heißt: «Sterben, das heißt freilich die Zeit verlieren und aus ihr fahren, aber es heißt dafür Ewigkeit gewinnen und Allgegenwart, also erst recht das Leben. Denn das Wesen des Lebens ist Gegenwart, und nur mythischer Weise stellt sein Geheimnis sich in den Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft dar»17. Im abschließenden Teil der Höllenfahrt, die ihr Pendant im ideologisch-dichterischen Aufsatz Die Kunst des Romans hat, beschreibt Mann anhand der imminenten Reise in die Vergangenheit, wobei er eine faszinierende Zeitmaschine in Gang setzt, die nötigen erzähltheoretischen Koordinaten: wenn die Vergangenheit die «Lebensluft des Erzählers» ist, so erfordert die Erzählung der Vergangenheit des Lebens als solches die Gegenwartsform. Auf struktureller Ebene bringt dies einen epischen Zug mit sich, der einen «gigantischen Miniaturismus», eine Sorgfalt für das Detail und einen erzählenden und selbstbesinnlichen Gegengesang auf den Roman selbst vereinigen muß. Anfang Januar des Jahres 1943 schließt Mann seine Tetralogie ab und kommentiert in einem Brief an Agnes Meyer vom 5. Januar: «Gestern Mittag habe ich die letzten Zeilen geschrieben: es sind freundlich-menschliche Worte des Helden zu seinen Brüdern, die nach dem Tode des Vaters fürchten, er möchte sich doch an ihnen rächen. […] So ist es also getan und möge dastehen als ein Monument der Beharrlichkeit und des Durchhaltens, denn dergleichen sehe ich eher darin, als etwa ein Monument der Kunst und des Gedankens»18. Auch in Die Entstehung des Doktor Faustus bringt Mann sein Gefühl der Traurigkeit über die finis operae zum Ausdruck. Er scheint zuzugeben, daß die Feier vorüber und das Spiel des kombinierenden Zusammenbaus, der mythisch-parodistischen Fälschungen für immer zu Ende ist. Dies wird durch das Verfassen der Erzählung Das Gesetz, die fast sofort darauf folgt, noch bestätigt. In der fabelhaft ausgeschmückten Darstellung der Patriarchengeschichte, die Mann dazu führt, die Quellen der Genesis und des Exodus exponentiell 16 17 18

Th. Mann, Lotte in Weimar, Frankfurt a.M. 1974, S. 762. Th. Mann, Die Geschichten Jaakobs, a.a.O., S. 53. Brief an Agnes Meyer vom 5.1.1943, in Briefe, a.a.O., Bd. II, S. 288.

Ethik und Humanismus in Joseph und seine Brüder 25

auszudehnen, unterscheidet sich Moses, Hauptfigur der Erzählung Das Gesetz (1943), unter vielerlei Hinsicht von Joseph. Mann selbst betont diese Tatsache, und nicht nur aus Zufall – er hatte dem Projekt zugestimmt, mit anderen Autoren einen Band dramatischer Erzählungen mit dem Titel Die zehn Gebote zu verfassen, um der Verachtung für die moralischen Gesetze während des Krieges Ausdruck zu verleihen –, sondern aufgrund einer Art ‹Übermut›, im Gegensatz zu der fast wissenschaftlichen Genauigkeit der Tetralogie, und der mit Voltairischer Ironie angereicherten Beschreibung. Während Mann in Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans den unbewußten Einfluß der von Heine in Geständnisse dargestellten Figur Moses zugibt, bemerkt er zugleich, daß die Züge seines Moses letztendlich die des Michelangelo widerspiegeln. Abgesehen von den weiteren Quellenangaben, an die Mann erinnert, Die Sendung Moses von Schiller, Israel in der Wüste in Goethes Divan, Moses von Freud und das Buch Wüste und Gelobtes Land von Erich Auerbach, die alle auf eine rationalistische Auslegung des Pentateuch ausgerichtet sind, ist es erstaunlich und wirkt bei genauerer Betrachtung immer überzeugender, wie die Charakterisierung Moses, statt an die Feierlichkeit von Michelangelos Werk, immer mehr an die Eigenschaften des Autors selbst erinnern und somit an seinen Argwohn, seine Schroffheit, seine Widersprüche und Schwächen des Leibes. Die Darstellung des müden Künstlers erinnert an die in der Jugend verfaßte Novelle Schwere Stunde. Moses, der Halbjude, stellt sich konkreter und dramatischer als menschlich heraus, weniger feierlich als der mythische und seiltänzerische «Hochstapler» Joseph, schwerfälliger als die zu vollbringende Mission und ohne die verführerische und charismatische apollinische Aura. Das Gesetz stellt also eine weitere Etappe dar, in der eine offensichtliche und feste Verbindung zu den biblischen Romanen beibehalten und die Mystik auf den mühseligen Weg der Existenz gezwängt wird, wobei mit einer daraus folgenden Grausamkeit und dem Erwachen eines unglücklichen Bewußtseins die Risse einer mythischen und apollinisch bemäntelten Archäologie offenbart werden. Im Gegensatz zu Joseph, der sich bereits selbst als Mythos fühlt, weiß der von Gott berufene Moses nicht, ob er zum Mythos wird.

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß

Die «Wiedergabe des schönen Bildes» Der Briefwechsel 1935–1952 zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Margarete und Edi Kallista

Abdruck der Briefe von Hermann Hesse mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt am Main Abdruck der Briefe von Margarete und Edi Kallista mit freundlicher Genehmigung von E. Schlunze, W.R. Kallista, E. Fischer, E. Hecklau, R. Pöhls (Wolfsburg und Hamburg)

Vorbemerkung Diese Edition1 enthält die chronologisch geordnete Korrespondenz zwischen Hermann Hesse (1877–1962) und dem Ehepaar Margarete (Grete) Kallista (1902–?) und Edi Kallista (1881–1974). Die Autographe von Hesse an Kallista befinden sich im Nachlaß Edi und Margarete Kallista in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Bislang konnten lediglich drei Gegenbriefe der Kallistas an Hesse ermittelt werden; diese liegen im Hesse-Archiv des Deutschen Literaturarchivs Marbach.2 Berücksichtigung findet auch ein im Nachlaß Kallista enthaltener Brief von Hans Popp im Auftrag von Hesse an Kallista. 1

2

Die Autoren danken den Herren Dr. Jochen Meyer und Dr. Ulrich von Bülow (DLA Marbach) sowie Rolf Bolt (Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich) für Auskünfte, Herrn Henrich Pöhls (Hamburg) für Hinweise zu Edi Kallista, Frau Bärbel Reißmann (Stadtmuseum Berlin) für die Einsichtnahme in den künstlerischen Nachlaß Edi Kallista, Herrn Prof. Dr. Roland Berbig (Humboldt-Universität zu Berlin) und Frau Myriam Richter (Universität Hamburg) für Recherchehilfe im DLA Marbach, Frau Nadine Bliedtner (Berlin) für die Mithilfe bei der Vorarbeit, der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz für die Benutzung des Nachlasses Kallista und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Benutzung der Autographen aus dem Hesse-Archiv. Unser besonderer Dank gilt Herrn Volker Michels (Suhrkamp Verlag) für die kritische Durchsicht dieser Edition und für zahlreiche wertvolle Hinweise. Das Schweizerische Literaturarchiv (SLA), Hesse-Archiv, Bern verzeichnet in seinem Inventar der Briefe an Hermann Hesse keine Briefe von Kallista. URL: http://ead.snl.admin. ch/html/hesseb2.html (letzter Zugriff am 11.11.2005).

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 28

Margarete und Edi Kallista schreiben aus Berlin-Hohenschönhausen, Strausberger Straße 12c. Hesse schreibt aus der Schweiz, die Absenderanschrift auf den Umschlägen ist Montagnola bei Lugano, der Poststempel fast immer Zürich, selten Montagnola. Kein Schreiben von Hesse trägt ein vollständiges Datum. Die Chronologie der Korrespondenz lässt sich lediglich aufgrund der Umschläge, sofern solche überliefert und eindeutig den Briefen oder Karten zuzuordnen sind, aufgrund von Briefbeilagen, falls vorhanden, und aufgrund inhaltlicher Bezugnahmen rekonstruieren. Diese Edition, allerdings ohne ausführlichen Kommentar, ist auch in der Datenbank «Kalliope» veröffentlicht unter http://kalliope-portal.de/pdf/hesse_kallista.pdf.

Editorische Notiz Der diakritische Strich über dem «u», die Unterscheidung zwischen Schaft- und Schluß-s sowie die Verdoppelung der Konsonanten «m» und «n» durch einen Geminationsstrich werden aufgelöst. Nach Komma und Punkt folgt in der Edition ein Leerzeichen, auch wenn dieses im Typoskript fehlt. Abkürzungen werden nicht aufgelöst. Die Absätze in den Briefen und Karten werden übernommen, nicht jedoch der ursprüngliche Zeilenfall. Trennungsstriche werden aufgehoben. Sofortkorrekturen werden unkommentiert übernommen.

Der Briefwechsel 1. Margarete Kallista an Hermann Hesse

19. Oktober 1935 Berlin 19. Okt. 1935

Lieber Hermann Hesse, wir wollten Sie auf unserer Tessiner Fahrt im August so gern kennen lernen, haben Sie aber nicht gefunden. Jetzt nach unserer Rückkehr lesen wir «Wanderung»3 und jetzt wissen wir, daß wir nur ½ Stunde von Ihnen entfernt, gewohnt haben. Schade! Schade, auch, daß ich nicht erst siebzehn Jahre bin, dann würden Sie für Ihr Buch «Wanderung» einen nie enden wollenden Schrieb bekommen. So sende ich Ihnen nur ein paar Bildchen,4 weil ich Ihnen irgendetwas schicken muß. 3 4

H. Hesse, Wanderung. Aufzeichnungen. Mit farbigen Bildern vom Verfasser, Berlin 1920, Neuausgabe: Frankfurt a.M. 1975. Dem Brief liegen zehn Fotos bei, die M. und E. Kallista auf ihrer Reise ins Tessin gemacht haben. Die Fotos sind handschriftlich beschriftet: «Auf Hermann Hesse’s Spuren?», «Alte Frau aus dem Maggiatal», «Tessiner Giebel», «Vor Tesserete», «Schade – noch unreif!», «In Larabbia», «Blick auf Larabbia», «Solduno», «Brione», «Hof in Solduno».

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 29

Mein Mann5 malt auch. Er liebt Ihre Aquarelle sehr. Ich lege Ihnen eine Fotografie von unserem schönsten Bild bei. Das ist unser Traumkind «Bärbele».6 Wir grüßen Sie herzlichst! Grete Kallista.7

2. Hermann Hesse an Margarete Kallista

nach 19. Oktober 19358

Haben Sie Dank für Ihren lieben Gruß und für die schönen Aufnahmen,9 die Sie mir so freundlich geschickt haben. Sie haben nichts dadurch verloren, daß Sie mich im Sommer nicht gefunden haben. Ich bin seit längerer Zeit viel krank, und kann nur selten Besuche empfangen. Es freut mich, daß jemand an der «Wanderung» Freude gehabt hat. Sie stammt aus der Zeit, wo ich noch nicht im Tessin10 wohnte, aber des öftern mich in der Gegend von Locarno11 herumtrieb; die Orte, an denen Sie Ihre Aufnahmen gemacht haben, sind mir alle bekannt. Freude habe ich auch an der Wiedergabe des schönen Bildes mit dem Kinde!12 Es wird eine Weile auf meinem Tisch bleiben. Mit Grüßen Ihr H. Hesse

3. Hermann Hesse an Kallista

1. September 193913

Haben Sie Dank für Ihren Gruß u. die Fotos, die originellen Marken betrachte ich mit Vergnügen.14 Ich komme nicht zu einem Brief, bei sehr schlechter Gesundheit u. viel Arbeit, nehmen Sie mit diesem Dank u. freundlichen Gruß vorlieb von Ihrem H Hesse 5 6 7 8 9 10

11 12 13 14

Gemeint ist Edi Kallista. Vgl. die Darstellung von Leben und Werk auf S. 37f. in diesem Beitrag. Ein Druck (Karte) von «Bärbele» liegt dem Brief bei (vgl. Abb. 3). Vgl. die biographische Skizze zu M. Kallista auf S. 38 in diesem Beitrag. Datierung aufgrund dessen, daß dieser Brief die Antwort auf Brief 1 ist. Vgl. Anm. 4. Nach mehrmaligen kurzen Aufenthalten lässt sich Hesse im Mai 1919 endgültig im Tessin, seiner neuen Wahlheimat, nieder. Vgl. H. Schnierle-Lutz, Literaturreisen – Wege, Orte, Texte. Auf den Spuren Hermann Hesses von Calw nach Montagnola, Stuttgart 1991, S. 217–267. Ferien- und Kurort im Tessin, am Nordende des Lago Maggiore gelegen. Vgl. Anm. 6. Datum des Poststempels. Vorangegangener Brief nicht überliefert.

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4. Edi und Margarete Kallista an Hermann Hesse 15

Jahreswechsel 1940/1941

Wer in der Weltgeschichte lebt, Dem Augenblick sollt’ er sich richten? Wer in die Zeiten schaut und strebt, Nur der ist wert, zu sprechen und zu dichten.16 Ihnen verehrter Hermann Hesse ein gesegnetes Neues Jahr! Ihr erg. Edi Kallista + Frau Grete Berlin-Hohenschönhausen, 1940–1941

5. Margarete Kallista an Hermann Hesse

1941

Sehr verehrter Herr Hesse, wir verbinden unseren Dank für die beiden Gedichte17 mit herzlichen Wünschen für das neue Jahr, das Ihnen Gesundheit und frohes Schaffen bringen möge. Margarete Kallista 1941

6. Hermann Hesse an Margarete Kallista

vor 21. Oktober 194118

Verehrte liebe Frau Kallista Danke für Ihr Briefchen.19 Es freut und ehrt mich, daß Sie eins meiner Aquarellchen haben möchten. Da Probesendungen etc jetzt nicht möglich sind, Sie mir auch ins Ausland keine Bezahlung schicken können, will ich es so machen: ich schicke Ihnen dieser Tage ein Blatt20 zu. Wenn es Ihnen nicht gefällt, geben Sie es 15 16 17

18 19 20

Vgl. auch Abb. 1. Aus Zahme Xenien I von Johann Wolfgang von Goethe. Es handelt sich wahrscheinlich um die Gedichte Friede (in Umschlag mit Poststempel 1940, Druck mit Unterschrift, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 2) und Der Heiland (datiert «Weihnacht 1940», Typoskript mit Unterschrift und kurzem Gruß, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 4), die im Nachlaß Kallista liegen. Datierung anhand des Poststempels (21.10.1941) auf dem Umschlag, in dem Hesse das Aquarell (Anm. 20) an Kallista schickt. Nicht überliefert. H. Hesse, ohne Titel, Aquarell, 1924 oder 1927, 23,5 x 24,6 cm, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 3/1, Bl. 2 (Abb. 4).

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 31

mir zurück. Wenn Sie es behalten, so geben Sie dafür das, was Ihnen etwa richtig scheint und Ihren Umständen entspricht. Ich trete diesen Betrag meiner Schwester21 ab, in Form eines Weihnachtsgeschenks, Sie würden ihn dann, statt an mich, senden an Fräulein M. Hesse in Korntal bei Stuttgart, Ludwigsburgerstraße 20. Leider bin ich seit vielen Monaten krank, sonst schriebe ich mehr. Die Mappe mit elf Aquarellen,22 nach der Sie fragen, ist schon seit vielen Jahren vergriffen. Es grüßt Sie herzlich Ihr H. Hesse

7. Hermann Hesse an Margarete Kallista

nach 28. Oktober 194123

Liebe Frau Kallista Schönen Dank für Ihr Brieflein vom 26. Okt.24 Ich danke sehr für Ihre Sendung25 an meine Schwester u. freue mich für sie. Bei uns ist plötzlich auch Schnee gekommen, u. meine Frau bringt mich dieser Tage zur Kur nach Baden.26 Das beiliegende Gedicht ist diesen Sommer entstanden.27 Ein anderes, neues, ließ ich Ihnen kürzlich senden.28 Herzlich Ihr H Hesse Sehr gefällt mir die Reproduktion des Bildes mit dem Platz in Taormina.29

21 22 23 24 25

26

27 28

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Marulla (eigtl. Maria) Hesse (1880–1953), Lehrerin. H. Hesse, Elf Aquarelle aus dem Tessin, München 1921. Datierung auf die Zeit nach dem 28. Oktober 1941, weil Hesse sich in diesem Brief auf die erfolgte Zahlung bezieht (Anm. 25). Nicht überliefert. Gemeint ist die erfolgte Zahlung von 100 RM für das Aquarell. Vgl. den Einzahlungsbeleg (Sig SBB, Nl. Kallista, Mappe 3/1, Bl. 1) über 100 RM vom 28.10.1941, ausgestellt an M. Hesse, Ludwigsburger Straße 20, Korntal bei Stuttgart (20 Rpf. Buchungsgebühr). Von 1923 bis 1952 unternahm Hesse auf Einladung der Brüder Franz Xaver und Josef Markwalder alljährlich im Spätherbst Badekuren im Schweizer Thermalkurort Baden bei Zürich. Vgl. V. Michels, Hermann Hesse. Leben und Werk im Bild. Mit dem «Kurzgefaßten Lebenslauf» von Hermann Hesse, 4., erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1977, S. 151. Hesse bezieht sich sehr wahrscheinlich auf das Gedicht Stufen, das als Typoskript im Nachlaß liegt und 1941 entstanden ist (Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 17–18). Hesse bezieht sich sehr wahrscheinlich auf das Gedicht Kranken-Nacht, das als Typoskript mit Unterschrift, handschriftlich datiert («Oktober 1941»), im Nachlaß liegt (Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 6). Seebad an der Ostküste Siziliens. Bildträger nicht überliefert.

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8. Hans Popp 30 i.A. von Hermann Hesse an Margarete Kallista

20. November 194131

Herr Hesse lässt freundlich grüssen. Er ist seit Oktober wegen großer Erschöpfung bei einem befreundeten Arzt und kann seine Post nicht selbst besorgen. Das Haus in Montagnola bleibt vorerst geschlossen, mindestens noch für Monate.

9. Hermann Hesse an Margarete Kallista

vermutlich Ende November 1941

Liebe Frau Kallista Ihr Briefchen32 fand mich in Baden, wo ich die letzte Zeit, fast ganz im Bett, verbrachte. Wie es gekommen ist, daß jenes Aquarellblatt zwei Daten trägt,33 weiß ich nicht. Es muß ja irgend einen Sinn haben, aber ich müsste es vor Augen haben, um vielleicht darauf zu kommen. Von meinen Büchern ist die Mehrzahl zur Zeit vergriffen, aber mehrere werden jetzt wieder gedruckt und werden also in einiger Zeit wieder käuflich sein.34 Ich bin jetzt seit anderthalb Jahren krank, die Kräfte haben in dieser Zeit sehr abgenommen, da die nicht oder sehr wenig gebrauchten Muskeln und Glieder keine Uebung haben. Doch bin ich geistig noch halbwegs gesund, und kann hie und da, mit großen Pausen, auch noch ein wenig arbeiten. Da ich an den Josef Knecht35 mehr als ein Jahrzehnt gewendet habe, wäre es mir doch lieb, ihn auch fertig zu kriegen. Seien Sie Beide freundlich gegrüsst H. Hesse

30

31 32 33 34 35

Hans Popp, geb. 1903 in Erfurt, gest. 197?. Direktor der Städtischen Berufsschule für Buchdruckerei in München, Direktor der Erasmusdruck GmbH in Berlin. Popp gehörte zu den Freunden, an die Hesse in Sammelsendungen seine nach Deutschland gerichtete Post schickte. In den 1930er Jahren besorgte er Sonderdrucke für Hesse. 1934 schlug er in einem Schreiben an den Stiftungsrat Hesse für den Nobelpreis vor. Vgl. Hermann Hesse. Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben. Ein alphabetisches Namensverzeichnis mit sämtlichen Fundstellen in seinen Werken und Briefen, hrsg. von U. Apel, München u.a. 1989, 2. Bd., S. 769. Datum des Poststempels. Absenderanschrift: «Hans Popp, Berlin SW 61, Lichterfelderstr. 25, in A. H. Hesse». Nicht überliefert. Gemeint ist Hesses Aquarell (Anm. 20). Es trägt die Daten «1924» und «7 Juli 27». Einige der Bücher Hesses, die in Deutschland nicht mehr gedruckt werden durften, wurden in der Schweiz neu aufgelegt. Protagonist in Hesses 1931–1942 entstandenem, 1943 erschienenem Roman Das Glasperlenspiel.

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista

10. Hermann Hesse an Margarete Kallista

5. Januar 1942 36

Verehrte Frau Kallista! Schönen Dank für Ihren Neujahrswunsch!37 Ich hoffe, inzwischen habe auch meine vor Wochen abgegangene Neujahrsgabe («Kleine Betr.»)38 Sie erreicht. Viele Grüße u. Wünsche von Ihrem H Hesse

11. Hermann Hesse an Kallista 39

Dezember 1946 40

Nehmen Sie diese Aufnahme vom Sommer 1946, mit meiner jüngsten Enkelin,41 als Zeichen des Dankes für Ihre Glückwünsche.42 Hermann Hesse

Verzeichnis und Beschreibung der edierten Textträger 1. Margarete Kallista an Hermann Hesse, 19. Oktober 1935, Brief, handschriftlich. Sig. DLA, D: Hesse-Archiv. 2. Hermann Hesse an Margarete Kallista, nach 19. Oktober 1935, Brief, Typoskript mit Unterschrift. Auf dem Textträger: Holzschnitt nach einem Aquarell von Hermann Hesse, 5,8 x 4,5 cm, signiert mit «H.». Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 20–21. 3. Hermann Hesse an Kallista, 1. September 1939, Postkarte, handschriftlich. Auf dem Textträger: Holzschnitt nach einem Aquarell von Hermann Hesse, Schwarz-weiß-Druck, 5,8 x 6,1 cm. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 1. 36 37 38

39 40 41 42

Datum des Poststempels. Nicht überliefert. H. Hesse, Kleine Betrachtungen. Sechs Aufsätze. Als Manuskript gedruckt, Bern 1941 (Privatdruck). Das Exemplar mit Gruß und Hesses Unterschrift ist überliefert. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 3, 2, Nr. 5. Vgl. auch Abb. 5. Datum des Poststempels: XII 1946, Tag nicht lesbar. Druck auf Klappkarte (Abb. 5). Es handelt sich um Sybille Hesse (geb. 1945), die Tochter von Hesses jüngstem Sohn Martin (1911–1968). Glückwunschschreiben (sehr wahrscheinlich zum Literaturnobelpreis 1946) nicht überliefert.

33

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 34

4. Edi und Margarete Kallista an Hermann Hesse, Jahreswechsel 1940/1941, Klappkarte, handschriftlich. Innen links: Foto einer Papierplastik von Edi Kallista, die wahrscheinlich Hesse darstellt. Sig. DLA, D: Hesse-Archiv. 5. Margarete Kallista an Hermann Hesse, 1941, Postkarte, handschriftlich. Abb. Rückseite: «Winterlandschaft» von Wolf Röhricht, Berlin. Sig. DLA, D: Hesse-Archiv. 6. Hermann Hesse an Margarete Kallista, vor 21. Oktober 1941, Brief, Typoskript mit Unterschrift. Auf dem Textträger: Holzschnitt nach einem Aquarell von Hermann Hesse, Schwarz-weiß-Druck, 5,9 x 4,5 cm Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 5. 7. Hermann Hesse an Margarete Kallista, nach 28. Oktober 1941, Briefkarte, handschriftlich. Auf dem Textträger: Farbdruck, 8,5 x 5,0 cm. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 7. 8. Hans Popp i.A. von Hermann Hesse an Margarete Kallista, 20. November 1941, Typoskript ohne Unterschrift. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 8–9. 9. Hermann Hesse an Margarete Kallista, vermutlich Ende November 1941, Brief, Typoskript mit Unterschrift. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 11. 10. Hermann Hesse an Margarete Kallista, 5. Januar 1942, Postkarte, handschriftlich, Auf dem Textträger: Aquarell «Dorf im Tessin. Zeichnung von Hermann Hesse», Farbdruck, 8,5 x 6,2 cm. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 10. 11. Hermann Hesse an Kallista, Dezember 1946, Klappkarte, handschriftlich; mit Bild, schwarz-weiß, 14,0 x 13,8 cm. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 13–14.

Kommentar Margarete und Edi Kallista stehen zwischen 1935 und 1952, also über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren, mit Hermann Hesse in brieflichem Kontakt. Kulminationspunkt der Korrespondenz ist ein Aquarell, das die Kallistas Ende 1941 von Hesse erwerben. Anfang 1942 bricht der überlieferte Briefwechsel ab, Margarete und Edi

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 35

Kallista, beide Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), verlassen 1943 Deutschland und kehren erst nach Kriegsende wieder nach Berlin zurück. Der Briefwechsel aus der Zeit nach 1945 ist nur lückenhaft überliefert. Das gegenseitige persönliche Interesse ist asymmetrisch: Die Kallistas verehren Hesse und sind stolz darauf, ein Aquarell von ihm zu besitzen. Hesse inspiriert Kallista sehr wahrscheinlich auch zu einer künstlerischen Arbeit: Im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich die auf die Neujahrsgrüße an Hesse (Brief 4)43 geklebte Fotographie einer papierplastischen Arbeit, die als Hesse-Porträt identifizierbar sein dürfte (Abb. 1). Hesse hingegen entwickelt den Kallistas gegenüber bestenfalls eine freundliche Gewogenheit, einen persönlicheren Austausch oder gar eine Freundschaft sucht er nicht. Auf sein literarisches und künstlerisches Schaffen nimmt die Bekanntschaft keinen erkennbaren Einfluß und, wie aus der Korrespondenz zu schließen ist, sind sich der Schriftsteller und seine Bewunderer nie persönlich begegnet. Aber gerade unter dem Gesichtspunkt dieser Asymmetrie ist der Briefwechsel interessant, denn an ihm wird exemplarisch Hesses Umgang mit Personen deutlich, die sein Werk verehren. Darüber hinaus dokumentiert der Briefwechsel, wie diese ihre eigene Biografie mit jener der großen Künstlerpersönlichkeit in Berührung bringen, sich auf die Spurensuche begeben und schließlich den persönlichen Kontakt suchen. Für Hesse bleiben die Kallistas Verehrer unter vielen. Die Korrespondenz mit ihnen fällt unter die mehr als 35.000 Schreiben, die an ihn gerichtet sind und die er mit Disziplin und Pflichtbewußtsein, wenn auch nicht ohne zu klagen, zur Kenntnis nimmt und freundlich erwidert.44 Von Interesse ist die Korrespondenz auch hinsichtlich der Medienwahl: Es sind nicht einfach nur Karten und Briefe, die man sich gegenseitig schickt, sondern auch Fotos, Texte (gedruckt oder getippt, eigene und auch fremde), Sonderdrucke und Dokumentationen des künstlerischen Schaffens und der autobiographischen Erlebniswelt. Das Ehepaar Kallista ist in der Hesse-Forschung bislang nicht bekannt.45 Dies liegt nicht in erster Linie daran, daß die beiden Verehrer keinen erkennbaren Einfluß auf 43

44 45

In Verweisen auf die Nummern der edierten Korrespondenz wird der Einfachheit halber ausschließlich der Begriff «Brief» verwendet. Zur exakten Beschreibung der Textträger (Brief, Postkarte, Briefkarte, Klappkarte) vgl. Abschnitt «Verzeichnis und Beschreibung der edierten Textträger». Vgl. Hermann Hesse in seinen Briefen. «Die Antwort bist Du selbst.» 8. Internationales HermannHesse-Kolloquium in Calw 1994, hrsg. von M. Limberg, Bad Liebenzell, Calw 1994. Ursula Apels Namensverzeichnis, die Hesse-Bibliographie von Michael Limberg und auch neueste Forschungsarbeiten verzeichnen den Namen Kallista nicht. Vgl. Hermann Hesse. Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben. Ein alphabetisches Namensverzeichnis mit sämtlichen Fundstellen in seinen Werken und Briefen, hrsg. von U. Apel, 3 Bd., München u.a. 1989–1993. M. Limberg, Jahresverzeichnis der Hermann-Hesse-Literatur. (Jahrgänge 1994–2004, wird jährlich erweitert), URL: http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/publications/limberg.html (letzter Zugriff am 14.1.2006).

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 36

Abb. 1: Edi und Margarete Kallista an Hermann Hesse, Jahreswechsel 1940/1941 Klappkarte mit Foto einer papierplastischen Arbeit, die wahrscheinlich Hesse darstellt Sig. DLA, D: Hesse-Archiv

Abb. 2: Edi Kallista, Selbstportrait («Det bin ick selba, im Spiegel! Schön, wa?»), 25.10.1973 Privatarchiv Henrich Pöhls

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 37

Hesses Leben und Werk genommen haben, sondern wohl vor allem daran, daß die Hesse-Autographe im Nachlaß Kallista bis 2004 nicht erschlossen und daher nicht als solche identifizierbar waren,46 obwohl der Nachlaß bereits seit 1969 in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz liegt. Er trägt die Signatur Nachlaß Kallista, E. u. M. und enthält die Korrespondenz zwischen Hesse und dem Ehepaar Kallista aus den Jahren 1935 bis 1952, Drucke, Fotos, Zeitungsartikel und ein Aquarell von Hesse (Abb. 4). Die Akzessionsnummer 1969.64 dokumentiert, daß der Nachlaß im Jahre 1969, also noch zu Lebzeiten von Edi Kallista, in die Bestände der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin eingegangen ist. Die Quellenlage zu Edi und vor allem zu Margarete Kallista ist spärlich. Aus den wenigen Spuren, die zu ermitteln waren, soll im folgenden eine biographische Skizze zu dem Ehepaar entfaltet werden. Edi (eigtl. Eduard) Kallista (Abb. 2) wurde am 26. November 1881 in Teplice/ Teplitz (heutiges Tschechien) geboren.47 Nach dem Studium an der Fachschule für Grafik und Keramik in Teplice/Teplitz unternahm er Studienreisen nach Italien und war als Maler, Papierplastiker und Gebrauchsgraphiker tätig. In den 1910er und 1920er Jahren gestaltete er für unterschiedliche Firmen Werbeplakate und zusammenlegbare Schaufensterdekorationen, sogenannte Aufsteller. Edi Kallista stand dem Kommunismus nahe. Die DDR-Zeitschrift Kunsterziehung charakterisierte ihn folgendermaßen: «Von der Jugendbewegung fand er im ersten Weltkrieg zum Spartakusbund. Die Nachkriegsjahre führten ihn u.a. auch nach Worpswede, wo er für die Rote Hilfe der KP im Barkenhof Heinrich Vogelers tätig war; abends gestaltete er für Geld Postkarten»48. Im Jahre 1920 trat er in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein; während des Nationalsozialismus war er in der Widerstandsgruppe um Fritz Rossignol (1903–1993) aktiv. Ab 1936 lebte er mit seiner Frau Margarete in Berlin-Hohenschönhausen, Strausberger Straße 12c und damit in der Nachbarschaft von Rossignol, der 1937 eine Wohnung in der Strausberger Straße 12h bezog. Rossignol «schuf im Wohngebiet in B[erlin]46

47

48

Der Nachlaß wurde im Sommersemester 2004 im Rahmen der Lehrveranstaltung «Praxis der Nachlaßerschließung und Edition» (Dozenten: Dr. Toni Bernhart und Dr. Jutta Weber) des Instituts für Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin und des Studiengangs Editionswissenschaft der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin von Studierenden der Germanistik und Editionswissenschaft geordnet und in der Datenbank Kalliope erschlossen, in der auch das Nachlaßregister aufgerufen werden kann. URL: http://www.kalliope-portal.de. Quellen für die biographische Darstellung: Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von der Geschichtswerkstatt der Berliner Vereinigung ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener u. d. Leitung von H.-J. Fieber, Bd. 4, Berlin 2002, S. 20. H. Vollmer, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts, Bd. 3, Leipzig 1956, S. 7. Todesanzeige E. Kallista, Privatarchiv Henrich Pöhls (Hamburg). Kunsterziehung. Zeitschrift für Lehrer und Jugenderzieher, Heft 10/68, 1968, S. 22.

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Hohenschönhausen eine Widerstandsgruppe aus mehreren Familien, organisierte d[ie] Führ[ung] polit[ischer] Gespräche mit Bewohnern d[es] Häuserblocks»49. Kallista verließ 1943 Berlin, «ab Aug[ust] 1943 Aufenthalt in d[er] ehem[aligen] ČSR; Ende 1945 Rückkehr nach D[eutschland]»50. Die näheren Umstände dieser Aufenthaltswechsel sind nicht bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezog er wieder seine Wohnung in Ostberlin und wurde Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In den Nachkriegsjahren beschäftigten sich Edi Kallista und seine Frau Margarete, die auch als Erzieherin arbeitete, mit Kindern. Sie bastelten mit ihnen Papierplastiken und Puppenspiele und waren bald als «Tante und Onkel Bastel»51 bekannt. Edi Kallista starb am 3. Oktober 1974 in Berlin. Sein künstlerischer Nachlaß befindet sich im Stadtmuseum Berlin, Abteilung Theater und documenta artistica, und trägt die Signatur II 71/232ff. Im Jahre 1971 übergab er seine Arbeiten dem Märkischen Museum Berlin (heute Stadtmuseum Berlin) als Geschenk. Die Sammlung umfaßt insgesamt etwa 330 Exponate, darunter Theaterpuppen für Hand- und Stabspiel, Standpuppen und papierplastische Arbeiten. Dargestellt sind dabei als ganze Figuren, Porträts oder Profilreliefs z.B. Maxim Gorki, Karl Marx, Fidel Castro, Marlene Dietrich oder Zarah Leander. Daneben existieren Berliner Charaktere wie Heinrich Zille, eine «Berliner Göre» und Tierdarstellungen. Kallista gestaltete auch Falt- und Klebebeilagen für die Frösi, das seit 1953 monatlich erschienene Pioniermagazin für Mädchen und Jungen der DDR («Frösi» kurz für «Fröhlich sein und singen»), sowie Ausschneide- und Bastelbögen z.B. zum Sandmännchen oder zum Berliner Wappenbären. Werke des Künstlers werden vereinzelt auch heute noch gehandelt. Einige Arbeiten, vor allem Blumenmalereien werden etwa von der Nürnberger Galerie Jacobsa angeboten.52 Im Rahmen einer für Mai 2006 angekündigten Ausstellung über das ehemalige Franka-Kamerawerk in Bayreuth wird ein Werbeplakat zu sehen sein, das Kallista 1915 für das FrankaWerk gestaltet hat.53 Eine aktuelle Verortung des Werkes von Kallista seitens der Kunstwissenschaft gibt es nicht. Zu Margarete (Grete) Kallista ist die Quellenlage äußerst spärlich. Das Geburtsjahr und die Eckdaten ihrer politischen Biographie sind im Lexikon Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945 verzeichnet: Geboren 1902, arbeitete Margarete Kallista als «Sekretärin [und] Hortnerin»54. 1930 oder 1932 erfolgte ihr Eintritt 49 50 51 52 53

54

Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945, Bd. 6, 2003, S. 185f. Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945, Bd. 4, 2002, S. 20. Berliner Zeitung, 4.9.1965. Galerie Jacobsa Nürnberg, URL: http://www.galerie-jacobsa.de (letzter Zugriff am 15.2.2006). Angekündigte Ausstellung über das Franka-Kamerawerk (1909–1967), Bayreuth, im Erzgebirgsmuseum Annaberg-Buchholz, voraussichtlich ab 20. Mai 2006, geöffnet für drei Monate. Kurator: Bernd Arnal. Widerstand in Berlin gegen das NS-Regime 1933 bis 1945, Bd. 4, 2002, S. 21.

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 39

in die KPD. Auch sie gehörte wie ihr Mann der Widerstandsgruppe um Fritz Rossignol an und hielt sich ab August 1943 in der ehemaligen ČSR auf. Ende 1945 kehrte sie nach Deutschland zurück und wurde Mitglied der SED. Margarete Kallistas Sterbedatum konnte bislang nicht ermittelt werden. In Zusammenhang mit der Bekanntschaft zwischen Hesse und dem Ehepaar Kallista ist aber gerade Margarete von besonderer Bedeutung: Sie ist es, an die Hesses Briefe und Karten gerichtet sind, und sie ist es, die an Hesse schreibt, wenngleich immer auch im Namen ihres Mannes. Anlaß für die Kontaktaufnahme zu Hesse scheint Edis künstlerisches Schaffen zu sein, die treibende Kraft aber, die die Korrespondenz in Gang bringt und aufrecht erhält, ist Margarete. Die Briefbekanntschaft zwischen dem Ehepaar Kallista und Hesse beginnt, der Quellenlage nach zu urteilen, im Jahr 1935. Margarete und Edi Kallista unternahmen im August 1935 eine Reise ins Tessin. Ob es der anlaßgebende Zweck der Reise war, auf Hermann Hesses Spuren zu wandeln und den Künstler persönlich kennenzulernen, oder ob sich diese Idee erst während des Aufenthalts im Tessin ergeben hat, läßt sich nicht rekonstruieren. Jedenfalls bedauerte Margarete Kallista am 19. Oktober 1935 in ihrem ersten überlieferten Brief an Hesse (Brief 1), daß sie und ihr Mann Hesse nicht angetroffen hätten und daß sie «[j]etzt», bei der Lektüre von Wanderung,55 erfuhr, «nur ½ Stunde» von Hesse entfernt gewohnt zu haben. Margarete, die zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt war, bedauerte und begrüßte es gleichzeitig auch, «nicht erst siebzehn» zu sein, denn «dann würden Sie für Ihr Buch ‚Wanderung‘ einen nie enden wollenden Schrieb bekommen.» «So», schrieb sie weiter, «sende ich Ihnen nur ein paar Bildchen, weil ich Ihnen irgendetwas schikken muß.» Bei diesen «Bildchen» handelt es sich um die zehn Fotos von der «Tessiner Fahrt», die von Hand beschriftet sind.56 Auch eine gedruckte Karte legte Margarete dem Brief an Hesse bei: «Bärbele» (Abb. 3), eine Arbeit von Edi Kallista, die sie als «unser Traumkind» und «unser[] schönste[s] Bild» bezeichnete. Ob eine reale Person Vorbild für «Bärbele» war, konnte nicht ermittelt werden. Der letzte Absatz beginnt wie mit einem kollegialen Gruß, der den Grund der Kontaktaufnahme illustrieren soll: «Mein Mann malt auch.» In seinem Antwortbrief (Brief 2) bedankte sich Hesse für den «lieben Gruß und für die schönen Aufnahmen», im letzten Satz aber besonders für die Reproduktion von «Bärbele»: «Freude habe ich auch an der Wiedergabe des schönen Bildes mit dem Kinde! Es wird eine Weile auf meinem Tisch bleiben.» Auch darauf, daß er im Sommer nicht anzutreffen war, repliziert Hesse: Das Paar habe «nichts dadurch verloren», er sei «seit längerer Zeit viel krank» und könne «nur selten Besuche empfangen». Laut Volker Michels sind diese «vielen Klagen in Hesses Briefen über seine Gesundheit, die schmerzenden Augen und Überlastung nichts anderes als indirekte 55 56

Vgl. Anm. 3. Vgl. Anm. 4.

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 40

Abb. 3: Edi Kallista, Bärbele, 1934, Karte Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 1, Bl. 1

Bitten um Rücksichtnahme und Appelle, ihn nicht in eine regelmäßige Korrespondenz zu verwickeln.»57 Der Quellenlage nach zu urteilen, erfolgte knapp vier Jahre lang kein Briefwechsel mehr. Erst am 1. September 1939 (Brief 3) bedankte sich Hesse in zwei Sätzen auf einer mit einer kolorierten Zeichnung verzierten Karte58 für einen nicht überlie57

58

V. Michels, «Ich habe täglich zwischen hundert und vierhundert Briefseiten zu lesen.» Hermann Hesse – Vertrauensperson für Zehntausende, in Hermann Hesse in seinen Briefen. «Die Antwort bist Du selbst.»; 8. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw 1994, hrsg. von M. Limberg, Bad Liebenzell, Calw 1994, S. 60–81, hier S. 63. Das Verzieren von Briefen mit kleinen Aquarellen und kolorierten Zeichnungen, die überwiegend Landschaften abbilden, findet sich auch in einer Vielzahl anderer Briefe und Gedichthandschriften Hesses wieder. So kommen zu seinen ca. 3000 Aquarellen im Format 24 x 27 cm noch viele tausend kleinformatige Bilder. Vgl. V. Michels, Hermann Hesse – Spiel mit Farben. Der Dichter als Maler, Frankfurt a.M. 2005. G. Curonici, «Denn ohne Malerei wäre

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 41

ferten Brief, der auch Fotos enthalten haben muß59. Er entschuldigte sich dafür, wegen «schlechter Gesundheit u[nd] viel Arbeit» keinen Brief schreiben zu können. Ein gutes Jahr später, zum Jahreswechsel 1940/1941, schickten «Edi Kallista + Frau Grete» Neujahrsgrüße (Brief 4 bzw. Abb. 1), versehen mit einem Vierzeiler aus Johann Wolfgang von Goethes Zahmen Xenien I und dem Foto der oben erwähnten papierplastischen Arbeit, die wahrscheinlich Hesse darstellt. Falls es sich tatsächlich um Hesse handelt und er sich wiedererkannt hat, erscheint es verwunderlich, daß er nicht in einem Antwortschreiben darauf einging – in anderen Briefen replizierte er sehr aufmerksam auf Briefbeilagen (Briefe 2, 3, 7). Eine Äußerung Hesses zu dem Bild in Brief 4 ist jedenfalls nicht überliefert. Als Erwiderung des Briefes 4 können ein signierter Sonderdrucks des Gedichts Friede 60 und das Typoskript Der Heiland 61 angenommen werden, datiert «Weihnacht 1940», das er mit einem kurzen Gruß versah und unterschrieb – gängige Praxis Hesses, um die zahlreichen Zuschriften bewältigen zu können. Mit einer Postkarte (Brief 5) bedankte sich Margarete Kallista für die Gedichte. Irgendwann im Frühherbst des Jahres 1941 muß Margarete Kallista Interesse an einem Aquarell von Hesse bekundet haben, denn vor dem 21. Oktober (Brief 6) schrieb er: «Es freut und ehrt mich sehr, daß Sie eins meiner Aquarellchen haben möchten.» Hesse kündigte an, «dieser Tage ein Blatt» zu schicken. Wenn es gefällt, bittet er zu «geben», «was Ihnen etwa richtig scheint und Ihren Umständen entspricht», bei Nichtgefallen bittet er das Bild zurückzusenden. Zahlbar sei der Betrag an Hesses Schwester Marulla (1880–1953) in Korntal bei Stuttgart, denn Auslandsüberweisungen seien nicht möglich, gleichzeitig solle der Betrag Hesses Weihnachtsgeschenk für seine Schwester sein. Der Kauf des Bildes, der innerhalb kürzester Zeit vonstatten ging, darf als der Höhepunkt in der Bekanntschaft zwischen Hesse und dem Ehepaar Kallista gewertet werden: Der Briefwechsel war in diesen Wochen am lebhaftesten; Margarete und Edi gelangten in den Besitz eines Werkes des von ihnen verehrten Künstlers. In einem Umschlag62 mit Poststempel vom 21. Oktober 1941 schickte Hesse ein Aquarell ohne Titel (Abb. 4) an Margarete Kallista nach Berlin und am 28. Oktober überwies diese 100 RM an Marulla Hesse.63 Briefe von ihr, in denen sie sich zu

59 60 61 62 63

ich schon lange nicht mehr da». Der Maler Hermann Hesse, in «Höllenreise durch mich selbst.» Hermann Hesse. Siddharta. Steppenwolf, hrsg. von R. Bucher, A. Furger und F. Graf, Zürich 2002, S. 27–42. «Haben Sie Dank für Ihren Gruß u. die Fotos, die originellen Marken betrachte ich mit Vergnügen.» (Brief 3). Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 2. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 4. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 3/1, Bl. 3. Überweisung belegt durch den Einzahlungsbeleg (Sig SBB, Nl. Kallista, Mappe 3/1, Bl. 1) über 100 RM vom 28.10.1941, ausgestellt an M. Hesse, Ludwigsburger Straße 20, Korntal bei Stuttgart (20 Rpf. Buchungsgebühr).

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 42

Abb. 4: Hermann Hesse, ohne Titel, 1924 oder 1927 Aquarell, 23,5 x 24,6 cm Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 3, 1, Bl. 2

Hesses Aquarell äußert, sind nicht überliefert. Auf jeden Fall aber schrieb Margarete am 26. Oktober Hesse einen Brief, denn nach dem 28. Oktober (Brief 7) bedankte sich Hesse für ihr «Brieflein vom 26. Okt[ober]» und für die «Sendung [100 RM] an meine Schwester». Diesem Brief vom 26. Oktober oder einem anderen vorangegangenen Brief von Margarete wird auch «die Reproduktion des Bildes mit dem Platz von Taormina» beigelegen haben, die Hesse «[s]ehr gefällt». Als Gegengabe legte er seinem Brief Typoskripte der Gedichte Stufen 64 («Das beiliegende Gedicht 64

H. Hesse, Stufen, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 17–18.

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 43

Abb. 5: Hesse an Kallista, Dezember 1946 Klappkarte Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 13–14

ist diesen Sommer entstanden.») und Kranken-Nacht 65 («Ein anderes, neues [Gedicht]») bei. In der ersten Novemberhälfte des Jahres 1941 mußte Margarete wieder an Hesse geschrieben haben, denn am 20. November antwortete Hermann Popp66 im Auftrag von Hesse, der zur Kur in Baden bei Zürich weilte und «freundlich grüßen» ließ (Brief 8). In einem nicht datierten Brief (Brief 9) aus Baden, vermutlich Ende November geschrieben, antwortete Hesse persönlich auf eine Frage, die Margarete wohl in einem vorangegangenen Brief gestellt haben mag: Warum das Aquarell zwei unterschiedliche Daten67 trägt, wisse er nicht. Am 5. Januar 1942 schickte Hesse Neujahrsgrüße nach Berlin (Brief 10), dann brach der Briefwechsel ab, bedingt sicher auch durch die Kriegswirren: Margarete und Edi Kallista verließen 1943 Deutschland und kehrten erst 1945 wieder nach Berlin zurück. In der Zeit zwischen 1946 und 1952 standen Hesse und das Ehepaar Kallista wieder in brieflichem Kontakt. Die Korrespondenz aus dieser Zeit68 ist allerdings nur lükkenhaft und durch vereinzelte Dokumente überliefert, deren Chronologie und Zusammenhang nicht mehr vollständig rekonstruierbar sind. Überliefert sind eine Klappkarte von Hesse vom Dezember 1946, vier Briefbeilagen von Hesse und drei 65 66 67 68

H. Hesse, Kranken-Nacht, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 6, Typoskript mit Unterschrift, handschriftlich datiert: «Oktober 1941». Vgl. Anm. 30. Vgl. Anm. 33. Aus der Zeit nach 1952 – sogar bis 1965 und also über Hesses Tod 1962 hinaus – finden sich im Nachlaß Zeitungsausschnitte, die Hesse betreffen, allerdings keine Korrespondenz mehr. Sig. SBB, Mappe 3, 3.

Toni Bernhart, Hanka Loos, Birgit Reiß 44

leere Umschläge69 mit Zürcher Poststempel. Die Klappkarte vom Dezember 1946 (Brief 11 bzw. Abb. 5) zeigt ein Bild von Hesse mit seiner Enkelin Sybille70, Hesse bedankt sich auf dieser Karte für «Glückwünsche», gemeint sind sehr wahrscheinlich Glückwünsche zum Nobelpreis für Literatur, den Hesse im Herbst 1946 entgegennahm. Bei den Briefbeilagen handelt es sich um Typoskripte der Hesse-Gedichte Erinnerung 71 (datiert «Januar 1945») und Skizzenblatt 72 (mit Vermerk «Geschrieben am 5. Dezember 46»); beide Typoskripte tragen Hesses Unterschrift. Eine dritte Beilage ist das Typoskript Schutzgeist 73 von Hans Carossa (1878–1956), es trägt neben dem Titel den typographischen Vermerk «an Hermann Hesse in herzlicher Freude über die längst ihm gebührende Ehrung», das Datum «Rittsteig[,] 28. August 1946», doch keine Unterschrift. Die «gebührende Ehrung» meint sehr wahrscheinlich den Nobelpreis; Rittsteig bei Passau war Carossas Wohnort. Es ist anzunehmen, daß Hesse dieses ihm gewidmete Carossa-Gedicht, maschinenschriftlich vervielfältigt, einem Schreiben an das Ehepaar Kallista beigelegt hat. Bei der vierten Briefbeilage handelt es sich um die Abschrift eines Briefes von Hesse an Thomas Mann vom 19. November 1946.74 Darin bedankt sich der frisch gekürte Nobelpreisträger bei Mann für «Ihren Glückwunsch wie für Ihre Verdienste um das Zustandekommen des Stockholmer Entschlusses». Seine Freude über die hohe Auszeichnung sei durch seinen schlechten Gesundheitszustand etwas gedämpft, doch sei er zuversichtlich, daß die «positiven Seiten des Glücksfalles» bald überwiegen würden. «Sollte es mir mit der Zeit wieder besser gehen, so wird das alles mir noch mancherlei Spaß machen.» Die Abschrift des Briefes, die als Beilage an die Kallistas geht, ist mit dem maschinenschriftlichen Vermerk «Darf nicht ausgeliehen und namentlich von niemand abgeschrieben werden!» überschrieben. Auch in den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach findet sich eine solche Abschrift des Briefes von Hesse an Mann, die allerdings von der Fassung im Nachlaß Kallista geringfügig abweicht.75 Das Original des Briefes wird im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich aufbewahrt und liegt in edierter Fassung vor.76

69 70 71 72 73 74 75 76

Datum des Poststempels: 23.6.1947, 30.6.1947, 12.11.1952. Vgl. Anm. 41. H. Hesse, Erinnerung, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 12. H. Hesse, Skizzenblatt, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 16. H. Carossa, Schutzgeist, Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 23. Sig. SBB, Nl. Kallista, Mappe 2, Bl. 24. Sig. DLA, A: Hesse. Hermann Hesse – Thomas Mann Briefwechsel, hrsg. von A. Carlsson und V. Michels. 3., erweiterte Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 222f. Eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Fassungen des Briefes findet sich als Anhang der Edition Hermann Hesse – Margarete und Edi Kallista. Briefwechsel 1935–1946, URL: http://kalliope-portal.de/pdf/hesse_kallista.pdf.

Der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und dem Ehepaar Kallista 45

Verwendete Abkürzungen Bl. DLA Nl. SBB Sig.

Blatt, Blätter Deutsches Literaturarchiv Marbach Nachlaß Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Signatur

Christoph Gellner

Wie der Buddha in den Westen kam Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg

«Die geistige Welle aus Indien, die in Europa, speziell in Deutschland, seit hundert Jahren wirksam war, ist nun allgemein fühlbar und sichtbar […] die Sehnsucht Europas nach der seelischen Kultur des alten Ostens […] eklatant geworden», diagnostizierte Hermann Hesse 1921 anläßlich der Neuauflage der Reden des Buddha in der Übertragung des Wiener Orientalisten Karl Eugen Neumann, mit dessen von Schopenhauer beeinflußtem Übersetzungswerk der Buddha endgültig in die deutsche Geisteswelt eintrat1. «Europa beginnt an mancherlei Verfallserscheinungen zu spüren, daß die hochgetriebene Einseitigkeit seiner geistigen Kultur […] einer Korrektur bedarf, einer Auffrischung vom Gegenpol her» (XVIII, 261f). Es gebe «einen Buddha, der gerade für unsere Zeit von weit mehr als intellektueller Bedeutung ist», setzte Hesse hinzu. «Sobald wir aufhören, die Lehre Buddhas rein intellektuell zu betrachten und uns mit einer gewissen Sympathie für den uralten Einheitsgedanken des Ostens zu begnügen, sobald wir Buddha als Erscheinung, als Bild, als den Erwachten, den Vollendeten zu uns sprechen lassen, finden wir, fast unabhängig vom philosophischen Gehalt und dogmatischen Kern seiner Lehre, eines der großen Menschheitsvorbilder in ihm. Wer aufmerksam auch nur eine kleine Zahl der zahllosen ‚Reden‘ Buddhas liest, dem tönt daraus bald eine Harmonie entgegen, eine Seelenstille, ein Lächeln und Drüberstehen, eine völlig unerschütterliche Festigkeit, aber auch unerschütterliche Güte, unendliche Duldung. Und über die Wege und Mittel, zu dieser heiligen Seelenstille zu gelangen, sind die Reden voll von Ratschlägen, von Vorschriften, von Winken» (XVIII, 349ff).

1

Vgl. M. v. Brück-W. Lai, Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, München 1997, bes. 200–240; M. Baumann, ‹Importierte› Religionen: das Beispiel Buddhismus, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, hrsg. von D. Kerbs u. J. Reulecke, Wuppertal 1998, S. 513–522; V. Zotz, Auf den glückseligen Inseln. Buddhismus in der deutschen Kultur, Berlin 2000.

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Weltreligionen im Spiegel der Literatur Diese besondere Faszination für die Gestalt Gautama Buddhas – «der Gedankeninhalt der Buddhalehre ist nur eine Hälfte des Werkes Buddhas, die andere», für Hesse weitaus entscheidendere, «ist sein Leben», sein «gelebtes Leben», seine «geleistete Arbeit» (XVIII, 351) – dürfte nicht untypisch sein für die bis in die Romantik zurückreichende, literarisch, wissenschaftlich und philosophisch vielfältige Buddhismusrezeption im Westen, für die Hermann Hesse eine Kristallisationsfigur darstellt2. Durch das Auftreten östlicher Weisheitslehrer im Westen seit Ende des 19. Jahrhunderts, den wachsenden Einfluß der Theosophie und die Herausbildung der ersten buddhistischen Gemeinden und Gruppen in Deutschland, Europa und Amerika seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese weit verzweigte Auseinandersetzung mit asiatischer Religiosität noch zusätzlich verstärkt. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Buddhismusfaszination gerade unter Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, als sich neben Hesse namhafte Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Theodor Lessing und Rudolf Pannwitz, Alfred Döblin, Klabund und Lion Feuchtwanger von östlicher Spiritualität und Weisheit Impulse zur Heilung Europas versprachen3. Gerade im Raum der Literatur bildeten sich dadurch ganz neue geistig-religiöse Amalgame und West-Ost-Legierungen heraus, zeitdiagnostisch aufschlußreiche Metamorphosen des Religiösen, in denen sich die Erschütterungen der Industriemoderne ebenso widerspiegeln wie die Suche nach einer neuen Synthese aus westlicher und östlicher Geistigkeit. Exemplarisch das an geistig-religiösen Krisenprozessen artikulierend, was zahlreiche ihrer Zeitgenossen an sich selber wahrnehmen, sind Schriftsteller mehr als andere Grenzgänger, Seismographen und Vermittler. Gerade Hermann Hesse – das läßt sich über Luise Rinser bis zu Adolf Muschg eindrücklich verfolgen – wurde für viele zum Brückenbauer und interreligiösen Vermittler zwischen Ost und West weit über den Raum der Literatur hinaus. Nicht von ungefähr avancierten Siddhartha und Der Steppenwolf zu Kultbüchern der antiautoritären, jugendlich-studentischen Gegen-, Prostest- und Alternativbewegung Amerikas und bald auch Europas. Es waren kaum zufällig die Rand- und Protestgruppen der Beat- und Woodstock-Generation sowie die Gegner des Vietnamkriegs, die diesen tief im 19. Jahrhundert verwurzelten Dichter neu entdeckten und zu seinen Gedanken aus dem Morgenland griffen. Fanden sie darin doch als Alternativangebot eine für die damalige Gesellschaft neue, asiatisch inspirierte Spiritualität. Die für einen deutschsprachigen Schriftsteller einzigartig grenzüberschreitende ‹weltweite Wirkung› Hermann Hesses wäre ohne seine Beschäftigung mit fernöstlicher Religiosität kaum vorstellbar. Die Faszination 2 3

Eingehend Ch. Gellner, Hermann Hesse und die Spiritualität des Ostens, Düsseldorf 2005. Vgl. C. Günther, Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München 1988; I. Schuster, China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925, Bern 1977.

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buddhistischer Spiritualität im Westen wird denn auch im Medium der Literatur existentiell konkreter und in ihrer poetischen Anschaulichkeit lebendiger nachvollziehbar. Diese Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Weltreligionen, ja, die interreligiösen Begegnungsmodelle im Raum der Dichtung verdienen erschlossen und für den Religionsdialog heute fruchtbar gemacht zu werden, damit ihre Erfahrungen und Inspirationen weiterwirken können.

1. Wie sehr hier individualbiographische und zeittypische Motive, die religiösspirituelle Suche eines Einzelnen mit der gesellschaftlich-kulturellen Krise der westlichen Industriezivilisation zusammenspielen, läßt sich nirgendwo eindringlicher beobachten als an Hermann Hesse (1877–1962). Dem Christentum durch den heillosen Moralismus seiner christlich-pietistischen Herkunft und Erziehung früh entfremdet, in den Religionen Indiens und Chinas dagegen schon früh heimisch geworden – Anregungen hierzu empfing Hesse schon in seinem der Indienmission verbundenen Calwer Elternhaus –, suchte Hermann Hesse zeitlebens die Religion, die ihm entsprach: «In der frühen Jugend gelang es mir nicht, aus Trotz gegen Elterliches, innerhalb der religiös-geistigen Welt, in der ich aufwuchs, mich zu entwickeln, d.h. auf meine Art und ohne Verlust meiner Persönlichkeit ein Christ zu werden», beschreibt Hesse 1923 seinem Schriftstellerkollegen Stefan Zweig gegenüber seinen Weg. «Schon sehr früh wandte ich mich indischen Studien zu, auch indischen Lebensmethoden, und fand innerhalb indischer und chinesischer Bildersprache meine Religion, d.h. die, die mir in Europa zu fehlen schien». (GB II, 52) Dabei fiel Hesses um die Jahrhundertwende einsetzende Beschäftigung mit dem vedantischen und buddhistischen Indien, wenig später auch mit dem taoistischen China kaum zufällig zusammen mit einer breiten Wiederentdeckung alter und neuer Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie nicht zuletzt seine Beziehungen zu den lebens- und kulturreformerischen Suchbewegungen auf dem Monte Verità belegen, bewegte sich Hesse damit im Strom einer weit verbreiteten Suche nach einer neuen Einheit von Rationalität und Mystik, welche abendländische Aktivität mit östlicher Selbsterkenntnis und kontemplativer Versenkung verbinden sollte. Hesses Asienbegeisterung ist denn auch von Anfang an seismographischer Ausdruck eines kultur- und zivilisationskritischen Krisenbewußtseins, das im ‹Osten› eine geistig-religiöse Alternative zur spirituellen Anämie des ‹Westens› gefunden zu haben glaubte: «Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet», lautete Hesses kulturkritische Diagnose noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. «Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist oder Mohammedaner oder was immer. Dieser Eindruck beherrscht alle

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anderen, denn hier zeigt der Vergleich eine Stärke des Ostens, eine Not und Schwäche des Abendlandes […] Überall erkennen wir die Überlegenheit unserer Zivilisation und Technik, und überall sehen wir die religiösen Völker des Ostens noch ein Gut genießen, das uns fehlt und das wir eben darum höher stellen als alle jene Überlegenheiten» (XIII, 353f). Für Hesse war indes klar, «daß kein Import aus Osten uns hier helfen kann, kein Zurückgehen auf Indien oder China, auch kein Zurückflüchten in ein irgendwie formuliertes Kirchenchristentum. Aber es ist ebenso klar, daß Rettung und Fortbestand der europäischen Kultur nur möglich ist durch das Wiederfinden seelischer Lebenskunst und seelischen Gemeinbesitzes […] Daß Religion oder deren Ersatz das ist, was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie unter den Völkern Asiens» (XIII, 354). Bis hin zur Morgenlandfahrt und zum Glasperlenspiel, der großen religionen- und kulturenübergreifenden Synthese aus östlicher und abendländischer Geistigkeit, steht die Religiosität Asiens im Denken und Schreiben Hermann Hesses für eine Quelle der seelischen Erneuerung, ja, der spirituellen Erlösung von den Verstandeseinseitigkeiten der technisch-wissenschaftlichen Vernunftmoderne. Dabei mußte sich Hesse, der von sich behauptete, «im Alter von 30 Jahren Buddhist» gewesen zu sein, «natürlich nicht in einem kirchlichen Sinn» (GB II, 96), erst selber von seinen europaflüchtigen Orientprojektionen lösen, orientalisierende Wunsch- und Zerrbilder verabschieden, ehe er die für ihn entscheidenden Werte östlicher Spiritualität mit denen seiner christlichen Herkunft zu einer ganz eigentümlichen Synthese verbinden konnte: «Meine damalige Philosophie war die eines erfolgreichen, aber müden und übersättigten Lebens, ich faßte den ganzen Buddhismus als Resignation und Askese auf, als Flucht in Wunschlosigkeit, und blieb Jahre lang dabei stehen» (XII, 129). Mehr noch: Hesse mußte erkennen, daß wir Europäer die Quelle spiritueller Erneuerung letztlich nicht in irgendeiner fremden Vergangenheit oder durch die oberflächliche Übernahme angelesener asiatischer Weisheitslehren, sondern allein «in uns selber» finden könnten: «Mein Weg nach Indien und China ging nicht auf Schiffen und Eisenbahnen, ich mußte die magischen Brücken alle selber finden. Ich mußte aufhören, dort die Erlösung von Europa zu suchen, ich mußte aufhören, Europa im Herzen zu befeinden, ich mußte das wahre Europa und den wahren Osten mir im Herzen und im Geist zu eigen machen». Das aber gelang ihm erst, als er «keine Sehnsucht nach dem Palmenstrand von Ceylon und den Tempelstraßen von Benares mehr» hatte, sich nicht mehr wünschte, «ein Buddhist oder Taoist zu sein und einen Heiligen und Magier zum Lehrer zu haben. Dies alles war unwichtig geworden, und auch der große Unterschied zwischen dem verehrten Osten und dem kranken, leidenden Westen, zwischen Asien und Europa, war mir nicht mehr eben wichtig. Ich legte keinen Wert mehr auf das Eindringen in möglichst viele östliche Weisheiten und Kulte». Dadurch erst vermochte dieser christlich erzogene Europäer, wie er 1922 selbstkritisch heraus stellte, im «Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien,

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Veden und Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil hatten […] mit der Indiensucht und der Europaflucht war ich fertig, und jetzt erst klang mir Buddha und das ‚Dhammapaddam‘ und das ‚Tao-te-king‘ rein und heimatlich und hatte keine Rätsel mehr» (XIII, 423).

Begegnung mit dem Volksbuddhismus auf Ceylon Ausschlaggebend dafür war zweifellos die enttäuschende Erfahrung seiner Reise nach Hinterindien (1911), die ihm zwar alle exotischen Orientklischees vor Augen geführt, ihn am Ende jedoch vom indischen Geist mehr getrennt als zugeführt hatte. Jedenfalls offenbarte sich Hesse in Asien nichts von dem, was ihn in seiner Sehnsucht dorthin getrieben hatte, im Gegenteil: «mitten in Kandy unter den Buddhapriestern hatte ich nach dem wahren Indien, nach Indiens Geist, nach einer lebendigen Berührung mit ihm das ungestillte Heimweh wie vorher in Europa» (XIII, 422), bekannte Hesse. Ausgerechnet auf Ceylon, der klassischen «Insel der Buddhalehre», beim Besuch des Tempels mit der Reliquie des heiligen Buddhazahns in Kandy, bis heute eines der bedeutendsten Heiligtümer der buddhistischen Welt, schien Hesse «der schöne, lichte Buddhismus zu einer wahren Rarität von Götzendienst gediehen», neben der «auch der spanischste Katholizismus noch geistig» (XIII, 273) anmutete! Im Reisebuch aus Indien (1913) hat Hesse seinen dramatischen Zusammenstoß mit dem asiatischen Volksbuddhismus erzählerisch gekonnt inszeniert: Ich hatte keinerlei Achtung vor den miserablen Priestern, ich verachtete die Bilder und Schreine, das lächerliche Gold und Elfenbein, aber ich fühlte tief und mitleidend mit den guten, sanften indischen Völkern, die hier in Jahrhunderten eine herrlich reine Lehre zur Fratze gemacht und dafür einen Riesenbau von hilfloser Gläubigkeit, von töricht herzlichen Gebeten und Opfern, von rührend irrender Menschentorheit und Kindlichkeit errichtet hatten. Den schwachen, blinden Rest der Buddhalehre, den sie in ihrer Einfalt verstehen konnten, den haben sie verehrt und gepflegt, geheiligt und geschmückt, dem haben sie Opfer gebracht und kostbare Bilder errichtet – was tun dagegen wir klugen und geistigen Leute aus dem Westen, die wir dem Quell von Buddhas und von jeder Erkenntnis viel näher sind? (XIII, 274)

In seiner Distanz zum volksbuddhistischen Wallfahrtsbetrieb glaubte Hesse sich der reinen Lehre jenes «Buddha, der nicht aus Stein und Kristall und Alabaster war», dem «alles heilig», «alles Gott» war (XIII, 275), der seinen Jüngern darum auch die Reliquien-, ja, jede Verehrung seiner Person verboten hatte, näher als die Träger der gelebten buddhistischen Volksreligion, in deren Tempel man sich «von allem Buddhismus loskaufen» konnte. Als ‹reiner› Buddhismus galt Hesse, was er aus übersetzten Texten und darstellender europäischer Literatur kennen gelernt hatte: einen Urbuddhismus, den man nur mehr in Büchern, kaum aber unter Menschen finden konnte. In Karl Eugen Neumanns poetischer Nachdichtung der Reden Gautamas etwa, die bewußt den Zugang zur unverfälschten, ursprünglichen Lehre Gautamas

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suchte. Gerade daran läßt sich recht gut ablesen, wie stark die westliche Buddhismusrezeption um die Jahrhundertwende, gerade unter den Gebildeten, die überwiegend mit dem Christentum gebrochen hatten, unter indologischen, ja, ideologischen Vorzeichen betrieben wurde. In der Tat wurde die deutsche Buddhismusrezeption am Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen primär denkerisch-intellektuellen Zugang bestimmt, der sich beinahe ausschließlich auf den südlichen Theravada-Buddhismus des Pali-Kanons bezog, den man als urtümlichste Form der Buddhalehre (über-) schätzte. Dementsprechend hob man die hohe Rationalität der Buddhalehre hervor und pries den Buddhismus als Religion der Vernunft, die nicht blinden Glauben fordere, sondern allein auf Einsicht und Erkenntnis beruhe. Kultische Handlungen wie Andachten, Feiern oder Rituale dagegen lehnte man als Degeneration des «ursprünglichen» Buddhismus ab. Ja, man übernahm aus den heiligen Texten die Essenz der Lehre, ohne sich für die in Asien gewachsenen religiösen Ausdrucksformen zu interessieren. Man kann daher von einer Art protestantisch-modernistischer Neuerfindung des Buddhismus sprechen, die trotz ihres Protests gegen das vorherrschende Christentum in hohem Maße auf die protestantische Schriftreligion bezogen blieb4. Die unmittelbare Begegnung mit Vertretern lebendiger buddhistischer Traditionen, die in den Augen der Westler die «authentische» Lehre selbst nicht kannten, ja, von ihr «abgefallen» waren, spielte dagegen kaum eine Rolle.

Hesses indische Dichtung «Siddhartha» 1922, auf dem Gipfel der Fernostbeigeisterung nach dem Ersten Weltkrieg, legte Hesse mit seiner indischen Dichtung Siddhartha die bis heute wirkungsgeschichtlich bedeutendste Erzählung vor, die die Lebensgeschichte des historischen Siddharta Gautama literarisch verarbeitet, ja, in der der Buddha selber begegnet. Hesse sah in diesem Buch, das mittlerweile zu den meistgelesenen literarischen Texten des 20. Jahrhunderts gehört, zu Recht den Versuch, das indisch-meditative Lebensideal und die alte asiatische Lehre von der göttlichen Einheit aller Dinge, das Kernstück aller «östlichen» Lebens- und Weisheitslehren, «für unsere Zeit und in unserer Sprache» (XIX, 13) neu zu formulieren. Das Bemühen, in meditativer Versenkung zur ganzheitlichen Verbundenheit alles Lebens vorzudringen, in einen Bereich, der alles Individuelle, alles Ichhafte, alle Vorstellungen des Unterschiedenseins hinter sich läßt – all das 4

M. Baumann, Deutsche Buddhisten. Geschichte und Gemeinschaften, Marburg 21995, bes. S. 44–59; ders., Culture Contact and Valuation: early German Buddhists and the creation of a Buddhism in protestant shape, in: «Numen 44» (1997), S. 270–295; ders., Buddhism in Europe: Past, Present, Prospects, in: Westward Dharma. Buddhism beyond Asia, Berkeley-Los AngelesLondon 2002, S. 85–105. Zur historischen Einordnung: R. King, Orientalism and the discovery of Buddhism, in: ders., Orientalism and Religion. Postcolonial theory, India and ‹the mystic East›, London-New York 1999, S. 143–160.

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macht ja bis heute die besondere Faszination östlicher Selbsterfahrungs- und Meditationsmethoden wie Zen und Yoga im Westen aus. Kein Wunder, daß Siddhartha unter den Hippies, Blumenkindern und Indienpilgern der 60er und 70er Jahre zu einem Kultbuch der Buddhismusfaszination im Westen wurde. Vermittelt es doch weit mehr über die spirituelle Welt des alten Indien als vergleichbare Sachbücher oder Religionsgeschichten. Dazu tragen insbesondere die stilistisch-syntaktischen Anklänge an die Lehrgespräche des Erleuchteten bei, die unüberhörbar den musikalischmeditativen Nach-Dichtungen Karl Eugen Neumanns folgen, deren liturgisch-ritualisierte Gleichförmigkeit Hesse zu der auffallend starken Rhythmisierung seiner Erzählprosa inspirierte. Wie der Buddha bereits in den heiligen Pali-Texten nicht als eine rein geschichtliche Gestalt, vielmehr als Idealtypus begegnet, so unterstreicht Hesses bewußte Verschmelzung von realistischem Erzählen und meditativer Reflexion nur mehr die Gleichnis- und Modellhaftigkeit seiner «indischen Dichtung». Ja, auf der Folie der enthistorisierten wie idealisierten Buddhabiographie erzählt Hesse darin die Geschichte einer Individuation. Siddhartha ist daher, wie Hesse selber unmißverständlich herausstellte, «ein sehr europäisches Buch, trotz seines Milieus» – gehe doch die Siddharta-Lehre «so stark vom Individuum aus und nimmt es so ernst, wie keine einzige asiatische Lehre es tut» (GB II, 96). Auch wenn Hesses Siddhartha schließlich Gautama Buddha den Rücken kehrt, gibt es dennoch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten: Wie der historische Siddhartha Gautama wendet sich auch Hesses fiktiver Brahmanensohn, gegen den Wunsch seiner Eltern, vom überkommenen vedisch-brahmanischen Ritualismus, Klerikalismus und Traditionalismus ab. Wie der historische Siddhartha Gautama, der jedoch der Kriegerkaste angehörte, sich still und heimlich von zu Hause fortstehlen, ja, fliehen mußte, während Hesses Siddhartha von seinem Vater die Erlaubnis weggehen zu dürfen ertrotzt, schließt er sich dem spirituellen Aufbruch der Samana-, d.h. der Wanderasketen-Bewegung an. Als besitz- und kastenloser Bettelmönch zieht daher auch Hesses Siddhartha zusammen mit seinem Freund Govinda (er erinnert an den ständigen, treuen Begleiter des Buddha, Ananda) «aus dem Haus in die Hauslosigkeit», um dort die Erleuchtung zu finden. So hatte er es aus den heiligen Büchern und den Reden der gelehrten Brahmanen gelernt, ohne dies freilich jemals selbst erfahren zu haben. Anders als in der Buddhalegende gründet Siddharthas Entschluß zum Auszug also nicht im Erleben des Leidens, das gleichsam das Spezifikum buddhistischer Spiritualität darstellt. Vielmehr in tiefen Zweifeln gegenüber der religiösen Überlieferung, deren totes Wissen er authentisch leben und erfahren möchte. Wie der historische Buddha Gautama unterwirft sich denn auch Hesses Siddhartha drei Jahre lang der strengsten Askese und der härtesten Kasteiung. Er wird ein Waldeinsiedler und lernt seinen Körper durch den Geist zu beherrschen. Er lernt Hunger und Durst, Schmerz und Müdigkeit durch Yoga und Meditation zu überwinden, um am Ende festzustellen, daß alle diese Fasten-, Atem- und Versen-

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kungsübungen wenig anderes als Fluchtbewegungen waren, Kunstfertigkeiten der Selbsttäuschung und der Betäubung. Auch Religion, so mußte er erkennen, konnte eine egoistische Besessenheit sein, eine Abhängigkeit von Riten und Ritualen, die den Meditierenden versklaven anstatt ihn zu befreien. Gerade darum kehrt Hesses Siddhartha schließlich auch dem Heils- und Erlösungsweg Gautamas den Rücken. Denn auch in dem vom Buddha gelehrten «edlen achtfachen Pfad der Weisheit», auch in der «Zuflucht zum Buddha, zum Dharma und zum Sangha», den drei Säulen der buddhistischen Religion, deren Schilderung Hesse der berühmten ersten Predigt des Buddha in Benares nachgebildet hat, vermochte Siddharta nur eine Flucht vor dem wahren Selbst zu erkennen: «Wäre ich nun einer deiner Jünger», hält Siddhartha dem Erhabenen entgegen, «so fürchte ich, es möchte mir geschehen, daß nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich zur Ruhe käme und erlöst würde, daß es aber in Wahrheit weiterlebte und groß würde, denn ich hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge, hätte meine Liebe zu dir, hätte die Gemeinschaft der Mönche zu meinem Ich gemacht!» (III, 395). Nein, bei aller Ehrfurcht und Bewunderung, die Siddhartha der bezwingenden Persönlichkeit des Erleuchteten entgegenbringt, ist ihm klar geworden, daß er «alle Lehren und alle Lehrer verlassen», jegliche Lehrer- und Schülerschaft ablehnen muß, denn «keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre!» Auch der Buddha sei ja zur erlösenden Weisheit nur auf dem Weg der individuellen Erfahrung, des eigenen Erlebens gelangt: «Du hast Erleuchtung gefunden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem eigenen Wege […] nicht ist sie dir geworden durch Lehre», lautet Siddharthas entscheidender Einwand. «Keinem, o Ehrwürdiger, wirst du in Worten und Lehre mitteilen und sagen können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner Erleuchtung! Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen». (III, 394)

Das Erlebnis der Einheit Dabei weiß auch die buddhistische wie alle spirituelle Erfahrung, daß nur gelebte, nicht aber gelehrte Weisheit den Suchenden seinem Ziel näher bringt. Es nutzt nichts, sich auf die Weisheit des Buddha zu berufen, sofern man sie nur als Wort und Formel kennt. Als Wegweiser vermag der Buddha letztlich nur für den «verborgenen Lehrer» im eigenen Innern zu sensibilisieren, auf daß ein jeder selber Buddha werde, nicht Buddhist! In der Tat ist Gautama einer der großen Lehrer der Menschheit, und doch will seine Lehre «nur Einladung zum Absprung»5 sein. Leitet sie doch zu einem fortwährenden Sichlösen an: vom Lebensdurst und allem egoisti5

H. Waldenfels, Faszination des Buddhismus. Zum christlich-buddhistischen Dialog, Mainz 1982, S. 77.

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schen Haften ans Dasein, von Gier, Haß und Verblendung, von Besitz und Wissen, ja, allen Bildern und Vorstellungen des Denkens – so wie das vorherrschende Anliegen indischer Religiosität und Spiritualität «nicht die Information, sondern die Transformation»6 ist. Genau besehen tritt dem Buddha in Hesses fiktivem Brahmanensohn Siddhartha ein moderner, europäischer Individualist gegenüber, der aus einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber Dogmen und Institutionen heraus alle irgendwie formulierbaren Lehrmeinungen ablehnt. Ein spirituell Suchender, für den Weisheit, ganz entsprechend dem modernen, erfahrungsbetonten Interesse an Religion und Spiritualität, nur im je eigenen Erleben greifbar wird: durch eine alles verwandelnde Tiefenerfahrung, die sich allen vertrauten sprachlichen Handhaben Gottes, allen überkommenen Worten und Benennungen, ja, der sprachlichen Vermittlung überhaupt entzieht. Hesses Siddhartha bleibt bekanntlich am Fluß bei dem alten Fährmann Vasudeva, der gerade dadurch zu Siddharthas entscheidendem Lehrer wird, daß er keine Lehre hat, ihn nichts in Worten lehrt, Siddhartha vielmehr an den Fluß verweist. In der abgeschiedenen Meditation am Fluß reift in ihm allmählich die Erkenntnis, «was eigentlich Weisheit und das Ziel seines langen Suchens sei. Es war nichts als die Bereitschaft der Seele […] jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können» (III, 458). Der Schritt also von den bewertbaren Gegensätzen in die allen Unterschieden vorausliegende, wertungsfreie Einheit aller Wirklichkeit, wie sie der vielstimmig rauschende Fluß, das taoistische Ursymbol der polaren Einheit alles Lebens, symbolisiert. «Alles war eins, alles war ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alles Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens» (III, 461). Darum also geht es: Um die Grundverbundenheit mit dem Ganzen der Wirklichkeit, um die mystisch-meditative Erfahrung der Einheit alles Seienden, mit der sich für Hesse die Liebe zu allen Dingen und Wesen verbindet, eine alles durchdringende Sympathie: «Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben […] Die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können». (III, 468f.) Mit dieser alles verwandelnden Tiefenerfahrung einer Identität von individuellem und universellem Selbst evoziert Hesses Siddhartha denn auch einen letzten, nur ästhetisch einholbaren religiös-spirituellen Ermöglichungsgrund des Ethischen. Den Wurzelgrund einer Seins-, nicht einer Sollensethik, die aus der intuitiven Erkenntnis einer ungeschiedenen 6

H. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Frankfurt a.M. 1973, S. 19.

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Einheit alles Seienden entspringt. Es geht dabei um eine Form positiver Selbstfindung, die befreit von allem verkrampften Machenmüssen, befreit von allem moralischen Perfektionsstreben und der letztlich verzweifelten Anstrengung des Sich-selber-Durchsetzen-müssens allererst jene Liebe und Gelassenheit gewinnen lässt, aus der das rechte Handeln wie von selbst, spontan, ohne von außen auferlegte Sollensforderungen einfach daraus folgt, daß jeder Mitmensch, ja, alle Lebewesen «meinesgleichen» sind. Govinda empfindet indes sogleich den Widerspruch zur weltüberwindenden Buddha-Lehre. Hatte der Erhabene nicht genau diese Liebe als «Trug» durchschaut? Hatte er nicht davor gewarnt, «unser Herz in Liebe an Irdisches zu fesseln», hat er nicht «Wohlwollen, Schonung, Mitleid, Duldung, nicht aber Liebe» geboten? «Ich weiß es, Govinda», antwortet ihm Siddhartha, «da sind wir mitten […] im Streit um Worte […] Eben darum mißtraue ich den Worten so sehr», erfolgt die Antwort Siddharthas, für Hesse typisch, nicht von des Buddhas gelehrter Theorie, sondern von dessen gelebter Praxis her: Ich weiß, daß ich mit Gotama einig bin. Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht kennen. Er, der alles Menschsein in seiner Vergänglichkeit, in seiner Nichtigkeit erkannt hat, und dennoch die Menschen so sehr liebte, daß er ein langes, mühevolles Leben einzig darauf verwendet hat, ihnen zu helfen, sie zu lehren! Auch bei ihm, auch bei deinem großen Lehrer, ist mir […] sein Tun und Leben wichtiger als sein Reden […] Nicht im Reden, nicht im Denken sehe ich seine Größe, nur im Tun, im Leben. (III, 469).

Keine Frage: Mit Siddharthas emphatischem Bekenntnis zur Liebe, in dem unüberhörbar das Erbe christlich-pietistischer Liebesspiritualität mitschwingt, erweist sich Hesses «indische Dichtung» am Ende als eine einzigartige westöstlich-ökumenische Synthese, ist diese Gedankenverbindung doch in den altindischen Texten höchstens in Andeutungen vorhanden. Der Tübinger Pfarrerdichter Helmut Zwanger (*1942) hat sie in seinem meisterhaft verknappten ‹Buddha›-Gedicht jüngst noch einmal beschworen: Acht Vorgezeichnete Schritte Schon drei Wären genug: Loslassen Schweigen Und Lieben7

Mit der Verkürzung von Gautama Buddhas «edlem achtfachem Pfad» auf drei spielt Zwanger auf einen klassischen Text biblisch-christlicher Tradition an, auf die bekannte Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe des Apostels Paulus, wobei letztere, 7

H. Zwanger, Morgenlicht. Gedichte, Tübingen 2004, S. 95.

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genau genommen, keine buddhistische Entsprechung hat. Zumindest in der Praxis dürften sich christliche Liebe und buddhistisches Mitleid in der Tat berühren. «Indisch aufgefaßt», erläuterte der 70jährige Hesse einem Leser des Siddhartha, «ist mein Nächster nicht nur ‚ein Mensch wie ich‘, sondern er ist Ich, er ist mit mir eins, denn die Trennung zwischen ihm und mir, zwischen Ich und Du, ist Täuschung, Maya. Mit dieser Deutung ist auch der ethische Sinn der Nächstenliebe völlig ausgeschöpft. Denn wer erst eingesehen hat, daß die Welt eine Einheit ist, dem ist ohne weiteres klar, daß es sinnlos ist, wenn die einzelnen Teile und Glieder dieses Ganzen einander wehtun» (AB 254). Hesses Einsatz gegen Haß, Feindschaft und Krieg zwischen den Völkern wurzelt denn auch in der Einsicht, «daß Gott, der Eine, in jedem von uns lebt, daß jeder Fleck Erde uns Heimat, jeder Mensch uns verwandt und Bruder ist, daß das Wissen um diese göttliche Einheit alle Trennung in Rassen, Völker, in reich und arm, in Bekenntnisse und Parteien als Spuk und Täuschung entlarvt» (XV, 613).

2. «Die erste religiöse Ostasien-Welle», erinnert sich die Schriftstellerin Luise Rinser (1911–2002), «kam nach dem Ersten Weltkrieg. Damals schrieb Hermann Hesse sein Buddha-Buch Siddhartha, das einige Jahre später tiefen Eindruck auf mich machte, obgleich ich es eigentlich nicht verstand»8, bezeugt Luise Rinser die kaum zu unterschätzende Wirkung von Hesses ‹indischer Dichtung›. Die Berührung mit östlichen Religionen ist ja bis in die Gegenwart häufig ein literarisch vermitteltes Phänomen. Als «ein alter junger Weiser» sprach Hesse Anfang der 30er Jahre – «die Indiensehnsucht lag in der Luft» – die damals 20jährige an. «Er hatte Erfahrungen, die […] wie ein erlösender Regen über die intellektuell verkarstete europäische Jugend kamen. Er sprach aus, wonach wir uns sehnten».9 Die bayerische Lehrertochter hatte damals bereits die Reden Buddhas (in der Übertragung von Karl Eugen Neumann), auch die Upanishaden und die Bhagavadgita gelesen, ja, schon in ihrer Jugend hatte sie sich «für alles interessiert, was aus dem Fernen Osten stammt»10. Anfang der 30er Jahre, noch ehe sie Hesse und den Buddhismus näher kennen lernte, schrieb sie eine (später vernichtete) Erzählung mit dem Titel Auf dem Dach der Welt, in der sie eine Gruppe junger Menschen, europamüde und zivilisationsüberdrüssig, nach 8

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L. Rinser, Saturn auf der Sonne, Frankfurt a.M. 1996, S. 186. Grundlageninformationen K.-J. Kuschel, Luise Rinser – Religiöse Häutungen einer Schriftstellerin, in: Luise Rinser. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. von H.-R. Schwab, Frankfurt a.M. 1986, S. 203–214; S. Polat, Luise Rinsers Weg zur mystischen Religiosität, Glaube erwachsen aus Erfahrung, Münster 2001. L. Rinser, Den Wolf umarmen, Frankfurt a.M. 1984, S. 334. L. Rinser, Saturn auf der Sonne, a.a.O., S. 87.

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Indien und Tibet aufbrechen, im Himalaja eine Art Kloster gründen und ein spirituelles Leben führen ließ. Da sie den obligaten Eintritt in die NSDAP verweigerte, schied sie 1939 aus dem Schuldienst aus; nach dem Erscheinen ihres ersten Romans Die gläsernen Ringe (1941), dessen dem Glasperlenspiel verwandtes «Bekenntnis zum Geistigen» Hermann Hesse lebhaft begrüßte11, erhielt sie Publikationsverbot, 1944 wurde sie wegen «Wehrkraftzersetzung» u.a. aufgrund antifaschistischer Äußerungen sowie ihres Briefwechsels mit dem «Staatsfeind» Hermann Hesse verhaftet, von der bis zum April 1945 dauernden Haft zeugt ihr heimlich hinter Gittern geschriebenes «Gefängnistagebuch» (1946). Was Luise Rinser an Hesses ‹indischer Dichtung› faszinierte, die bis heute immer wieder neue, vor allem junge Leser anspricht, ist denn auch aufschlußreich für viele Generationen von Hesse-Lesern, die durch das Erzählwerk des Calwer Missionarssohns in Kontakt mit östlicher Geistigkeit kamen. Hesses Siddhartha bezauberte sie, weil darin «das, was ich schon früher bei Schopenhauer gefunden hatte, zu purer Poesie» geworden war: «die Idee vom allumfassenden liebenden Eins-Sein alles Lebenden. Das traf sich auch mit dem, was ich bei den deutschen Mystikern gefunden hatte: die Idee der All-Liebe. Ich verstand, was Hesse seinen Siddhartha, in den Fluß blickend, erleben läßt: das Eine Ganze, das ‹Tat twam asi›, das Schlüsselwort: ‹Das bist du›, nämlich alles: Stein und Pflanze, Tier und Mensch. Diese seine Liebes-Mystik traf mich und war mir verwandt und verband sich mir mit dem Wort von C. G. Jung vom principium individuationis und der Vorstellung vom Leben als dem Pfad der Selbstfindung»12. Ähnlich wie der junge Hermann Hesse gegen die Enge des schwäbischen Pietismus rebellierte, lehnte sich Luise Rinser schon früh gegen die lieblos-autoritäre Erziehung ihres streng katholischen Elternhauses wie die klerikalen Zwänge der Internatsschule auf. Die Ablehnung und Ablösung von der Religion in christlicher Form begünstigte auch bei der im bayerisch-barocken Katholizismus Großgewordenen die Hinwendung zu asiatischer Religion und Spiritualität: «Ich, vom Christentum nicht mehr berührt, griff mit Leidenschaft nach den östlichen Lehren», berichtet sie aus den 30er Jahren. «Verstanden habe ich sie nicht, aber sie sind in mich eingesickert und haben sich mit den Grundwassern meines Wesens vereinigt»13. Gerade ihre seit Anfang der 70er Jahre erschienenen Tagebücher und autobiographischen Schriften, in denen Luise Rinser immer wieder Verbindungslinien von der christlich-abend11 12

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Vgl. den Brief Hermann Hesses an Frau Schell (Luise Rinser) Mitte Mai 1941, in: Luise Rinser. Materialien zu Leben und Werk, a.a.O., S. 265. L. Rinser, Hermann Hesse und die fernöstliche Philosophie, in: Hermann Hesse und die Religion. 6. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw, hrsg. v. F. Bran u. M. Pfeifer, Bad Liebenzell 1990, S. 17–31, Zitat S. 20. Rinser bezieht sich (wie Hesse) auf die in Europa am intensivsten rezipierte Chandogya Upanishad 6.12.1–13.3 (in der Übersetzung von P. Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda, Leipzig 19052, S. 167f). L. Rinser, Den Wolf umarmen, a.a.O., S. 331.

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ländischen Mystik zum Zen-Buddhismus und zum Taoismus zieht, spiegeln ihre langjährige Beschäftigung sowohl mit der mystischen Theologie des europäischen Mittelalters als auch der östlichen Spiritualität. Von großer Bedeutung wurden dabei ihre zahlreichen Reisen nach Indien, Indonesien, Süd- und Nordkorea, nach Japan und China seit Ende der 60er Jahre, kaum weniger bedeutsam ihre Begegnungen mit Lama Anagarika Govinda, Sri Aurobindo und dem Dalai Lama.

Religion als Liebe zum Ganzen Nicht von ungefähr kommt Luise Rinser in ihren Tagebuchnotaten immer wieder auf ein Thema zu sprechen, das sie seit ihrer Jugend beschäftigt, als sie mit 16 oder 17 Jahren erstmals mit Meister Eckart, Amos Comenius und Nicolaus Cusanus in Berührung kam: das Verständnis von Gott und Welt als Grundpolarität, als coincidentia oppositorum, das die Wirklichkeit als große Einheit aller Dinge erfahren läßt. Diese mystische Urerfahrung fand sie im chinesischen Taoismus ebenso artikuliert wie im Hinduismus oder im Zen-Buddhismus, in der jüdischen wie in der islamischen Mystik: «es gibt keine Gegensätze in der Welt, es gibt keine Widersprüche, wir sind es, die sie schaffen; es gibt nur Polaritäten, der Tag ist nicht Tag, wenn es keine Nacht gibt, das Leben ist nicht Leben, wenn es nicht den Tod gibt, eins ist im andern eingeschlossen, eines wird zum andern, alles wandelt sich, das Bleibende ist der Wandel. Kühn zog ich daraus den Schluß, daß auch das Gute nicht sei ohne das, was wir das Böse nennen, und daß Gott nicht sei ohne den Teufel […] Jahrzehnte später gab ich einem meiner Bücher den Titel: Hochzeit der Widersprüche»14. Charakteristisch für das Denken und Schreiben Luise Rinsers ist denn auch ein ökumenischuniversales Einheitsdenken, das, ähnlich wie das Hermann Hesses, weniger das Trennend-Dogmatische als vielmehr das Verbindend-Universale der großen Weisheitsund Religionstraditionen von ‹Ost› und ‹West› betont. Ein religionen- und kulturenübergreifendes Denken in Synthesen und Verflechtungen, das zutiefst von der spirituellen Erkenntnis durchdrungen ist, daß «alle Religionen auf unserem Planeten» letztlich in ein und derselben Grunderfahrung wurzeln: «Sie alle haben die tiefste Tiefe gemeinsam», beschreibt Luise Rinser diesen mystischen Kern aller Religionen mit Hilfe buddhistischer Begrifflichkeit: «das Erlebnis der ‚Leere‘, die wie das ‹Nichts› erscheint, aber in Wirklichkeit die Fülle ist: das ‹Alles›»15. «Alles ist nichts. Nichts ist alles»: Dieser buddhistische Rätsel- und Lebensspruch, den ihr der Abt des südkoreanischen Klosters Bulgugsa mit auf den Weg gab – in Kriegspielzeug (1978) ist der Besuch dieses buddhistischen Klosters im Oktober 1975 eindringlich beschrieben – zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch Luise Rinser autobiographische Schriften. Kaum zufällig begegnet dieses Koan anläßlich 14 15

Ebd., S. 145. L. Rinser, Saturn auf der Sonne, a.a.O., S. 195.

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des Besuchs eines alten Zen-Tempels in Kyoto auf ihrer ersten Japanreise im Mai 1981 wieder: Das ganz große Schweigen habe ich erlebt im Zen-Tempel in Kyoto. Eigentlich habe ich davon geträumt, einem Zen-Meister zu begegnen, aber es gibt ja kaum mehr einen, in Nara sitzt einer, sehr alt, und er ist im Augenblick nicht im Ort. Ich begegne also keinem, nirgendwo und doch: hier im Tempel ist eine unsichtbare Gegenwart von Meistern […] in dieser Mittagsstunde sind keine Touristen da. Ich hocke mich in einen der offenen Räume auf die Bastmatte. Der Raum ist leer. Die große Schiebetür zum Garten hin ist offen […] der Schatten einer Kiefer auf einem moosüberwachsenen Felsen, über den ein Wasser rinnt. Es plätschert sanft und macht die Stille hörbar. Das ist alles. Ja, das ist ALLES. Das ist Zen. Nichts ist Alles, Leere ist Fülle16.

Diese Stille und diesen Frieden erfährt sie ein paar Tage später vor dem großen Buddha im Daibutsu-Tempel noch einmal: «Der Buddha ist nicht einfach groß, er ist riesig, aber er ist dennoch nicht zu groß für den Menschenblick, er hat eben noch Menschenmaß. Das Allzu-Große gibt sich in Menschennähe menschlich. Ein segnender Buddha. In einer katholischen Kirche würde ich mich niederknien. Numen adest. Das Göttliche ist anwesend […] Buddhismus und Christentum sind die Parallelen, die sich im Unendlichen treffen»17. Paradigmatisch schließlich auch die buddhistische Geschichte, mit der Luise Rinser die faszinierende Haltung des Dalai Lama illustriert, der sie 1994 für eine Woche nach Dharamsala, dem Ort seines Exils einlud: Es gibt eine buddhistische Geschichte: Ein Mann wünscht dringend den großen Gautama Buddha zu sehen. Sein Freund sagt: ‚Den kannst du doch nicht sehen, er ist schon lange tot.‘ Ein Dritter sagt: ‚Du kannst ihm begegnen: geh nur hinunter zum Markt, das erste alte Bettelweib, der erste räudige Hund, das ist ER.‘ Er hätte auch sagen können: Schau dich an, du selbst bist ER. Das ist buddhistische Mystik: Alles ist EINS. Alles ist DAS EINE18.

«‹Alles ist Nichts, Nichts ist Alles›, und alles ist unendlicher Liebe wert»19, greift Luise Rinser den für sie so wichtigen Grundgedanken von Hesses Siddhartha wieder auf. Die Erfahrung, daß das, was die Wirklichkeit zutiefst bestimmt, letztlich nur als Liebe, als alles durchdringende Sympathie beschrieben werden kann: «Das große Eine […] ich nenne es Liebe»20. Religion ist daher für Luise Rinser «nichts anderes als Liebe zu allem und jedem, zum Ganzen, zum Sein und allem Seienden».21 Ähnlich wie Hermann Hesse erst tief in die Welt des Buddhismus, Hinduismus und Taoismus eintauchen mußte, ehe er sich seine eigene christliche Herkunft neu aneignen konnte, erschloß sich auch Luise Rinser durch ihre langjährige Beschäftigung mit asiatischer Religion die Bedeutung des Christlichen ganz neu: «Ich habe auf dem Um16 17 18 19 20 21

L. Rinser, Winterfrühling 1979–1982, Frankfurt a.M. 1982, S. 127. Ebd., S. 128–131. L. Rinser, Kunst des Schattenspiels 1994–1997, Frankfurt a.M. 1997, S. 125. Ebd., S. 32. L. Rinser, Saturn auf der Sonne, a.a.O., S. 137. L. Rinser, Wir Heimatlosen 1989–1992 Frankfurt a.M. 1995, S. 15.

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weg über die östlichen Religionen unser abendländisches Christentum neu verstanden», bekannte sie im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel22. «Gott ist die große Sympathie, die alles zusammenhält […] Gott ist nicht mehr ‹da oben›, sondern er ist der Gott-in-mir». Diese universelle Sympathie ist in Jesus aufgeleuchtet: «für mich ist Jesus die Verkörperung der universellen Sympathie»23, umreißt die erklärte «Linkskatholikin» die Jesusdeutung ihres ‹Mirjam›-Romans (1983), zu der sie erst über die anderen Religionen, gerade den Buddhismus fand. Als das «ewige Selbst in mir» ist dieser Christus für Luise Rinser «in allen Religionen zu finden», «man gibt ihm dort nur einen anderen Namen»24. Wenn daher «alle religiösen Menschen auf unsrer Erde ihre Religion wirklich verstehen und leben», ist die in der Friedens- und Ökologiebewegung ebenso wie mit kirchlichen Streitfragen Engagierte überzeugt, «werden wir uns eines Tages mit Notwendigkeit in einem Punkte treffen»25.

3. Wie kaum ein anderes literarisches Oeuvre der zeitgenössischen Literatur ist das des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg (*1934) von der Begegnung mit dem ZenBuddhismus geprägt26. Muschg war 1962 bis 1964 Deutschlektor an der International Christian University in Tokyo, ist seither viele Male in Japan und auch in China gewesen und zählt heute zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zeitdiagnostisch aufschlußreich ist bereits sein in Japan spielender Romanerstling Im Sommer des Hasen (1965), der die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre einsetzende zweite Phase der westlichen Buddhismusrezeption im 20. Jahrhundert spiegelt. Damals fanden «Vorträge und Bücher heutiger Zen-Buddhisten, obenan die von Suzuki, in Europa und Amerika größte Aufmerksamkeit», ja, insbesondere unter der anarchisch-pazifistischen beat generation Kaliforniens grassierte «leider schon so etwas wie eine Zen-Mode» (XX, 359), wie der über 80jährige Hesse anläßlich der Übersetzung des Zen-Klassikers Bi-Yän-Lu seines «japanischen» Vetters Wilhelm Gundert bedauernd feststellt, die bis heute von allen Zen-Übenden studiert wird. 22

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Wir müssen wieder zu den Mythen zurück. Über Mythos, Mystik und die Frage nach Gott. Gespräch mit Luise Rinser, in: K.-J. Kuschel, «Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen». 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, München 1985, S. 24–35, Zitat S. 26. Ebd., S. 28f. Ebd., S. 26. L. Rinser, Mit wem reden, Frankfurt a.M. 1980, S. 58. Vgl. C. Gellner, «Ein Westler kann sich davon viel Segensreiches herausnehmen». Japan und China bei Adolph Muschg, in: Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik, hrsg. von G. Langenhorst, Münster 1998, S. 91–105; ders., Ost-westliche Spiegelungen. Hesse, Brecht, Grass und Muschg, in: «Stimmen der Zeit», 217 (1999), S. 843–854; ders., Weltreligionen im Spiegel zeitgenössischer Literatur. Barbara Frischmuth, Adolf Muschg und die interkulturelle Herausforderung der Theologie, Karlsruhe 2005.

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Es waren dies die ersten Vorboten jener von Alan Watts und Allen Ginsberg initiierten antibürgerlichen Graswurzelrevolution, in deren Folge asiatische Spiritualität und Esoterik, Meditation und Yoga, ja, verschiedenste Vermittlungen buddhistischhinduistisch-taoistischer Geistigkeit unter den Hippies, Blumenkindern und Indienfreaks der amerikanischen Jugend- und Alternativbewegung zu kaum geahnter Popularität gelangten. In den 60er Jahren schlug diese gewaltlos-zivilisationskritische Rebellion im Zeichen des «Wassermanns» in einen von breiteren Gesellschaftsschichten getragenen Protest gegen Wohlstandskonsumismus und Vietnam-Krieg um. In seinem Sog sollte schließlich auch dem Schriftsteller Hermann Hesse eine in der Literaturgeschichte wohl einzigartige ‹weltweite Wirkung› beschieden sein, wie Adolf Muschg 1968 als Gastdozent in den Vereinigten Staaten überrascht zur Kenntnis nahm, betrachtete er Hesses Rolle für die neue Jugendbewegung doch zunächst als «weltweiten Hör- und Übersetzungfehler»27! Im Kontext dieser neu erwachten Asieneuphorie und der Suche nach einem alternativen Lebensstil kennzeichnet die Buddhismus-Rezeption der 60er und 70er Jahre eine bemerkenswerte Schwerpunktverschiebung. Nicht mehr die bis dahin vorherrschende denkerische Rezeption bestimmte den Zugang zum Buddhismus, sondern die meditative Praxis. Der Zen (ab den 80er Jahren schließlich ein Boom des tibetischen Buddhismus, der auf Grund der Exilsituation vieler Lamas im Westen zugänglich wurde) verdrängte die Theravada-Rezeption. Buddhismus war nun nicht mehr nur für das weltanschaulich interessierte Bildungsbürgertum eine religiöse Alternative, sondern zunehmend auch für jüngere Angehörige der modernen Bildungsschichten. Statt der reinen Lehre zählte vor allem deren ganzheitlich-praktische Umsetzung. Die körperlich-spirituelle Erlebbarkeit rückte insbesondere in der psychologisch-erfahrungsbetonten Neuinterpretation des Zen durch Daisetz Suzuki in den Vordergrund. Muschgs Japanroman Im Sommer des Hasen erzählt von sieben japanreisenden westerners mit ganz unterschiedlicher Intention und Bereitschaft zur Begegnung mit der für westliche Augen rätselhaft-faszinierenden Welt Japans28. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die tragikomische Figur des Zen-Enthusiasten Adalbert Huhn, weil Muschg in ihr die bis in die Gegenwart reichende trendigmodisch-oberflächliche Zenbegeisterung erleuchtungshungriger Abendländer trefflich persifliert. Schon von der Schweiz aus hatte Huhn mit einem Schüler des bekannten Zen-Meisters Suzuki Kontakt aufgenommen, der entscheidend dazu beitrug, den 27

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A. Muschg, Hermann Hesse und das Engagement, in: Hermann Hesse und die Politik. 7. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw, hrsg. von M. Pfeifer, Bad Liebenzell 1992, S. 11–24, Zitat S. 12. Zum folgenden: M. Baumann, Deutsche Buddhisten, a.a.O., S. 79–90; H. Dumoulin, Zen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1993; M. von Brück, Zen. Geschichte und Praxis, München 2004, S. 119–123. Vgl. R. Sabalius/I. Yen-Chi Chappuis, Asien in den Romanen von Adolf Muschg, in: Literatur und Linguistik. Germanistische Studien, hrsg. von Z. Mielczarek u.a., Czestochowa 2003, S. 65–89.

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Geist des Zen aus seinen Klöstern in die westliche Moderne des 20. Jahrhunderts zu tragen. So war Huhn bestens in den Zen-Buddhismus eingeführt, ehe er überhaupt japanischen Boden betreten, ja, noch ehe er sich seiner harten Meditationspraxis unterzogen hatte. Die «einfachsten Dinge des Zen, Sitzen, Atmen»29, genügen diesem aufgeblähten Schwarmgeist freilich nicht, er sucht Satori, Erleuchtung, obwohl doch gerade diese «einfachen Dinge» die Hauptsache auf dem Zen-Weg sind. Daß auch sie letztlich überflüssig sind, kann nur einer sagen, der all dies selber praktiziert und erfahren hat. Bei seiner Begegnung mit dem Abt des berühmten ZuiganjiKlosters in Matsushima weiß Huhn denn auch «dem herzlich nickenden alten Mann das Tiefste und Paradoxeste» darzulegen. Seine angelesenen Weisheiten läßt er von einem einheimischen Düngerfabrikanten übersetzen, der davon jedoch so gut wie nichts versteht. Der Zen-Meister, der sich angeregt mit dem Düngermann über dessen Lebensumstände und über Dünger unterhält, läßt Huhn denn auch ausrichten, «He ist happy you are such a good thinking man»30. Die «schalkhaften Segnungen des Zen-Buddhismus»31, damals bereits «ein Snobismus von vorgestern»32, wie Muschgs Erzähler spöttisch anmerkt, bleiben Adalbert Huhn denn auch trotz seiner Bemühungen unzugänglich. Daß der Zen-Buddhismus, mit dem Muschg bereits während seines Studiums in Zürich in Berührung gekommen war, als er sich nicht von ungefähr Hesses «Morgenlandfahrern» zuzählte, für ihn selber weit mehr bedeutet als nur ein poetisch reizvolles Sujet, ist schon seinem 1963 verfaßten Erzählbericht Subjekt und Objekt in Kamakura abzulauschen, der Muschgs Begegnung mit dem damals 93jährigen Daisetz Suzuki in Japan literarisch verarbeitet: Etwas aufregend Waches ist um diesen alten Mann. Wir haben das bei andern Zen-Leuten bemerkt: In wie hohem Grade Inneres Ausdruck gewordenen ist. Da hält kein Geheimnis bedeutungsvoll an sich, kein Zeigefinger tippt an das Glockenspiel und verdumpft seinen Klang […] Im Angesicht Suzukis kann man sich einen Begriff davon machen, wie die berühmten Zen-Meister früherer Jahrhunderte angetreten sind: strahlende Vagabunden waren sie, großgemusterte Schälke, die ihre Lumpen wie ihre Blöße zu Markte trugen, vollständig unbekümmert, ob einer das Herz hatte, Gold hinter dem Schauspiel zu vermuten; und diese wenigen führten sie erst recht am Narrenseil herum, bis einmal einer, stolpernd und atemlos, wie von ungefähr auf den Punkt gelangte, Er Selbst zu sein – um dann als Meister seinerseits Lumpensack und Fallstrick zu erben und lachend auf Menschenfang zu gehen33.

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A. Muschg, Im Sommer des Hasen. Roman, Frankfurt a.M. 1975, S. 127. Ebd., S. 132. Ebd., S. 119. Ebd., S. 121. A. Muschg, Papierwände, Bern 1970, S. 49f.

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Ein Westler kann sich davon viel Segensreiches herausnehmen Befragt nach seiner persönlichen Affinität zum Zen-Buddhismus, in der zweifellos auch viel Projektion mit im Spiel ist, gespeist aus den eigenen negativen Erfahrungen mit dem «patriarchal-autoritären Monotheismus und seiner Gottesfurcht»34, gab Muschg im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel programmatisch zu verstehen, daß für ihn keine andere Religion «so klar wie der Buddhismus hinausweist über untaugliche Alternativen wie Körper – Geist, Körper – Seele, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Keine so sehr die Chance des Durchbruchs dieser Raster eröffnet. Keine weniger das Bedürfnis hat zu missionieren und auszugrenzen. Keine selbstverständlicher Lebenskunst, Lebensweisheit, Liebe zum Alltag, Liebe zur Kleinigkeit und Einzelheit ist»35. Hält man sich vor Augen, was Muschg über die «protestantischen Finsternisse meiner Kindheit»36 äußerte – über die Angstbesetztheit des Gottesbildes seiner Eltern, die Lebens- und Körperfeindlichkeit ihrer reformiert-puritanischen Erziehung, die in Gestalt (selbst-) überfordernder Leistungs-, rigider Perfektionsideale, entfremdender Lebensaufträge und Schuldkomplexe werkgeschichtlich tiefe Spuren hinterlassen hat –, wird zumindest nachvollziehbar, warum er dem Christentum diese «vor allem nötige Lebenskunst» nicht mehr zutraut: «Wenn Lessing recht hat mit seinem Satz, daß man die Religionen an ihren Früchten erkennen soll, dann schmecken die des Christentums bitter – auch für die Christen selbst. ‹Erlöster müßten sie aussehen, damit ich an ihren Erlöser glauben könnte› (Nietzsche). Ich wünsche mir mehr Leibhaftigkeit – die ja solange dem Teufel vorbehalten war. In Japan wäre das Spirituelle konkreter, strahlender. Man erkennt einen Zen-Meister sofort an seinem Lachen. Es ist eine Bewegung des ganzen Körpers»37. Damit ist das für Muschgs Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus entscheidende Stichwort gefallen: die Überwindung des das westliche Denken weithin bestimmenden Dualismus von Subjekt und Objekt, von Kopf und Körper, von Geist und Leib, Ja und Nein. «Gegenständlich, ‹objektiv› zu denken, liegt in unserer Tradition, ist eine teuer erkaufte Gewohnheit des westlichen Bewußtseins. Aber darin erschöpft sich das Repertoire des Bewußtseins glücklicherweise noch lange nicht»38. Im Raum der abendländischen Überlieferung müsse man auf die «Gottlosigkeit der christlichen Mystik» zurückgreifen, «um im Christentum eine vergleichbare Empfindlichkeit zu finden», weiß Adolf Muschg. Auf Angelus Silesius und vor allem auf

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Liebe, Literatur und Leidenschaft. Adolf Muschg im Gespräch mit Meinrad Schmidt-Degenhard, Zürich 1995, S. 28. Des Lebens und Todes froh werden. Über Christentum, Buddhismus und die Funktion der Literatur. Gespräch mit Adolf Muschg, in: K.-J. Kuschel, «Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen», a.a.O., S. 127–139, Zitat S. 132. Liebe, Literatur und Leidenschaft, a.a.O., S. 172. Des Lebens und Todes froh werden, a.a.O., S. 134. Liebe, Literatur und Leidenschaft, a.a.O., S. 161.

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Meister Eckhart, «dessen sogenannte ‹Mystik› darin besteht, die religiöse Erfahrung vom Zwang zum Gegenständlichen zu befreien, um sie – das ist aber mehr buddhistisch als christlich – für die Liebe zu den Gegenständen wirklich frei zu machen»39. «Die Gottlosigkeit der christlichen Mystik war ein Wagnis. Diejenige der buddhistischen Lehre ist eine gelassene Selbstverständlichkeit. ‚Gott‘ ist eine Hilfsvorstellung, von der sich schon der Schüler Buddhas lösen lernt. Er kennt keinen ‚heiligen Namen‘, keinen ‚Herrn Zebaoth‘, auch keine Stellvertreter am Kreuz. Darin sieht er – ohne Polemik – die ungedeckten Reste kindlicher Geborgenheitswünsche oder metaphysischer Sicherheitsbedürfnisse, in einen imaginären Himmel projizierte Größen-Phantasien von Menschen, die mit ihrer Unerlöstheit nichts Besseres anzufangen wissen, als nach einem Erlöser zu schreien. Ein solcher Gott mag ehrwürdig sei wie alles Allzumenschliche. Aber mit Religion hat er noch nichts zu tun. Unsere Kultur ist in so hohem Grade auf einen ‚persönlichen Gott‘, auf die DuForm mit dem Erlöser geprägt, daß wir uns A-Theismus nur irreligiös vorstellen können»40. Anstelle der hochgespannten, überzogenen Erwartungen seiner Jugend – ausgehend von der Lektüre exotischer Abenteuergeschichten seiner längst erwachsenen Halbschwester, die in den 20er Jahren als Hauslehrerin einer schweizerischjapanischen Kaufmannsfamilie in Kyoto lebte41 – sieht Muschg die Herausforderung einer so fremden Kultur wie der Fernostasiens heute darin, daß sie zur «besseren Wahrnehmung des Fremden im Eigenen einlädt. «Des Unselbstverständlichen, sogar Exotischen unserer eigenen kulturellen Annahmen. Wir haben auch nichts so ‚eigen‘ wie wir glauben.» Gerade darauf beruhe «die Chance der Literatur […] Ich sage nicht, daß der japanische Mix nur gut ist», setzt Muschg hinzu, «wahrscheinlich würde ich, wäre ich selbst Japaner, sehr kritisch darauf reagieren. Aber ein Westler kann sich davon viel Segensreiches für sich herausnehmen»42.

Wovon in den Religionen die Rede ist: SEIN 1985, gut zwanzig Jahre nach seiner Begegnung mit dem damals 93jährigen ZenGelehrten Daisetz Suzuki, schildert Muschg im Feuilleton der «Frankfurter Rundschau» seine «Erfahrungen in einem japanischen Zenkloster» im Norden von Tokyo im Mai desselben Jahres. «Also wieder einer, der die Widersprüche seiner Zeitgenossenschaft nicht mehr ausgehalten hat und ins Innerliche abgeschwenkt ist»43, läßt 39 40 41 42 43

Ebd., S. 164. A. Muschg, Wovon mir die Ohren läuten, in: Die Botschaft hör' ich wohl. Schriftsteller zur Religion, hrsg. von M. Gregor-Dellin, Stuttgart 1986, S. 29–39, Zitat S. 35f. A. Muschg, Hansi, Ume und ich, in: ders., Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat. Sieben Gesichter Japans, Frankfurt a.M. 1995, S. 17–25. Liebe, Literatur und Leidenschaft, a.a.O., S. 156.159. A. Muschg, Aussteigen? Einsteigen!, in: «Frankfurter Rundschau», 24. August 1985.

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Muschg einen kritischen Leser ausrufen. «Aussteigen? Einsteigen!» ist denn auch sein Erfahrungsbericht pointiert überschrieben. Gewiß, eine religiöse Erleuchtung habe er auch bei dieser «Zen-Schnupperlehre» nicht erlebt, weist Muschg gleich zu Beginn die Erwartung zurück, hier würden außergewöhnliche Erleuchtungserfahrungen zu Protokoll gegeben: «Wenig Worte darüber, überhaupt keine Worte ‹über›, lieber die noch so bescheidene Tat, die sie erübrigte; das wovon in den Religionen die Rede ist, SEIN». Im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel hatte Muschg erklärt, er wolle «von dem Wort Religion wegkommen und es ersetzen durch das, was es bedeutet: Bindung oder auch Erfahrung des Eingebundenseins», «aus dem Zentrum, dem Schwerpunkt des Daseins zu leben und zu arbeiten». Muschgs Zen-Kloster-Aufsatz macht denn auch eindringlich die Faszination der offensichtlich ganz «anderen» Spiritualität und Religiosität des Buddhismus im Westen anschaulich: Die Arbeit am Buddha in uns selbst ist bei weitem anspruchsvoller und radikaler als jeder Dienst, der unter Druck von außen und oben geleistet wird. Ich empfand sie aber auch als nachbarlich subtiler, menschlich einfallsreicher, sorgfältiger als jede Art Dienst an einem persönlichen, in der Du-Form gedachten und angesprochenen Gott, wie er einem im westlichen Christentum begegnet. Denn im Zen-Kloster gibt es wohl das gemeinschaftliche Sutra-Lesen, das Händefalten nicht nur zum Tischgebet, sondern auch beim Empfang jeder einzelnen Speise, es gibt natürlich die Erfahrungen, die wir auf unserer Seite der Welt ‚religiös‘ zu nennen pflegen. Aber es gibt ausdrücklich keinen Gottesdienst, sowenig wie es einen Sonntag und Werktag gibt. Arbeitstag und Feiertag sind ebenso dasselbe wie Meditation und Arbeit. Wenn Beten und Essen, Zähneputzen und Betteln, Reden und Nicht-Reden nicht aus einem Geist geschehen, geschieht keins von beiden recht. Muß man Religion nennen, was nichts anderes ist als höchste Lebensart, Aufmerksamkeit für den Nächsten und für das Nächste, Anwesenheit dessen, was ich bin, in dem, was ich tue, nicht morgen, nicht jenseits, sondern hier und jetzt? Ich habe im Kloster erlebt, daß Leben mit sich eins sein kann, und mit seinem scheinbaren Gegenteil, dem Tod; und daß es, wenn alles gleich gültig ist, nichts Gleichgültiges mehr gibt. Das ist etwas mehr, als ich bisher in der Politik oder in der Literatur, im Gespräch oder in der Liebe gelernt habe. Ist dazu ein Leben im Zen-Kloster nötig? Bei mir war es nötig: als Erfahrung, daß das Selbstverständliche schwer ist, aber möglich. ‚Der gleiche Wind weht überall‘, steht auf der Kalligraphie, die mir der Meister mitgegeben hat. Ja, wenn wir nur die Nase haben, um die wir uns diesen Wind wehen lassen können: dann besteht die erste kleine Erleuchtung vielleicht darin, ihn vom eigenen Atem nicht mehr zu unterscheiden. Ein innerliches Geschäft? Ganz im Gegenteil. Und dann: warum eigentlich ‹im Gegenteil›?

Muschgs Denken und Schreiben ist unterdessen so tief vom komplementaristischen Einheitsdenken Asiens durchdrungen, daß er dafür den exotischen Oberflächenreiz fernöstlicher Kulissen gar nicht mehr eigens bemühen muß wie noch in seinem Japanroman Im Sommer des Hasen oder seinem Chinaroman Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft (1980). Ohne diesen Hintergrund wird man seine 1000seitige Parzival-Neuerzählung Der Rote Ritter (1993), die Wolfram von Eschenbachs listigkühne Überwindung binären Denkens erzählerisch noch einmal radikalisiert – Muschg legte selber offen, daß es den Roter Ritter ohne die japanischen Zen-Meister

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Suzuki Taisetz, Hisamatsu Shinnichi und Harada Sekkei nicht gäbe44 –, ebenso wenig verstehen wie seinen sperrig-verstörenden Roman Sutters Glück (2001)45. Wobei Muschg im Zuge seiner langjährigen Beschäftigung mit Goethe auch in unserem abendländischen Kulturkreis einen prominenten Vertreter solch polaren, nicht-dualistischen Ganzheitsdenkens fand. Entdeckte Muschg doch gerade im späten Goethe einen Kronzeugen «für die Kultivierung jenes ‹Dritten›, das der Computer ausschließt, weil er im Grunde nur auf zwei zählen kann»46. Für die Zusammengehörigkeit, ja, Gleich-Gültigkeit von Position und Negation, die bei Goethe Natur, Kunst und Menschenweisheit verbindet in der Erfahrung, daß nichts ohne sein Gegenteil gesehen werden kann. Entdeckte Goethe doch im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen die Urpolarität alles Lebens. Ja, in der unerhörtabgründigen Todes- und Lebensmeditation im vorletzten Kapitel der Geschichte des AltGerichtsreporters Emil Gygax, von seiner Ehefrau Ruth Sutter genannt, scheint sich Goethes naturwissenschaftlich fundierter Lebensglaube, der das Sterben als bloßen Übergang, als Verwandlung innerhalb des unaufhörlichen Lebensprozesses betrachtet, mit buddhistischem Nirvana-Denken zu berühren, das ja nicht Nichts ist, sondern im Gegenteil das Alles, das Ganze. Wird doch, mit den Worten Hermann Oldenbergs, im «Erlöschen» das Sein nicht vernichtet, vielmehr findet es «von den der Flammenglut des Leidens befreit den Weg zur kühlern Ruhe leidenloser Seligkeit»47.

Das Dritte ist nicht ausgeschlossen Genau ein Jahr nachdem seine Frau dem Krebstod durch den Gang ins Wasser zuvor gekommen ist, versenkt Sutter die Urne mit Ruths Asche und folgt ihr dann selber nach ins Wasser des Oberengadiner Silsersees. So wie die krebskranke Ruth bewußt «immer weniger werden» wollte (eine Behandlung lehnte sie entschieden ab), wirft auch Sutter seinen Lebensballast ab, will das Zappeln hinter sich bringen, sich an nichts mehr festhalten. Der Romantitel bezieht sich denn auch auf ‹Hans im Glück›: das, was anderen als Besitz gilt, ist ihm bekanntlich eine Last; frei fühlt er sich erst, wenn er alles Erworbene losgeworden ist und wunschlos mit leeren Hän44

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A. Muschg, «Herr, was fehlt Euch?» Zusprüche und Nachreden aus dem Sprechzimmer des heiligen Grals, Frankfurt a.M. 1994, S. 15. Zur ‹Zen-Dimension› des Roten Ritter vgl. C. Gellner, Anstiftung zu einem ganzen Leben. Adolf Muschgs literarisch-theologisches Erzählspiel mit Parzival, in: «Orientierung», 63 (1999), S. 238–242. Hierzu C. Gellner, «… um das Gewicht des Lebens zu tragen». Zum 70. Geburtstag von Adolf Muschg, in: «Orientierung», 68 (2004), S. 87–91. A. Muschg, Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter, Frankfurt a.M. 1986, S. 13. Vgl. ders., Der Schein trügt nicht. Über Goethe, Frankfurt-Leipzig. 2004. Die Reden des Buddha. Lehre, Verse, Erzählungen, übersetzt und eingeleitet von Hermann Oldenberg, Neuausgabe hrsg. von Heinz Bechert, Freiburg-Basel-Wien 2000, S. 17.

Christoph Gellner 68

den dasteht. So war ja auch Ruth nach ihren eigenen Worten der Krebs «zugefallen, wie dem Hans sein Glück. Der mußte nur erst den Goldklumpen und den Schleifstein loswerden, dann wurde ihm leicht»48. So erlebt der tote Sutter den Eintritt in den «ungeheuren Strom» des Lebens als Absage an all das, was gemeinhin unter «Heimat» verstanden wird oder als Stütze dient, tatsächlich aber das Schwimmen im Strom verhindert. Buddhistisch gilt das, was für gewöhnlich als «Heimat» bezeichnet wird, als Fremde und das, was Festigkeit zu verleihen scheint, als Illusion. Gerade so verkehren sich in einer kühnen (fern an Hesses Klein und Wagner erinnernden) Entgrenzungs- und Ganzheitsvision alle geläufigen Begriffe und Redensarten: Was als «Hauslosigkeit» erscheint, wird zur wahren Heimat, was zum Entwurf eines festen Grundes führt, lädt ein zu vertrauendem Loslassen. Ganz unmittelbar findet sich Goethes Vorstellung von der Natur als einer Werkstatt aufgenommen, die ständig neue Formen hervorbringt, ewig neue Gestalten schafft. Ebenso Goethes Zentralbegriff der Bildung, verstanden als Menschenformung, in der sich das Besondere der Individualität nur im Kampf behaupten und durchsetzen läßt, in der Zähigkeit und Widerständigkeit, mit der das Einzelne seine Besonderheit ausbildet und profiliert. Goethes großem Vorbild der Natur, Inbegriff ständiger Neuschöpfung und unablässigen Gestaltwandels, zufolge braucht denn «der trübe Gast auf der dunklen Erde» keine Verwandlung zu scheuen, ja, selbst im Tod das Leben nicht mehr zu fürchten. In der Tat ist wohl selten «das, was sich mit Sprache nicht sagen läßt, das Wortlose, aus dem wir kommen, in das wir gehen und auf das in diesem Roman von Anfang an alles zuläuft, überzeugender Sprache geworden als hier»49. «In dem Zustand, den du Leben nanntest», redet der kommentierende Erzähler den ertrinkenden Sutter an, «bist du unermüdlich gegen diesen Strom geschwommen […]. Du hast dich für und gegen alles mögliche gewehrt […]. Geschrieen hast du, nachdem du geschlagen wurdest, damit du ins Leben zappeltest […] Es kam dir immer wieder vor, als bewegtest du dich mächtig vorwärts. Zugleich beschlich dich auch schon die Angst, nicht vom Fleck zu kommen, schüttelte dich die Panik zurückzufallen. […] Du fürchtetest den Tod, begreiflicherweise, als definitive Zurücksetzung, Kämpfer, der du warst, zum Kampf erzogen, wie man dich hatte. Fängst du aber an, ausgekämpft zu haben, kann der gefürchtete Tod endlich eintreten, durch alle Öffnungen deines Leibes […] dann wirst du durchlässig für das Andere. Dann fängt endlich alles an aufzuhören, zuerst die Redensarten. Und du siehst und weißt, was ist. […] Du bist in diesem Strom immer nur an einer einzigen Stelle geschwommen, an deiner Stelle […] du hast dem Zeitstrom, der dir unaufhörlich entgegenkam, mit deinem Widerstand eine Oberfläche geboten, an welcher er modeln konnte […] Er konnte aus deiner immer etwas dürftigen Ich-Form etwas 48 49

A. Muschg, Sutters Glück. Roman, Frankfurt a.M. 2001, S. 59. A. Isenschmid, Im Traumdämmer des Abschieds. ‹Sutters Glück›, in: «Tagesanzeiger», 18. Januar 2001.

Wie der Buddha in den Westen kam 69

Kunstförmiges oder gar Vorbildliches machen, ein Gemeinschaftswerk von Kraft und Widerstand, von Ich und Nicht, von Nun und Nie. Denn dieser Strom ist eine fließende Werkstatt, in der das, was an Form anfällt, von ihrem dunklen Ursprung an, der Geburt, in jedem Augenblick des Lebens bearbeitet wird, geschliffen, gehöhlt und gebügelt, ausgeschwemmt und beseelt, kurz: es wird gebildet», greift Muschg Goethes Zentralidee der Bildungsgeschichte des Subjekts auf und taucht sie zugleich in östlich-buddhistisches Licht, in diesem gewagten interkulturellen Crossover liegt die Pointe von Sutters Glück. «Erst die ausgewaschene, vom Strom ausgekochte Form bringt ihr Karat an den Tag, die Maserung, das Korn, die geprüfte und prüfenswerte Schönheit, die ihr eingebildet war. […] Wahre Künstler bilden nur, indem sie wegnehmen. Auch von dir wird, wenn der Zeitstrom an dir zehrt, und der Ich-Widerstand schwächer und eigensinniger wird, unendlich viel weggenommen, mehr, als du glaubst, daß an dir gewesen sein kann […] es kommt der Augenblick, wo Tag und Stunde aufhören; und es kommt der Punkt, wo die Stelle des zappelnden Widerstandes, den du der Zeit geboten hast, müde werden darf […] Du brauchst nicht zu fürchten, ins Bodenlose fortgerissen zu werden. Da ist kein Ich mehr zum Fürchten übrig, und ist nichts Bodenloses mehr; da ist aber auch kein Boden, der dich nicht tragen würde; da ist nicht einmal einer, den du je verlassen hättest. […] Nirgendwohin wirst du fortgerissen; es kommt nur der Augenblick, da sich an der Stelle des Stroms, die du eingenommen hast, Kämpfen und Zappeln erübrigt. Die Stelle schließt sich, sie wird zum übrigen gelegt. Und doch ist es möglich, daß sie sich wieder öffnet, für eine neue Geburt»50. Über alle Denkverbote hinweg, die nur Schmerz und Sehnsucht, Wünsche, Ängste und Gefühle angesichts unserer menschlichen Endlichkeit tabuisieren, wagt Muschgs großes Buch eine verwegene Projektion ins Offene. Sie kann sich auf nichts anderes berufen als auf die völlige Ungesichertheit menschlicher Subjektivität und gibt doch gerade so dem Tod das zurück, was wohl das einzig Gewisse an ihm ist: seine Offenheit, das Blochsche «Vielleicht». Der Bootsmann, der den aus dem See gefischten Sutter am Ende an Land rudert und kaum zufällig einen indisch-religiösen Bildungshintergrund erkennen läßt, sagt denn auch: «Es gibt nicht nur Leben und Tod. Es gibt etwas Drittes […] Das Vielleicht»51.

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A. Muschg, Sutters Glück, a.a.O., S. 322–325. Ebd., 331f.

Gabriele Guerra

Byzanz liegt in der Schweiz Hugo Balls Byzantinisches Christentum als theologisch-politische Konstruktion

Als Hugo Ball kurz vor 1923 in München bei Duncker und Humblot sein Buch Byzantinisches Christentum – Drei Heiligenleben veröffentlichte, schrieb der Autor dazu einen bemerkenswerten Kommentar: Das Buch sei als «Ergänzung meines erstes Buches»1 gedacht, also jener Kritik der deutschen Intelligenz, die er zwischen 1918 und 1919 veröffentlicht hatte. Warum nun ein Buch über drei frühchristliche Lebensgänge als Fortsetzung einer Kampfschrift gegen den protestantischen Geist Deutschlands verstanden werden konnte, stellte Hugo Ball umgehend klar: Das Thema, der deutsche Geist, die deutsche Moral, ist dasselbe geblieben. Aber die Geste der Rebellen ist verschwunden. Die politischen (materiellen) Fragen sind ausgeschaltet. Eine berauschte Theologie, eine Gotteslehre, in der ich alle höheren Werte zu sammeln und zu begründen suche, kommt überschwenglich zum Ausdruck. […] Glaubte ich damals an eine ‚Kirche der Intelligenz‘, in der alle Freiheit und Heiligung der Lebenskräfte zu begründen wäre, so bin ich noch heute der Überzeugung. Aber ich sehe diese Kirche nicht mehr außerhalb der Dogmen und Gesetze, die eine uralte Überlieferung der Völker zu glauben vorstellt. Ich sehe sie nicht mehr außerhalb der großkirchlichen Tradition, auf der unser edelster Besitz und unsere besten Güter, auf die die Einheit der Bildung, die Einheit Europas, die Einheit der Moral zurückweist2.

Mit diesem außerordentlich relevanten Zitat baut Hugo Ball nicht nur eine Brücke zwischen der Kritik der deutschen Intelligenz und dem Byzantinischen Christentum; es liefert auch Anhaltspunkte, um den intellektuellen Weg des Autors vom Dada zum mystischen Katholizismus nachzuvollziehen, der ein Unikum in der Geschichte der deutschen Intelligenz darstellt. Zweifellos ist Balls kulturelle und intellektuelle Vita nicht einfach zusammenzufassen, was sich in der Forschung in der Tendenz niederschlägt, sein Leben in mehrere, voneinander unabhängige Stadien aufzuspalten, als da wären die Künstler-Avantgarde, der antiprotestantische Affekt, die Konversion3. Dementgegen scheint jedoch die Aussage von Ball selbst zu stehen, wenn er seine 1 2 3

H. Ball, Notizen zum Versuch eines Vorwortes für das «Byzantinische Christentum», in ders., Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1984, S. 300. Ebd., S. 300–301. Kurt Flasch erinnert z.B. daran, daß das Stichwort «Ball, Hugo» in der Brockhaus-Enzyklopädie genau auf diese Weise betrachtet wird. Vgl. K. Flasch, Von der «Kritik der deutschen Intelligenz» zu Dionysius Areopagita, in B. Wacker (Hg.), Dionysius Dada Areopagita. Hugo Balls und die Kritik der Moderne, Paderborn 1996, S. 113.

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eigene Vergangenheit offenbar wiederspruchsfrei als eine konsequente geistige Entwicklung darstellt. Als roten Faden seines intellektuellen Lebens stellt Ball die Idee einer «Kirche der Intelligenz» dar, die die freien Geister jenseits jeglichen nationalen und ideologischen Zugehörigkeitsgefühls untereinander verbinden soll4. Im Unterschied zu anderen Denkern, die diese Idee letztlich in einem nicht-ekklesiologischen, ja nichtchristlichen Raum gedacht haben, geht Hugo Ball den entscheidenden Schritt in Richtung Katholizismus. Diese Position Balls brachte Hermann Bahr, der bekannte österreichische Schriftsteller und Essayist, in seiner Rezension zur Kritik der deutschen Intelligenz richtig zum Ausdruck: Er glaubt (und mit ihm wohl der ganze Kreis jener deutschen Emigranten) an eine neue Romantik im Geist Franz von Baaders, an eine ‚Konspiration in Christo‘, an eine ‚heilige christliche Revolution‘ und an die ‚unio mistica der befreiten Welt‘, an eine neue Verbindung Deutschlands mit der ‚alten Spiritualität Europas‘, an eine ‚Rebellion‘, aber nicht eine Rebellion ‚gegen die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Gewissens‘, sondern eine Rebellion ‚für die Grundlagen, aus universalem Gewissen‘, an eine soziale ‚Civitas dei‘, an eine Wiedervereinigung der ‚in Bereitschaft stehenden orientalischen Kirche mit der occidentalen‘, er glaubt an Goethe […], an Novalis und Hölderlin, an Beethoven, an Schopenhauer und Wagner, die ‚Kirchenväter der Romantik‘, an Chateaubriand, De Maistre und Lamennais, an Charles Péguy5.

Die «Kirche der Intelligenz», zu der Bahr viele andere Anhänger eines romantischtheologisch bestimmten Denkens zählt, hatte zur Zeit der Kritik vor allem eine soziologische und metaphorische Bedeutung; das Buch beschwor den Gestus des Exodus, mit dem Künstler und Intellektuelle in rebellistischer Manier ihre Distanzierung von der damaligen Gesellschaft und deren Wertesystem betonten. Das Buch 4

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Diese Idee feierte in der frühen Moderne Hochkonjunktur. So antwortete z.B.1913 Georg Lukács auf eine Frage des französischen Germanisten Félix Bertaux nach der Situation der Intellektuellen in Deutschland: «Deutschland hat nie eine Kultur im Sinne von Frankreich oder von England besessen, seine Kultur war, gerade in der besseren Zeit, eine ‚unsichtbare Kirche‘: die Weltanschauung schaffende und alles durchdringende Macht von Philosophie und Religion» (G. Lukács, Briefwechsel 1902–1917, Stuttgart 1982, S. 318). Die Antwort Lukács’ macht deutlich, daß die Kirche der Intelligenz, die auch in gewisser Hinsicht in dem Potsdamer Forte-Kreis auftaucht (vgl. dazu C. Holste, Der Forte-Kreis (1910– 1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992), aus der Wahrnehmung eines politischen Mangels heraus entsteht, die eine Stellvertreterrolle für die deutschen Intellektuellen bereit hält. H. Bahr, Rezension zur Kritik der deutschen Intelligenz, «Neues Wiener Journal», 2. März 1919, jetzt in H. Ball, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 5: Die Folgen der Reformation – Zur Kritik der deutschen Intelligenz, (Hg. v. H. D. Zimmermann), Göttingen 2005, S. 462–463. Hugo Ball selbst faßt in seinem Tagebuch die Anmerkung Hermann Bahrs wie folgt zusammen: «Ich ersehe aus dieser Zusammenstellung, daß ich mir Mühe gab, die verschiedenen europäischen Parolen von gestern und heute zusammenzuschließen und dabei den patriotischen Fehler beging, sie sämtlich in Deutschland, und zwar in einem einzigen Anlauf verwirklicht zu wünschen» (H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, Zürich 1992, S. 236 – Anm. v. 5.VI.1919).

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über das byzantinische Christentum stellte eine weitere Stufe dieser Abstandnahme dar, und der offizielle Eintritt Hugo Balls in die katholische Kirche schien eine logische Konsequenz daraus. Die Konversion Balls war somit kein «willkürlicher, nicht vorbereiteter Schritt, in sich ohne politische und ohne ästhetische Bedeutung»6, sondern der Gipfel seiner intellektuellen Entwicklung. Im Konversionsprozess Balls lassen sich in der Tat die religionspolitischen Aspekte seines Lebens, die Beziehung nämlich zwischen kulturpolitischer Aufgabe und religiösem Glauben, besonders deutlich herausstellen. Der Weg Hugo Balls von der Idee einer ‚Kirchen der Intelligenz‘ hin zu einer ‚Intelligenz der Kirche‘, d.h. zu einem innerkatholischen Zugehörigkeitsgefühl vollzieht sich durch die progressive Annäherung an die frühkatholische Überlieferungsgeschichte und -tradition. In seinem Tagebuch hat er dazu plastisch geäußert: Dies ist mir die liebste Beschäftigung: in den Acta Santorum und in meinen Träumen lesen. Dionysius Areopagita ist die vorgesehene Widerlegung Nietzsches7.

Diese Anmerkung aus dem Jahr 1921, während er an dem Byzanzbuch schrieb, macht zweierlei deutlich: Einerseits baute Hugo Ball ein Selbstbild auf, das sich im Rekurs auf das frühchristliche Modell der außerweltlichen Askese begründete, und andererseits zeigt sich, daß diese Selbstdarstellung durchaus in Verbindung zu vorherigen Ideen stand. Ball las und schrieb im Tessiner Agnuzzo. Wenn er sich also selbst so stilisierte, als ob er in einer Mönchszelle lebte, ist dahinter die Idee der Askese als geistigem Fluchtpunkt zu vermuten – der Askese als einzigem Mittel, die Moderne in ihren Widersprüchen zu verstehen8. Byzantinisches Christentum ist also vielmehr das Zeugnis einer Lebenshaltung als das Ergebnis einer geschichtswissenschaftlichen Forschung. So ist auch Balls Begriffsschöpfung des «Typus des christlichen Theologen» auf den Autor selbst anzuwenden, in dem «Geheimlehrer und Rationalist, Gelehrter und Hohenpriester, Dichter und Apologet» im Selbstverständnis des christlichen Theologen in einer Person zusammenliefen9. Im Umkehrschluß bedeutet dies nun aber nicht, daß sich das Buch allein in einer radikalen Selbstreflexion erschöpft und es ohne Quelle oder Sekundärliteratur auskommen würde: Ganz im Gegenteil bietet das Werk einen riesigen Fußnotenapparat und liest sich wie das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der zeit6 7 8

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K. Flasch, a.a.O., S. 113. H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, zit., S. 284 (Anm. v. 17.IV.1921). Daß die Entstehung des Byzantinischem Christentum und von Siddharta gleichzeitig stattfindet, geht über biographische Parallelen hinaus: Die Freundschaft zwischen Hugo Ball und Hermann Hesse kann auch aus der gemeinsamen Haltung heraus verstanden werden, daß die beiden Autoren ihr Werk als Antwort auf den Verfall ihrer Zeiten konzipiert haben (zu einer chronologischen Übersicht vgl. S. Werner-Birkenbach, Hugo Ball und Hermann Hesse – eine Freundschaft, die zur Literatur wird. Kommentare und Analyse zum Briefwechsel, zu autobiographischen Schriften und zu Balls Hesse-Biographie, Stuttgart 1995, S. 67ff.). H. Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, Zürich-Köln 19582, S. 159.

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genössischen Literatur zu den diskutierten Autoren10. Die patristische Literatur bezieht Ball dabei nicht nur als Entstehungsreferenz des christlichen Glaubens und der Kirche ein, sondern auch als gestaltgewordenen symbolischen Beweis für den Untergang der modernen Welt: Der Sozialist, der Ästhet, der Mönch: alle drei sind sich darüber einig, daß die moderne bürgerliche Bildung dem Untergang zu überantworten sei. Das neue Ideal wird von allen dreien seine neuen Elemente nehmen11.

Die drei Autoren des Byzanzbuches werden als Vorboten dieser gefährlichen Aufgabe betrachtet. So sieht Ball in Joannes Klimax, Dionysius Areopagita und Simeon der Stylit die drei geschichtlich konzipierten ontologischen Stufen einer religiösen Befindlichkeit und zielt damit darauf ab, der christlichen Existenz ein persönliches Profil zu verleihen. Die Zeit der Patristik stellt für Ball also mehr als eine theologische und philosophische Epoche dar. In einer Äußerung vom 31. Juli 1920 listet er programmatisch die Gründe seines weiteren Interesses an ihr auf: «1. Ihre summarische Diskussion der antiken Philosophie, insbesondere des Platonismus. […] 2. Die Stellung zur Willensfreiheit. […] 3. Der Logos ist es, der das Fatum durchbricht. […] 4. Der große universale Schlag gegen den Rationalismus und die Dialektik, gegen den Wissenskult und die Abstraktionen»12. Ball interpretiert die frühchristliche Bewegung somit als Rekapitulation des Platonismus, als Anspruch auf die Willensfreiheit, als Rationalisierung des Logos und als konsequenten Kampf gegen jegliches abstraktes Wissen. Dieses Ergebnis lässt sich noch stringenter zusammenfassen: Die Patristik ist nach Ball jener gedankliche Zusammenhang, der eine «mystische» Perspektive auf den Logos wirft – und zwar im Gegensatz zu einer Tradition, die sich vom Logos distanziert. Mit anderen Worten versteht Ball unter «Mystik» keine Neigung zur esoterischen Verinnerlichung, sondern vielmehr eine Bewegung zur Veräußerlichung des Inneren – eine wichtige Einsicht, um seine theologisch-politische Haltung zu verstehen. Balls Weg zur asketischen Subjektfindung, der sich durch die patristische Literatur zeigt, ist wiederum von politischer Bedeutung: Der Weg von der ästhetischen zur asketischen Subjektivität ist der Weg bis an die Grenzen der politischen Theologie, an der der Versuch, das Himmelreich auf Erden zu gründen, noch einmal einer radikal kritischen Reflexion unterzogen wird. Erst die innere Revolution kann die äußere Revolution vor einem Absturz in den Satanismus und die Dämonie schützen13.

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Vgl. z.B.F. W. Katzenbach, Eine Alternative zum «Übermenschen». Zur Standortbestimmung von Hugo Balls «Byzantinischem Christentum» im geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang, «Hugo-Ball-Almanach» (1987). Vgl. H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, zit., S. 280 (Anm. v. 3.I.1921). Ebd., S. 271f. C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball, Bielefeld 2003, S. 152.

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So liest sich das Buch von Hugo Ball als Versuch, mit einem Bollwerk gegen das dämonische Chaos der Moderne anzugehen, in der die Existenz nur als bloßes praktisches Leben, ja als falsches, wahrheitsfernes Leben und als Leben im Dienste des Bösen seinen Lauf nimmt. Letztlich liegt Balls Schwierigkeit in der Beziehung zwischen Gott und dem Sein in der Welt, die wiederum viele theoretische Probleme mit sich bringt. Die einzige Stütze, die das Zurückfallen ins Falsche und ins Böse verhindern kann, ist die geistige Haltung zum Leben. In einer eröffnenden Bemerkung zum Byzanzbuch schreibt er dazu: Nicht nur die Theologen, auch die Philosophen wußten einmal, daß außerhalb der Askese ein Leben von wahrem Belang nicht möglich sei. Geist haben heißt eine Distanz zum Dasein aufrechterhalten. Die Askese lehrte die Gesetze dieser Distanz14.

Indem Hugo Ball im Byzantinischen Christentum 15 den Versuch unternimmt, durch die Kirchenväter eine politisch-theologische Richtung sichtbar werden zu lassen, verbinden sich politisch programmatische, rein persönliche Aspekte und eine weitere tiefere Absicht: Ball möchte zu den ursprünglichen Quellen des Katholizismus vordringen, um die ursprüngliche Teilung der Religion zwischen einer mystischasketischen und einer mystisch-rationellen Tradition aufzuzeigen und vor diesem Hintergrund umso deutlicher an den Verfallscharakter appellieren zu können, der den Katholizismus zur Entstehungszeit seines Buches prägte. Treffend beschreibt diese Hintergründe Thomas Ruster: «Ball sucht […] den ‚Katholizismus‘ zu definieren, zu dem er sich neu bekannte. Es läßt sich zeigen, daß es diesen Ball’schen Katholizismus zu seiner Zeit nicht gab. Darum zog er sich auf Byzanz zurück»16. Es erklärt sich somit, daß der Gestus des Konvertierten Hugo Balls ein regressiver ist: Da der «wahre» Katholizismus heutzutage nicht mehr existiere, solle man sich auf die ursprünglicheren Quellen aus den frühen Jahren des Christentums berufen, spezifisch auf Byzanz. Was nun bedeutet aber dieser Rückbezug «auf Byzanz»? Nicht nur für Hugo Ball erschien Byzanz in dieser Zeit als der symbolische Ort, an dem die Verbindung zwischen religiöser und politischer Identität des Gemeinwesens am besten darstellbar war. Byzanz wurde somit zum Ort der Verwirklichung des wahren Katholizismus, des konkreten Zusammenseins von Transzendentem und Macht, der wertvolle Hinweisungen für die Verwirklichung eines erneuerten Katholizismus innehatte: Es gibt nur eine Macht – schreibt er in seinen Anmerkungen –, die der auflösenden Tradition gewachsen ist: den Katholizismus. Nicht aber der Katholizismus der Vorkriegszeit und der Kriegsjahre, sondern ein neuer, vertiefter, ein integraler Katholizismus, der sich einschüchtern läßt; der die Interessen verachtet; der den Satan kennt und die Rechte verteidigt, koste es, was es wolle17. 14 15 16 17

H. Ball, Byzantinisches Christentum, zit., S. 25. Vgl. T. Ruster, Hugo Balls «Byzantinisches Christentum» und der Weimarer Katholizismus, in B. Wacker (Hg.), Dyonisius Dada Areopagita, zit., S. 185ff. T. Ruster, a.a.O., S. 189. H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, zit., S. 273 (Anm. v. 9. VIII. 1920).

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Der wahre Katholizismus steht nach Ball für die Gesamtheit aller Gläubigen schlechthin (καθολικο´ ς bedeutet in der Tat «allgemein», «universell»), für den einzigen Ort, wo Wahrheit stattfinden kann. In diesem Sinn ist Katholizismus nur als Orthodoxie und Orthopraxis («wahrer Glauben», «wahres Handeln») zu denken, nur darin besteht seine Heiligkeit18. Nur in Byzanz treffen also die drei entscheidenden Merkmale von Gläubigkeit, der Katholizismus, die Orthodoxie und die Heiligkeit zusammen. Bis zu diesem Punkt ist die Referenz auf Byzanz, die dem Buch zugrunde liegt, vor allem eine historische; doch ist ihr auch ein radikal utopisches Potenzial inne, das diesen Historisierungsprozess problematisiert. Auf diese Perspektive hat der Jesuitenpater Erich Przywara aufmerksam gemacht und sie in einer Rezension zu den Tagebüchern Hugo Balls mit theologisch und kulturellem Feinsinn zum Ausdruck gebracht: Der Katholizismus von Hugo Ball sei «integral», seine theologische Weltanschauung ein «radikaler Augustinismus»19. Durch den Rekurs auf die augustinische Auseinandersetzung zwischen der vollkommenen Civitas Dei und einer vergänglichen Civitas terrena wird «Byzanz» für Hugo Ball letztlich zum symbolischen Ort der Verbindung zwischen heiliger Ordnung und mystischer Weltflucht. Byzanz erscheint als der politische Archimedische Punkt zwischen der Staats- und Kirchenauffassung – einem Konflikt, der über Jahrzehnte Streitigkeiten im frühen Christentum prägte20. Die orientalische Lösung21 weist auf das hin, was in der abendländischen politischen und theologischen Tradition als «Cäsaropapismus» bekannt wurde und durchgehend negativ bewertet wurde. In Byzanz aber bedeutete diese Lösung keine einfache Liquidierung der weltlichen Macht der Kirche, sondern deren raffinierte Umfunktionierung: Wenn nämlich die Autorität des Geistlichen auf den Himmel und die Transzendenz abzielt, hat er die höchste Macht inne; und 18

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Da er von den neuplatonischen Einflüssen auf Dionysius spricht, ist es Ball jedoch wichtig hinzuzufügen, daß er kein Heide sei: «Dionysius ist katholisch, orthodox und heilig» (Byzantinisches Christentum, zit., S. 80). Vgl. E. Przywara, Integraler Katholizismus, «Stimmen der Zeit», Mai 1927 [jetzt in Id., Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927, Augsburg 1929, S. 133f.]. Es wäre in diesem Sinn interessant, eine Geschichte der Faszination des Orients zu schreiben – als Faszination nämlich für eine geistig-politische Ordnung anderer Art, die das Byzanzbuch von Hugo Ball verkörpert. Reizvoll in dieser Hinsicht sind die Schlußfolgerungen von Gilbert Dragon, Empereur et prêtre. Ètude sur le «césaropapisme» byzantin, Paris 1996 (IX. Kapitel, «Le ‚césaropapisme‘ et la théorie des ‚deux pouvoirs‘»). Nach Dragon konkretisiert sich die politische Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident in der Auseinandersetzung zwischen Cäsaropapismus und Theokratie, hinter der der theoretische Widerspruch zwischen universeller und nationaler Kirche steckt: «L’aporie politique ‚prêtre et roi‘‚ ‚prêtre ou roi‘ est l’un des problèmes fondamentaux de l’humanité, mais ses solutions historiques ne sont jamais que les avatars d’acculturations diverses» (S. 329). «Der Streit zwischen Kirche und Kaiser hat dann ein Ende, einfach weil die Kirche an die Stelle des Kaisers tritt» (H. Berkhof, Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der Entstehung der byzantinischen und der theokratischen Staatsauffassung im vierten Jahrhundert, Zürich 1947, S. 141–142).

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wenn der Kaiser sich illegitimer Weise in religiöse Angelegenheiten mischt, wird die Rolle der Kirche noch bedeutender22. Genau darum geht es bei Hugo Ball – und genau daher kommt die kulturpessimistische Färbung seiner Stellungnahmen23: Die Sehnsucht nach einer hierarchisch und mystisch bestimmten Welt impliziert für ihn sowohl den Anspruch auf eine höhere Legitimität der Intellektuellen als auch die pessimistische Verweigerung jeglicher politischen und rationellen Existenz. Letztlich ist die Ball’sche «Kirche der Intelligenz» somit das Sinnbild der geistigen Versuchung zur Macht, die die deutsche Intelligenz in einer Doppelbewegung prägte: die Erhöhung geistiger Qualitäten ging mit einer Herabsetzung weltlicher politischer Werte einher. Es ist diese Umwandlung einer geistigen in eine politische Qualität, die die theologisch-politische Besonderheit des Byzanzbuches ausmacht, und sie zeigt sich vor allem in der Angelologie. So nutzt Ball die Dreigliederung zwischen kirchlicher Hierarchie, mystischer Theologie und himmlischer Hierarchie, die das Denken von Dionysios Areopagita bestimmt, für eine Lauda des kirchlichen Priestertums und lobt vor allem die Bischöfe und die Erzbischöfe als «Hierarchen»: Der Hierarch ist göttlich und von Gott bewegt. Er ist gleich den Aposteln und Propheten Verkünder der göttlichen Gerichte und Gesichte. Er wird wie in den heiligen Schriften ‚Engel‘ genannt, weil er entsprechend der ihm eigenen Macht, an dem Berufe der Engel teilhat, die Geheimnisse des göttlichen Schweigens zu deuten24.

Auf diese Weise unterstreicht Hugo Ball die Wichtigkeit der Engel innerhalb der orientalischen Theologie und Liturgie25. Ein in der Mystik und in der Angelologie 22

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Daraus entsteht in osteuropäischen Ländern die Tradition der sogenannten «autokephalen» Kirchen – der Kirchen nämlich, die unabhängig von jeglicher übergeordneten ekklesiastischen Institution existieren. Dies ist in der okzidentalen Kirchenorganisation nicht der Fall, die den Prozess der nationalen Befreiung kirchlich bestimmt hat. Eine ungewollte Konsequenz der cäsaropapistischen Tradition in Byzanz scheint also darin zu bestehen, daß der brutale absolutistische Machtanspruch des Kaisers die Kirche vor jeglicher theokratischen Verführung bewahrt hat. Dieses Phänomen wurde von der Byzantinistik oft verkannt und zwar aus guten, tagespolitischen Gründen: Mehr von der theologisch-politischen Situation als von den tatsächlichen Bedingungen der Staat-Kirche-Beziehung in den ersten Jahrhunderten aus argumentiert zum Beispiel der Theologe Fritz Lieb, ein Freund von Walter Benjamin und Autor der bekannten Kampfschrift Christ und Antichrist im dritten Reich, Paris 1936: «Für die Kirche bestand die Aufgabe immer wieder darin, ihre Eigenheit und ihr Eigenrecht zu bewahren gegenüber der ständig ihre Grenzen überschreitenden Staatsgewalt» (Das Verhältnis von Kirche und Staat in Byzanz [1936], in Id., Sophia und Historie. Aufsätze zur östlichen und westlichen Geistes- und Theologiegeschichte, Zürich 1962, S. 36). In einer der seltenen Reflexionen über die geistesgeschichtliche Aufgabe der Byzantinistik und über deren Implikationen behauptet der rumänische Historiker Nicolas Iorga, daß Byzanz erst zu Ende gekommen sei, als die slawische Welt die Ideen der Aufklärung akzeptiert habe (Vgl. N. Iorga, Byzance aprés Byzance, Paris 1992, S. 250ff.). H. Ball, Byzantinisches Christentum, zit., S. 181. 1935 veröffentlichte Erik Peterson, ein anderer bekannter zum Katholizismus Konvertierter Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus (Leipzig 1935), in

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verankerter Hierarchie-Begriff ermöglicht Hugo Ball einerseits, das Politische religiös zu betrachten, andererseits aber auch die individualistische Form der Mystik zu kritisieren, die seiner Meinung nach dazu führen müsse, daß der Künstler sich selbst als allmächtig wahrnehme und wie ein Dämon erscheine: Hugo Ball hat von Anfang an geradezu instinktiv diesen theologischen Abgrund des zu Ende geführten Ästhetizismus als eine dämonische Inkarnation des Göttlichen durch den Menschen begriffen und von ihm aus diese ego-theologische oder onto-theologische Synthese als absoluten Krisen- und Ausnahmezustand angegriffen26.

Die Suche Hugo Balls nach einer Verbindung zwischen Himmel und Erde, Politik und Transzendenz, Gott und Menschen gipfelt in dieser Engelshierarchie. Diese ist dabei nicht mit einer Lebensflucht gleichzusetzen, wie Erich Przywara behauptet hat27, sondern stellt eine Repolitisierung der Theologie dar, zeigt es sich doch, daß Ball die «exzessive Theologisierung des hierarchischen Prinzips in der Kirche»28, das Problem des Katholizismus der Zwanziger Jahre, durchaus politisch verstand: Die Engelshierarchie bezeichnet die ideale Polis – jenseits des Seins – aber zugleich eben den einzig wahren Orientierungspunkt für die weltliche Politik, die je von Neuem der radikalsten Kritik unterzogen werden muß29.

Aus dieser Perspektive lässt sich die Dreigliederung des Byzanzbuches als eine geistige Anagōgé, eine Auffahrt zu Gott, beschreiben, die zugleich ethische und politische Forderungen impliziert: Joannes Klimax (griech. «Leiter») bildet für diese Entwicklung die Grundlage mit seinem Traktat und dessen eigener Aufstiegs-Metaphorik; Dionysius Areopagita führt die theoretische Entwicklung als eine nicht gradlinige fort (im Sinne seiner negativen Theologie bzw. einer indirekten Annäherung an Gott30);

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dem er besonders am Anfang seine eigene Idee der Kirchenkonstitution erklärt: «Der Weg der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in das himmlische, aus der Stadt der Juden in die Stadt der Engel und der Heiligen» (S. 13). Das Thema der Engel, das früher eine gnostisierende und frühnationalistische Implikation innehat (vgl. dazu I. Culianu, The Angels of Nations and the Origin of Gnostic Dualism, in R. van den Broek/M. J. Vermaseren (Hg.), Studies in Gnosticism and Hellenistic Religion, Leiden 1981), bekommt durch Peterson eine theologisch bestimmte, ansatzweise judenfremdlich wirkende Färbung. C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, zit., S. 161. Vgl. E. Przywara, Ringen um Gott [1924], in Id., Ringen der Gegenwart, zit., S. 248. Es geht dabei um eine Rezension zum Byzanzbuch. Vgl. dazu T. Ruster, Hugo Balls «Byzantinisches Christentum», zit., S. 203. T. Ruster, a.a.O., S. 202. Zu den katholischen Theologen um Ball, die der Autor dort erwähnt, sei noch der Name von Joseph Wittig hinzugefügt: Er hat nämlich 1924 in einer Gesamtrezension zu neuen religiösen Büchern genau diese Tendenz gezeigt: «Gott ist uns zu bekannt geworden. […] Er ist uns keine erschreckende und keine entzückende Offenbarung mehr. Seine Offenbarung ist für uns ‚geschichtlich‘ geworden» (J. Wittig, Neue religiöse Bücher, «Hochland» 21 (1924) 4, S. 416). C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, zit., S. 164. Daß das Kapitel über den Areopagita quantitativ und qualitativ den Schwerpunkt des Buches darstellt, weist indirekt auf die beeindruckende Rezeptionsgeschichte von dessen

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und schließlich erscheint das Beispiel des Eremiten Simeons des Styliten (griech. «Säulenheiliger»), der sein ganzes Dasein auf einer Säule verbracht hat, als mühsames Erreichen des Gipfels und damit als Vollendung der Entwicklung. Indem alle drei Theologen ihre Suche nach Gott als Aufstieg gestalten, zeigen sie ihre Affinität zum Neuplatonismus, wie es Hugo Ball richtig kommentierte. Wichtig an diesem Aufstiegsdenken ist allerdings auch seine Exemplarität: Die besagten Theologen konzipierten ihre Lehre auch als Gestus, indem sie ihre Gedankenwelt als einen Prozess der Auffahrt zu Gott beschrieben. Daß Hugo Ball ein Bewußtsein für eine solche Sichtweise entwickelt hatte, belegte er mit einem Kommentar 14. Juni 1916: «Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen»31. Im Leben dieser drei frühchristlichen Heiligen als Gestus, das stets auf die Suche nach Gott hinweist, zeigt sich neben theologisch-politischen Aspekten letztlich auch die rein geistige Vision des Messianismus. So beschließt Hugo Ball seine Seiten über Simeon (die gleichzeitig die letzten des Werkes sind): Nicht um eine zweite Natur weiß er; aber er weiß, da er den Abgrund der Qualen kennt, um das dritte Reich, um den Tröster, den Heiligen Geist, dessen Boten, Schützer und Warner die Engel sind32.

Damit mündet die Theologie Hugo Balls in eine messianische Pneumatologie eines dritten Geistesreiches, aus der sich jedoch eine Reihe von Fragen ableiten: Macht Symeons Beispiel vollkommener Trauer, vollkommener Reue, vollkommenen Verzichts, das Reich des Heiligen Geistes lebendig? Und bezieht sich dies dritte Reich, das vom Sohne ausgeht, auch auf die Erlösung des Kain, des Gezeichneten? Ist der Paraklet so unwiderstehlich, daß auch der verstockteste, der vom Vater gezeichnete Mörder des Sohnes, erschüttert wird und den Weg zurückfindet nach Golgatha? Und wäre sie ein der Allmacht würdiges Zeichen: diese Bedeutung des Heiligen auf der Säule, des unberührbaren schmerzhaften Wundermannes?33

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Denken hin. Für eine Abhandlung dazu bis zur Gegenwart vgl. G.-K. Kaltenbrunner, Dionysius vom Areopag: das Unergründliche, die Engel und das Eine, Zug 1996. H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, zit., S. 92. Der Charakter dieses Gestus erscheint paradigmatisch in einem bekannten Bild, das auf der ersten Seite des Sammelbandes Dionyisius Dada Areopagita, zit., zu sehen ist: Als nämlich Hugo Ball in seiner Dada-Zeit auf die Bühne trat, war er mit einem Kostüm gekleidet, das an die hieratische Erscheinungsform der byzantinischen Ikonen erinnerte. H. Ball, Byzantinisches Christentum, zit., S. 246. Ebd., S. 247. «Paraklet» weist auf die neutestamentliche Gestalt des παρα´ κλητος hin, des «Vermittlers» bzw. «Fürsprechers» oder «Trösters», der nach Joh. 16, 3–15 kommen werde, nachdem Jesu weggegangen sei. Zuvor aber, im heidnischen Gebrauch, hatte der Begriff eine juristische Bedeutung – eine interessante Bedeutungsverschiebung durch die Übersetzung der Bibel: «Die Bedeutung ‚Tröster‘, die z.B.Wyclif und Luther in ihren Bibelübersetzungen für das Joh-Ev als gegeben betrachteten, trifft den Sinn von παρα´ κλητος an keiner der nt.lichen Stellen. Weder Jesus noch der Geist werden als Tröster beschrieben» (TWNT, ad vo-

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Daß Hugo Ball Sinn und Bedeutung des Buches an der Verkünder-Figur des Parakleten, des traditionellen Stellvertreters Christi auf Erden, festmacht, bringt eine Problematik mit sich. Anders als die neutestamentarische Figur verspricht der Ball’sche Paraklet weder Stellvertretung noch Trost, sondern wirft nur Fragen auf über eine rätselhafte Gegenwart und eine noch mysteriösere Zukunft. Darin aber versinnbildlicht der Autor, was er unter christlicher Theologie verstand.

cem, S. 802–803 [Hvh. v.m.]). Die semantische Verschiebung vom Anwalt zum Tröster hat kulturpessimistische Motive: Der Paraklet vertritt nun nicht mehr die Interessen der Gläubigen, sondern erscheint jetzt als ihr Tröster. Vgl. O. Betz, Der Paraklet. Fürsprecher im häretischen Spätjudentum, im Johannes-Evangelium und im neu gefundenen gnostischen Schriften, Leiden 1963. Der Autor spricht dem Parakleten aber die Trösterrolle ab und führt triftige exegetische und religionsgeschichtliche Gründe an (vgl. sein Schlußwort, S. 206ff.). Die Geschichte des Wortes Paraklet innerhalb der Bibelexegese zeigt also, wie ein technischer Begriff juristischer Herkunft theologische Bedeutung annimmt. Im literarischem und philosophischen Bereich lässt sich der Paraklet als eine messianische Ersatzfigur verfolgen, der offenbar nicht nur von theologischem und kirchengeschichtlichem Interesse ist.

Friedhelm Brusniak

«Wege zu Mozart» Zum 100. Geburtstag des Mozart-Forschers und Hermann-Hesse-Freundes Erich Valentin (1906–1993)

Es war keineswegs zwangsläufig oder gar in irgendeiner Weise vorbestimmt, daß das Leben meines Vaters ein Leben für und mit Mozart wurde. Es ist vielmehr die Folge eines langjährigen Reifwerdens, geprägt von Ereignissen und besonders von Persönlichkeiten, die den Lebensweg meines Vaters begleiteten oder kreuzten.

Mit dieser Feststellung eröffnete Hans E. Valentin seinen «Bericht» aus Briefen, Gesprächen, Tagebuchnotizen und eigenen Erinnerungen für die Festschrift aus Anlaß des 70. Geburtstages seines Vaters im Jahre 19761. Dieser biographische Abriß bietet den bisher umfangreichsten und informativsten Überblick über jene Persönlichkeit, die das «Mozart-Bild» vor allem in Deutschland und Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern in den «Mozart-Jahren» 1941, 1956 und 1991 entscheidend mitgeprägt hat2. Die einhundertste Wiederkehr des Geburtstages von Erich Valentin, der am 27. November 1906 in Straßburg das Licht der Welt erblickte, darf als eine willkommene Gelegenheit gesehen werden, an einen MozartForscher zu erinnern, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Suche nach einer neuen Identität in einer humanen Gesellschaft unter dem Eindruck der Publikationen und der persönlichen Begegnung mit Hermann Hesse die «goldene Spur» fand3 und Wolfgang Amadé Mozart als «Sinnbild der Mitte» entdeckte4. 1

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H. E. Valentin, Ein Leben für Mozart, in Festschrift Erich Valentin zum 70. Geburtstag, hrsg. von G. Weiß, Regensburg 1976, S. 235–244, dazu eine Auswahlbibliographie von I. Steinhauser, S. 259–286 (Die hier separat zusammengestellte Mozart-Bibliographie, S. 263–274, wurde nach Valentins Tod vervollständigt und enthält 172 Titel: R. Angermüller, Erich Valentin: Schriften zu Mozart in In signo Amadei. Erich Valentin, hrsg. von der Deutschen Mozart-Gesellschaft e.V., Augsburg 1993, S. 9–21). Vgl. hierzu meinen Calwer Vortrag Hesse und Mozart. Aspekte der Wirkungsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Deutschen Mozart-Gesellschaft, in «Dem Chaos die Stirn bieten». Hermann Hesses Der Steppenwolf. 12. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw 2004. Referate, hrsg. von M. Limberg, Stuttgart 2005, S. 105–114 und den Beitrag von M. Fumagalli, Die Deutsche Mozart-Gesellschaft zwischen Zukunft und Vergangenheit, in «Hermann-Hesse-Jahrbuch», II (2005), S. 189–191. E. Valentin, Die goldene Spur. Mozart in der Dichtung Hermann Hesses, in Festschrift Alfred Orel zum 70. Geburtstag 1959, hrsg. von H. Federhofer, Wien/Wiesbaden 1960, S. 197–206; als Separatdruck erschienen: Olten 1961 (Privatdruck der Vereinigung Oltner Bücherfreunde), Augsburg 1966 (hrsg. von der Deutschen Mozart-Gesellschaft e.V.) und München 1998

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Der Schüler Adolf Sandbergers (1864–1943) hatte sein Musikwissenschaftsstudium in München mit einer Dissertation zum Thema Die Entwicklung der Tokkata (bis J.S. Bach) 5 und der Promotion 1928 abgeschlossen, bevor er seine berufliche Karriere in Magdeburg als Musikkritiker und ab 1930 als Dozent für Musikgeschichte am Staatlichen Musikerzieherseminar begann6. Hier veröffentlichte er 1931 eine Biographie über Georg Philipp Telemann 1681–1767 7 und 1933 über Johann Heinrich Rolle: Ein mitteldeutscher Musiker des 18. Jahrhunderts 8. 1936 kehrte er als Freischaffender nach München zurück. Drei Jahre später erhielt er eine feste Stelle am Mozarteum in Salzburg, wo er auch als Generalsekretär der Internationalen Stiftung Mozarteum sowie als Leiter der Bibliothek und des Zentralinstituts für Mozartforschung bis Kriegsende tätig war. Von 1941 bis 1943 gab er im Auftrage des Zentralinstituts die ersten drei Jahrgänge des «Neuen Mozart-Jahrbuchs» heraus. Nach Militärdienst 1944/45 und Gefangenschaft begann er 1948 eine erneute Hochschulkarriere an der Nordwestdeutschen Musik-Akademie in Detmold, die 1953 zu einem Ruf als Professor für Musikwissenschaft an die Staatliche Hochschule für Musik in München führte. Hier lehrte er bis 1972, seit 1964 auch als Direktor der Hochschule. 1951 zählte er zu den Mitbegründern der Deutschen Mozart-Gesellschaft (DMG) in Augsburg und übernahm von 1953 bis 1991 das Amt des Schriftleiters für das vierteljährlich erscheinende Mitteilungsorgan «Acta Mozartiana». Von 1976 bis 1992 war er zugleich Präsident der DMG. Nach dem Vorbild der von Fritz Jöde (1887–1970) auf dem Herzberg bei Aarau (Schweiz) veranstalteten Internationalen Mozart-Woche institutionalisierte er nach seinem Amtsantritt 1976 in Augsburg die Mozart-Musizierwoche der Deutschen Mozart-Gesellschaft 9.

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(mit einem Vorwort von Thomas Kakuska). Vgl. dazu meinen Beitrag Die goldene Spur. Zur Bedeutung von Hermann Hesses Mozart-Bild für die Deutsche Mozart-Gesellschaft, in [Festschrift] 49. Deutsches Mozartfest Hildesheim 2000, S. 89–92, der die Grundlage für meinen Vortrag in Calw 2004 (wie Anm. 2) bot. E. Valentin, Mozart: Sinnbild der Mitte, in «Acta Mozartiana. Mitteilungen der Deutschen Mozart-Gesellschaft e.V.», XIII (1966), S. 55–61, auch in Ders., Mozart: Sinnbild der Mitte. Vier Vorträge, hrsg. von der Deutschen Mozart-Gesellschaft, Augsburg 1967, S. 7–19, Auszug in [Festschrift] 50. Deutsches Mozartfest 2001 der Deutschen Mozart-Gesellschaft e.V., Augsburg 2002, S. 54–56. Münster i.W. 1930 (= Universitas-Archiv N. F. 45/VI). Vgl. hierzu den detaillierten Art. R.-J. Reipsch, Valentin, Erich in Magdeburger Biographisches Lexikon: 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Guido Heinrich und Gunter Schandera, Magdeburg 2001, S. 750. Burg bei Magdeburg 1931, 2., erweiterte Auflage Hameln 1947; 3., erweiterte Auflage Kassel/Basel 1952. Vgl. Valentins Feststellung 1931, S. 50: «Man muß, um Telemann vollauf gerecht zu werden, den tiefen Ernst seiner Auffassung zu verstehen versuchen; denn dann werden auch sein Werk und sein Name, der Vergessenheit und Sterblichkeit entrissen, zu neuem Leben erwachen.» In «Sachsen und Anhalt», IX (1933), S. 109–160. Zu den Hintergründen und zur Entwicklung vgl. F. Jöde (Hrsg.), Die Herzberger Bachwochen. Rückblick – Deutung – Ausblick, Trossingen/Wolfenbüttel 1959 und S. Witte, Musikalische Volksbildung im Namen Bachs und Mozarts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dar-

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Seine zahlreichen Bücher und Aufsätze, nicht zuletzt aber seine Vorträge zur Eröffnung der jährlich stattfindenden Deutschen Mozartfeste trugen mit dazu bei, daß Erich Valentin schließlich zur Integrationsfigur der DMG und zur Symbolfigur der «Mozartianer» schlechthin wurde10.

1941 Die bemerkenswerte berufliche Karriere des vielseitig interessierten und engagierten jungen Musikwissenschaftlers in den Jahren 1933 bis 1944 sowie die publizistischen Aktivitäten des damaligen Musikkritikers und aufstrebenden Musikforschers11 lassen unschwer eine gewisse Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie erkennen12. Dies gilt auch für sein erstes Mozart-Buch, das 1941 als Band 2 in der von Gustav Bosse (1844–1943) begründeten und in dessen Regensburger Verlag herausgegebenen «Neuen Folge» der 1912 begonnenen Reihe Deutsche Musikbücherei unter dem Titel Wege zu Mozart erschien und noch zehn Jahre später in vierter Auflage herauskam13. Während Band 1 Johann Sebastian Bach: Gesammelte Briefe, herausgegeben von Erich H. Müller von Asow, und Band 3 Wege zu Beethoven: Ein volkstümliches BeethovenBuch von Karl Storck, herausgegeben von Martha Wiemann, bereits 1938 erschienen, wurde Valentins Buch pünktlich zum «Mozart-Jahr 1941» vorgelegt. Aus dem Vorwort vom Herbst 1940 ist zu entnehmen, daß es dem Verfasser nicht um «ein neues wissenschaftliches Werk über Mozart» ging, sondern um eine

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gestellt am Beispiel der Herzberger Bachwochen und der Augsburger Mozart-Musizierwochen, Mag.-Arbeit Universität Würzburg 2004 sowie meinen Beitrag Die ‹Mozart-Musizierwoche› der ‹Deutschen Gesellschaft› in [Kongreßbericht] 21st Slovenian Music Days. «Music für social occasions» – music for fun, music for every day, hrsg. von P. Kuret, Ljubljana 2007, S. 96–105. Vgl. meine kurze Würdigung und die Schriftenauswahl in 50. Deutsches Mozartfest 2001…, a.a.O., S. 60–68. Vgl. die Hinweise in meinem Beitrag Der Deutsche Sängerbund und die Rolle der Musikforschung in der Zeit des Nationalsozialismus, in Gesellschaft für Musikforschung: Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloß Engers (8. bis 11. März 2000), hrsg. von I. v. Foerster, Ch. Hust und Ch.-H. Mahling, Mainz 2001, S. 181–196. Vgl. in diesem Zusammenhang E. Valentins eigenen Personenartikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart [= MGG], hrsg. von F. Blume, Bd. 13, Kassel etc. 1966, Sp. 1226. Hier und in verschiedenen anderen Auswahlbibliographien fehlen beispielsweise E. Valentins Bücher aus der Reihe Von deutscher Musik: Richard Wagner. Sinndeutung von Zeit und Werk, Regensburg 1937 (= Bd. 55/57), Hans Pfitzner. Werk und Gestalt eines Deutschen, Regensburg 1939 (= Bd. 60/62) und Ewig klingende Weise. Ein Lesebuch vom Wesen und Werden deutscher Musik, Regensburg 1940, ²1941 (= Bd. 63/64). Von 1912 bis 1938 waren 63 Bände erschienen. Mit der 1938 einsetzenden «Neuen Folge» sollte möglicherweise eine konsequentere nationalsozialistische Ausrichtung gefördert werden. Vgl. in diesem Zusammenhang E. Rohlfs, Bosse, Gustav (Musikverlag), in Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Auflage [= NMGG], hrsg. von L. Finscher, Personenteil 3, Kassel 2000, Sp. 481–483.

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«umfassendere» Aufgabe: Das Buch sollte denen, die den «Weg zu Mozart und mit ihm zur deutschen Musik» suchten, behilflich sein14. Erich Valentin setzte damit nach eigenem Bekunden einen Weg fort, den er in einem 1940 in erster und 1941 in zweiter Auflage im Gustav Bosse Verlag in der Reihe Von deutscher Musik als Band 63/64 veröffentlichten Buch Ewig klingende Weise: Ein Lesebuch vom Wesen und Werden deutscher Musik eingeschlagen hatte15, und wünschte, daß auch die neue Publikation seinen Zweck erfülle: «zu Mozart zu führen»16. Um den Charakter eines volkstümlichen «Lesebuchs» zu wahren, beschränkte er die Biographie auf 71 Seiten und ließ die Würdigung der Persönlichkeit durch Briefe sowie durch «Urteile der Zeitgenossen und der Nachwelt», darunter als Erstveröffentlichung ein Beitrag über Mozart und das Zeitlose von Valentins Freund und Salzburger Kollegen Ermanno Wolf-Ferrari (1876–1948), vornehmen17. Der Hinweis auf Ewig klingende Weise hilft bei der Frage nach dem Kontext, in dem das Mozart-Buch zu sehen ist, denn im Gegensatz zu Wege zu Mozart wird hier der Musik als «untrügliches Abbild und Zeichen der deutschen Seele» im Sinne der nationalsozialistischen Musikpolitik gehuldigt: Deutsche Musik! Das ist ein Begriff, der alles in sich birgt, was uns unbeschreiblich scheint, den Vielklang der deutschen Seele, aus deren Tiefe das Besinnliche und das Schwärmerische, das Tatvolle und das Wundergleiche, Jubel und Schmerz, die unruhvoll ewig miteinander ringenden Gegensätze heraufsteigen. Dieses Unergründliche des deutschen Gefühls ist, von der unbeschreiblichen Sicherheit einer klaren, geistigen Ausrichtung geleitet, in der Musik zum klingenden Sinnbild geworden. In ihr lebt als Erbgut der ehrfürchtige Glaube an die unbesiegbaren Kräfte fort, das Gottbekenntnis des Deutschen, der, dem Helden der Sage gleich, mit Horn und Schwert den Ungeist der Verneinung besiegt. Es ist gleich, ob Zeiten und Geschichte das äußere Gesicht der deutschen Musik wandelten, ob die Landschaft sie in sich verschieden machte. Stets schwang sich das Seelische und Bluthafte wie eine einzige Melodie durch die gewaltige Symphonie der deutschen Musik. Diese ewig klingende Weise ist das lebendige Zeugnis jener Unabänderlichkeit des deutschen Wesens, die, unversehrt von den Geschehnissen der Jahre und Jahrhunderte, sich immer wieder als Kraftquelle offenbart hat18.

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E. Valentin, Wege zu Mozart, Regensburg 1941, S. 7. E. Valentin, Ewig klingende Weise …, a.a.O. Im Vorwort zur ersten Auflage von 1940 wird darauf verwiesen, daß die Buchveröffentlichung aus einem 1938 publizierten gleichnamigen Aufsatz hervorgegangen sei und durch den Verleger Gustav Bosse angeregt wurde (S. 11). Im folgenden wird aus der zweiten Auflage von 1941 zitiert. Vgl. hierzu auch den soeben erschienenen Beitrag von H. W. Boresch, Donnerblitzbubs deutscher Weg. Versuch zur MozartRezeption im Nationalsozialismus zwischen Harmonisierung und Heroisierung, in Musik in Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Internat. Symposium an der Bergischen Universität Wuppertal vom 28./29.2.2004. Tagungsband, hrsg. von M. G. Grochulski, O. Kautny, H. J. Keden, Wiesbaden 2006, (= Musik im Metrum der Macht 3), S. 21–42, hier S. 26. E. Valentin, Wege zu Mozart, a.a.O., S. 8. E. Valentin, Wege zu Mozart, a.a.O., S. 218–222. Zu E. Wolf-Ferrari vgl. den Personenartikel von W. Pfannkuch in MGG …, a.a.O., Bd. 14, Kassel etc. 1968, Sp. 813–818. E. Valentin, Ewig klingende Weise …, a.a.O., S. 14.

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Das Kapitel über Wolfgang Amadé Mozart ist nicht ausführlicher als die über andere ausgewählte «deutsche» Komponisten19, doch wird Mozarts musikgeschichtliche Stellung deutlich umrissen. Er habe das Werk, das Schütz begonnen hatte, zu Ende geführt und damit eine Entwicklung abgeschlossen, um eine neue einzuleiten: Was deutsche Musik ist, wird in Mozart ebenso offenbar, wie in all denen, die ihm vorausgingen. Und das ist es, was uns mit Stolz erfüllen darf: daß sich Gipfel an Gipfel reiht. Wie die Sonne in ihrem Tageslauf die Eisgipfel erglühen, glitzern, erstrahlen, funkeln läßt oder, je wie ihre Bahn am Himmel geht, in schroffes, gewaltiges Schattendenkmal taucht, ragen die Gipfel der deutschen Musik auf. Keiner ist dem andern gleich. Des einen Anblick erschüttert, des anderen Anblick bezaubert. Der Sonne leuchtendste Strahlen aber ruhen auf jenem Gipfel, der Mozart heißt.20

Wege zu Mozart ist völlig anders konzipiert. Mozarts Schaffen wird zwar als die «Tat eines der größten deutschen Menschen» gewürdigt21, um der Zielsetzung der Reihe Deutsche Musikbücherei unter dem Motto «Wege zu den Großmeistern» gerecht zu werden, auf spezifische nationalsozialistische Terminologie und Propaganda wird jedoch verzichtet. Die Vermittlung eines ‹systemkonformen Mozart-Bildes› geschah in zeittypischer Weise durch die gezielte Auswahl von Urteilen über Mozart und entsprach somit den vorgegebenen musikpolitischen Zielsetzungen. Mit dem Hinweis auf den Herausgeber der Briefe Mozarts und seiner Familie (1914) Ludwig Schiedermair (1878–1957)22, der an der Spitze der jüngeren Mozartforschung stehe, lenkte Valentin die Aufmerksamkeit auf den ersten Jahrgang seines «Neuen Mozart-Jahrbuchs», das programmatisch mit einem Grundsatzbeitrag von Schiedermair über Mozart und die Gegenwart eröffnet wurde, in dem Mozart als Inbegriff «deutscher Wesensart» charakterisiert wird: Fern jeder Oberflächennatur schaut er in die Tiefen menschlichen Daseins, und diese Urerlebnisse spiegeln sich in seiner Musik wider. Darum ist dieser Kunst diese Ursprünglichkeit, Intensität und Tiefe eigen, die sie Generationen überdauern ließ. Dieses Fühlen und Empfinden, das sich künstlerisch äußert und gestaltet ist, zeigt ein bis auf den Grund Sehen, eine Wahrhaftigkeit und Klarheit menschlichen Offenbarens, die wir mit Recht als deutsch ansprechen. Der begnadete deutsche Mensch mit einem übervollen heißen Her19 20

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E. Valentin, Ewig klingende Weise …, a.a.O., S. 52–55. E. Valentin, Ewig klingende Weise …, a.a.O., S. 54f. – Ein eigenes Kapitel ist dem «Fremdling» gewidmet, womit das Judentum gemeint ist, das «in der Maske des Bettlers» gekommen sei (S. 73–75). Dichter wie Heinrich Heine und Ludwig Börne sowie Musiker und Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach und Ignaz Moscheles hätten «mit satanischem Eifer den Besitzer von Grund und Haus seiner Väter» verdrängt; Weltbürgertum und Judentum hätten «die Unantastbarkeit der ewig klingenden Weise» «befleckt». In einem umfangreichen Anhang mit Kurzbiographien bedeutender Dichter, Bildender Künstler und Musiker werden «Juden» eigens gekennzeichnet (S. 103–150). E. Valentin, Wege zu Mozart, a.a.O., S. 68. G. Massenkeil, Schiedermair, Ludwig, in NMGG …, a.a.O., Personenteil 14, Kassel etc. 2005, Sp. 1327f.

Friedhelm Brusniak 86 zen, einem sonnenklaren Geist, einer vollendeten Anständigkeit des Charakters und der Gesinnung spricht in seiner Art in Tönen aus, was ihn innerlich durchglüht, weil ihm der Schöpfer diese Sprache verlieh, wie dem großen deutschen Dichter seine Sprache und dem großen deutschen bildenden Künstler die ihm gemäße Sprache23.

Schiedermairs Ausführungen erinnern daran, daß der 150. Todestag Wolfgang Amadé Mozarts im Dritten Reich unter der Patronanz des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda stand und die «Mozart-Woche des Deutschen Reiches» zwischen dem 28. November und 5. Dezember des Kriegsjahres 1941 in Wien unter der Schirmherrschaft von Baldur von Schirach und Joseph Goebbels «in der Beschwörung seines Geistes» gefeiert wurde. In dieser Mozart-Huldigung und -Ehrung wurde eine «Handlung im Sinn der kämpfenden Soldaten» gesehen, wobei Mozart als «deutscher Künstler» galt, wie es auch Goebbels in seiner Grußadresse für die Festtage in Wien zum Ausdruck brachte24. Deutschtümelnde und völkische Formulierungen, Andeutungen und Botschaften für propagandistische Zwecke der Nationalsozialisten wurden von den «Kämpfern des Geistes» erwartet. Doch ungeachtet der Frage, wie sehr sich Erich Valentin in eine solche Musikpolitik einbinden ließ, scheint es verfehlt, sein «Mozart-Bild 1941» ausschließlich auf diese ideologische Perspektive reduzieren zu wollen. Besonders nachdenklich stimmt vor einem solchen Hintergrund die Aufnahme von Ermanno Wolf-Ferraris Reflexionen über Mozart und das Zeitlose, mit dem Erich Valentin sein Buch Wege zu Mozart beschließt. Immerhin war es dieser Komponist, der Mozart «für ein seiner selbst nicht bewußtes Genie» hielt25 und bereits ab 1903 mit seinen heiteren Opern Mozart gefolgt war, der mit seinem «Mozart-Bild» Gedanken formulierte, die in ähnlicher oder verwandter Weise an Hermann Hesse erinnern. Auch in seinem Beitrag Mozart und das Zeitlose scheint diese Nähe zu Hesse am Schluß des Beitrags spürbar: Mozart ist in der Musik eines der schwersten Kapitel: weil er die Vollendung ist. Man darf sich ihm nur lernend nahen. Man lernt bei ihm nie aus. Vorausgesetzt, daß man zu ahnen angefangen hat, daß Musik sich zwar durch Töne offenbart, selbst aber nicht Klang ist. Sie ist, falls sie absolut rein ist, klingende Unsterblichkeit26.

Erich Valentin widmete sich in seinem eigenen Beitrag für das «Neue MozartJahrbuch» dem Thema Mozart und die Dichtung seiner Zeit 27 und betonte mit dieser für seine weitere wissenschaftliche Karriere programmatischen Studie sein grund-

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«Neues Mozart-Jahrbuch», I (1941), S. 9–23, hier S. 23. G. Gruber, Mozart und die Nachwelt, erweiterte Neuauflage, München 1987, S. 257f. Vgl. hierzu H. J. Moser, Das Mozart-Bild unserer Zeit. Festrede auf der Reichs-Mozart-Woche am 3. Dezember 1941 in Wien, in «Jahrbuch der deutschen Musik 1943», I (1943), S. 94–109. Gruber, Mozart und die Nachwelt …, a.a.O., S. 229. E. Valentin, Wege zu Mozart, a.a.O., S. 222. «Neues Mozart-Jahrbuch», I (1941), S. 79–113.

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sätzliches Interesse an einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Ansatz innerhalb der Mozart-Forschung mit dem speziellen Blick auf die Literatur- und Geistesgeschichte28.

1956 Es kann kaum als Zufall angesehen werden, daß das «Mozart-Jahrbuch 1956» des Zentralinstituts für Mozartforschung der Internationalen Stiftung Mozarteum mit einem Beitrag von Erich Valentin über Das magische Zeichen. Mozart in der modernen Dichtung eröffnet wird, der wie ein Pendant zu seiner Studie zum «Mozart-Jahr 1941» wirkt29. Aus einem Bericht in den «Acta Mozartiana» der Deutschen Mozart-Gesellschaft ist zu entnehmen, daß der Referent ursprünglich als Untertitel Betrachtungen zum Mozartjahr nach der Lektüre von Hermann Hesses «Steppenwolf» gewählt hatte30. Ein Vergleich mit Valentins Vortrag über Die goldene Spur. Mozart in der Dichtung Hermann Hesses anläßlich dessen 80. Geburtstags am 2. Juli 1957 im Rahmen des 6. Deutschen Mozartfestes der Deutschen Mozart-Gesellschaft in Köln am 15. September 195731 bestätigt in der Tat die Bedeutung dieser Information, denn wesentliche Passagen, die sich auf den Steppenwolf beziehen, wurden sprachlich leicht verändert in jenen Text übernommen, den Hesse später selbst autorisiert hat32. In seinem Salzburger Referat gleich am Beginn des «Mozart-Jahres 1956» ging es neben Hinweisen auf Richard BeerHofmann, Theodor Däubler, Hugo von Hofmannsthal, Romain Rolland, Karl Kraus und anderen vor allem um eine Gegenüberstellung von Hermann Hesse und Antoine de Saint-Exupéry. Valentin schließt mit einem Zitat von Albrecht Goes sowie der Aufforderung, sein eigenes Leben unter «das magische Zeichen Mozart» zu stellen. Wie weit sich Erich Valentin über ein Jahrzehnt nach Kriegsende von dem durch die Nationalsozialisten verordneten «Mozart-Bild» entfernt hatte, läßt sein Nachdenken darüber erkennen, daß «die dichterische Mozart-Metamorphose vom Ästhetischen zum Menschlichen» mehr sei als «ein dichterisches Problem», denn Mozarts «Unschuld» sei «zum größeren Phänomen einer ethischen und menschli-

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Zum aktuellen Forschungsstand vgl. U. Konrad und M. Staehelin, «allzeit ein buch». Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts, Wolfenbüttel 1991 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 66). E. Valentin, Das magische Zeichen. Mozart in der modernen Dichtung, in «Mozart-Jahrbuch 1956», Salzburg 1957, S. 7–15. In einer Anmerkung (S. 15) wird darauf hingewiesen, daß es sich um den Wortlaut von Ansprachen handelt, die Valentin 1956 in München und Salzburg gehalten hatte. Dr. B., Forschung im «magischen Zeichen». Tagung des Zentralinstituts für Mozartforschung in «Acta Mozartiana», III (1956), H. 4, S. 16f., hier S. 16. Vgl. Anm. 3 und hierzu die Abb. in 50. Deutsches Mozartfest 2001…, a.a.O., S. 46f. Vgl. besonders E. Valentin, Das magische Zeichen …, a.a.O., S. 11f.

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chen Forderung geworden», und aus dieser Gegenüberstellung erschließe sich «mit erschütternder Eindringlichkeit» die ganze Tragik des eigenen Daseins: Wir alle wissen, was geschehen ist in dieser Welt, wir wissen, was geschieht, und wir fürchten, was noch geschehen mag. Das Ende der klassischen Physik, in deren Ordnungen und Regeln die Welt bisher lebte, ist das Ende einer ganzen menschheitsgeschichtlichen Epoche. Mit dem notwendigen, naturgegebenen, schmerzensreichen Anbruch eines neuen Abschnitts, in dem wir seit fünfzig Jahren mitteninne stehen, ist zwangsläufig eine Wandlung der Ordnungen verbunden. Eben diese Zwangsläufigkeit hat eine innere Unsicherheit zur Folge, vor allem aber die Gefahr, daß die Spur des Menschen verloren geht und deshalb Angst statt Vernunft, Haß statt Liebe, Zweifel statt Glaube die Welt regieren. Es ist im Grunde genommen dasselbe, was Oswald Spengler, Nicolai Berdjajew, Hermann Hesse erkennen. Was bisher jedoch eine Frage der Kulturmorphologie oder der Geschichtsdynamik war, ist mittlerweile zu einer ganz nüchternen Existenzfrage geworden33.

Während Hermann Hesse an die Möglichkeit einer Zukunft nur noch in der Überwindung der «geistigen Unsicherheit» glaube und ein Weiterbestehen «nur aus der Treue zum Geist, zum Geist schlechthin» für denkbar halte, sehe Saint-Exupéry eine Zukunft «nur in der Wiedergeburt oder – besser – Wiederherstellung des Menschen». Für beide Extreme ein und derselben Grunderkenntnis sei «Mozart Maßstab und Gleichnis für die Möglichkeit einer Weiterexistenz im geistigen und menschlichsittlichen Sinne»34. Valentins Weg zu einer solchen «Mozart-Ästhetik», die durch das Bemühen um Vergangenheitsbewältigung und die Suche nach geistiger und ethischer Neuorientierung geprägt zu sein scheint, läßt sich durchaus nachvollziehen. 1947 war sein Buch Mozart erschienen, das er schon 1941 angekündigt hatte und «keine Biographie», sondern eine Würdigung der Gesamterscheinung sein sollte35. Bemerkenswert erscheint auch hier, daß nicht das Kunstwerk in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern «die menschliche Persönlichkeit in ihrer Entwicklung und Vollendung», wozu Valentin sich auf Mozarts Briefe, also erneut auf literarische Zeugnisse, stützte36. Die zentrale Aussage lautet: Während Beethoven als «zwischen den Zeiten stehend» gilt, ist Mozart als «Mittler zwischen den Zeiten» zu betrachten37. Unter Bezugnahme auf den Brief Wolfgang Amadé Mozarts aus Wien an seinen Vater in Salzburg vom 28. Dezember 1782, in dem der berühmte Sohn mit dem Hinweis auf die technischen Anforderungen bei Klavierkonzerten die Formulierung «Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht» gebrauchte und «Mittelding» als «das wahre in

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E. Valentin, Das magische Zeichen …, a.a.O., S. 9. Ebda. «Neues Mozart-Jahrbuch», I (1941), S. 80, Anm. 5. Vgl. dazu das Nachwort in E. Valentin, Mozart, Hameln 1947, S. 326. Diese Tendenz kündigte sich bereits in der Studie von 1941 an, in der die MozartBriefausgabe Schiedermairs ausführlich zitiert wird. E. Valentin, Mozart, a.a.O., S. 322.

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allen sachen» bezeichnete38, sah Valentin hierin «die ganze Ethik seiner künstlerischen Wesenhaftigkeit ausgedrückt»39. Nach Aussage von Hans E. Valentin war dieses Mozart-Buch das «liebste opus» seines Vaters40. 1953 kam eine zweite, verbesserte Auflage heraus, die den bezeichnenden Untertitel Wesen und Wandlung trägt41. Auch in seiner zeitlich in unmittelbarer Nähe zu seinem Salzburger Vortrag stehenden Münchner Universitätsrede vom 26. Januar 1956 zur Feier der 200. Wiederkehr des Geburtstages von Wolfgang Amadé Mozart über Mozart in seiner und unserer Zeit. Mozart und die Feuerglocke bezeichnete Erich Valentin Hermann Hesses Deutung der «geistigen Gestalt Mozarts» als die «für die Gegenwart gültige Darstellung», die «nicht in der sentimentalen Gloriole» liege, sondern in der Schau, unter der «Mozart als Prinzip der Ordnung und des Maßes» betrachtet werde42. Als Ausgangspunkt für Mozarts «ganzes Tun und Denken» machte er «das Menschliche» aus. Das sei die Mitte seines Wesens, aus dem heraus er «die krisenreiche Auflösung, Umordnung und neuen Ufern zustrebende Vielfalt seiner Zeit, einer Endzeit» zu überwinden vermochte, denn man müsse sich vergegenwärtigen, daß am Anfang seines Lebens ein Geßner und ein Wieland, und daß am Ende ein Tieck und ein Kleist standen: Daß Mozart aber jenseits dieser Spannung stand, ohne sich ihnen zu entziehen, macht aber das wundersame Geheimnis seiner Größe aus. In ihm ist die Polarität von Leben und Tod, von Diesseits und Jenseits, von Freude und Schmerz zu einer geordneten Einheit verbunden. Man mag es «Harmonie» nennen oder, wie es die Vergangenheit tat, «Schönheit», «Maß», «Ordnung» oder «Mitte». Das sind Vokabeln, die doch nur an der Oberfläche bleiben. Wesentlich für jede Erkenntnis bleibt der unidealisierte Mozart, dessen «Entzopfung» vielleicht manch liebgewordene Vorstellung vom «netten» Mozart zunichte macht43.

Mozart, «Symbol des Menschen zwischen der Gottgeborgenheit Bachs und der Gottsuche Beethovens», habe «in einer die gegebene Ordnung lösenden Zeit in sich nicht nur die künstlerische, sondern auch die ethische Forderung eines Ordnungsprinzips» erfüllt, dessen Wirksamkeit darin liege, daß er es aus sich selbst fand44. Dies spiegele sich in seiner Arbeitsweise, bei der von Anbeginn an ein formender und ordnender Wille erkennbar sei. Mozart habe nicht «aus der spontanen Naivität des Unwissenden» heraus gehandelt, sondern habe von Kindheit an diesen Weg verfolgt45. Vor diesem Hintergrund sei es «nicht nur das Recht, sondern die selbsterhal38

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E. Valentin, Mozart, a.a.O., S. 325; Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, erweiterte Gesamtausgabe hrsg. von U. Konrad, Kassel 2005, Band III: 1780–1786, S. 245f. (Nr. 715). Vgl. hierzu neuerdings U. Konrad, Wolfgang Amadé Mozart. Leben – Musik – Werkbestand, Kassel 2005, S. 148–150. E. Valentin, Mozart, a.a.O., S. 325. H. E. Valentin, Ein Leben für Mozart …, a.a.O., S. 240 (das Erscheinungsjahr für die Erstausgabe 1947 ist zu korrigieren). Salzburg 1953, die Zitate hier S. 253 und 255. München 1956 (= Münchner Universitätsreden, N. F. 11), S. 3–15, Zitat S. 8. E. Valentin, Mozart in seiner und unserer Zeit …, a.a.O., S. 12. E. Valentin, Mozart in seiner und unserer Zeit …, a.a.O., S. 13. Ebda.

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tende Verpflichtung, Mozart, Prinzip der Ordnung und Symbol des Menschen, zu ehren»46. Wie in Salzburg schließt auch dieser Vortrag mit einem Aufruf im Sinne Hermann Hesses: Laßt uns dafür Sorge tragen, daß Mozart das «magische Zeichen» bleibe, auf daß wir erfahren, begreifen und wissen lernen, daß die Welt einen Sinn hat47!

In mehreren Vorträgen und Aufsätzen hat Erich Valentin später diese Themen immer wieder aufgegriffen und vertieft48. Das «Mozart-Jahr 1956» bedeutete für ihn jedoch vor allem das offene Bekenntnis zu Hermann Hesse, zu dem er bald auch persönlichen Kontakt suchte und fand. Entscheidend für das freundschaftliche Band, das sich zwischen den beiden entwickeln sollte, war Hesses positive Reaktion auf Valentins Buch Musica domestica. Von Geschichte und Wesen der Hausmusik, das 1959 im Hohner Verlag in Trossingen herausgekommen und den «Musikliebhabern» gewidmet war49. Am 16. März 1960 bestätigte Hesse den Empfang eines Exemplares: Lieber Herr Prof. Valentin Danke! Das ist ein willkommenes u. liebes Buch, das ich aus Trossingen bekam. Herzlich grüsst Sie Ihr H Hesse50

Am 8. April erschien dann in der «Neuen Zürcher Zeitung» Hesses Rezension unter dem Titel An einen Musiker 51, worin er die «sympathische Schwebe zwischen Gelehr46 47 48

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E. Valentin, Mozart in seiner und unserer Zeit …, a.a.O., S. 15. Ebda. Vgl. zu den bereits genannten Titeln bes. E. Valentin, Das Maß und das Menschliche, in [Festschrift] 7. Deutsches Mozartfest der Deutschen Mozart-Gesellschaft […] 1958 in Berlin, S. 18–21, auch in 50. Deutsches Mozartfest 2001 …, a.a.O., S. 51–53; Mozart. Mittler zwischen den Zeiten, in [Festschrift] 12. Deutsches Mozartfest der Deutschen Mozart-Gesellschaft […] 1963 in Regensburg, S. 19–26. E. Valentin, Musica Domestica. Von Geschichte und Wesen der Hausmusik, Trossingen 1959, S. 154. Postkarte aus der Serie Nr. 75: H. Hesse, Aquarelle aus dem Tessin: Wintermorgen. Privatbesitz. Unveröffentlicht. Die Adresse lautet: Herrn Prof. Dr. E. Valentin, Schellingstr. 10, München 13. Die Anschrift wurde vom Postboten geändert in: Isabellastr. 31/3, wohin die Familie inzwischen verzogen war. Die Karte trägt den Stempel des Postamts Stuttgart 9 vom 16.3.60. Ich danke der Familie Erich Valentins, namentlich der Tochter Klara-Luise Ostern, Bad Aibling, für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung und für die verständnisvolle Unterstützung meiner Forschungen. H. Hesse, An einen Musiker, in «Neue Zürcher Zeitung», CLXXXI (1960), Abendausgabe Nr. 11 (ein Exemplar mit der persönlichen Widmung von Hermann Hesse befindet sich in der Hesse-Sammlung von Erich Valentin). Die Rezension ist datiert mit «April 1960». Mehrfach nachgedruckt, u.a. in H. Hesse, Musik. Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe, mit einem Essay von H. Kasack hrsg. von V. Michels, erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1986, S. 111–115 (mit dem Datierungshinweis «1960»), auch in H. Hesse. Gesammelte Briefe Bd. 4, 1986, S. 369–373 (Nr. 406, mit dem Datierungshinweis «[März 1960]»), auch in H. Hesse. Sämtliche Werke Bd. 12: Autobiographische Schriften II, 2003, S. 676–681 (mit dem Datierungshinweis «1960»). Im folgenden wird nach Hesse. Sämtliche Werke zitiert.

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samkeit und Volkstümlichkeit» des Buches hervorhob und damit zugleich Erich Valentin selbst treffend charakterisierte52. Besonders interessiert, «erheitert» und auch «ein wenig geschmeichelt» hatte Hesse Valentins Bestreben, «der Rolle des Musikanten gegenüber auch die seines Zuhörers ins Licht zu stellen und sie höher als üblich zu bewerten, ja den Genießenden und Nichtskönner zum Mittätigen und Kenner empor zu adeln, dem auf dem Kanapee liegenden Radio- und Plattenhörer einen Rang zu verleihen», da er ja selbst erst im Alter ein Funk- und Grammophonhörer geworden sei53. Die Tatsache, daß sich Hermann Hesse dazu angeregt fühlte, «auch noch ein neues schönes Radioerlebnis zu erzählen», verweist auf Valentins Erwähnung von Hesses Radioerlebnis im Rundbrief aus Sils-Maria vom August 195454. 1960 erschien auch Erich Valentins Essay Die goldene Spur, erst als Festschriftbeitrag für Alfred Orel, dann – 1961 – separat als Privatdruck der Vereinigung Oltner Bücherfreunde55, der zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Hesse und Valentin im März 1961 in Montagnola und zu weiterer Korrespondenz führte56. Der Austausch mit Hermann Hesse und die öffentliche Anerkennung durch den Nobelpreisträger war für Erich Valentin ein prägendes Erlebnis, das von nun an nicht nur sein «MozartBild», sondern auch seine gesamte Weltsicht wesentlich mitbestimmen sollte.

1991 Erich Valentins letztes Mozart-Buch Mozart. Weg und Welt, das im «Europäischen Jahr der Musik» 1985 erschien57, zeichnet sich nach Gernot Gruber dadurch aus, daß es «von einem behutsamen und doch nichts verdrängenden Verstehen getragen» sei58. Erneut verzichtete Valentin bewußt auf jegliche Werkdeutung und beschränk52 53 54

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H. Hesse, An einen Musiker …, a.a.O., S. 676, dazu Hans E. Valentin, Ein Leben für Mozart …, a.a.O., S. 240. H. Hesse, An einen Musiker …, a.a.O., S. 677. Hesse bezieht sich hier auf E. Valentin, Musica Domestica …, a.a.O., S. 20–23. H. Hesse, Rundbrief aus Sils-Maria, in Hesse. Sämtliche Werke Bd. 12: Autobiographische Schriften II, 2003, S. 641–654 (mit dem Datierungshinweis «1954»); vgl. auch den Auszug in H. Hesse, Musik …, a.a.O., S. 199–201 (mit dem Datierungshinweis «August 1954»). Zu den bibliographischen Angaben s.o. Anm. 3. Eine Antwortkarte H. Hesses vom 22. März 1961 befindet sich in der Hesse-Sammlung Erich Valentins: «Lieber Herr Prof. Valentin / Ich fürchte ein wenig, daß meine Karte (sofort nach Empfang der Ihren geschrieben) zu spät komme. Wenn nicht, dann erwarten wir Sie gern am Samstag Nachmittag. / In aller Eile grüsst herzlich Ihr H Hesse». Für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung danke ich erneut der Familie Erich Valentins. Zu einer zweiten Begegnung soll es nach Angaben der Familie 1962 gekommen sein. Aus den Jahren 1960–1962 ist eine teilweise noch unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Hesse und Valentin erhalten, die zur Publikation vorbereitet werden soll. E. Valentin, Mozart. Weg und Welt, München 1985, ²1991, Neuauflage unter dem Titel Mozart. Eine Biographie, Kreuzlingen 2006. G. Gruber, Mozart und die Nachwelt …, a.a.O., S. 293.

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te sich darauf, «aus der Lebensgeschichte und Lebenssituation Mozarts Weg und seine Welt aufzuspüren»59. Noch einmal werden alle in einem halben Jahrhundert Forscherleben angesammelten Erfahrungen gebündelt und reflektiert. Im Schlußkapitel Mozart und kein Ende verweist er eindringlich darauf, daß «der hohen, geistigethischen Gültigkeit Mozarts, die in unbeschreiblich und unergründlich gewordenem Gestaltwandel zum Abbild der Wiedergeburt und Geordnetheit erhoben wird», eine «vielleicht noch unmittelbarer in unser reales Dasein greifende Erkenntnis» gegenübersteht60. Unter Bezugnahme auf seinen Vortrag über Das magische Zeichen. Mozart in der modernen Dichtung von 1956 geht er anhand von drei dichterischen Zeugnissen, Karl Kraus’ Gedicht Beim Anblick eines sonderbaren Plakates (1915), Hermann Hesses Steppenwolf (1927) und Antoine de Saint-Exupérys Wind, Sand und Sterne (1939), auf dieses Problem ein. In diesem Zusammenhang hebt er auch Hesses Tagebucheintrag von 1920 als eine «von allen historischen Prämissen und idealisierenden Beigaben befreite Vergegenwärtigung Mozarts, des uns in seiner Musik erspürbaren Gleichnisses einer verlorengegangenen Ordnung» hervor61. Es gelte, den Grund aufzufinden, weshalb Mozart «unserer Gegenwart so unendlich viel» bedeute, so als sei er «ein Zeitgenosse, der uns unablässig ins Gewissen redet und zu geben vermag, was uns die von Vermarktung und Verwaltung erpreßte Ratlosigkeit unseres Zeitalters vorenthält: eben den Glauben an den Sinn der Welt»62. In seinem Gedenkblatt «… die Welt hat einen Sinn». Hermann Hesse zum Gedenken von 1987 bekannte sich Erich Valentin zum letzten Mal in aller Deutlichkeit zu seinem Dichter-Freund, indem er in Hesses Tagebucheintrag «das wahrhafte, innerste Mozart-Bedürfnis unserer Tage verankert und motiviert» sah, das all jene bewege, «die hörend, singend und spielend Mozart suchen»63. Das 40. Deutsche Mozartfest in Augsburg 1991 stand ganz im Zeichen der Erinnerung an die Gründung der Deutschen Mozart-Gesellschaft am 20. Oktober 1951. Erich Valentin verfaßte als einer der Gründungsväter und als amtierender DMG-Präsident einen Rückblick In signo Amadei. Bemerkungen zu einem «Jubiläum» für die Festschrift, doch nutzte er auch hier noch die Gelegenheit, auf Hermann Hesse zu verweisen64 und eine gegenwartsbezogene Mozart-Pflege anzumahnen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er in einem in freier Rede gehaltenen Vortrag über Die Wandlung des MozartBildes. Vom Götterliebling zum Superstar anläßlich eines Mozart-Symposiums in der «Bundesakademie für musikalische Jugendbildung» in Trossingen 1990, dessen Text 59 60 61 62 63

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E. Valentin, Mozart. Weg und Welt …, a.a.O., S. 7. E. Valentin, Mozart. Weg und Welt …, a.a.O., S. 234. E. Valentin, Mozart. Weg und Welt …, a.a.O., S. 235. E. Valentin, Mozart. Weg und Welt …, a.a.O., S. 241. E. Valentin, «… die Welt hat einen Sinn». Hermann Hesse zum Gedenken, in «Acta Mozartiana», XXXIV (1987), S. 25–27, hier S. 25, auch in 50. Deutsches Mozartfest 2001 …, a.a.O., S. 48–50, hier S. 48. E. Valentin, In signo Amadei. Bemerkungen zu einem «Jubiläum», in [Festschrift] 40. Deutsches Mozartfest Augsburg 1991, S. 11–17, hier S. 12.

«Wege zu Mozart»

für den Druck 1991 nachträglich rekapituliert wurde, leidenschaftlich dafür plädiert, einer erneuten «Mozart-Veruntreuung» entgegenzuwirken, da es mehr denn je geboten sei, «Mozart, Symbol, Summe und Inbegriff des Humanum, das im Zeitalter der Zauberlehrlinge unterzugehen» drohe, «im Bewußtsein wachzuhalten und allen Menschen dieser Erde, allen, die guten Willens sind, als kostbarer Besitz und als Zeichen der Versöhnung und Versöhnlichkeit anzuvertrauen»65. Es spricht für sich, daß er in seinem letzten Brief an mich vom 9. Februar 1993, wenige Wochen vor seinem Tod am 16. März, sein geistiges Vermächtnis mit den Worten umriß: «Schon vor zwei Jahren, als endlich das leidige Mozart-Jahr vorüber war, wurde mir erneut klar, welche Aufgabe wir zu erfüllen haben und formulierte für mich die Funktion unserer Gemeinschaft als eine Institution ‹zum Schutze Mozarts›. Es betrifft doch uns alle und unsere schwindende Kultur»66. Für die Gedenkschrift In signo Amadei. Erich Valentin der Deutschen Mozart-Gesellschaft 1993 wurde daher sein Passauer Vortrag von 1986 über Mozarts europäische Sendung ausgewählt, in dem er die Institution des Deutschen Mozartfestes als ein «Dankfest für Mozart» bezeichnet hatte67. Wie kaum ein anderer Mozart-Forscher des 20. Jahrhunderts hat Erich Valentin den Wandel des «Mozart-Bildes» von «einem der größten deutschen Menschen» im Geiste des Nationalsozialismus 1941 zum weltweit gefeierten «Superstar» 1991 miterleben und mitgestalten können. Indem er sich Hermann Hesses «Mozart-Bild» und damit auch dessen Lebensphilosophie und Weltsicht zu eigen machte und über die Deutsche Mozart-Gesellschaft nach außen trug, leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Volksbildung, der über den musikalischen Bereich weit hinausging. Valentin hat mit seinem eigenen «Weg zu Mozart» «Wege zum Mozart-Jahr 2006» geebnet und vorgezeichnet, über die es sich nachzudenken lohnt.

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E. Valentin, Die Wandlung des Mozart-Bildes. Vom Götterliebling zum Superstar, in Symposium zu W. A. Mozarts 200. Todestag. Dokumentation einer Veranstaltung in Verbindung mit der Deutschen Mozart-Gesellschaft, Trossingen 1991 (= Schriftenreihe «aus der Arbeit der Bundesakademie» 13), S. 9–15, hier S. 15. Zitiert in F. Brusniak, Der kulturelle Auftrag der DMG, in «Acta Mozartiana», XL (1993), S. 74–76, hier S. 74f., auch in 50. Deutsches Mozartfest 2001 …, a.a.O., S. 69–71, hier S. 69. E. Valentin, Mozarts europäische Sendung, in In signo Amadei. Erich Valentin, hrsg. von der Deutschen Mozart-Gesellschaft e.V., Augsburg 1993, S. 5–8, hier S. 8, Erstveröffentlichung in «Acta Mozartiana», XXXIII (1986), S. 63–66, hier S. 66, Auszug auch in 50. Deutsches Mozartfest 2001 …, a.a.O., S. 61f., hier S. 62.

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Siglind Bruhn

«Sie entsteht aus dem Maß und wurzelt in dem großen Einen» Musik als Inhalt, Form und Metapher in Hesses Kastalischer Utopie

Quelle, Impetus und Halt Die Musik ist ein zentraler Inhalt in Hesses Glasperlenspiel. Hinweise auf die Musik als beflügelnde, ordnende und spirituell bereichernde Kraft ziehen sich durch alle Teile des Werkes. Dabei bestimmt die Musik bezeichnenderweise beide im Werktitel genannten Komponenten in gleichem Maße: das Spiel und den ungewöhnlichen Magister Josephus. Das Spiel soll von Musikwissenschaftlern erfunden worden sein, und ein entscheidender Beitrag zu seiner Höherentwicklung ging von einem als Joculator Basilensis in die Annalen eingegangenen Mann aus, der laut Aussage des Chronisten «ein Schweizer Musikgelehrter, zugleich fanatischer Liebhaber der Mathematik» war (S. 34)1. Bei Beschreibungen der feierlichen Spiele, wie sie in der Zeit der kastalischen Hochblüte zelebriert werden, bedient Hesse sich fast ausschließlich musikalischer Terminologie. In analoger Weise ist die Musik auch für den Magister Quelle, Impetus und Halt. Leser begegnen Josef Knecht zuerst als einem Lateinschüler, der durch seine musikalische Begabung auffällt; seine Aufnahme in die Eliteschulen entscheidet sich in einer Prüfung, die die Form einer improvisierten Kammermusikprobe erhält; seine Einführung in die Meditation bedient sich seiner Empfänglichkeit für die Musik; und in Waldzell verbringt er (abweichend von der Norm) seine ersten Semester fast ausschließlich mit musikalischen Studien. Sein lebenslanger Mentor ist der Musikmeister, sein ältester Freund, Carlo Ferromonte, wird später Musikwissenschaftler, und seine emotionale Beziehung zu seinem letzten Mentor, dem Benediktinerpater Jakobus, beruht entscheidend auf ihrer gemeinsamen Liebe für die Musik des frühen 18. Jahrhunderts. Ausführliche Diskussionen über musikalische Stile und Strukturen, über die musikalische Erfahrung sowie über die Rolle der Musik im geistigen Leben bilden zusammengenommen die umfangreichste Komponente innerhalb des reflexiven Materials, das die narrativen Teile der Lebensbeschreibung durchzieht.

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Alle Seitenangaben nach Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht, Frankfurt a.M. 2002.

Siglind Bruhn 96

Während die genannten Aspekte der Musik sich auf die Ausübung und denkende Erschließung einer ganz bestimmten Sparte der Musik, der europäischen Kunstmusik insbesondere des 16. bis 18. Jahrhunderts, beziehen, gibt es noch einen anderen Blickwinkel, der sowohl zeitlich als auch geografisch weiter ist. In der Gegenüberstellung Europas mit der um so vieles älteren Kultur Chinas wird die für europäische Verhältnisse frühe Kunstmusik der Renaissance einer sehr viel tiefer zurückreichenden Musikerfahrung und -praxis gegenübergestellt. Für den Protagonisten wie auch für seinen fiktiven kastalischen Biografen ist ‚die Musik‘ eine gleichermaßen ästhetische wie ethische Kraft. Wann immer diese beiden Aspekte getrennt betrachtet werden, scheint Hesse den ästhetischen vor allem der westlichen klassischen Musik, den ethischen vor allem der alten chinesischen Musik zuzuordnen; doch letztlich ist in beiden Traditionen nur die Musik erstrebenswert, die beide Dimensionen vereint. In Knechts Worten: «Denn eine Moral letzten Endes bedeutet jede klassische Kulturgebärde, ein zur Gebärde zusammengezogenes Vorbild des menschlichen Verhaltens» (S. 42). Musik entspringt der Harmonie von Denken und Fühlen, den beiden Polen des menschlichen Lebens. Wenn einer der beiden Pole – das Intellektuelle oder das Sensuelle – vorherrscht, degeneriert die Musik und signalisiert damit den Niedergang der Kultur, die sie hervorbringt. Knecht betrachtet die Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als degeneriert, da in dieser Periode die Sinnlichkeit das Intellektuelle in den Hintergrund drängt. Steht er jedoch vor einer Klasse angehender Glasperlenspieler, so betont er umgekehrt, daß Musik mit den Händen und Fingern, dem Mund und den Lungen gemacht wird und nicht etwa allein mit dem Gehirn, und daß es keinesfalls ausreicht, das rein intellektuell Zugängliche von der Substanz der Musik zu abstrahieren. Wie hoch die moralische Wirkung der Musik anzusetzen ist, wird im Text durch drei umfangreiche Beobachtungen zur alten chinesischen Musik unterstrichen. Bereits in seiner ‹Einführung› zitiert der kastalische Chronist eine lange Passage über die Beziehungen, die der konfuzianischen Lehre zufolge zwischen der Musik und verschiedenen soziopolitischen Situationen bestehen. Die Ausführungen (beginnend auf S. 27 mit «Die Ursprünge der Musik liegen weit zurück») entstammen einem zwischen 265 und 239 v.u.Z. herausgegebenen Buch, als dessen Initiator Lü Bu We gilt, der Regent der Qin-Dynastie während der Kindheit des ersten Kaisers2. Der Chronist schickt seinem Zitat eine allgemeine Beobach2

Hesse bezieht sich hier auf die Schrift Frühling und Herbst des Lü Bu We, von dem namhaften Sinologen Richard Wilhelm 1928 in deutscher Übersetzung herausgegeben (Düsseldorf und Köln: Diederichs; Neuauflage 1971). Hesse hatte die Schrift begeistert gelesen, rezensiert und erwähnt sie wiederholt; vgl. Hermann Hesse. Die Welt im Buch IV. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1926–1934 (Frankfurt a.M. 2003), hrsg. von V. Michels, S. 129, 134, 266, 575, 599. Das Annalenwerk des Lü Bu We umfaßt 160 Kapitel, die die Lehren chinesischer Philosophen vom 12. bis zum 3. Jahrhundert v.u.Z. zusammenfassen. Die von Hesse exzerpierten Passagen finden sich in Buch 5, Kapitel 2–4.

Musik als Inhalt, Form und Metapher in Hesses Kastalischer Utopie 97

tung voraus: «Im sagenhaften China der ‹alten Könige› […] war der Musik im Staats- und Hofleben eine führende Rolle zuerteilt; man identifizierte geradezu den Wohlstand der Musik mit dem der Kultur und Moral, ja des Reiches» (S. 26). Eingeschoben zwischen diese Betrachtungen findet sich eine Bemerkung, die das Behauptete anekdotisch bestätigt: die Dichter erzählten furchtbare Märchen von den verbotenen, teuflischen und dem Himmel entfremdeten Tonarten […], der ‚Musik des Untergangs‘, bei deren frevelhaftem Anstimmen im Königsschloß alsbald der Himmel sich verfinsterte, die Mauern erbebten und stürzten und Fürst und Reich zu Falle kamen (S. 26–27).

Die Anspielung bezieht sich auf eine Episode innerhalb eines chinesischen Geschichtsromans über den Niedergang der Zhou Dynastie (1066–256 v.u.Z.), auf die Hesse in einem früheren Werk, Klingsors letzter Sommer, ausführlicher eingeht: Ein Fürst führt seinen eigenen Untergang und den seines Volkes herbei, indem er gegen den Rat seines Hofmusikmeisters darauf besteht, einer Musik zu lauschen, die in einer neuen, höchst gefährlichen Tonart komponiert ist3. Der dritte Verweis auf die alte chinesische Musik und ihre moralische Kraft stellt den Bezug zu den Personen der kastalischen Erzählung her. Während seiner freien Studienjahre widmet sich Knecht vorrangig dem Erlernen der chinesischen Sprache, Kultur und Philosophie. Wie sein Biograf berichtet: Überall bei den älteren chinesischen Schriftstellern stieß er auf das Lob der Musik als einer der Urquellen aller Ordnung, Sitte, Schönheit und Gesundheit (S. 131).

Der Musikmeister, dessen Spezialgebiet und große Liebe zwar die westliche Musik ist, dessen Charakter und Lebensentwicklung aber das Bild eines chinesischen Weisen evozieren, wird bemerkenswert häufig als «heiter» beschrieben. Dieses Adjektiv erscheint fast wie eine Chiffre für die Harmonie im Menschlichen wie im Musikalischen. In dem Exzerpt aus dem Lü Bu We liest man: Die verfallenden Staaten und die zum Untergang reifen Menschen entbehren freilich auch nicht der Musik, aber ihre Musik ist nicht heiter. […] Was alle heiligen Fürsten an der Musik geschätzt haben, war ihre Heiterkeit. Die Tyrannen Giä und Dschou Sin machten rauschende Musik, sie strebten nach neuen und seltsamen Klangwirkungen […] Weil sie sich vom Wesen der eigentlichen Musik entfernt hat, darum ist diese Musik nicht heiter. Ist die Musik nicht heiter, so murrt das Volk, und das Leben wird geschädigt (S. 27–28).

Und von Josef Knecht ist überliefert: Die Gebärde der klassischen Musik bedeutet: Wissen um die Tragik des Menschentums, Bejahen des Menschengeschicks, Tapferkeit, Heiterkeit! (S. 42).

3

Hesse kannte das Märchen aus einem Buch, das er ebenfalls rezensiert hatte, Leo Greiners Chinesische Abende: Märchen und Geschichten aus dem alten China, Frankfurt a.M. 1913.

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Die Verbindung zwischen Musik und Heiterkeit ist einem Chinesen sofort einsichtig: Beide werden mit demselben Ideogramm geschrieben, das allerdings jeweils ganz verschieden ausgesprochen wird:

Die Geschichte von der Entstehung Kastaliens: eine diskursive Canzona Inhalt, Absicht, und Stil des Vorwortes, das der fiktive Chronist seiner Lebensbeschreibung Josef Knechts unter dem Titel Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte vorausschickt, sind für viele Leser zunächst befremdlich. Der pedantische Ton und die häufigen Abschweifungen vom angeblichen Thema verführen leicht zu dem Schluß, hier nehme jemand die, für die der Text angeblich gedacht ist – die Nichtkastalier – nicht ganz ernst, sei zumindest an deren wirklicher Einweisung in die Geheimnisse seiner Lebenswelt kaum interessiert. Bei genauem Hinsehen erweist es sich jedoch, daß diese Einführung in ganz ungewöhnlicher Weise strukturiert ist. Dies lässt sich besonders überzeugend aufzeigen, wenn man den literarischen Text einer musikalischen Analyse unterwirft, indem man Themen und Motive, Floskeln und cadenza-artige Einschübe identifiziert und in ihrer Häufigkeit, Verteilung und inneren Beziehung zueinander verfolgt. Als «Musiksatz in Worten» besteht die Einführung aus fünf Abschnitten, deren vier äußere fast genau gleich lang sind; nur der zentrale Abschnitt ist ein wenig kürzer (252 + 257 + 200 + 259 + 252 Zeilen; zu den folgenden analytischen Details vgl. auch Abb. 1). Der erste Abschnitt beginnt mit Vorbemerkungen, die erläutern, warum der Chronist es für wert hält, seinen Lesern – Menschen des 25. Jahrhunderts – die Biografie eines bestimmten Glasperlenspielmeisters aus dem frühen 23. Jahrhundert sowie dessen unveröffentlichte Schriften vorzustellen. Diese Rechtfertigungen werden am Ende des fünften Abschnitts kurz wieder aufgenommen und durch abschließende Bemerkungen ergänzt. Diese rudimentäre Symmetrie umrahmt einen ‚Satz‘, der auf zwei gegensätzlichen Themen und drei Motiven gründet. Seine vorrangigen ‚Floskeln‘ sind diverse Dementis; als virtuose ‚Kadenzen‘ gebärden sich drei gewichtige Zitate. Abschnitt 1 (bis S. 16: «versuchen wollen») stellt zunächst, wie in einer klassischen Sonatensatzexposition, die beiden Themen vor: «das feuilletonistische Zeitalter» als erstes und «das Glasperlenspiel» als zweites Thema. Der Chronist äußert einige Gedanken über die merkwürdige Epoche, aus der die neue Ordnung erwuchs, und wirft einen kurzen Blick auf das Symbol dieser neuen Ordnung. Dreimal setzt er mit Präliminarien an; dreimal unterbricht er sich mit scheinheiligen Dementis, um die Merkwürdigkeit eines biografischen Vorhabens in einer Welt, die alles Individuelle

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gering schätzt, zu entschuldigen. Ohne daß auch nur einmal der Name Kastalien fiele, evoziert der Erzähler so bereits auf der ersten Seite einige der Grundsätze seines Ordens, wobei er ihn wie eine wohlbekannte Einrichtung behandelt. Eingebettet in diese zunächst indirekte Einführung der privilegierten Weltsicht erklingt die erste längere abfällige Bemerkung über die Epoche des Niedergangs, dargestellt als ein trauriges Zwischenspiel zwischen den alten Hochkulturen in Ost und West (einschließlich ihrer würdigen Erben in folgenden Jahrhunderten) und der modernen Hochkultur, dem nach wie vor ungenannt bleibenden Kastalien. Die tatsächliche Einführung in das Glasperlenspiel, in der Überschrift so wortreich angekündigt und dann immer wieder verschoben, wird noch einmal von einem langen Dementi verdrängt. Dessen drei Komponenten, diesmal als Block vorgetragen, negieren jegliche Absicht, eine hinreichende Erklärung, vollständige Geschichte oder gar einen Schnellkurs zur Erlernung des Spiels liefern zu wollen. Nachdem somit feststeht, was das Folgende nicht sein will, beginnt die eigentliche Erläuterung. Der Chronist referiert zunächst über den Zustand des Glasperlenspiels zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Textes, preist die Präfigurationen der kastalischen Haltung in vorausgehenden Jahrhunderten und schließt mit der Legende von der Entstehung des Ordens. Jedes dieser drei Segmente betont die Musik als den reinsten Ausdruck menschlicher Gefühle und die Mathematik als die reinste Form abstrakter Wissenschaft, wobei deutlich wird, daß das Zusammentreffen der beiden jenen Zeugungsprozess initiierte, aus dem das Spiel aller Spiele entsprang. Ein langes Zitat aus Nikolaus von Kues’ Schrift Der Laie über den Geist 4 zielt auf die Vorstellung von der universellen Harmonie, welche erreicht wird, wenn der Geist die Phänomene der Welt mittels Zahlen und geometrischer Figuren symbolisch zu erfassen gelernt hat. Später führt eine kurze Meditation über die mythische Kraft der Musik das erste Motiv ein. Der Abschnitt schließt mit Betrachtungen zur Macht der Musik, wie sie von den Weisen des Altertums sowohl in Griechenland als auch in China erlebt wurde. Die chinesische Kultur und Philosophie wird in diesem ersten Abschnitt insgesamt dreimal kurz erwähnt; sie wird sich später als zweites Motiv der ‚Komposition‘ erweisen. Der zweite Abschnitt des fünfteiligen Musiksatzes (bis S. 23 «fähig wurde») entwickelt das erste Thema: das feuilletonistische Zeitalter und seine unfassbare Oberflächlichkeit. Die Eigenheiten dieser Epoche werden mit genüsslichem Entsetzen beschrieben, und der dadurch vermittelte Eindruck von Verächtlichkeit erscheint auch durch die beiden Dreiergruppen von Dementis, die scheinheilig betonen, daß Urteile Nachgeborener leicht unfair sind, nicht entschärft. Der Chronist schildert zunächst den Eindruck, den seine Zeitgenossen von dieser Epoche gewinnen, ver4

Dieses Zitat entstammt § 125 des Idiota de mente. Eine moderne deutsche Übertragung findet sich in Nikolaus von Kues, Der Laie über den Geist, neu übers. und mit Anm. hrsg. von R. Steiger, Hamburg 1995, Kapitel 9, S. 83–85.

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tieft diesen mit einer Erzählung vom allmählichen Niedergang des intellektuellen Lebens während der zwei Jahrhunderte vor der intellektuellen Reformation, und schließt mit der Beschreibung einiger seiner merkwürdigsten Erzeugnisse: den diversen Varianten des Feuilletons. Diese Beschreibung wird zweimal unterbrochen durch Klagen über die Tragödie des Niedergangs, den die geistig anspruchsvollen Wenigen nur mit Hilfe seichter Spiele wie z.B. des Kreuzworträtsels ertragen konnten. Die Abhandlung endet mit dem großzügigen Zugeständnis des Chronisten, Verzweiflung und Zynismus, die sich am Ende dieser Epoche häuften, müssten als erste Anzeichen erwachender Erkenntnis und Scham interpretiert und anerkannt werden. Der Mittelabschnitt (bis S. 28 «zum eigentlichen Thema zurück!») schlägt eine Brücke zwischen erstem und zweitem Thema, indem er über die Jahrzehnte des Übergangs berichtet sowie über die schließlich erfolgte Reformation des geistigen Lebens. Diese nahm ihren Ausgang unter der geistigen Führung der Musikwissenschaftler und dem spirituellen Einfluß der Morgenlandfahrer. Die Spiritualität, das dritte Motiv des ‚Musiksatzes‘ erscheint hier in enger Beziehung zum ersten, da der Chronist einen Exkurs über die vorbildliche Pflege alter Musik bei den Morgenlandfahrern einflicht. Er lobt die moralische Qualität der Musik insbesondere des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Wie schon im ersten Abschnitt des Satzes wird auch hier das zweite der drei Segmente mit einem ausführlichen Zitat, der schon früher erwähnten Passage aus dem Lü Bu We über die auf der Harmonie zwischen Himmel und Erde gründende Musik, untermauert. Die chinesische Weisheitslehre ist hiermit fest verankert als zweites Motiv der Einführung. Der 4. Abschnitt (bis S. 36 «der Basler Unbekannte gelegt») ist der Entwicklung des zweiten Themas vorbehalten. Dieses Thema stellt sich in einem allgemeinen und einem spezifischen Aspekt dar: der aus der intellektuellen Reformation resultierenden neuen Welt des Geistes und dem Glasperlenspiel als seiner hervorragenden Manifestation. Die Erläuterungen zum Spiel, wieder in drei Segmenten, behandeln die Erfindung der Spielfiguren, deren anschließende Verfeinerung sowie die universelle Ausweitung des Spiels. Alle drei Motive des Satzes (Musik, chinesische Weisheitslehre, Spiritualität) sind in diesem Abschnitt präsent, bei klarem Vorrang der Musik. Der Schlußabschnitt beendet die Beschreibung des Glasperlenspiels mit Erläuterungen zu seiner allmählichen kultischen Überhöhung, Spiritualisierung und Ritualisierung, seiner Rolle in der Sehnsucht nach Weltharmonie (hier besonders in Form einer Synthese aller menschlichen Kenntnis und Weisheit), seiner Beziehung zum Glauben im allgemeinen und der katholischen Kirche im besonderen, und seiner schließlichen Institutionalisierung. Erneut wird die Musik als vorrangig inspirierende Kraft bestätigt, die in der Verbindung mit der Meditation zusätzlich überhöht wird, und auch das Motiv der chinesischen Weisheit wird noch einmal aufgegriffen.

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In der ‚Coda‘ nimmt der Chronist Abstand von seinem Anspruch, einen erschöpfenden Abriß zu Hintergrund und Ziel des Glasperlenspiels zu geben, und umschreibt es stattdessen als «in erster Linie ein Musizieren» (S. 42). Damit unterstreicht er die Beziehung zwischen dem siegreichen zweiten Thema seiner ‚Komposition‘ und deren dominierendem Motiv. Nach einem dritten ausführlichen Zitat – Josef Knechts Hymne auf den Geist und die Frömmigkeit der klassischen Musik, angeblich der Mitschrift eines Studenten entnommen – schließt der Chronist mit einer abrupten Bemerkung, die den Bogen zu seinen Präliminarien zurück schlägt. Sein Stil ist hier so auffallend unelegant und pedantisch, daß man vermuten muß, er sei bemüht, sich von der allzu glühenden Musikverehrung seines Protagonisten zu distanzieren, die nicht nur deren erhabene Beziehung zu Moral und Ordnung, sondern auch deren Fähigkeit, Schicksal, tapferen Trotz und übermenschliche Heiterkeit auszudrücken, besingt. Jenseits von Themen, Motiven, Floskeln und Kadenzen enthält das thematische Material eine weitere Komponente in Form eines Stranges von Worten, die sich auf die Idee der universellen Harmonie beziehen. Hierzu gehören Namen wie Pythagoras sowie Begriffen wie Einheit, Analogie, Entsprechung, unio mystica, Synthese, Alchemie etc. Von den drei Zitaten, die die Aussage dieses Musiksatzes ‚kadenzierend‘ ausloten, betonen zwei – die Auszüge aus Nikolaus von Kues und Lü Bu We – diesen Gesichtspunkt. Das dritte Zitat mit den Worten Josef Knechts verleiht vordergründig der Spannung Ausdruck, der er sich in seinem Leben stellt, bezieht sich unterschwellig aber ebenfalls auf die Suche nach Harmonie. In Anbetracht ihres symmetrischen Aufbaus, ihrer Arbeit mit fünf thematischen Komponenten und den ‚Kadenzen‘ ihrer drei großen Zitate könnte man die Einführung des Chronisten mit den Worten beschreiben, die der Erzähler später für die Spielkomposition wählt, die Knecht kurz vor seiner Ernennung zum Magister Ludi für den alljährlichen Glasperlenspielwettbewerb der Waldzeller Elite einreicht: «Erbaute ein Spiel von zwar moderner und persönlicher Struktur und Thematik, vor allem aber von einer durchsichtig klaren, klassischen Komposition und streng symmetrischer, nur mäßig ornamentierender, altmeisterlich anmutiger Durchführung auf» (S. 196). In Hinblick auf die thematische Entwicklung steht das ‚Spiel‘ des Chronisten zugleich symbolisch für die Geschichte, der es als Vorspann dient. Eine Synthese der zwei im ersten Abschnitt aufgestellten kontrastierenden Themen wird nicht nur nie erreicht, sie wird nicht einmal angestrebt, denn der Chronist sieht das Glasperlenspiel, ebenso wie die geistige Welt, als deren Symbol es fungiert, als eine aus dem Schlamm einer zum Untergang verdammten und später konsequent überwundenen Kultur erblühte Lotusblume an. Vom dritten Abschnitt an ignoriert dieser ‚Komponist‘ die dialektische Verarbeitung, die für bithematische Strukturen klassischer Musikformen typisch wäre. Stattdessen erinnert seine Behandlung des Materials an Instrumentalwerke der italienischen Canzona-Tradition des 16. Jahrhunderts, in der

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Abbildung 1: Thematische Analyse der fünf Abschnitte in der «allgemeinverständlichen Einführung»

das zweite Thema (sowie eventuelle weitere) häufig nicht selbständig entsteht, sondern aus dem ersten erwächst – mit dem Ergebnis, daß ein solcher Satz weder eine Reprise der ursprünglichen thematischen Gegenüberstellung noch eine abschließende Synthese kennt. Hellhörige Hesse-Leser könnten also zu beobachten meinen, der Chronist habe die ‚musikalische Struktur‘ seiner Einführung nach den Stücken für Laute oder frühe Tasteninstrumente modelliert, die im Leben zweier seiner Figuren eine ‚einführende‘ Rolle spielen: Knechts Freund Ferromonte, der Musikwissenschaftler, schreibt als erste große Arbeit eine Stilgeschichte der Lautenmusik im 16. Jahrhundert, und der Musikmeister gestaltet Knechts Einführung in die Me-

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ditation anhand eines Stückes für frühe Tasteninstrumente, das nach Hesses Beschreibung eine Sonate von Giovanni Gabrieli (1557–1612) oder eines seiner Zeitgenossen sein könnte. Es liegt nahe, die musikalische Form, die der Chronist für seine Einführung wählt, auch symbolisch zu interpretieren. Eine Canzona beginnt dem Anschein nach wie ein Sonatensatz späterer Zeit mit zwei (meist innerlich verwandten) Themen, doch werden diese nicht gleichberechtigt behandelt, vielmehr wird das erste Thema vom zweiten ‚überwunden‘. So gesehen fungiert die Einführung in das Glasperlenspiel als eine Präfiguration dessen, was sich als Kastaliens große Gefahr in der Ära des Magister Ludi Josephus II erweisen soll: die Arroganz der geistigen gegenüber der natürlichen Welt.

Die Gesamtkomposition: ein höfischer Tanz Hesses vielschichtiges Werk hat, wie schon erwähnt, zwei Protagonisten: das Spiel und seinen Magister. Als Verwirklichung eines Ideals ist das Spiel im Prinzip zeitlos und ewig – das zumindest glauben seine Anhänger. Knechts Leben wird zwar in eine spezifische Zeit versetzt, doch diese ist ebenfalls vage und liegt von uns aus gesehen in der Zukunft, «um das Jahr 2200». Eine oft gedankenlose Gepflogenheit unterlaufend ist dieses Leben betont nicht durch Geburts- und Sterbedaten fixiert; vielmehr bleiben sowohl Knechts früheste Kindheit als auch sein allerletzter Lebensabschnitt ein Geheimnis: «Über Josef Knechts Herkunft ist uns nichts bekanntgeworden» (S. 44) und «von des Magisters letzten Tagen […] wissen [wir] nicht mehr als jeder Waldzeller Student und könnten es auch nicht besser machen als die ‚Legende vom Glasperlenspielmeister‘, welche bei uns in vielen Abschriften zirkuliert» (S. 377). Oberflächlich betrachtet stellt der Autor seinen Lesern Kastalien als eine scheinbar geschichtslose Institution vor, wogegen sein Magister Ludi eine Entwicklung durchmacht. Unterhalb dieser Oberfläche allerdings ist alles nicht ganz so einfach: Es gibt bei genauerem Hinsehen nicht nur ein Kastalien, sondern drei: das idealisierte Kastalien – projiziert nach Art eines Manifests im Motto des imaginären Albertus Secundus und porträtiert in der Entwicklungsgeschichte des Chronisten als konsequent seinem erhabenen Ziel entgegenstrebend – in dem zunächst die diversen Disziplinen, dann Geist und Seele, und schließlich sogar die ‚Welt des Geistes‘ und die ‚Welt als Ganze‘ in Konsonanz zueinander schwingen sollen; sodann Kastalien als eine reale Institution, die zur Zeit der Aufzeichnung bereits seit Jahrhunderten existiert hat, an der der Chronist und seine gleichgesinnten Zeitgenossen nach wie vor festhalten und für deren kürzlich erfolgte Reform und daraufhin verbesserten Dienst am Weltganzen sie dem Magister Josephus und seiner mutigen Gewissenshandlung Dank zollen; und schließlich das gefährdete Kastalien des 23. Jahrhun-

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derts, das seine Verbindung zu der Welt, aus der es hervorgegangen ist, weitgehend eingebüßt hat. Die Frage nach der Gattung des Werkganzen ist nicht leicht zu beantworten; ganz sicher greift die Bezeichnung «Roman», die in der englischsprachigen Ausgabe sogar Teil des Titels ist, zu kurz5. Musiker werden sich vielleicht an typische Strukturen in Renaissance-Tänzen erinnert fühlen, in denen zwei Materialkomplexe, die sich in Bezug auf Melodik, Tempo und Metrum deutlich unterscheiden, mehrfach miteinander alternieren6. Aus dieser Perspektive stellt sich Hesses narrative Konstruktion als ein Webmuster zweier abwechselnd sichtbar werdender Fäden dar, deren einer die Idee, Entstehung und Problematik der ‚Welt des Geistes‘ verfolgt, während der andere die Geschichte einer Seele nachzeichnet. Eine erste Bestätigung für eine im weiteren Sinne musikalische Deutung der Struktur ergibt sich bei der Entdeckung, daß jeder der hypothetisch angenommenen Stränge aus fünf Abschnitten besteht. Die 5 ist eine magische Zahl in diesem Werk, sowohl hinsichtlich der Elemente des strukturellen Makro- und Mikrokosmos7 als auch insofern etliche der inhaltlichen Motive im Verlauf der Gesamtkomposition genau fünfmal aufgegriffen werden8. Der den Gegensatz von geistiger und natürlicher Welt entwickelnde Strang lässt sich als musikalische Komposition in fünf ‚Sät5

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Die 1969 bei Henry Holt in New York erschienene und seither vielfach wieder aufgelegte ‚neuere‘ Übersetzung von Richard und Clara Winston trägt auf dem Buchdeckel den Titel The Glass Bead Game. A Novel; der Innentitel fügt als Querverweis den Wortlaut der ersten englischen Übersetzung hinzu – The Glass Bead Game (Magister Ludi) – und verzichtet auf den mißverständlichen Gattungshinweis. Nur drei Jahre bevor Hesse sein Werk konzipierte, formte der italienische Komponist Ottorino Resphighi (1879–1936) den Tanz der Grazien im als musikalische Ekphrasis auf Botticellis Gemälde Der Frühling komponierten ersten Satz seines Orchesterwerkes Trittico botticelliano (Mailand 1928) nach diesem Vorbild; vgl. den dreifachen Wechsel von Allegretto  und Vivo N in La Primavera, Ziffer [5]-[9]. Siehe hierzu Siglind Bruhn, A Concert of Painting: ‚Musical Ekphrasis‘ in the Twentieth Century, in «Poetics Today», 22:3 (Herbst 2001), S. 551–605, sowie zu Respighi das Kapitel Der sinfonische Flügelaltar in Siglind Bruhn, Das tönende Museum. Musik des 20. Jahrhunderts interpretiert Werke bildender Kunst, Gorz 2002, S. 51–91. Vgl. die fünf in Länge, Stil und rhetorischer Absicht deutlich unterschiedenen Komponenten des Werkes (Motto, Einführung in das Glasperlenspiel, Lebenbeschreibung, Gedichte und Lebensläufe), aber auch den ‚musikalischen‘ Aufbau der Einführung mit ihren fünf symmetrisch angelegten Segmenten und ihren fünf Komponenten des primären thematischen Materials. Siehe die fünf Personen, die Einfluß auf Knechts Leben haben (der Musikmeister, Tegularius, der Ältere Bruder, Pater Jakobus und Plinio Designori), aber auch die fünf vom YinYang-Konzept bestimmten Episoden (im Lü Bu We-Zitat der Einführung, in Knechts früher Kontemplation über das Heilige des Glasperlenspiels, in seinen Überlegungen zur Meister-Schüler-Abfolge, am Ende der langen Retrospektive des Chronisten vor Knechts Austritt aus dem Orden und zu Beginn von dessen klärendem Gesprächs mit Plinio Designori). Eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich in Siglind Bruhn, The Musical Order of the World: Kepler, Hesse, Hindemith, Hillsdale, NY, 2005.

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zen‘ interpretieren. Der erste, dritte und vierte dieser ‚Sätze‘ bilden in sich geschlossene Einheiten: die bereits diskutierte Einführung des Chronisten, Josef Knechts Rundschreiben in Kapitel 11 der Lebensbeschreibung und der Antwortbrief der Erziehungsbehörde in demselben Kapitel9. Ein vierter Satz entspricht seiner Form nach einem Musikstück, dessen erster Abschnitt von den folgenden deutlich abgesetzt ist, wie es in sinfonischen Sätzen häufig mittels Tempo- und Charakterwechsel geschieht10. Das Eröffnungssegment besteht hier aus zwei Monologen (einer aus der Feder des jungen Knecht, der andere überliefert als Rede des jungen Designori; beide enthalten im Kapitel «Waldzell»); der Hauptteil des Satzes folgt als ein 25 Jahre später geführter Dialog zwischen den beiden Männern, als Kernstück des Kapitels «Ein Gespräch». Der fünfte und abschließende musikalische ‚Satz‘ schließlich enthält Knechts nachgelassene Gedichte. Der zweite Faden des Gewebes, die Geschichte einer Seele, weist ebenfalls fünf Abschnitte auf: Dies sind die fünf Leben Josef Knechts, wie sie in Hesses Skizze aus dem Jahr 1931 angelegt sind und später leicht verändert übernommen wurden – d.h. seine Inkarnationen als prähistorischer Regenmacher, indischer Prinz, frühchristlicher Beichtvater, schwäbischer Theologe und Kastalier11. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, genügt die Komposition des ersten Stranges den Anforderungen eines «formalen» Glasperlenspiels: Die Sätze sind jeder für sich und in ihrer Beziehung zueinander vorbildlich transparent aufgebaut. Musikalisch faszinierend ist dabei, daß Hesse in den für die ersten vier Sätze gewählten Strukturen zugleich die Frühentwicklung der musikalischen Sonate nachzuzeichnen scheint12. Aber auch die abweichende Form des fünften Satzes sowie die Tatsache, 9

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In diesem Zusammenhang erscheint es aufschlußreich, daß Hesse Kapitel 11, Knechts Rundschreiben und die darauf erfolgende Antwort, nicht wie alle anderen Kapitel in der Reihenfolge der sich entfaltenden Erzählung schrieb, sondern wesentlich früher. Wie Volker Michels dokumentiert (Materialien zu Hermann Hesse ‹Das Glasperlenspiel› , Frankfurt a.M. 1973, Band. I, S. 43–44), sandte Hesse Kapitel 1 und 11 schon im September 1938 für einen möglichen Vorabdruck in der «Neuen Rundschau» an Suhrkamp. Es scheint inhaltlich relevant, daß Hesse Rundschreiben und Antwort offensichtlich entwarf, bevor er mit der eigentlichen Lebensbeschreibung begann. Man denke z.B. an die ersten Sätze aus Beethovens vierter, Brahms’ erster, Tschaikowskis sechster und Bruckners fünfter Sinfonie, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die Skizze findet sich in V. Michels, Materialien, Band I, S. 314–315. Da die Sonate in unseren Konzertsälen so eng mit den Wiener Klassikern Haydn, Mozart und Beethoven – einschließlich einiger Vorläufer und Nachfahren – verbunden ist, muß man sich erst daran erinnern, daß der Begriff einen viel früheren Ursprung hat. Vom 13. Jahrhundert an nachgewiesen, bezeichnete er lange Zeit allgemein von wenigen Instrumenten Dargebrachtes (sonata, seltener auch toccata) in Abgrenzung zum Gesungenen (cantata). Erst viel später wurde das Wort zum Gattungsbegriff für eine Kammermusikkomposition mit drei bis vier charakterlich unterschiedenen Sätzen innerhalb eines Werkes. Die sogenannte ‚Sonatensatzform‘, die aus einer Exposition zweier Themen und eventueller Motive, deren Durchführung (Verarbeitung und virtuos ausgetragener Opposition) und ‚versöhnter‘ Reprise (Wiederaufstellung in vereinheitlichter Tonart) besteht, erfuhr ihre

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daß er dem Ende der Gesichte Josef Knechts nachgestellt ist, lässt aus musikalischer Sicht anspruchsvolle Deutungen zu. Am Schluß der Lebensbeschreibung ist das dialektische Ziel des Glasperlenspiel-Stranges, die kontrastierenden Themen zu einer Synthese zu führen, noch nicht erreicht, so daß ein fünfter Satz nötig wird. Zu dem Zeitpunkt, da der Magister Ludi seinen Abschied aus Stellung und Orden ankündigt, erscheint eine Harmonisierung zwar generell möglich, nicht jedoch die Art, wie sie sich diskursiv und inhaltlich gestalten könnte. Zudem verlangt ihre Verwirklichung innerhalb der ineinander verwobenen Stränge einen Einschnitt, denn sie ist abhängig von den Schritten zur Synthese, die die ‚Seele‘ unternimmt, deren multiple Lebensgeschichte Hesse im komplementären zweiten Strang verfolgt. Josef Knecht mag seine Gedichte bereits in Waldzell geschrieben haben; Leser jedoch werden für diese Zusammenschau erst aufnahmefähig sein, nachdem der Magister Knecht die «schöne Brücke» Belpunt erreicht und in seinem Leben das Eingehen in die interpersonale Sphäre vollzogen hat. Die fünfsätzige Komposition, die den ersten der beiden oben genannten Stränge bildet, besteht also aus einer Folge diskursiver Schritte, wobei sich die thematischen Komponenten sowohl innerhalb jedes ‚ludischen‘ Satzes als auch im Gesamt der Komposition teils antithetisch, teils komplementär auf einander beziehen. Der bereits analysierte erste Satz liefert mit seiner Anlage in fünf Abschnitten und seinem auf fünf Komponenten basierenden thematischen Material das Muster für alle weiteren. Die beiden Themen – die intellektuelle Entartung des feuilletonistischen Zeitalters einerseits, die geistige Welt und ihr Symbol, das Glasperlenspiel, andererseits – werden in allen weiteren Sätzen direkt oder indirekt wieder aufgegriffen; die Motive der chinesischen Weisheit und der Spiritualität verbinden den ludischen Strang mit verwandten Motiven in den fünf Lebensläufen; und das Hauptmotiv, die Musik, erweist sich als ordnende Kraft schlechthin: in Spiel und Leben, Struktur und Thematik, Form und Inhalt. Tritt man einen Schritt zurück, um die Ganzheit der beiden verschlungenen Stränge zu erfassen, so bemerkt man, daß sich ihre 5 + 5 Segmente insgesamt nicht lediglich linear abwechselnd, sondern als eine abwechselnd im Vorder- und Hintergrund fortgesponnene Doppelentwicklung entfalten. Genau wie die Reflexionen über Kastalien und seine Entfremdung von der einfachen Welt im Verlaufe von volle Ausprägung erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese Form bestimmt fast immer den ersten Satz einer Solo- oder Duosonate, aber auch die Kopfsätze von Kammermusikwerken größerer Besetzung, von Sinfonien und, in leicht abgewandelter Form, von Konzerten für Solist und Orchester. Von den dem Kopfsatz folgenden Sätzen all dieser Werke können einer oder mehrere ebenfalls in Sonatensatzform komponiert sein. Hesse hatte während der frühen Arbeit am Glasperlenspiel diesen Teil der musikalischen Gattungsgeschichte mit Hilfe seines musikwissenschaftlich gebildeten Neffen Karl Isenberg studiert; er lässt sie auch in die Lebensbeschreibung einfließen, wenn der Musikmeister Knechts nervliche Erschöpfung während seines Debattierduells mit Designori behandelt, indem er ihn in Überlegungen zu den Ursprüngen der Sonatensatzform verwickelt.

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Knechts Lebensgeschichte immer wieder an die Oberfläche treten, so spielen umgekehrt auch die Themen, die die Entwicklung der Seele bestimmen, eine entscheidende Rolle im diskursiven ludus.

Abbildung 2: Die Verflechtung eines Glasperlenspiels mit der ‚Geschichte einer Seele‘

Dialog der thematischen Repräsentanten: ein barocker Sonatensatz Der zweite Satz – der ‚schnelle Musiksatzes mit langsamer Einleitung‘ – basiert auf Themen, die im ersten impliziert aber nicht artikuliert sind: einerseits die wachsende Distanz zwischen der inzwischen hoch entwickelten geistigen Welt und der weitgehend unveränderten natürlichen Welt, andererseits die aus dieser Distanz geborene und ihr entgegen wirkende Sehnsucht nach Harmonie. Die beiden Themen werden im Wechsel miteinander aufgestellt und durchgeführt, wobei gezeigt wird, daß jeder Versuch einer Synthese zu einem Konflikt führt. Unter den drei wiederkehrenden Motiven steht das erste für gegenseitigen Respekt als einen entscheidenden Schritt in Richtung auf Harmonie, mit dem zweiten beklagt der Weltmann voller Bitterkeit das Versagen der Versöhnungsbestrebungen, und mit dem dritten sucht der Kastalier die Kluft mit Gelassenheit zu betrachten. Die von den beiden Waldzeller Debattierpartnern getrennt vorgetragenen Monologe, die den ersten Abschnitt bilden, bestehen aus einem schriftlichen und einem mündlichen Bekenntnis. In einem Brief an den Musikmeister berichtet Knecht von den Bedenken, die Designoris Kritik an der kastalischen Welt in ihm auslöst – von seinen wachsenden Zweifeln, das Glasperlenspiel sei im Grunde nichts als schöngeistige Spielerei und Kastalien eine schmarotzende und eingebildete Drohne. Komplementär dazu dringt Designori in seinen an den kastalischen Freund gerichteten Abschiedsworten auf Anerkennung der Gefahren, die den beiden Welten drohen: sowohl derjenigen, die Gefühle sublimiert und sich von Instinkten abschottet, als auch der gegenteiligen, die «naives Leben ohne geistige Zucht» befürwortet und daher «zum Sumpf werden und ins Tierische und noch weiter zurückführen muß» (S. 105). Die beiden Monologe sind genau gleich lang (je 40 Zeilen, vgl. S. 93–94 und 105–106); sie setzen die beiden Themen des Satzes voraus, verweilen jedoch nicht bei ihnen und betonen stattdessen die Notwendigkeit gegenseitiger Achtung. Der ein Vierteljahrhundert später folgende klärende Dialog der beiden Männer fügt vier weitere Abschnitte hinzu.

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Abschnitt 2 des ‚Satzes‘ (der erste des Dialogs) beginnt mit der Exposition der zwei Themen, die mit dem Ziel einer Demaskierung entwickelt werden: Knecht führt die Ansprüche an das zwischenmenschliche Verständnis ad absurdum, während Designori die Fiktion entlarvt, scheinbar fröhlich zwischen Eliteschule und weltlichem Zuhause hin- und herreisende Hospitanten seien ein Beispiel für eine mögliche Synthese, und beklommen von seinen mißglückten Versuchen berichtet, eine Harmonie zwischen beiden Welten dadurch zu erzielen, daß er kastalische Wertvorstellungen und Haltungen in die Außenwelt trug. Abschnitt 3 beginnt mit einer Wiederaufnahme der beiden Themen, deren Durchführung vom Motiv des gegenseitigen Respekts unterstrichen wird. Der Abschnitt schließt erneut mit einer Reminiszenz eines Konflikts: dem, der entsteht, wenn Weltleute ihr wohlmeinendes aber oberflächliches Interesse an Kastaliens geistigen Errungenschaften durch Kurzbesuche und Glasperlenspielkurse für Dilettanten auszudrücken versuchen. Diese Variante des Konflikts erzeugt Bitterkeit, das zweite Motiv des Satzes. Abschnitt 4 beginnt mit einer Gegenüberstellung von Bitterkeit und Heiterkeit als Möglichkeiten innerer Haltung, und führt schließlich zum Thema der Distanz zurück. Eine neue Entwicklung, deren Brennpunkt der gegenseitige Respekt ist, schließt mit einer Wiederaufnahme des Harmonie-Themas, das nun vor dem Hintergrund der Wahl zwischen Bitterkeit und Heiterkeit ausgespielt wird. Der abschließende fünfte Abschnitt bringt die Reprise des Hauptthemas. Ein gelassener Blick auf die tatsächliche Distanz und die ersehnte Harmonie enthüllt die dritte Manifestation des Konflikts, der in der Seele des Einzelnen wütet. Der ‚Satz‘ endet mit einer erneuten Wiederaufnahme des Harmonie-Themas, umgeben von ausgedehnten Pufferpassagen, in denen das Motiv der Heiterkeit jeden Spalt der verbalen Textur füllt. Der getrennte Kopf des Satzes und sein späterer Rumpf sind jeweils eingerahmt. Den ersten Abschnitt umgeben zwei musikalische Metaphern: Kurz bevor er Knechts Bericht von der ihn verunsichernden Debatte zitiert, kündigt der Erzähler «die innere Geschichte der Freund-Feindschaft zwischen Josef und Plinio» an, indem er sie eine «Musik über zwei Themata» nennt (S. 90). Und Ferromonte kommentiert, nachdem er Plinios Abschiedsworte in Nachschrift festgehalten hat: «Mir, dem Musiker, war dieses Bekenntnis Plinios, dem ich nicht immer gerecht geworden war, wie ein musikalisches Erlebnis. Der Gegensatz: Welt und Geist, oder der Gegensatz: Plinio und Josef hatte sich vor meinen Augen aus dem Kampf zweier unversöhnlicher Prinzipien in ein Konzert sublimiert» (S. 106). Abschnitt 2–5 sind ebenfalls eingerahmt: Sie werden eingeleitet von den Dankesbekundungen der beiden Männer, daß sie Aspekte ihrer so verschiedenen Leben haben teilen dürfen, und abgerundet durch eine wirkliche Erfahrung geistigen Teilhabens: Knecht musiziert für seinen Freund. Der musikalische Aufbau des Satzes erinnert an Sonatensätze des Barock. Wieder lässt sich vermuten, daß Hesse eine subtile Beziehung knüpfte zwischen musikalischen Vorlieben seiner kastalischen Figuren und der musikalischen Form. Nach der Einführung im ersten ludus-Satz bringt dieser inhaltlich aus indirektem Dialog und

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Abbildung 3: Aufbau und thematisches Material einer Debatte

direktem Gespräch gebildete Satz einen Schritt der Bewußtwerdung. In der Lebensbeschreibung verbringt Knecht eine entsprechende Phase, seine ersten Semester in Waldzell, mit dem Studium der reich ornamentierten Musik von Louis Couperin (1626–61), Henry Purcell (1659–95) und deren Zeitgenossen; als freier Student forscht Knecht zur Sonatenform bei Johann Jacob Froberger (1616–67); Pater Jakobus sucht seine abendliche Entspannung beim Spiel von Klaviersonaten aus dem 17. Jahrhundert; und am Ende des langen Dialogs mit Designori versucht Knecht, die Anspannung des inzwischen leidgeprüften Weltmannes zu verringern, indem er ihm eine Purcell-Sonate vorspielt.

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Geist als Gegensatz, Partner oder Teil der Natur: die Entwicklung der dialektischen Form Der dritte Satz der Komposition, Knechts Rundschreiben an die Erziehungsbehörde, wird wie die Chronisten-Einführung des 1. Satzes von Präliminarien und Coda umschlossen. Auch er besteht aus fünf Abschnitten und basiert auf fünf thematischen Komponenten: zwei Themen und drei Motiven. Besonders frappierend ist dabei die thematische Verwandtschaft mit dem 1. Satz. Die Welt des Geistes ist diesmal das Hauptthema, ein Gegenstand der Besorgnis wegen der uneingestandenen Gefahren und des drohenden Niedergangs. Ihm als Seitenthema gegenübergestellt erklingt die Erinnerung an das feuilletonistische Zeitalter, hier jedoch dargestellt als etwas, von dessen Fehlern Kastalien im eigenen Interesse lernen sollte. Die unterstützenden Motive sind «Dienst», «Geschichtsbewußtsein» und «Glasperlenspiel».

Abbildung 4: Thematisches Material und Struktur in Knechts Rundschreiben

Der dritte Satz greift also die prominenten Bestandteile des ersten auf und beleuchtet sie aus einem neuen Blickwinkel. Die Beziehung zwischen Kastalien mit seinem Glasperlenspiel auf der einen Seite und dem intellektuell entarteten 20. Jahrhundert auf der anderen ist hier umgekehrt, in Hinblick sowohl auf ihre Position in der musikalischen Struktur als auch auf ihre erzieherische Bedeutung. In der Einführung stellt der Chronist das feuilletonistische Zeitalter als eine vergangene Epoche vor, über die man wie über eine Kinderwelt lachen oder sich wundern kann – eine Vergangenheit, der die Welt des Geistes entwachsen ist, um nun auf ewig zu leuchten. In Knechts Rundschreiben dagegen ist die Welt des Geistes gefährdet, wenn nicht bereits im Niedergang begriffen, das Glasperlenspiel erscheint als ein mögli-

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cherwiese überflüssiger Luxus, während das feuilletonistische Zeitalter als warnendes Beispiel ernst genommen wird. Musikalisch ist dies eine sehr freie Behandlung der Sonatensatzform: Sie enthält alle Strukturelemente, ordnet sie jedoch nach Kriterien innerer Notwendigkeit und nicht nach denen geltender Konvention – und gleicht damit dem Verhalten des magister ludi Josephus II, der die Formen seines Ordens vollendet beherrscht, sie jedoch im Interesse seines als dringend empfundenen Warnrufes überschreitet. Der vierte Satz, die Antwort der Erziehungsbehörde, verwendet Motive des Rundschreibens neben den Themen des zweiten Satzes. «Geschichtsbewußtsein» erklingt jetzt als erstes Motiv und «Dienst» als zweites, doch scheinen beide kaum mehr als eine höfliche Kenntnisnahme der Ausführungen eines hohen Magisters: Bestätigungen von Aspekten, die in Bezug auf die Frage, um die es geht, im Grunde als irrelevant angesehen werden. Die zwei kontrastierenden Themen, die Knechts Vorschläge für eine Verbesserung der Beziehung zwischen der geistigen und natürlichen Welt betreffen, sind die aus dem Knecht-Designori-Gespräch, doch werden sie hier – wie die Themen des ersten Satzes im dritten – mit umgekehrten Vorzeichen aufgegriffen. Im 1. Thema («Harmonie») spricht sich die Erziehungsbehörde zwar lobend, doch in einem durch seine herablassende Jovialität verletzenden Ton über Knechts Analyse aus; im 2. Thema («Distanz») werden Knechts Schlußfolgerungen eine nach der anderen mit der Begründung abgelehnt, eine nähere Einmischung Kastaliens in die Entwicklung der Außenwelt sei weder durchführbar noch wünschenswert. Die letzte Komponente des Satzes thematisiert den Gehorsam, den jeder Kastalier der Hierarchie schuldet, und geht damit auf die Chronisten-Einführung zurück. Dieses dritte Motiv manifestiert sich in zwei einander ergänzenden Aspekten: als Rüge von Knechts eigenwilliger Verletzung dieser Gehorsamspflicht und als fast penetrante Betonung der «Mehrheit», deren Entscheidungsmacht in kurzer Folge zwölfmal beschworen wird.

Abbildung 5: Thematisches Material und Struktur in der Antwort der Erziehungsbehörde

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Dieser Satz ist viel kürzer als die vorangehenden drei; dennoch zeigt sein Aufbau wieder fünf thematische Komponenten sowie fünf Abschnitte und folgt in etwa dem Schema einer (immer noch vorklassischen) Sonatenhauptsatzform. Die im dritten Satz erreichte formale Freiheit hat keine Spuren hinterlassen, und eine Vollständigkeit der Reprise mit einer harmonischen Versöhnung beider Themen wird nach wie vor nicht erreicht. In Hinblick auf die Art, wie die ersten vier Sätze ihre Themen behandeln und sich um eine Synthese bemühen oder drücken, zeigt der ludus bis hierher ein Muster symmetrischer Inversion in allen Dimensionen. Die explizite Antithese oder kreuzweise Behandlung in den Themen der Sätze 1+3 bzw. 2+4, die bereits erwähnt wurde, wird ergänzt durch implizite Antithesen in den Sätzen 1+2 und 3+4.

Abbildung 6: Die Dialektik im thematischen Material der ersten vier ‚Sätze‘

Die innere Entwicklung der im jeweiligen Satz sprechenden bzw. schreibenden Personen steht in direkter Beziehung zur Entwicklung der musikalischen Form. Während die Chronisten-Einführung das Problem der Entfremdung zwischen Kastalien und der Welt kaum anerkennt und nie ausdrücklich eingesteht, erheben die Debattierpartner das Wortpaar «Distanz – Harmonie» zum leitenden Themenpaar. Diese Offenheit wird auf eine nächste Ebene gehoben, wenn ein Magister des kastalischen Ordens die Kluft nicht mehr lediglich analysiert und beklagt, sondern durch beispielhaftes Verhalten zu überbrücken sucht. Doch macht die Antwort, mit der die Erziehungsbehörde die Warnung und Vorahnung eines ihrer führenden Männer gering schätzt und seine Verbesserungsvorschläge mit der Begründung zurückweist, eine engere Beziehung sei nicht in Kastaliens Interesse, jede Hoffnung auf eine Synthese zunächst zunichte; die Sonatensatzform fällt wieder in ihr überkommenes Schema zurück.

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Die innere Notwendigkeit zur Überwindung der überkommenen Form Das Kastalien des 23. Jahrhunderts ist elitär; seine Ordensbrüder ignorieren die Außenwelt weitgehend. Die Vorstellung von dem bunten aber oft chaotischen Reich der Sinne und des Gefühls, von Familie, Politik und Wirtschaft, Zeitung und Unterhaltungskultur sowie dem Wettkampf jedes Einzelnen um Erfolg, Reichtum und gesellschaftliches Ansehen lässt die Kastalier erschaudern; die Klöster der katholischen Kirche erscheinen ihnen intellektuell schwerfällig und geistig doktrinär. Infolge dieser Haltung sind die Beziehungen zur Außenwelt bis auf den minimalen höflichen Kontakt verkümmert. Während offener Antagonismus selten ist, häufen sich Mißverständnis und Unbehagen, und keine der Seiten strebt noch ernsthaft nach Annäherung. Kastalien, aus der größeren Welt erwachsen und weiterhin auf deren finanzielle Zuschüsse und menschliche Ressourcen angewiesen, versagt in seiner Aufgabe, diese Welt seinerseits konstruktiv zu beeinflussen und nach besten Möglichkeiten zu transformieren. Die einzigen Ordensmitglieder, die dieser in den Statuten genannten Mission gerecht werden, sind die Schullehrer: Sie verlassen die hermetische Provinz, um junge Menschen auszubilden, deren Ziel es ist, in der Welt erfolgreich zu sein. Nur diese Lehrer tragen zur dringend nötigen Harmonisierung der beiden Sphären bei. Das Glasperlenspiel dagegen, das dem Ziel einer universellen Synthese verschrieben ist, vernachlässigt es noch immer, nach einer Überwindung dieses letzten Gegensatzes – der geistigen und der natürlichen Lebensform – zu streben. Diese Synthese wird bekanntlich nicht innerhalb der Lebensgeschichte(n) erreicht; die Hoffnung auf Harmonie zwischen intellektuell-spirituell ausgerichteten und soziopolitisch orientierten Lebensentwürfen, auf die die Erzählung zuzustreben scheint, bleibt unerfüllt. Auch Josef Knecht kann als Einzelner nur erste Schritte in diese Richtung unternehmen. Was zunächst enttäuschen mag, lenkt die Aufmerksamekeit der Leser doch zum Entscheidenden zurück: daß es in diesem Werk Hesses nicht in erster Linie um die Selbstverwirklichung eines Individuums oder einer elitären Gemeinschaft geht, sondern um das Glasperlenspiel, den Entwurf eines kunstvollen Mediums zur Bewahrung und Harmonisierung aller kulturellen Werte der Menschheitsgeschichte. Die Auswirkungen von Knechts integrativem Bemühen können nur indirekt erfahren werden, doch spricht die Haltung der Kronzeugen deutlich zu seinen Gunsten: Zu dem Zeitpunkt, da der Chronist im frühen 25. Jahrhundert die Feder ergreift, existiert Kastalien nicht nur fort, sondern scheint zu florieren. Während der ungefähr zweihundert Jahre, die seit Knechts Tod vergangen sind, hat die geistige Welt es offenbar verstanden, ihre integrativen Bemühungen gegenüber der Außenwelt zu verstärken. Dafür gibt es ein sichtbares Zeichen: Die ursprüngliche Verurteilung von Knechts vorgeblicher Abtrünnigkeit seitens der kastalischen Hierarchie ist der Einsicht gewichen, daß seine Entscheidung im Grunde einem tieferen Gehorsam gegenüber der Idee des Glasperlenspiels entsprungen war.

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Doch heißt dies nicht, daß die Integration von geistiger und sinnlicher Welt nun etwa vollzogen wäre. Eine wahre Synthese auf dieser letzten Ebene mag zu den Dingen gehören, die immer Ziel bleiben und nie ganz verwirklicht werden. Die Änderungen, die Knecht für unabdingbar hielt, können nur allmählich herbeigeführt werden – durch historische Prozesse, die Knecht durch das Beispiel seiner eigenen Lebensentscheidungen auszulösen hoffte. Im Gegensatz zu vielen Kastaliern hat Knecht den Mut sich einzugestehen, daß er die Verantwortung für die eigene Konformität oder aber den als nötig erkannten Widerstand ganz und gar selbst tragen muß, und öffnet sich einer Einsicht, die seine Mitbrüder lieber vermeiden. Ablehnung und Spott nicht scheuend teilt er seine Befürchtungen denen mit, die sie am wenigsten zu hören wünschen, aber am dringendsten benötigen. Schließlich verlässt er eine Lebenswelt, für die er in einzigartiger Weise vorbereitet war, um seinen eigenen Einsichten treu zu sein, aber auch, um die Dringlichkeit seines Rufes nach Reformation mit dem höchstmöglichen Einsatz zu unterstreichen. Kaum hat er diesen entscheidenden Schritt getan, endet sein Leben. Dieser Tod mag für die Erwartung anteilnehmender Romanleser bedrückend abrupt kommen, ist jedoch eine Konsequenz von Knechts Rolle innerhalb der größeren Dichtung, in der die Lebensbeschreibung nur eine von mehreren Komponenten darstellt. Der namenlose Erzähler, der viele Generationen nach Knecht schreibt, ist die lebendige Stimme eines Kastalien, das sich Knechts Mahnungen posthum zu Herzen genommen hat und – ohne Zweifel mit einigen Schmerzen und verzögert durch mehrere Generationen – etliche seiner Verbesserungsvorschläge in die Tat umgesetzt hat. Dem Kastalien des 25. Jahrhunderts mit seiner fortbestehenden Struktur aus Behörde und Elite, Schulen, Archiven und Spielerdorf dient der außergewöhnliche Magister Ludi Josef Knecht als Anreger, Vorläufer und Prophet. Doch ist dies nicht die einzige Rolle, die er in Hesses Werk einnimmt. Er ist nicht nur der Protagonist der zentralen Lebensbeschreibung, sondern auch das Nebenthema in einer Erzählung, deren Hauptthema das Glasperlenspiel ist. Aus dieser Perspektive sind die Auswirkungen seiner persönlichen Erlebnisse nicht nur Aspekte in dem Harmonisierungsprozess des Spieles, sondern zugleich dessen Symbole. Die Zielsetzung, «die Inhalte und Ergebnisse nahezu aller Wissenschaften auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen», gilt als entscheidendes Merkmal des Glasperlenspieles. Nach dem Bericht des Chronisten vollzog sich dessen Entwicklung in vier Stadien. Im ersten wurden verschiedene Aspekte der Musik abstrahiert in einer Weise, die es möglich machte, ihre Essenz in einem Spiel mit auf Drähte gezogenen gläsernen Perlen zu erfassen. Im zweiten Schritt wurde eine Formelsprache entwikkelt, die eine Anwendung auf die Inhalte anderer Wissensgebiete erlaubte. Das dritte Stadium brachte die Universalisierung, und im vierten Stadium wurde der intellektuell-ästhetische Inhalt durch Spiritualisierung in Form geführter Kontemplation ergänzt, um das Spiel vor reiner Virtuosität zu bewahren. Die Spiritualität wurde bald zu einem tragenden Element des (privaten wie öffentlichen) Glasperlenspiels.

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Die Anzahl der genannten Stadien – vier – macht stutzig. Wie Hesse auf jeder Strukturebene seines Werkes zeigt, ist die Fünf seine magische Ziffer. Es ist keineswegs Zufall, daß das diskursive Glasperlenspiel fünf Sätze hat, deren bisher analysierte vier die Thematik zwar aus vielen Blickwinkeln beleuchten, aber nicht zu der Synthese führen, die von einem gelungenen Spiel erwartet wird. Ebenso wie dieser in das Gewebe des Werkes verwobene ludus erst mit einem fünften Satz innere Vollendung finden wird – einem Satz, der die unerwartete Form einer Gedichtsammlung hat – muß auch das Glasperlenspiel im fünften Stadium seiner Entwicklung die letzte Synthese zwischen geistiger und sinnlicher Welt anstreben. Knechts abrupter und auf den ersten Blick befremdlicher Tod zeigt sich daher als folgerichtiger Abschluß der Lebensbeschreibung in Hesses Glasperlenspiel. Selbst im günstigsten Fall hätte Knecht mit seiner Bemühung, als in der Welt dienender EliteKastalier eine persönliche Synthese der entfremdeten Bereiche herbeizuführen, kaum mehr tun können, als ein erstes Beispiel für die Aufgabe zu geben, die viele Generationen in Anspruch nehmen muß. Zudem wäre jede Verlängerung seines Leben in der Welt eher irreführend, insofern sie dazu verleitet hätte, Symbol und Symbolisiertes zu verwechseln. Hätte Hesse seinem Josef Knecht ein langes, in Behaglichkeit endendes Leben erlaubt, so wären Leser allzu leicht der Versuchung erlegen, seine persönliche Entwicklung für den Kern der Aussage zu halten. Das Material, das die größere Fragestellung verfolgt, hätte dann nur als eine Folge von die Helden- oder Heiligengeschichte unterbrechenden, bestenfalls interessanten, schlimmstenfalls störenden Exkursen gewirkt. Knechts plötzlicher Tod konfrontiert stattdessen mit der Notwendigkeit, den Sinn jeder Einzelheit im Werkganzen zu suchen, Entsprechungen aufzudecken und Muster symbolischer Beziehungen zu sehen, die sonst leicht unterbewertet werden. Der Rückfall der musikalischen Formen von der bereits erreichten Freiheit im dritten ludus-Satzes zugunsten der wiederhergestellten Konvention im vierten scheint dringlich nahezulegen, daß eine Lösung nur im Sinne von Knechts Aufruf zum «Transzendieren!» verkrusteter Konventionen zu erreichen ist. So scheint es folgerichtig, daß der fünfte Satz dieses Stranges nicht mehr dem Schema der Sonate verpflichtet ist.

Die Gedichte: eine Überwindung der Form zugunsten des Inhalts Joseph Milek charakterisiert Kastalien vernichtend als «eine Welt, die das künstlerische Schaffen verbietet, Frauen ausschließt, die Ehe ächtet, die Sexualität sublimiert, keine Politik kennt, keine Religion praktiziert, die Kollegialität kultiviert, die Anonymität fördert, die Psychologie mißbilligt, sich für Geschichte nicht interessiert, um das Schicksal nicht sorgt und die Zeit vergißt»13. Der Magister Ludi Josef 13

Übersetzt nach Joseph Milek, Hermann Hesse: Life and Mind, Berkeley 1978, S. 310.

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Knecht bricht mit verschiedenen dieser Regeln. Während seiner Mission im Benediktinerkloster kommt er gegen seinen Willen mit politischen Fragen in Berührung, von Pater Jakobus lernt er, die Bedeutung der Geschichte zu schätzen, und dank seines Kontakts mit Plinio Designori betrachtet er die «pädagogische Provinz» auch von außen und wird sich ihrer Kontingenz bewußt. Er verletzt in vollem Bewußtsein die kastalisch vornehme Zurückhaltung, als er seinen Entschluß, Amt und Orden zu verlassen, um ein einfacher Schullehrer zu werden, mit dem Drang rechtfertigt, seiner ‚inneren Stimme‘ zu gehorchen – ein Eingeständnis von solcher Peinlichkeit, daß der Ordenspräsident diagnostiziert, Knecht leide offensichtlich an «einem Zuviel an Gefühl für [die] eigene Person» (S. 405). Knechts Gewissen veranlaßt ihn, hinter sich zu lassen, was in seiner Welt als höchste Stufe angesehen wird, Harmonie jenseits dessen zu suchen, was seine Mitkastalier für denkbar halten, und dabei den Tod zu finden. Nicht zuletzt verletzt Knecht auch das Verbot kreativer Betätigung, indem er ausgerechnet das versucht, was am meisten geächtet wird: «Gedichtemachen galt für das denkbar Unmöglichste, Lächerlichste, Verpönteste» (S. 104). Knechts biografischer Weg zu einer Integration der elitären mit der normalen Welt, die in seinem erschreckenden Ende nur anklingt, und sein geistiger Weg zu demselben Ziel, der (im Gesamtaufbau von Hesses Glasperlenspiel) im dichterischen Ausdruck seiner inneren Kämpfe gipfelt, stellen parallele Schlußbildungen der beiden Stränge des zuvor beschriebenen ‚höfischen Tanzes‘ dar. Das diskursive Glasperlenspiel kommt der angestrebten Synthese bezeichnenderweise gerade in den zwei Sätzen am nächsten, die aus kastalisch nicht vorgesehenen Umständen entstehen: in einem Gespräch, in dem sich der Glasperlenspielmeisters mit einem Weltmann über den bedenklichen Zustand des Ordens und seine mangelnde Beziehung zur Welt austauscht, und in seinem an die Erziehungsbehörde gerichteten, alle Regeln durchbrechenden Warnschreiben und Rücktrittsgesuch. So erscheint es nur logisch, daß die letzte Auseinandersetzung und Harmonisierung in einem Medium erscheint, das weniger als alles andere vorgesehen ist: in Form gereimter Pentameter. Die 13 «Gedichte des Schülers und Studenten», mit denen der Chronist die Abteilung von Knechts hinterlassenen Schriften eröffnet, gehen über die den 1. und 3. Satz dominierende Gegenüberstellung von geistiger und natürlicher Welt hinaus und führen die im 2. und 4. Satz thematisierte Dialektik von erlebter Distanz und ersehnter Harmonie zu einer überraschenden Lösung. Die Annäherung wird dabei, wie zu erwarten, von Seiten der Glasperlenspieler geleistet. Ein Echo der beidseitigen Empfindlichkeit ertönt nur noch einmal am Beginn des Reigens, wo in zwei Gedichtpaaren die unterschiedlichen Ansprüche an das Leben bzw. die Angst jeder Welt, durch die andere erstickt zu werden, nachschwingen. Während in «Entgegenkommen» (2) die «ewig Unentwegten und Naiven» bezichtigt werden, in ihrem Verlangen, die Welt habe unkompliziert, sicher und daher flach zu sein, so weit zu gehen, daß sie jede Tiefe leugnen – ja durch «Streichung einer Dimension» sogar

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das Sonett, in das die Beobachtung gefaßt ist, 13-zeilig zum Stolpern bringen –, sehnen sich in «Doch heimlich dürsten wir» (3) die traumtanzenden Spieler nach mehr Wirklichkeit, ja sogar nach ein wenig Blut und Barbarei. Und während in «Buchstaben» (4) ein Wilder das unerträglich Unverständliche der Zeichensprache aus reiner Angst vernichtet, fürchten die Kastalier «Beim Lesen in einem alten Philosophen» (5), daß ihr jahrhundertealter Kulturschatz sich unter ihren Augen und ohne äußere Einwirkung von allein auflösen könnte. Auch hier ist Hesses Metapher musikalisch: das Schreckbild ist «wie eine Notenschrift», in der plötzlich «Kreuz und Schlüssel» gelöscht sind. Das 1. Thema dieses fünften Satzes im diskursiven Glasperlenspiel ist somit das Wissen um die Vergänglichkeit, die jede gelebte Welt intellektueller Prägung ebenso trifft wie die weniger geistige Außenwelt. Ihm steht im 2. Thema die Formelsprache gegenüber, die dieser Vergänglichkeit entgegenwirkt, indem sie nicht zeitlich und räumlich Definiertes, sondern Symbole für stets neu zu Interpretierendes anbietet. In der hier schon angedeuteten und später explizit ausgeführten ideellen Parallelisierung von Musik und Glasperlenspiel bestätigt sich eine im Verlauf des Werkes immer wieder angesprochene tiefe Beziehung; in der Tatsache, daß das konkrete Spiel und seine Adepten der Vergänglichkeit unterliegen, die Musik jedoch nicht, erweist sich diese als dem intendierten Geist noch näher stehend. Die drei Motive, die auch hier das thematische Material zur Fünfteiligkeit vervollständigen, sind das menschliche Potential,14 der Dienst15 und die Heiterkeit – Letztere mit dem Nebengedanken der geistigen ‚Genesung‘, die die harmonisierende Funktion dieses Satzes unterstreicht16. Das Thema der Vergänglichkeit durchzieht sieben der Gedichte. Schon die eröffnende «Klage» beginnt mit «Uns ist kein Sein vergönnt», spricht davon, daß der Mensch wie ein Ton ist, der «nie gebrannt» wird, und unterstellt, er würde in seiner Not sogar «zu Stein erstarren» wollen, um nur einmal das Gefühl der Dauer zu erleben. «Der letzte Glasperlenspieler» (6) führt den Lesern die Vergänglichkeit eines ganzen Standes vor Augen, während sich in «Dienst» (9) selbst das Geschlecht der 14

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Zum menschlichen Potential vgl. vor allem die Bilder vom knetbaren Ton in der Hand des göttlichen Töpfers (1), von der dem Traumspiel geopferten Gegenwart (3), von der Gleichwertigkeit aller menschlichen Leistungen (10) und von der zuletzt als positiv erkannten, endlosen Wandelbarkeit des Menschen (12). Zum Ideal des Dienstes, das schon im 3. und 4. Satz des diskursiven Spieles Motiv war, vgl. die Interpretationsaufgabe, die umso wesentlicher ist, als in (5) und (8) ihr materielles Substrat vernichtet wird, und die Andeutung des immateriell fortbestehenden «Amtes» in (9). So kann der Wilde im Gedicht Buchstaben erst seufzen, lächeln und genesen, nachdem dank seines Autodafés «diese Un-Welt, dieser Zaubertand, / Dies Unerträgliche zurück ins Niegewesen / Gesogen» wurde. Und in Stufen erkennt der Mensch, daß «vielleicht auch noch die Todesstunde / Uns neuen Räumen jung entgegensenden» wird und daß er, indem er diesem Ruf des Lebens stets mit Bereitschaft zu Veränderung und Neuanfang gehorcht, in jedem Abschiednehmen gesunden kann.

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Götter als sterblich erweist. «Ein Traum» (8) lässt den erschreckten Besucher einer Klosterbibliothek erleben, daß alle geistigen Antworten letztlich beliebig sind und in ihrer Beziehung zwischen Buchtitel und -inhalt viele Möglichkeiten zulassen; in «Seifenblasen» (10) werden das Alterswerk eines geläuerten Weisen und das genialische Werk eines jungen Forschers mit den Seifenblasen eines Knaben verglichen. Das Gedicht Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles (11) – eine Meditation über die Verklärung, die jede Epoche in den Augen Nachgeborener erhält – thematisiert das Verhältnis zwischen Vergehendem und Bleibenden, doch ist hier der Akzent von der Trauer über die Unbeständigkeit auf deren Weisheit verschoben: vergänglich sind vor allem die persönlichen Zweifel und Schmerzen, während alles, was der unzulängliche Geist daraus zu destillieren weiß, von Dauer ist. Das bekannte Gedicht Stufen (12) schließlich lebt aus dem Wissen um die notwendige, stetige Wandlung, nimmt also der Vergänglichkeit ihre passive Bedingtheit und macht sie zur aktiven Tat, die Erreichtes nur aufgibt, um neuen Aufgaben entgegenzustreben. Denn aller Wandel betrifft nur die Oberfläche, nicht die Essenz: der Geist ist unsterblich, wenn auch nicht seine Produkte (5/17–20); «niemals starb des wahren Lebens Ahnung» (9/13). Überwunden wird die Vergänglichkeit in jedem Versuch des Menschen, dem Geist immateriellen Ausdruck zu verleihen: «Denn auch in uns lebt Geist vom ewigen Geist […]: er überlebt das Heut, nicht Du und Ich» (11/34–36). Dabei haben die Vorstellungen des menschlichen Ehrgeizes keinerlei Bedeutung: Die aus dem «Maya-Schaum der Welten» erschaffenen «zaubrischen Träume» der Gebildeten und Kinder sind gleichermaßen zeitbedingt und haben ihren Wert darin, daß in ihnen «sich erkennt das ewige Licht, und freudiger entbrennt» (10/14–17). Am meisten Widerstandskraft gegen die Vergänglichkeit bietet, was weitestmöglich vom Materiellen abstrahiert. Dies trifft in hervorragender Weise zu auf die Musik und das Glasperlenspiel: beide bedienen sich Chiffrenschriften, die das Intendierte, im zeitlichen Fluß je neu und je anders zu Verwirklichende nur andeuten, aber nie restlos einzufangen beanspruchen. Zwei Gedichte, das siebte und das zwölfte, sind gänzlich dem zweiten Thema gewidmet. «Zu einer Toccata von Bach» (7) erschafft eine ganze Welt räumlich wie zeitlich. Auf Metaphern des Ungeformten, ursprünglich Seienden (Urschweigen, Finsternis) türmt das Gedicht Bilder des Schöpfungsprozesses (der Strahl, der durchbricht, herausgreift, sichtbar macht, entzwei spaltet und sich schließlich zu Gott zurück schwingt; der zu Lust und zu Not wird, zu «Sprache, Bild, Gesang», also allen Künsten, der zugleich Trieb und Geist ist), um in Bildern des Geschaffenen zu gipfeln: die Welt, entzündet durch den göttlichen Strahl, glänzt auf, wandelt sich, ordnet sich schließlich, und preist klingend das Leben und seinen Schöpfer. Musik in ihrer idealen Verwirklichung, wie Hesse ihr in den Kompositionen Johann Sebastian Bachs begegnet, erwirkt eine unhinterfragbare Synthese zwischen geistiger und natürlicher Welt, insofern sie diese nicht als Gegensätze einander an-

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nähert, sondern als Bestandteile einer Einheit anspricht. So ist Musik für Josef Knecht die Harmonie schaffende Kraft im doppelten Wortsinn. Auch das abschließende Gedicht, Das Glasperlenspiel, beginnt mit einer Erinnerung an die Kraft der Musik. Der Wortlaut der ersten Zeile, «Musik des Weltalls und Musik der Meister», scheint an Boethius und Kepler erinnern zu wollen, insofern es die himmlischen Konstellationen der musica mundana neben die musica instrumentalis der «verehrten Geister begnadeter Zeiten» stellt. Musik ist hier weniger tönend dargestellter Inhalt als ideell Konsonantes: Gleichnis der Ordnung, die allen anscheinend ungeformten Manifestationen des irdischen Lebens zugrunde liegt. Der geistige Mensch dient dieser vielgestaltigen Musik und findet darin seinen höchsten Sinn, seine wahre Bestimmung, die vollkommen frei von Angst ist. Denn von hier führen alle Wege nur noch zum heiligen Zentrum (13/12), dem unvergänglichen Geist selbst.

Elio Matassi

Hermann Hesse und die ‹Neupythagoreische Musiklehre› 1. Die Musik spielte im Leben Hermann Hesses von Kindheit an eine zentrale Rolle. In seinen jungen Jahren schätzte er Komponisten wie Chopin, aber auch Brahms und Wagner, von dem er sich jedoch später in tiefer Polemik entfernte. Sein ganzes Leben lang liebte er dafür Schubert, Schumann und Händel, und auf ganz besondere Weise Mozart und Johann Sebastian Bach. Unter den Komponisten, die seine Gedichte in Musik umsetzten, lobte er ausschließlich seinen Freund Othmar Schoeck, obwohl selbst Richard Strauss für seine Vier Letzte Lieder Gedichte von Hermann Hesse benutzt hatte. Abgesehen von der statistischen Konsistenz der biografischen Hinweise, ist Herrmann Hesses Beziehung zur Musik sehr eng, wobei sie vor allem den Kernpunkt einiger seiner Romane berührt, insbesondere Das Glasperlenspiel, das Komponisten aus dem Bereich der improvisierten Musik und dem gemischten Terrain aus zeitgenössischer und popular music 1 inspiriert hat. Im Glasperlenspiel scheint Hesse besonders an Bach interessiert zu sein, den er in einer Wagner auf polemische Weise entgegengesetzten Dimension wiedergewonnen hat. Das Spiel mit den Glasperlen ist nämlich ein Spiel, das auf der Verarbeitung einer abstrakten und universellen Sprache beruht, wo der mathematische Aspekt der Musik in den Vordergrund gehoben wird. Alle träumen nach Hesses Ansicht davon, das geistige Universum in konzentrischen Kreisen zu schließen und die lebende Schönheit der Kunst mit der Magie der exakten wissenschaftlichen Formel zu vereinigen. Kurz gesagt, die ‹Spieler› suchen nach einer geheimen, jedoch universellen Sprache, die anhand einer symbolischen Algebra die Quintessenz der Künste und Wissenschaften auszudrükken vermag, wie in Novalis’ Träumen. Hesse stellt sich einen kleinen, vollständig geistigen Staat vor, den er Kastalien (Land der Keuschheit) nennt. Ein Teil der jungen Leute pflegt die Musik, die Astronomie, die Mathematik und verzichtet auf das Heiraten und auf jeglichen Lohn: Fremde dürfen dort wohnen, um dann in ihre Welt zurückzukehren. Es handelt sich hier um eine Idee, die eine prägnante Bezugnahme auf eine Form der pythagoreischen Musiklehre voraussetzt. 1

Ich beziehe mich hier vor allem auf eine bestimmte Art von Konzert wie die für Horn und Orchester vom 10. November 1998, The Glass Bead Game (Audio CD) hrsg. von James Beckel, Susan Salminen, Richard Cioffari.

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Ich habe zu diesem Zweck folgendes Schema entwickelt: a) werde ich mich der Interpretation-Rekonstruktion der pythagoreischen Musiklehre mit ihrer besonderen Vokation-Beschreibung einer kosmologischen Weltmusik widmen; b) werde ich, ausgehend von Rudolf Haases Artikel Herrmann Hesse und die harmoniale Tradition 2, der in zwei Teilen in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschien, die Beziehung zwischen Hesse und der pythagoreischen Musiktradition rekonstruieren, wobei ich vor allem die Akroasis – und zwar die Theorie der Weltharmonie – Hans Kaysers fokussieren werde3. Ohne das Bild der pythagoreischen-neupythagoreischen Musiklehre aus den Augen zu verlieren, werde ich einen Vergleich zwischen den von Herrmann Hesse im Glasperlenspiel und den von Thomas Mann im Doktor Faustus begründeten Thesen anstellen, vor allem zu denen im 8. Kapitel bezüglich des Vortrags von Wendell Kretzschmar, Die Musik und das Auge 4.

2. Es gibt eine Interpretation des Tons als «astrale Chiffre» und, spiegelbildlich, der Musik als einfaches Echo der Sphärenharmonie, die ihre Grundlage in der pythagoreischen Musiklehre findet, in deren Zentrum das Experiment des Kanons bzw. Monochords steht. Eine Interpretation, die in den folgenden Punkten dargestellt werden kann: a) die Sphärenharmonie ist eindeutig eine symbolische Lehre von deutlich theologischem Inhalt, der in zweierlei Hinsicht präzisiert und konkretisiert wird: b) die Pythagoreer scheinen wirklich geglaubt zu haben, daß die kosmische Ordnung aus einfachen Zahlenverhältnissen der Tonwelt bestünde, da die Planetensphären in ihrer gegenseitigen Distanz den musikalischen Intervallen entsprachen; c) zumindest in ihrer populären Version behauptete ihre Lehre, daß durch die Bewegung der Himmelskörper, je nach Geschwindigkeit und Weite des Umlaufs (die numerischen Werte der Vibrationen entsprechen der Länge der Saiten), tatsächlich Noten freigesetzt würden, die in einem strengen Verhältnis zueinander stehen. Im Mittelpunkt der pythagoreischen Musiktheorie steht das Experiment des Kanons, bzw. Monochords. Verstanden als empirisches Instrument zur Überprüfung von Intervallen, hat das Monochord dazu beigetragen, die Saiteninstrumente zu perfektionieren, sowohl bezüglich der Technik des Stimmens, die somit zur Wissenschaft wurde, als auch bezüglich des Instrumentenbaus selbst. Eben genau anhand dieses musikalisch sicheren Parameters wurde eine Erweiterung des gesamten 2

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Derselbe Artikel wurde auch in Rudolf Haase veröffentlicht, Aufsätze zur Geschichte der Harmonik. Platon, Leibniz, Bahr Hauer, Hesse. ‹Schriften über Harmonik›, II, Bern, 1984, S. 65– 72. H. Kayser, Akroasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt, Basel, 1946. Th. Mann, Doktor Faustus, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1990.

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Spektrums der Saiten möglich gemacht und es konnten immer kleinere Intervalle eingefügt werden. Der Kanon übernahm auch die Rolle der Form selbst des Schönen und des Ordentlichen: die Einfachheit und die Ordnung der Beziehungen war im Bereich der Ästhetik, sowohl für die Musik, als auch für alle anderen Künste, Anlaß für die ‹starke› Idee, daß die Schönheit in der Gleichmäßigkeit der Teile läge. Der unbestreitbare mathematische Charakter der pythagoreischen Untersuchungen traf das gesamte Universum der Töne sehr heftig, die dank ihrer Identifizierbarkeit mit den Zahlen das Entstehen einer wirklichen Lehre der Harmonik ermöglichten. All dies erscheint durch die Untersuchung des Harmoniekonzepts und des Gebrauchs dieses Begriffs in der Musik auf musikalischer Ebene offensichtlich. ‹Harmonie› in der Musik der Antike und, allgemeiner gesagt, in der griechischen philosophischen Kultur, bedeutet etwas zu vereinigen, zu verbinden, zu verknüpfen und stammt von dem griechischen Verb armozo, das eben bedeutet, die verschiedenen Teile mit taktilem Sinn der Anpassung zu vereinigen, zu verknüpfen, wie es für den Tischler oder Schmied typisch ist. Im erweiterten Sinn ist es die philosophische Idee von der Verknüpfung der entgegengesetzten Elemente, die der pythagoreischen Lehre eigen ist, für die die Vereinigung der gegenteiligen Elemente, angefangen bei den ersten beiden (gerade und ungerade), und im musikalischen Sinne durch eine gewisse Art von Tonartikulationen und Intervallen charakteristisch ist. Die enge Verbindung von Kanon und Harmoniekonzept wird in der griechischen Musik deutlich, wenn man sich auf einen weitgreifenderen Gebrauch desselben Begriffs Harmonie bezieht, indem man den Begriff auf seinen philosophischen Wert ausdehnt. So wie der Kanon Ausdruck von Ordnung, Konsonanz, Verbindung entgegengesetzter Elemente war, und nicht nur für die Ohren des Musikers, sondern auch für den Verstand des Philosophen und des Mathematikers, so herrschte die Harmonie im Kosmos und im gesamten Universum. Auf mathematischer, so wie auch auf musikalischer Ebene, stieß die pythagoreische Utopie der Übereinstimmung von Sein und Zahl auf die Offensichtlichkeit der eigenen Berechnungen, und führte somit einerseits zu den irrationalen und inkommensurablen Größen, andererseits zu einer erzwungenen Deutung der Welt der Töne. Zu diesem Scheitern gesellt sich auf ästhetisch-philosophischer Ebene die Kombination zwischen der Idee der Proportionen und der Idee der Schönheit. Die Definition des Schönen, sehr generell ausgedrückt, stimmt hier mit der Idee des Kosmos überein, d.h. also mit etwas, was mit Ordnung und Harmonie zu tun hat. Der Kosmos ist das, was schön ist, und das, was schön macht (kosmetikòs, daher die modernen Kosmetika). Die Idee einer mathematisch konstruierten Welt, oder genauer ausgedrückt, das Prinzip, daß die Naturgesetze Gesetze der Mathematik wären, war bei den ersten Pythagoreern eine absolute Gewißheit und konnte zur höchsten religiösen und philosophischen Offenbarung emporsteigen. Die Harmonie also, allgemein gesehen als Vereinigung der Gegensätze, wurde als objektive Eigenschaft der Dinge betrach-

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tet und als Prinzip, auf dem das gesamte Universum gründete. Die Welt vermochte nichts anderes zu sein als eine ordentliche Koexistenz der Dinge. Die proportionalen Beziehungen und die mathematischen Zusammenhänge waren Ausdruck für das Wesen der Phänomene, sowie der ‹Kanon› die Regel war, die Norm, welche die Erkenntnis und somit die Wiedergabe der Dinge selbst ermöglichte.

3. Rudolf Haase stellt in seinem bereits erwähnten Artikel5 das Problem der Abhängigkeit Hermann Hesses von Hans Kayser auf besondere Art dar; er bezieht sich dabei auf den Roman, der unter verschiedenen Gesichtspunkten als ein auf herausragende Weise ‹musikalischer› Roman betrachtet werden kann: Das Glasperlenspiel. Haase stellt die Vermutung an, daß der Schweizer Musikgelehrte, auch Lusor oder Jucolatur Basiliensis genannt, von dem man im Roman spricht, der das Spiel durch die Korrelation zur Musik bis hin zur Universalität geführt hätte, die Figur Hans Kaysers verbergen könnte, der seit 1933 in der Schweiz lebte. Haase erinnert außerdem an den Brief, den Kayser an Hesse schrieb, um diesen um eine Rezension seines Buches Akroasis zu bitten, eine Anfrage, die unerfüllt blieb. Hesse berichtet diesbezüglich, wenigstens was die zentrale Inspiration seines Romans betrifft, das Werk des berühmten Astronoms und Mathematikers des Barock, Kepler, gelesen zu haben, dessen Bild ziemlich genau überliefert worden war. Eine ausführlich dokumentierte Kenntnis, wenn man an die Kepler gewidmete Rezension denkt, die Kosmische Harmonie lautet und die es seines Erachtens nach verdient, vollständig wiedergegeben zu werden: Der heutige Gebildete ist stolz darauf, daß er nicht mehr, wie noch vorgestern, die Gedanken und Systeme der vormodernen, vorchristlichen Epochen bloß zu belächeln weiß, daß er Lebenswerte hinter ihnen vermuten lernte. Ach, wenn man nun so ein Buch ansieht, wie dies Keplersche, dann schüttelt es einen vor Grausen über unsere Leere, und man staunt ergriffen über die Fülle von Leben, Wissen, Ehrfurcht, Andacht, Freudigkeit, Frömmigkeit, mit welcher ein Gelehrter der Zeit um 1600 so ein Buch schreiben konnte! Es ist eine Harmonielehre, in welche zwar, die musikalische Harmonielehre mit einbegriffen ist, jedoch nur als Teil. Das Ganze gilt nicht der menschlichen Musik, sondern der Musik des Weltalls, dem Schöpfungskonzert, und hat zur Grundlage den freudigen Glauben an die Einheitlichkeit und Harmonie des Weltplanes, ein Glaube, in dem Nachklänge, von Pythagoras und starke platonische Einflüsse mit einem naiven Christenglauben sich aufs beste vertragen. Oft klingt es darin wie Händelsche Musik, so stolz und zugleich warm, so überlegen und zugleich naiv, so strahlend und verklärt.6

In diesem kurzen Kommentar zu den Harmonices Mundi stellt Hesse das Wesen des Keplerschen Werkes heraus, indem er es mit der Gefühllosigkeit und der geistigen 5 6

R. Haase, Aufsätze zur Geschichte der Harmonik, a.a.O. J. Kepler, Kosmische Harmonie (Walter Hamburger) Leipzig, 1927.

Hermann Hesse und die ‹Neupythagoreische Musiklehre› 125

Leere seiner eigenen Epoche vergleicht. Bei Hesse ist der Akzent der tiefen Bewunderung für das Streben nach Freude, Wissen und Andacht-Devotion, das von den Seiten des zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfaßten Traktats ausgeht, deutlich spürbar. In der Auffassung eines harmonischen Kosmos laufen zwei Traditionen zusammen, die platonisch-neuplatonische mathesis universalis und die spekulative Musik pythagoreisch-platonischer und augustinischer Herkunft; gemeinsam bilden sie einen Forschungsbereich, der sich aus Mathematik, Musiktheorie und Kosmologie zusammensetzt, der die vier Künste des «Quadrivium» umfaßt. Wie in der Antike, wirft auch bei Kepler der Einfluß der Musik auf Philosophie und Wissenschaft und, umgekehrt, die Abhandlung Philosophie-Musik (hier im Sinn ihres wissenschaftlichen Aspekts), die ihre Wurzeln in der Lehre des Pythagoras, des Aristoxenos und in Damons Theorie der Ethik hat (drei Richtungen, die noch bei Kepler gegenwärtig sind), das parallele Vorgehen von zwei miteinander verwandten Wissenschaften wieder auf: die wissenschaftliche Revolution (Astronomie und Physik) und die musikalische Revolution (bezogen auf die Polyphonie und die Klassifizierung der Konsonanzen) vereinigen sich in der von Kepler aufgezeigten kosmologischen Vision. Wenn man von der Querelle absieht, die meines Erachtens nach hermeneutisch unfruchtbar ist, ob Hesse durch die Wiederaufnahme Kaysers von der großen pythagoreisch-keplerschen Tradition beeinflußt wurde oder nicht, ist es unleugbar, daß Hesse bei mehr als einer Gelegenheit nicht nur beweist, die Existenz der Harmonik zu kennen, sondern auch ihre tiefste Bedeutung durchschaut zu haben. Das erste Element nämlich, das diese Lehre charakterisiert, ist die Universalität, als Bereich, in dem sich die gegenseitigen Beziehungen zwischen allen existierenden Elementen entwickeln. Die erste Eigenschaft, die sich auf den Virtuosismus und die Qualität des Glasperlenspiels auswirkt, ist die Universalität. In der vierten Einleitung beschreibt Hesse das Spiel mit den folgenden Worten: Das Spiel der Spiele hatte sich, unter der wechselnden Hegemonie bald dieser, bald jener Wissenschaft oder Kunst, zu einer Art von Universalsprache ausgebildet, durch welche die Spieler in sinnvollen Zeichen Werte auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen befähigt waren. Zu allen Zeiten stand das Spiel in engem Zusammenhang mit der Musik und verlief meistens nach musikalischen oder mathematischen Regeln.7

In der Einleitung des Orpheus schreibt Kayser: Man muß sich vergegenwärtigen, was es bedeutet, nur noch in Beziehungen zu denken und das Warum als eine im Grunde genommen gar nicht statthafte Frage anzusehen. Es handelt sich hier um eine grundsätzliche Wendung, Abwendung von der heute üblichen Weltansicht. Daß dieses ‹in Beziehungen Denken› selbst auf der wissenschaftlichen Ebene äußerst fruchtbar sein und zur Auffindung wichtiger Gesetzlichkeiten führen kann, zeigt das Lebenswerk Keplers. Es werden positive Erkenntnisse gewonnen, die der schärfsten Logik standhalten und die Gefahr der Antinomien, des ‹Deus ex machina› vermeiden, oh-

7

H. Hesse, Das Glasperlenspiel, in Gesammelte Werke, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 42.

Elio Matassi 126 ne dem gefürchteten ‹Ignorabimus› zu verfallen. ‹Beziehung› ist jedoch Ton, und damit stehen wir an der Grenze von Seele und Welt.8

Das Spiel der Spiele wird daher zu einer Art von universeller Sprache, die den Spielern erlaubte, Werte anhand von bedeutungsvollen Zeichen auszudrücken, indem sie diese in ein gegenseitiges Verhältnis zueinander setzten. Die Schlüsselwörter, die das Wesen des Spiels besiegeln, sind: Universalität-Wert-Verhältnis, und alle drei sind eng mit musikalischen und mathematischen Regeln verbunden. In einigen entscheidenden Passagen seines Romans erklärt Hesse genauer dazu, zum Beispiel: Diese Regeln, die Zeichensprache und Grammatik des Spiels, stellen eine Art von hochentwickelter Geheimsprache dar, an welcher mehrere Wissenschaften und Künste, namentlich aber die Mathematik und die Musik (beziehungsweise Musikwissenschaft) teilhaben und welche die Inhalte und Ergebnisse nahezu aller Wissenschaften auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen imstande ist. Das Glasperlenspiel ist also ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern hervorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspiel so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren.9

Und weiter: Was nun dem Glasperlenspiel zu jener Zeit noch fehlte, das war die Fähigkeit zur Universalität, das Schweben über den Fakultäten. Es trieben die Astronomen, die Griechen, die Lateiner, die Scholastiker, die Musikstudenten ihre geistvoll geregelten Spiele, aber das Spiel hatte für jede Fakultät, jede Disziplin und ihre Abzweigungen eine eigene Sprache und Regelwelt. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis der erste Schritt zur Überbrückung dieser Grenzen geschah.10

Für Hesse ist die symbolische Sprache oder Grammatik des Spiels sehr hoch entwikkelt. Zu ihr gehören viele Wissenschaften und Künste und vor allem die Mathematik, die Musik und die Musikwissenschaft, dank derer ein gegenseitiges Verhältnis der Inhalte und der Ergebnisse aller Wissenschaften möglich wird. Ihre Register und Manuale messen den gesamten geistigen Kosmos, mit einem solchen Instrument könnte man theoretisch den ganzen geistigen Inhalt des Kosmos wiedergeben. Die Eigenschaften der Universalität des Glasperlenspiels werden mit folgenden Worten weiter dargestellt: 8 9 10

H. Kayser, Orpheus. Morphologische Fragmente einer allgemeinen Harmonik, Basel, 1926, S. IX. H. Hesse, Das Glasperlenspiel, a.a.O., S. 15. Ebd., S. 38.

Hermann Hesse und die ‹Neupythagoreische Musiklehre› 127 Denn wie jede große Idee hat es eigentlich keinen Anfang, sondern ist, eben der Idee nach, immer dagewesen. Wir finden es als Idee, als Ahnung und Wunschbild schon in manchen früheren Zeitaltern vorgebildet, so zum Beispiel bei Pythagoras, dann in der Spätzeit der antiken Kultur, im hellenistisch-gnostischen Kreise, nicht minder bei den alten Chinesen, dann wieder auf den Höhepunkten des arabisch-maurischen Geisteslebens, und weiterhin führt die Spur seiner Vorgeschichte über die Scholastik und den Humanismus zu den Mathematiker-Akademien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und bis zu den romantischen Philosophien und den Runen der magischen Träume des Novalis. Jeder Bewegung des Geistes gegen das ideale Ziel einer Universitas Litterarum hin, jeder platonischen Akademie, jeder Geselligkeit einer geistigen Elite, jedem Annäherungsversuch zwischen den exakten und freieren Wissenschaften, jedem Versöhnungsversuch zwischen Wissenschaft und Kunst oder Wissenschaft und Religion lag dieselbe ewige Idee zugrunde, welche für uns im Glasperlenspiel Gestalt gewonnen hat. Geister wie Abälard, wie Leibniz, wie Hegel haben den Traum ohne Zweifel gekannt, das geistige Universum in konzentrische Systeme einzufangen und die lebendige Schönheit des Geistigen und der Kunst mit der magischen Formulierkraft der exakten Disziplinen zu vereinigen.11

Selbst Kayser hebt im Orpheus mehrmals dasselbe Konzept hervor, zum Beispiel an folgender Stelle: Alle Beziehungssetzungen aber, worin die Zahl eine wesentliche Rolle spielt, sind ein unverkennbares Merkmal harmonikalen Denkens und Anschauens, so wie wir im vorliegenden Werke das Wort ‹Harmonik› verstehen und wie es aller Wahrscheinlichkeit nach auch von den großen Harmonikern späterer Zeiten, Pythagoras, Ptolemäus, Kepler, Leibniz, verstanden worden ist.12

Und weiter: Es ist seltsam genug, daß im erwachenden antiken Denken die Harmonik die allergrößte Rolle spielte und in den Werken des Pythagoras und Plato dem klassischen Denken und Empfinden das Gepräge seiner Besonderheit verlieh. In den vorantiken Ländern war sie nur innerhalb der Geheimschulen (Priesterkasten) lebendig und durchaus unpersönlich, kosmisch gerichtet.13

Einige Passagen weiter: Die Eigentümlichkeit der Harmonik ist darin zu sehen, daß sie als Weltansicht – worunter wir Religion und Philosophie, Wissenschaft und Kunst einbegreifen – das Sein und Werden in ein Gewebe von Beziehung auflöst, innerhalb deren sich bestimmte Gesetzlichkeiten nachweisen lassen, die deutlich nach einem einheitlichen Ursprung dieses Seins und Werdens verweisen.14

An das Konzept der Universalität schließt sich das der Einheit an: Die Elite Kastaliens zeichnet sich durch die Aufgabe aus, ihr besonderes, einzigartiges und preziöses symbolisches Geheimnis zu bewahren, zu pflegen und zu hüten: das Glasperlenspiel. Kastalien bildet große Musiker, Kunsthistoriker, Philologen, Mathematiker und Ge11 12 13 14

Ebd., S. 16. H. Kayser, Orpheus. Morphologische Fragmente einer allgemeinen Harmonik, a.a.O., S. II. Ebd., S. III–IV. Ebd., S. VII.

Elio Matassi 128

lehrte aus anderen Fächern heran. Kastalien zwingt seine Anhänger nicht, die eigenen Fachgebiete aufzugeben, indem es sie dazu ermahnt, sich vor der Tendenz zur Selbstgenügsamkeit und zur Selbstgefälligkeit der eigenen Entdeckungen zu hüten: Jedes kastalische Institut und jeder Kastalier sollte nur zwei Ziele und Ideale kennen: in seinem Fache das möglichst Vollkommene zu leisten und sein Fach und sich selbst dadurch lebendig und elastisch zu erhalten, daß er es beständig mit allen andern Disziplinen verbunden und allen innig befreundet weiß. Dieses zweite Ideal, der Gedanke der inneren Einheit aller geistigen Bemühungen des Menschen, der Gedanke der Universalität, hat in unsrem erlauchten Spiel seinen vollkommenen Ausdruck gefunden.15

Von den Aspekten der Universalität und der Einheit leitet sich unmittelbar der Aspekt der Zentralität her. In dem den Studienjahren gewidmeten Kapitel, begreift Knecht an einem gewissen Punkt seiner Entwicklung die Bedeutung des Symbols, eine theoretische und geistige Errungenschaft, die eine intellektuelle, oder vielleicht noch eher eine intuitive Reife des Studenten festlegt, der behauptet: Wir können unser Spiel und uns selbst nur dadurch als unentbehrlich ausweisen, daß wir es stets auf der Höhe des gesamten geistigen Lebens halten, daß wir jede neue Errungenschaft, jede neue Blickrichtung, und Fragestellung der Wissenschaften uns wachsam aneignen und daß wir unsre Universalität, unser edles und auch gefährliches Spiel mit dem Gedanken der Einheit immer neu und immer wieder so hold, so überzeugend, so verlokkend und reizvoll gestalten und betreiben, daß auch der ernsteste Forscher und fleißigste Fachmann immer wieder seinen Mahnruf, seine Verführung und Lockung empfinden muß.16

Das Glasperlenspiel ist also ein System, eine Methode, wo jedes Zeichen Träger einer allgemein gültigen Bedeutung ist. Das Wesen des Spiels liegt in der Fähigkeit, die Gesamtheit der Begriffe zu vereinigen und zusammenzufassen, indem sie an ihren gemeinsamen Ursprungsort zurückgeführt werden, an den Ort der Abstraktion und der Allianz, wo das Innerste des Seins verborgen ist, wo die Erkenntnis, der Enthüller der Wahrheit und das Zentrum des Universums versteckt sind. In der Harmonik vereinigen sich die Gleichtonlinien, die durch die Verbindung der Tonpunkte mit gleichem Zeichen entstehen; sie treffen sich nicht im materiellen Ausgangspunkt oder am Anfang des Lambdoma, sondern in einem Punkt der außerhalb dieses liegt, im Zentrum, das ohne kommensurable Größen die Ursprungsenergie, der Geheimschlüssel, der Enthüller des Schönen ist.

15 16

H. Hesse, Das Glasperlenspiel, a.a.O., S. 256. Ebd., S. 127–128.

Hermann Hesse und die ‹Neupythagoreische Musiklehre› 129

4. Unter Knechts Gedichten gibt es eines, das dreizehnte und letzte, mit dem Titel: Das Glasperlenspiel: Musik des Weltalls und Musik der Meister Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören, Zu reiner Feier die verehrten Geister Begnadeter Zeiten zu beschwören. Wir lassen vom Geheimnis uns erheben Der magischen Formelschrift, in deren Bann Das Uferlose, Stürmende, das Leben, Zu klaren Gleichnissen gerann. Sternbildern gleich ertönen sie kristallen, In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn, Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen, Als nach der heiligen Mitte hin17.

In den drei jambischen Vierzeilern drückt Hesse die Bereitschaft aus, die Musik des Kosmos und der Meister anzuhören und die verehrten Geister der begnadeten Zeiten heilig heraufzubeschwören. Die Versammelten fühlen sich vom Geheimnis der magischen Schrift erhoben, in dessen verzauberten Bann das Leben, die Leidenschaft und das Unendliche zusammenströmen, um Symbole zu schaffen, die wie Sternbilder kristallklar ertönen. Der Sinn des Lebens liegt darin, ihnen zu dienen und niemand kann aus ihren Kreisen austreten, es sei denn, er wendet sich zur Mitte. Hesse wählt die Gedichtform anstelle der Prosa, um bereits bekannte Begriffe auszudrücken, indem er eine signifikante, universelle und symbolische Sprache verwendet und diese in ihrer kristallenen Klarheit mit einem Sternbild in Korrelation bringt, und folglich mit der kosmischen Harmonie und ihrer Musik, die zwischen den Sphären ertönt. Diese abstrakte, universelle und allenfalls immaterielle Auffassung der Musik wird auch im Doktor Faustus von Thomas Mann ausführlich behandelt, vor allem im 8. Kapitel, in dem von den Vorträgen Wendell Kretzschmars im Saal der ‹Gesellschaft zur Förderung des öffentlichen Guts› berichtet wird. Es soll an jene erinnert werden, die Beethoven gewidmet sind, insbesondere Beethoven und die Fuge und letztlich an jenen, sehr anregenden Vortrag, der ‹Die Musik und das Auge› betrifft: Wie der Titel sagt, sprach unser Redner darin von seiner Kunst, insofern sie sich an den Gesichtsinn, oder doch auch an diesen wendet, was sie, so führte er aus, schon damit tue, daß man sie aufschreibe: durch die Notierung also, die Tonschrift, die seit den Tagen der alten Neumen, diesen Fixierungen aus Strichen und Punkten, welche die Klangbewegung ungefähr angedeutet hätten, immer und mit wachsender Sorgfalt geübt worden sei. Und nun waren seine Nachweise höchst unterhaltend – und auch schmeichelhaft, da es uns ei17

Das Glasperlenspiel, in Das Glasperlenspiel, a.a.O., S. 484.

Elio Matassi 130 ne gewisse Lehrbuben-und Pinselwäscher-Intimität mit der Musik vorspiegelte, – wie manche Redensart des Musikanten-Jargons garnicht aus dem Akustischen, sondern aus dem Visuellen, dem Notenbild abgeleitet sei; wie man von occhiali, Brillenbässen spreche, weil die gebrochenen Trommelbässe, halbe Noten, deren Hälse paarweise durch Balken verbunden sind, ein brillenähnliches Bild ergeben; oder wie man gewisse wohlfeile, sich stufenweise und in gleichen Intervallen an einander reihende Sequenzen (er schrieb uns Beispiele auf die Tafel) ‹Schusterflecke› nenne. Er sprach von dem bloßen Augenschein notierter Musik und versicherte, daß dem Kenner ein Blick auf das Schriftbild genüge, um von dem Geist und Wert einer Komposition einen entscheidenden Eindruck zu empfangen. So sei es ihm vorgekommen, daß ein besuchender Kollege, sein Zimmer betretend, wo gerade ein ihm vorgelegtes dilettantisches Machwerk auf dem Pulte aufgeschlagen gewesen sei, noch an der Tür ausgerufen habe: «Ja, um Gotteswillen, was für einen Mist hast du denn da?»… Wenn etwa die niederländischen Meister des polyphonen Stils bei ihren unendlichen Kunststücken der Stimmverschränkung die kontrapunktistische Beziehung so gestaltet hätten, daß eine Stimme der anderen gleich gewesen sei, wenn man sie von rückwärts gelesen habe, so habe das mit dem sinnlichen Klange nicht viel zu tun gehabt, er wolle sich verwetten, daß die wenigsten den Spaß gehörweise vermerkt hätten, viel eher dem Auge des Zünftlers sei er zugedacht gewesen. So habe Orlandus Lassus in der Hochzeit von Kana für die sechs Wasserkrüge sechs Stimmen gebraucht, was man ihm auch beim Sehen besser habe nachrechnen können als beim Hören; und in der Johannispassion des Joachim von Burck habe ‹der Diener einer›, der Jesu einen Backenstreich gab, nur eine Note, auf das ‹zween› aber in der nachfolgenden Phrase ‹Mit ihm zween andere› fielen deren zwei18.

Thomas Mann bezeichnet die von Kretzschmar angeführten Beispiele als ‹pythagoreische Scherze›, die mehr in Bezug auf das Auge, anstatt auf die Ohren dargelegt sind, und eine Kunst wie die Musik charakterisieren, die einen angeborenen Mangel an Sensualität aufweist, wenn nicht gar eine geheime Berufung bzw. Neigung zur Askese. Diese radikal unsinnliche Dimension der Musik wird von Mann benutzt, um die theoretische Substanz von Kretzschmars Vorträgen aus dem Kontext herauszunehmen: die Musik wird als die geistigste unter allen Künsten betrachtet, wie dies auch der Umstand zeigen soll, daß sich in ihr Form und Inhalt mischen und nahezu ineinander aufgehen wie in keiner anderen Kunst – sie sind sogar ein und dasselbe. Es ist eine weit verbreitete Meinung, daß die Musik ‹in erster Linie für die Ohren bestimmt ist›, auch wenn das nur relativ zutrifft, weil das Gehör, gleich den anderen Sinnesorganen, ein komplementäres Organ und ein Vermittler von geistigen Inhalten ist. Es gibt sogar Musikformen, die keine Art von Ausführung voraussetzen, sie im Gegenteil sogar ausschließen. Das von Mann angeführte Beispiel ist sehr prägnant: ein sechsstimmiger Kanon von Sebastian Bach, in dem der Meister das Thema Friederich der Große entwarf, ein Stück, das weder für die menschliche Stimme, noch für irgendein Instrument oder allgemein für eine vollständige Realisierung bestimmt war, sondern reine einfache Musik war, abstrakte Musik:

18

Th. Mann, Doktor Faustus, a.a.O., S. 83–84.

Hermann Hesse und die ‹Neupythagoreische Musiklehre› 131 Vielleicht, sagte Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, eine Kundry, die nicht wolle, was sie tue, und weiche Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge. Ihre mächtigste sinnliche Verwirklichung finde sie als orchestrale Instrumentalmusik, wo sie denn, durch das Ohr, alle Sinne zu affizieren scheine und das Genußreich der Klänge mit denen der Farben und Düfte opiatisch verschmelzen lasse. Hier so recht sei sie die Büßerin in der Hülle des Zauberweibes. Es gebe aber ein Instrument, das heißt: ein musikalisches Verwirklichungsmittel, durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei das Klavier19.

Es ist nicht ohne Bedeutung, daß der nächste Vortrag von Kretzschmar, der den «Anfängen der Musik», der «Urmusik» oder den «Musikelementen» gewidmet ist – Serenus gibt den Titel nicht genau wieder – damit endet, «ihre kosmische Gleichnishaftigkeit» zu zelebrieren, indem der Disukurs noch einmal auf den Parallelismus Musik-Welt-Kosmos zurückgeführt wird: Auf jeden Fall spielte die Idee des Elementaren, des Primitiven, des Uranfänglichen die entscheidende Rolle darin, sowie der Gedanke, daß unter allen Künsten gerade die Musik, zu einem wie hoch komplizierten, reich und fein entwickelten Wunderbau von historischer Creation sie im Lauf der Jahrhunderte emporgewachsen sei, niemals sich einer frommen Neigung entschlagen habe, ihrer anfänglichsten Zustände pietätvoll zu gedenken und sie feierlich beschwörend heraufzurufen, kurz, ihre Elemente zu zelebrieren. Sie feiere damit, sagte er, ihre kosmische Gleichnishaftigkeit; denn jene Elemente seien gleichsam die ersten und einfachsten Bausteine der Welt, ein Parallelismus, den ein philosophierender Künstler jüngst vergangener Tage – es war wieder Wagner, von dem er sprach – sich klug zunutze gemacht habe, indem er die Grundelemente der Musik in seinem kosmogonischen Mythos vom «Ring des Nibelungen» sich mit denjenigen der Welt habe decken lassen. Bei ihm habe der Anfang aller Dinge seine Musik: die Musik des Anfang sei das und auch der Anfang der Musik, der Es-dur-Dreiklang der strömenden Rheinestiefe, die sieben Primitiv-Akkorde, aus denen, wie aus zyklopischen Quadern von Urgestein, die Burg der Götter sich aufbaue20.

Über den Rückgriff auf den von Hesse verabscheuten Wagner hinaus, ist der Parallelismus Musik-Welt, Musikanfang-Weltanfang bis zu seiner extremen Konsequenz, wie bei Hesse, auch von Mann vorangetrieben worden.21

19 20 21

Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Man siehe auch den Aufsatz von H. Koopmann, Brüderlichkeit auf große Distanz. Zu Thomas Manns ‹Doktor Faustus› und Hermann Hesses ‹Glasperlenspiel›, in Ein Leben für Dichtung und Freiheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Joseph. P. Strelka, hrsg. von K. F. Auckenthaler u.a., Tübingen 1997, S. 351–369. Vgl. auch Th. Mann, Entstehung des ‹Doktor Faustus›, S. Fischer Gesamtausg., 1960.

Panagiota Theodorou

«Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen» (Friedrich Nietzsche) ‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses?

Der Überblick über die zeitgenössische Kritik und die spätere Sekundärliteratur zeigt, daß es keine ausführliche Problematisierung und Analyse des ‚Humors‘ in der Erzählung Der Steppenwolf gibt.1 Auch Hesse selbst, wenn er aus der Retrospektive den Steppenwolf beurteilt, denkt nicht mehr daran, daß er im Tractat geschrieben hatte: Und falls es dem Steppenwolf, dem es an Gaben und Ansätzen dazu nicht fehlt, in der schwülen Wirrnis seiner Hölle noch gelingen sollte, diesen Zaubertrank [des Humors] auszukochen, auszuschwitzen, dann wäre er gerettet. Noch fehlt ihm dazu vieles. Die Möglichkeit aber, die Hoffnung ist vorhanden. Wer ihn liebt, wer an ihm Teil nimmt, mag ihm diese Rettung wünschen. Er würde dadurch zwar für immer im Bürgerlichen verharren bleiben, aber seine Leiden wären erträglich, würden fruchtbar.[…] Um dies zu erreichen, oder um vielleicht am Ende doch noch den Sprung ins Weltall wagen zu können, müßte solch ein Steppenwolf einmal sich selbst gegenübergestellt werden, müßte tief in das Chaos der eigenen Seele blicken und zum vollen Bewußtsein seiner selbst kommen. Seine fragwürdige Existenz würde sich ihm alsdann in ihrer ganzen Unabänderlichkeit enthüllen, und es würde ihm fernerhin unmöglich werden, sich immer wieder aus der Hölle seiner Triebe in sentimental – philosophische Tröstungen und aus diesen wieder in den blinden Rausch seines Wolftums hinüberzuflüchten. Mensch und Wolf würden genötigt sein, einander ohne fälschende Gefühlsmasken zu erkennen, einander nackt in die Augen zu sehen. Dann würden sie entweder explodieren und für immer auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würden unter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.2

An eine Lösung für Harry Hallers Konflikt im Sinne des Humors denkt Böttger3, wenn er darin die Möglichkeit eines Kompromisses sieht, das tragische «EntwederOder» in eine versöhnliche «Sowohl-Als auch» -Situation umzubiegen.

1

2 3

Mit Ausnahme von Peter Jansen, der in seinem Aufsatz: Personalität und Humor – Hesses «Steppenwolf» und Kierkegaards Humorkonzeption (1978) den Humor problematisiert. Dies tut er im Wesentlichen unter den Kierkegaardschen Leitideen der «Existenzmitteilung, der Existenzerhellung und der Existenzerweckung». Er versucht Hesses künstlerische Tätigkeit durch die Kierkegaardsche Ironie- und Humorkonzeption unter einem neuen Aspekt zu interpretieren. Vgl. P. Jansen, a.a.O., in: «Sprache im technischen Zeitalter», H. 67, S. 209– 234. H. Hesse: Der Steppenwolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt-Berlin 1957, S. 71f. Aus dieser Ausgabe wird weiterhin zitiert. F. Böttger: Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit. Berlin 1974. S. 339.

Panagiota Theodorou 134

Es ist erstaunlich, daß Hesse weder in dem Nachwort zum Steppenwolf von 1941 noch in der Geschichte Vom Steppenwolf, die ein Jahr nach der Erzählung Der Steppenwolf erschien, ein Wort über den Humor verliert. Man hat sehr häufig Nietzsches Einfluß auf Hesse angeführt, zumal Hesse selbst oft in speziellen Abhandlungen erörtert hat, wie viel ihm Nietzsche bedeutet habe; es wurde aber nie darauf aufmerksam gemacht, daß das Nietzsche-Zitat – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen 4 – für den Weg des Steppenwolfes aus seiner Verzweiflung, bedeutsam gewesen sein könnte. Die Entwicklung des Helden im Steppenwolf zeigt, daß der Steppenwolf Harry Haller tatsächlich einen tiefen Einblick in das Chaos seiner Seele gewinnt. Das «Magische Theater», in dem für Harry die Reise in die innere Welt erfolgt, zeigt ihm ein paar von den endlosen Möglichkeiten, die ihm dort versprochen werden. Die Szene «Hochjagd auf Automobile» läßt ihn, in einem Rausch der Vernichtung, seine eigene Zerstörungswut und Mordlust erkennen. In der Szene «Anleitung zur Persönlichkeit» erkennt Haller mit Hilfe eines Schachspieles die ungeahnten Möglichkeiten der Lebenskunst, die jedoch nur demjenigen zur Verfügung stehen, der zu einer Veränderung bereit ist. Die Inschrift «Alle Mädchen sind dein» führt den Asketen Harry Haller zur Erfüllung unerschöpflicher sexueller Phantasien, die ihm vorher nie zuteil wurden. Wir erfahren jedoch, daß Harry Haller die «Tausend Blumen seiner Seele» in Wirklichkeit nicht ausleben kann. Harry hat nicht einmal eine kleine Auswahl dieser vielen Eigenschaften in sich zur Blüte kommen lassen, so daß er immer noch auf seine Spaltung in Mensch und Wolf fixiert bleibt. Den Rückfall in diesen Zwiespalt beweisen vor allem drei Szenen. Die erste ist die, bei der Harry in den Spiegel schaut, nachdem er die Inschrift «Wie man durch Liebe tötet» liest. Was er darin erblickt, ist die Gestalt eines Wolfes, desselben, den er schon vor dem Eintritt ins magische Theater sieht und weglachen muß, als er in den Spiegel hineinschaut. Im Wechsel dazu, erblickt er dasselbe ermüdete und vergärte Menschenbild, das er auch von früher kennt. Die zweite Szene, in der man deutlich den Rückfall des Steppenwolfes sieht, ist die Szene der «Selbstbespuckung» und die symbolische Selbstvernichtung in der Zerstörung seines Spiegelbildes. Beim Hineinschauen in den magischen Spiegel sind seine Nerven so sehr angespannt, daß er von Rachelust und Aggression besessen wird: Pfui Teufel, wie schmeckte das Leben bitter! Ich spuckte den Harry im Spiegel an, ich trat mit dem Fuß gegen ihn und trat ihn in Scherben.[…] In einer trüben Welle schwamm ich dahin, trüb gezogen, Sklave, Steppenwolf. Pfui Teufel. (S. 246f.)

Auch der Mord an Hermine zeigt, daß die «tausend Möglichkeiten» in Harry nicht realisiert worden sind, sondern nur abstraktes Wissen geblieben sind. Wenn Haller 4

F. Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band III. Karl Schlechta (Hrsg.). Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt/München 1954. S. 467.

‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses? 135

am Ende die Messerklinge unter Hermines Brust platziert und sie dann tötet, so ist das meiner Ansicht nach als ein Scheitern zu betrachten. Hermine ist nämlich diejenige gewesen, die ihn ins Leben wieder eingeführt und mit der sein Lehrgang in die verpaßten Möglichkeiten überhaupt begonnen hatte. Sein Scheitern am Ende zeigt, daß der isolierte Wolf aus der Steppe es nicht geschafft hat, ein neuer, lebensbejahender Mensch und Mitmensch zu sein. Es bleibt aber die Frage, ob es ihm wenigstens gelungen ist, die Zwiespältigkeit zwischen Mensch und Wolf unter dem aufgehenden Licht des Humors zu einer Vernunftehe zu bringen. Konnte eine Heilung der Verzweiflung durch die Kraft des versöhnlichen Lachens erreicht werden? Hier wird vermutet, daß der Nietzsche-Leser Hesse durch das Zitat von Nietzsche – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich das Lachen – angeregt gewesen sein könnte, in dem dort angedeuteten Lachen die Möglichkeit einer Erlösung von der leidvollen Verzweiflung seines Helden zu sehen. Immer wieder hat man hinter dem Steppenwolf die Gestalt Zarathustras zu erblicken, die, wie Harry Haller, einen zutiefst leidenden Menschen darstellt, von dem es heißt: «Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!»5 Er ist es auch, von dem der Mahnruf – «Ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!»6 – ausgeht. Nietzsches «höhere Menschen» sind mit Hesses «Unsterblichen» verwandt, deren bezeichnendstes Merkmal das Lachen ist. Es geht ihm um die Schwerelosigkeit des Geistes. Nietzsche suchte Wahrheiten, nach denen sich tanzen und lachen läßt.7 Es sind dieselben Merkmale, die Harry Haller bei den Unsterblichen lernen soll. Außerdem war Nietzsche davon überzeugt, daß «vielleicht, wenn auch nichts von heute mehr Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat.»8 Von einem zukünftigen Lachen spricht auch Haller, wenn er am Ende sagt: Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen.

Dieses Schlußwort klingt aber nicht so, als hätte Harry das Lachen schon vorher richtig gelernt. Es entspricht eher Mozarts spöttischer Bemerkung kurz vor Harrys «Hinrichtung»: Wie pathetisch Sie immer sind! Aber Sie werden schon noch Humor lernen, Harry. (S. 253)

Zwar ist hier immer wieder vom Humor und vom Lachen die Rede. Böttger und Kreidler sind Ausnahmen. Kreidler ist der Meinung, das Lachen des Steppenwolfes sei von keiner «glückseligen Heiterkeit», sondern von einem «dumpfen, pessimistischen ‹Trotzdem› beherrscht»,9 und entdeckt zudem «groteske, nicht harmonische 5 6 7 8 9

F. Nietzsche, a.a.O., Also sprach Zarathustra, Band II, S. 410. Ebenda, Band II, S. 531 (20). Vgl. F. Nietzsche, a.a.O., Band II, S. 34 (1). Ebenda, Band II, S. 686 (223). H. D. Kreidler, H.H’s «Steppenwolf». Versuch einer Interpretation. Freiburg, 1957. S. 263.

Panagiota Theodorou 136

Züge»10. Doch weder von Hesse noch von der Kritik – ausgenommen die genannten Böttger und Kreidler – wird die Frage aufgeworfen, um was für eine Art des Lachens es sich hier eigentlich handelt. Handelt es sich hier tatsächlich um ein versöhnliches, humorvolles Lachen, oder vielleicht um ein satirisch-verurteilendes Lachen oder geht es eher um ein Lachen einer grotesken «Mißversöhnung von Realität und Phantasie, Endlichkeit und Unendlichkeit»11? Im folgenden Versuch soll Hesses prätendierte Macht des Humors und des Lachens analysiert werden, in dem zunächst von den berühmten Definitionen des Lachens ausgegangen wird, die Kant und Schopenhauer gegeben haben. In seiner «Kritik der Urteilskraft» sagt Kant über das Lachen folgendes: Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.12

Im Sinne Kants wird das Lachen dadurch ausgelöst, daß plötzlich etwas geschieht, das in keiner Beziehung zum Vorangegangen steht, sondern aus dem Sinnbezug total herausfällt. Die Spannung auf ein bestimmtes Ziel hingerichtet wird damit unterbrochen und kann ein Lachen hervorrufen dadurch, daß etwas völlig Unerwartetes passiert. Im Gegensatz zu Kant ist es Schopenhauer gelungen, die Entstehung des Lachens differenzierter und weiter zu erklären, indem er zusätzlich einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Lust am Lachen leistet. Schopenhauer erklärt das Lachen aus der «Wahrnehmung der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten». Im zweiten Teil der Welt als Wille und Vorstellung sagt er: Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält das Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht: denn es ist gar nicht dem Irrtum unterworfen, bedarf keiner Beglaubigung von außerhalb, sondern vertritt sich selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt zuletzt daraus, daß dieses mit seinen abstrakten Begriffen nicht herab kann zur endlosen Mannigfaltigkeit und Nuancierung des Anschaulichen. Dieser Sieg der anschauenden Erkenntnis über das Denken erfreut uns 13. Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der tierischen Natur unzertrennliche Erkenntnisweise, in der sich Alles, was dem Willen unmittelbares Genügen gibt, darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses und der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegenteil: es ist die zweite Potenz des Erkennens, deren Ausübung stets einige, oft bedeutende Anstrengung erfordert, und deren Begriffe es sind, welche sich so oft der Befriedigung unserer unmittelbaren Wünsche entgegenstellen, indem sie, als das Medium der Vergangenheit, der Zukunft und des Ernstes, das Vehikel unserer Be10 11 12 13

Ebenda, S. 263. I. Roebling: «Art.»: Groteske (das). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, (hrsg.) J. Ritter, Band III, Darmstadt 1974, S. 901. I. Kant: Kritik der Urteilskraft. Philosophische Bibliothek; Band 507. Meiner Verlag. Hamburg 2001. S. 229. Das Unterstrichene und Fettgedruckte ist das von mir Hervorgehobene. Dies gilt auch für den weiteren Verlauf der Interpretation.

‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses? 137 fürchtungen, unserer Reue und aller unserer Sorgen abgeben. Diese strenge, unermüdliche überlästige Hofmeisterin Vernunft jetzt ein Mal der Unzulänglichkeit überführt zu sehen, muß uns daher ergötzlich sehn.14

Schopenhauer zufolge spielt sich das Lachen zwischen den beiden Ebenen, dem «Gedachten» und dem «Angeschauten», ab. Zwischen den beiden Ebenen entsteht eine «Fallhöhe»15, nach Kant die «plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts», die das lustvolle Lachen auslöst, welches «das höhere Wesen des Menschen […], von der synthetischen Anstrengung, die nach dem Schema «Voraussein» und «Zurückkommen auf…» jedwede Erfahrung, jede Erkenntnis erst ermöglicht»16, entspannt. Schauen wir uns, im Vergleich zu diesen zwei Zitaten, die Szenen im Steppenwolf an, in denen «Lachen» erregt wird. Dabei ist zu fragen, ob in diesen Szenen tatsächlich ein lustvolles und entspanntes Lachen erzeugt wird, welches, im Gegensatz zu dem satirischen Lachen, das einen aggressiven Stachel enthält und verurteilend wirkt und das, nach Lessing, ein «Verlachen»17 darstellt, erstmals den Steppenwolf Harry Haller von der Verzweiflung erlöst oder ob nicht letzten Endes sogar das Lachen einer grotesken «Mißversöhnung»18 triumphiert. Die erste Szene die hier in Frage kommt, ist die Szene im «Schwarzen Adler», die nach der Szene beim Professor, welche den Höhepunkt der Verzweiflung darstellt, eintritt. Schauen wir uns jene tragische Stelle an, als Haller das Haus des Professors verläßt, um die «Fallhöhe», die zwischen dieser Szene und der darauf folgenden Szene mit Hermine entsteht, welche jenes lustvolle Lachen erzeugen soll, deutlich zu machen. Hallers Situation nach dem Besuch beim Professor wird von ihm so beschrieben: Es war ein Abschiednehmen als Flüchtling und Besiegter, eine Bankrotterklärung vor mir selber, ein Abschied ohne Trost, ohne Überlegenheit, ohne Humor.[…] Wütend lief ich unter den Laternen hin, wütend und todestraurig. Was war das für ein trostloser, beschämender, böser Tag gewesen, vom Morgen bis zum Abend, vom Friedhof bis zur Szene beim Professor! Wozu? Warum? Hatte es einen Sinn, noch mehr solche Tage auf sich zu laden, noch mehr solche auszufressen? Nein! Und so würde ich denn heut nacht der Komödie ein Ende machen. Geh heim, Harry, und schneide dir die Kehle durch! Lang genug hast du damit gewartet. (S. 105)

Nach dieser «Bankrotterklärung» Harrys wartet man gespannt darauf, daß Haller tatsächlich nach Hause geht, um diesem qualvollen Steppenwolfdasein ein Ende zu setzen. Doch es ereignet sich, daß es den Steppenwolf weiter in die Stadt hineinzieht, 14 15 16 17 18

A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. II, (hrsg.) Otto Weiß. Leipzig 1919. S. 120. E. Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. S. 212. Ebenda, S. 213. G. E. Lessing:, Hamburgische Dramaturgie, in: Werke und Briefe, Band VI. Frankfurt 1985. S. 322. I. Roebling, a.a.O., S. 901.

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wo er dann im Gasthaus «Zum Schwarzen Adler» das junge Mädchen Hermine kennen lernt. Diese Begegnung führt jene «plötzliche Verwandlung» herbei, welche unsere «gespannte Erwartung in nichts» auflösen wird. Da die Anschauung des Komischen in dieser Szene erst durch die plötzliche Infantilisierung des Sprachrhytmus erkennbar wird, müssen wir diese Stellen im «Schwarzen Adler» ausführlicher zitieren. Als der Steppenwolf mit «klopfendem Herzen», mit «Schweiß auf der Stirn» und «voll tödlicher Angst» endlich in dem überfüllten Gasthaus Zuflucht findet, wird er «vom Gedränge durch den Raum gestoßen» bis er dann an einen Tisch gedrängt wird, an dem «in einem dünnen, tief ausgeschnittenen Ballkleidchen» ein «hübsches bleiches Mädchen» sitzt, das ihm «Platz» macht. Was sich darauf ereignet, das wird im Folgenden zitiert: HARRY: «Darf ich?», fragte ich und setzte mich neben sie. HERMINE: «Gewiß, du darfst», sagte sie, «wer bist du denn?» HARRY: «Danke», sagte ich, «ich kann unmöglich nach Hause gehen, ich kann nicht, ich kann nicht, ich will hier bleiben, bei Ihnen, wenn Sie es erlauben. Nein, ich kann nicht heimgehen». […] HERMINE: «Bleib nur hier», sagte sie mit einer Stimme, die mir wohl tat. «Warum kannst du denn nicht heimgehen?» HARRY: «Ich kann nicht. Zu Hause wartet etwas auf mich – nein, ich kann nicht, es ist zu schrecklich». HERMINE: «Dann laß es warten und bleib da. Komm, wische dir erst die Brille ab, du kannst ja gar nichts sehen. So, gib dein Taschentuch. Was wollen wir denn trinken? Burgunder?» Sie wischte mir meine Brille ab; […] Gütig und ein klein wenig spöttisch nahm sie sich meiner an, bestellte Wein, stieß mit mir an und sah dabei auf meine Schuhe hinunter. HERMINE: «Mein Gott, woher kommst du denn? Du siehst aus, wie wenn du zu Fuß von Paris gekommen wärst. So kommt man doch nicht an einen Ball» (erklärt sie ihm vorwurfsvoll, wie wenn eine Mutter zu ihrem Kind sprechen würde). […] Sie behandelte mich so schonend, wie ich es nötig hatte, und so spöttisch, wie ich es nötig hatte. Sie bestellte ein belegtes Brot und befahl mir, es zu essen. Sie schenkte mir ein und hieß mich einen Schluck trinken, aber nicht zu rasch. Dann lobte sie meine Folgsamkeit. HERMINE: «Du bist brav», meint sie ermunternd, «du machst es einem nicht schwer. Wollen wir wetten, daß es lange her ist, seit du zum letztenmal jemandem hast gehorchen müssen? […]. Nicht wahr, du gehorchst mir gern?» HARRY: «Sehr gern. Sie wissen alles». HERMINE: «Du machst es einem leicht. Vielleicht, Freund, könnte ich dir auch sagen, was das ist, was daheim auf dich wartet und wovor du solche Angst hast. Aber du weißt es ja selber, wir brauchen nicht davon zu reden, gelt? Dummes Zeug! Entweder einer hängt sich auf, nun ja, dann hängt er sich eben auf, er wird Grund dazu haben. Oder er lebt noch, und dann hat er sich bloß um das Leben zu kümmern. Nichts ist einfacher». HARRY: «Oh», rief ich, «wenn das so einfach wäre! […]». HERMINE: «Nun, du wirst sehen, daß es kinderleicht ist. Den Anfang haben wir schon gemacht, du hast deine Brille geputzt, hast gegessen, hast getrunken. Jetzt gehen wir und bürsten deine Hosen und Schuhe ein wenig, sie haben es nötig. Und dann wirst du einen Shimmy mit mir tanzen».

‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses? 139 HARRY:

«Da sehen Sie», rief ich eifrig, «daß ich doch recht hatte! Nichts tut mir mehr leid, als einen Befehl von Ihnen nicht ausführen zu können. Aber diesen kann ich nicht ausführen. Ich kann keinen Shimmy tanzen, und auch keinen Walzer und keine Polka und wie die Dinger alle heißen, ich habe nie in meinem Leben tanzen gelernt. Sehen Sie jetzt, daß doch nicht alles so einfach ist, wie Sie meinen?» […] HERMINE: «Langsam», rief sie, «langsam! Du kannst also nicht tanzen? Überhaupt nicht? Nicht einmal einen Onestep? Überhaupt nicht? […] Und dabei behauptest du, weiß Gott, welche Mühe du dir mit dem Leben gegeben habest! Da hast du geflunkert. Junge, das sollte man in deinem Alter nicht mehr tun.[…]» HARRY: «Wenn ich es doch nicht kann! Ich habe es nie gelernt». Sie lachte. HERMINE: «Aber lesen und schreiben hast du gelernt, gelt, und rechnen und wahrscheinlich auch noch Latein und Französisch und allerlei solche Sachen? Ich will wetten, du bist zehn oder zwölf Jahre in der Schule gesessen und hast womöglich auch noch studiert und hast vielleicht sogar den Doktortitel und kannst Chinesisch oder Spanisch. Oder nicht? Also. Aber das bißchen Zeit und Geld für ein paar Tanzstunden hast du nicht aufgebracht! Na!». HARRY: «Es waren meine Eltern», rechtfertigte ich mich, «sie haben mich Latein und Griechisch und all das Zeug lernen lassen. […]» Ganz kalt sah sie mich an, voller Verachtung, und wieder sprach aus ihrem Gesicht etwas, was mich an frühe Jugendzeiten erinnerte. HERMINE: «So, also deine Eltern müssen schuldig sein! Hast du sie auch gefragt, ob du heut abend in den Schwarzen Adler gehen dürftest? Hast du? Sie sind schon lange tot sagst du? Na also! Wenn du aus lauter Folgsamkeit in deiner Jugend nicht hast tanzen lernen wollen – meinetwegen! Obwohl ich nicht glaube, daß du damals so ein Musterknabe warst. Aber nachher – was hast du denn nachher alle die Jahre lang getrieben?» (Haller erklärt ihr, daß er nur komplizierte Sachen gemacht habe, was Hermine überhaupt nicht verstehen kann, denn zum Leben gehören auch Dinge, wie ‹tanzen lernen›!) HARRY: «Schelten Sie nicht!», bat ich. «Ich weiß schon, daß ich verrückt bin». HERMINE: «Ach was, sing mir keine Lieder vor! Du bist keineswegs verrückt, Herr Professor, du bist mir sogar viel zu wenig verrückt! Du bist so auf eine dumme Art gescheit, scheint mir, richtig wie ein Professor. Komm iß noch ein Brötchen! Nachher erzählst du weiter». Sie besorgte mir nochmals ein Brötchen, tat etwas Salz daran, strich ein wenig Senf darauf, schnitt ein Stückchen für sich selber ab und hieß mich essen. Ich aß. Ich hätte alles getan, was sie mich geheißen hätte, alles außer Tanzen. Es tat ungeheuer wohl, jemand zu gehorchen, neben jemand zu sitzen, der einen ausfragte, einem befahl, einen ausschalt. […] HERMINE: «Wie heißt du eigentlich?», fragte sie plötzlich. HARRY: «Harry». HERMINE: «Harry? Ein Bubenname! Und ein Bub bist du auch, Harry, trotz den paar grauen Flecken im Haar. Du bist ein Bub, und du solltest jemand haben, der ein wenig nach dir schaut. Vom Tanzen sage ich nichts mehr. Aber wie du frisiert bist! Hast du denn keine Frau, keinen Schatz?» (Harry erklärt ihr anschließend, daß er eigentlich keine richtige Beziehung zu einer Frau habe) Sie pfiff leise durch die Zähne. HERMINE: «Du scheinst ein recht schwieriger Herr zu sein, daß keine bei dir bleibt. Aber sag jetzt: was war denn heut abend Besonderes los, daß du so vergeistert in der Welt herumgelaufen bist? Krach gehabt? Geld verspielt?»

Panagiota Theodorou 140 (Als Harry ihr die Geschichte beim Professor erzählt, und wie er sich über das Goethe-Bild aufgeregt hatte, fragt sie ihn:) HERMINE: «[…] Hast du ihnen das Bild an die Köpfe gehauen?» HARRY: «Nein, ich habe geschimpft und bin fortgelaufen, ich wollte nach Hause, aber –». HERMINE: «Aber da wäre keine Mama gewesen, um den dummen Buben zu trösten oder auszuschelten. Nun ja, Harry du tust mir beinah leid, du bist ein Kindskopf ohnegleichen». […] HERMINE: «[…] Es ist eine komische Geschichte. Sie macht mich lachen. Halt, trink nicht so rasch! Burgunder trinkt man langsam, er macht sonst zu heiß. Aber dir muß man alles sagen, kleiner Bub». Ihr Blick war streng und ermahnend wie der einer sechzigjährigen Gouvernante. HERMINE: «Gut, ich sage dir etwas. Seit einer Stunde hörst du, daß ich du zu dir sage, und du sagst immer noch Sie zu mir. Immer Lateinisch und Griechisch, immer möglichst kompliziert! Wenn ein Mädchen du zu dir sagt und sie dir nicht zuwider ist, dann sagst du auch du zu ihr. So, da hast du etwas zugelernt». […] (Als Hermine gerade dabei ist aufzustehen, bekommt Harry Angst, sie könnte ihn allein lassen und ruft ihr flehend zu:) HARRY: «Halt» […] «gehen Sie – geh nicht fort! Natürlich kannst du tanzen, soviel du willst, aber bleib nicht lange fort, komm wieder, komm wieder!» […] «Du kommst wieder?» HERMINE: «Ich komme wieder, aber es kann eine Weile dauern, eine halbe Stunde oder auch eine ganze. Ich will dir was sagen: mach die Augen zu und schlafe ein wenig; das ist, was du recht nötig hast». Es war gut, dieser Stimme zu gehorchen, ich hatte es erfahren. Gehorsam machte ich die Augen zu, lehnte den Kopf an die Wand […] und schlief dem mütterlichen Befehle getreu ein. (S. 107–116)

In dieser Szene wird tatsächlich im Sinne Schopenhauers die «Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten» dargestellt. Wir erleben hier eine Fallhöhe vom faustisch angehauchten Steppenwolf mit den «zwei Seelen», die «ach» in seiner Brust «wohnen», zum «Kindskopf», die lachenerregend wirkt. Wir bekommen eine völlig andere Dimension von Harry Haller zu sehen, die uns die gekränkten Ideale des Pazifisten und dessen Selbstmordgedanken vergessen lassen. Nach der Szene beim Professor, ist man in Gedanken bei der Tragik des zerrissenen Steppenwolfes und man wartet hier eigentlich gespannt auf die folgenden Taten seiner Verzweiflung, nämlich seinen Freitod. Doch völlig unerwartet fällt der verzweifelte Steppenwolf in die Rolle eines glücklichen Kindes, dessen einziger Wunsch es ist, der jungen Hermine zu «gehorchen». Durch die Infantilität, die wir hier – im Kontrast zur vorherigen Prätention des Faustischen – ‹anschauen›, wird das Lachen erzeugt. Es ist komisch anzusehen, wie ein hoch intellektueller und erwachsener Mann, in dem noch kurz zuvor einerseits die Aggression zur Explosion drängte, der eine «rasende Lust» hatte, «ein Warenhaus oder eine Kathedrale kaputtzuschlagen» (S. 35), dem andererseits der Selbstmord als letzter Ausweg erschien, plötzlich zu einem braven «Kindskopf» wird und widerstandslos einem jungen Mädchen verfällt, das gerade ihm die wichtigsten Dinge des Lebens erklärt. Es findet eine Art Rückkehr ins Paradies der Mutter statt, die über den Ernst der Verzweiflung Harrys siegt, ein

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Triumph des «Es»-haften über das «Gedachte». Auf elementare Weise wird die Aggression und die Verzweiflung des Steppenwolfes aufgehoben. Nicht mehr die Gedanken an Selbstmord und Verzweiflung stehen im Vordergrund, sondern eine naive Kindlichkeit, die den verzweifelten Steppenwolf entspannt. Die tragischen Gedanken, die bisher die Atmosphäre des Steppenwolfes bestimmt haben, werden plötzlich aufgelockert. Die Entspannung, die hier ausgelöst wird, führt als nächstes dazu, daß der Steppenwolf einschläft und träumt. In diesem Traum erleben wir erneut die «Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten». Harry träumt vom Dichter Goethe. Harry wirft Goethe Unaufrichtigkeit vor, weil er immer Liebe und Optimismus in seinen künstlerischen Werken verkündet habe, obwohl er die ganze «Hoffnungslosigkeit des Menschenlebens» (S. 118) deutlich erkannt hat. Trotz seiner Verehrung für Goethe zeigt Harry allerlei Aversionen gegen Goethe. Normalerweise würde man nach den Vorwürfen Hallers von Goethe erwarten, daß er, der große Olympier, in seiner hohen Position als großer Geist, würdevoll gegen diese Anschuldigungen Stellung nimmt. Wir erleben ihn jedoch anders, als wir ihn uns vorgestellt haben. Goethes würdige Steifheit fällt total von ihm ab und er verwandelt sich plötzlich in einen lebendigen, kindlichen Goethe, der, während er vergnügt herumtänzelt, für Hallers Anschuldigung nur ein entzükkendes Lächeln übrig hat. Auch sein Klassikerorden verwandelt sich in eine «Primel», die «froh» und «feist» (S. 120) auf seiner Brust blüht. Neckisch flüstert er Harry eine entscheidende Lektion ins Ohr, die Haller noch zu lernen hat: Mein Junge, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst […]. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit, er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Überschätzung der Zeit […]. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist bloß ein Augenblick, gerade lange genug für einen Spaß. (S. 121)

Ohne im Geringsten ernsthaft zu werden, fordert Goethe Harry lächelnd dazu auf, den Ernst zu lassen und das Leben «humorvoller» zu betrachten, eben weil es vergänglich ist. Nicht nur die lebensfrohe Hermine, sondern auch der große ‚Denker‘ verlangt von ihm unerwarteter Weise, das «anstrengende» Denken sein zu lassen und «Spaß» am Leben zu haben. Auch hier siegt die «anschauende Erkenntnis» über «das Denken». Daß gerade der große Dichter ihn zum Spaß auffordert und vergnügt und kindlich herumtänzelt, anstatt über das Leid des irdischen Daseins zu sprechen, zeigt erneut den Triumph des «Es»-haften. Man denkt an Goethe, und man stellt sich einen großen, seriösen Geisteshelden vor, der nicht nur von den Lesern, sondern auch von Napoleon verehrt wurde und plötzlich steht ein junger und vergnügter Goethe vor uns, der nicht «die Welt von seinem Weimarer Museum aus kontrolliert» (S. 117), wie es zunächst auch Haller von ihm erwartet hätte, sondern den Menschen zum Humor, zur Fröhlichkeit, zum Spaß auffordert. Wir erleben Goethe aus einer banalen und kindlichen Perspektive, die ebenfalls für Entspannung und Lust sorgt. Die Lust an der humorvollen Komik, die hier erzeugt wird, könnte

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man vielleicht in Beziehung zu Freuds Resümee aus dem Vergleich von Witz, Komik und Humor setzen, wo er sagt, daß die Lust […] der Komik aus erspartem Vorstellungs- (Besetzungs)aufwand, und die des Humors aus erspartem Gefühlsaufwand [entsteht]. […] die Euphorie, welche wir auf diesen Wegen zu erreichen streben, ist nichts anderes als […] die Stimmung unserer Kindheit, in der wir das Komische nicht kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor nicht brauchten, um uns im Leben glücklich zu fühlen.19

Im Sinne Freuds entstammen die psychischen Energien, die sich im Lachen lustvoll entladen, der Erleichterung des schon bestehenden und der Ersparung an einem normalerweise aufzubietenden Aufwand an Vorstellungen und Gefühlen. Man macht sich einen großen Aufwand an Vorstellungen, wenn man an einen großen Dichter wie Goethe denkt und man wäre gehemmt, solch einen Menschen zu treffen. Aber in dem Moment, in dem dieser Dichter in einer kindlich-banalen Art auftritt, wird der ganze Aufwand an Vorstellungen und Hemmungen, den wir vorher hatten, aufgehoben. Gerade das geschieht auch in diesem Goethe-Traum. Hallers übertriebene Anbetung des Olympiers Goethe wird in «nichts» verwandelt und löst durch dessen Auftreten ein lustvolles Lachen aus. Gerade dadurch wird Lachen erzeugt, indem Goethe im Traum mit Harrys Hemmungen gegenüber der Erotik spielt. Das Gewicht des Geistigen wird hier erleichtert, als der Geistesheros mit der Sinnlichkeit zu spielen beginnt. Immer wieder wird Haller im Laufe des Gesprächs von einem Skorpion beunruhigt, der in Beziehung zu einem «Frauenbein» gebracht wird, das Goethe «laut lachend» dem Harry in einer «samtenen Dose» (S. 121) präsentiert. Als der Steppenwolf «das kleine Bein», das ihn «ganz verliebt machte», ergreifen will, «schien das Spielzeug sich mit einem winzigen Zuck zu bewegen» und der Steppenwolf bekommt Angst, dies könne der Skorpion sein (S. 122). Goethe spielt jetzt mit der Verlegenheit des Steppenwolfes, mit dem «zuckenden Zwiespalt von Begehren und Angst»: Er hielt mir das reizende Skorpiönchen ganz nahe vors Gesicht, sah mich danach verlangen, sah mich davor zurückschaudern, und dies schien ihm ein großes Vergnügen zu machen. Während er mich mit dem holden gefährlichen Ding neckte, war er wieder ganz alt geworden, […] und sein welkes Greisengesicht lachte still und lautlos, lachte heftig in sich hinein mit einem abgründigen Greisenhumor. (S. 122)

Beides, sowohl der Skorpion als auch das Frauenbein, sind Sinnbilder für die Sexualität. Haller konnte aus moralischen Gründen nie seine Sexualität ausleben, deshalb ist er zwar voller sinnlichen Begehrens, hat jedoch gleichzeitig Angst vor diesem «schönen, gefährlichen Wappentier der Weiblichkeit und der Sünde» (S. 117). Dadurch, daß Goethe plötzlich mit der Sinnlichkeit zu spielen beginnt, werden Harrys Angst 19

S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). In: GW, Band VI, Aufl. 4, Frankfurt a.M. 1969. S. 269.

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und seine Hemmungen vor der Sexualität aufgehoben. So kommt es auch dazu, daß er später mit der sinnlichen Maria schläft. Freud stellt in seinem Vergleich zwischen dem Witz und dem Traum fest, daß im Traum dasjenige verhüllt dargestellt wird, was im Witz offen zutage tritt.20 Der Traum dient dem Lusterwerb, einer vorübergehenden Befreiung/Entlastung vom Verdrängungsaufwand. Haller hat immer die Sexualität verdrängen müssen und nun ist es gerade der Verfasser des «Faust», der auf neckische Weise mit dem Phallischen spielt und den moralischen Druck vom sexuellen Begehren nimmt. Dieses Spiel mit dem Phallischen wird in der verhüllenden Sprache der Traumkostümierung dann besonders deutlich, wenn der Ordensstern, den der Minister und Geheime Rat Goethe auf der Brust trägt, dieses Zeichen für Würde und Belohnung von Leistung, sich eigenartig verwandelt. Zuerst heißt es nur: «Da stand der alte Goethe, klein und sehr steif, und richtig hatte er einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust» (S. 117). Dann aber besteht der Stern aus lauter «Wiesenblumen» und aus der Mitte «blühte» eine «gelbe Primel» «froh und feist» hervor (S. 120). Doch es bleibt nicht dabei. Durch die Blume vermittelt «Es» der Traum – Goethe spielerisch unzweifelhaft: «[…] er tänzelte vergnügt und gelenkig auf und nieder und ließ die Primel aus seinem Stern bald wie eine Rakete herausschießen, bald klein werden und verschwinden» (S. 121). Der bis dahin frustrierte Steppenwolf muß zugeben, daß dieser Mann es wenigstens nicht versäumt hatte, tanzen und lieben zu lernen. Und genau in dem Moment, da er Goethe so «phallisch» vergnügt tänzeln sieht, fällt dem Steppenwolf Molly wieder ein, mit der er zu gern zusammengetroffen wäre und von der er schon vorher geschwärmt hatte: «ich dachte sie mir wundervoll, weich, musikalisch, abendlich» (S. 117). Tatsächlich bereitet der Goethe-Traum eine Auflockerung im Steppenwolf vor, die ihm seine ersten Liebeskontakte ermöglichen. Durch die spielerische Art erhält das Ganze einen lustvollen Effekt. Wir «schauen an», wie das Sinnlich-Bejahende über das Ernsthafte siegt. Immer wieder sehen wir in Goethes Gesicht ein liebliches und warmes, ein entspanntes und heiteres «Lächeln». Goethe besitzt noch «Humor», denn vom Humor heißt es, daß er trotz seiner Heiterkeit den Ernst nicht verliert. «Die Weisheit, daß nichts Irdisches und Menschliches vollkommen ist, macht seinen Ernst aus».21 Auch Goethe hat, trotz seines humorvollen Lachens, seinen Ernst nicht verloren. Weil er eben von den Leiden des irdischen Daseins weiß, kann er «Optimismus» predigen. Humor ist, «wenn man trotzdem lacht»22, und das ist es, was Goethe tut. Vom Humor heißt es auch, daß er immer eine «erzieherische Absicht»23 habe. Goethe will den Steppenwolf Harry durch seine lächerlich-kindliche Art «erziehen», wenn er 20 21 22 23

Vgl. S. Freud, a.a.O., S. 181–205. Ph. Lersch: Der Aufbau der Person, Aufl. 8, München 1962. S. 343. Ebenda, S. 344. Ebenda.

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ihn dazu auffordert, den Ernst sein zu lassen und die Dinge nicht übertrieben ernst zu nehmen. Das vergnügte Spiel mit dem Phallischen hat eine erzieherische Funktion, nämlich die, daß Haller seine Angst vor der Sexualität überwinden und sie anzuerkennen lernt. Doch leider bleibt das versöhnliche Humor-Spiel nur Episode. Auch bleibt es nicht beim humorvollen und gütigen Lächeln Goethes. Das Lachen der «Unsterblichen» hat in den folgenden Kapiteln nicht mehr diese Liebenswürdigkeit, wie wir sie bei Goethe in diesem Traum sahen, sondern es verwandelt sich leicht in ein «kühles», dunkelhaft-spöttisches Gelächter. Haller konnte im Grunde Goethes Lachen nicht verstehen, er steht nur außerhalb der Wirklichkeit, nicht – wie Goethe und die Unsterblichen – über ihr. Er scheint immer noch der zerrissene Steppenwolf und Vernunftmensch zu sein. Allerdings behauptet Harry, nach einem Gespräch mit Hermine über die «Ewigkeit», Goethes «unmenschliche(s) Lachen» doch noch verstanden zu haben, «es war ohne Gegenstand, dies Lachen, es war nur Licht, nur Helligkeit, es war das, was übrig bleibt, wenn ein echter Mensch durch die Leiden, Laster, Irrtümer, […] hindurchgegangen und ins Ewige, in den Weltraum durchgestoßen ist» (S. 185). Immer wieder ist von einer «kühlen, sternhaft strahlenden Heiterkeit» die Rede, wenn von den «Unsterblichen» gesprochen wird. Auch die Schlußzeilen des Gedichts, das Haller über die Unsterblichen verfaßt, lauten: «Kühl und wandellos ist unser ewiges Sein / Kühl und sternhell unser ewiges Lachen» (S. 187). Doch er täuscht sich, wenn er Goethes Lachen mit dem Lachen der Unsterblichen gleichsetzt. Als der Steppenwolf nach dem Mord an Hermine langsam die «Todeskälte», diese «dünne schaudernde Eisluft», welche die Unsterblichen umgibt, spürt, erscheint der Unsterbliche Mozart im Magischen Theater mit dem zusammen Haller das Concerto grosso F-dur von Händel aus dem Blechtrichter eines Radioapparates aufkrächzen hört. Haller ist entsetzt darüber, daß Mozart das Radio nicht sofort abschaltet und er verlangt von Mozart sofort eine Rechenschaft. Doch Mozarts Verhalten gibt Haller wie folgt wieder: O wie lachte da der unheimliche Mann, wie lachte er kalt und geisterhaft, lautlos und doch alles durch sein Lachen zertrümmernd ! Mit innigem Vergnügen sah er meinen Qualen zu, […] Lachend ließ er die entstellte, entseelte und vergiftete Musik weiter in den Raum sickern, lachend gab er mir Antwort. (S. 250)

Immer wieder klingt Mozarts Lachen fremd, schauerlich, eiskalt, ein sonderbares Lachen, das Haller schon früher, vor dem Eintritt ins magische Theater zu hören glaubte. Immer wieder, wenn vom «Reich der Unsterblichen» die Rede ist, spürt Harry diese «sternhaft strahlende Heiterkeit», eine jedoch zugleich «kühle» und «eisige» Heiterkeit (S. 185). Mozart scheint wie Goethe ebenfalls eine humorige Natur zu sein, die – im Gegensatz zu Haller – ein versöhnendes Verhältnis zur Endlichkeit von Ich und Welt gefunden hat, wenn er Haller dazu auffordert, den Sinn hinter «dem in der Tat hoffnungslos idiotischen Schleier dieses lächerlichen «Apparates» (S. 250) zu hören.

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«Das ganze Leben ist so, mein Kleiner», erklärt ihm Mozart «und wir müssen es so sein lassen, und wenn wir keine Esel sind, lachen wir dazu» (S. 251). Doch Mozarts Lachen, das hinter seiner erzieherischen Absicht liegt, wirkt keineswegs entspannend und liebenswürdig, sondern spöttisch und verletzend. «Hören Sie gut zu, Männlein, es tut Ihnen not! Also, Ohren auf!» (S. 251). Mozarts mahnende Heiterkeit hat einen bitterscharfen und eisigen Charakter. «Allwissend und voll Spott klang Mozarts lautloses Lachen» (S. 253). Immer wieder bekommt man im Laufe des Gesprächs mit, wie Haller von ihm verspottet, kritisiert und verlacht wird, sich lustig über ihn macht. Als Haller am Beispiel von Brahms und Wagner merkt, daß auch er es versäumt habe, richtig zu leben, verhält sich Mozart wie folgt: Mozart begann laut zu lachen, als er mein langes Gesicht sah. Vor Lachen überschlug er sich in der Luft und schlug Triller mit den Beinen. Dazu schrie er mich an: «He, mein Junge, beißt dich die Zunge, zwickt dich die Lunge? Denkst an deine Leser, die Äser, die armen Gefräßer, […]. Das ist ja zum Lachen, du Drachen, zum lauten Lachen, zum Verkrachen, zum In-die-Hosen-Machen! O du gläubiges Herz, mit deiner Druckerschwärze, mit deinem Seelenschmerze, ich stifte dir eine Kerze, nur so zum Scherze». […]. (S. 245)

Mozarts «eiskaltes Gelächter» erscheint Harry «aus einem den Menschen unerhörten Jenseits von Gelittenhaben, von Götterhumor geboren» (S. 242), das ihn fast erstarren läßt. Doch dieses «eiskalte» und «spöttische» Lachen Mozarts erreicht seinen Höhepunkt in HARRYS HINRICHTUNG, wo Haller der Strafe einmaligen «Ausgelachtwerdens» (S. 254) ausgesetzt wird. Da Haller gemordet und das magische Theater als Selbstmordmechanik mißbraucht hat, muß er sich den Folgen seines Verhaltens gegenüber Hermine stellen. Haller muß die ‚vernichtende‘ Möglichkeit des ‚Lachens‘ an sich realisieren lassen. Schon vorher trug eines der vielen Kabinette des magischen Theaters die Inschrift: «Genußreicher Selbstmord! Du lachst Dich kaputt» (S. 225). Jetzt aber soll diese schauerlich-groteske Handlung, die an Harry vollzogen werden soll, in ihm endgültig den Steppenwolf umbringen und ihn auf den Weg der «Unsterblichen» führen. Denn «Humor», so erfährt er vom unsterblichen Mozart, «ist immer Galgenhumor, und nötigenfalls lernen sie ihn eben am Galgen»: Sind Sie dazu bereit? Ja? Gut, dann gehen Sie zum Staatsanwalt, und lassen Sie den ganzen humorlosen Apparat der Gerichtsmenschen über sich ergehen, bis zum kühlen Kopfabhakken in früher Morgenstunde im Gefängnis. Sie sind also bereit dazu? (S. 253)

Harry betritt «fröstelnd» den «kahlen Hof», in dem ein «sauber hergerichtetes Fallbeil» steht und ein «dutzend Herren», die auf Harrys Hinrichtung warten (S. 253). Harry muß für seine schlimme Tat an Hermine büßen und dafür gehört sein «Kopf unters Beil» gelegt. Doch aus der erwarteten Guillotinierung entsteht ein «grausiges» Gelächter, «ein Gelächter im höhern Chor, ein furchtbares, für Menschen kaum erträgliches Gelächter des Jenseits». Wie Harrys Verurteilung abläuft, erklärt er selbst wie folgt: «Auf Befehl trat ich vor, auf Befehl kniete ich nieder. Der Staatsanwalt nahm seine Mütze ab und räus-

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perte sich, auch alle anderen räusperten sich. Er hielt ein feierliches Papier vor sich entfaltet, daraus las er vor»: Meine Herren, vor Ihnen steht Harry Haller, angeklagt und schuldig befunden des mutwilligen Mißbrauchs unsres magischen Theaters. Haller hat nicht nur die hohe Kunst beleidigt, indem er unsern schönen Bildersaal mit der sogenannten Wirklichkeit verwechselte und ein gespiegeltes Mädchen mit einem gespiegelten Messer totgestochen hat, er hat sich außerdem unsres Theaters humorloserweise als einer Selbstmordmechanik zu bedienen die Absicht gezeigt. Wir verurteilen infolgedessen den Haller zur Strafe des ewigen Lebens und zum zwölfstündigen Entzug der Eintrittsbewilligung in unser Theater. Auch kann dem Angeklagten die Strafe einmaligen Ausgelachtwerdens nicht erlassen werden. Meine Herren, stimmen Sie an: Eins-zwei-drei!. (S. 254)

Auf verblüffende Weise werden in diesem letzten Handlungshöhepunkt die heterogenen Elemente des Grausigen und des Komischen miteinander verbunden. Diese Verbindung ist eigentümlich für die Atmosphäre des Grotesken. Das eisig-fröstelnde Lachen, das hier angestimmt wird, ist komprimierter Ausdruck für die plötzliche Bewußtwerdung der bis dahin andauernden Mißversöhnung, die im Steppenwolf zwischen seinem hohen Ideal von Humanität und der Realität seiner überaus aggressiven und liebesunfähigen Natur herrscht, wie wir es bei der Ermordung von Hermine erleben, in der Harry seine Tat folgendermaßen beschreibt: «Dort, wo das Mal saß, stieß ich mein Messer hinein, so lang die Klinge war» (S. 247), und der Selbstbespuckung im Spiegel, den er wütend «in Scherben» (S. 246) trat. In dem eisigen Lachen des Grotesken nimmt hier die «Entzweiung»24 zwischen der halbfaustischen und romantischen Subjektivität von Harry Haller und seiner objektiv destruktiven, erbärmlichen Existenz «in äußerster Stilisierung»25 augenblicklich «die Gestalt einer Ungestalt»26 an, durch die am Ende des Romans plötzlich alle sentimentale Beschönigung und mitleiderregende naturalistische Rührung verfremdet und distanziert wird. Wenn überhaupt der Steppenwolf für eine künftige Heilung vorbereitet werden soll, dann kann dies, wie der Text selbst ohne Beschönigung zeigt, nur durch dieses «kathartische Entsetzen»27 entstehen, das durch die plötzliche Erkenntnis der Deformation des klassizistischen Humanitätsideals, wie es das groteske Bild der «Hinrichtung» deutlich macht, erlangt werden. Antizipiert worden war übrigens diese Erkenntnis schon verblüffenderweise, in fast noch effektvollerer Art, in der Szene aus dem magischen Theater, die mit «Wunder der Steppenwolfdressur» überschrieben war. Hier wird die groteske Wirkung aus komischen und grausigen Elementen bestehend am deutlichsten erkennbar. Auf eine widerwärtig- komische Weise wird hier gezeigt, wie ein Wolf von einem 24 25 26 27

I. Roebling, a.a.O., S. 902. F. Dürrenmatt: Theater. Essays, Gedichte und Reden. In: Werkausgabe in 30 Bänden. Verlag Diogenes, Zürich, 1985. S. 24. Ebenda, S. 62. G. von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 7. Aufl., Stuttgart 1989. S. 353.

‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses?

Menschen, den Harry seinen «verfluchten Zerrspiegelzwilling»(S. 230) nennt, in einem nahezu unvorstellbaren Grade gezähmt wird, so daß der Wolf in seinem Verhalten einem Menschen gleicht. Auf eine «ekelhaft-spannende», eine «scheußlich» und zugleich «heimlich-lustvolle» Weise bekommen wir ein «großes», «schönes», aber furchtbar «abgemagertes», ein «edles» und dennoch «schmählich gehorsames» Raubtier zu sehen, das von einem brutalen Tierbändiger zu folgenden grotesken Szenen vorgeführt wird: Der Wolf gehorchte aufmerksam jedem Befehl, reagierte hündisch auf jeden Zuruf und Peitschenknall, er fiel in die Knie, stellte sich tot, machte das Männchen, er trug einen Brotlaib, ein Ei, ein Stück Fleisch, ein Körbchen folgsam und artig in der Schnauze, ja er mußte dem Bändiger die Peitsche, die dieser hatte fallen lassen, aufheben und im Maule nachtragen, wozu er unerträglich den Schwanz wedelte. Es wurde dem Wolf ein Kaninchen vorgeführt und dann ein weißes Lamm, und er bleckte zwar die Zähne und ließ den Speichel tropfen vor zitternder Begierde, berührte aber keines der Tiere, sondern sprang auf Befehl über sie, die bebend am Boden kauerten, in elegantem Schwung hinweg, ja, er legte sich zwischen Hase und Lamm nieder, umarmte beide mit den Vorderpfoten und bildete mit ihnen eine rührende Familiengruppe. Dabei fraß er aus des Menschen Hand eine Tafel Schokolade. (S. 231)

Nicht nur Harry stehen bei diesem Anblick die «Haare zu Berg», sondern jedem, der sich diese Szene vorstellen kann. In einer ähnlichen grotesken Art verhält sich auch der Mensch, als er dann vom Wolf vorgeführt wird. «Hündisch und begabt ging er auf jede Demütigung und Perversion phantasievoll ein» (S. 233): Auf Befehl sank der Mensch in die Knie nieder, spielte den Wolf, ließ die Zunge heraushängen, riß sich mit den plombierten Zähnen die Kleider vom Leibe. Er ging, je nachdem der Menschenbändiger befahl, auf zweien oder auf vieren, machte das Männchen, stellte sich tot, ließ den Wolf auf sich reiten, trug ihm die Peitsche nach. […] Ein schönes Mädchen kam auf die Bühne, näherte sich dem dressierten Mann, streichelte ihm das Kinn, rieb ihre Wangen an seiner, aber er blieb auf allen vieren, blieb Vieh, schüttelte den Kopf und fing an, der Schönen die Zähne zu zeigen, zuletzt so drohend und wölfisch, daß sie entfloh. Schokolade wurde ihm vorgesetzt, die er verächtlich beschnoberte und wegstieß. Und zuletzt wurde das weiße Lamm und das fette gescheckte Kaninchen wieder hereingebracht und der gelehrige Mensch gab sein Letztes her und spielte den Wolf, daß es eine Lust war. Mit Fingern und Zähnen packte er die schreienden Tierchen, riß ihnen Fetzen von Fell und Fleisch heraus, kaute grinsend ihr lebendiges Fleisch und soff hingegeben, trunken mit wollustgeschlossenen Augen, ihr warmes Blut. (S. 231 und 232)

Auf groteske Weise ist hier schon diese Mißversöhnung deutlich geworden. Diese unheimliche «Entzweiung» zwischen den zwei Seelen in der Brust von Harry Haller, die trotz aller beschönigenden Beschwörungen von den «tausend Seelen», in «unausgleichbarem Gegensatz» die seelische Struktur des Protagonisten Harry Haller im Steppenwolf bestimmen. In der grotesken S tepp enwo l fdr e ssur spiegelt sich die Triebfeindlichkeit der pietistisch-puritanischen Gewissensdressur bzw. Erziehungsdressur, deren Hesse selbst nach eigener Bekenntnis, genauso wie sein Held Harry Haller, ausgesetzt war. Die Aggressivität, die, in der bestialischen Wildheit, aus der Diktatur der triebfeindlichen Über-Ichs und der daraus resultierenden Frustration entstehen mußte.

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Nur aus dem «kathartischen Entsetzen», das aus der Erkenntnis des «Überwahren und überaus Wirklichen»28 dieser grotesken Dressur entsteht, kann die Heilung des Steppenwolfes, die am Ende vorbereitet sein soll, entstanden sein, während vom versöhnlichen Humor, aufgrund des Textes, keine Spur vorhanden ist. Hier wage ich noch Hesse in Beziehung zu Dürrenmatt zu setzen, der folgendes über das Groteske gesagt hat: Das Groteske ist eine der großen Möglichkeiten, genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt, doch ist sie nicht die Kunst der Nihilisten, sondern weit eher der Moralisten, nicht die des Moders, sondern des Salzes. Sie ist eine Angelegenheit des Witzes und des scharfen Verstandes […], nicht dessen, was das Publikum unter Humor versteht, […]. Sie ist unbequem, aber nötig….29

Wahrscheinlich gibt es in Hesses ganzem Werk keine einzige Stelle, an der er so «modern» ist wie am Ende der Steppenwolf-Erzählung, wenn in der SteppenwolfDressur und der anlässlich bevorstehenden Guillotinierung von Haller das Lachen des Humors in das Lachen des Grotesken verwandelt wird. Nur hier hat Hesse jene Verbindung von Ergriffensein und Distanzierung erreicht, die wir sonst nur bei Thomas Mann kennen. Vielleicht bezieht sich Thomas Manns Äußerung über die «experimentelle Gewagtheit»30 des «Steppenwolfes» auch auf diese Stelle. Abschließend muß noch zu jener entscheidenden Frage Stellung genommen werden, die zu Beginn gestellt wurde. Die Frage bezieht sich darauf, was im Sinne der Lösung Heilung der Verzweiflung ist? Der Verlauf der Erzählung Der Steppenwolf zeigt, daß der Protagonist Harry Haller die «tausend Möglichkeiten» seines Ichs nicht hat realisieren können, sondern immer noch auf die Spaltung von Mensch und Wolf fixiert geblieben ist. In dieser Zwiespältigkeit zwischen Geist und Natur besteht Harry Hallers Verzweiflung. Daß er nicht nur der Intellektuelle und in hohem Maße geistige Mensch ist, sondern auch andere Seiten in sich trägt, die er aber aufgrund seiner geistigen Veranlagung ein Leben lang unterdrückt hat, wie zum Beispiel seine Natur-/bzw. Erosseite, hat Haller nie ganz akzeptieren können. Es ging in dieser Darstellung vor allem darum zu zeigen, ob der Steppenwolf Harry Haller wenigstens von seiner Verzweiflung durch die Kraft des versöhnlichen Lachens geheilt werden konnte. Daß der Wolf und Mensch im Steppenwolf nicht, wie der «Tractat» zunächst vermutet hat, unter «dem aufgehenden Licht des Humors» «eine Vernunftehe» schließen konnte, dies hat sowohl das groteske Bild der Steppenwolfdressur gezeigt, als auch die Szene der «Hinrichtung» am Ende der Erzählung, in der auf eine «explosionsartige» Weise ein groteskes Lachen vermittelt wird, das, wie Dürrenmatt zu recht über das Groteske sagt, für den Steppenwolf zwar «unbequem», aber «nötig» war. Haller erkennt am Ende plötzlich: 28 29 30

Th. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Th. Mann. [Fassung der Erstausgabe von 1918]. Frankfurt (Main) 1956. S. 557. F. Dürrenmatt, a.a.O., S. 25. Vgl.: S. Unseld: Hermann Hesse. Werk und Wirkungsgeschichte. Frankfurt 1985. S. 117.

‹Heilung› der Verzweiflung im Steppenwolf Hesses? 149 Oh, ich begriff alles, begriff Pablo, begriff Mozart, hörte irgendwo hinter mir sein furchtbares Lachen, wußte alle hunderttausend Figuren des Lebensspiels in meiner Tasche, ahnte erschüttert den Sinn, war gewillt, das Spiel nochmals zu beginnen, seine Qualen nochmals zu kosten, vor seinem Unsinn nochmals zu schaudern, die Hölle meines Innern nochmals und noch oft zu durchwandern.

Mit dieser plötzlichen Bewußtwerdung Hallers und seiner Behauptung, doch noch «einmal» ‚das Lachen‘ zu lernen, kann durchaus behauptet werden, daß der Protagonist Harry Haller seine Todesverzweiflung überwunden hat und daß er das weitere Ringen um eine neue Menschwerdung nicht aufgegeben hat. Eine «existentielle Neugeburt»31 ist ihm allerdings noch nicht gelungen, doch der erste Schritt zur «Heilung» wurde bereits durch den Gang in das Magische Theater, jener «Weg nach Innen», getan. Es ist der Gang in die tiefsten Abgründe der Seele, der Blick in die Zerrissenheit und die Verzweiflung, durch den allein die Heilung ermöglicht werden kann. In diesem Sinne ist der Steppenwolf eine «Katharsis»32, eine Reinigung von den gefährlichen und schlechten Kräften des Ichs, indem man sich ihrer bewußt wird und sie zur «Ganzheit» des Ichs mit einbezieht. Wenn es dem Steppenwolf Haller in seiner «Doppelheit» einmal gelingen sollte, die «Vielheit» anzunehmen, wird dieser «Weg nach Innen» vollendet und die «Heilung» gelungen sein.33

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Ph. Lersch, a.a.O., S. 293. H. Hesse, Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt/Berlin 1957. S. 932. Bemerkung: Auf der Grundlage zahlreicher Hinweise des 1. Referenten meiner Magisterarbeit, Dr. Joachim Wich, wurde diese Interpretation verfaßt.

Besprechungen Michael Limberg, Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, 158 S., € 7,90. An Hermann Hesse schieden sich schon zu seinen Lebzeiten die Geister: Die einen verehren ihn leidenschaftlich, die anderen kritisieren ihn unverhohlen. Hermann Hesse war zwölf Jahre alt, als er beschloß, Dichter zu werden. Trotz mancher «Irrungen und Wirrungen» seiner Jugend hat er sein Ziel erreicht: Er wurde freier Schriftsteller und erhielt 1946 sogar den Nobelpreis für Literatur. Heute ist er der weltweit meistgelesene Autor deutscher Sprache, dessen Romane und Erzählungen eine ungebrochene Faszination insbesondere auf junge Leser in der ganzen Welt ausüben. Sein Werk ist in über fünfzig Sprachen übersetzt worden, seine Weltauflage beträgt mittlerweile mehr als hundert Millionen Exemplare. Michael Limberg hat sich schon seit langer Zeit auf die Spuren von Hermann Hesse begeben. Seine neueste Arbeit, das 158 Seiten umfassende und mit zahlreichen Dokumenten, Fotografien versehene Buch verschafft dem Leser einen tiefen (knappen, aber gründlichen) Blick in das Leben und in das Schaffen Hermann Hesses. M. Limbergs Buch ist in drei Teile gegliedert. Ausgangspunkt ist ein kurzer, einleitender Aufsatz über den Eigensinn. Unter Eigensinn versteht Hesse die Möglichkeit, sich von dem Druck und Zwang, der auf den Menschen ausgeübt wird, zu befreien. Das Erringen der Individualität bedeutet einen Kampf gegenüber der breiten Masse und der Gesellschaft. Dann lenkt Limberg den Blick des Lesers auf Hesses Leben. Schon früh hat Hesse die Weichenstellung seiner Herkunft aus dem süddeutsch-pietistischen Milieu protestantischer Missionare verlassen und als Schriftsteller zu einem Weltbild gefunden, das die Schranken der Konfessionen und politischen Ideologien überwand. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs traf in Hesse nicht nur einen psychisch belasteten, sondern auch einen dennoch politisch unreifen Menschen. Hesse war einer der wenigen deutschen Intellektuellen, die sich kritisch mit dem deutschen Nationalismus auseinandersetzten und nicht in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmten. Deshalb wurde er von rechtsstehenden Publizisten zum Vaterlandsverräter erklärt. Von 1914 bis 1918 veröffentlichte er kriegskritische Aufsätze in deutschsprachigen Zeitungen und ab 1915 stellte er sich durch den Aufbau einer Zentrale für Kriegsgefangenenfürsorge in Bern den Dienst der Völkerverständigung. Daraufhin reift bei Hesse der Entschluß heran, sich um die schweizerische Staatsbürgerschaft zu bemühen, die er 1924 erlangen wird. Ab 1919 übersiedelt er nach Montagnola im Tessin, wo er den Rest seines Lebens verbringt. Obwohl Hesse keine politischen Aufrufe während des dritten Reiches unterzeichnet hat, übt er unverblümt in seinen Privatbriefen Kritik an dem NS-Regime. Seine Bücher waren zwar nicht verboten, aber galten als unerwünscht. Das Glasperlenspiel (1943) konnte zunächst nur in der Schweiz erscheinen. Viele politische Emigranten des Dritten Reichs, darunter Thomas Mann, fanden bei Hesse Zuflucht und viele Notleidende finanzielle Unterstützung. Im zweiten Teil zeichnet M. Limberg die Grundrisse des Hesseschen Werkes und bietet Interpretationen der Erzählungen, Märchen, Romane und der Lyrik. Der Weg Hesses, der

Besprechungen 152 ihn von der traditionsverwurzelten Heimat bis zu den grauenhaften Geschehnissen des Ersten Weltkriegs führt und dadurch eine psychische Umwertung seiner intellektuellen Parameter auslöst, wird von M. Limberg als Prozeß einer fortschreitenden Selbstwerdung nachgezeichnet. Der erfolgreiche Verfasser eher mehr oder weniger harmloser Romane (Peter Camenzind, Unterm Rad, Gertrud), melancholischer Erzählungen (Diesseits, Nachbarn) und neuromantischer Gedichte wurde zu dem eigensinnigen Autor, der mit aufregenden und bis heute kaum in Gänze enträtselten Texten wie Demian und Der Steppenwolf die Nachkriegsgeneration tief aufwühlen sollte. Der häufig deklamierte «Untergang Europas» war für ihn fortan kein nihilistisches Endzeitpathos mehr, sondern das Signal zu einem Neubeginn. Vor allem sah Hesse ein, daß er kein Recht hatte, der ganzen Welt Wahnsinn und Rohheit vorzuwerfen. «Es mußte also in mir selbst allerlei Unordnung sein, wenn ich so mit dem ganzen Weltlauf in Konflikt kam», schreibt er in seinem Kurzgefaßten Lebenslauf. Durch das Erlebnis der Psychoanalyse, durch den «schmalen Weg durch die Wüste» der eigenen Persönlichkeit, durch diesen «Blick ins Chaos» seines Selbst, gelang Hesse zu einer radikal neuen Einsicht. Daher ist Hesses konsequent beschrittener «Weg nach Innen» keinesfalls als «Flucht ins Private» zu disqualifizieren, wie das manche Kritiker immer noch unterstellen. Bekanntlich fällt in das Jahr 1931 auch der Beginn der Arbeit am Glasperlenspiel, mit dem Ziel, «einen geistigen Raum aufzubauen, in dem man leben und atmen konnte, aller Vergiftungen der Welt zum Trotz, und um den Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte zum Ausdruck zu bringen». Nach der Machtergreifung Hitlers und der Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten reagierte Hesse mit der Entwicklung eines Gegenmodells, das auf eine längere Zeitspanne berechnet war: dem Glasperlenspiel. Sollte das Glasperlenspiel ursprünglich mit einer Unterredung zwischen dem Führer der Diktatur und seinem Gegenspieler Josef Knecht enden, so verzichtete Hesse schließlich darauf, einem so grausamen Diktator wie Hitler auch noch die Ehre zu erweisen, ihn in seinem Buch zu einer Hauptfigur aufzuwerten. Zuletzt befaßt sich Limberg mit Hesses Wirkung. Hermann Hesse verstand sich als Dichter, und nicht als Politiker. «Der Versuch, an politische Dinge Liebe zu wenden, ist mir mißglückt», schrieb er 1917 in einem Brief. Das heißt aber nicht, daß Hesse unpolitisch gewesen wäre. In zahlreichen Publikationen und in Antworten auf Leserbriefe wendet er sich nach dem ersten Weltkrieg an die deutsche Jugend in der Hoffnung, Deutschland geistig zu erneuern und einen weiteren Krieg zu verhindern. «Aber Menschlichkeit und Politik», so lautet das vielzitierte Wort von ihm, «schließen sich im Grunde immer aus. Beide sind nötig, aber beiden zugleich dienen, ist kaum möglich. Politik fordert Partei, Menschlichkeit verbietet Partei». Die Beurteilung des homo politicus Hermann Hesse bewegte sich stets zwischen zwei Extremen. Seine zahllosen Stellungnahmen zur Politik und Zeitgeschichte zeigen zum einen, wie Robert Jungk es formulierte, «einen über die Tagespolitik hinausdenkenden Visionär künftiger Politik», der an einer «radikalen Veränderung der politischen Strukturen und Lebensweisen» interessiert war, aber sich weigerte, «revolutionären Programmen und Funktionären zu folgen». Andererseits waren und sind immer noch Stimmen vernehmbar, sowohl von «rechter» als auch von «linker» Seite, die Hesses apolitische Haltung scharf kritisieren: «Meine Stellung ist bis zum Fanatismus apolitisch […]. Ich werde mich bis zum Tod dagegen wehren, mich selber politisieren zu lassen. Es müssen doch auch Leute da sein, die unbewaffnet sind». Hesse war sein Leben lang ein Mahner zum Frieden und ein Dichter der Menschlichkeit. Sein Werk ist eine Rückenstärkung gegen jede Form der Entfremdung und vergegenwärtigt den oft schwierigen Weg, den der Autor gegen den Strom des Zeitgeistes eingeschlagen hat. Es zeigt einen Dichter, der Ethik und Ästhetik in Einklang bringen wollte und der sein Leben lang versuchte, das Unverwechselbare der individuellen Anlagen und Möglichkeiten gegen den Konformitätsdruck von außen zu bestärken. Es zeigt aber auch, daß Hesse trotz des Einflusses der deutschen Klassik und Romantik in keiner Weise epigonal

Besprechungen 153 ist, weil er grundlegende Tendenzen der Moderne in sein Schaffen inkorporiert hat. Hesses Bild als Moderne hat Limberg sorgfältig zusammengetragen und auf diese Weise der Leserschaft Hermann Hesse von einer ganz persönlichen Seite nahe gebracht. «Hermann Hesse wird weiterhin polarisieren. Während die einen prognostizieren, daß sein Ruhm auf einem Mißverständnis beruhe und bald verblassen werde, bescheinigen ihm die anderen eine Leistung, die deutschen Autoren seit jeher schwer falle, nämlich existentielle Themen und abstraktes philosophisches Gedankengut allgemein verständlich zu machen» (S. 137). Es ist zu bedauern, daß das Thema der Malerei nicht behandelt worden ist. Denn Hesse war beides, Schriftsteller und Maler, auch wenn Letzteres vielen unbekannt ist. Seine Bilder sind nämlich als Ergänzung und Erweiterung seines literarischen Schaffens zu verstehen (Piktors Verwandlungen). Es wäre auch lehrreich gewesen, Hesses Tätigkeit als Rezensent ans Licht zu bringen. Parallel zu seinem Werk hat Hesse nämlich in Deutschland noch bis 1936 seine zeitkritischen Rezensionen und Bücherberichte veröffentlicht, bis die Nationalsozialisten selbst ihn mundtot machen würden. «Ich fühle mich verpflichtet», schrieb er 1935, «dieses versaute und brutalisierte Deutschland nicht zu verlassen, sondern in meiner Sphäre die Tradition der Anständigkeit und Gerechtigkeit zu wahren. Unter anderem bin ich heute der einzige deutsche Kritiker, der Bücher von Emigranten und Juden anzeigt». Die nahezu dreitausend Besprechungen und Empfehlungen guter Bücher sind von der Jahrhundertwende bis wenige Monate vor seinem Tod in etwa sechzig verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden. M. Limbergs Buch ist ein Lesebuch für all jene, die mehr über Hermann Hesse erfahren wollen. Hier ist auch der Anhang zu loben, zumal die Bibliographie, und schließlich das Werk- und Personenverzeichnis. In einem Zeitalter zunehmender geistiger und kultureller Desorientierung verbinden Hesses Schriften Ethik und Ästhetik, Tradition und Moderne zu einem Weltbild, das an Faszination kaum einem anderen im 20. Jahrhundert erdachten nachsteht. Christine Mondon

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Dirk Jürgens, Die Krise der bürgerlichen Subjektivität im Roman der dreißiger und vierziger Jahre – Dargestellt am Beispiel von Hermann Hesses ‹Glasperlenspiel›, Peter Lang, Frankfurt am Main 2004, 349 S., € 56,50. In seiner Dissertation beschreibt Dirk Jürgens (Münster) Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel als «das prominenteste Beispiel eines außerhalb des ‚Dritten Reiches‘ entstandenen Werks der ‚inneren Emigration‘» (S. 28). Das Glasperlenspiel enthält die Tendenz der deutschen Exilliteraten der chaotischen Wirklichkeit eine «erzählerische Ordnung» (S. 17) entgegenzusetzen ebenso, wie auch strukturelle Merkmale der Literatur der inneren Emigration. So stellt die Schreibweise des Romans für Jürgens eine Rückkehr zu den Schreibweisen des 19. Jahrhunderts dar. Innerhalb dieser Restaurationsbemühungen wird versucht, die Moderne als «krankhafte Zwischenperiode» (S. 198) erscheinen zu lassen. Ganz in der zentralen Metapher des Glasperlenspiels aufgehend, verfolgt der Roman die Aufhebung des historischen Kontinuums. Wie jede große Idee ist das Glasperlenspiel schon immer vorhanden gewesen, so daß dessen Spieler sich konsequenterweise auf die ständige Kombination von bereits Vorhandenem zu beschränken hat. Dabei kommt die Bildung einer von der Welt unabhängigen, in der abgeschiedenen Provinz Kastalien lebenden Geisteselite im Roman den Interessen des konservativen Bildungsbürgertums zur Zeit des Verfassens entgegen. Kastalien erscheint als «Refugium der deutschen Kultur» (S. 87), das letztendlich als

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eine in die Zukunft verlegte idealisierte Welt des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Diese «Geistesprovinz» ist ein Gegenentwurf zur «Demokratisierung, Liberalisierung und ‚Feuilletonisierung‘ der Gesellschaft seit der französischen Revolution» (S. 78), welche überwunden werden müsse. Diese vom Roman eingenommene, negierende Haltung der Moderne gegenüber, wird umfassend analysiert. Zusammenfassend konstatiert er diesbezüglich: «Die naive Fortschreibung und Umsetzung idealistischer, aus dem 18. und 19. Jahrhundert übernommener ästhetischer Positionen, verbunden mit der Verleugnung (und Verleumdung) moderner Schreibweisen und ästhetischer Ideen, ist nur unter der Voraussetzung möglich, vor der geschichtlichen Entwicklung die Augen zu verschließen, ja Geschichte als Kategorie überhaupt zu negieren» (S. 233). Die nähere Betrachtung der «Krise der bürgerlichen Subjektivität» birgt Schwierigkeiten in sich, da in Hesses Roman die Subjektivität scheinbar gar nicht gefährdet ist. Schließlich wird die Figur Joseph Knecht als Subjekt mittels seiner Position gegenüber Natur und Kunst konstituiert (und entspricht damit den Subjektkonstruktionen von Klassik und Romantik). Dennoch kann jedoch von einer Krise des Subjekts im Roman ausgegangen werden, die sich insofern ausdrückt, als daß es im Glasperlenspiel zwar zu einer Verwirklichung des Subjekts kommt, diese sich jedoch unabhängig von der Gesellschaft vollzieht. Dieses in der Tradition der deutschen Bürgerlichkeit und dessen «politikfernen Kulturreligion» (S. 56) stehende Konzept offenbart allerdings die politische Unfreiheit des Individuums in diesem Roman, die hier die Krise der bürgerlichen Subjektivität bedingt. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, warum Jürgens wiederholt kritisiert, daß sich im Roman nur kulturelle und nicht soziale Betrachtungen (S. 101; 148) finden ließen; keine Menschen unter realistischen Bedingungen sondern nur privilegierte Bürger mit privilegierten Problemen im Roman beschrieben werden würden. Dadurch, daß der Untersuchungsgegenstand in seinen Augen zu einem sozialen und vor allem politischen geworden ist, rechtfertigt sich für Jürgens die Betrachtung und vor allem die Bewertung des Glasperlenspiels über dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus. Dieses wird sogar zum Leitkriterium für die Bewertung des Buches. Diesbezüglich hält Jürgens fest, daß die vermeintlich politisch korrekte Position des Textes immer mit Dokumenten belegt wird, die gerade nicht zum Text gehören. Im Glasperlenspiel selbst würden totalitäre Diktaturen hingegen vielmehr verharmlost (S. 153). Der Text sei demgemäß entgegen der weitläufigen Rezeption nicht ein Gegenbild, sondern vielmehr das Spiegelbild des Faschismus bzw. die andere Seite der nationalsozialistischen Medaille. Es werde sich in Opfermotivik, Lichtund Sonnensymbolik der nationalsozialistischen Bildsprache bedient, auch wenn der Nationalismus im Text gar nicht explizit erwähnt werde. Das Glasperlenspiel wird von Jürgens als radikal antimoderner Roman bewertet, der weder in der Lage ist, «über jene bürgerlichen Kategorien hinaus zu denken noch die Unmöglichkeit eines solchen Geschichtsbildes im Zeitalter des Faschismus, des Weltkriegs und der Konzentrationslager auch nur in Ansätzen zu reflektieren. Statt dessen wird versucht, selbst diesen Ereignissen noch mit der Ästhetik der historischen Novelle zu begegnen» (S. 180). Weiterhin führt Jürgens aus, auf welche Art und Weise diese Struktur des Werkes der Rezeption im Deutschland der Nachkriegszeit entgegengekommen ist. Das Poltische wird im Glasperlenspiel insgesamt als Feuilletonismus abgetan, so daß «der Erfolg von Hesses Roman in den ersten Nachkriegsjahren […] eng mit seiner Tendenz zur Aufhebung der Geschichte, genauer, mit seiner Tendenz zur Marginalisierung der jüngsten Geschichte zugunsten weiträumiger, in eine fiktive Zukunft verlängerter Geschichtsabläufe» (S. 208) zusammenhängt. In seiner Intertextualitätsanalyse arbeitet Jürgens vornehmlich mit Dualismen. Er betrachtet die Opposition von Klassik und Romantik gegenüber dem «Zeitalter des Feuilletonismus», sowie diejenige von Antike und Mittelalter (v.a. Scholastik) gegenüber der Neuzeit als

Besprechungen 155 strukturbildend für den Roman. Das Glasperlenspiel bezieht Position für den Idealismus der Klassik und Romantik und spricht sich gegen den Materialismus aus. Synästhetische Auffassungen werden der Rationalität der Moderne entgegengestellt. Aus der antiken Philosophie findet vor allem die platonische Idee des «Gelehrtenorden» (S. 66) Eingang in das Buch. Allerdings geht Jürgens davon aus, daß die griechische Literatur und Philosophie vor allem in der Vermittlung durch Nietzsches Schriften in das Glasperlenspiel einfließen: Das «gesamte Buch läßt sich auf Nietzsche, seine Philosophie und Person zurückführen» (S. 83). Insgesamt folgt das Glasperlenspiel in seiner Kulturkritik an der modernen Gesellschaft den Positionen der «konservativen Revolution» (S. 98). Der Umfang des Materials, das Jürgens für seine Arbeit verwendet, bietet dem Leser viele Anregungen für eigene Herangehensweisen an den Text, ist der Stringenz der Arbeit jedoch manchmal abträglich. Zudem sind die herangezogenen Textpassagen oftmals so weit aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, daß sie Gefahr laufen, durch diese zu große Konzentration auf das Detail dialektisch umzuschlagen und somit austauschbar und beliebig zu werden. Fraglich ist auch, ob tatsächlich die «Geschichte als Gradmesser für Qualität eines Textes herangezogen werden» (S. 21) sollte und zum maßgebenden Untersuchungskriterium zu erheben sei, wie Jürgens meint. In einigen Passagen scheint der Blick durch die Konzentration auf das Politische eingeengt zu sein. So betrachtet Jürgens beispielsweise das meditative Spielen des Glasperlenspiels als Religion ohne dahinter stehende Theologie, deren Fehlen jederzeit durch eine raßistische Ideologie ersetzt werden könne (S. 59–60). Die in sich selbst ruhende Meditation im Spiel des Instruments hingegen, in der Art wie Hesse sie in Indien kennen gelernt haben dürfte, ist in der Untersuchung dem Kreis des Wahrnehmbaren entschwunden. Unabhängig davon bietet die Lektüre von Jürgens Buch eine sorgfältig recherchierte und umfassend belegte Darstellung der durch die kulturreligiöse Politikferne des Bildungsbürgertums bedingten Krise des Subjekts. Mit der Gesellschaft des politischen Extremismus konfrontiert, weicht der intellektuelle Bürger in die (innere) Emigration des Exils einer Geistesprovinz aus, welche an historisch überkommenen Strukturen festhält und versucht in der Beschäftigung mit überzeitlich transzendentalen Problemen vor der real existierenden politisierten Gesellschaft zu fliehen. Rasmus Frederich

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Hermann Hesse, «Liebes Herz», Briefwechsel mit seiner zweiten Frau Ruth, herausgegeben von Ursula und Volker Michels, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M: 2005, 645 S., € 29,80. Eine intensive Liebe und eine außergewöhnliche Ehe sind nun in einem Briefwechsel dokumentiert worden. Im Suhrkamp Verlag erschien die Korrespondenz zwischen Hermann Hesse und seiner zweiten Frau Ruth. «Liebes Herz» heißt der Band, den Ursula und Volker Michels herausgegeben haben, 81 Jahre nach der Heirat und 78 Jahre nach der Scheidung von Hesse und Ruth. Das Konvolut, bestehend aus 481 Briefen, wurde im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und zum kleineren Teil in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern aufbewahrt. Die Sperrfrist für diese Briefe war bereits 1987 abgelaufen, doch weil Ruth Hesse, später Ruth Haußmann, zu diesem Zeitpunkt noch lebte, verfügte Hesses Sohn Heiner eine Verlängerung der Sperrfrist. Erst nach Heiner Hesses Tod, im Jahr 2003, konnte die Korrespondenz editorisch erschlossen werden. Dokumentiert ist nun die große Liebe der beiden füreinander, dokumentiert sind aber auch die schwierigen Randbedingungen, die ein jahrelanges, glückliches Zusammenleben von

Besprechungen 156 vornherein ausschlossen. Was wir heute wissen, haben die beiden damals auch wahrgenommen. Beide liebten sich sehr, hatten aber Zweifel, ob diese Liebe durch eine Heirat besiegelt werden sollte, zu verschieden waren die Interessen und charakterlichen Eigenheiten der beiden. Die äußeren Bedingungen und Lebensumstände taten ihr übriges. Der Briefwechsel zeigt diese unabhängigen, einer Ehe mißgünstigen Rahmenbedingen auf, er wirft aber auch ein Licht auf beider Verfehlungen. Nicht allein der introvertierte Dichter, der «Zölibatär», wie er sich selbst nannte, hat in dieser Ehe Fehler gemacht, auch die ambitionierte junge Sängerin, Ruth Wenger. 1919 lernte Hesse Ruth im Tessin kennen. Er war 42 Jahre alt, sie 21. Hesse verliebte sich in die schöne, aufgeschlossene und lebensfrohe junge Frau. Er hatte eine gescheiterte aber noch formal bestehende Ehe hinter sich und hatte drei Söhne. Sie war unerfahren und hatte noch nie in einer Beziehung gelebt. Sie lernte durch ihn die Liebe kennen, durch ihn, den enttäuschten, frustrierten Ehemann, den introvertierten, für seine Dichtung lebenden Schriftsteller, den eigensinnigen Revolutionär mit steppenwölfischer Sehnsucht nach Bürgerlichkeit. Sie war eine verwöhnte Industriellentochter mit fester Bindung zu ihrer Familie, er war der in einem Tessiner Dorf einsam lebende, allen gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg gehender Dichter. Sie war jung und ungezwungen, besuchte Konzerte und Gesellschaften, er war ein frustrierter, nörgelnder Verweigerer jeglicher öffentlicher Auftritte oder Zusammentreffen im größeren Kreis. Zudem war er, der alle Bürokratie haßte, noch verheiratet mit seiner ersten, gemütskranken Frau Mia. Er war Deutscher, der in der Schweiz lebte. Zwei komplexe Charaktere vollkommen unterschiedlicher Herkünfte, unterschiedlicher Vorlieben und aufgrund des Alterunterschieds natürlich unterschiedlicher Erfahrungen verlieben sich ineinander. Ein Born von Schwierigkeiten tut sich dem neutralen Betrachter auf. Schwierigkeiten, die die beiden Verliebten ebenfalls sahen, aber ihre Liebe füreinander war so stark, daß sie das Risiko einer Beziehung eingingen. Im Sommer 1920 siezen sich beide noch, Hesse antwortet Ruth auf einen verlorengegangenen Brief, in dem sie ihm anscheinend ihre Liebe erklärt hat. Hesse antwortet ihr, doch er antwortet als der Dichter, indem er zwei Figuren seiner Romane sprechen läßt: «Als Klingsor sehe ich in Ihnen nur ein hübsches Mädchen. Als Sinclair aber sehe ich in Ihnen einen Menschen, dessen Schicksal mir nahe steht und der mich zuweilen braucht.» Gleich darauf äußert Hesse seine Bedenken, die Beziehung zu Ruth weiter zu vertiefen. «Sie sind zu jung und vielleicht zu gut für Klingsor. Vielleicht lieben Sie mich und das ist sehr schön. Aber Sie lieben mich nicht sinnlich, oder wenn Sie es meinen, ist es Täuschung. Sie suchen bei mir mehr als einen Liebhaber, und Sie verlören alles, sobald ich Ihr Liebhaber wäre. Und auch ich würde dabei nichts gewinnen als einen Becher voll Lust, der schön ist, den ich aber bald entbehren kann.» Es ist zu vermuten, daß diese Aussage auf die junge Frau nicht unbedingt einladend wirkte. Doch schon bald darauf, im September desselben Jahres, beendet Ruth einen Brief an ihn mit den Worten: «Leb wohl mein Königreich, du meine letzte Heimat.» Was hier noch etwas pathetisch klingt, wird von nun an immer zärtlicher und es finden sich zahlreiche verbale Liebkosungen in den Briefen. So die Anrede Hermanns für Ruth: «Liebes Herz», dem Titel des Bandes. Einige glückliche, harmonische Monate folgen, aber die beiden bleiben räumlich getrennt. Hesse lebt in Montagnola, Ruth vorwiegend in Delsberg bei ihren Eltern oder kommt für ein paar Wochen mit ihren Eltern ins circa zwei Fußstunden von Montagnola entfernt liegende Carona. Dies ließe sich verkraften, doch bald schon mischen sich Ruths Eltern ein, die Beziehung durch Heirat auf eine feste Basis zu stellen. Das paßt dem von seiner ersten Frau noch nicht geschiedenen Hesse überhaupt nicht und er reagiert mitunter harsch. Wieder ist ein Brief von Hesse leider nicht überliefert. Die Reaktion Ruths läßt aber auf seinen Inhalt schließen, «… daß ein Zusammenleben mit mir dir eine Folterkammer bedeutet. Das ist es, und nicht

Besprechungen 157 daß du mich nicht heiraten willst. Ich werde mich eben weiter aufreiben in der Qual dieser Liebe, wie ich es bis jetzt tat. Denn sie wird wie bis jetzt aus langer Trennung und Angst und Unsicherheit und aus wenigen, wunderschönen, das weißt du, Zeiten des Zusammenseins bestehen», schreibt Ruth im Sommer 1921. Hesse liebt Ruth, heiraten will er sie nicht, dennoch beugt er sich dem Druck von Ruths Eltern. Er setzt seine Scheidung durch, kämpft für seine Einbürgerung in die Schweiz und heiratet sie am 11. Januar 1924. Der Ehevertrag wird von Ruths Mutter, der Schriftstellerin Lisa Wenger, verfaßt. Die Eheschließung ändert nichts an der Lebensweise der beiden. Er bleibt in Montagnola und schreibt. Sie pendelt zwischen Delsberg, Carona, Zürich und Basel und betreibt ihre Gesangsausbildung. Der öffentlichkeitsscheue Hesse bemüht sich viel zu reisen, nimmt Aufträge für Lesungen an und versucht auf diese Weise so oft wie möglich mit Ruth zusammenzusein, aber eine gemeinsame Wohnung haben die beiden nicht. Ein Umstand, der letztlich ein Glück für den Leser ist, denn sonst hätten sich die beiden sicher nicht so oft geschrieben. Wie überhaupt dieser hervorragend edierte Briefwechsel erstmals der Hesseforschung ein Kapitel erschließt, das bislang nicht zugänglich war. Die Herausgeber haben sich große Mühe gegeben, die größtenteils undatierten Briefe aus dem Zusammenhang und mit Hilfe der Nachkommen von Ruth und Hesse zu datieren. Um die Zusammenhänge dem Leser zudem besser zu erschließen, haben Ursula und Volker Michels außerdem zusätzlich Briefe, vorwiegend von Hesse, in den Band eingefügt, die an andere Adressaten gerichtet sind und die die Beziehung der beiden und die äußeren Umstände erläutern. Schade nur, daß einige Briefe verlorengegangen sind. Volker Michels vermutet in seinem Vorwort dies geschah, weil zum einen Ruth aus einigen Briefen, die Hesse mit einem Aquarell verziert hatte, diese Bilder ausschnitt und zum anderen einige Briefe vernichtete, die auf sie ein schlechtes Licht warfen. Die beiden waren also verheiratet, lebten aber meist hunderte Kilometer voneinander entfernt. Nicht nur der Einsiedler Hesse war zu einem Zusammenleben nicht bereit, selbst Ruth schreibt am 17.7.1925: «Aber wenn ich nach Montagnola gehen würde, so hätte ich Angst, daß ich zuviel opfern muß, und ich bin nicht ein Mensch, der dazu geschaffen ist …». Drei Jahre dauert die Ehe, bis Ruth Hermann um die Scheidung bittet. Hesse willigt unwillig und nicht bedingungslos in die Scheidung ein. Hesse litt unter der Scheidung, Ruth sah keinen anderen Ausweg mehr. Sie wollte ihr geselliges Leben in der Stadt, ihren Gesangsunterricht und die enge Bindung an ihre Familie nicht aufgeben. Im Vorwort des Bandes zitiert Volker Michels einen Brief vom 23.8.1975 von Ruth an die Herausgeber: «Was für eine Gnade, daß ich damals den Mut hatte ihn zu verlassen und mit ihm Ehre und Weltruhm.» Auch dies war wohl ein Motiv von Ruth, den damals bereits gefeierten Dichter zu heiraten. Sie wollte an seinem Ruhm teilhaben und beschwerte sich schon 1927 beim Erscheinen der von Hugo Ball geschriebenen ersten Biografie überhaupt über Hermann Hesse, daß sie in dem Buch nicht erwähnt, daß sie «totgeschwiegen» würde. Und zwei Monate nach der Scheidung schreibt Lisa Wenger ihrer Tochter als Antwort auf ihre wohl erneute Klage darüber einen Brief, in dem sie Hesse und Ball verteidigt und ihre Tochter zur Objektivität ermahnt. Ähnlich distanziert muß der Leser von «Liebes Herz» die Erinnerungen Ruths aus dem Jahre 1975 sehen. Übrigens ein großes Verdienst der Herausgeber, die zusammen mit Hesse Sohn Heiner Ruth und ihren späteren Mann Erich Haußmann 1973 in Berlin besuchten und sie animierten, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Während Hesse nach der Scheidung mit Ruth bis zu seinem Tode immer freundlich verkehrte, sind doch in diesen Aufzeichnungen Ressentiments von Ruth gegenüber Hesse zu spüren. So manche Erinnrung, die Ruth erzählt, lassen Hesse in keinem guten Licht erscheinen. Auch formulierte sie wieder die Klage, in allen Biografien verschwiegen worden zu sein. Ruth hatte nach 50 Jahren sicher Erinnerungslücken, aber sie hatte nicht die Stärke der Objektivität und Vergebung. Posthum ist

Besprechungen 158 Ruths größter Wunsch in Erfüllung gegangen, ihre Beziehung zu Hermann Hesse ist dokumentiert. Aber was dem Leser ein Segen ist, ein durch die zahlreichen unterschiedlichen Dokumente ein objektives Bild zu erlangen, wäre für Ruth sicher nicht das, was sie sich einst vorstellte. Elke Minkus

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Ingeborg Bachmann – Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft. Herausgegeben von Hans Höller. Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze. Piper, München 2004, 537 S., € 24,90. Das Interesse der Rezensentin an dem Briefwechsel war zunächst ein ganz konkretes: Durch die Beschäftigung mit Hans Werner Henzes Oper Prinz von Homburg war die Neugierde geweckt worden, mehr zu erfahren über die Zusammenarbeit des Komponisten mit der Dichterin. Gibt womöglich der Briefwechsel Auskunft darüber, wie dieses vielbeschworene ‹Ineinanderarbeiten› konkret ausgesehen hat? Ist zudem aus dem Briefwechsel mehr zu erfahren über den gesamten Themenkomplex der Beziehung zwischen Musik und Sprache? Weitere Fragen tauchen sogleich beim Blättern in dem Buch auf, wenn man bemerkt, daß ein Großteil der Briefe in Fremdsprachen (zumeist auf Italienisch) verfaßt wurden. Welche Gründe können der auffälligen Mehrsprachigkeit des Briefwechsels zugrunde liegen? Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze lernten sich 1952 auf der Burg Berlepsch bei einer Tagung der Gruppe 47 kennen. Dort begann die Korrespondenz zwischen der 26-jährigen Dichterin und dem gleichaltrigen Komponisten. Schnell wurde aus «liebes fräulein bachmann», «meine liebe ingeborg», und schon wenig später tauchen phantasievolle Anreden in den buntesten Farben und Sprachen auf: «Mein liebes Pastellmädchen», «Meine Begnadete», «Tesoro», «Figlia mia adorata», «usignolo caro», «Carissima Zerbinetta», «Darling», «Dearest Sweetie», «mon ami» (sic!), «Mon petit pauvre ange» und dergleichen mehr. Gefaßter, aber wohl nicht weniger herzlich fallen die Antworten aus: «Lieber Hans Werner Henze», «Mein geliebter Hans», «Lieber, lieber Hans», «Mein lieber Musikus» usw. Auch wenn der Titel Briefe einer Freundschaft ankündigt und die Art ihrer Beziehung wohlbekannt ist, glaubt man angesichts solcher Anrufungen bisweilen, Zeuge einer Liebesgeschichte zu werden. Der Briefwechsel enthält 197 Briefe und damit eine großzügige Auswahl aus den insgesamt 252 erhaltenen Briefen. Das Gewicht ist ungleich verteilt: Von Ingeborg Bachmann sind noch 33 Briefe bzw. Briefentwürfe vorhanden, die auch alle abgedruckt wurden; von Henze, der insgesamt in diesem Briefwechsel der eifrigere Schreiber war, stattliche 219. Die Briefe fallen in die Jahre 1952 bis 1972 und dokumentieren eindrücklich diese außergewöhnliche Freundschaft, Zusammenarbeit, zeitweilige Lebensgemeinschaft und eben auch eine besondere Art der Verehrung, Bewunderung. Dennoch ist es, wie Hans Werner Henze im Juli 1956 schreibt, eben «keine normale Beziehung». Henze ist durchaus der Werbende. Er trägt Ingeborg Bachmann mindestens zweimal die Ehe an und stellt in einem Brief Ende November 1955 dar, was er damit verbindet: «größtmögliche gegenseitige achtung» und ein «leben in ordnung, optimismus, schönheit und frieden». Er entwirft ein präzises Szenario: «ich möchte, daß wir zusammen leben, in einem schönen haus zu füßen des Vesuvs. wir werden zwei dienstboten haben, und du brauchst nur das zu arbeiten, was Du willst (…). ich habe an alles gedacht. alles zusammen wird sehr schön werden, und Du wirst eine hochelegante dame sein (…). das leben wird einen gewissen sinn bekommen, weil man einen pakt gegen die angst manifestieren kann».

Besprechungen 159 Insgesamt scheint das, was Henze sich vorstellt auf den ersten Blick und in gewisser Hinsicht fast einer ‚bürgerlichen Verbindung‘ gleichzukommen, die Halt und Orientierung gibt und in der der Mann als Beschützer und Umsorgender auftritt. Die Wahrheit liegt aber tiefer. Es ist ein «pakt gegen die bedrohliche dumme welt» und vor allem auch eine Möglichkeit, «der Idee des reinen künstlerlebens ausdruck zu verleihen». Auch wenn sich eine Ehe nicht als der richtige Weg erweisen wird, verwirklichen sie dennoch im Winter und Frühjahr 1956 in Neapel die Idee des Zusammenlebens. Hans Werner Henze schlägt auch weiterhin einen gemeinsamen Wohnsitz in seiner Wohnung in Neapel vor, wo er ein ‹Ingeborg-Zimmer› für sie eingerichtet hat, das sie aber nie beziehen wird. Im Vorwort charakterisiert Hans Werner Henze die Beziehung von seiner Warte aus als geschwisterliche Zuneigung, Gefühl von Verehrung und von Schuldigkeit sowie Bemühen um das Wohlergehen der Freundin. Er nimmt in den Briefen verschiedene Rollen ein, u.a. die des Bruders, des Verehrers und des Beschützers. Der im Titel benutzte Begriff ‹Freundschaft› trifft letztlich den Kern ihrer Beziehung. Beide betonen immer wieder (Henze auch über Ingeborg Bachmanns Tod hinaus), daß es die in ihrem Leben wichtigste Freundschaft war, vor allem auch unter künstlerischen Gesichtspunkten. Ihrer Freundschaft liegt eine tief empfundene Seelenverwandtschaft zugrunde, wozu u.a. auch das spontane, sofortige Verstehen und Einfühlen in das jeweils andere Werk gehört. Hans Werner Henze begreift beispielsweise intuitiv das ‚Doppelgesicht‘ von Ingeborg Bachmanns Lyrik, die tiefen Traurig- und Abgründigkeiten, welche die Schönheit der Verse durchdringen. Beide sind vom ersten Brief an stets darauf bedacht, die Werke des anderen zu rühmen, deren Schönheit und Überzeugungskraft hervorzuheben sowie der eigenen Ergriffenheit Ausdruck zu verleihen. Sie nehmen regen Anteil an der Arbeit des anderen und versuchen, an den jeweiligen Uraufführungen, Konzerten, Lesungen, Vorträgen teilzunehmen. Ihre Freundschaft ist eine Rettung aus der Isolation, der künstlerischen Einsamkeit, dem künstlerischen Unverstandensein. Deshalb auch das unermüdliche Beschwören des gegenseitigen Aneinanderglaubens, des gegenseitigen Verstehens. Noch interessanter als die persönliche Beziehung zwischen den beiden Künstlern sind aus meiner Sicht die Einblicke in ihr künstlerisches Schaffen, wobei es aber natürlich keine klare Trennung zwischen diesen beiden Sphären gibt. Ganz im Gegenteil durchdringt, ja ‚diktiert‘ die Kunst geradezu alle Bereiche ihres Lebens. Für Henze und Bachmann dreht sich das Dasein in erster Linie um die kreative Arbeit. Henze verfolgt die Arbeit an seinem Werk noch sehr viel radikaler und konsequenter und fordert dies in gewisser Weise auch von seiner Freundin. Seine Aufforderungen und Ermahnungen zur Arbeit durchziehen den Briefwechsel von Anfang an: «liebe ingeborg, bitte führen Sie ein gutes leben, viel freude wünsche ich und gute arbeit, zart und streng» (17. Juni 1953) «lavora, lavora, disciplina!!» [arbeite, arbeite, Disziplin!!] (26. März 1957). Oftmals auch mit schärferem Ton weist er sie zurecht, «die disziplin auf[zu]bringen, Dich ruhig zu verhalten und zu arbeiten, regelmäßig und wie in einem métier, nicht mehr dieser pennylesse wahnsinn» (April 1957). «Genio è diligenza» [Genie ist Fleiß] notiert Hans Werner Henze handschriftlich auf einem von Ingeborg Bachmann erhaltenen Telegramm. Es kann als Motto für Henzes künstlerisches Verständnis gelten und nicht zufällig erfolgt mehrmals der Verweis auf Thomas Mann («Denk an Thomas Mann: Jeden Morgen»). Für beide steht fest, daß das künstlerische Schaffen ihre Pflicht, Berufung, Bestimmung, ihr Lebenssinn und die einzige Rettung ist. Unzählige Briefstellen Hans Werner Henzes zeugen davon, daß man die Traurigkeiten und Einsamkeiten nur ertragen könne, «indem man arbeitet (im Dunkeln singt) und sich selbst weitgehend ignoriert» (31. Oktober 1964).

Besprechungen 160 Die künstlerische Arbeit umfaßt im Leben alles und eben auch Widersprüchliches, sie ist «un piacere, un onore, la vita» [ein vergnügen, eine ehre, das leben] (28. Oktober 1957), aber auch Mühe und Anstrengung, Quelle des Glücks wie auch des Unglücklichseins. Kurz: «Wir sind da, um kreativ zu sein, das ist die heilige Wahrheit, alles andere ist unwichtig» (18. April 1965). Da die Dichterin bisweilen von dieser Wahrheit abzukommen scheint, erinnert Henze sie außerdem daran, daß nichts größer sein dürfe als das «Verantwortungsgefühl gegenüber dem eigenen Seinsgrund». Hans Werner Henze bezieht sich hier konkret auf Ingeborg Bachmanns Beziehung zu Max Frisch, meint dies aber generell: «Jede menschliche Beziehung soll im Lichte ihrer Nützlichkeit für die Arbeit betrachtet werden. […] Jede Entscheidung mußt Du zugunsten der Arbeit treffen». Auch Ingeborg Bachmann geht in ihren Briefen auf das «Leben im Hinblick auf die Arbeit» ein. Im Vergleich zu ihrem Freund, der eine Uraufführung nach der anderen vorzuweisen hat, sieht sie, «wie wenig noch getan ist», und sie fühlt sich «pigra e indolente» [faul und träg] (23. März 1958). In der Tat legen der Komponist und die Dichterin ganz unterschiedliche Arbeitsstile an den Tag, was in ihrer Zusammenarbeit auch zu Konflikten führt. Hans Werner Henze drängt häufig auf Schnelligkeit, wie z.B. im Juli 1964 bei der Arbeit an der Oper Der junge Lord: «Bitte mach mir dies alles HEUTE, sonst hältst Du den Verkehr auf». Der zupackende, die Arbeit beharrlich, kontinuierlich bestürmende Hans Werner Henze verzweifelt (im eigenen und in ihrem Interesse) nicht selten an der langsam vorankommenden Ingeborg Bachmann. Anderweitige Verpflichtungen (z.B. journalistische Tätigkeiten), ihr Hang zu akribischen Revisionen halten sie ebenso auf wie physisches oder psychisches Unbehagen und emotionale Verstrickungen. Er hält ihr «comportamento da tartaruga»[Schildkröten-Verhalten] (20. August 1964) vor, sie kontert: «Sei un mostro» [Du bist ein Monstrum] (7. September 1964). Der gegenseitigen Bewunderung tut dies keinen Abbruch; sie trägt als Fundament über die Diskrepanzen hinweg. Die Phasen der intensivsten Zusammenarbeit – ein theoretisches und praktisches Ausloten der Beziehung zwischen Musik und Dichtung – fällt mit der Arbeit an der Oper Prinz von Homburg, der Vertonung der Nachstücke und Arien und Ingeborg Bachmanns Essays Musik und Dichtung in die Zeit von September 1956 bis März 1960. Im Jahre 1964 arbeiten sie dann gemeinsam an der Oper Der junge Lord. Ingeborg Bachmann wird von Henze als Librettistin immer wieder heiß umworben und sie scheint sich dieser Aufgabe gerne zu stellen. Gleichermaßen ist sie sich aber auch der Schwierigkeiten bewußt. Während der Arbeit am (später so benannten) ‹Belinda›-Libretto schreibt sie: «Natürlich ist es wahnsinnig schwer, eine Oper zu schreiben!!!!!!» (19. und 20. Oktober 1955). Sie setzt sich intensiv mit dem Schaffensprozeß des Librettos auseinander, will auch zu ihrer Vorbereitung den Briefwechsel zwischen Strauss und Hofmannsthal lesen. Später bei der gemeinsamen Arbeit an der Oper Der junge Lord schlägt die Dichterin vor, den darüber mit Henze geführten Briefwechsel als Buch zu veröffentlichen, eine Idee, die zwar nicht verwirklicht wurde, die aber den Musiker anregt, ausführlicher über kompositorische und librettistische Details zu korrespondieren. Die Hauptarbeit an den Opern fand jedoch vis-à-vis statt und ist dem Briefwechsel nicht zu entnehmen. Des öfteren ermuntert Henze seine Librettistin zu kommen, damit sie «operln» können. Den Entstehungsprozeß einer Oper beschreibt Hans Werner Henze in einem Interview wie folgt: «Am Anfang gibt es den Traum von einem Bühnenwerk. Es gibt ein visuelles und klangliches Bild und die Idee von einer Handlung. Dann kommen die langen Gespräche mit Dichtern und Literaten. Indem man mit den Dichtern spricht, versteht man, daß das Problem die menschliche Verfassung (condizione umana), das Leben, die Wirklichkeit ist» («Corriere della sera», 17. April 2002, Original auf Italienisch).

Besprechungen 161 Daß man anhand des Briefwechsels zumindest ansatzweise das vielbeschworene «Ineinanderarbeiten» von Henze und Bachmann nachvollziehen kann, das sich in Henzes Vertonungen von Bachmanns Dichtungen sowie in den Essays zu dem Verhältnis von Musik und Sprache und zu der Arbeit an den Libretti manifestiert, macht den großen Reiz und den Nutzen der Briefdokumente aus. Thema ist beispielsweise das Verhältnis von Musik und Dichtung. Beide gehen hier von einer Gleichberechtung aus. Überwunden seien die Querelen um eine dienende bzw. herrschende Funktion der einen oder anderen Kunst. Hans Werner Henze nähert sich den Versen Ingeborg Bachmanns schwärmerisch («da gibt es so viele schöne vokale zum verrücktwerden») und mit einer gewissen Ehrfurcht: «[Freies Geleit] eines der schönsten gedichte der welt bei dem es mir fast leid tut es durch töne zu ruinieren die vielleicht gar nicht gefallen» (29. Mai 1957). Außerdem weist Henze öfters auf die Besonderheiten der Wort-Ton-Beziehung hin, z.B. wie wichtig der Rhythmus der Verse sei (beispielsweise nimmt Henze manchmal aus rhythmischen Gründen Textänderungen vor und befragt Ingeborg Bachmann beim Homburg zum Rhythmus der Verse). Auch rein kompositorische Fragen scheinen besprochen worden zu sein. An einigen wenigen Stellen spricht Henze über seine Musik und über Ingeborg Bachmanns Einfluß auf diese: «der schlussatz [der Nachtstücke] wird nicht depressiv, wie Du wolltest, sondern hingegen schön und so als wäre ja denn soweit alles in ordnung, obwohl man fühlt, daß es eine idee von schönheit und frieden ist, die jeden moment erschüttert werden könnte» (13. August 1957). Oder auch: «klar ist, daß das bisherige im Homburg schön und, wie Du wolltest, hart geworden ist und streng. So muß es nun auch weitergehen. Die Dissonanzen (was ja praktisch die Härten sind) sind abgenutzt wie alte Anzüge – überall glotzen Dich die Formeln an, das zu vermeiden ist die ‹vornehmste› Aufgabe des heutigen Künstlers, so scheint es, aber wie anstrengend und unvornehm ist es doch» (9. April 1959). Insgesamt schreibt Hans Werner Henze jedoch weniger als erhofft über seine Kompositionen. Ausführliche musikalische Erläuterungen fehlen wohl auch deswegen nahezu ganz, weil Ingeborg Bachmanns Musikkenntnisse ihre Grenzen hatten, wie aus dem Brief vom 6. Februar 1958 hervorgeht: «außerdem hat es [3 dithyramben] konzertierende instrumente. aber das verstehst du nicht». Vor allem das «alte text-musik-verhältnis-problem» beschäftigt beide. Für ihren Essay bittet Ingeborg Bach den Komponisten um eine Stellungnahme zu diesem Thema. Hans Werner Henze antwortet ausführlich, legt diesbezüglich verschiedene Ansätze und auch seine eigene ‚Poiesis‘ dar: es ist für jeden anders, denke ich. für den einen ist das wort etwas, das hinanhebt, seiner musik flügel macht: der braucht eine gut schöne lyrik (z.b. strauss, daher hofmannsthal) andere müssen einen nüchternen alltagstext haben, etwas realistisches, denn sonst wissen sie nicht mehr, was die musik tun soll, die für ihn da ist, den hintergrund, die überhöhung zu geben. (…) für mich persönlich ist es z.b. so, daß ich eine sprache vorziehe, die bildhaft ist, in der man dinge sieht, die selsame gefühle suggerieren (wie im ‹freien geleit› oder in meiner theatermusik im allgemeinen, wenn ich auch darin bis jetzt textlich nicht glücklich war) – und diese gefühle komponiere ich dann. die worte müssen gerade den raum lassen, den die musik braucht […]. Die beiden künste können sich vereinen, ohne daß die andere oder die eine dabei ihre eigenart verliert. dadurch, daß eine lyrik komponiert wird und dann gesungen und von instrumenten umspielt und begleitet, kommentiert, illuminiert, dadurch wird musik noch nicht literatur, und umgekehrt. schwierigkeiten sind u.a. die rhythmische faktur des textes in eine musikalische zu übertragen. oder: den spannungsverlauf des gedichts musikalisch mitzumachen. da liegt auch eine große freiheit: man interpretiert komponierend das gedicht, komponierend enthüllt man wie man es empfindet. (31. März 1958)

Besprechungen 162 In Ingeborg Bachmanns Essay Musik und Dichtung werden die Gedanken und Formulierungen aus Henzes Brief aufgegriffen, insbesondere jene, daß eine Vereinigung zwischen den beiden Künsten stattfinden könne und die Worte heutzutage keine Begleitung mehr suchten. Auch für andere Essays, beispielsweise dem über die Entstehung des Librettos der Oper Prinz von Homburg, schöpft sie aus Henzes Briefen. Solche Hinweise erhält der Leser in den Anmerkungen zu den Briefen, in der vorbildlichen Kommentierung von Hans Höller. Die Herausgabe des Briefwechsels verfolgt insgesamt, obwohl sie wissenschaftlichen Standards entspricht, nicht allein wissenschaftliche Zwecke, sondern richtet sich an ein breiteres Publikum. Die Ausgabe ist leserfreundlich und erlaubt eine flüssige Lektüre der Brieftexte, befriedigt aber andererseits auch den nach Hintergrundinformationen Suchenden. Der Flüssigkeit der Lektüre dient auch die Entscheidung, längere, in Fremdsprachen verfaßte Passagen im Briefcorpus in deutscher Übersetzung wiederzugeben, wobei diese in grauem statt schwarzen Schriftbild erscheint. Im Anhang sind dann die originalen italienischen, französischen und englischen Briefstellen abgedruckt. Bei aller Liebe zu Texttreue und zum Original war die Entscheidung für dieses Verfahren ob des teilweise sehr kreativen Umgangs der Schreiber mit den Fremdsprachen letztlich wohl doch die klügere. Kurze fremdsprachliche Einschübe hingegen werden belassen und in Fußnoten übersetzt. Leider wird die Unterscheidung zwischen Original und Übersetzung in Grau und Schwarz nicht immer ganz konsequent durchgehalten und bisweilen ragt das schon im Original deutsche Wort nicht schwarz aus der grau gedruckten Übersetzung heraus. Das sind natürlich Spitzfindigkeiten, deren Beachtung aber doch die für die beiden Briefpartner so charakteristische Sprachkreativität und Ausdrucksvielfalt noch deutlicher zeigen würde. Damit ist die eingangs gestellte Frage zur Mehrsprachigkeit der Briefe wieder aufgeworfen. Wie ist die Wahl der jeweiligen Sprachen und der Wechsel zwischen ihnen zu erklären? Es gibt vermutlich mehrere Motivationen. Der Gebrauch von Fremdsprachen vermittele, so die These des Herausgebers Hans Höller, ein Gefühl des Weltbürgertums. Es ist aber davon auszugehen, daß es noch weitere Motivationen gibt. Grundsätzlich haben beide den Wunsch, Fremdsprachen möglichst gut beherrschen zu können und sich mit den fremden Sprachen auch neue Ausdrucksmittel zu erschließen. In einem früheren Brief vom November 1955 schreibt Henze nach einem deutschen Briefanfang auf Italienisch weiter: «(seltsam, erst jetzt merke ich, daß Dein brief auf italienisch ist – in meinem kopf kam er mir deutsch geschrieben vor. und so kehre auch ich zu diesem ausdrucksmittel zurück, dessen ich mich eines tages mit größter vollkommenheit bedienen können möchte.)». Außerdem hat es sicherlich auch mit Schönheit zu tun, mit dem Ausnutzen der lexikalischen Möglichkeiten und klanglichen Besonderheiten einer fremden Sprache. Wie schön klingen Kosenamen und Superlative im Italienischen, während sie im Deutschen leicht lächerlich und übertrieben wirken könnte. Wie schön kann man auf Italienisch schwärmen, ohne daß es übersteigert oder gar peinlich ist. Durch die Fremdsprachen die Ausdrucksfacetten zu erweitern wird also ein wesentlicher Grund sein. Oft sind es sicherlich auch pragmatische Gründe: Während eines Aufenthaltes in England beispielsweise bietet sich eine Korrespondenz auf Englisch an. Auch psychische Einflüsse auf die Sprachwahl könnte man vermuten, etwa, daß beispielsweise emotional gefärbte Themen eher in einer Fremdsprache angesprochen werden, da in einer fremden Sprache u.U. bestimmte Hemmungen wegfallen. Hans Werner Henze schreibt beispielsweise den Brief, in dem er seinen ersten Heiratsantrag zurücknimmt, auf Englisch: «listen, it is rather hard for me to write to you the letter which must be written» (24. April 1954) und auch den einzigen expliziten Verweis auf seine Homosexualität formuliert er auf Englisch (April 1957: «but I get furious really by thinking that you do all these crazyness only because I happen to be queer»). Die These eines emotionalen

Besprechungen 163 Einflusses bei der Sprachwahl läßt sich aber nicht durchgängig belegen, ebenso wenig die Annahme, daß die Arbeitskorrespondenz in der Muttersprache geführt wird. Dies ist zwar vorwiegend der Fall, aber eben nicht immer. Nicht zuletzt wird der Gebrauch der Fremdsprachen auch einer Distanzierung von den sehr kritisch gesehenen Herkunftsländern Deutschland bzw. Österreich dienen. Die Entscheidung für den Wohnsitz in Italien war bei beiden ein Entfliehen aus der Häßlichkeit, der geistigen Enge und Unbeweglichkeit Deutschlands bzw. Österreichs zugunsten der Entscheidung für Schönheit und Kantabilität. Ziel und Hoffnung ist, ein dem künstlerischen Schaffen gemäßes Umfeld zu finden. Daß dies gelungen ist, zeigen Briefe Henzes, in denen er betont, daß nicht in München, wo sich Ingeborg Bachmann gerade aufhielt, sondern allein in Neapel «das für unsere heilige und wunderbare arbeit nötige» vorhanden sei, die Ruhe und der Geist, aus dem die Arbeit entstehe (5. Mai 1958). Besonders von Henze erfahren wir, daß sein Verhältnis zu Deutschland ambivalent ist. Im Verlauf des Briefwechsels kann man verfolgen, wie die Entscheidung für Italien als auserwähltes Land nicht ganz unangefochten bleibt. Für kurze Momente, beispielsweise im Dezember 1959, stellt er seinen Italienaufenthalt in Frage und es zieht ihn nach Deutschland, dem Land, wo seine Musik exzellent gespielt werde und wo er wohl musikalisch mehr gebraucht und verstanden werde. Solche Phasen gehen aber schnell vorbei und die deutsche Realität entpuppt sich schnell als unerträglich: «[Deutschland] ist ein Land, das man meiden muß. Vulgär und hämisch und häßlich»; «es ist auch ein Land, das einen davon abhält, zu etwas Großem und Schönen zu kommen» (11. Juli 1960). Aber auch positive Urteile kann man lesen, wobei sich diese in erster Linie auf Berlin beziehen, die deutsche Stadt, die stets noch am ehesten Gnade bei ihm fand: «Nie hätte ich gedacht, daß es hier so schön sein könnte, man wird geachtet, aber auch in Ruhe gelassen wenn man will, alles ist einfach und klar» (24. Oktober 1960). Im September 1961 aus München schlägt Hans Werner Henze wieder andere Töne an («Schreckliches Land, dieses hier») und in dieser Zeit fällt endgültig die bis heute beibehaltene Entscheidung für «die Castelli» nordöstlich von Rom. In dem Briefwechsel wird ein weitgespanntes Panorama des kreativen Schaffens entworfen. Stets in Bezug zur Kunst kreisen die Briefe um existentielle Themen und münden immer wieder in einen hymnischen Dreiklang auf das Leben, wie ihn Hans Werner Henze in einem Brief vom Dezember 1955 formuliert und der in zahlreichen Variationen den ganzen Briefwechsel durchzieht: «libertà! / bellezza! / cantare! ma non per paura, ma per vita!» [freiheit! / schönheit! / singen! nicht aus angst, sondern für das leben!]». Auch wenn eventuell ursprünglich bestehende Erwartungen an den Briefwechsel nicht gänzlich erfüllt wurden – etwa weil man mehr Briefe von Ingeborg Bachmann erhofft hatte oder mehr konkrete Details über das «Ineinanderarbeiten» – ist die Lektüre dennoch sehr bereichernd und ermutigend. Und schon allein die ästhetische Gestaltung des Buches gefällt und lädt ein, das Buch noch des Öfteren zur Hand zu nehmen. Der durchschimmernde Plastikeinband zeigt auf einer pink eingetönten Fotografie eine strahlende Ingeborg Bachmann und einen lässigen Hans Werner Henze in mediterraner Stimmung. Auch wenn diese Heiterkeit, wie man weiß, nicht dauerhaft ist, gibt man sich ihr doch gerne hin, nicht zuletzt, weil einem noch Henzes Worte im Ohr hallen: «Glück gibt es keins, aber in der Musik gelingt es mir hin und wieder, mich zu befreien. Denn ich glaube, daß es Freiheit ist, was man braucht, Freiheit von der Traurigkeit und Freiheit von sich selbst. so gebe ich mich mehr denn je der Arbeit hin, den Tönen, in denen sich alle Ideale der Schönheit und der Vollkommenheit verwirklichen lassen» (Mitte August 1965). Annedoris Baumann

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Elio Matassi, Musica, Guida, Napoli 2004, 125 S., € 8,40. In seinem postum veröffentlichten und Beethoven gewidmeten Werk kondensierte Theodor Wiesengrund Adorno den tieferen Sinn seiner philosophischen Reflexionen über die Musik in der Metapher des Blickes der Eurydike. Eurydike ist, zusammen mit Orpheus, die mythenbildende Figur in der Kunstgattung Musik und skandiert gewissermaßen deren zeitlichen Verlauf. Und das seit Entstehung des Melodramas, mit den Werken von Peri, Caccini, Rinuccini und Monteverdi bis hin zu der Reform durch Gluck; vom Gepränge im Stil des zweiten Kaiserreichs der Offenbachschen Operette bis zum Versuch eines Alfredo Casella, unter dem Schutz Polizianos die Ruhmesblätter der italienischen Musikkultur neu zu schreiben. Angesichts dieses Pedigrees ist es leicht zu verstehen, daß Adorno der Eurydike als antonomastischem Abbild der Musik vor der blassen Euterpe den Vorzug gibt. Dem Blick der Eurydike Adornos wohnt jedoch nicht der Stolz dessen inne, der sich der eigenen Majestät bewußt ist. Vielmehr ist es ein gequälter, nachdenklicher Blick, wie er in Albrecht Dürers Kupferstich Melancholia zu sehen ist. Warum aber ist der Blick von Adornos Eurydike so von Melancholie überzogen? Dies ist die Frage, die den Ausgangspunkt für eine Diskussion über das jüngste und wichtige Buch Elio Matassis mit dem Titel Musica bilden kann, das kürzlich im neapoletanischen Verlag Guida erschienen ist und durch die ungewöhnliche Eleganz der Ausgabe in der Tradition der besten deutschen Taschenbuchausgaben steht. Positiv hervorzuheben ist auch der nachstehende kritische Apparat, den eine umfassende Bibliographie und Diskographie, sowie ein äußerst nützliches Glossar an Musikterminologie auszeichnet (ex parte philosophiae interpretiert). Aufgrund dieser Tatsache könnte es erstaunen, daß der Band nicht den Titel Filosofia della musica trägt, denn er bewegt sich zweifelsohne auf dem Gebiet der Philosophie. Die Wahl des bündigen Titels unterlag aber nicht bloßen stilistischen Auswahlkriterien, sondern gehorchte der These Matassis, daß die traditionelle philosophische Reflexion über die Musik in der Anlage ihres Kanons eine nunmehr erschöpfte Tradition darstellt, und es weder Modus noch Grund gibt, ihre Wiederbelebung zu versuchen. In diesem Sinn kann das vorliegende Buch als Epitaph der herkömmlichen Philosophie der Musik gelten, welche dafür verantwortlich zeichnet, die Musik in ihr uneigene Kategorien gepreßt zu haben, ohne daß es dabei je gelungen wäre, das zu erfassen, was ihr an ureigenstem Wesen und an Tiefe innewohnt. Für Matassi war und ist demzufolge die traditionelle Philosophie der Musik ganz und gar nicht taub gegenüber dem authentischen Wesen der Musik. Und genau das ist der Grund, weshalb den Blick der Eurydike Adornos Melancholie verschleiert. Eurydike bittet uns, endlich zu hören, was sie uns im Namen der Musik zu sagen hat.1 Unmetaphorisch ausgedrückt: Um die wahre Natur der Musik, ihren Sinn und ihr Wesen zu erfassen, muß sich eine philosophische Untersuchung, die sich mit ihr auseinandersetzt, radikal neu orientieren. In dieser Hinsicht bietet das Buch Matassis neben einem ehrgeizigen pars destruens, einen noch ambitionierteren pars construens, innerhalb dessen die Wege und Ziele einer völlig neuen Musikphilosophie skizziert werden, die sich potentiell weit fruchtbarer darstellt, als die traditionelle. Seine Vorgehensweise führt Matassi jedoch weit über dieses Ziel hinaus zu Resulta-

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Hier ist zu beachten, daß sowohl Adorno als auch Matassi nicht Orpheus als antonomastische Figur vorschlagen (obwohl er doch der Musiker ist!) sondern Eurydike, die Zuhörerin. Nicht das Geheimnis der Genese des Tones interessieren also Adorno/Matassi, sondern das Mysterium seines durch Sprache unvermittelten Verstandenwerdens. Bezüglich der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens verweise ich auf das Ende des Aufsatzes.

Besprechungen 165 ten, welche die Grenzen der engeren Musikphilosophie überschreiten und, wie zu sehen sein wird, in allgemeine metaphilosophische Überlegungen übergehen. 1. Das logozentrische Paradigma Laut Matassi schöpft der traditionelle philosophische Ansatz der Unterjochung der Musik (ein ebenso falimentärer wie hartnäckig wiederholter Versuch) seine Inspiration aus der besonderen Art und Weise, wie er sich der vexata quaestio ihrer Sprachlichkeit gegenüberstellt. Die Fragestellung kreist bekanntlich um die Definition musikalischer Sprache und welche Beziehungen zwischen ihr und der Sprache selbst bestehen. Bereits in einem vor einiger Zeit publizierten Artikel umriß Matassi klar die beiden fundamentalen theoretischen Entwürfe, die der Debatte um diesen Gegenstand zugrunde liegen. Auf der einen Seite steht die «Darstellung jener, die ein ‚generalistisches‘ Modell vertreten, nach dem die Musik in jedem Fall auf die Struktur der Wortsprache zurückzuführen ist. Ihre Verschlüsselung besteht in einem Code, der, unabhängig davon, wie er dann spezifisch abgewandelt wird, in seinen Gesetzmäßigkeiten einem allgemeineren Paradigma untergeordnet ist – dem der Sprache.» Dem gegenüber steht der Entwurf derer, «welche im Gegensatz dazu mit einer sich sozusagen spezialisierenden Methode versuchen, um für immer mit dieser ‚generalistischen‘ Sichtweise zu brechen».2 In Musica nimmt Matassi diese beiden unterscheidenden Ansätze wieder auf und stellt dabei ihre Relevanz für die Entstehung der beiden großen Paradigmen in der Philosophie der Musik heraus. Auf der einen Seite das Paradigma – nennen wir es logozentrisch – das Eurydike melancholisch macht und dazu tendiert, die Musik vollkommen der Philosophie unterzuordnen. Auf der anderen Seite besteht das Paradigma des Nicht-Aussprechlichen, das dagegen die unbeugsame Andersartigkeit der Musik gegenüber der Philosophie erkennt und schätzt. Im Wesentlichen geht das logozentrische Paradigma mit seiner Unterordnung der Musik unter die Philosophie davon aus, daß die Sprache der Musik auf die ihr substanziell nahestehende Verbalsprache zurückgeführt werden kann. Diese Sichtweise halten die Befürworter des autonomen Ansatzes – und Matassi stellt sich offen auf deren Seite – für gänzlich unrechtmäßig. Zum großen Teil widmet sich Musica einer subtilen Analyse, die sowohl historisch als auch konzeptionell die Modalitäten untersucht, wie sich diese beiden großen theoretischen Paradigmen der Musikphilosophie jeweils mit der Entwicklung der Diskussion über die Beziehung zwischen Musik- und Verbalsprache verbunden haben. Die Rekonstruktion dieses Prozesses kann in den drei entwickelten Hauptsträngen zusammengefaßt werden: dem Thema des Logozentrismus in der Musikphilosophie, dem des Unabhängigwerdens der Musik von der Philosophie und dem der Metaphilosophie. Das erste Thema wäre somit also das der Definition und Affirmation des logozentrischen Paradigmas. Historisch gesehen entwickelt es sich parallel zur abendländischen Philosophie seit deren Anfängen. Schon Sokrates definiert im Phaidros und im Sophistes mit nur formal respektvollen Worten die Beziehung zwischen Philosophie und Musik als die einer substanziellen Subordination: Die Musik verhält sich zur Philosophie wie die Nacht, die dem Morgengrauen vorangeht; sie ist unartikulierter Logos und – wie Matassi schreibt – «reine Vermittlerinstanz des Klangs des Seins.» Wenn also die Funktion der Musik allein jene ist, das Sein zum Klingen zu bringen‘, dann teilt sie ganz offensichtlich ihre Inspiration mit der Philosophie, in Bezug auf die sie jedoch – als linguistisch unartikuliertes System – nur als blasse Vorwegnahme angesehen werden kann. So wird einsichtig, wie Sokrates die Philoso-

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E. Matassi, La musica e il linguaggio, «Hortus Musicus», III, 12, 2002, S. 48–49.

Besprechungen 166 phie als eine Form der Musik definieren konnte. Natürlich setzte er dabei voraus, daß die Philosophie – als vollkommen versprachlichtes System – die höhere Form der Musik darstellt. Und folglich kann sich die Musik nur dann als wirklich vollständig begreifen, wenn sie sich in der Philosophie auflöst und sich auf diese Weise, wie Matassi bemerkt, komplett selbst negiert. Gemäß des logozentrischen Ansatzes «gestaltet sich die Korrelation zwischen Musik und Philosophie […] nach rein philosophischen Parametern. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen einem ‚Vorher‘ und einem ‚Danach‘, zwischen einer virtuellen Sprache und einer, die im Gegensatz zu dieser realisiert ist.» Diese Tradition also «reduziert das Verhältnis Musik/Philosophie auf einen reinen genitivus objectivus, als ob die Musik völlig in der Philosophie aufgehen könnte».3 Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Musik wird von Platon potentiell als Philosophie betrachtet, denn nur die Philosophie – als vollständiges linguistisches System – ist in der Lage, das auszudrücken, was die Musik sagen möchte. Natürlich muß aber diese These Platons – darauf weist uns Matassi hin – in ihrem historischen Kontext gesehen werden. Vor allem in der attischen Poesie existierte eine viel signifikativere und theoretisch suggestive Verbindung zwischen Klang und Poesie (und folglich zwischen Musik und Sprache), als dies in der modernen Dichtung der Fall ist. Darüber hinaus sprach man der Musik ontologische Funktionen zu, die sich später jedoch wieder verloren haben (man denke nur an den Satz des Pythagoras über die Harmonie der himmlischen Sphären, gültig bis zur Harmonia mundi Keplers). Nichtsdestotrotz ist die fundamentale Bedeutung der These Platons bereits die einer völligen Subordination der Musik, weil diese eben, im Gegensatz zur Philosophie, nur eine Annäherung an den Logos erreicht. Unter diesem Gesichtspunkt blieb die Lehre Sokrates’ und Platons über die Jahrhunderte hinweg führend, ja überlebte – wenn auch nicht unangefochten – bis heute. Die These von der Unterordnung des musikalischen Sprachsystems unter das der Sprache hat beispielsweise auch ihren Ausdruck in einer Musikästhetik gefunden, die das Primat der Programmmusik gegenüber der reinen Musik nach sich gezogen hat. Vor allem aber hat diese These, mit ihrer darin mitgedachten Rückführbarkeit des Wesens der Musik auf die Philosophie, einen großen Teil der musikphilosophischen Reflexion geprägt. Im 18. Jahrhundert waren z.B. die Kunsttheorien, die jeweils von Batteux und (unter ihrem Einfluß) von Kant vorgelegt wurden, signifikativer Ausdruck dessen.4 In der Sichtweise dieser Autoren kreist das Kriterium für die Systematisierung der verschiedenen Künste um die Vorstellung, daß die Kunst einzig imitatio naturae sei und daß diese Naturnachahmung je nach Kunstgattung nur verschiedene Ausdrucksformen finde (in der Malerei die Farbe; in der Dichtkunst die metrische Sprache; in der Musik den Klang). In all diesen Formen wird sie jedoch von Batteux und Kant als Darstellung (von Emotionen oder Natur) und als sprachliche Kommunikation verstanden.5 Wie Matassi erklärt, liegt «im Paradigma Batteux-Kant das eigentliche Vergleichselement in der Sprache. Die Musik wird als eine mögliche Seinsweise der Sprache begriffen.»6 Auch in diesem Fall versucht die Philosophie die Musik auf die ihr eigenen logozentrischen Kategorien zurückzuführen und unterdrückt dabei deren ureigenstes Wesen.

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E. Matassi, Musica, Guida, Neapel 2004, S. 9–10 E. Matassi, La musica e il linguaggio, S. 48. Die Vorstellung, daß die Kunst (Gefühle oder die Natur) darstellt und kommuniziert ist natürlich viel früher verbürgt als durch Batteux und Kant. Beispiel und klarer Beleg dafür ist der Anfang des Canzoniere («Voi ch’ascoltate in rima sparsa il suono / Di quei sospiri, ond’io nudriva il cuore (…)»). Bei Batteux und Kant wird dieses Konzept jedoch zum grundlegenden Parameter für das das gesamte System der Künste. E. Matassi, Musica, S. 48.

Besprechungen 167 Wenn man den schönen Ausdruck von Edgar Wind paraphrasieren wollte, könnte man sagen, daß Batteux und Kant im Einvernehmen mit Platon und beim Versuch, die Musik in linguistische Bahnen zu zwingen, das Ziel verfolgen, die Musik auf ‚eine harmlose Kunst‘ zu reduzieren. Eine Kunst, die keine Ausnahme zur These zuläßt, nach welcher der verbale Logos alles durchdringt. Wie bereits erwähnt, zieht sich diese Sichtweise auch noch durch die folgenden Jahrhunderte hindurch. Im 19. Jahrhundert fand sie ihren großen Verfechter in Arthur Schopenhauer, der, obwohl er der Musik gegenüber den anderen Künsten eine eigene Gesetzlichkeit zugestand, in Wirklichkeit doch nichts anderes tat, als das klassische logozentrische Leitmotiv zu untermauern. Im Urteil des Danziger Philosophen handelte es sich bei der Musik um eine rein prägedankliche Sprache. Und somit ist es wieder allein die Philosophie, die die Musik erhöhen kann, indem sie selbst zur ‚Musik der Philosophie‘ wird und uns auf diese Weise zu sagen erlaubt, «wie die Welt vor der Schöpfung beschaffen war.» Abgesehen von diesen geflügelten Worten wird auch hier das Erbe der hochgeschätzten Thesen Platons deutlich und zwar derart, daß die musikphilosophische Tradition, die ich hier ‚logozentrisch‘ nenne, von Matassi als ‚Platonisch-Schopenhauersche Tradition‘ definiert wird. Diese Tradition ist weit davon entfernt, sich mit dem 19. Jahrhundert zu erschöpfen und wird über das gesamte folgende Jahrhundert hinweg perpetuiert. Einer ihrer angesehensten Exponenten war der Musikwissenschaftler Thrasybulos G. Georgiades, der auch beträchtlichen Einfluß auf Gadamer ausübte (laut Matassi überaus negativer Art). Georgiades’ Neigung zum Logozentrismus war explizit. In einem Passus von Musik und Sprache schreibt Georgiades, was die Künste, die Dichtkunst oder auch die Musik anbelangt, daß die Sprache in einem gewissen Sinn überlegen ist: Durch die semantische Verknüpfung indiziert sie explizit das Wort als das, was bleibt, als unveränderbaren Sinn. Sie stellt damit die Beziehung zu dem her, was bleibt, an welchem gemessen werden kann, was sich verändert. 7 Die Verbalsprache ist demnach der Maßstab der Sprache der Musik. Von diesem Standpunkt aus, zog Georgiades auf der Ebene der konkreten musikwissenschaftlichen Analyse diskutible Schlüsse. So bestand er zum Beispiel bei der Analyse des Melodramas auf der zentralen Stellung des Recitativo secco (das eben als unveränderliches Zeichen der essentiellen Sprachlichkeit – im Sinn der Verbalsprache – der Musik interpretiert wurde). Georgiades drückt das folgendermaßen aus: Erst seit dem Instrumentalisierungsprozeß der Sprache der Musik tritt das Recitativo secco klar unterschieden von den geschlossenen Musikformen, in die es einbebettet ist, in Erscheinung. Es bildet die Grundlage für die Gestaltung; aus ihm entwickelten sich unbeobachtet auch Arioso, Arie und Duett.8 Meiner Meinung nach wird hier evident, daß Georgieades durch diese Theorie in das hineingerät, was die analytischen Philosophen als ‚genetische Trughaftigkeit‘ bezeichnen würden. Er leitet daraus eine These über Sinn und Wert der verschiedenen Teile des Melodramas ab und geht dabei von einer spezifischen Annahme hinsichtlich ihrer jeweiligen konkreten Genese aus: Da das Rezitativ historisch gesehen die Basis für die rein musikalischen Teile darstellt, muß also notwendigerweise durch das Rezitativ die wahre Natur der Musik hindurchscheinen – oder, anders ausgedrückt, die wesenhafte Verbindung zwischen Musik und verbalem Logos. Matassi betont hier, daß ein derartiger theoretischer Gewaltakt bestens die Essenz der gesamten Überlegungen Georgiades wiedergibt – und, verallgemeinernd, die der gesamten ehrwürdigen Tradition, an der sie sich inspiriert haben: Also die Vorstellung, daß die Problematik der schöpferischen Spannung zwischen Musik und Sprache vollkommen zugunsten 7 8

Vgl.: E. Matassi, ebd., S. 84. Ebd.

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der letzteren aufgelöst wird.9 In Wirklichkeit ist die auf diese Art angelegte Frage der Sprachlichkeit der Musik, so Matassi –, und der damit verbundene Versuch, musikalische Begriffe gänzlich auf philosophische zurückzuführen – gänzlich überholt und der Moment gekommen, diesen Standpunkt endlich zu verlassen. Glücklicherweise gibt es auch Zeichen, die in diese Richtung weisen. 2. Zu einem neuen musikphilosophischen Paradigma Kommen wir damit zum zweiten Thema unseres historischen Abrisses, mit dem sich die Aufsätze in Musica auseinandersetzen, d.h. zur schrittweisen Affirmation des Paradigmas, das ich ‚autonomistisch‘ genannt habe. In der Romantik begann sich eine radikal innovative Auffassung der Beziehung zwischen Sprache einerseits und der Philosophie andererseits zu entwickeln. Der Ursprung dieser Neuerung läßt sich, wie Matassi zeigt, auf die berühmte Rezension der 5. Symphonie Beethovens von E.T.A Hoffmann zurückführen.10 Hoffmann kehrt das bestehende Urteil über die Unterlegenheit der musikalischen Sprache um, indem er die unüberwindbare Distanz zwischen Sprache und Musik als die Überlegenheit letzterer auslegt. Für Hoffmann ist es gerade die Unaussprechlichkeit der ihr eigenen Sprache, die die Musik zur einzigen wirklich romantischen Kunst macht (im Gegensatz zur Literatur und zur plastischen Kunst). Man bemerke, daß Hoffmann durch eine geschickte Wahl der Termini der musikalischen Sprache ihre Unaussprechlichkeit bestätigt, und nicht die Nicht-Sagbarkeit. Wie Matassi unterstreicht (und hier steigt er in die Spuren von Jankélévitch), hebt diese geniale semantische Wahl das Spezifische der Musiksprache hervor, im Kontrast zu der verletzenden Rückführung auf die semantische Achse ‚sagbar/nicht sagbar‘, der Frucht des Logozentrismus’ der philosophischen Tradition. Die traditionelle Sichtweise interpretierte die Nicht-Sagbarkeit der Musiksprache tatsächlich als reine Negation der Sagbarkeit des Logos (oder als ‚verneinte Sagbarkeit‘) und folglich als unumstößliches Zeichen der intellektuellen Minderwertigkeit der Musik. Im Gegensatz dazu leitet sich für Hoffmann das Unaussprechliche der Musiksprache aus der ihr eigenen ursprünglichen Einheit zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten her, zwischen Form und Inhalt. Wenn man die schöne Formel von Wakkenroder wieder aufnehmen will, die uns Matassi in Erinnerung ruft, dann könnte man hier sagen, daß die musikalische Sprache eine «verbrecherische Unschuld» charakterisiert, die sie diesseits der – die Verbalsprache konstituierenden – Spaltung positioniert, die zwischen dem, was man sagt und wie man es sagt, trennt. In nuce enthält diese Betrachtungsweise Hoffmanns ein potentes musikphilosophisches Paradigma. Und derselbe Hoffmann hatte bereits radikale Konsequenzen für die Musikästhetik daraus gezogen. So verstand er es einerseits – auch wenn er 1810 der erste Rezensent war – eine erhellende Analyse der 5. Symphonie anzustellen (die mit der zugrunde liegenden Unaussprechlichkeit ihrer Sprache meisterlich dämonische und nicht dämonische, sublime und melancholische Elemente zu versöhnen wußte). Andererseits ging er – und alle spätere Kritik bestätigt ihn darin – mit den explizit deskriptiven Symphonien des armen Karl Ditters von Dittersdorf schwer ins Gericht. Diese Symphonien waren für Hoffmann nichts anderes als «lächerliche Verwirrungen» und als solche «mit dem völligen Vergessen» zu bestrafen.11

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Ebd., S. 86. Ebd., S. 78ff. E. Matassi, La musica e il linguaggio, S. 48, vgl. auch erstes Kapitel von Musica (‚Ademonicità e demonicità della musica‘).

Besprechungen 169 E.T.A. Hoffmann hat also den Boden für ein neues musikphilosophisches Paradigma bereitet. Aber derjenige, der diesem Paradigma in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine konkrete Form verliehen hat, war Eduard Hanslick, der dazu das begriffliche Instrumentarium geformt und seine kulturelle Legitimität verteidigt hat (unter wohl nicht ganz unschmerzhaften Kämpfen, wenn man bedenkt, daß sein mächtigster und erbittertster Gegner so weit ging, seine angenommene Mittelmäßigkeit in der tumben Figur des Beckmesser in Die Meistersinger von Nürnberg zu verewigen). Zusammen mit Adorno ist Hanslick vielleicht als der Autor zu nennen, mit dem Matassi die größte intellektuelle Übereinstimmung erreicht. So kann man am Ende des Kapitels von Musica, das der ‚Musik und Interpretation‘ gewidmet ist, das folgende scharfe Urteil lesen: «Die Thesen von Hanslick sind eine ständige Warnung für jeden, dessen Bestreben es ist, die ‚reduktionistische‘ Anmaßung beizubehalten, die Musik durch die Sprache zu interpretieren».12 In diesem Kapitel stellt Matassi den Betrachtungsweisen Hanslicks die rückständigen Georgiades’ gegenüber, wie sie oben kurz dargestellt sind. Was etwa die These angeht, nach der die Sprache der Musik umso vollkommener ist, je mehr sie sich an der Verbalsprache ausrichtet, zitiert Matassi einen Passus aus Vom Musikalisch Schönen, dem Meisterwerk Hanslicks: Sucht man eine allgemeingültige der Musik eigene Eigenschaft, etwas, was ihr ureigenstes Wesen ausmacht, ihre Grenzen und Bestrebungen, kann man einzig von der Instrumentalmusik ausgehen. Der Begriff ‚Musik‘ läßt sich nicht gänzlich auf ein Musikstück anwenden, das auf der Grundlage eines Textes komponiert wurde.13 Und ein weiteres, von Matassi verkürzt wiedergegebenes Urteil von Hanslick kann als eine Art von vorweg genommenem In-Abrede-Stellen der These Georgiades’ bezüglich des Primates des Recitativo secco verstanden werden. Er behauptet, daß das Rezitativ die sublimste und vollkommenste Musik sein sollte; in Wahrheit diese aber darin zur Dienerin sich erniedrigt und dadurch ihre eigene Bedeutung verliert.14 Allgemein gesprochen ist Hanslick aufgrund seiner unermüdlichen Polemik gegen die Auffassung, daß die Musik ihrer Natur nach nur Emotion und Natur darstellt – substantiell die Polemik gegen die logozentrische Lesart der Musik – einer der Helden von Musica. So wird ihm, der die Betrachtungen E.T.A. Hoffmanns weiterentwickelte, das Verdienst für die Verständnisleistung zuteil, daß in der Musik der Klang gleichzeitig Mittel und Ziel darstellt, in dem Maß, in dem es keine Abweichung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem gibt. Und er bekräftigte immer wieder, daß deshalb die musikalische Sprache nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden kann wie die Wortsprache. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich das neue autonomistische und nicht-logozentrische, von Hoffmann und Hanslick skizzierte Paradigma weiter, obwohl es auch da – wie man sehen konnte – nicht an Apologeten der traditionellen logozentrischen Konzeption mangelte. Diesbezüglich spricht Hanslick von einer wirklichen musikwissenschaftlichen Kehre (und hier erscheint der Hinweis auf eine andere Kehre, die weit mehr beworben wurde, aber deshalb nicht notwendigerweise fruchtbarer war, absolut nicht zufällig). Viele der Kapitel von Musica widmen sich der Analyse der Entwürfe, die diese Kehre hervorgebracht haben. Mit der Absicht, die Charakteristiken dieses neuen musikalischen Paradigmas herauszuarbeiten und zu definieren, macht Matassi Anleihen bei den wichtigsten Beiträgen verschiedener Autoren, die in diese Richtung weisen. So ist, über den Wert der Einzelbeiträge hinaus, das Endergebnis dieser Synthese – also die konkrete Bestimmung der Koordinaten dieses neuen musikphilosophischen Paradigmas – die eigentliche originelle Leistung dieser Arbeit. 12 13 14

E. Matassi, Musica, S. 87. Ebd. Ebd.

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3. Der Vorrang des Hörens Eine nützliche Vorgehensweise, die Begriffe des in Musica entwickelten Konzeptes zu präzisieren, ist, die radikalen Unterschiede zwischen der Tradition Platons und der Schopenhauers genauer zu betrachten. In erster Instanz vertritt Matassi eine sehr knappe Version der Hanslickschen These der Unaussprechlichkeit der Musik. Seiner Ansicht nach ist die Zeit dafür reif, definitiv das Mißverständnis auszuräumen, nach dem die Musik als eine Form von Sprache begriffen wird – und sei es auch als eine mit sehr besonderen Eigenschaften ausgestatte Sprache. Wie Matassi an anderer Stelle schreibt, ist das Bestehen auf der Sprachlichkeit der Musik nur konfuse Analogie, die uns in eine Sackgasse kapriziöser Paradoxien führt, wie: ‚die Musik ist eine Sprache, die nur sich selbst meint‘ (als würde man sagen: eine Krawatte ist ein Dosenöffner, der gar nichts öffnet). Derartige Erklärungen sind extrem unökonomisch: Der Verweis auf die Verbalsprache und ihre Sinnstrukturen scheint eine eher störende und unbequeme Voraussetzung zu sein als ein nützliches hermeneutisches Element.15 «In Wirklichkeit», schreibt Matassi, und stützt sich dabei auf die Thesen von Helmuth Plessner, ist die Musik keine eigentliche Sprache. Sie kennt keine Zeichen und rechtfertigt damit keine wie auch immer geartete Semiologie. Ihr gerühmter nicht-semantischer Charakter erklärt sich so noch viel einfacher. Die Musik ist expressiv; sie kommuniziert, drückt jedoch nicht ‚etwas‘ aus: Sie ist eine spontane Form dynamischen Ausdrucks, der Geste verwandt.16 Die Musik ist damit also eine besondere Form von Kommunikation, da sie nicht ‚etwas‘ ausdrückt. Um ihre Natur zu verstehen, ist es wohl nötig, die ihr zugrunde liegende Kommunikationsweise zu betrachten. Dabei, unterstreicht Matassi, kann man nicht umhin, auf all das übrig gebliebene Erbe an Ontologie von Pythagoras und Platon zu verzichten, um so deutlich zu machen, daß die Musik kein Objekt ist und nicht irgendwo räumlich ist (weder in der Welt der Ideen noch in der Partitur noch im Kopf des Musikers). Vielmehr ist die Musik ein Ereignis. Ein Ereignis, das unbedingt von Immanenz und von Zeitgebundenheit gekennzeichnet ist. Um es mit den suggestiven Worten Vladimir Jankélévitchs’ auszudrücken: Die Musik ist charakterisiert durch Ereignis und Wiederholbarkeit. Sie existiert nur im Moment der Ausführung, wenn der Klang auf den Hörer trifft (und das gilt ebenso, wie Gadamer anmerkt, für die Hausmusik, in dem Grenzfall also, in dem Zuhörer und Ausführender identisch sind). Mit einer analogen, genauso radikal anti-logozentrischen Position vertrat auch Adorno die These der unüberwindbaren Distanz zwischen Klang und Wort – eine Distanz, die sich, so Adorno, unter ästhetischen Gesichtspunkten gänzlich zum Vorteil des Klanges auswirkt. Allgemein, so Matassi, beinhalten diese Überlegungen, in denen das Hören die Priorität über das theorein 17 erlangt, die radikale Umkehrung einer altehrwürdigen philosophischen Hierarchie. Aber was ist das Hören unter musikalischem Gesichtpunkt? Der Begriff wird im nützlichen Glossar am Ende von Musica von Matassi definiert: «Hören: akustisch-theoretisches Ereignis, spezifisch für eine zufällige Identität (den Hörer), die sich mit einer anderen zufälligen Identität in Verbindung setzt (dem Klang). Das Hören als Erlebnis-Beziehung zweier kontingenter Einheiten.» In dieser gefährdeten Verbindung, im Aufeinandertreffen dieser doppelten Kontingenz von Klang und Hörer liegt also das Wunder der Musik begründet. Aber wenn das so ist, unterstreicht Matassi, ist die Philosophie der Musik drastisch zu 15 16 17

E. Matassi, Ascolto e comunità (In Vorbereitung). Ebd. Vgl. E. Matassi, Musica, Kap. 4, und id.: Musica e filosofia, Interview von D. Gentili, http://www.filosofia.it/pagine/argomenti/Vari/Matassi_Musica.htm.

Besprechungen 171 überdenken und zwar im Sinne einer Philosophie des Hörens. In diesem Sinn könnten die suggestiven, aber noch nicht anerkannten Hinweise des Musikwissenschaftlers und Wahrnehmungspsychologen Ernst Kurth große Bedeutung erlangen, denen zufolge «der Klang in den Partituren tot ist und das, was in ihnen überlebt, der Wille ist, gehört zu werden».18 Vom Hörerstandpunkt aus ist es wesentlich festzustellen, daß die Musik die Gefühle in Mitleidenschaft zieht. Aber darin – bemerkt Matssi und befindet sich damit im Kontrast zu den berühmten Thesen in der Republik Platons und eher auf der Linie der Poetik Aristoteles’ – liegt der eigentliche Grund für ihre Stärke. Hier wird ein weiterer wichtiger Aspekt des neuen musikphilosophischen Paradigmas deutlich: Die durch das Hören von Musik mögliche emotionale Versehrtheit betrifft genau genommen nicht einen Einzelnen und auch nicht eine spezifische Gemeinschaft. Da das Hören von Musik nicht die Besonderheiten einer Sprache voraussetzt, verweist es auf ein Ideal von Universalität – eine utopische (laut Ernst Bloch)19 und befreiende Universalität (laut Walter Benjamin)20 –, deren Folgen noch vollständig verstanden werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Palingenese der Philosophie der Musik komplett. In der Tat hat sie nichts mehr mit den traditionellen Überlegungen zur hypothetischen, abstrakten Beschaffenheit der Musik gemein (zur sozusagen imaginären res musicalis). Die Musik ist ein Ereignis, das eine Gemeinschaft voraussetzt. So öffnen sich die zu ihr angestellten Überlegungen neuen, potentiell fruchtbaren, ethisch-politischen Perspektiven. 4. Ein metaphilosophisches Projekt Angesichts dieses neuen Paradigmas verändert sich der Sinn des Begriffes ‚Philosophie der Musik‘ an sich. Traditionell wurde der Begriff als genitivus objectivus verstanden: Die Philosophie sah tatsächlich auf die Musik wie auf ihr spezifisches Objekt, ein linguistisches Objekt, das zergliedert und auf etwas anderes zurückgeführt werden mußte. Bei dieser Sichtweise war die Philosophie von der Musik durch eine fundamentale Abweichung hinsichtlich ihrer Wertigkeit getrennt: Es war die Philosophie und eben nur die Philosophie, die der Musik Sinn verlieh, den sich diese allein nie hätte geben können. Auf diese Weise tendierte die Philosophie dazu, die Musik zu kolonisieren, ja geradezu zu annektieren, so daß die Musik jegliche Autonomie und spezifische Eigenschaft verlor. In der neuen Auslegung hingegen ist der Genitiv von ‚Philosophie der Musik‘ ein genitivus subjectivus: Die Musik wird darin tatsächlich von der ‚objektivierenden Hypothek der Philosophie‘21 befreit und kann sich endlich iuxta propria principia bewegen. Allein diese Betrachtungen sollten genügen, um die Originalität und Wichtigkeit des Werkes von Elio Matassi zu belegen. Zum Abschluß scheint es mir dennoch nötig, ein paar Worte über einen anderen wichtigen Entwurf zu verlieren, der Musica wie ein karstiger Fluß durchzieht (insbesondere das letzte Kapitel, das sich Adorno widmet, «Die Philosophie der modernen Musik: von der Musik zur Philosophie»). Der dort unterbreitete Ansatz weist keinen spezifisch musikphilosophischen Charakter auf, sondern einen metaphilosophischen. Substantiell handelt es sich dabei um die Vorstellung, daß ein privilegiertes Verhältnis zur Musik der Philosophie schlußendlich dabei helfen könnte, dem unerträglichen Logozentrismus des größten Teils der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu entkommen. Dadurch kann 18 19 20 21

Zitiert nach: E. Matassi, La filosofia del suono di Ernst Kurth: il suono in sé e il suono ascoltato, «Intersezioni», 2, 2005, S. 317–328. E. Matassi, Bloch e la musica, Salerno 2001, vgl. auch die Kap. 2 und 4 von Elio Matassi: Musica, zitiert nach: ‚Musica e utopia‘ und ‚L’ineffabile, l’utopico e l’ascolto‘. Vgl. E. Matassi, Musica, Kap. 3, ‚Musica e redenzione‘. Vgl. E. Matassi, Ascolto e comunità, (In Vorbereitung).

Besprechungen 172 die Musik (so wie sie durch das Paradigma interpretiert wird, das ich autonomistisch genannt habe) gleichzeitig Metapher, Ergebnis, Norm und Ziel einer Neuorientierung der Philosophie und des Philosophierens werden – oder besser ausgedrückt einer wahren Palingenese. In dieser Hinsicht wichtige Hinweise findet man, wenn man die Art und Weise untersucht, in der Adorno seine negative Dialektik auf seinen eigenen Musikbegriff anwendet (und hier würde es genügen anzudeuten, daß Adorno selbst ernsthafte musikalische Studien betrieb und sich professionell mit dem Konzept der Zwölfton-Musik beschäftigte, und zwar so intensiv, daß für Matassi sein Name in der Triade Schönberg, Berg, Webern – den Schutzgöttern der Zwölftonmusik – mitgenannt werden müßte). Laut Adorno ist nur die Musik dazu in der Lage, die dialektische Bewegung korrekt wiederzugeben. Die Sprache erlaubt nämlich nichts anderes, als die Antithese immer chronologisch auf die These folgen zu lassen. In der Musik (besonders durch den Kontrapunkt) können die Noten dagegen gleichzeitig erklingen punctum cotra punctum. Auf diese Weise wird es möglich, die konstituierende Simultaneität des thetischen und antithetischen Moments der Dialektik auszudrücken. Matassi greift den Geist der Philosophie Adornos und dessen fruchtbare Verbindung zur Musik auf und schreibt: [das ist] der Königsweg, den die Philosophie beschreiten muß, indem sie für immer jede Form von obsessiver Identität ablehnt, sei diese direkt ersichtlich oder wissentlich verschwiegen, um zu einem dialektischen Paradigma von Natur und von ausgesprochen ‚kontrapunktischer‘ Berufung zu gelangen. Eine Natur und Berufung, die die Vermittlung als einfaches in Spannung zueinanderbringen verschiedener Elemente versteht, ohne daß es zwischen denselben zu einer Auflösung kommt. Die Komposition und das Komponieren als extreme utopische Projektion einer Versöhnung, die von vornherein abstrakt nicht garantiert werden kann.22 Vielleicht ist jedoch ein anderer metaphilosophischer Verweis in Musica noch relevanter. Wenn gemäß dem Diktat des neuen Paradigmas die Philosophie der Musik zu einer Philosophie des Hörens wird, jedoch zu einem nicht mehr durch die Sprache vermittelten Hören (und folglich frei von semantischen Aspekten, von der sprachlichen Darstellung, von wahrheitsfunktionalen Inhalten), dann kann man in ihr wichtige Hinweise auf eine Philosophie finden, die in der Lage ist, über die ‚linguistische Kehre‘ hinauszugehen, die zum größten Teil die Philosophie des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hat (von Frege und Wittgenstein bis hin zur analytischen Philosophie; von Saussure und dem Strukturalismus bis zu Lacan und von Heidegger zu Gadamer). Und damit noch nicht genug: Die zentrale These der Hermeneutik – also die theoretische Zentralität des literarischen Textes, das Paradigma des interpretativen Prozesses – wird auf diese Weise radikal in Diskussion gestellt. Der Klang der Musik und nicht die Stimme in der Sprache bilden den Kern dieser neuen Philosophie, welche die Musik nicht mehr unterordnet. Heute ist es sehr verbreitet, das philosophische Paradigma anzugreifen, das aus der linguistischen Wende hervorgegangen ist. Die Offensive kommt aus den Reihen des Naturalismus, der Phänomenologie, des Pragmatismus’ und dem Konzept der Unterscheidung. Aber die Schlacht ist noch nicht zu Ende geschlagen. Elio Matassi gebührt das Verdienst, uns mit seinem schönen Buch daran erinnert zu haben, daß sich neben dem linguistischen Paradigma nunmehr auch ein musikalisches aufgetan hat. Vielleicht kann so Euridyke endlich wieder lächeln. Mario De Caro (Deutsch von Karin Ertl) 22

E. Matassi, Musica, S. 110.

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Auf Hesses Spuren in Umbrien und der Toskana Mitten in den Hügeln, die die Grenze zwischen der Region Umbrien und der Toskana bilden, liegt Città della Pieve, die Geburtsstadt des großen Malers Perugino, den Hesse sehr liebte. Hier wird 2007 ein Zentrum seine Pforten öffnen, das sich mit der Person und dem Denken Hermann Hesses beschäftigen soll. Ein besonderer Akzent wird auf seiner Leidenschaft für Gärten und seiner Liebe zur Kunst und Natur dieser Gegend Italiens liegen. Das Zentrum entsteht in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Humanistische Wissenschaften der Universität Rom «La Sapienza», die Hesse bereits verschiedene Aktivitäten gewidmet hat. Es möchte eine zwanglose Begegnungsstätte für all jene sein, die sich weiterhin von Hesse und seiner geistigen Botschaft inspirieren lassen. In der Umgebung des geplanten Zentrums liegen viele der größeren und kleineren Ortschaften, die Hesse zu Fuß oder mit Zügen und Bussen besucht hat. Den Spuren dieser Reisen Hesses möchte das Zentrum nachgehen. Zu dem Zentrum wird außerdem ein Garten gehören, nach dem Muster jener Gärten gestaltet, die Hesse im Laufe seines langen, wechselvollen Lebens schuf. In diesem Garten aus Büschen, Beerensträuchern und einfachen Feldblumen in kräftigen, leuchtenden Farben soll sich widerspiegeln, was der Autor in vielen seiner Werke über Gärten schrieb. Die Farben seiner Lieblingsblumen sind die Farben des Lebens: die geliebten Sonnenblumen und die roten Malven, die gelbe und orange Kapuzinerkresse, die bunten Zinnien. Wie alle wichtigen Erfahrungen in seinem Leben waren Gärten für Hesse eine unerschöpfliche Quelle des Nachdenkens, ein Ort der Meditation über die großen Themen des Daseins, über die heilende Kraft der Natur, über den zyklischen Verlauf der Jahreszeiten und des Lebens sowie über das individuelle und kollektive Schicksal des Menschen. Ausgehend von der Beschäftigung mit dem Denken und Wirken Hesses und einiger seiner Lieblingsautoren, von Laotse bis Goethe, bietet das Zentrum Gelegenheiten zu gemeinsamer Reflexion über Themen, die dem Schriftsteller am Herzen lagen: Toleranz, die Suche nach einem individuellen Weg jenseits von wohlfeilen Konventionen und Konformismen, der Dialog mit anderen Religionen und Kulturen. Ein Vergleich der Botschaft Laotses mit den Inhalten der christlichen Religion oder der indischen Bhagavad-Gita zeige, so Hesse, daß es im Streben nach Spiritualität bei allen Völkern gemeinsame Grundlagen gibt, so wie auch die Kunst aller Zeiten und aller Kulturen gemeinsamen Wurzeln entspringt. Hesse hat Italien bekanntlich sehr geliebt und in seinen Jugendjahren, vor allem in der Dekade zwischen 1901 und 1911, zahlreiche Reisen nach Italien unternommen. Er erforschte Nord- und Mittelitalien, hielt sich länger in Venedig und Florenz auf und besuchte dann viele der schönen Städte der italienischen Provinz, von Padua bis nach Ravenna, von Arezzo bis nach Assisi. Die erste seiner Italienreisen fand im März 1901 statt. Er hatte sie gewissenhaft vorbereitet: vorsorglich etwas Geld gespart und ein wenig Italienisch gelernt. Außerdem hatte er sich einen Baedeker beschafft und aufmerksam einen Text gelesen, der für das Studium der italie-

Mitteilungen 174 nischen Renaissance von grundlegender Bedeutung ist: Die Kultur der Renaissance des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt. In den folgenden Jahren wuchsen seine Kenntnisse der Kunst und Kultur Italiens, und er widmete ihr zahlreiche Aufsätze und Rezensionen. In der Literatur reicht das Spektrum seiner Interessen von Dante bis Machiavelli, von Petrarca bis Pascoli, doch zeichnen sich seine Arbeiten über Malerei und Bildhauerei durch noch gehaltvollere und tiefere Einsichten aus. Er beschäftigt sich mit Giotto, Leonardo, Raffael, Michelangelo, Botticelli, Ghirlandaio und Luca della Robbia, sowie mit der großen venezianischen Malerei von Tizian bis zu Tintoretto und Veronese. Die Begegnung mit Italien wirkt sich stimulierend auf seine schriftstellerische Einbildungskraft aus und trägt alsbald Früchte. Nach den ersten Reisen schreibt er italienisch inspirierte Erzählungen und verfaßt für das deutsche Publikum eine biographische Studie über Boccaccio. Kurz darauf richtet er seine Aufmerksamkeit auf eine Persönlichkeit, die im schärfsten Gegensatz zu dem lebensprallen, sinnlichen Dichter aus Certaldo steht, nämlich Franz von Assisi, dem großen Heiligen und Mystiker des dreizehnten Jahrhunderts. In seinem Buch Franz von Assisi beschreibt er das Leben des Heiligen Franziskus, erzählt einige der bekanntesten Legenden um den Heiligen und übersetzt dessen berühmten Sonnengesang, die Laudes Creaturarum, ins Deutsche. Hesse zeichnet die Gestalt Franz von Assisis mit sichtlicher Anteilnahme. Er erkennt in ihm nicht nur den religiösen Menschen, einen mystischen Charakter, welcher sich gleichzeitig aufs Innigste mit der Schönheit der Schöpfung verbunden fühlte, sondern auch einen verwandten Geist. Hesse beschreibt ihn als einen Menschen, der nach langem Suchen eine Lebensform fand, die ihm Einklang mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott ermöglichte. In der gesamten Kunstgeschichte gibt es wohl keine andere Figur, mit der so viele große Künstler einen persönlichen Traum verbanden, wie Franz von Assisi. Und jeder hat ihn anders porträtiert, dem eigenen Traum entsprechend. Wenn Hesse dies feststellt, denkt er natürlich an Franziskus als Inspirationsquelle sehr vieler Gemälde, besonders an Giotto und seine Fresken in Assisi. Diese Gedanken Hesses stammen aus dem Jahr 1904. Im gleichen Jahr erscheint der Roman Peter Camenzind, Hesses erster großer literarischer Erfolg, in dem sich sehr viele Bezüge auf Italien finden. Der Held von Peter Camenzind ist ein Individualist, der die großen Städte meidet. So auch Hesse. Organisierte Reisen, beliebte touristische Rundwege und Moden sind seine Sache nicht. Zweimal sogar, erzählt er, habe er eine Fahrkarte nach Rom in der Tasche gehabt, aber er habe es vorgezogen, schon vorher auszusteigen, einmal in Orvieto und ein anderes Mal in Orte. Darin gleicht er einem anderen Reisenden jener Jahre, Sigmund Freud, der seine Ferien häufig in Italien verbrachte, stets den Wunsch hegte, Rom zu sehen, doch mehrere Male vor den Toren der Stadt anhielt, bis er später endlich in die Hauptstadt Italiens gelangte. Auf seinen Streifzügen durch Italien nimmt Hesse den Zug, wo er in Waggons der dritten Klasse fährt, oder er reist zu Fuß. Er ißt einfache, frugale Mahlzeiten, hat seinen Brotbelag bei sich und ernährt sich von einer erstaunlichen Menge Orangen. Abends kehrt er in bescheidenen Gasthäusern ein, wo er in seinem prekären Italienisch ein Gespräch mit dem Wirt führt, vor sich das unausbleibliche Glas Chianti. In Umbrien besucht er kleine, abgelegene Städtchen, die an felsigen Höhen emporklettern, wie Montefalco oder Gubbio. Im Charakter dieser Orte verbinden sich die franziskanische Frömmigkeit, die rauhe Schönheit der Landschaft und die menschliche Arbeit. Die Natur, wie sie unseren Sinnen erscheint, und die vom Bewußtsein, das heißt, der Kultur gefilterte und bearbeitete Natur, sind für Hesse ein und dasselbe: Vor einer Madonna von Raffael, die er im Museum sieht, kann er ebenso in Verzückung geraten wie von einer Wiese voller Anemonen, die er auf einer Wanderung nach Fiesole entdeckt. Und dann findet

Mitteilungen 175 er dieselben Farben, die er bei diesen Blumen gesehen hat, in den Stoffmustern auf den Gemälden toskanischer Meister des fünfzehnten Jahrhunderts wieder. Diese Totalität der Anschauung, die unsere Wahrnehmung der sichtbaren Welt mit jener der unsichtbaren Welt verbindet, stimmt ihn glücklich und fröhlich, sie erzeugt in ihm ein Gefühl der Befreiung, ja der Wiederbelebung aller Kräfte, das viele deutsche Künstler, die über die Alpen gezogen sind, im Gefolge Goethes empfanden und auch vor und nach Hesse empfinden werden. Hesse hat, wie Goethe, die Gabe des künstlerischen Blicks, Augen, die unterscheiden, vergleichen und sich das Gesehene schöpferisch aneignen können. Bei Hesse weist diese Begabung schon auf den Maler hin, der er werden wird. Seine besondere Empfänglichkeit führt ihn nicht so sehr zur Form als vielmehr zur Farbe und zum Licht in all ihren Nuancen, die er mit der sicheren Hand eines Impressionisten erfaßt und beschreibt. An der Schönheit erfreut er sich nie auf bloß ästhetische Weise. In den Gesichtern der Madonnen von Botticelli oder Perugino sucht er das, was er auch in sich selbst sucht: den Zusammenhang, der verbindet, was außerhalb von uns und was in uns existiert, die Pflanze und ihre Wurzeln, die Wirklichkeit und das Denken, das sie im Sinne einer umfassenden Harmonie des Ganzen interpretiert. Oft fragt Hesse sich, welche Unruhe ihn umtreibt, warum er immer wieder an die Orte zurückkehrt, die er schon kennt, warum es immer Italien ist, und was ihn zu seinem Wanderleben ohne Ende drängt. Ist es die romantische Sehnsucht nach Flucht, ist es die Liebe zur Kunst oder etwas anderes? Wie immer bei Hesse umfaßt die Antwort die ganze Existenz und dreht sich um die großen Fragen nach dem Sinn und dem Schicksal des Menschenlebens. So schreibt er über den Anblick der großen Werke alter Meister und die Bewunderung, die er angesichts eines herrlichen Domes oder eines prächtigen Palastes empfand: «Warum hatten sie mich beglückt? – Weil ich bei ihrem Anblick gefühlt hatte, daß Arbeit und Hingabe eines Menschen nicht wertlos sind, daß über der bedrückenden Einsamkeit, in der jeder Mensch sein Leben hinlebt, etwas allen Gemeinsames, etwas Begehrenswertes und Köstliches vorhanden ist; daß zu allen Zeiten Hunderte einsam gelitten und gearbeitet haben, um das Sichtbarwerden dieses tröstlichen Gemeinsamen zu fördern […] Diesen Trost hatte ich gesucht, nichts weiter.» Dies sind also die Wege, welche die zukünftigen Besucher des geplanten Hesse-Zentrums in Italien begehen werden. Im Gedenken an Hesse zu reisen, bedeutet, mit eigenen Mitteln und ohne Eile zu reisen, sich dabei in seine Gedankenwelt zu versenken und sich der sorgfältigen Pflege eines Gartens zu widmen. Ziel dieser Reisen soll sein, zu einem gelassenen Einverständnis mit dem Leben und der vergehenden Zeit zu gelangen, um – wie Hesse selbst – zu erkennen, daß das Leiden und das Böse die Menschen nur dann zu treffen vermögen, wenn sie das Wissen darum verlieren, daß sie ein untrennbarer Teil des Ganzen sind, wenn sie dem Ich eine unverantwortlich hohe Wichtigkeit beimessen und darüber vergessen, daß die ganze Welt mit allem, was zu ihr gehört, eine große, göttliche Einheit bildet. Flavia Arzeni

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Publikationen von Mitgliedern Daoistische Philosophie und Hermann Hesses Schaffen Die slowakische Germanistin Mária Bieliková beschäftigt sich in ihrem Buch mit dem Versuch, Hermann Hesses bipolare Weltauffassung vor dem Hintergrund der daoistischen Philosophie zu untersuchen und seine geistige Verbundenheit mit China bzw. mit dem chinesischen Daoismus herauszustellen. Insbesondere setzt sie sich mit Hesses Romanen «Demian» und «Der Steppenwolf» auseinander, und kommt zu dem Schluß, Hesses Werk sei «je ein neuer Versuch, nicht die Verschiedenheit der Weltkulturen zu verharmlosen, wohl aber das herauszuheben, was den Menschen in Geistesleben gemeinsam ist». Bieliková setzt sich mit Hesses dauerndem Versuch, die Pole des Lebens zueinander zu bringen und ihre gegenseitige Beziehung harmonisch zu gestalten, auseinander. In der Konsequenz kommt sie in ihrem Buch zum Ergebnis: «Hermann Hesse, dessen Charakter und ganzes Schaffen Weltoffenheit, Toleranz und Humanität prägten, lehrt uns in seinem Werk anderes: die Achtung vor anderen Kulturen, er zeigt uns Wege, wie ein Miteinander möglich sein kann, ohne daß es Gewinner und Verlierer geben muß. Und genau dies macht ihn zu einem immens zeitgemäßen Dichter». Mária Bieliková: Die daoistische Philosophie und Hermann Hesses Schaffen. Brosch., 138 S., Univerzita Mateja Bela, Filologická Fakulta, Katedra germanistiky, Banská Bystrica 2004.

Mitteilungen 176

Entdeckung der Wurzeln Hermann Hesses im Baltikum Von Hermann Hesses Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert, ist vieles bekannt. Vor allem hat Hermann Hesse viel über diesen weltoffenen, außerordentlich vielseitigen Mann geschrieben, den er in Calw erlebte, den er liebte und verehrte. Im Gegensatz dazu bleibt eher spärlich, was in Briefen und Beschreibungen über den «baltischen» Großvater Dr. Carl Hermann Hesse überliefert ist. Er ist der Vater von Hesses Vater Johannes, der ihm als fünftes Kind 1847 in Livland geboren wurde. Johannes erzählt dem Sohn in Kindheits- und Jugendzeit viel und offenbar sehr anschaulich vom weitherzigen, fröhlichen

Mitteilungen 177 Leben im gastfreien fernen Elternhaus und vom großen Garten, den Dr. C.H. Hesse liebte und pflegte. Er war damals Kreisarzt in Weißenstein (heute Paide), einer Kleinstadt in der (heute estnischen) Provinz, die bis 1921 russisch war und nach 1919 zwischen Estland und Lettland aufgeteilt wurde. Dort hat der Doktor auch ein lange bestehendes Waisenhaus errichtet, bewundernswert karitativ und protestantisch-christlich gewirkt. Von diesem Großvater wußte Enkel Herman vielerlei und hegte stets den Wunsch, ihn und seine Heimat einmal besuchen zu können. Da Dr. C.H. Hesse aber 1896, über 90 Jahre alt geworden, starb, wurde dieser Wunsch seines fernen Enkels nie erfüllt. Das Städtchen, Haus, Garten und Grab verfielen völlig, vor allem in den Zeiten der sowjetischen Okkupation ab 1944. Im Jahre 2002 jährte sich der Geburtstag des Doktors zum 200. Male und in Calw und anderswo gab es vielfältige Veranstaltungen und Publikationen zum 125. Geburtstag Hermann Hesses. Im Vorfeld dazu war es Ursula Apel, Herausgeberin des dreibändigen Werkes «Hesse, Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben» nach jahrelangen, zähen Bemühungen gelungen, Interesse und Spender für die Wiederherrichtung des Grabes in Paide zu gewinnen, in die auch der deutsche Botschafter und der estnische Bürgermeister des Ortes einbezogen werden konnten. Auch im Lande selbst, das nun endlich ein freier Staat war, erwachte in literarischen Kreisen das Interesse neu. Paide, Zentralort der Provinz Järvaana, bekam Besuch. Im fernen Calw wuchs ebenfalls seit dem Jubiläumsjahr 2002 der Wunsch, jenen baltischen Spuren von Hesses Familie einmal nachzugehen. Im Jubiläumsprogramm gab es eigens «Baltische Tage». Dieser Wunsch fand im Sommer 2005, von Dr. Gisela Volz kundig vorbereitet, seine Erfüllung. Eine kleine Reisegruppe erschien im Juli in Paide, stellte eine aus zweieinhalbtausend Kilometern Entfernung mitgebrachte Schale mit Zinnien (die Hesse geliebt, gemalt und «bedichtet» hat) am Gedenkstein im sorgfältigst hergerichteten Grab im alten Teil des Friedhofs auf. Die für Kultur zuständige Dame des Ortes und die Leiterin des sehr schönen Provinzmuseums waren dabei. Sie bestätigten das große Interesse an Verbindungen zu Calw. Als besondere Überraschung stellte sich heraus, daß die Lehrerin, die als Dolmetscherin fungierte, Calw bereits kannte und mit besten Erinnerungen verband. Der Grund: die heutige Landesakademie Calw, früher Staatliche Akademie für Lehrerfortbildung, bietet seit vielen Jahren mehrwöchige Kurse für Deutschlehrer aus den Staaten Osteuropas an, um nicht nur deren Sprach-, sondern auch Landeskenntnisse zu vertiefen und Brückenbauer zwischen ihrem Land und Deutschland u werden. Besonders nachhaltigen Eindruck machte in Tallin (einst Reval) das Gespräch mit Matti Sirkel, dem derzeitigen Vorsitzenden des estnischen Schriftstellerverbandes und Übersetzer deutschsprachiger Literatur, vor allem Thomas Mann und Hermann Hesse. Daß Hesse zu den meist gelesenen deutschen Autoren in Estland gehört, ist erfreulich. Matti Sirkel sprach von sich selbst als einem, der bereits 1973 den Steppenwolf für sich als «Kultbuch» entdeckt hatte. Für ihn waren die wenigen Schriften, die ihm damals zugänglich waren, Lebenshilfe und Halt für den geistigen Widerstand während der sowjetischen Besatzung, «Errettung und Entdeckung von geistigen Werten». Seit 1986 schon kursierten handschriftliche Exemplare von «Siddhartha», deren Besitz, wurde er entdeckt, als Sabotage galt und mit Gefängnis bestraft wurde. Ähnliche Berichte gab es zuvor auch aus anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. Erschütternd und sehr nachdenklich stimmend das Resumee Sirkels zur heutigen Rezeption Hesses und vergleichbarer Literatur, die nun frei zugänglich ist: «In der sowjetischen Zeit waren denkende Menschen mehr ‚eigentliche Europäer‘ als nach dem Beitritt zur EU, es war ‚die Zeit des Geistes‘. Heute werde Hesse überschrieen von der gängigen Literatur des ‚entarteten Westens‘!» Eine sehr pessimistische, aber wohl schwer zu entkräftende Feststellung, der

Mitteilungen 178 er abschließend den leisen Trost entgegensetzte, «hellhörige Menschen werden nie verschwinden». Bei den «Baltischen Tagen» beim Hesse-Festival in Calw 2002 gab es als Reverenz für den Hesse-Großvater zwei Konzerte, gestaltet von Donatus Katkus mit seinem St. Christopher`s Chamberorchester, einem jungen, hinreißend musizierenden Ensemble aus Vilnius (Wilna). Die kleine Gruppe aus Calw wurde nun zu einem Konzert im Rahmen des Christopher Summer Festival eingeladen und von Donatus Katkus freundschaftlich als alte Bekannte aus der Hessestadt begrüßt. Er beschrieb seine guten Eindrücke von den Calwer Tagen und ließ durchklingen, wie gerne er mit seinen jungen Musikern dort wieder auftreten würde. Schön wäre es, wenn – quasi von Hesse inspiriert – so etwas wie eine musikalisch-literarische Brücke zwischen Calw und dem Land entstünde, das sich mit seiner berühmten «Singenden Revolution» den Weg zum eigenständigen Staat und Mitglied der EU frei machte. Dem Geist Hesses würde es ganz sicher entsprechen. Renate Bran, Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft und Trägerin der Hermann-Hesse-Medaille der Stadt Calw.

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Hermann Hesse – Humanist und Europäer Im Jahr 2002, dem Internationalen Hermann-Hesse-Jahr zu seinem 125. Geburtstag, fand in Budapest die 1. Internationale Hermann-Hesse-Gedenkkonferenz in Ungarn statt. Gábor Kerekes und Orsolya Erdödy haben jetzt den Sammelband mit den dort gehaltenen Referaten herausgegeben. Der Humanist und Europäer Hermann Hesse war Thema der Konferenz, und entsprechend weit spannen sich die Beiträge: Von Hesses Beziehungen zu den Tessinern (Bucher) über den Hesse der 20er Jahre (Huber), die Hesse-Rezeption in Ungarn (Kerekes), die Darstellung Frederic Chopins in Schriften Hesses (Klingenböck), bis hin zu Hesse als Leser und Rezensent (Schickling) und dem «guten Europäer» Hesse (Szabó) scheint durch die Vielfalt der Referate immer beides durch: der Humanist und der vehemente Befürworter der Traditionen eines geistigen Europas Hermann Hesse. Gábor Kerekes, Orsolya Erdödy: Hermann Hesse. Humanist und Europäer. 1. Internationale Hermann-Hesse-Gedenkkonferenz in Ungarn, Budapester Beiträge zur Germanistik, Schriftenreihe des Germanistischen Instituts der Loránd-Eötvös-Universität, Budapest 2005.

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Polaritätsstrukturen im Werk Hermann Hesses Die eindringliche Botschaft, daß sinnerfülltes Leben zwischen den Extremen stattfindet, im «Sowohl-als-auch» der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, zieht sich durch das gesamte literarische Werk Hermann Hesses. Dorothée Gommen hat in ihrer Dissertation erstmals lyrische, epische und dramatische Werke des Autors konkordanzartig durch close reading parallel erschlossen und die mannigfaltigen inhaltlichen und strukturellen Polaritäten unter entstehungsgeschichtlichen und gattungsspezifischen Gesichtspunkten kritisch analysiert. Dabei geht sie in den jeweiligen Gattungen nach Phasen vor, in die sich das Werk Hermann Hesses einteilen läßt: von der Phase der naiven Einfachheit über die Desillusionierung und die Komplexität bis hin zur Phase der reflektierten Einfachheit. Gommen diskutiert Hesse als Antitheatraliker, überprüft die antagonistischen Prinzipien und arbeitet dramatische Gegensätze und Hesses Suche nach einer Einheit heraus. Eine «literaturwissenschaftliche Wanderung durch Hesses Werk unter kritischer Betrachtung der Polaritätsstrukturen im Oeuvre des Autors», das der Hesse-Forschung viele neue Ansatzpunkte geben kann. Dorothée Gommen: Polaritätsstrukturen im Werk Hermann Hesses in Lyrik, Epik, Drama. Brosch., 214 S., m-press in der Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006

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Institutionelles Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft: Das Hermann-Hesse-Kolleg in Horb am Neckar Grußwort von Oberbürgermeister Michael Theurer Das Hermann-Hesse-Kolleg für Sprache und kulturelle Zusammenarbeit hat seit 1993 im geschichtsträchtigen «Steinhaus» (vormalige Zehntscheuer) der Katholischen Spitalstiftung in Horb ein Zuhause gefunden. Auf diese Bildungseinrichtung ist die Stadt Horb besonders stolz. Hier erwerben und vertiefen Studentinnen und Studenten aus aller Welt ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und

Mitteilungen 179 Kultur. Durch ihre Unterbringung in Gastfamilien ist eine enge Verbindung zur Bevölkerung, zu unserer Alltagskultur und unserem Land gegeben. Hierdurch wird ein unschätzbarer, gegenseitiger Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. Aus den gewonnenen Erkenntnissen wage ich zu behaupten, Horb ist eine kleine, weltoffene Stadt mit Herz, in der sich die Studentinnen und Studenten des Hermann-HesseKollegs sichtlich wohl fühlen. Mit dem Grußwort darf ich meinen ausdrücklichen Dank für die in der Bildungseinrichtung geleistete Arbeit verbinden. Ich bedanke mich auch bei den Gastfamilien für die von ihnen gewährte Gastfreundschaft. Michael Theurer Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Horb am Neckar

Ziele und Geschichte es Hermann-Hesse-Kollegs «Werde, der du bist», ist die zentrale Botschaft Hermann Hesses, ausdrücklich an den jungen Menschen gerichtet, der aus der Kindheit in die schwierige Zeit der Jugend und des jungen Erwachsenenseins eintritt, einer Zeit voller Widersprüche, Hoffnungen und Fragen. Wer es wünscht und zuläßt, dem ist Hermann Hesse ein faszinierender Freund, der auch den Blick in andere Welten, in fremde Umgebungen und Kulturen wagt und so vergleichend nicht nur das fremde sondern auch das eigene Denken und Handeln besser zu verstehen versucht. Moderner Fremdsprachenunterricht ist didaktisch an kulturkontrastivem Lernen ausgerichtet und will Sprache in möglichst vielen Dimensionen darstellen. Hermann Hesse hat sich sein Leben lang um das Erlernen dieses «Werkzeugs Sprache» bemüht. In seiner Betrachtung «Über das Wort Brot» spricht er wie ein moderner Didaktiker im Fach Deutsch als Fremdsprache, in dem es nicht nur um Wortgleichungen, sondern um semantische Implikationen landeskundlicher Eigenheiten, gleichsam um in Begriffen transportiertes Leben des Alltags geht: […] Wenigstens kann ich von mir sagen, daß ich seit meinem Eintritt in die Schule aus siebzig Jahren nichts anderes so zäh und fortdauernd betrieben habe, wie die Bemühung um die Kenntnis und Beherrschung der Sprache; und daß ich mir darin immer noch wie ein staunender Anfänger vorkomme, der sich bezaubert und halb ängstlich, halb beglückt in die Irrgärten des Alphabets einführen läßt, wo man aus einem kleinen Häufchen Buchstaben Wörter, Sätze, Bücher und grafische Abbilder des ganzen Weltalls zusammensetzen kann. […] Jedes von ihnen spricht nicht nur zu unserem Verstand, sondern auch zu allen Sinnen. Jedes beschwört eine Menge von Erinnerungen und Vorstellungen. Jedes meint etwas Ewiges, Unentbehrliches, Nichtwegzudenkendes. Zu diesen guten, bedeutungsschweren Wörtern gehört auch das Wort Brot. Man braucht es nur auszusprechen und das in sich einzulassen, was es enthält, so sind schon alle unsere Lebenskräfte, die des Leibes wie die der Seele angerufen und in Tätigkeit versetzt. Magen, Gaumen, Nase, Zunge, Zähne, Hände sprechen mit. Es fällt uns der Eßtisch im Vaterhause ein. Rundum sitzen die lieben vertrauten Gestalten der Kindheit. Vater oder Mutter schneidet vom großen Leib die Stücke und bemißt ihre Größe und Dicke, je nach dem Alter oder Hunger des Empfängers. In den Tassen duftet die warme Morgenmilch. Oder es fällt uns ein, wie es ganz früh am Morgen, noch bei halber Nacht, vom Haus des Bäckers her gerochen hat, warm und nahrhaft, anregend und begütigend, hungerweckend und ihn halb auch schon stillend. Und weiter erinnern wir uns durch die ganze Weltgeschichte hindurch alle Szenen und Bilder, in denen das Brot eine Rolle spielt.

Mitteilungen 180 Die Worte von Dichtern melden sich und viele Worte der Bibel, und überall hat das Brot neben der nüchternen, alltäglichen Deutung auch noch eine höhere, bis hinauf zu jenem Gleichnis des Heilands bei der Stiftung des Abendmahls. Wir werden der Anklänge und Erinnerungen gar nicht mehr Herr. Sie fluten und quellen uns aus hundert Bildern großer Maler zu und aus allen Bezirken menschlicher Dankbarkeit und Frömmigkeit bis zu dem hohen, mystischen Klang in Sebastian Bachs Passion: Nehmet, esset, das ist mein Leib. Statt einer so kleinen Betrachtung könnte man über das Wort Brot auch ein ganzes Buch schreiben. Das Volk, der eigentliche Schöpfer und Bewahrer der Sprache, hat für das Brot Ausdrücke der Dankbarkeit und der Zärtlichkeit gefunden, von denen ich nur zwei zu nennen brauche, um wieder eine Reihe von Anklängen wachzurufen. Das deutsche Volk spricht gern vom «lieben Brot» und die Italiener und Tessiner, wenn sie einen Menschen als wahrhaft gut bezeichnen wollen, nennen ihn «buono, come il pane». Also schloß er bereits kulturkontrastives Betrachten mit ein: Was meinen die Leute eigentlich, wenn sie «Brot» sagen? Zwischen den Begriffen in den einzelnen Sprachen gibt es wissenswerte Bedeutungsunterschiede, die uns das fremdkulturelle Andere lehren und verstehbar machen. Wir bemühen uns, das Lehren und Lernen der deutschen Sprache im Sinne Hesses als persönlichkeitsbildende und bereichernde Erfahrung zu betrachten. Dabei fühlen wir uns durch unseren Namenspatron gestärkt und begleitet, wenn wir modernen Fremdsprachenunterricht betreiben. Die Bedeutung Hesses für junge Menschen läßt sich zwar nicht lehren. Sie muß von jedem selbst erschlossen werden. Um diesen wesentlichen Impuls zu setzen, ist Hermann Hesse in unserem Kolleg durch eine Vitrine mit ausgestellten Büchern, Postern und ein paar seiner Gemälde präsent. Sobald es der Sprachstand unserer Studentinnen und Studenten erlaubt, arbeiten wir auch mit ausgewählten Texten Hesses. Das Hermann-Hesse-Kolleg in Horb am Neckar wurde 1993 von Günter Ost, dem heutigen Inhaber und Leiter, initiiert. Seit dem 7. April 1994 trägt die ursprünglich als «Institut für Sprache und Bildung» bezeichnete Bildungseinrichtung den Namen «Hermann-Hesse-Kolleg», freundlich genehmigt durch den Stiftungsrat der Hermann-Hesse-Stiftung. Uwe Schnaidt und Dr. Michael Geiger leisteten von 1994 bis 1998 wertvolle Gründungs- und Entwicklungsarbeit. Uwe Schnaidt schied 1998 aus, und zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelang es Dr. Geiger, das Kolleg weltweit bekannt zu machen und sichere Grundlagen zu schaffen. Im Herbst 2000 übernahm Günter Ost das Kolleg. Seit 2005 ist das Hermann-Hesse-Kolleg institutionelles Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft.

Mitteilungen 180

Beziehungen zur Hermann-Hesse-Gesellschaft Nepal Eine kleine Study Abroad Agentur in Kathmandu, die zufällig das Hermann-Hesse-Kolleg in Horb gefunden hatte, brachte die erste Anmeldung eines nepalesischen Studenten. Er war Anfänger und blieb fast ein Jahr in Horb. Den Test Deutsch als Fremdsprache muß er bestehen, um in Deutschland an einer Hochschule bzw. Universität zugelassen zu werden. Dann forderte die Agentur den Leiter des Kollegs, Günter Ost, auf, nach Nepal zu reisen, um mit weiteren Interessenten Gespräche zu führen. Kurz vor seinem Abflug nach Kathmandu im Dezember 2005 lernte er Prof. Rothfuß kennen, der wiederum Kontakte zur Hermann-Hesse-Gesellschaft in Nepal hat. Der Kreis schloß sich also, und Günter Ost traf sich mit Ramesh Adhikari, der im Jahr 2001 in Kathmandu die Hermann-Hesse-Society Nepal – 2000 gegründet hat, die wiederum Mitglied in der Internationalen Hermann-HesseGesellschaft ist.

Mitteilungen 181 Hier der Bericht von Günter Ost: Ich lernte ihn kennen und schätzen. Ramesh Adhikari will mit großem persönlichem Engagement nicht nur die Hesse-Society erweitern, sondern auch ein Hermann-Hesse-Study-Center in Kathmandu einrichten. Er übersetzte Siddhartha in Nepali, das Buch ist bereits erschienen. Auch Steppenwolf und Demian stehen auf seiner Projektliste. Mit Freude zeigte er mir sein deutsch-nepalesisches Wörterbuch, das in diesen Monaten erscheinen sollte. Sehr gerne übernahm ich dabei die notwendigen Korrekturarbeiten des deutschsprachigen Teils. Ramesh Adhikari ist bei der Umsetzung seiner ganz auf die Verbreitung von Hesse ausgerichteten Tätigkeit auf die Unterstützung aus Deutschland angewiesen. Er benötigt dringend einen Computer, Internetanschluß und mehrere Exemplare aller Werke Hesses. Das Hermann-Hesse-Kolleg will zum Gelingen dieser Arbeit beitragen. Ramesh Adhikari sucht im Rahmen einer Zusammenarbeit weitere Studenten, die sich beim Hesse-Kolleg Horb zu einem Deutschkurs anmelden. Eine Erfolgsprovision fließt dann direkt zurück und unterstützt die Hermann Hesse Society Nepal – 2000.

Mitteilungen 181

Neues institutionelles Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft: Hermann-Hesse-Stiftung in Szeged/Ungarn gegründet Ende 2006 ist die Ungarische Hermann Hesse Stiftung mit Sitz am Germanistischen Institut der Universität Szeged gegründet worden. Ziele der Gesellschaft sind: – Förderung der ungarischen Ausgabe der Werke von Hermann Hesse. – Ausschreiben von Bewerbungen zum Übersetzen der Werke von Hermann Hesse ins Ungarische. – Ausschreiben von Bewerbungen zur Ausgabe von literarischen und wissenschaftlichen Werken, die in der Geistigkeit von Hermann Hesse geschrieben worden sind. – Ausschreiben von Bewerbungen zur Bearbeitung des Lebenswerkes von Hermann Hesse. – Förderung einer ungarischen Biographie der Werke von Hermann Hesse, die sowohl in Druckform als auch in elektrischer Form (Internet) zugänglich werden und fortwährend erneuert und ergänzt werden soll. – Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Hermann Hesses Lebenswerk – Pflege der Beziehungen mit anderen, ausländischen Hermann Hesse Gesellschaften und Stiftungen. – Förderung von wissenschaftlichen, sowie künstlerischen Veranstaltungen über Hermann Hesse, mit Einbeziehung ausländischer Teilnehmer, sowie die Veröffentlichung der an den Veranstaltungen vorgetragenen oder ausgestellten Materialien. – Bekanntmachung des Lebens und des Lebenswerkes Hermann Hesses – Förderung von infrastrukrurellen Anlagen, die zu den Bedingungen der Tätigkeit der Forschung beitragen. Betreiber der Gründung und Vorsitzender der Ungarischen Hermann-Hesse-Stiftung ist das Gründungsmitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft, Dr. Géza Horváth, Übersetzer, Publizist und Direktor des Germanistischen Instituts an der Universität Szeged, der Herausgeber der Werke Hermann Hesses in Ungarn, weitere Vorstandsmitglieder sind

Mitteilungen 182 Dr. Miklós Györffy von der Eötvös-Lorand-Universität in Budapest und Márton Kalász, Vorsitzender des Ungarischen Schriftstellerverbandes. Die Ungarische Hermann Hesse Stiftung plant im Jahr 2008 in Zusammenarbeit mit der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft in Szeged eine internationale Hermann-HesseKonferenz durchzuführen.

Mitteilungen 182

Veröffentlichung eines Mitglieds aus Usbekistan: «Steppenwolf» auf Usbekisch von Mirzali Akbarov Im Juni 2006 veröffentlichte das Mitglied der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft und der Übersetzer Mirzali Akbarov in der Hauptstadt Usbekistans Taschkent im Verlag Scharq Hermann Hesses Roman «Der Steppenwolf» als Buch. Mirzali Akbarov arbeitet noch an der Übersetzung weiterer Werke von Hermann Hesse.

Besprechnungen 183

Bärbel Reetz, Emmy Ball-Hennings. Leben im Vielleicht, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001, 399 S., € 11,00. Mit flüssigem Stil und lebhafter Beschreibung taucht die Autorin den Leser zunächst in die – väterlicherseits durch Meer, Sehnsucht, Abenteuerlust, mütterlicherseits durch Sprache und Lieder der dänischen Verwandtschaft geprägte – engbegrenzte «Glasglocke» einer glücklichen Kindheit im kleinbürgerlichen Milieu des Flensburger Arbeiterviertels, aus dem rege Phantasie und erste Schauspielambitionen – nur das Theater gewährleistet eine Überwindung der bürgerlichen Moralregeln – die Heldin Emmy, der die Schule zur Qual wird, sie angesichts der erlittenen Strafen «Strategien gegen Schmerzen» entwickeln läßt, in ein unstetes Zigeunerleben mit Schauspielgruppen von Schmiere zur Schmiere, über Tingeltangelbühne und fragwürdige Vergnügungsetablissements durch die Provinz lockt. Ihre «Wandersucht ins Ungewisse» überläßt Emmy blindlings den Zufällen der Halbwelt, die sich als «Männerwelt» mit fließenden Grenzen zwischen Animation und Prostitution entpuppt, Illusionen der Freiheit durch Drogenrausch und Sucht erweckt, mit Endstation Armut und Kleinkriminalität – «hungern oder huren». Mit Bärbel Reetz taumelt der Leser im weiteren in die wild ausschweifende Boheme der brisanten Vorkriegsjahre in München und Berlin und begegnet im Lindenkabarett etwa oder in Ernst von Wolzogens «Überbrettl» (das Kabarett hat in Emmys Leben das Theater endgültig verdrängt) ganzen Generationen von Künstlern und Intellektuellen, zu deren bekanntesten Exponenten Werfel, Schönberg, Wedekind, Georg Heym, Klabund, Rudi Junghans, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler zählen. Atemloses «schreiendes Leben» hält den Leser gefangen und Neugier erweckt den Wunsch, diesen extravaganten Gestalten näher auf dem Leib zu rücken. Mit Staunen stellt man fest, daß die dynamische, polygame, leichtlebige, von «Weglaufsucht» und «Leben im Vielleicht» begeisterte Heldin Emmy immer wieder physischen Zusammenbruch, psychische Abstürze, menschliche Enttäuschungen und finanziellen Ruin überlebt und gewissermaßen literarisch zu verarbeiten versucht. Zwischen sexueller Begierde und religiöser Ekstase gestalten sich ihre «Lehrjahre» und münden unter dem Einfluß gebildeter Menschen in einen Prozeß geistiger und literarischer Reife. Mehrfache Haftstrafen bewirken eine Seelenanalyse, Gedanken über Schuld und göttliche Gnade enden in Todes- und Glaubenssehnsucht. Nach unzähligen Liebesaffairen bringt ihre Begegnung mit dem asketischen, strengen, priesterlichen, hageren, dem Zölibat verhafteten und im Rausche futuritischer und dadaistischer

Besprechnungen 184 Manifeste lebenden Hugo Ball, der ihr nicht Liebhaber, sondern zuverlässiger und verständnisvoller Freund und Bruder, ihrer Tochter ein verantwortungsvoller Vater ist – «ein Mann, mit dem sie beten kann» – einen tiefen Umschwung in ihr Leben. Aus dem Teufelskreis von Opiumrausch, Ekstasen, vom Kabarett zur Kirche, vom Bett zum Beichtstuhl führt ein langer, quälender Läuterungsprozeß an Hugo Balls Seite, durchaus keine Blitzreaktion also, schließlich zur Konversion zum Katholizismus, geprägt von Dualismus Glaubensfreude/Glaubenszweifel. «Ruf und Echo» nennt die Protagonistin selbst ihre schwierige Beziehung zu Hugo Ball. Auf verschiedenen Stationen im schweizer Emigrantenmilieu (Zürich, Ascona, Locarno, Agnuzzo, Bern) widmen sich Emmy und Hugo in völliger Armut und Abgeschiedenheit, in ständigem Versteckspiel mit der Polizei, schriftstellerischer Tätigkeit und religiösen Erörterungen. Die Morphinistin Emmy wird Mitarbeiterin der wichtigsten Zeitschriften, gibt ihre Prosawerke Gefängnis und Brandmal sowie ihre früher geschriebene Gedichtsammlung Helle Nacht heraus. Hugo Balls im Cabaret Voltaire zelebrierten Lautgediche stoßen an die äußersten Grenzen sprachlicher Äußerung («ein Mysterium des Logos»). Interessant schildert Bärbel Reetz Balls Beschäftigung mit politischem Journalismus (Bakunin, Bolschewismus), mit Psychoanalyse (Korrespondenz mit Jung), seine Studien zum Byzantinischen Christentum, seine masochistische Wollust an Selbstbestrafung mittelalterlicher Mystiker, sein Verhältnis zu Luther, der ihm zum Antichrist wird, seine Beobachtungen zum Exorzismus. Emmy und Hugo schreiben Tagebücher, ihre «Weglauflust» läßt Emmy immer wieder aus diesem Konkubinat, das dennoch durch Eheschließung besiegelt wird, ausbrechen. In Rom, Neapel, Capri findet sie ihr Arkadien und das Leben mit einfachen, südlichen Menschen führt ihr immer wieder neue Nahrung zu. Prägend für beide ist ihre Begegnung mit Hermann Hesse: der neun Jahre jüngere Hugo Ball «errötet wie ein Mädchen», wird Hesses junger, kongenialer Gefährte, dem er in Narziß und Goldmund ein bleibendes Denkmal setzt. Viele Gegensätze und Gemeinsamkeiten verbinden Ball und Hesse, wie die Herkunft aus dem Religiösen und die Ablehnung des Krieges. Sieben Jahre freundschaftlichen Austausches verbinden beide in einer Wechselwirkung tiefer Berührung durch Person und Werk. Achtundzwanzig Jahre steht Hesse «einer seiner besten Leserinnen» Emmy bei und sucht, Mäzene für sie aufzutreiben. «Es ist ganz unmöglich, ihr Leben auf eine rationale Formel zu bringen» äußert er, nennt Emmy und Hugo «wertvolle, liebe und geistvolle Menschen». In Hugos letzten Lebensjahren gerät er immer stärker unter den Einfluß seiner Frau: Emmy ist für ihn (platonische) Geliebte, Mutter, Kind, Engel, oberster Priester. Während ihrer Witwenschaft gerät Emmy in einen Sog von Erinnerungen, unterhält lebhafte Korrespondenz mit Ninon Hesse, macht Reisen als Flucht von der Realität. Bärbel Reetz, die keine Mühe scheut, ihre beachtlichen Recherchen noch zu vertiefen und zu vervollständigen und jeder nur irgend zugänglichen Quelle gierig folgt, gibt im letzten Kapitel «Das Büchermachspiel» eine abschließende Zusammenfassung über die literarische Entwicklung der Autodidaktin Emmy Ball-Hennings, die Verse ihrer Jugendzeit, das Fabulieren in Briefen und Tagebüchern, ihre Prosa nach Ende der Kabarett-Periode; überraschenderweise druckt sie auch einen vernichtenden Artikel des sarkastischen Kritikers Franz Herweg ab, der das Bild abrundet. Nach Balls Tod wird Emmys Leben zur Legende: Emmy «der schillernde Paradiesvogel», «der weibliche Vagabund». Trotz ihrer «Vielfachheiten» tendiert sie im Alter immer mehr zu Thematisierung des Religiösen, Verklärung und Harmonisierung, widmet sich fast ausschließlich Hugo Balls Leben und Werk und wird allgemein als ‹katholische Schriftstellerin› gesehen. Seit sie nicht mehr ihr eigenes Erleben schildert, wenden sich die im Laufe der Zeit so mühsam eroberten größeren und kleineren Verleger zunehmend von ihr ab.

Besprechnungen 185 Imponierend ist der Anhang, aus dem hervorgeht, daß die Autorin nicht nur veröffentlichte Werke, sondern auch unpublizierte Manuskripte im Nachlaß benutzt und auf eine zahlreiche Sekundärliteratur hinweist. Im Einklang mit der Autorin sind die Forschungsergebnisse noch nicht als abgeschlossen zu betrachten, da viele wesentliche Quellen noch nicht zugänglich sind. Micaela Mecocci

Siglen-Verzeichnis DgS

«Im Dienste der gemeinsamen Sache» – Hermann Hesse und der Suhrkamp Verlag. Hrsg. v. Regina Bucher. Montagnola: Fondazione Hermann Hesse 2005.

GW

Hermann Hesse, Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Werkausgabe Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1970.

H-Al

Ponzi, Mauro (Hrsg.): Hermann Hesse e l’«altro». Mailand: Bruno Mondadori 2005.

HF11

Hesse-Forschung. Bd. 11, 2004. Hrsg. v. der Koreanischen Hesse-Gesellschaft, Taejon.

HF12

Hesse-Forschung. Bd. 12, 2004. Hrsg. v. der Koreanischen Hesse-Gesellschaft, Taejon.

HF13

Hesse-Forschung. Bd. 13, 2005. Hrsg. v. der Koreanischen Hesse-Gesellschaft, Taejon.

HH-Jb

Ponzi, Mauro (Hrsg.): Hermann-Hesse-Jahrbuch. Band 2. Tübingen: Max Niemeyer 2005.

HH-Td

Cornils, Ingo / Durrani, Osman (Hrsg.): Hermann Hesse Today / Hermann Hesse Heute. Amsterdam, New York: Rodopi 2005.

IHK

Limberg, Michael (Hrsg.): «Dem Chaos die Stirn bieten.» Hermann Hesses Der Steppenwolf. 12. Internationales Hermann Hesse Kolloquium. Calw 2004. Referate. Stuttgart: Staatsanzeiger Verlag 2005

SW

Hermann Hesse, Sämtliche Werke (in 20 Bänden), hrsg. von Volker Michels, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001f.

Die Autoren dieses Bandes Prof. Dr. Flavia Arzeni – Universität Rom «La Sapienza» – Fak. Scienze Umanistiche – Villa Mirafiori – via Carlo Fea, 2 – I-00161 Roma Dr. Annedoris Baumann – Università degli Studi di Udine c/o Centro linguistico e audiovisivi – via Zanon 6 – I-33100 Udine Dr. Toni Bernhart – Humboldt-Universität zu Berlin – Institut für deutsche Literatur – Schützenstraße 21 – D-10117 Berlin Dr. Siglind Bruhn, Life Research Associate, Music and Modern Literatures Institute for the Humanities, University of Michigan, and Chercheur permanent, Musicologie du XXe siècle – Institut d’esthétique des arts contemporains – Université de Paris 1 – Sorbonne Prof. Dr. Friedhelm Brusniak – Lehrstuhl für Musikpädagogik Universität Würzburg – Wittelsbacherplatz 1 – D-97074 Würzburg Prof. Dr. Fabrizio Cambi – Università di Trento – Facoltà di Lettere e Filosofia – Via S. Croce 65 – I-38100 Trento Dr. Mario De Caro – Filosofia – Università di Roma Tre – Fac. di Filosofia – via Ostiense, 234 – I-00144 Roma Hanka Loos – Rigaer Straße 39 – D-10247 Berlin Prof. Dr. Maddalena Fumagalli – Universität Rom «La Sapienza» – Fak. Scienze Umanistiche – Villa Mirafiori – via Carlo Fea, 2 – I-00161 Roma Dr. Christoph Gellner – Lehrbeauftragter für Theologie und Literatur, Christentum und Weltreligionen an der Universität Luzern Michael Limberg – Dechenweg 1 – D-40591 Düsseldorf Dr. Gabriele Guerra – Letteratura tedesca – Università di Roma «La Sapienza» – Facoltà di Lettere e Filosofia – via Carlo Fea 2 – I-00161 Roma Prof. Dr. Elio Matassi – Filosofia della storia – Università di Roma Tre – Fac. di Filosofia – via Ostiense, 234 – I-00144 Roma

Die Autoren dieses Bandes

Christine Mondon – 29 avenue Jules Ferry – F-16000 Angouleme Prof. Dr. Mauro Ponzi – Universität Rom «La Sapienza» – Fak. Scienze Umanistiche – Villa Mirafiori – via Carlo Fea, 2 – I-00161 Roma Rasmus Frederich – Universität Hannover – Germanistik Birgit Reiß – Fuldastraße 55 A – D-12043 Berlin Panagiota Theodorou – Bergheimerstraße 49 – D-69115 Heidelberg

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