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German Pages 400 [401] Year 2022
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR
GESCHICHTE
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
Redaktionskollegium: Horst Bartel, Rolf Badstübner, Lothar Berthold, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Wolfgang Schröder Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Gunther Hildebrandt (Stellv.), Dietrich Eichholtz, Jutta Grimann, Gerhard Keiderling, Klaus Mammach, Hans Schleier
ISSN 0448-1526
JAHRBUCH 2 9 FOR GESCHICHTE
Studien zur Politik und Ideologie im Imperialismus
Herausgegeben von Fritz Klein
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1984
Redaktionsschluß: 15. Dezember 1982
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1984 Lizenznummer: 202 • 100/93/84 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 754 302 9 (2130/29) LSV 0235 02500
Inhalt
Sigrid
Wegner-Korfes
Ludmila
Thomas
Dietmar Wulff
Detlef Jena Jan Lekschas
Harald Koth
Armin
Mitter
Heinz
Lemke
Fritz Klein Hermann Schreyer Werner Röhr
Karlheinz
Schädlich
Politische und ökonomische Aspekte des deutschen Kapitalexports in den privaten russischen Eisenbahnbau in den 80er und 90er Jahren des 19. Jh Rivalitäten deutscher und russischer Schiffahrtsgesellschaften im Transatlantikgeschäft. Politische und ökonomische Hintergründe Der „kleine" Zollkrieg. Zu den Hintergründen und dem Verlauf der deutsch-russischen Zollkonferenz (November 1896 bis Februar 1897) Der „legale Marxismus" im Urteil russischer Sozialdemokraten Die handelspolitischen Reibungsflächen zwischen Deutschland und den USA im letzten Jahrzehnt des 19. Jh., insbesondere von 1897 bis 1900 Die Teilnahme ausländischer Sozialisten an den Auseinandersetzungen der deutschen Sozialdemokratie mit dem Bernsteinschen Revisionismus 1896 bis 1900 Die Haltung der Kurie zur Verschärfung der preußischen Polenpolitik 1904 bis 1908 Das Scheitern der Verhandlungen über die offizielle Beteiligung Frankreichs am Bagdadbahnunternehmen 1903 Weltpolitische Ambitionen Österreich-Ungarns vor 1914 Monarchismus und monarchistische Restaurationsbestrebungen in der Weimarer Republik Was kann die Arbeiterklasse von der zeitgenössischen Bourgeoisie erben? Zur Kontroverse Hans Günthers mit Ernst Bloch 1936 in der „Internationalen Literatur" . . Die Imperialismusdiskussion in der britischen Geschichtsschreibung (1953 bis 1980) Autorenverzeichnis
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169 199
227 263 291
321 359 399
Abkürzungen
BzG DZfPh GdA GG IML/ZPA JbGSLE JbW JfG MEW ZfG ZStAM ZStAP
Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Deutsche Zeitschrift für Philosophie Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1966 Geschichte und Gesellschaft, Göttingen Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jahrbuch für Geschichte Marx/Engels, Werke, 1956 ff. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrales Staatsarchiv, Merseburg Zentrales Staatsarchiv, Potsdam
Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, 1956-1965. zitiert. Soweit nicht anders angegeben, ist der Erscheinungsort Berlin.
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Politische und ökonomische Aspekte des deutschen Kapitalexports in den privaten russischen Eisenbahnbau in den 80er und 90er Jahren des 19. Jh.
In der Außenwirtschaftstätigkeit des Deutschen. Kaiserreichs spielte der Export von Industriewaren in der Reg6l eine wichtigere Rolle als der von Kapital. Das war durch verschiedene Faktoren bedingt. Zu diesen gehörten u. a. der im Vergleich zu den meisten Staaten der Welt frühe Zeitpunkt, das rasche Tempo und der relativ hohe Grad der Industrialisierung Deutschlands, die günstige Arbeits- und Rohstoffbasis für die heimische Industrie, die relative Enge des deutschen Binnenmarktes und die gute Verkehrs- bzw. Marktlage Deutschlands im Zentrum Europas, am Rande der großen ost- und südosteuropäischen Industriewarenmärkte. Den deutschen Bankiers und Industriellen boten sich im Vergleich zu ihren französischen oder belgischen Nachbarn günstigere Anlagemöglichkeiten für profittragendes Kapital im eigenen Land. Sie standen in der Regel nicht in dem Maße wie ihre Konkurrenz im Westen unter Kapitalexport- als vielmehr unter Warenexportzwang. Das traf im Prinzip schon auf das erste Jahrzehnt des Deutschen Kaiserreichs zu, in welchem der Kapitalismus der freien Konkurrenz noch weitgehend dominierte, besonders jedoch auf die 80er und 90er Jahre, in denen sich der vormonopolistische allmählich in den Monopolkapitalismus verwandelte. Und auch in der Geschichte des nun imperialistischen Deutschen Reichs vor Ausbruch des ersten Weltkrieges blieb dieses Charakteristikum der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen im wesentlichen erhalten. Diese Tatsache bedeutete jedoch keineswegs, daß einige deutsche Industrielle, vor allen Dingen aber deutsche Banken oft in Absprache mit der Reichsregierung nicht den Export von Kapital als Mittel ökonomischer und politischer Expansion anwandten. In bestimmten Etappen und gewissen Staaten gegenüber spielte der Kapitalexport Deutschlands sogar eine wichtige Rolle. Zu den Ländern, die von ihm Finanzmittel erhielten, gehörte vom letzten Viertel des 19. Jh. an bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges das zaristische Rußland. Doch Deutschland stellte nur einigen Zweigen des russischen Wirtschaftsmechanismus Kapital zur Verfügung. Darüber hinaus wurden Etappen engster deutsch-russischer finanzieller Zusammenarbeit von solchen nahezu vollständiger deutsch-russischer Entfremdung abgelöst. In der Regel korrespondierten die Hauptentwicklungslinien des deutschen Kapitalexports nach Rußland mit denen des deutschen Industriewarenexports in dieses Land. In Zeiten, wo dies nicht der Fall war, wurde er von der deutschen Reichsregierung wiederholt als Mittel dazu ausgenutzt, den Industriewarenexport in diesen großen Nachbarstaat zu
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erweitern, und von deutschen Exportindustriellen dazu, die ihnen durch die russischen Schutzzollmaßnahmen zugefügten Verluste zu kompensieren. Die deutsch-russische finanzielle Zusammenarbeit spielte bis 1887 eine große Rolle in den Beziehungen der beiden Staaten und erreichte dann erst wieder von 1894 bis 1899 einen ihrer wichtigsten und letzten Höhepunkte vor Ausbruch des Weltkrieges. Wie war es dazu gekommen? Der im letzten Drittel des 19. Jh. dringend notwendig gewordenen umfangreichen verkehrstechnischen und industriellen Erschließung des zaristischen Rußlands standen im Lande selbst seit jeher nur ungenügend freie Kapitalien zur Verfügung. 1 Es war, wie andere sich relativ spät entwickelnde kapitalistische Länder in dieser Zeit, z. B. auch die USA, auf ausländische Finanzmittel angewiesen, die in Teilen Europas vorhanden waren. Besonders von den letzten zwei Dezennien des 19. Jh. an entstand für die größten kapitalistischen Staaten Mittel- und Westeuropas die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Kapital in andere Staaten zu exportieren. Die Großbourgeoisie Englands und Frankreichs besaß nach den Weltwirtschaftskrisen Anfang der 80er Jahre und den ihnen folgenden Depressionen und die des Deutschen Reiches nach der Gründerkrise (1873—1879) und der Großen Depression (80er Jahre bis 1893/94) relativ umfangreiche freie Kapitalien. Sie war bestrebt, diese in Unternehmen inner- und außerhalb ihrer Grenzen anzulegen, in denen die höchsten Profitraten zu erwarten waren. Deshalb exportierte sie ihre Finanzmittel gern in industriell und verkehrstechnisch schwach entwickelte Länder, in denen die Zins- und Profitrate noch wesentlich höher war als in den ökonomisch starken unter den west- und mitteleuropäischen Staaten. Die Regierungen Englands, Frankreichs und Deutschlands begannen außerdem im Kapitalexport immer mehr ein Mittel wirtschaftlicher und politischer Einflußnahme auf andere Länder zu sehen. Doch nicht alle Staaten, die über umfangreiche Finanzmittel verfügten, waren bereit, sie jedem beliebigen kapitalbedürftigen Land zu leihen. Spezifische wirtschafts- und außenpolitische Faktoren spielten eine Rolle dabei, daß Deutschland — und nicht England oder Frankreich — in den 70er und 80er Jahren des 19. Jh. zum Hauptfinanzier des zaristischen Rußlands wurde und diesem auch von 1894 an bis zur Jahrhundertwende wieder umfangreiche Finanzmittel zur Verfügung stellte. England, das damals wirtschaftlich stärkste Land der Welt, hatte im letzten Drittel des 19. Jh. schon große Summen im Ausland angelegt. 2 Es finanzierte u. a. den Eisenbahnbau in Kanada, Australien, Italien und Neuseeland, erweiterte die Tee- und Baumwollplantagen in Indien und Ceylon und gab der türkischen Regierung beträchtliche Anleihen. Dem kapitalbedürftigen zaristischen Rußland gegenüber verhielt es sich jedoch, insbesondere bei dessen Staats- und staatlich garantierten Eisenbahnanleihen, schon von der Mitte der 70er Jahre 1
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Pogrebinskij, A. P., Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1954, S. 93ff.; Gindin, I. F., Gosudarstvennyj bank i ekonomiceskaja politika carskogo pravitel'stva (1861-1892 gody), Moskau 1960, S. 19ff.; Bovykin, V. I., Probleme der industriellen Entwicklung Rußlands, in: Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus 1861-1914, hrsg. von Karl Otmar Freiherr v. Aretin/Werner Conze, Wiesbaden 1977, S. 101, 106 ff. Vgl. z. B. Clapham, John Harold, An Economic History of Modern Britain, Cambridge 1951, S. 25.
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an sehr zurückhaltend. Starke außenpolitische Differenzen in Zentral- und Mittelasien sowie in der Türkei, die wiederholt den Ausbruch eines Krieges zwischen beiden Großmächten befürchten ließen, veranlaßten die Finanzkreise des kapitalkräftigen Englands, sich durch Kapitalexport nicht zu sehr an das zaristische Rußland zu binden.3 Das Risiko erschien ihnen zu groß. Erst nach dem Russisch-Japanischen Krieg begannen sie, ihre Haltung Rußland gegenüber auch in dieser Frage ernsthaft zu verändern. Die Großbanken Frankreichs, welche von Ende der 80er Jahre an zum Hauptfinanzier Rußlands werden sollten, waren weder in der Lage noch gewillt, die großen Kapitalbedürfnisse des Zarismus in den 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre allein zu befriedigen. Vor dem Krieg mit Preußen-Deutschland hatten sie dem Zarenreich umfangreiche Anleihen gegeben. Nach 1871 aber waren sie zunächst durch die Kontribution an Deutschland, den Wiederaufbau der eigenen Wirtschaft und des eigenen Heeres zu stark beansprucht, um Rußlands Finanzbedürfnissen allein gerecht werden zu können. Hinzu kam, daß Rußland und Frankreich durch ihre kolonialpolitische Orientierung — das eine verstärkt auf Mittelasien, das andere auf Nordafrika und Ostasien — außenpolitisch von Ende der 70er Jahre bis Mitte der 80er Jahre teilweise divergierende Interessen hatten. Frankreichs Bankiers zogen es daher vor, neben der finanziellen Untermauerung der französischen kolonialen Eroberung, der Türkei, einigen kleineren, schwachentwickelten europäischen Staaten wie Rumänien und Spanien sowie Lateinamerika Anleihen zu gewähren.4 Russische Wertpapiere fanden bis 1887 in Frankreich nur wenig Anklang, obwohl schon vor dieser Zeit mit französischen Finanzmitteln einige Kohlengruben und Hüttenwerke im Donbass und in Polen entstanden waren. In der Hauptform des damaligen russischen Kapitalimports, im Anleihekapital, blieb Frankreich bis 1887 weit hinter seinem deutschen Nachbarn zurück.® Das deutsche Kaiserreich konnte und wollte dem zaristischen Rußland auch auf dem Gebiete des Kapitalimports nützliche Dienste erweisen. Es verfügte nach dem französischen Milliardensegen und den wirtschaftlichen Erschütterungen in der Folgezeit, „Gründerkrise" und Große Depression, über relativ umfangreiche freie Kapitalien. Bis Anfang der 80er Jahre besaß es noch keine Kolonien. Große Teile der herrschenden Klassen des Deutschen Reichs und auch seine Regierung hielten es lange für abwegig, Deutschland kolonialen Abenteuern zuliebe seiner ökonomischen und militärischen Kraftreserven zu entblößen und seine Außenpolitik durch den Kampf um Kolonien zu belasten.6 a
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Vgl. Mac Innes, Charles Malcolm, An Introduction to the Economic history of the British Empire, London 1935, S. 242 ff., 248 ff., 254 ff.; Feis, Herbert, Europe the Worlds Banker 1870 tili 1914, New Häven 1930, S. 1 ff., 17 ff. Vgl. See, Henri, Französische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2, Jena 1936, S. 565 ff. Vgl. Manfred, A. Z., Vneänjaja politika Francii 1871-1891 godov, Moskau 1952, S. 62 f., 446 f. ; Girault, René, Emprunts russes et investissements français en Russie 1887-1914, Paris 1973, S. 139 ff., 202 ff.; Me Kay, John Patrick, Pioneers for Profit. Foreign Entrepreneurship and Russian Industrialization 1885-1913, Chicago 1970, S. 297 ff. Vgl. Nussbaum, Manfred, Vom „Kolonialenthusiasmus" zur Kolonialpolitik der Monopole. Zur deutschen Kolonialpolitik unter Bismarck, Caprivi, Hohenlohe, Berlin 1962, S. 20 ff.
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Zudem waren auch die Interessen am Balkan und an der Türkei noch zu unbedeutend dafür, daß sie Großunternehmer und Bankiers des Deutschen Kaiserreichs nennenswert vom großen russischen Markt abgelenkt hätten. Der von Bismarck geschaffene Staat und das Zarenreich wurden bis Ende der 70er J a h r e auch durch keine wesentlichen handelspolitischen, außenpolitischen oder gar innenpolitischen Differenzen getrennt. Rußland konnte daher f ü r einige relativ finanzkräftige deutsche Kreditinstitute zum weiten Betätigungsfeld werden. Diese Möglichkeit zu nutzen war um so verlockender, als das Geschäft im zaristischen Rußland wesentlich höhere Profitraten versprach als in Deutschland selbst. 7 Im benachbarten Land schien sich der deutschen Großbourgeoisie darüber hinaus die Chance zu bieten, mit Hilfe von Kapitalexport ein riesiges Gebiet zu einer ihrer Rohstoff- und Lebensmittelbasen und gleichzeitig zu einem ihrer wichtigsten Absatzmärkte machen zu können. Der Kapitalexport Deutschlands nach Rußland fügte sich außerdem hervorragend in Bismarcks Bündnispolitik ein und wurde von ihm daher lange gefördert. Als von Ende der 70er J a h r e an handels- und außenpolitische Widersprüche das Verhältnis zwischen den beiden befreundeten Monarchien zu trüben drohten, sah die deutsche Reichsregierung bis 1887 in der finanziellen Verflechtung beider Staaten ein Mittel, den starken Nachbarn im Osten wirtschafts- und außenpolitisch im Fahrwasser der deutschen Interessen halten zu können. 8 Auch der Regierung in Petersburg mußte es äußerst gelegen kommen, im kaiserlichen Deutschland, mit dem der Zarismus bis 1890 aus außen- und innenpolitischen Motiven liiert war und mit welchem Rußland rege Handelsbeziehungen verbanden, auch noch die russischen Finanzgeschäfte unter Dach und Fach, bringen zu können. Das schloß nicht aus, daß es im zaristischen Rußland in der hier behandelten Zeit starke Kräfte innerhalb des herrschenden Lagers gab, die gegen jeglichen Kapitalimport auftraten. Sie gewannen jedoch erst Ende der 90er J a h r e verstärkt Einfluß auf die Politik ihrer Regierung. Mit der erheblichen Zunahme des in deutschen Kreditbanken seit den 70er Jahren angelegten Kapitals und dessen allmählicher Konzentration in. großen Kreditinstituten gingen auch deutsche Bankunternehmen verstärkt zum Kapitalexport ins Zarenreich über. Angelockt durch die Rußlands Industrialisierung fördernde zaristische Gesetzgebung, u. a. den hohen Zollschutz f ü r industrielle Unternehmen, sowie die niedrigen Löhne, die hohen Profitraten und die reichen Rohstoffquellen des Landes, beteiligte sich auch deutsches Kapital in ständig zunehmendem Maße an der Finanzierung russischer Kredit-, Industrie-, Handels-, kommunaler und Versicherungsgesellschaften. Es soll hier mit einer Summe von 79 Mill. Rbl. (170,64 Mill. Mark) den ersten Platz eingenommen haben. Wenn diese Summe in den 90er Jahren auch auf 219,3 Mill. Rbl. (473,7 Mill. Mark) anwuchs und sich somit fast verdreifachte und auch vor dem ersten Weltkrieg noch vergrößerte, 7
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Lenin, W. I., Entwurf und Erläuterung des Programms der Sozialdemokratischen Partei, in: Werke, Bd. 2, S. 102. Baudis, Dieter/Nussbaum, Helga, Wirtschaft & Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin 1978, S. 90 f., 95 f.; Engelberg, Ernst, Deutschland von 1871-1897 (Deutschland in der Übergangsperiode zum Imperialismus), Berlin 1965, S. 50 f., 296 f.
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so verlor Deutschland in diesem Jahrzehnt doch die Vormachtstellung in diesem Geschäft und geriet bis 1914 auf den dritten Platz. 9 Vor allem die Textilindustrie und die metallverarbeitende Industrie Deutschlands exportierten Finanzmittel nach Rußland bzw. nach Kongreß-Polen, weil sie seit Ende der 70er Jahre durch die sich ständig verschärfenden russischen Schutzzollmaßnahmen in ihrem Warenexport auf diesem für sie wichtigen Absatzmarkt am stärksten gehemmt wurden und dadurch ökonomische Verluste erlitten. Eine wichtige Rolle beim deutschen Kapitalexport spielten daneben Industriezweige, die ein besonders hohes wissenschaftlich-technisches Niveau erreicht hatten und mit ihren Waren in Rußland eine Monopolstellung und damit Monopolprofite erkämpft hatten: die Elektroindustrie und die chemische Industrie. Dabei trat das deutsche Kapital in der russischen Industrie meist in Form von Filialwerken auf. 10 Der Kapitalexport Deutschlands nach Rußland besonders in Form von dividendentragendem Kapital (bei der der Kapitalexporteur durch Aktienbesitz Dividenden erhält) nahm im Vergleich zum Warenexport jedoch ebenso wie gegenüber allen anderen Staaten der Welt immer einen relativ unbedeutenden Platz ein. Diese Tendenz verstärkte sich wieder, als sich die Warenexportchancen ö
Den Umrechnungen in Mark liegt der Kurs von 1 Rbl. = 2,16 Mark zugrunde. - Von 1890 bis 1900 wuchs diese Art von Anlagen Belgiens in Rußland von 24,6 Mill. Rbl. auf 296,5 Mill. Rbl., Frankreichs von 66,6 Mill. Rbl. auf 226,1 Mill. Rbl. und Englands von 35,3 Mill. Rbl. auf 136,8 Mill. Rbl. an. Deutschlands Anteil am Gesamtkapitalimport Rußlands in diese Wirtschaftszweige sank 1890 bis 1900 von etwa 36,7 Prozent auf 21,67 Prozent. (Ol', P. V., Inostrannye kapitaly v narodnom chozjastve dovoennoj Rossii, Leningrad 1925, S. 15, 18 f. - Dieses Buch von Ol' enthält ebenso wie die Arbeiten von Ziv, V. S., Inostrannye kapitaly v russkich akcionernych predprijatijach, Teil 1: Germanskye kapitaly, Petrograd 1915; ders., Inostrannye kapitaly v russkoj gornozavodskoj promyslennosti, Petrograd 1917; Levin, I. I., Germanskie kapitaly v Rossii, Petrograd 1918; Eventov, L. Ja., Inostrannye kapitaly v russkoj promyslennosti, Moskau/Leningrad 1931, umfangreiche Angaben darüber, in welchen Wirtschaftszweigen Rußlands das ausländische Kapital angelegt wurde. Diese Angaben sind in Spezialfragen durch zahlreiche jüngere sowjetische Forschungen überholt. Eine neuere Gesamtstudie über die Rolle des ausländischen Kapitals in Rußland liegt jedoch leider bisher nicht vor. - Zur Diskussion über die Zuverlässigkeit der Angaben Ol's vgl. u. a. Bonwetsch, Bernd, Das ausländische Kapital in Rußland. Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1974, N. F. Bd. 23, 3, S. 412 f£.) Alle Angaben in Rubel sind auf den Kurs des Jahres 1898 umgerechnet, in dem Rußland zur Goldwährung überging. 1 Rbl. entspricht bis 1897 etwa 1,5 Rbl. Gold. 1U Zur Rolle des deutschen Kapitals von 1854 bis 1894 und z. T. bis Ende des 19. Jh. in Rußland vgl. Mai, Joachim, Das deutsche Kapital in Rußland 1850-1894, Berlin 1970, bes. S. 156 ff., 223 f., sowie ders., Deutscher Kapitalexport nach Rußland 1898 bis 1907, in: Russisch-deutsche Beziehungen von der Kiever Rus' bis zur Oktoberrevolution, hrsg. von H'einz Lemke/Bruno Widera, Berlin 1976, S. 207 ff. (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 19). - Zur Rolle des deutschen Kapitals in der russischen Elektroindustrie vgl. Djakin, V. S., Germanskie kapitaly v Rossii. Elektroindustrija i elektriceskij transport, Leningrad 1971. — Zu Teilfragen deutschen Kapitalexports nach Rußland vgl. ders., Aus der Geschichte der russischdeutschen Wirtschaftsbeziehungen, in: Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus, S. 163 ff.
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großer Teile der deutschen Industrie auf dem russischen Markt — dieser stand als Absatzmarkt für Deutschland nach Großbritannien und Österreich-Ungarn an dritter Stelle — nach Abschluß des Handelsvertrages von 1894 erheblich verbesserten und hohe Einnahmen versprachen.11 Der deutsche Kapitalexport nach Rußland in Form von dividendentragendem Kapital spielte bei den in den 80er Jahren einsetzenden Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit im Unterschied zu den zoll- und handelspolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland sowie zum Kapitalexport in Form von Leihkapital (in der der Profit durch feststehende Zinsen für erworbene Obligationen realisiert wird) eine untergeordnete Rolle. Von der deutschen Regierung wurde dem dividendentragenden Kapitalexport nach Rußland offensichtlich keine nennenswerte politische Bedeutung beigemessen. In den Jahren des Lombardverbotes — 1887 bis 1894 — wuchs dieser sogar weiter an. Er wurde von den deutschen Regierungsstellen zur Kenntnis genommen und stillschweigend geduldet — sie konnten dem Prozeß wohl auch nicht entgegenwirken. Im Unterschied zur Pariser Börse wurde nur ein sehr geringer Teil dieser Papiere auf der Berliner Börse gehandelt.12 Ganz andere Aufmerksamkeit schenkte die Regierung jedoch dem Export von zinstragendem bzw. Leihkapital, welcher der Kontrolle und Genehmigung der Zulassungsstelle an der Berliner Börse unterlag. In dieser für die deutschen Banken wichtigsten und umfangreichsten Art des Kapitalexports sah sie ein bedeutendes „Mittel der Außenpolitik"13, und sie wußte dieses Mittel Rußland gegenüber auch sehr zielstrebig einzusetzen. Für die am Rußlandgeschäft interessierten deutschen Banken war bis 1887 das Geschäft mit Wertpapieren russischer Eisenbahngesellschaften, und zwar vor allem mit ihren Obligationen, deren feststehende Zinsen vom zaristischen Staat garantiert wurden, das vorherrschende Betätigungsfeld. Die Konzentrierung deutschen Bankkapitals auf Export von zinstragendem Leihkapital entsprach auch der Gesamtstruktur der deutschen Kapitalanlagen im Ausland. Der Kapitalexport wird bis 1914 zu etwa % aus Export von Leihkapital geschätzt und bildete somit ebenso wie in den anderen kapitalexportierenden Ländern in dieser Zeit die wichtigste Art der ausländischen Kapitalanlagen überhaupt.14 Darüber hinaus war sie durch die Besonderheiten des damaligen russischen Kapitalmarktes als auch durch die diesem entsprechende Wirtschaftspolitik der zaristischen Regierung bedingt. Vorherrschend im russischen Kapitalexport war bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges der Import von Leihkapital. Die auch nach der seit 1861 durchgeführten relativ späten „Revolution von oben" weiterexistierenden halbfeudalen Überreste hemmten im Zarenreich bis 1917 die Akkumulation von freiem 11
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Nussbaum, Helga, Außenhandelsverflechtung europäischer Länder und imperialistische deutsche Mitteleuropapläne 1899 bis 1914, in: JfG, Bd. 15, 1977, S. 38 ff., 54 ff.; Geyer, Dietrich, Der russische Imperialismus, Göttingen 1977, S. 126. Eventov, S. 56. Vgl. u. a. Vogel, Barbara, Deutsche Rußlandpolitik. Das Scheitern der deutschen Weltpolitik unter Bülow 1900-1906, Düsseldorf 1973, S. 57, 73 f. Nehls, Katja, Zur Bewegung der Kapitalexporte des deutschen Imperialismus, in: JbW, 1963, IV (1964), S. 67; dies., Kapitalexport und Kapitalverflechtung, Berlin 1970, S. 31.
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Kapital. Ein großer Teil der Summen, welche die Petersburger Regierung aus den Volksmassen Rußlands und seiner kolonialen Randgebiete durch Steuern und Abgaben herauspreßte, und viele der laufend anwachsenden Zolleinnahmen wurden unproduktiv — für Rüstung, Abzahlung von Staatsschulden, Hypotheken an Grundbesitzer u. a. — verwendet.15 Die meisten Gutsbesitzer — die ökonomisch stärkste Klasse Rußlands — zogen oft ein luxuriöses Leben produktiver Betätigung vor. Investierten sie Kapital, so taten sie dies vor allem in der Landwirtschaft, in der landwirtschaftlichen Industrie (in Zuckerfabriken, Schnapsbrennereien und Mühlen), manchmal im Handel, seltener im Verkehrswesen, in der Textilindustrie, in der neu entstehenden Schwerindustrie oder womöglich in der elektrotechnischen oder chemischen Industrie. Ausbeutungsund Profitraten in den oft mit veralteter Technologie betriebenen russischen Industriebetrieben, z. B. in der Textilindustrie Moskaus oder der Schwerindustrie des Urals, sowie auch im russischen Handel waren sehr hoch.16 Dadurch fehlte den russischen Unternehmern in der Regel der Anreiz, ihre Kapitalien besonders in Form von Aktien in neuen Betrieben anzulegen, die hohe Kapitalanlagen brauchten und mit dem Profit in Form von Dividenden auf sich warten ließen.17 Das private Gründer- und Unternehmertum war somit in Rußland, obwohl es vom zaristischen Finanzministerium großzügig forciert wurde, relativ schwach entwickelt. Die Petersburger Regierung mußte daher versuchen, Kapital im Land zu konzentrieren. Sie tat das u. a. durch eine Gesetzgebung, die vor allen Dingen den Import von ausländischem Leihkapital besonders in der Art von Staatsanleihen und staatlich garantierten Eisenbahnanleihen förderte. Hauptaufmerksamkeit der zaristischen Wirtschaftspolitik, die auf Beschleunigung der gesamten ökonomischen Entwicklung des Landes im Rahmen der bestehenden halbfeudalen Gesellschaftsverhältnisse orientiert war, galt von den 60er Jahren an bis zur Jahrhundertwende sowie in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg dem Aufbau bzw. der Erweiterung des Eisenbahnnetzes. Im Ausbau eines modernen Verkehrswesens sah die Petersburger Regierung nicht nur eine wichtige Voraussetzung dafür, die Zurückgebliebenheit ihres Staates hinter West- und Mitteleuropa zu überwinden, Rußlands landwirtschaftliche Produktion und seinen Export zu erweitern und seine Handels- und Zahlungsbilanz zu verbessern. Sie maß dem Eisenbahnbau auch wichtige strategische, , innen- und außenpolitische Bedeutung bei. Spezielle Kommissionen der Regierung legten schon von den 60er Jahren an den Verlauf der wichtigsten Eisenbahnlinien fest und kontrollierten ihren Bau. Und immer war die zaristische
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Pogrebinskij, S. 93ff.; Gindin, Gosudarstvennyj bank, S. 21; Zahn, Friedrich, Die Finanzen der Großmächte, Berlin 1908, S. 23, Tabellenanhang, Rußlands Staatsausgaben in den 90er Jahren. Gindin, 1. F., Eusskaja burzuazija v period kapitalizma, ee razvitie i osobennosti, in: Istorija SSSR, 1963, 2, S. 67 ff. In den wichtigsten russischen Baumwollfabriken betrug z. B. der Profit 1887 15-45 Prozent (Livsic, R. S., Razmescenie promyslennosti v dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1955, S. 148). In der metallurgischen Industrie war er Mitte der 90er Jahre 26 Prozent hoch (Solo'ev, Ju. V., St. Peterburgskij Kommerceskij bank i finansovyj kapital, in: Monopolii i inostrannyj kapital v Rossii, Moskau/Leningrad 1962, S. 385).
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Regierung bemüht, die Finanzierung des geplanten Vorhabens mit den verschiedensten Mitteln und Methoden zu unterstützen. 18 Um die ohnehin hohe Auslandsverschuldung des Staates nicht noch durch die hohen Kosten f ü r den Eisenbahnbau direkt zu vergrößern, gewährte die Regierung von Ende der 60er Jahre bis zur Jahrhundertwende und dann wieder in den ersten Jahren vor dem Weltkrieg dem privaten Eisenbahnbau jede erdenkliche Hilfe. Insbesondere förderte sie hier mit den verschiedensten Mitteln den Kapitalexport. 19 Um die ausländischen Käufer nicht durch das mit Erwerb von Aktien neu entstehender privater russischer Eisenbahngesellschaften verbundene Profitrisiko abzuschrecken, später wohl auch, um die Kontrolle über diese Gesellschaften vorwiegend in russischen Händen zu halten, wurde auf Veranlassung des Finanzministeriums das Kapital der Eisenbahngesellschaften vor allem aus Obligationen gebildet. Das Grundkapital dieser Gesellschaften lautete in der Regel nicht auf Kredit-, sondern auf Metallrubel mit feststehender Parität in ausländischer Valuta. 20 Um die ausländischen Banken f ü r Rußlands Eisenbahnobligationen zu interessieren, wurden deren Zinsen hoch gehalten (bis Ende der 80er J a h r e 5, dann meistens 4 bzw. 472 Prozent) und vom Zarenreich in der Regel vom Tag der Ausgabe an über ihre ganze, meist acht, später sechs J a h r zehnte lange Laufzeit hinaus garantiert. Rußland garantierte außerdem die Tilgung dieser Obligationensanleihen, oft auch eine bestimmte Dividende auf die Aktien der Eisenbahngesellschaften. Die russischen Eisenbahnpapiere galten daher in Deutschland als besonders sichere Kapitalanlage. Während in den 50er und zu Anfang der 60er Jahre, abgesehen von der Strecke Moskau — Petersburg (1851), vorwiegend strategisch wichtige Linien (Petersburg—Warschau 1862) erbaut worden waren, folgten in den 60er bis 80er Jahren die von ökonomischer Wichtigkeit. In diesen drei Jahrzehnten wurden die Strekken gelegt, die Zentralrußland mit den Getreidezentren verbanden, so Moskau — Niznyj-Novgorod (1862); M o s k a u - R j a z a n (1864)-Kozlov (1866)-Voronez (1870); M o s k a u - K u r s k (1868)-Kiev (1868); Moskau-Jaroslavl' (1870); K o z l o v Saratov (1870) und Sysran — Vjaz'ma (1874). Des weiteren entstanden in dieser Zeit die Linien, welche die Getreidegebiete des Zarenreiches mit seinen Häfen oder mit der westlichen Landesgrenze verbanden und somit den Getreideexport erweiterten bzw. teilweise erst ermöglichten: Kursk — Charkov — Rostov (1869); G h a r k o v - Odessa (1872); Voronez - Rostov (1870); Riga - Dinaburg (1861)Vitebsk (1866)-Orel (1868)-Grjassi (1870)-Zarizin (1871); Charkov - Sevastopol (1874); Libava—.Minsk (1873)-Romny (1874); M o s k a u - B r e s t (1871); K i e v Brest —Graevo (1873). Daß ein großer Teil von ihnen auch strategisch bedeutend war, braucht nicht betont zu werden. Gleichzeitig begann in den 70er und 80er Jahren die Erschließung des Kubangebietes und des Kaukasus: Poti —Tiflis (1872); R o s t o v - V l a d i k a v k a s (1875); Baku - Tiflis - Batum (1883); die Verbes10
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Solov'eva, A. M., Zeleznodoroznyj transport Rossii vo vtoroj polovine XIX. v., Moskau 1975, S. 88 ff., 95 ff., 153 f£.; Pogrebinskij, A. P., Stroitel'stvo zeleznych dorog v poreformennoj Rossii i finansovaja politika carizma (60-90-ye gg. XIX. v.), in: Istoriceskie zapiski, Bd. 47, Moskau 1954, S. 150 ff. Solov'eva, Zeleznodoroznyj transport, S. 95ff.; Kratkij, ocerk, razvitija nasej zeleznoj dorogi (1904-1913), Izdanie ministerstva Finansov, St. Petersburg 1914, S. 6 f. Bis zum Übergang Rußlands zur Goldwährung (1898) bestand Rußlands Währung aus Kredit- (Papier-) und Metallwährung, deren Kurse ständig schwankten.
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serung des Verkehrs von Zentralrußland zum Donbass: Jekaterinskaja-Linie (1884), zum Ural: Samara - Orenburg (1877); Perm — Jekaterinburg (1878); die Linien Samara —Ufa (1888) sowie nach Mittelasien: Kaspisches Meer —Samarkand (1886). In den, 90er Jahren schließlich wurde vor allen Dingen mit staatlichen Mitteln das Eisenbahnnetz östlich des Urals ausgebaut: Ufa —Celjabinsk (1892) —Ob (1896) — Krasnojarsk (1898)-Irkutsk (1899) sowie Vladivostok - Chabarovsk (1897); die Strecken in Mittelasien und im Kaukasus verlängert: Samarkand — Taskent (1899); Tiflis-Kars (1899) sowie mit Hilfe privater Eisenbahngesellschaften das' Netz im europäischen Rußland erweitert: Rjazan —Kazan (1893); Tambov — Uralsk (1894); Jaroslavl' - Rybinsk (1898); Vologda - Archangelsk (1898); Tichorezk - Zarizyn (1899), Moskau - Brjansk (1899), Dankov - Smolensk (1899) u. a.21 Insgesamt, wurde das russische Eisenbahnnetz von 1860 bis 1890 von 1 600 km auf 30 600 km erweitert. Davon gehörte der überwiegende Teil privaten Gesellschaften. Der Staat war mit nur etwa zehn Prozent, zehn Jahre später mit etwa zwanzig Prozent beteiligt. Rußlands Anteil am Welteisenbahnnetz war in diesem Zeitraum auf fünf Prozent angewachsen. Im Unterschied zu den größten mittelund westeuropäischen Industriestaaten sowie den USA erreichte Rußland seinen Höhepunkt im Eisenbahnbau jedoch erst in den 90er Jahren. Es erbaute von 1889 bis 1899 20 000 km Eisenbahnlinien und verfügte somit zu Ende des 19. Jh. über fast 50 000 km bzw. etwa 6,5 Prozent des gesamten Eisenbahnnetzes der Welt. 22 Prozent davon gehörten dem Staat.22 Diese Ergebnisse im Eisenbahnbau konnte Rußland nur unter Heranziehung ausländischer, darunter bis Anfang des 20. Jh. besonders deutscher Finanzmittel erzielen. Doch der Verkauf, die Abzahlung und die Zinszahlungen auf diese Anleihen kosteten dem ohnehin stark verschuldeten Staat 23 zusätzliche Hunderte von Millionen. Die Geschichte der Finanzierung der russischen Eisenbahngesellschaften durch die Vermittlung deutscher Banken — die Obligationen dieser Gesellschaften wurden von den Banken auf der Börse in der Regel an kleine Bankiers weiterverkauft, die in ihnen eine gute Form des Sparens sahen — läßt sich in mehrere Etappen unterteilen: Schon in den 60er und 70er Jahren des 19. Jh. hatten deutsche Banken eine gewisse Rolle beim Aufkauf von damals meist fünfprozentigen Obligationen Solov'eva, Zeleznodoroznyj transport, S. 87 f£., 193 ff., 234 f£., 296 f£.; Mertens, Otto, 30 let (1882-1911) russkoj zeleznodoroznoj politiki i ee ekonomiceskoe znacenie, Petrograd 1923, S. 39 ff. - Über die Ursachen des Übergangs Rußlands zum staatlichen Bahnbau vgl. u. a. Gindin, Gosudarstvennyj bank, S. 42 f. 22 Solov'eva, Zeleznodoroznyj transport, S. 93, 149, 231, 296 ff. - Zu Beginn des Jahres 1914 hatte Rußland dann über 70 400 km Eisenbahnlinien erbaut; 34 Prozent von ihnen gehörten inzwischen dem Staat (dies., K voprosu o roli finansovogo kapitala v zeleznodoroznom stroitelstve Rossii nakanune I. mirovoj vojny, in: IstoriCeskie zapiski, Bd: 55, Moskau 1956, S. 174 ff.). "a Die gesamte russische Staatsschuld im Ausland stieg allein von 1861 bis 1892 um 2,45 Mrd. Rbl. an (Gindin, Gosudarstvennyj bank, S. 50, 63). Sie betrug am 1. 1.1914 5,4 Mrd. Rbl. (ders., O velicine i Charaktere russkogo gosudarstvennogo dolga v konce 1917 g., in: Istorija SSSR, 1957, 5, S. 170 f.).
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verschiedener, noch kleiner privater russischer Eisenbahngesellschaften gespielt. Bis 1879 wurden von deutschen Banken meinen Berechnungen nach 17 derartige Obligationsanleihen im Werte von fast 300 Mill. Mark (etwa 140 Mill. Rbl.)1' gehandelt. Die Geschäfte mit diesen Papieren wurden in der Regel von einigen Privatbanken (Gebr. Sulzach, A. Siebert, F. W. Krause, Berliner Handelsgesellschaft) abgewickelt. Seltener beteiligten sich die Direction der Disconto-Gesellschaft und das Bankhaus Mendelssohn & Co. Im Unterschied zu den folgenden Jahrzehnten waren die russischen Kreditbanken noch nicht am internationalen Geschäft mit den russischen Eisenbahnoblligationen beteiligt.24 Mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals in deutschen Großbanken und der Herausbildung von Banksyndikaten beteiligen sich seit den 80er Jahren vor allem bestimmte große Berliner Kreditinstitute und eine Privatbank in Frankfurt a. M. immer mehr an den in Deutschland im Unterschied zu Frankreich und Großbritannien inzwischen äußerst beliebt gewordenen Geschäften mit Eisenbahnobligationen des mit dem Wilhelminischen Deutschland verbündeten und trotz beginnender zollpolitischer Differenzen im regen Handelsaustausch stehenden zaristischen Rußland. Zu dieser Bankgruppe, aus der sich dann von 1894 an das sogenannte Russenkonsortium entwickelte, welches die rentablen Transaktionen mit russischen Eisenbahnpapieren erfolgreich monopolisierte, gehörten auf deutscher Seite in den 80er Jahren die Direction der DiscontoGesellschaft, das Bankhaus S. Bleichröder, M. A. von Rothschild (Frankfurt a. M.), teilweise auch die Bankhäuser Mendelssohn & Co. und R. Warschauer sowie nach harten Kämpfen auch die Berliner Handelsgesellschaft. Diesen deutschen Banken schloß sich in der Regel auch das niederländische Bankhaus Lippmann, Rosenthal & Co. an. Von 1882 an gehörten zu diesem Konsortium — ganz offensichtlich auch auf Betreiben des russischen Finanzministeriums — fast immer die damals einflußreichsten, miteinander sowie mit den wichtigsten russischen Eisenbahngesellschaften teilweise durch Personalunion, Besitz von Aktienkontrollpaketen u. a. eng verbundenen drei Petersburger Kreditbanken: die St. Petersburger Internationale Handelsbank, die St. Petersburger Discontobank und die Russische Bank für Auswärtigen Handel25, mit allerdings noch sehr schwankenden Gesamtquoten (20—52 Prozent).
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Mai, Das deutsche Kapital, S. 44 f., 139 ff. - Meine Berechnungen basieren auf: ZStAP, Zulassungsstelle an der Berliner Börse, 19; Central'nyj Gosudarstvennyj Istoriceskij Archiv SSSR v Leningrada (im folg.: CGIA SSSRL), F. 626, op. I, delo 660, 665, 674, 731, 746; ebenda, F. 295, op. I, delo 169; ebenda, F. 563, op. 2, delo 228, 243; Migulin, P. P., Russkij Gosudarstvennyj Kredit, Bd. 1, Charkov 1899, S. 259 ff.; Salings Börsenpapiere, Bd. 2, (finanzieller) Teil (Berliner Börsen), Berlin 1885 bis 1892; Handbuch für Inhaber russischer Fonds, Gedruckt im Auftrage der Kreditkanzlei des russischen Finanzministeriums; Berlin 1896 und 1913. Die Discontogesellschaft 1851-1901. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin 1902, S. 54 ff. Otcety Russkogo banka dlja vnesnej torgovly za 1870-1913 ff., St. Petersburg 1871 bis 1914; Otcety St. Petersburgskogo Mezdunarodnogo kommerceskogo banka za 1870—1914 gg., St. Peterburg 1871—1915; Otcety St. Peterburgskogo Ucetnossudnogo banka za 1870-1912 gg., St. Petersburg 1871-1913; ferner die Otcety der genannten russischen Eisenbahngesellschaften für die gleichen Jahre; Mai, Das deutsche Kapital, S. 63 ff., 156 ff.; Kumpf-Korfes, Sigrid, Bismarcks „Draht nach Rußland". Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891, Berlin 1968, S. 146 f.
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Mit Beteiligung deutscher Banken und dem Kreditinstitut in Amsterdam w u r den in den 80er Jahren 18 russische, seit 1885 vierprozentige staatlich garantierte Eisenbahnobligationen im Werte von etwa 875 Mill. Mark (405 Mill. Rbl.) verkauft. An mindestens zwölf dieser Anleihen beteiligten sich zwei oder drei der genannten Petersburger Banken. Leiter des sich konsolidierenden Syndikats waren in acht Fällen die Direction der Disconto-Gesellschaft, dreimal S. Bleichröder, dreimal die Berliner Handelsgesellschaft. 26 Die Geschäfte mit russischen Eisenbahnpapieren brachten den deutschen Banken große Gewinne. Sie verdienten an der Realisierung der Anleihen etwa eineinhalb bis zwei, manchmal sogar drei Prozent der Gesamtsumme der Anleihe, später an der Zahlung der Zinscoupons und der Amortisation der Obligationen, teils auch an der Auszahlung der Dividenden f ü r die Aktien sowie an der Konvertierung der Anleihen. Oft wurde ein großer Teil der Einnahmen aus dem Verkauf der russischen Eisenbahnpapiere in den deutschen Banken deponiert. So waren letztere bis in die 80er Jahre hinein in bestimmtem Grade Finanziers des zaristischen Rußlands. Die deutsche Schwerindustrie erhielt durch den Eisenbahnbau im benachbarten Rußland f ü r ihre Erzeugnisse zunächst einen umfangreichen Absatzmarkt. Ein großer Teil des mit Hilfe deutscher Großbanken in Deutschland realisierten Kapitals kam ihr auf diese Weise eine bestimmte Zeit lang zugute. 1877 war z. B. ein Auftrag des russischen Verkehrsministers über 400 Lokomotiven und 10 000 Waggons in erster Linie an deutsche Firmen gegangen. 27 1885 konstatierte ein Kongreß russischer Eisenbahnindustrieller erbittert, daß fast 2/3 aller in Rußland erbauten Eisenbahnlinien mit Hilfe ausländischer Schienen errichtet worden seien und von dem restlichen Drittel nochmals der Schienen aus Werken stammten, die mit ausländischem Roheisen und ausländischer Kohle arbeiteten. 28 Noch 1896 stammten von allen 8 123 Lokomotiven auf den Eisenbahnen im europäischen Rußland 1 738 aus Deutschland. 29 Die Geschäfte der deutschen Schwerindustrie mit nach Rußland exportiertem Eisenbahnmaterial wurden jedoch bereits 1877 und 1881 dadurch beeinträchtigt, daß die Petersburger Regierung alle Einfuhrzölle erhöhte und außerdem dazu überging, die bisherigen Importzollvergünstigungen f ü r private russische Eisenbahngesellschaften (speziell f ü r Schienen und rollendes Material) rückgängig zu machen. Sie wurden von Mitte der 80er Jahre an ernsthaft gefährdet bzw. teilweise nahezu unterbrochen, als Rußland seine Importzölle f ü r Erzeugnisse der 28
A n den 18 Syndikaten beteiligten sich folgende deutsche und russische Bankhäuser: Direction der Discontogesellschaft (14mal), M. A. v. Rothschild, Frankfurt a. M. (9mal), S. Bleichröder (7mal), Mendelssohn & Co. (6mal), R. Warschauer (5mal), Berliner Handelsgesellschaft (3mal), St. Petersburger Internationale Handelsbank (llmal), St. Petersburger Discontobank (lOmal), Russische Bank für Auswärtigen Handel (4mal). (CGIA SSSRL, F. 626, op. I, delo 107, 119, 651, 652, 654, 660, 674; F. 268, op. 3, delo 206, 1389; F. 598, op. II, delo 458, 463, 465; ZStAP, Deutsche Bank, Secretariat 1, 2; ebenda, Zulassungsstelle . . . , 28; Migulin, Russkij Gosudarstvennyj Kredit, Bd. 2, Charkov 1900; Fürstenberg, Carl, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers '1870-1914, hrsg. von Hans Fürstenberg, Berlin 1931; Die Discontogesellschaft, S. 54 ff.; Salings Börsenpapiere, Bd. 2; Handbuch für Inhaber.) Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz, Nr. 43, 5. 6.1878.
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Russkij Vestnik, Nr. 180, 2.12.1885, S. 1109.
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Stahl- und Eisenindustrie, insbesondere für Schienen, Lokomotiven und Waggons bedeutend erhöhte und von 1887 an außerdem damit begann, eine allgemeine Reform seines Zolltarifs' vorzubereiten, die vier Jahre später in Kraft trat. 30 Während der Anteil der eisenerzeugenden und eisenverarbeitenden Industrie am Export Deutschlands nach Rußland 1880 etwa 20 Prozent ausgemacht hatte, ging er 1886 auf knapp 10 Prozent zurück. Der Eisenbahnschienenexport sank schon von 1880 bis 1884 von 3,45 Mill. Mark auf 0,080 Mill. Mark, der von Lokomotiven und -mobilen von 4,245 Mill. Mark auf 0,840 Mill. Mark.31 Den am Rußlandgeschäft interessierten deutschen Banken gelang es in den 80er Jahren offensichtlich nicht mehr, für neuentstehende russische Eisenbahngesellschaften, an deren Finanzierung sie sich beteiligten, Zollvergünstigungen für die deutsche Schwerindustrie zu erwirken. Sie waren daher — offensichtlich erfolgreicher — darum bemüht, die russische Eisenbahntarifpolitik dahin gehend zu beeinflussen, den deutschen Export von Erzeugnissen der Schwerindustrie möglichst wenig zu belasten. So war es wohl auch ihrem Einwirken zu verdanken, daß die Transportgebühren auf den privaten russischen Eisenbahnen für Erzeugnisse der Schwerindustrie von der Westgrenze nach Zentralrußland niedriger lagen als die vom Ural nach Moskau. Das wurde durch die Tätigkeit von S. Ju. Vitte im zaristischen Finanzministerium allerdings schon 1889—1893 verändert. 32 Nicht alle Teile des herrschenden Lagers im kaiserlich-deutschen Reich begrüßten jedoch diese Tätigkeit des deutschen Finanzkapitals im benachbarten Rußland. Im Unterschied zu großen Teilen der deutschen Großbourgeoisie, insbesondere denen des Bankkapitals, war vor allen Dingen den preußischen Junkern der Kapitalexport Deutschlands nach Rußland, dem Hauptkonkurrenten für ihre Agrarerzeugnisse auf dem deutschen Markt, von jeher ein Dorn im Auge. Sie verloren ihrem „monarchischen Verbündeten" gegenüber endgültig die Geduld, als sich während der Balkankrise 1885—1887 die außenpolitische „Undankbarkeit" des Zarenreichs erneut bestätigte und außerdem im Gefolge der weiteren Verschärfung der Weltagrarkrise und mit dem Ende einer vierjährigen Depression das Kapital auf den deutschen Börsen teuer zu werden begann. 33 Die preußischen Junker legten ihre Ansichten zu dieser Frage u. a. in der ihnen nahestehenden Presse und im Reichstag dar. Sie fanden besonders Gehör bei jenen Vertretern ihrer Klasse, die wichtige Positionen im System des preußisch-deut29 311
31
32
33
Kumpf-Korfes, S. 145. Sobolev, M. N., Tamozennaja politika Rossii vo vtoroj polovine XIX veka, Tomsk 1911, S. 417 ff., 503 ff., 551 ff., 575 ff.; Pokrovskij, S., Vnesnjaja torgovlja i vnesnjaja torgovaja politika Rossii, Moskau 1947, S. 275 lt. ZStAP, Rdl, 4858, Bl. 135, Boetticher und Scholz an Bismarck, 13.12.1886; ZStAM, Rep. 120, C XIII, 6 a, Nr. 27, Vol. 63, Bl. 160-205, Kaiserlich-Statistisches Amt an Bismarck, 31. 5.1886. Kumpf-Korfes, S. 145; Sepelev, L. E., Carizm i burzuazija vo vtoroj polovine XIX veka, Leningrad 1981, S. 170 f. - Vitte war im März 1889 zum Direktor des neugegründeten Departements für Eisenbahnangelegenheiten beim Finanzministerium ernannt worden. Hallgarten, George W. F., Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem ersten Weltkrieg, Bd. 1, München 1963, S. 253 f., 263 f.
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sehen Militarismus einnahmen und — im Unterschied zu Reichskanzler Bismarck — einen Krieg zwischen den beiden Monarchien, Deutschland und Rußland, f ü r unvermeidbar hielten. Einer von ihnen war der Chef des Generalstabes, Generalfeldmarschall von Waldersee. Er lehnte sowohl die Unterstützung des russischen Eisenbahnbaus durch deutsches Kapital als auch die wachsende Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Getreideimport aus militärstrategischen Überlegungen ab.3* Diese einflußreichen Kreise des kaiserlichen Deutschlands waren von jenen Teilen der Großbourgeoisie, besonders der Schwerindustrie, unterstützt worden, die im Kampf gegen die russischen Wertpapiere in Deutschland ein wirksames Druckmittel sahen, mit dessen Hilfe sie Abstriche von der f ü r sie immer spürbarer werdenden zaristischen Industrieschutzzollpolitik zugunsten ihres umfangreichen Warenexports ins zaristische Rußland zu erwirken hofften. 35 Im Unterschied zu diesen Auffassungen der Großagrarier, der Exponenten des Militarismus und teilweise auch der Industriebourgeoisie hatte die deutsche Regierung unter Reichskanzler Bismarck bis 1887 den Kapitalexport deutscher Großbanken nach Rußland in der Form von Leihkapital im großen und ganzen gebilligt. Sie hoffte, diesen ihren außenpolitischen Plänen dienstbar machen zu können. So lehnte es Bismarck z. B. 1876 nicht nur kategorisch ab, als Antwort auf russische Zollerhöhungen gegen den Kauf russischer Wertpapiere in Deutschland aufzutreten. Er verschaffte Rußland sogar ein Jahr später durch' die Vermittlung Bleichröders eine Anleihe von 100 Mill. Rbl., um seinen „Verbündeten" f ü r die Auseinandersetzung mit der Türkei finanziell zu stärken. Noch im F r ü h j a h r 1886 wandte er sich gegen einen Vorschlag der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, der Petersburger Regierung mit der Verhinderung der von ihr geplanten Konvertierungsanleihe zu drohen, um sie dadurch zu zwingen, auf weitere Erhöhungen ihrer Schutzzölle zu verzichten. 36 Als sich jedoch Anfang 1887 zeigte, daß die zaristische Regierung die Interessen ihrer Großindustriellen durch zollpolitische Maßnahmen noch entschiedener als bisher verteidigen wollte, begann auch Bismarck, den Gegnern des deutschen Kapitalexports nach Rußland Gehör zu schenken. Im Auftreten gegen den Export von Leihkapital an Deutschlands großen Nachbarn im Osten sah nun auch er eines der letzten Mittel, mit denen er erhoffte, Rußland sowohl zu zollpolitischen als auch zu außenpolitischen Zugeständnissen an Deutschland zu
Seeber, Gustav, Bismarcks Sturz. Zur Rolle der Klassen in der Endphase des preußisch-deutschen Bonapartismus 1884/85 bis 1890, Berlin 1977, fe. 153 ff.; Denkwürdigkeiten des Generalfeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, hrsg. von Heinrich Otto Meisner, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1922, S. 310ff.; Canis, Konrad, Bismarck und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des Generalstabs 1882 bis 1890, Berlin 1980, S. 207 ff. 35 Kumpf-Korfes, S. 155; Müller-Link, Horst, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890, Göttingen 1967, S. 323. ;l
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Insges. Deutschland Lippmann, Rosenthal & Co
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Insges. Ausland St. Petersb. Intern. Handelsbk. St. Petersb. Discontobk. Russ. Bk. f. Ausw. Handel Wolga-Kama-Bk. Moskauer Kaufmannsbk. Russ.-Chines. Bk. Andere russ. Banken Insges. Rußland
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Kommerzbank. Oft wurden nach Abschluß der Syndikatsverträge mit der deutschen Seite und der Eisenbahngesellschaft unter den russischen Banken die Teilnehmerquoten noch einmal verändert: Entweder verzichteten die übrigen russischen Banken zugunsten des führenden russischen Bankinstituts auf einen Teil ihres Anteils oder sie taten dies auch zugunsten anderer russischer Banken. Den russischen Banken gelang es, u. a. auch dank der Unterstützung durch ihr Finanzministerium, als gleichberechtigter Partner in den internationalen Bank®7 Diese Tabelle wurde auf der Grundlage der 15 Syndikatsverträge aufgestellt. Unter den Banken nach Abschluß der Verträge festgelegte Veränderungen wurden hier nicht berücksichtigt (CGIA SSSRL, F. 628, 'op. I, delo 104, 119, 121, 195, 665, 670, 686, 721, 723, 725, 738, 740, 741, 746, 747, 756, 757, 758, 766, 767, 1208; ebenda, F, 598, op. II, delo 467; ebenda F. 595, op. II, delo 118, 119; ebenda, F. 268, op. III, delo 1421, 1426, 1433, 1434).
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Solov'eva, O roli finansovogo kapitala, S. 173 ff.
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neugegründeten Eisenbahngesellschaften berücksichtigt. Von ihrer Gesamtsumme in Höhe von 445,6 Mill. Rbl. übernahmen deutsche Banken nur noch 19,8 Mill. Rbl., d. h. knapp fünf Prozent — alle anderen Obligationen wurden vorwiegend in Paris, teilweise auch in London verkauft.87 Dieser Prozeß korrespondierte sowohl mit den weiter zunehmenden handelsals auch den außen- und militärpolitischen Differenzen zwischen dem Wilhelminischen Deutschland und dem zaristischen Rußland im letzten Jahrzehnt vor Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges. Die Interessen des deutschen Bankkonsortiums, welches das Geschäft mit russischen Eisenbahnobligationen in Deutchland monopolisiert hatte, konnten trotz seiner intensiven Bemühungen bei der deutschen Reichsregierung, diesem Prozeß entgegenzutreten88, nicht mehr in dem Maße wie in den beiden ersten Dritteln der 80er Jahre und Mitte der 90er Jahre berücksichtigt werden. Für die Expansionspolitik des deutschen Imperialismus standen gegenüber Rußland wie gegenüber den meisten anderen Staaten der Welt die Interessen der Industriewarenexporteure vor denen der Kapitalexporteure im allgemeinen und vor denen der Exporteure von Leihkapital im besonderen. Das imperialistische Deutschland strebte vor dem ersten Weltkrieg danach, sich auch Rußland gegenüber wieder wesentlich stärker zum Waren- als zum Kapitalexporteur zu entwickeln und hatte den Verbündeten Rußlands, England und Frankreich, schon bedeutende Verluste bei deren russischen Warenexporten zugefügt.89 Die Vorbereitungen des Zarenreichs in den letzten Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges für den Abschluß eines neuen Handelsvertrages mit Deutschland zeigten, daß die Konkurrenz vor allem des deutschen Industriewarenimports die Interessen der mit den Petersburger Banken inzwischen eng liierten russischen Industriemonopole am empfindlichsten traf und die zaristische Regierung wohl auch deshalb gezwungen war, den Kapitalimport Frankreichs und Englands auch in die russischen Eisenbahngesellschaften zu erweitern. Trotz dieser Entwicklung befanden sich jedoch noch russische Wertpapiere in einer Summe von etwa fünf Milliarden Mark in Deutschland, und der Anteil Rußlands an den Gesamtkapitalanlagen Deutschlands im Ausland betrug somit 1914 14,3 Prozent. Mindestens ein Drittel davon waren Papiere privater russischer Eisenbahngesellschaften.90 87 88
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Ebenda, S. 177 ff. Lemke, Heinz, Politik und Ökonomie in den deutsch-russischen Beziehungen vor dem ersten Weltkrieg: Bestrebungen, Rußland den deutschen Geldmarkt zu sperren, in: Neue Studien zum Imperialismus vor 1914, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1980, S. 52 f£. (Schriften des Zentralinstituts für Geschichte der AdW der DDR, Bd. 63). Nussbaum, Außenhandelsverflechtung, S. 33 ff. Doppelt soviel Kapital — 10 Milliarden Mark — hatte damals Frankreich in Rußland angelegt (Radandt, Hans, Zum Kapitalexport der imperialistischen Hauptländer bis 1945, in: JbW 1971, IV, S. 46).
Ludmila
Thomas
Rivalitäten deutscher und russischer Schiffahrtsgesellschaften im Transatlantikg'eschäft. Politische und ökonomische Hintergründe
„Der im August dieses J a h r e s e n t b r a n n t e Weltkrieg hat eine gänzliche Unterbrechung der bisherigen Auswanderungsbewegung der im K a m p f e stehenden europäischen Staaten zur Folge gehabt, durch die inneren Kriegsunruhen, sowie durch die gestörte Seeschiffahrt" 1 — mit diesen Worten beginnt der Ende 1914 v e r f a ß t e Bericht des Reichskommissars f ü r das Auswanderungswesen. Die Bilanz dieser 20 Jahre, über die er zu berichten hatte, sah günstig aus. Der Reichskommissar meldete daher f ü r die Friedenszeit den Wunsch an, „daß zur ausgiebigeren Wirksamkeit unserer Kriegsschiffe Häfen außerhalb der beengten ,Deutschen Bucht' direkt am M e e r e . . . g e f u n d e n werden, welche sich zugleich f ü r die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Seeschiffahrtsinteressen, auch f ü r die Auswanderungsbeförderung als wünschenswert und nutzbringend erweisen würden". 2 Die Ansicht des hohen Regierungsbeamten, der den Weltkrieg wegen der Unterbrechung der A u s w a n d e r u n g störend empfand, bleibt auch dann noch bemerkenswert, w e n n m a n weiß, daß er nicht etwa die Auswanderung aus Deutschland unterstützen sollte, sondern daß er hauptsächlich f ü r die Beförderung f r e m d e r Auswanderer über deutsche Häfen zu sorgen hatte. Zur selben Zeit befaßten sich Direktoren der beiden größten deutschen Reedereien mit der Z u k u n f t des sogenannten Auswanderergeschäfts, das auch im Mittelpunkt des zitierten Berichts stand. Ihre Aufzeichnungen, die im Nachlaß des damaligen Direktors des Norddeutschen Lloyds Dr. Wilhelm Greve a u f b e w a h r t werden 3 , sind wahrscheinlich unter dem Eindruck der Gerüchte über bevorstehende Separatfriedensverhandlungen mit Rußland entstanden. Das von Greve v e r f a ß t e Dokument trägt die Überschrift „Forderungen des Norddeutschen Lloyd hinsichtlich der russischen Auswanderung" und w a r als Teilentwurf einer Denkschrift deutscher Reeder f ü r die Friedensverhandlungen konzipiert. Während diese Vorläge offensichtlich von der Prämisse ausging, „daß Deutschland Rußland auf die Knie niederringt", polemisierte ein Brief der Hapag indirekt gegen Greves Forderungen. 4 Es w ä r e falsch, aus der Tatsache, daß die 1
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Geschäftsbericht des Reichskommissar für das Auswanderungswesen 1910—1914, ZStAP, Reichsamt des Innern, 1590, Bl. 310. Ebenda, Bl. 312. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bonn (im folg.: PA AA Bonn), Nachlaß Dr. Wilhelm Greve in 5 Bänden, Bd. 2, 1915-1919. Hapag-Direktor Strom an die Juristische Abteilung der Hapag, 27. 2.1915, ebenda.
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Hapag die Lage nüchterner beurteilte, voreilige Schlüsse auf den unterschiedlichen Charakter der beiden Großunternehmen zu ziehen. Die Hapag versprach sich größere Gewinne von der Aufrechterhaltung der vor dem Kriege bestehenden Zustände, während der Norddeutsche Lloyd seine Positionen verbessern wollte. Daher mündete die Argumentation der Hapag in der B e f ü r w o r t u n g des Status quo ante. Doch u m diese Haltung zu begründen, brachte die Hapag F a k ten und Einschätzungen, die die Größe des Geschäfts in einmaliger Offenheit klarstellten: „In geradezu glänzender Weise w a r e n die deutschen Dampfschifffahrtsgesellschaften an dem russischen Auswandererverkehr beteiligt. Ohne es nötig zu haben, sich u m irgendeine russische Vorschrift zu kümmern, ohne in Rußland irgendwelche Steuern zu z a h l e n , . . . haben die beiden deutschen D a m p f schiffahrtsgesellschaften durch ihre an der Grenze errichteten Kontrollstationen in den letzten 20 J a h r e n aus Rußland 1.598.017 russische Auswanderer herangezogen und dadurch eine Einnahme von über 240 Mill. Mark g e h a b t . . . Ein Verkehr, leichter herankommend, einfacher und dabei einträglicher, der von nichtdeutscher Seite k a u m gestört werden kann, ist nicht zu denken." 5 Diese Einschätzung ist nicht n u r wegen der Beurteilung des bisherigen Geschäftsverlaufs interessant; auf einzelne Angaben wird daher noch später einzugehen sein. Sehr wichtig sind die Zahlenangaben, denn eine offizielle Statistik der Auswanderung aus Rußland gab es nicht. Die zahlreichen, einander widersprechenden Angaben darüber w u r d e n zu verschiedenen Zwecken zusammengestellt. Ihnen liegen meist die Passagierlisten bzw. Papiere der Einwanderungsbehörden zugrunde. 6 Noch rarer sind Schätzungen der mit dem Auswanderertransport erzielten Profite. Wenn sie aber von Unternehmern, die daran verdienten, f ü r interne Zwecke vorgenommen wurden, besitzen sie Seltenheitswert. Die Rolle der europäischen Auswanderung des 19. J h . nach Nordamerika bei der Entstehung der Transatlantikschiffahrt ist bekannt. „Wäre etwa die Besiedlung und Aufschließung Amerikas von Ostasien aus erfolgt, dann w ü r d e der Pazifische Ozean im Weltverkehr und Welthandel die Rolle spielen, die heute der Atlantische Ozean behauptet." 7 Diese Ansicht vertrat Erich Murken, einer der ersten Erforscher der transatlantischen Pools in Deutschland. In seinem 1922 erschienenen Buch verallgemeinerte er eigene Erfahrungen, die er im A u f t r a g e der Hapag in New York sammelte. Zuerst k a m das Auswanderungsgeschäft der englischen Flotte zugute. Die deutsche Schiffahrt konnte zu diesem Zeitpunkt, d. h. bis in die 90er J a h r e des 19. Jh., mit der englischen Flotte nicht in Konkurrenz treten. Als 1886 Gerüchte
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Ebenda. Wie schwierig es war, reale Angaben über die Auswandererzahl zu bekommen, zeigt überraschenderweise ein Bericht des deutschen Generalkonsuls aus Kapstadt aus dem Jahre 1910. Bei der Durchsicht der Einwanderungsstatistik der letzten fünf Jahre stellte er erstaunt fest, daß in der Statistik Rußland überhaupt nicht erwähnt wird, „während unzweifelhaft von dort zahlreiche Israeliten hier landen, vermutlich kommen diese in der Regel aus deutschen Häfen und werden der Einwanderung aus Deutschland zugerechnet". ZStAP, Reichsamt des Innern, 1856. Murken, Erich, Die großen transatlantischen Linienreederei-Verbände, Pools und Interessengemeinschaften bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Ihre Entstehung, Organisation und Wirksamkeit, Jena 1922, S. 8.
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aufkamen, daß Rußland Verhandlungen über die Gründung einer Dänisch-Russischen Schiffahrtsgesellschaft mit einem Grundkapital von 7 Mill. Rubel und einem Bestand von 30 Dampfern führte, reagierte der Chef der deutschen Admiralität, Caprivi, übertrieben ängstlich. Die Gründung einer derartigen von Rußland subventionierten Gesellschaft sei für die deutsche Marine von größtem Interesse, schrieb er an Bismarck, „weil sich annehmen läßt, daß Rußland hiermit den ersten Versuch macht, zu Kriegszwecken . . . Fuß an den Dänischen Gewässern zu fassen. Ich bitte . . . über diesen Gegenstand fortlaufend zu berichten, indem ich noch besonders bemerke, daß es für die Admiralität von größtem Interesse sein wird, zuverlässige Nachrichten zu erhalten über den Bau und die Einrichtung der zu erbauenden Schiffe, namentlich über die Geeignetheit zur militärischen Verwendung, z. B. als Kreuzer usw."8 Doch bevor die vom späteren Reichskanzler befürchtete Vereinbarung zustande kam, gelang es der deutschen Handelsflotte, den entscheidenden Schritt zu tun: Eine zweitrangige Seemacht wurde auf dem wichtigen Gebiet der Transatlantikschiffahrt zur Rivalin der mächtigen britischen Handelsmarine. Der Sprung gelang allerdings nur zwei deutschen Reedereien — der Hamburg-Amerika-Paketfahrt-Aktiengesellschaft (Hapag) und dem Norddeutschen Lloyd. „Um uns eines geographischen Bildes zu bedienen, glich die deutsche Schiffahrt einer kurzen Gebirgskette, aus der zwei Riesengipfel emporragten, während die britische Schiffahrt ein Gebirgsmassiv darstellte, aus dem sich zwar kein einzelner Gipfel zur gleichen Höhe erhob, das aber in seiner Gesamtmasse viermal wichtiger dastand."9 Dieses Bild gebrauchte Murken zur Kennzeichnung der Situation zu Beginn des 20. Jh. Der Aufstieg der beiden Unternehmen zu den führenden Reedereien im Auswar* derertransport geschah in den 90er Jahren. Der rasche Erfolg war durch viele Umstände bedingt. Entscheidend war die Verlagerung des Auswandererstroms, die sich in dieser Zeit abzeichnete. Während bis dahin über 70 Prozent der Auswanderer nach den USA aus England, Irland und Deutschland kamen, änderte sich seit den 90er Jahren ihre ethnische Zusammensetzung allmählich zugunsten der sogenannten slawischen Auswanderung. Aus Österreich-Ungarn und Rußland kamen seit der Jahrhundertwende die meisten Auswanderer, bis schließlich zwei Jahre vor dem Weltkrieg Rußland die Spitze übernahm.10 Die beiden Reedereien konnten den Umstand, daß es sich in beiden Ländern in der Regel um eine illegale Auswanderung handelte, für sich ausnutzen. Mit Hilfe von Agenten wurde der Auswandererstrom nach Deutschland gelenkt. Über die „grüne Grenze" wurde er per Eisenbahn nach Hamburg und Bremen transportiert, von wo aus auf Schiffen der Hapag bzw. des Norddeutschen Lloyds die Reise nach Amerika begann.
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ZStAP, Auswärtiges Amt, FB 9 679. " Murken, S. 600. lu Vgl. Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jh., hrsg. von Günter Moltmann, Stuttgart 1976; ders., Nordamerikanische „Frontier" und deutsche Auswanderung — soziale „Sicherheitsventile" im 19. Jh.?, in: Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer, Bonn 1978; Chmelar, Hans, Höhepunkte der österreichischen Auswanderung, Wien 1974, S. 22, 28; Filipov, Ju. D., Torgovoe moreplavanie, St. Petersburg 1905, S. 56; Russkoe sudochodstvo, St. Petersburg, 28, 1914, 11.
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Die Gründe für die Auswanderung änderten sich von Zeit zu Zeit und von Land zu Land. Die häufigste Ursache waren die ökonomischen Mißstände, die die Bevölkerung auf der Suche nach erträglichen sozialen Bedingungen zur Überfahrt zwangen. „Erst treibe man . . . die Bevölkerung eines Landes in die Armut, und wenn dann nichts mehr aus ihr herauszuschinden ist, so jage man sie fort und errechne die Summe der Nettoeinnahmen!" 11 Diese Erklärung für die Emigration aus England gab Karl Marx 1853. Als der Vortragende Rat der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes Goetsch 1906 die Gründe der Auswanderung untersuchte, mußte er zugeben, daß nicht die Uberbevölkerung hauptsächlich für die Emigration verantwortlich war, sondern die wirtschaftlichen Probleme. Politische und religiöse Verfolgungen nannte Goetsch als die nächsthäufigen Ursachen.12 All das traf auch für die „slawische" Auswanderung zu, wenn auch der Begriff slawisch zumindest für die Emigration aus Rußland nicht ganz stimmte. Die Zeitschrift der russischen Handelsflotte „Russkoe sudochodstvo" brachte 1912 Statistiken, nach denen 25—40 Prozent der über die russischen Ostseehäfen Ausgereisten Juden waren. Ihnen folgten Litauer, Letten und Polen. Russen waren nur mit sieben Prozent vertreten. 13 Die illegale Auswanderung unterschied sich in ihrer ethnischen Zusammensetzung nicht wesentlich von der in dieser Hafenstatistik festgehaltenen. 14 Da die Auswanderung staatlich nicht geregelt war, andererseits aber für jeden Reisenden Paßpflicht bestand, wurde der illegale Weg über die Grenze nach Deutschland bevorzugt. Besonders schlimm war die Lage der jüdischen Auswanderer, die sich wegen der Pogrome mitunter über Nacht zum Verlassen ihres Heimatortes entschließen mußten. Die Macht der sogenannten Agenten, die das Hinüberschmuggeln über die Grenze nicht nur organisierten, sondern oft sogar anregten, war fast grenzenlos. Die erschüttern11
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Marx, Karl/Engels, Friedrich, Erzwungene Emigration — Kossuth und Mattini — Die Flüchtlingsfrage, in: MEW, Bd. 8, S. 542. Goetsch, Auswanderung, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Jena 19062, S. 279. Russkoe sudochodstvo, 26, 1912,10. ZStAP, Reichsamt des Innern, 1586. Sehr aufschlußreich für die Analyse der Gründe der Emigration sind die Berichte der Reichskommissare für das Auswanderungswesen, in denen alle Schwankungen im Zustrom der illegalen Auswanderer aus Österreich und Ungarn erklärt werden. Im Bericht für das Jahr 1905 werden folgende Zusammenhänge erwähnt: „Die Dürre im Jahre 1904 hatte eine Mißernte in Ungarn, Galizien, Südrußland und Rumänien zur Folge, welche fördernd auf die Auswanderung auf diesen Gebieten wirkte. . . Dieser starke Verkehr dauerte bis zum Beginn der Ernte. Während der Erntezeit stockte wie gewöhnlich die Auswanderungsbewegung und nahm im Monat August und September bis zum Ende des Jahres sehr bedeutend ab, da in Ungarn und Galizien in diesem Jahre eine sehr günstige Ernte eingebracht wurde, während in Rußland die dortigen Verhältnisse, das stellenweise Versagen der Verkehrsmittel und der Ausbruch der Cholera störend auf diese Bewegung einwirkten. Die bisher alle Jahre nach der Ernte nach den Vereinigten Staaten auswandernden deutsch-russischen Kolonisten aus den südlichen Gouvernements Rußlands blieben infolge der Unruhen im Russischen Reiche fast ganz aus, dagegen r e i s t e n . . . sehr viele jüdische Auswanderer . . . Es waren meistens Flüchtlinge, die wegen der russischen Wirren trachteten, so rasch wie nur möglich nach Amerika zu kommen." Ebenda, 1589.
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den Szenen auf den Grenzstationen, wo ganze Familien all ihrer Habe beraubt, nicht einmal mehr die Möglichkeit hatten, in ihre Heimat zurückzukehren, wurden sowohl in der Presse als auch in der russischen Literatur jener Zeit festgehalten. Scholem Aleichem hat in seinen Erzählungen zu diesem Thema eine interessante sprachliche Erscheinung festgehalten: das „Russisch" seiner Helden enthielt das Wort „Schifskarta", das allgemein gebräuchlich und verständlich zu sein schien. Dieses Detail zeigt anschaulich, wie weit die deutschen Schifffahrtsgesellschaften die rivalisierenden Unternehmen aus England, Belgien, Holland u. a. Länder zurückgelassen hatten. Diesen Vorsprung konnten die Hapag und der Norddeutsche Lloyd nur mit Hilfe des Staates erringen. Der Zusammenhang wird oft übersehen, weil unter Staatshilfe für Reedereien gewöhnlich Subventionen verstanden werden. Bekanntlich wurden die beiden Gesellschaften vom Staat kaum subventioniert. Die Hapag nahm diese Tatsache sogar zum Anlaß, um die Notwendigkeit staatlicher Subventionen prinzipiell zu verneinen. 15 Die Hilfe des Staates begann in unserem Fall auf der Ebene der Zusammenarbeit mit den Länderregierungen und entwickelte sich dahin, daß beide Unternehmen für die Durchsetzung ihrer Profitinteressen sich mit selbstverständlicher Sicherheit des Apparates des Auswärtigen Amtes bedienten. Das Verständnis des Staates für die Interessen der beiden Reedereien wuchs parallel mit ihrer ökonomischen Macht. 1892, während der Cholera-Epidemie in Hamburg, verweigerten die städtischen Behörden allen Ankömmlingen aus Rußland und Österreich-Ungarn die Einreise in die Stadt. Das hatte schwere Folgen für die Transatlantik-Passagierlinie der Hapag. Im Jahresbericht gab ihr Vorstand seine mit dem Norddeutschen Lloyd abgeschlossene Vereinbarung bekannt, die Hauptverwaltung nach Bremen zu verlegen, falls sich solche Maßnahmen wegen der Haltung des Hamburger Senats als notwendig erweisen sollten. Daraufhin zog dieser die Auswanderungserlasse, gegen die die Hapag Einspruch erhoben hatte, zurück. Um diese Zeit entstand zum erstenmal die Idee, Kontrollstationen für die Auswanderer an den Schwerpunkten des Grenzübertrittes einzurichten. Es läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, wer diesen Plan zuerst entwickelte. Dem Scheine nach handelte es sich um ein Entgegenkommen der Reedereien gegenüber dem Drängen der Regierungen einzelner Bundsstaaten. Im Falle der Preußischen Regierung, die die Kontrollstationen 1894 als erste eingeführt hatte, konnte die Initiative tatsächlich von den Staatsbeamten ausgegangen sein.16 Die unverdächtige sanitäre Maßnahme des Staates, um seine Bürger von der Einschleppung von Seuchen zu schützen, hat sich aber sehr bald als ein Trumpf im Kampf der deutschen Reedereien gegen ihre Konkurrenten herausgestellt. Dies wurde durch das wenig geschickte Vorgehen bei der Einrichtung solcher Grenzstationen in Sachsen deutlich. Hier waren die Hapag und der Lloyd auf die Unterstützung der sächsischen Fremdenpolizei bei der Bekämpfung der illegalen Agenten der niederländischen Beaver Line angewiesen. Um die Tätigkeit dieser Agenten zu verhindern, schickte die Hapag ihre in großer Zahl an
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Vgl. Cecil, Lamar, Albert Ballin. Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich 1888-1918, Hamburg, S. 94 f. Ebenda, S. 52 f.
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die sächsisch-österreichische Grenze. Ganz u n e r w a r t e t mischte sich der Rat der Stadt Leipzig in diesen Kampf der Rivalen ein. Vermutlich w a r diese Behörde nicht ausreichend eingeweiht, u m entscheiden zu können, wer da gegen wen und u m welche Auswanderer k ä m p f t e . Dies geht aus der Eingabe hervor, die Hapag u n d Lloyd 1903 gemeinsam an den Reichkanzler richteten. Zuerst legten sie den Unterschied zwischen der Einstellung zur deutschen und zur ausländischen Auswanderung klar. „Das Auswanderungsgesetz will unserer Ansicht nach verhindern, daß eine Agitation f ü r die Auswanderung stattfindet, d. h. in Deutschland. Der deutsche Bürger, der deutsche Landsmann sollen nicht durch Agenten zur Auswanderung aufgehetzt w e r d e n ; daß die Beförderung der ausländischen Auswanderer aber durch deutsche Schiffe bewerkstelligt wird, liegt doch im nationalen Interesse, und wir müssen d a n k b a r anerkennen, daß wir bis jetzt überall in Regierungskreisen uns der größten Förderung zu e r f r e u e n h a t ten." Um so unbegreiflicher empfanden die Reedereien die Haltung des Rats der Stadt Leipzig, dessen Auswanderungsbehörde der Aufgabe, „Mittel und Wege zu finden, wie die deutschen Interessen gegenüber den a u s l ä n d i s c h e n . . . gefördert werden können", ungenügend nachgekommen war. 17 Bezeichnend ist, daß die beiden Schiffahrtgesellschaften die Angelegenheit f ü r wichtig genug hielten, u m sie dem Reichskanzler zu unterbreiten. Ob die Eingabe das einzige Mittel war, läßt sich nicht feststellen. Das Ergebnis ist jedenfalls in der Verordnung des Königlichen Sächsischen Ministeriums vom 22. Oktober 1903 festgehalten, die am 25. November 1903 dem Reichskanzler vorgelegt wurde. Sie verdient es, ausführlich zitiert zu werden. Der Übertritt der Grenze w u r d e den „fremdländischen Auswanderern" n u r gestattet, „wenn dieselben entweder a) Schiffskarten des Norddeutschen Lloyd oder der H a m b u r g Amerika-Linie zur Ü b e r f a h r t und Eisenbahnfahrkarten bis zum Einschiffungsh a f e n nachweisen können oder b) eine Gewährleistung des Deutschen Zentralkomitees f ü r die russischen J u d e n d a f ü r beizubringen vermögen, daß sie kostenfrei ohne A u f e n t h a l t in Deutschland nach Amerika und, falls sie dort zurückgewiesen w e r d e n sollten, in ihre Heimat zurückgeschafft werden. SchifTskarten ausländischer Auswanderungsgesellschaften können als gültige Ausweispapiere im Sinne von P u n k t a) nicht angesehen werden." 1 8 An einer so offenen Bevorzugung der beiden deutschen Schiffahrtsgesellschaften war vor allem die Hapag keineswegs interessiert. In einem Brief an Bülow vom 9. Dezember 1903 brachte Ballin seine Befürchtungen zum Ausdruck, daß diese Verfügung „scharfe Maßregeln sowohl seitens der englischen Schiffahrtsgesellschaften als auch der Englischen Regierung" heraufbeschwören werde. Er schlug vor, die Verfügung so zu modifizieren, „daß den Auswanderern das Passieren der sächsischen Grenze auch d a n n gestattet wird, w e n n sie mit Passagebillets solcher ausländischen Gesellschaften versehen sind, welche der Regierung genügende G a r a n t i e n . . . bieten". 19
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Hapag und Norddeutscher Lloyd an Bülow, 6. 5.1903, ZStAP, Reichsamt des Innern, 1569, Bl. 3 ff. Ebenda, Bl. 41. Ballin an Bülow, 9.12.1903, ebenda, Bl. 42.
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Über diese Stellungnahme war man im Reichsamt des Innern überrascht. Man vermutete, daß dafür noch andere als die von Ballin angeführten Gründe ausschlaggebend waren.20 Das Ganze erschien noch weniger verständlich, nachdem sich herausstellte, daß hinter diesem Protest nur die Hapag stand. Der Generaldirektor des norddeutschen Lloyd Wiegand teilte Ballins Meinung nicht. Er war zugleich überzeugt, daß er die Hapag veranlassen könnte, ihre Eingabe zurückzunehmen. Wiegands Voraussage traf ein, denn schon am 20. Februar 1904 wies die Hapag in einem Schreiben an Bülow auf die Verschärfung der Konkurrenz mit der englischen Cunard Line hin. Sie schätzte die Maßnahmen der Sächsischen Regierung als „eine wirksame Unterstützung in dem Kampfe gegen das Eindringen der Cunard-Line" ein und bat in diesem Zusammenhang, ihre Eingabe vom 9. Dezember 1903 „als nicht abgesandt zu betrachten".21 Ballins ursprüngliches Zögern war- offensichtlich nur durch Bedenken hervorgerufen, im Kampfe gegen unbedeutende Konkurrenten Mittel anzuwenden, die er nur zum Ausschalten ernster Rivalen, zu denen die Cunard-Linie unbedingt zählte, einzusetzen bereit war. Um die Jahrhundertwende ergab sich für die Schiffahrtsgesellschaften eine neue ernst zu nehmende Möglichkeit, das Geschäft mit den Auswanderern zu vergrößern: Die Rückwanderung wurde beinahe zu einer Massenerscheinung. Sie nahm einen derartigen Umfang an, daß es sich lohnte, Maßnahmen zu ergreifen, um auch die Rücküberfahrt für die eigenen Reedereien zu sichern. Das Reichsamt des Innern wertete Anfang 1904 die Statistik der Rückwanderung über Deutschland aus dem Vorjahre aus. Danach betrug die Gesamtzahl 94 796 Personen. Lediglich 51 000 davon kamen mit den Schiffen der beiden deutschen Schiffahrtsgesellschaften in Hamburg bzw. Bremen an.22 Wenn auch in der vom Reichsamt des Innern gegebenen Begründung für die zusätzlichen Verordnungen die Argumente der inneren Sicherheit und Ordnung eine entscheidende Rolle spielten, war die eigentliche Absicht, den Transport der Rückwanderer ebenfalls für die beiden deutschen Reedereien zu sichern, offensichtlich. Der Besitz einer Schiffskarte der Hapag oder des Lloyds garantierte den in Hamburg bzw. Bremen Angekommenen das ungehinderte Geleit bis zu ihrer Heimatgrenze. Die innenpolitischen Sicherheitserfordernisse wurden weniger ernst genommen, wenn es um Vorteile der beiden Schiffahrtsgesellschaften ging. Die Priorität der Profitinteressen selbst vor politischen Sicherheitsbedürfnissen des Staates zeigte sich besonders kraß 1905, als die verschärften Erlasse des Preußischen Innenministeriums dem Flüchtlingsstrom aus Rußland Sperren an der preußischen Grenze entgegensetzten. 23 Die Gefahr, daß das verhaßte „jüdische Element" die 'M Reichsamt des Innern an Bülow, 6.1.1904, ebenda, Bl. 56. Als eine mögliche Erklärung brachte man Ballins „Englandfreundlichkeit", ein Argument, das angesichts seiner späteren Haltung gegenüber England verlockende Logik besitzt. 21 Ebenda, Bl. 70. Ebenda, Bl. 185 f. . a Vgl. Vogel, Barbara, Die deutsche Regierung und die russische Revolution von 1905, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 232-236.
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Seuche der Revolution aus Rußland herüberschleppen könnte, wurde zwar von den Besitzern größerer Reedereien genauso befürchtet wie von den preußischen Staatsbeamten. 24 Dennoch blieb die Schiffskarte des Norddeutschen Lloyds oder der Hapag das „Sesam-öffne-dich" für die jüdischen Pogromflüchtlinge. Das Verständnis des Staates für die Geschäfte der Hapag ging sogar noch weiter. Im Frühjahr 1905 wurden in der Nähe vom Hamburger Hafen Notschuppen „in der Art der auf Truppenübungsplätzen gebräuchlichen Baracken" errichtet, in denen die Auswanderer manchmal über Monate auf die Uberfahrt warten mußten und solange auch von der Stadtverwaltung geduldet wurden. Den Grund dafür sah der Reichskommissar für das Auswanderungswesen in dem plötzlichen Anschwellen des Auswandererverkehrs. 25 Diese Erklärung ging auch in historische Untersuchungen ein.26 Dem widersprechen aber die von Erich Murken in anderem Zusammenhang angeführten Zahlen. Tatsächlich war 1905 eine enorme Steigerung des gesamten Auswandererverkehrs von Europa nach Nordamerika zu beobachten. Der Zwischendeckverkehr betrug in jenem Jahr 356 000 Personen gegenüber 275 000 im vorigen. Aber die Hapag beteiligte sich 1905 nur mit 28,09 Prozent ihrer Tonnage im nordatlantischen Passagierverkehr gegenüber 30,68 Prozent 1904.27 Die Erklärung für diesen Widerspruch liegt darin, daß die Hapag zu Beginn des Jahres einen Teil ihrer nordamerikanischen Zwischendecktonnage diesem Dienst entzog, um Kohlen- und Materialtransporte für das russische Ostasiengeschwader durchzuführen. Dank diesem Geschäft wurde die Hapag beinahe zu einem der Hauptnutznießer am russischjapanischen Krieg.28 Die Auswanderer mußten unter diesen Umständen in Hamburg warten, und die Stadtverwaltung fand an den sanitären Bedingungen, unter denen sie hausen mußten, nichts auszusetzen. Selbst die drohende revolutionäre Verseuchung durch „russische Juden" war sie bereit hinzunehmen. Die von den deutschen Behörden erklärte Notwendigkeit, „sanitäre Kontrollstationen" an der Grenze zu errichten, wirkte penetrant und rief oft Proteste sowohl im Ausland als auch in der deutschen, vor allem der sozialdemokratischen Presse hervor. Schon 1892 kam es zu einer längeren Auseinandersetzung zwischen der Redaktion des „Vorwärts" und der Hapag-Direktion. Die Zeitung veröffentlichte den Brief eines Auswanderers, der die Zustände während der Überfahrt auf der „Augusta Viktoria" schilderte: die Überfüllung der Räume, skandalöse hygienische Zustände, schlechtes Essen und schließlich auch die unverschämte Behandlung der Passagiere durch das Schiffspersonal.29 Die Erwiderung der Hapag-Direktion klang nicht überzeugend. Weitere Fakten, die die Praktiken der Gesellschaft entlarvten, kamen ans Licht, doch die Kritik hatte keine Änderung der Zustände bewirkt. Als 13 Jahre später der „Vorwärts" das Thema erneut aufgriff, konnte er nachweisen, daß die von den amerikani24
Vgl. ebenda, S. 233. ZStAP, Reichsamt des Innern, 1590, Bl. 317, 325. Vgl. Cecil, S. 54 f.; Weichmann, Hans, Die Auswanderung aus Österreich und Rußland über die Deutschen Häfen, phil. Diss., Berlin 1913, S. 40 f. 'n Murken, S. 35. ^ Vgl. Vogel, Barbara, Deutsche Rußlandpolitik. Das Scheitern der deutschen Weltpolitik unter Bülow 1900—1906, Düsseldorf 1973, S. 144 ff. Vorwärts, Nr. 227, 28.9.1892; ZStAP, Reichsamt des Innern, 1453, Bl. 25.
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sehen Gesetzgebern inzwischen erlassenen Vorschriften zum Schutze der Einwanderer grob mißachtet wurden. „Es sind die Zwischendeckpassagiere, die den Gesellschaften das meiste Geld einbringen, und gerade mit diesen Passagieren wird am rücksichtslosesten verfahren."30 Die Zeitung zitierte auch die amerikanische Presse, wo von der „Hölle im Zwischendeck" die Rede war. Aber es kam nur zu einigen Scheinreformen, und die Mißstände blieben weiter bestehen. Etwas ernster mußten Beschwerden gegen die Bevorzugung der deutschen Reedereien genommen werden. Der Konkurrenzkampf auf den transatlantischen Linien wurde hart und mit allen Mitteln geführt. Seit 1892 waren die Hapag und der Norddeutsche Lloyd durch die Beteiligung an den internationalen Interessengemeinschaften (Pools) gebunden. Albert Ballin gehörte sogar zu den Initiatoren dieser Vereinbarungen, in denen die Aufteilung des transatlantischen Passagiergeschäfts unter die Pool-Mitglieder festgelegt wurde. Ein umfassenderes Abkommen kam allerdings erst 1908 zustande. Die Cunard- und zehn andere Linien einigten sich auf Tarife für Passagiere erster und zweiter Klasse und setzten Mindestraten und einen Prozent-Pool für den Zwischendeckverkehr fest. 31 Das Pool-System konnte für eine bestimmte Zeit die rivalisierenden Reedereien auf gewisse Kampfregeln festlegen. Diese Regeln wurden allerdings nur im Umgang mit den Pool-Mitgliedern eingehalten. Die Bekämpfung der neu aufgetauchten Konkurrenten aus Italien, Rußland, Österreich-Ungarn und anderen in der internationalen Schiffahrt wenig einflußreichen Ländern würde mit allen Mitteln geführt. Doch dank der staatlichen Unterstützung hielten sich diese Gesellschaften am Leben. Die Möglichkeit, die Linien einfach aufzukaufen, bestand kaum, da die Gesetzgebung der betreffenden Länder solche Besitzverschiebungen nicht zuließ. Versuche, auf dem Umweg über die Gründung von Tochtergesellschaften, deren Schiffe in den jeweiligen Ländern registriert waren, das Problem zu lösen, wurden trotz großer Risiken immer wieder unternommen. Die Art und die Heftigkeit der Reaktion auf neue Konkurrenten hing sowohl mit der Situation im Auswanderergeschäft als auch mit der allgemeinen wirtschaftlichen Lage zusammen. 1907 gestaltete sie sich nicht allein für die deutsche Schiffahrt ausgesprochen ungünstig. Der Jahresbericht des Vereins Hamburger Reeder 1907/08 brachte zu Recht die Schwierigkeiten der Seeschiffahrt mit dem „völligen Zusammenbruch der Weltkonjunktur" in Verbindung. Die außerordentliche Geldteuerung und die scharfe Wirtschaftskrise in den USA waren für einen erheblichen Rückgang der Beschäftigung in anderen Industrieländern verantwortlich. Ein Minderangebot an Ladung und ein Nachgeben der Frachten, besonders aber der Rückgang des Zwischendeckverkehrs wurden als auffällige Symptome der Krise in der Seeschiffahrt angeführt. Der Bericht brachte sehr charakteristische Zahlen, die als Beweis für das Zusammenschrumpfen der Auswanderung gelten konnten. Es wanderten über Hamburg aus: von Juli 1906 bis Juni 1907 200 306 und von Juli 1907 bis Juni 1908 108 388 Personen.32 Die Situation der deutschen Schiffahrt war 1907 schwieriger als zwei Jahre zuvor. 30 31
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Vorwärts, Nr. 196, 23. 8. 1905. Eine ausführliche Untersuchung des Zustandekommens der sogenannten Nordatlantik-Konferenz bei Murken, S. 117-490. Jahresbericht des Vereins der Hamburger Reeder 1907/08, ZStAP, AA, 17 672.
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Diese Tatsache muß man berücksichtigen, um die Reaktion der Hapag und des Norddeutschen Lloyds auf die Aktivitäten der russischen Schiffahrt im Transatlantikgeschäft richtig einzuordnen. In dem sieben Jahre lang geführten Kampf ging es den deutschen Reédereien darum, nicht zuzulassen, daß sich Rußland mit eigenen Schiffahrtslinien an dem Transport der Auswanderer beteiligte. Zwei Gefahrenzonen waren dabei besonders zu beachten: die Legalisierung der Auswanderung durch die russische Gesetzgebung und das Aufkommen eines Unternehmens, das mit Hilfe staatlicher Subventionen konkurrenzfähig werden konnte. Es ging also den beiden deutschen Reedereien darum, Mittel zu finden, um Einfluß auf innenpolitische Fragen eines anderen Staates auszuüben. Die staatliche Unterstützung mußte daher vor allem durch die Handelspolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes und durch die amtlichen deutschen Vertreter in Rußland erfolgen. Daß nach dem russisch-japanischen Krieg mehrere einflußreiche Stellen in russischen Regierungskreisen auf die Idee kamen, den Auswanderertransport zur Finanzierung der eigenen Schiffahrt zu benutzen, war keineswegs überraschend.33 Erwägungen in dieser Richtung gab es auch schon früher. 1903 versuchte eine der vier größten Schiffahrtsgesellschaften Rußlands, die Freiwillige Flotte, eine direkte Linie Libau—New York einzurichten. Das Vorhaben erwies sich als zu wenig vorbereitet, und die Linie mußte nach einigen Wochen wegen fehlender Passagiere eingestellt werden. Diesmal schien aber der Angriff auf die Monopolstellung der deutschen Schifffahrt im russischen Auswanderertransport ernster gemeint zu sein. Einerseits hing das damit zusammen, daß die russische Handelsflotte bzw. der Teil dieser Flotte, der auch für militärische Einsätze vorgesehen war, ohne die ständige staatliche Subventionierung nicht existieren konnte. Das traf insbesondere für die dem Marineministerium unterstellte Freiwillige Flotte zu, die die besondere Gunst der Zarenfamilie und des reaktionären Pobedonoscev-Kreises genoß. Daher mußten Quellen gefunden werden, das Unternehmen der Freiwilligen Flotte einträglicher zu gestalten. Andererseits bestand nach der Niederlage Rußlands im Krieg gegen Japan keine Aussicht, größere Mittel für die Unterstützung der Schiffahrt vom Staate direkt zu erwirken, zumal auch der Neuaufbau der Kriegsmarine enorme Beiträge erforderte. Bei einer derartigen Zuspitzung der finanziellen Nöte der russischen Schiffahrt schien selbst eine gesetzliche Regelung der Emigrationsfrage nicht ausgeschlossen. Die beunruhigenden Nachrichten, die deutschen Konsularberichten zu entnehmen waren, gruppierten sich um drei Schwerpunkte. Einerseits häuften sich Pressenachrichten und Kommentare, die die Praktiken der ausländischen, in erster Linie der deutschen Reedereien gegenüber den russischen Auswanderern anprangerten. Der deutsche Generalkonsul in St. Petersburg Biermann nahm die Pressepolemik ernst. Er berichtete nach Berlin von einem Interview der russischen Handels- und Industriezeitung vom 6. Juni 1906 mit Generalmajor Linden, dem Inspektor der Freiwilligen Flotte. Darin wurden dáe Praktiken der Hapag und des Norddeutschen Lloyd angesprochen, die die Kontrollpunkte 33
Ausführlicher zur Situation der russischen Handelsflotte und zum Stand ihrer Untersuchung Thomas, Ludmila, Die russische Handelsflotte, in: JbGSLE, Bd. 27 (in Vorbereitung).
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an der Grenze dazu benutzten, Auswanderern, die nicht die Schiffe dieser beiden Gesellschaften in Anspruch nahmen, den Zutritt nach Deutschland zu erschweren. Eine Woche später berichtete dieselbe Zeitung über die Methoden, mit welchen die Hapag und die Cunard-Linie einander bekämpften. 3 4 Ähnliche Tendenzen w u r d e n von der „Novoje V r e m j a " registriert. Etwa zur gleichen Zeit gaben die Freiwillige Flotte und die Russisch-Ostasiatische Dampfschiffahrtsgesellschaft ihre Absicht bekannt, Direktlinien von Libau nach New York einzurichten. Bis dahin handelte es sich bei der Auswanderung über Libau u m den sogenannten indirekten Verkehr: ab Libau ging es zuerst nach Hull, London, Antwerpen, Hamburg, wo die Passagiere von den großen Direktlinien ü b e r n o m m e n wurden. Die erste F a h r t des Dampfers der Freiwilligen Flotte „Smolensk" nach New York begann am 25. J u n i 1906. Am 23. Juli ist das erste Schiff der Russisch-Ostasiatischen Dampfschiffahrtsgesellschaft „Kovno" mit 300 jüdischen A u s w a n d e r e r n an Bord ausgelaufen.^ 5 Aussicht auf Dauererfolg konnten beide Reedereien n u r haben, wenn Mittel g e f u n d e n würden, den Auswandererstrom über Libau erheblich zu steigern. Vorerst vermittelten aus russischer Sicht die Zahlen über die Auswanderung auf diesem Wege keinen G r u n d zum Optimismus. 1901-1903 w a r e n es insgesamt 40 000, 1904 15 000, 1905 16 000, bis Mitte 1906 8 500 Personen. Zu den ersten Maßnahmen, die die Reise über Libau verlockend machen sollten, gehörte die Bestimmung, daß den mit den D a m p f e r n der Freiwilligen Flotte Auswandernden die Reisepässe direkt in Libau ausgestellt w e r d e n könnten. Ferner w u r d e die Paßgebühr f ü r den Ausreisepaß f ü r russische Staatsangehörige von 23,8 auf 18,1 Rubel herabgesetzt. 3 6 Diese Bestimmung trug aber einen provisorischen Charakter und b e r ü h r t e nicht die grundsätzlichen Fragen der Haltung des Staates zur Auswanderung. Als d a n n aber aus Petersburg berichtet wurde, daß eine offizielle Kommission zusammengetreten sei, u m ein Emigrationsgesetz auszuarbeiten, w u r d e die Mitteilung in den Kreisen der deutschen Schiffahrtsunternehmer mit Besorgnis registriert. „Wie ich höre", schrieb Botschaftsrat Miquel aus St. Petersburg a m 3. Oktober 1907 nach Berlin, „will sich die Kommission mit der Frage beschäftigen, wie die Konkurrenz der deutschen Schiffahrtsgesellschaften beseitigt werden kann. Es soll zur Sprache gekommen sein, daß in einem J a h r 260 000 (?) Leute ausgewandert seien, wobei die Schiffahrtsgesellschaften 18 000 000 Rubel eingenommen hätten." 3 7 Die Höhe der Einnahmen, die von der deutschen Botschaft angezweifelt wurde, w u r d e später von Hapag und Lloyd bestätigt. Die Hapag n a h m 1909 an, daß 40 Prozent der Gesamtauswanderung über deutsche Häfen gegangen sei und daß sie 15 000 000 Mark an Einnahme einbüßen würde, wenn die Pläne der russischen Unternehmer verwirklicht würden. Sie vergaß auch nicht die Fahrgeldeinnahmen der deutschen Eisenbahnen zu erwähnen, die sie auf mindestens 2 000 000 Mark schätzte. 38 A m 12. Oktober erstattete Miquel einen vertraulichen Bericht an das Auswärtige A m t über die Arbeit der Emigrantenkommissionen und über die dabei a u f g e 35 35 38 37 38
Biermann an Bülow, 19. 6.1906, ZStAP, Reichsamt des Innern, 1663, Bl. 12 f. Bericht des deutschen Generalkonsuls in Riga Ohneßeit, 17. 8.1906, ebenda, Bl. 28. Konsul in Libau Hundt an Biermann, 24. 6.1906, ebenda, Bl. 19 ff. ZStAP, AA, 29 878, Bl. 19. Strom an Bethmann Hollweg, 16.12.1908, ebenda, 29 879, Bl. 2 f.
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tauchten ersten Schwierigkeiten. Seine Einschätzung, daß durch Paßerleichterung, Änderung von Bahntarifen usw. das Auswanderungsgeschäft in russische Hände geleitet und damit die bis dahin im Prinzip verbotene Auswanderung legalisiert w e r d e n sollte, traf den Kern des Problems. „Man nimmt an, d a ß die Auswanderung in erster Linie deshalb ihren Weg über deutsche und englische Häfen nahm, weil den russischen Auswanderern daran gelegen sein mußte, möglichst schnell außerhalb des Wirkungskreises der russischen Beamten zu gelangen, deren Aufgabe es ja eigentlich war, die Auswanderung zu hindern." 3 9 Miquel glaubte auch zu wissen, daß die Befürworter der Legalisierung im Handels- u n d Außenministerium saßen, während ihre Gegner sich im Ministerium des Innern konzentrierten. Gleich nachdem die ersten Nachrichten über die Arbeit der Kommission bek a n n t wurden, beantragte der Norddeutsche Lloyd, vor ihren Mitgliedern einen Vortrag halten zu dürfen. 4 0 Über das Schicksal dieses Antrags ist nichts bekannt, w ä h r e n d über die anderen Aktivitäten des Lloyds einige Angaben vorliegen. Mitte November erhielt das Auswärtige Amt die erste Eingabe der Reederei in dieser Angelegenheit. Zur gleichen Zeit erschien der Leiter der Zwischendeckpassage des Norddeutschen Lloyds Plettenberg bei Goetsch. Plettenberg gab vor, aus zuverlässigen Quellen e r f a h r e n zu haben, daß der neue russische Gesetzentwurf zur Regelung des Auswanderungswesens wegen seiner starken protektionistischen Züge eine Gefahr f ü r das Geschäft der deutschen Unternehmen darstellte. Er f r a g t e daher an, ob nicht auf G r u n d der Meistbegünstigungsklausel des deutsch-russischen Handelsvertrages dagegen etwas u n t e r nommen werden könnte. Goetsch hielt es f ü r schwierig, in diesem Stadium die Beratungen des Gesetzentwurfes beeinflussen zu können, versprach aber, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Inzwischen w u r d e n die ersten Berichte über die Arbeit der Emigrantenkommission durch deren weitere Tätigkeit bestätigt. Der Kommission gehörten Vertreter der Ministerien des Innern, des Auswärtigen, der Finanzen, des Handels und der Verteidigung an, f e r n e r Repräsentanten der jüdischen Kolonialgesellschaft und der russischen Dampfergesellschaften. Der erste Entwurf beruhte auf dem Prinzip der Anerkennung des Rechts der russischen Untertanen auf Auswanderung, wobei der russischen Handelsschiffahrt durch Einräumung einer Vorrangstellung Förderung zuteil werden sollte. 41 Kritik am Entwurf k a m vom Außen- und vom Innenministerium. Das erstere verlangte f ü r die russische Flotte nicht n u r Vergünstigungen, sondern die Monopolstellung. Das Innenministerium polemisierte gegen den Ausgangspunkt des Entwurfs. Ende Oktober spitzte sich die Situation weiter zu, als ein Vertreter des Innenministeriums erklärte, daß die Kommission zur Beratung und Beschlußfassung über die ausschließlich der Kompetenz seiner Behörde unterliegende Frage der A u s w a n dererpässe, der rechtlichen Folgen der Auswanderung und der Auswandererbüros nicht befugt sei.42 Der Konflikt zwischen den Anhängern u n d den Gegn e r n der Anerkennung des Rechts auf Auswanderung widerspiegelte die tiefe =» Ebenda, 29 878, Bl. 23. 4U Ebenda, Bl. 19. 41 Biermann an Bülow, 13.11.1907, ebenda, Bl. 43 f. Vi Ebenda, Bl. 54.
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Meinungsverschiedenheit in den russischen Regierungskreisen hinsichtlich der Priorität wirtschaftlicher und politischer Belange, hinter denen sich verschiedene politische und ökonomische Interessen verbargen. Aber auch die ressortbedingten Interessenverschiedenheiten sind nicht zu unterschätzen. Für die deutsche Seite war die Tiefe der Differenzen schwer zu übersehen. Man mußte damit rechnen, daß ein Gesetzentwurf, der in der besonders wichtigen Frage der Begünstigung der russischen Flotte die sich abzeichnende Tendenz beibehielt, allgemeine Zustimmung finden könnte. Der Leiter der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes Koerner bat den Botschafter und den Generalkonsul in Petersburg, sich in Gutachten zu äußern, ob mit Rußland eine Vereinbarung darüber getroffen werden könnte, daß sich beide Regierungen verpflichten, „keine Maßnahmen zu treffen, durch welche Personen, die aus ihrem Gebiet auswandern wollen und die nach den geltenden allgemeinen Bestimmungen zur Auswanderung berechtigt sind, gehindert werden, den Weg durch das Gebiet des anderen Staates zu nehmen". Koerner verkannte nicht, daß das Interesse der anderen Seite an einer solchen Vereinbarung kaum groß sein dürfte, weil „die Vorteile ausschließlich auf deutscher Seite liegen würden, da eine deutsche Auswanderung über russische Häfen zur Zeit nicht stattfand und auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten stand".43 Daß der Plan an dem Kernproblem vorbeiging, erwähnten weder der Petersburger Botschafter Pourtales noch Generalkonsul Biermann in ihren Antworten nach Berlin. Beide begründeten übereinstimmend ihre Abneigung, mit etwaigen Anträgen an die russische Regierung heranzutreten, damit, daß die Beratungen der Kommission unterbrochen wären und es nicht abzusehen sei, ob und wann sie fortgesetzt werden würden.//* Damit endete die erste Runde des Ringens der deutschen Reedereien um die Verhinderung der sich abzeichnenden Störungen in ihrem Geschäft mit den russischen Auswanderern. Ihr Verhalten zeugte von der Entschlossenheit, sich sofort des Apparats des Auswärtigen Amtes zu bedienen, wenn es um die Gefährdung der erreichten Positionen ging. Pourtales und Biermann zeigten deshalb keine Bereitschaft, energisch einzugreifen, weil sie u. a. die Schwierigkeit, in den russischen Regierungskreisen über die Anerkennung des Rechts auf Auswanderung Einigkeit zu erzielen, richtig beurteilten. Die Zuversicht der deutschen Stellen, die ganze Angelegenheit würde an Bedeutung verlieren, rührte auch daher, daß Ende 1908 bekannt wurde, die Freiwillige Flotte hätte ihre Fahrten wegen Mangels an Passagieren und Fracht eingestellt. 45 Der deutsche Konsul in Libau, Kundt, hielt diese Tatsache für sehr wichtig. Er glaubte zu wissen, daß das Interesse der Regierung an der Legalisierung der Auswanderung ausschließlich auf die Beteiligung der Freiwilligen Flotte an diesem Geschäft zurückzuführen war.46 Doch enthielten die Beurteilungen der deutschen Vertreter, die die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern durch wirtschaftspolitische Komplikationen nicht zusätzlich belasten wollten, eine ganze Portion Zweckoptimismus. 43 44 45 4S
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Koerner an Pourtales und an Biermann, 31.12. 1907, ebenda, Bl. 58 ff. Pourtales und Biermann an Koerner, 27. 3. 1908, ebenda, Bl. 69, 77. Bericht von Biermann, 5.12.1908, ebenda, Bl. 87 f. „Jetzt, da die Freiwillige Flotte ausgeschieden ist, dürfte man der Russisch-Ostasiatischen Dampfschiffahrtsgesellschaft höheren Orts nicht mehr das Interesse entgegenbringen, wie früher der Freiwilligen Flotte." Ebenda.
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Die Lagebeurteilung, die die beiden deutschen Reedereien nach dieser ersten Runde abgaben, war weniger optimistisch. Zur Ungewißheit über den Ausgang der Beratungen der Emigrantenkommission kam das Eingeständnis der Niederlagen in mehreren anderen, vor allem von der Hapag parallel gestarteten Unternehmungen. Nachdem dieser Gesellschaft die Konzession für den Auswanderertransport Libau—New York von der russischen Regierung verweigert' wurde, versuchte sie, die Russisch-Ostasiatische Dampfschiffahrtsgesellschaft zu einem gefährlichen Konkurrenten der Freiwilligen Flotte umzuwandeln. 47 Ballin erwarb 51 Prozent der Aktien jener Gesellschaft, an der die russische Zaren- und die dänische Königsfamilie stark beteiligt waren, und richtete die Linie Libau—New York ein. Alle aus diesem Geschäft sich ergebenden Verluste sollte die Hapag tragen. Das Ergebnis dieser geschickten Aktion entsprach vermutlich nicht ganz ihren kommerziellen Erwartungen. Zwar war es der Russisch-Ostasiatischen Gesellschaft mit Hilfe der Hapag gelungen, den Konkurrenzkampf mit der Linie der Freiwilligen Flotte aufzunehmen und schließlich auch zu gewinnen. Aus diesem Sieg ergaben sich für die Hapag aber keine finanziellen Vorteile. Offensichtlich versuchte die Direktion der Russisch-Ostasiatischen Gesellschaft mit Hilfe ihrer anderen einflußreichen Teilhaber, die Bedeutung, die sie für die Hapag gewann, zum eigenen Vorteil auszunutzen. So lassen sich zumindest Erklärungen Ballins deuten, die ihn veranlaßt haben sollen, „sich von der Bindung freizumachen, obwohl die Hamburg—AmerikaLinie dadurch eine Einbuße von 1 1 / 2 Millionen Mark erlitten hat". 48 Den letzten Anstoß zu diesem Entschluß hatte, so glaubte der Preußische Gesandte in Hamburg berichten zu können, die Ballin zugegangene Mitteilung enthalten, „daß obwohl die Russisch-Ostasiatische Kompagnie seit dem Kriege mehrere Millionen Rubel unerledigte Forderungen an die russische Regierung hat, ein Betrag von vier Millionen Rubel in Folge der Fürsprache der Zarin-Mutter auf direkte Verfügung Seiner Majestät des Zaren aus russischen Regierungsfonds der dänischen Gesellschaft ausgezahlt worden ist. Dieser Betrag ist in den Taschen der Teilhaber der dänischen Gesellschaft geblieben, obwohl diese verpflichtet war, für die Befriedigung der Pflichten ihrer russischen Tochtergesellschaft Sorge zu tragen." 49 Es besteht genug Anlaß, dieser Interpretation mit Skepsis zu begegnen. Auf jeden Fall steht es jedoch fest, daß es der Russisch-Ostasiatischen Gesellschaft schon zu jenem Zeitpunkt gelungen war, in der Auseinandersetzung eine größere Selbständigkeit zu erringen, als ursprünglich von der deutschen Seite zugebilligt wurde. Auch der 1908 erfolgte Beitritt dieser Gesellschaft zur Atlantic Conference entsprach wohl kaum den ursprünglichen Absichten der deutschen Reedereien. Darüber hinaus erwies sich auch das Ausschalten der Freiwilligen Flotte aus dem Transatlantikgeschäft noch nicht als endgültig. Die reformierte und großzügig subventionierte Gesellschaft beabsichtigte 1909, noch einmal ihr Glück auf diesem Gebiet zu versuchen. 60 Es war nun zu erwarten, daß bald wieder
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Russkoe sudochodstvo, 19, 1905, 4; 20, 1906, 12; PA AA Bonn, 726, Marine, Bd. 25. ZStAP, AA, 6243, Bl. 14 f. Ebenda; vgl. auch Murken, S. 297 f. Russkoe sudochodstvo, 23, 1909, 5.
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Regierungsmaßnahmen erörtert werden würden, die die russische Schiffahrt begünstigen könnten. Die zweite Runde des Ringens der deutschen Reedereien um die Erhaltung vorteilhafter Ausgangspositionen im Auswanderungsgeschäft begann in einer für sie ungünstigen politischen Atmosphäre. Die Verstimmung gegenüber Berlin wegen der mit deutscher Unterstützung durchgesetzten Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn trug u. a. dazu bei, daß von der russischen Regierung keine besondere Rücksichtnahme auf Interessen der deutschen Schiffahrtsgesellschaften zu erwarten war. Dies war den diplomatischen Vertretern Deutschlands in St. Petersburg durchaus bewußt. Andererseits war der Einfluß der beiden Reedereien, der durch verschiedene Kanäle in das Auswärtige Amt einzudringen vermochte, nicht zu unterschätzen. Ihr Drängen, die Anliegen der deutschen Schiffahrt zum Testfall für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu machen, wurde um so stärker, je mehr die Gefahr der russischen Schiffahrtskonkurrenz in Libau feste Konturen anzunehmen begann. Ende 1909 erhielten die Hapag und der Norddeutsche Lloyd Informationen, daß Veränderungen bei der Regelung der russischen Auswanderung bevorständen. Die Regierung beabsichtige, der Duma in Kürze einen Gesetzentwurf vorzulegen, der darauf hinauslaufe, eine große Ermäßigung der Paßgebühren zugunsten derjenigen Auswanderer einzuführen, die von russischen Häfen mit Dampfern unter russischer Flagge abgingen. Die Differenz würde etwa 15 Rubel betragen. Die beiden deutschen Schiffahrtsgesellschaften erkannten sofort die in dem neuen Vorschlag steckende Gefahr; eine derartige Begünstigung konnte die Auswanderung über Libau leiten und sie dem üblichen Wege über die „grüne Grenze" entziehen. Am 2. Januar 1910 wandte sich die Direktion des Norddeutschen Lloyds an das Auswärtige Amt mit der Bitte um unverzügliche diplomatische Einwirkung. Sie erwähnte, daß die Regierungen Frankreichs, Dänemarks, der Niederlande und Belgiens durch ihre diplomatischen Vertreter in St. Petersburg gegen die geplante „Schädigung der Interessen ihrer Schifffahrtsunternehmungen Protest einzulegen beabsichtigen".51 Das Auswärtige Amt wurde ersucht, sich diesem Vorhaben anzuschließen und darüber hinaus in den bestehenden Handelsverträgen nach einer Handhabe zu suchen, um die russische Regierung zu veranlassen, die geplanten Erleichterungen auch den über die deutschen Häfen und über die trockene Grenze reisenden Auswanderern zuteil werden zu lassen. Das gleiche Ersuchen richtete auch die Hapag-Direktion an das Auswärtige Amt. Das Schreiben enthielt außerdem die Aufforderung, in Zukunft den Interessen der Schiffahrtsgesellschaften mehr Rechnung zu tragen: „Die Frage der Erhaltung des bisherigen Verkehrs ist für die deutschen Eisenbahnen und die deutschen Schiffsgesellschaften von so eminenter Bedeutung, daß wir Eure Excellenz nicht dringend genug bitten können, fortan keinen Handelsvertrag zu schließen, zu erneuern oder abzuändern, in dem die diesbezüglichen Interessen nicht ausdrücklich und zweifellos sichergestellt sind."52 Das Auswärtige Amt reagierte auf die Ersuchen beider Schiffahrtsgesellschaften, indem es mehrere Erkundungen anstellte bzw. veranlaßte. Es wurden Möglichkeiten geprüft, sich bei einem eventuellen Protest auf die Bestimmungen 51 52
ZStAP, AA, 29 879, Bl. 17-20. H'apag an Bethmann Hollweg, 7.1.1910; ebenda, Bl. 27-29.
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des Handels- und Schiffahrtsvertrages vom 29. Januar/10. Februar 1894 zu berufen. Jedoch konnte der Umstand, daß Rußland seine Handelsflotte hinsichtlich des Auswanderungsgeschäfts begünstigte, solange nicht als Vertragsverletzung angesehen werden, wie alle ausländischen Schiffahrtsgesellschaften gleichmäßig behandelt wurden. Diese letzte Einschränkung war wichtig. Man glaubte deutscherseits eine Begünstigung der englischen Schiffahrtslinien nachweisen zu können. Koerner ersuchte daher die deutsche Botschaft in Petersburg, vertrauliche Erkundigungen einzuziehen und sich über die Zweckmäßigkeit amtlicher Schritte zu äußern. 53 In Erlassen an die Botschaft in Paris und die Gesandtschaften in Kopenhagen, Brüssel und im Haag bat Koerner in Erfahrung zu bringen, ob die dortigen Regierungen amtliche Schritte in Petersburg zu tun beabsichtigten. 54 Aus den Gesandtschaften konnten die deutschen Vertreter zunächst nichts Bestimmtes berichten. Am 10. Februar 1910 kam aber eine unerwartete Nachricht aus St. Petersburg. Pourtales hatte in Erfahrung gebracht, daß der englische Botschafter im Auftrage seiner Regierung unter Berufung auf den englischrussischen Handelsvertrag gegen die in Aussicht genommenen Bestimmungen zur Begünstigung der Auswanderung auf russischen Dampferlinien bei der Petersburger Regierung protestiert hatte. Sir. A. Nicolson, schrieb Pourtales, trug selbst Bedenken, diesen Schritt zu tun, wurde aber nach nochmaliger Rückfrage bei seiner Regierung aufgefordert, die Protestnote sofort zu übergeben. 55 Daß diese ausgerechnet von englischer Seite kam, war für das Auswärtige Amt überraschend. Eine Begünstigung Englands, die den Rechtsexperten des Auswärtigen Amtes eine Handhabe geboten hätte, gegen das neue Gesetz zu protestieren, war kaum mehr nachzuweisen. Vielleicht hätte die Reaktion Englands mehr Aufmerksamkeit verdient. In den Akten der Handelspolitischen Abteilung finden sich jedoch keine Belege, daß man über die Begründung des englischen Protests Genaueres wußte. Im Januar 1910 beschlossen Hapag und Norddeutscher Lloyd, den Verlauf der Ereignisse in Petersburg dadurch stärker zu beeinflussen, daß sie M. A. Klausner als ihren Vertreter in die russische Hauptstadt entsandten. Diese Maßnahme hing vermutlich mit den Gerüchten zusammen, daß die Freiwillige Flotte und die Russisch-Ostasiatische Gesellschaft eine gemeinsame transatlantische Linie errichten wollten. 66 Klausners ausführliche Berichte gingen sowohl an die beiden Reedereien als auch an die deutsche Botschaft in Petersburg und das Auswärtige Amt. 5 7 Zuversichtlich empfahl er dem Botschafter Pourtales, energisch vorzugehen und bei bald herbeizuführender Gelegenheit der zuständigen russischen Stelle anzudeuten, daß es nicht gut sei, die werdende und jedenfalls noch zarte und schonungsbedürftige deutsch-russische Entente einer vorzeitigen Belastungsprobe auszusetzen. „Ich weiß", fuhr er fort, „daß die leitenden Herren jetzt mehr denn je auf Erhaltung und Förderung guter Beziehungen zu Deutschland gestimmt sind. Sie haben Ordre nach dieser Richtung." 58 53 64 55 56 57 58
Ebenda, Bl. 36 f. Ebenda, Bl. 45 f. Ebenda, Bl. 78. Vgl. Murken, S. 416. ZStAP, AA, 29879, Bl. 80. Ebenda, Bl. 81 f.
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Pourtalés teilte diesen Optimismus nicht. Er wußte wohl, wie schonungsbedürftig nach der Bosnischen Krise die deutsch-russischen Beziehungen waren. Auch Koerners Drängen, sich definitiv über die zu ergreifenden Maßnahmen zu äußern, veranlaßten ihn nicht, die abwartende Haltung aufzugeben. Der russischen Regierung seien doch schon Bedenken unterbreitet worden, und es sei aus allgemeinpolitischen Erwägungen nur von Vorteil, daß England und nicht Deutschland sich dazu entschlossen habe. Die Richtigkeit dieser Haltung sah der Botschafter darin bestätigt, wie die russische Regierung die englische und die inzwischen gleichfalls eingegangene dänische Protestnote gegen die Begünstigung der russischen Schiffahrt beantwortete. Nach Pourtalés' Information erwiderte die russische Seite ganz knapp, daß sie die Ansicht, die in den Noten enthalten war, nicht teile. Die Verträge mit den beiden Staaten enthielten keinerlei Bestimmungen, die eine Begünstigung der heimischen Schiffahrt in Zukunft ausschlössen.59 Danach war man auch in Berlin überzeugt, daß vorläufig nichts zu unternehmen sei. Dies geht aus der vertraulichen Mitteilung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts an den Staatssekretär des Innern hervor, in der dieser unterrichtet wurde, daß die Botschaft in Petersburg angewiesen worden sei, bis auf weiteres eine abwartende Haltung einzunehmen. 60 Aber weder der Norddeutsche Lloyd noch die Hapag waren bereit, so schnell aufzugeben. Als Vorwand für eine neue Intervention glaubten sie, den russischjapanischen Handelsvertrag benutzen zu können. In einem Schreiben an Bethmann Hollweg vom 15. Juni 1910 hoben sie zunächst hervor, wie dringend das Eingreifen der deutschen Regierung sei. Daß der deutsch-russische Handelsvertrag keine Handhabe für ein derartiges Eingreifen bot, stand inzwischen zweifellos fest. Andere Handelsverträge wurden nacheinander der Prüfung unterzogen, und schließlich fand sich einer, der den Rechtsexperten der deutschen Schiffahrt aussichtsreich erschien: Nach dem russisch-japanischen Handelsvertrag mußten alle Begünstigungen, die Rußland seiner eigenen Flotte zuteil werden ließ, auch der japanischen Flotte zugute kommen. Auf Grund des Meistbegünstigungsrechts könnte aber Deutschland das Gleiche verlangen, was Japan zugestanden wurde. Die Bitte um rasche Prüfung und um Intervention wurde mit Argumenten begründet, deren Unverfrorenheit dem Gesuch einen Seltenheitswert verleiht. Die diplomatische Vertretung in Petersburg könnte doch geltend machen, hieß es in der Eingabe, daß es der russischen Regierung so wenig wie irgendeiner anderen verdacht werden könnte, wenn sie Maßnahmen zur Förderung der eigenen Schiffahrt ergriffe; das geplante Auswanderungsgesetz würde aber tatsächlich der russischen Schiffahrt keinen Nutzen bringen, sondern nur dem russischen Staate schwere Lasten aufbürden. Die deutsche Vertretung sollte also in ihrer Argumentation die Sorge um die russische Schifffahrt in den Vordergrund rücken.81 Die Möglichkeit, mit Hilfe des russisch-japanischen Vertrages weiterzukommen, wurde vom Auswärtigen Amt unverzüglich geprüft. Der Leiter des Osteuropäischen Referats Goebel erkannte sofort die Schwierigkeit, an Rußland Forde-
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Ebenda, Bl. 109. ZStAP, Reichsamt des Innern, 1663, Bl. 129. Ebenda, Bl. 136-139.
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rungen zu stellen, die J a p a n selbst k a u m erheben würde. 62 A n f a n g Dezember erhielten die beiden Schiffahrtsgesellschaften die endgültige A n t w o r t vom Auswärtigen Amt, daß ihr Ersuchen u m ein Eingreifen auf diplomatischem Wege abgelehnt w e r d e n mußte. Goetsch ließ sich von den Direktoren der beiden Linien bescheinigen, daß vom Auswärtigen Amt und der Botschaft in Petersburg alles geschehen sei, u m die Interessen der deutschen Schiffahrtsgesellschaften zu wahren. Er empfahl ihnen, auf dem Wege der Selbsthilfe, „vielleicht Erwerbung von Aktien der in Betracht kommenden russischen Gesellschaften", die Nachteile der neuen Gesetzgebung abzuschwächen oder zu beseitigen.® Der Gesetzentwurf w a r in der Zwischenzeit immerhin dem Ministerrat vorgelegt worden. Aus diesem Anlaß veröffentlichte die „Ree" am 7./20. Oktober 1910 ein Interview mit dem schon erwähnten Vorsitzenden der Kommission P. I. Miller. Dieser erläuterte noch einmal die Gründe, die dieses Gesetz notwendig machten. Das prinzipielle Recht auf Auswanderung spielte dabei ü b e r h a u p t keine Rolle mehr. Einen zentralen Platz n a h m e n im neuen Entwurf die Änderungen der Paßvorschriften ein. Die Gesetzesvorlage sah vor, Erwerbsemigranten von der Paßgebühr zu befreien und die Formalitäten f ü r die Beschaffung von Auslandspässen erheblich zu erleichtern. Diese Vergünstigungen w u r d e n jedoch n u r den Auswanderern gewährt, die auf russischen Schiffen ausreisten. Miller gab offen zu, daß der Sinn dieser M a ß n a h m e ausschließlich darin bestand, einem erheblichen Abfluß von Geld ins Ausland entgegenzuwirken. Er hob u. a. auch die Notwendigkeit hervor, die Rechte der Auswanderer zu schützen. Miller n a n n t e zwar keine Maßnahme, die in diese Richtung zielte, nutzte aber die Schilderung der bestehenden Zustände f ü r die Polemik gegen die deutschen Auswandererunternehmer, die die russischen Auswanderer wie eine Ware behandeln würden, die ihnen bedeutende Gewinne zu bringen v e r sprach. „Darin liegt leider etwas Wahres", schrieb Koerner an den Rand der ihm zugestellten Übersetzung. 64 Bei dieser leisen Selbstkritik ließ m a n es aber bewenden. Das Interesse der Hapag und des Lloyd an Deutungsvarianten des russischjapanischen Vertrages ließ merklich nach, als die Vereinbarung zwischen dem Continental Pool und der Russisch-Ostasiatischen Dampfschiffahrtsgesellschaft b e k a n n t wurde. Danach sollten die Pool-Linien mit 94 bis 95 Prozent, die russische Linie mit dem Rest an dem russischen Auswanderungsgeschäft beteiligt werden. 6 5 Gegenüber der Vereinbarung von 1908 w a r der Anteil der Russischen Amerika-Linie, wie sie n u n bezeichnet wurde, m e h r als verdoppelt. 6 6 Der Preis, den die „Pool"-Mitglieder damit an die Gesellschaft zahlten, w a r nach Murkens Einschätzung „sehr hoch, aber durch die außergewöhnlichen Umstände gerechtB2
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Die Einstellung der Beamten des Auswärtigen Amtes zu dieser Idee, die sie allen Ernstes zu prüfen hatten, kam in Goetschs leicht sarkastischen Randbemerkungen zum Ausdruck: „Sie (die japanische Regierung — L. T.) hat kein Interesse daran, da sie russische Auswanderer von den russischen Ostseehäfen in absehbarer Zeit kaum befördern wird." ZStAP, AA, HpA 29 879, Bl. 140. Ebenda, 29 880, Bl. 41-45, 49. Ebenda, Bl. 28 f. Ebenda, Bl. 50. Murken, S. 418.
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fertigt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Schaden, der ihnen durch die Verwirklichung des geplanten russischen Auswanderungsgesetzes und den Ausbruch des kostspieligen Ratenkampfes entstanden wäre, sehr viel höher gewesen sein würde als der der Russischen Amerika-Linie bewilligte Mehranteil."67 Diese Meldung war zumindest nach außen hin ein Grund für das auffallende Desinteresse, das die deutschen Reedereien dem Schicksal des Gesetzentwurfs von da an entgegenbrachten. Nicht unwesentlich war jedoch auch der Umstand, daß die Aufmerksamkeit der deutschen Reedereien, die als treibende Kraft die zuständigen Referate des Auswärtigen Amtes in Bewegung gesetzt hatten, an einem anderen Betätigungsfeld vorübergehend gefesselt wurde. In einer gemeinsamen Eingabe an das Auswärtige Amt und das Reichsamt des Innern Anfang Februar 1910 teilten die Hapag und der Lloyd mit, daß eine unkontrollierte Durchfahrt russischer Auswanderer durch Elsaß-Lothringen und Bayern nach den Häfen Antwerpen und Rotterdam und zurück möglich sei. Die beiden Reedereien zeigten sich besorgt, daß diese Auswanderer „sowohl in armen- wie auch in sanitäts- und sicherheitspolitischer Beziehung eine nicht zu verkennende Gefahr für die betreffenden Länder" bildeten; sie empfahlen daher, mit den Regierungen der Bundesstaaten darüber zu beraten, wie diesem „unkontrollierten Durchgangsverkehr außerdeutscher Auswanderer entgegengetreten werden" könne. 68 Welches Interesse die beiden Gesellschaften an diesen Fragen hatten, blieb zunächst unerwähnt. Einige Wochen später richteten sie jedoch ein weiteres Schreiben an das Reichsamt des Innern, aus dem klar hervorging, daß diese „sanitär verdächtigen Auswanderer" in erster Linie Passagiere der in Deutschland nicht konzessionierten Uranium-Linie aus Rotterdam waren. Zum anderen wurde auch das Rückwanderergeschäft der deutschen Linie durch diese Konkurrenz geschädigt. 69 Die beiden Gesuche der deutschen Linien gaben Anlaß zu mehreren neuen Verordnungen, unter denen die von der preußischen Regierung beschlossenen „Vorschriften über den Verkehr außerdeutscher Rückwanderer über die preußische Grenze" vom 3. Dezember 1910 sehr bald besonderen „Ruhm" erlangten. Darin wurde u. a. festgelegt: 1) alle Eisenbahnzüge auf der ersten preußischen Station darauf hin zu kontrollieren, ob sie Rückwanderer mit sich führten, 2) solche Rückwanderer, die durch eine in Deutschland konzessionierte Schiffahrtsgesellschaft befördert wurden, einer weiteren Kontrolle nicht zu unterwerfen; 3) diejenigen Rückwanderer, die von einer in Deutschland nicht konzessionierten Gesellschaft in Sonderzügen befördert wurden, nur dann unbehindert durchzulassen, wenn sie Fahrkarten bis zu ihrem Heimatort oder über Preußen hinaus besaßen; 4) jeden anderen „polizeilich anzuhalten" und die Weiterfahrt nur dann zu gestatten, wenn er genügend Barmittel vorweisen könne (mindestens 200 M pro Erwachsenen und 100 M pro „jüngere Person"). Andernfalls war dieses „Rückwanderungselement" zurückzuweisen. 70 67
Die neue Lage erlaubte der Leitung der Russisch-Ostasiatischen Dampfschiffahrtsgesellschaft ab 1911, ihre Dividendenzahlung mit 5 Prozent wieder aufzunehmen und diese zwei Jahre später auf 12 Prozent zu steigern. Ebenda. 68 ZStAP, Reichsamt des Innern, 1570, Bl. 250 f. "" Ebenda. 70 Ebenda, Bl. 222 f., 249.
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Es war offensichtlich, daß eine Verschärfung der geltenden Bestimmungen beabsichtigt war. Hinzu kam, daß die neue Verordnung durch ein Schreiben des Preußischen Innenministers bekräftigt wurde, in dem auf die unbedingte Einhaltung der Verfügung bestanden wurde. Daß diese neue Praxis Proteste der betroffenen Nachbarstaaten auslösen würde, war zu erwarten. Schon am 7. Januar 1911 erhielt das Auswärtige Amt ein Telegramm von der niederländischen Grenze. Ein Sonderzug und mehrere Sonderwagen mit fast 800 russischen und österreichischen Rückwanderern waren dort angehalten worden. Es handelte sich durchweg um Passagiere der Uranium-Linie. Als Vorwand für die Zurückweisung wurde von der preußischen Fremdenpolizei angeführt: a) es fehle der Nachweis, daß die Züge bis zur östlichen preußischen Grenze fahren würden, b) daß russische Auswanderer Fahrkarten bis an die östliche preußische Grenzstation und nicht bis „hinter die Austrittsgrenze" besessen hätten.71 Innerhalb von wenigen Tagen gaben sowohl die Vorschriften als auch ihre praktische Durchführung Anlaß zu diplomatischen Vorstellungen der Vertreter Großbritanniens, Österreich-Ungarns, Rußlands und der Niederlande.72 In der niederländischen Presse war der Widerhall der preußischen Verordnungen besonders stark. Sie erblickte in dieser Regelung eine Schädigung der eigenen Schiffahrt, und zwar ohne jede Rücksicht auf die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern.73 Die betroffenen holländischen Firmen wandten sich zugleich auch direkt an den Norddeutschen Lloyd, gegenüber dem sie Argumente vorbrachten, die denen in der Presse erörterten ähnelten, aber auch Drohungen mit Gegenmaßregeln gegen die deutsche Industrie und Schiffahrt. Der Unterstützung der Regierung sicher, leugnete die Direktion des Norddeutschen Lloyds jede Beteiligung an der neuen preußischen Aktion.74 Doch weder Proteste noch Drohungen vermochten die Haltung des preußischen Innenministeriums zu erschüttern. Selbstbewußt teilte es dem Auswärtigen Amt mit, daß es „zu grundsätzlichen Einschränkungen der Vorschriften nicht bereit sei, während es an der billigen Berücksichtigung begründeter Wünsche nicht fehlen lassen wird".75 Die Praktiken der beiden Schiffahrtsgesellschaften zeigen, welchen Einfluß sie besaßen und wie weit das Entgegenkommen der Regierungsstellen gegenüber ihren Profitinteressen ging. Zwei weitere Beispiele mögen demonstrieren, daß die Unterstützung der deutschen Reedereien durch den Staat nicht ohne Komplikationen auf dem Schachbrett der großen europäischen Politik zu bewältigen war. Schikanen gegenüber österreichischen Auswanderern veranlaßten die österreichisch-ungarische Regierüng zu scharfen Protesten. Graf Aerenthal erklärte dem deutschen Botschafter in Wien, die von Preußen ergriffenen Maßnahmen stünden nicht im Einklang mit dem deutsch-österreichischen Handelsvertrag. Es sei zu befürchten, daß diese Frage zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden verbündeten Mächten führen könne, wenn nicht preußischerseits einiges 71 72 73 74 78
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
Bl. 265 ff. Bl. 263. Bl. 293. 1571, Bl. 29. 1570, Bl. 285.
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Entgegenkommen gezeigt würde. 76 Darum ging es dann auch Reichskanzler Bethmann Hollweg. Seine Vorschläge an das Innenministerium wichen nur minimal von der bestehenden Praxis ab, und doch entlarvten sie ungewollt die Unsinnigkeit der offiziellen Argumente. Er versuchte z. B. zu prüfen, ob es zulässig sei, die mitten in Preußen aufgegriffenen Auswanderer in die Richtung abzuschieben, die mit dem von ihnen angegebenen Ziel übereinstimme. „Eine Abschiebung solcher Personen, falls sie Durchwanderer sind, nach der Richtung hin, in der sie reisen wollen, dürfte den für die Kontrolle der Durchwanderer maßgebenden sanitäts-, armen- und sicherheitspolizeilichen Gesichtspunkten mindestens ebenso gut entsprechen, wie ihr zwangsweiser Abschub nach ihrer Heimat." Bethmann Hollweg bat zu bedenken: „Der Schaden, der dadurch vielleicht entsteht, daß österreichische Auswanderer gelegentlich unkontrolliert durch Preußen reisen, steht jedenfalls in keinem Verhältnis zu den Nachteilen, die uns auf politischem Gebiete dadurch erwachsen können, daß infolge einer rücksichtslosen Behandlung österreichischer Durchreisender die öffentliche Meinung in Österreich gegen Deutschland dauernd in Erregung versetzt wird."77 Der besänftigende Ton, in dem der Reichskanzler die preußische Fremdenpolizei zur Räson rief, ist angesichts des Wirbels, den die Behandlung der Rückwanderer verursachte, bemerkenswert. Die neue preußische Verordnung wurde auch von den Gegnern der kurz zuvor nach Überwindung großer Schwierigkeiten eingetretenen Besserung der deutschrussischen Beziehungen hochgespielt. Es fühlten sich diejenigen Kräfte in ihrer Haltung bestärkt, die dagegen aufgetreten waren. Die „Novoe Vremja" nahm das für die russischen Auswanderer geweckte Interesse zum Anlaß, um die ihr nach der Zusammenkunft in Potsdam verdächtige Gesinnung des Außenministers Sazanov anzugreifen. „Der russische Minister des Äußeren, der Deutschland soeben seine tiefe Friedensliebe und seine Bereitschaft, um des Friedens willen wesentliche Vorteile Rußlands im mittleren Orient preiszugeben, bewiesen hat, wird es vielleicht für zeitgemäß finden, für russische Untertanen das Recht der Durchreise durch das Nachbargebiet zu erwirken." 78 Während diese Äußerung deutlich die Absicht verriet, die für die „Novoe Vremja" an sich unwichtige Emigrantenangelegenheit als Vorwand zur Bekämpfung der nicht genügend couragiert erscheinenden Haltung der eigenen Regierung zu benutzen, entlarvte der in der „Ree" vom 23. März/5. April 1911 erschienene Artikel die Hintergründe des Auswandererproblems: „Man darf kühn sagen, daß die Blüte der Hamburg-Amerika-Linie und des Norddeutschen Lloyds zu einem sehr großen Teil auf der Ausbeutung von Hunderttausenden russischen Auswanderern beruht. Gegenwärtig wiederholt Deutschland dieselbe Geschichte mit den aus Amerika heimkehrenden Emigranten . . . Und um . . . auch die Welle des Auswandererstroms auszunutzen, erläßt Deutschland besondere Regeln für die Fahrt der Auswanderer durch deutsches Territorium. Diese Regeln betreffen natürlich nicht diejenigen, die über Hamburg und Bremen heimkehren, sondern lediglich diejenigen, die über Rotterdam und Antwerpen reisen. Einfach und deutlich! Diese offenkundige räuberische Ausbeutung der russischen Aus7e 77 78
Ebenda, 1571, Bl. 60. Ebenda, Bl. 65 f. Ebenda, Bl. 295. Übersetzung aus „Novoe Vremja", 9./22.1.1911.
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wanderer durch die Deutschen sollte, wie man meinen müßte, unser Handelsministerium veranlassen, sich etwas energischer an die Regulierung der russischen Auswanderung zu machen und etwas schleuniger diese oder jene Reformen darin durchzuführen."79 Bezeichnenderweise ist im Artikel von Deutschland und nicht von den deutschen Unternehmen bzw. Behörden die Rede. Die „Ree" benutzte diese Gleichstellung zugleich als Vorwurf an die eigene Regierung, die sich nicht so engagiert für die Interessen der russischen Schiffahrt und, davon abgeleitet, für die Regelung der Auswanderung einsetzte. Dieser Vorwurf war berechtigt. Er veranlaßte die Regierung aber nicht, die Behandlung des Gesetzentwurfs zu beschleunigen. Erst nach zwei weiteren Jahren, im Februar 1913, veröffentlichte der Regierungsanzeiger die neue Vorlage. Sowohl die Prinzipien als auch einzelne Festlegungen des früheren Entwurfs Waren beibehalten worden. Der zweite Teil enthielt aber Modifikationen, die eine weitergehende Begünstigung der eigenen Schiffahrt bezweckten. Es heißt darin: „Personen, die aus russischen Häfen in direkter Fahrt auf Schiffen eines russischen Unternehmens . . . in außereuropäische Länder reisen, um dort Arbeit zu suchen, erhalten, an Stelle von Auslandspässen, Erlaubnisscheine zur Ausreise, zum Aufenthalt im Ausland und zur Wiedereinreise nach Rußland... Die Erlaubnisscheine sind fünf Jahre gültig, gerechnet vom Tag der Ausreise aus dem russischen Hafen. Russische Untertanen, die auf Grund von Erlaubnisscheinen ausgereist sind und über die westliche Landgrenze, wenn auch über einen russischen Hafen, aber auf einem Schiff, das einem ausländischen oder einem russischen nicht mit Konzession versehenen Unternehmen gehört, zurückkehren, haben für die ganze Aufenthaltsdauer im Ausland je 15 Rubel für das Halbjahr nachzuzahlen."80 Auf diese Weise versuchten nun die russischen Behörden, das Rückwanderergeschäft für ihre Schiffahrt zu sichern. Der Entwurf sah gegenüber den vorangegangenen Fassungen eine viel weitergehende Begünstigung der eigenen Flotte vor. Aber diesmal protestierte keine Regierung dagegen, u. a. wohl auch deshalb, weil nach sechsjähriger Beratung der Gesetzentwürfe niemand mehr an ein Inkrafttreten des Gesetzes in absehbarer Zeit glaubte. Einige der im Entwurf enthaltenen Bestimmungen, vor allem insoweit sie sich auf die Erleichterung und Verbilligung der Paßbesorgung bezogen, waren tatsächlich bereits eingeführt. Diesem Umstand hatte die russische Schiffahrt zu verdanken, daß die Auswanderung über Libau in der Zwischenzeit wie folgt gestiegen war81: 1909 1910 1911 1912 1913 w
M
28 007 Personen 39 161 35 047 57 215 69 405
ZStAP, AA, 29880, Bl. 58 f. ZStAP, Reichsamt des Innern, 1663, Bl. 178 f. ZStAP, AA, HpA 29881, Bl. 10 f. Zum Vergleich die Zahlen der russischen Auswanderer über Hamburg: Jahr 1910 1911 1912 1913 Zahl d. Pers. 47 943 37 962 62 435 99 602 (entnommen dem Bericht über die Tätigkeit des Reichskommissars für das Auswanderungswesen 1910-1914, ZStAP, Reichsamt des Innern, 1590, Bl. 312).
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Zwar blieb die Zahl der Auswanderer, die diesen Weg wählten, immer noch kleiner als die derjenigen, die die traditionellen Auswanderungshäfen nutzten, doch der Abstand zu den letzteren verringerte sich immer mehr. Das optimistische Bild der russischen Transatlantikschiffahrt wies allerdings für die Eingeweihten einige Schattenseiten auf, denn diese Fortschritte hingen mit der Monopolstellung der Russisch-Ostasiatischen Gesellschaft im Libauer Hafen zusammen. Anfang 1914 wurde der Gesetzentwurf erneut vom Ministerrat geprüft. Der Teil, der die überseeische Emigration regelte, wurde angenommen. Einwände und Bedenken richteten sich gegen den Passus, der die Saisonarbeiter, die nach Deutschland, Dänemark usw. auswanderten, betraf. Biermann nahm nicht ohne Grund an, daß „die dem ostelbischen Großgrundbesitz unentbehrlichen russischen Saisonarbeiter als Waffe in d e n . . . bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen" benutzt werden sollten.82 Auch die Befürchtung, daß durch die Abwanderung der Saisonarbeiter die Schwächung „des russischen Elements" und „die Besiedlung des Landes durch Ausländer" und damit die „Schwächung des russischen Staatswesens" erfolgen könnte, spielte bei der zögernden Behandlung dieser Frage eine Rolle.83 Schließlich teilte der russische Entwurf des Auswanderungsgesetzes das Schicksal der österreichischen Versuche: Eine gesetzliche Regelung der Auswanderung wurde nicht erreicht. Wie reagierten die deutschen Reedereien auf die veränderten Bedingungen im russischen Auswanderungsgeschäft? Würde man anhand der Auswanderungsakten des Auswärtigen Amtes und des Reichsamtes des Innern allein urteilen, könnte man keine Reaktion feststellen. Gemeinsame Protestschreiben der Hapag und des Norddeutschen Lloyds, die ihr geschlossenes Vorgehen und ihren Ideenreichtum demonstrierten, wenn es darum ging, die deutschen Behörden zugunsten der beiden Gesellschaften zum offiziellen Eingreifen zu veranlassen, blieben nunmehr völlig aus. Dafür gab es triftige Gründe, die auch der Presse nicht verborgen blieben. Übereinstimmend berichteten mehrere Zeitungen über Auseinandersetzungen zwischen den beiden Reedereien, die wegen des Quotenanteils am nordatlantischen Auswandererverkehr ausgebrochen waren. 84 Die hier zum Vorschein gekommene Rivalität führender deutscher Schiffahrtsgesellschaften betraf nicht nur die Transatlantikfahrten. Das Kräftemessen nahm einen offenen Kampfcharakter an. 1911 ging es auch um den südamerikanischen Pool, dessen Erneuerung der Lloyd durch erhöhte Quotenforderungen in Frage gestellt hatte. Zu einem ernsteren Interessenkonflikt kam es 1913 in der Frage der Reichspostdampfersubventionen für die Linien nach Ostasien und Australien. Als dann der Streit um die Quote in der transatlantischen Auswanderung hinzukam, konnte er als Symptom für den harten und langwierigen Konkurrenzkampf der beiden Schiffahrtsmonopole gewertet werden. Nicht nur der Bau der Schiffe 10 13
84
ZStAP, AA, 29 881, Bl. 3. Ebenda, Bl. 7. Vgl. Mitter, Arnim, Slawische Erwerbsemigration nach Deutschland (1905-1914), Berlin 1979 (MS). Hamburger Nachrichten, Nr. 342, 24. 7.1913; Frankfurter Zeitung, Nr. 203, 24. 7. 1913; Berliner Tageblatt, Nr. 370, 373, 24. und 25.7.1913; ZStAP, AA, 17512, Bl. 2 bis 240.
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der Serie „Imperator" durch die Hapag und die Erhöhung ihres Aktienkapitals 1912 auf 150 Millionen Mark veranlaßten Ballin, eine Steigerung der Anteile für seine Reederei zu verlangen. Hinzu kam die Nachricht über den Alleingang des Norddeutschen Lloyds in den Verhandlungen mit einer österreichischen Konkurrenzlinie. Dieser sogenannte Fall Austro-Americana wird von Murken als einer der wichtigsten Gründe für den Konflikt zwischen beiden Gesellschaften angeführt. 85 Er erwähnt aber nicht, daß der Norddeutsche Lloyd auch in Rußland das gleiche tat. Die Handelspolitische Abteilung erhielt Anfang September 1913 einen Hinweis aus Libau, daß dort ein neues Schiffahrtsunternehmen ins Leben gerufen wurde, um den Auswandererverkehr von Libau nach Amerika über Bremen oder Emden zu leiten. 86 Der vagen Mitteilung, in der die Vermutung ausgesprochen war, daß hinter dem neuen Unternehmen der Norddeutsche Lloyd stehen könnte, folgte bald der ausführliche Bericht des Rigaer Konsuls über die konstituierende Versammlung dieser neuen „DampfschiffahrtsAktiengesellschaft Baltischer Lloyd". 87 Bald darauf gab der Norddeutsche Lloyd seine Vaterschaft zu. „Es ist richtig", schrieb Direktor Heineken in einem Brief an den preußischen Gesandten in Hamburg v. Bülow, „daß wir der Gründung des neuen Schiffahrtsunternehmens in Libau . . . nahestehen, die Gründung erfolgte aber durch russische Untertanen, die hiermit ein selbständiges russisches Unternehmen ins Leben riefen, welches mit einem Grundkapital von einer Million Rubel gegründet wurde. Selbstverständlich hat sich der Norddeutsche Lloyd die Zuführung von Auswanderern dieser Linie ausschließlich für seine Schiffe gesichert, wie er es auch übernommen hat, die Agenturgeschäfte dieser Gesellschaft hier in Deutschland zu besorgen." 88 Wie die Hapag den erneuten Vertrauensbruch ihres deutschen Rivalen beurteilte, geht aus Dokumenten hervor, die J a h r e später die Situation, wie sie kurz vor dem ersten Weltkriege entstanden war, analysierten. In dem eingangs zitierten Schreiben des Direktors Strom vom Februar 1915 bedauerte dieser das Vorgehen des Norddeutschen Lloyds: „Vorteil hat diese Tochtergesellschaft dem Lloyd bisher nicht gebracht, und Vorteil wird sie ihm auch wahrscheinlich nicht bringen. Des Lloyd's den Verkehr über die Landesgrenze schwächende Maßnahme hat den in den übrigen Nordseehäfen beheimateten Gesellschaften aber Anlaß gegeben, seinem Beispiele zu folgen." 89 Strom betonte, daß die Hapag seit 20 Jahren dem Grundsatz treu geblieben war, „den russischen Verkehr nur über die Landesgrenze zu ziehen". Die Beziehungen der Hapag zu der RussischOstasiatischen Gesellschaft, die doch auf einer ganz anderen Grundlage beruhten, überging er genauso mit Schweigen wie die Bemühungen seiner Reederei um die Libauer Konzession. Die Dokumente aus dem Nachlaß von Dr. Greve vermittelten einen Einblick in die Pläne, die deutsche Schiffahrtsgesellschaften in verschiedenen Kriegshäfen hinsichtlich der Ausnutzung des Auswanderungsgeschäfts nach dem Kriegsende entwarfen. Diese Pläne und Denkschriften sind nicht nur deshalb Vgl. Murken, S. 518-571. ZStAP, AA, 29 880, Bl. 153. "7 Ebenda, Bl. 155. ® Ebenda, Bl. 154. w PA AA Bonn, Nachlaß Dr. Greve, Bd. 2. 85
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interessant, weil darin über die Größe und über die beste Variante des Geschäfts sehr offen gesprochen wurde, wie die schon zitierten Dokumente zeigen. Der Stellenwert des Auswanderungsgeschäfts läßt sich auch an der Hartnäckigkeit messen, mit der diese Frage in allen Unterlagen aufgeworfen wurde. Während in der ersten Denkschrift von 1915 die Forderungen der deutschen Reedereien sehr weit gingen, wurden sie gegen Ende des Kieges nur auf die allerwichtigsten Punkte reduziert. Um so interessanter ist es, festzuhalten, worauf es den deutschen Reedereien ankam. In der Ergänzung zur zweiten Denkschrift, die der Kriegsausschuß der Deutschen Reedereien Ende 1918 an den Vorsitzenden der Waffenstillstandskommission Staatssekretär Erzberger richtete, hieß es: „Wenn Deutschland zugestehen würde, daß die Kontrolle des Auswanderungsverkehrs, der durch Deutschland geht, in Zukunft sich tatsächlich nur auf rein hygienische Maßnahmen beschränken s o l l . . . und wenn Deutschland ferner sich bereit erklärt, die bestehenden Ausnahmetarife, soweit sie die deutsche Schiffahrt begünstigen, aufzuheben, so müsse man alsdann deutscherseits die Forderung aufstellen, daß, entsprechend dem deutschen Beispiel, auch die übrigen Länder alle Beschränkungen der Bewegungsfreiheit beseitigen . . . Die Aufgabe der Kontrolle des Auswandererverkehrs ist ein großes Opfer, weil dadurch die Monopolstellung der deutschen Reedereien in der Beförderung der osteuropäischen Auswanderer, die ihren Weg ganz überwiegend über Deutschland nehmen mußten, beseitigt wird."90 Dieser Standpunkt klang in dem Referat des Generaldirektors des Norddeutschen Lloyds Heineken über die Forderungen der deutschen Seeschiffahrt bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen, das am 29. März 1919 in Berlin gehalten wurde, an. Das Ganze mutet reichlich grotesk an, weil die Forderung nach Beibehaltung der Auswandererkontrolle parallel zu den Fragen, wie die konfiszierte deutsche Flotte zurückzuerhalten sei, erläutert wird. 91 Die Bedeutung des Dienstes, den der Staat der deutschen Schiffahrt mit der Einrichtung der Auswandererkontrollstationen erwiesen hatte, wird in den erwähnten Kriegsdokumenten nochmals hervorgehoben. Aber auch ein anderer Tatbestand fällt auf. Pläne für die Gestaltung des Auswanderungsgeschäfts nach dem Kriege konnten die Verantwortlichen für die Schiffahrt unbesehen gegen Rußland richten, da es sich um einen Kriegsgegner Deutschlands handelte. Dagegen war dieselbe Behandlung des österreichischen Verbündeten mit dem Risiko außenpolitischer Komplikationen verbunden. Die leitenden Unternehmer der beiden deutschen Reedereien waren sich darüber im klaren, daß bei der Höhe der Profite aus dem Auswanderungsgeschäft jede Vergabe von Konzessionen bzw. jede Bevorzugung dieser oder jener nationalen Schiffahrtsgesellschaft für die betreffende Regierung auch die Frage der außenpolitischen Orientierung berührte. In dem zitierten Brief des Hapag-Direktors Strom polemisiert dieser gegen die zu weitgehenden Forderungen des Norddeutschen Lloyds: „Die Einräumung einer Monopolstellung für Deutschlands Handelsflotte... dürfte ein souveräner Staat wie Rußland sich auch besiegt nicht abzwingen lassen. Die einseitige Bevorzugung Deutschlands zugunsten aller anderen Schiffahrt treibenden Nationen ist für Rußland eine Unmöglichkeit, denn Rußland braucht ^ Ebenda. al Ebenda.
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notwendig die Freundschaft Frankreichs wegen seiner Anleihen, und die Vereinigten Staaten darf Rußland nicht vor den Kopf stoßen, weiil seine einzige größere nationale transatlantische Linie von Libau nach New York g e h t . . . Auf die Freundschaft Englands ist Rußland ebenfalls angewiesen."92 Die Frage, wie weit Interessen monopolistischer Großunternehmen die Orientierung der außenpolitischen Bindungen beeinflußten, soll hier gestellt werden. Es ging nicht mehr allein darum, den Apparat des Auswärtigen Amtes den ökonomischen Interessen dienen zu lassen, sondern darum, wie sich die beiden Seiten (Monopole und das Auswärtige Amt) verhalten, wenn ihre Interessen in Konflikt geraten. Die hier angeführten Tatsachen sprechen dafür, daß das Auswärtige Amt den Forderungen der größten deutschen Reedereien in sehr starkem Maße Rechnung trug, was allerdings auf eine besondere Stellung dieser Unternehmen innerhalb der deutschen Vorkriegswirtschaft zurückgeführt werden muß. Die beiden Reedereien waren nicht nur die führenden deutschen Schiffahrtsunternehmen, sondern gehörten zu den größten Monopolunternehmen Deutschlands überhaupt. Ballins Reederei wies mit 14 643 Beschäftigten nach den Kruppwerken die zweitgrößte Konzentration der Arbeitskräfte auf.9® Das Gewicht dieses Unternehmens wuchs auch bei der Durchsetzung von politischen Entscheidungen parallel zur Vergrößerung seines Aktienkapitals. Zum anderen handelte es sich besonders bei der deutschen Handelsflotte um einen mit der Außenpolitik sehr eng verbundenen Industriezweig: „Kein Industriezweig ist in seinem Gedeihen in gleich hohem Maße von außenpolitischen Faktoren abhängig wie die dem überseeischen Verkehr dienende nationale Schiffahrt, die das verwundbarste und am leichtesten vom Körper eines Staates abzutrennende Glied bildet."94 Diese Verbindung war aber nicht nur negativer Natur. Kein Industriezweig hatte es so leicht, sein Gedeihen als eine nationale, dem Machtstreben der Regierungen dienende Angelegenheit hinzustellen. Hinzu kamen die in der Praxis meist sehr vagen, in der Propaganda aber gern aufgewerteten Möglichkeiten des militärischen Einsatzes der Handelsschiffe. Und schließlich besaß der politische Einfluß des Generaldirektors der Hapag Ballin Rückwirkungen auf die Stellung und auf den Weltruf der deutschen Handelsflotte. Wenn die britische öffentliche Meinung nach Zeugnissen der Zeitgenossen „ihre eifersüchtigen Augen weit mehr auf das Wachstum der großen deutschen Schifffahrtsgesellschaften richtete, als auf die beständige Ausdehnung der Kontrolle des amerikanischen Kapitals über die britische Handelsschiffahrt"95, so hing es nicht zuletzt mit den Bindungen Ballins an die Repräsentanten der „geräuschvollen" Weltpolitik mit Wilhelm II. an der Spitze zusammen. Die beiden deutschen Reedereien besaßen also, ähnlich wie die Monopolbanken, Bindungen an den Staatsapparat, die in dieser Intensität für die gesamte Wirtschaft vor dem ersten Weltkrieg nicht typisch waren. 92 10
M 5)6
Ebenda. Vgl. Baudis, Dieter/Nussbaum, Helga, Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin 1978, S. 75. Murken, S. 632. Ebenda, S. 165.
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Der „kleine" Zollkrieg. Zu den Hintergründen und dem Verlauf der deutsch-russischen Zollkonferenz (November 1896 bis Februar 1897)*
Anfang August 1896 übergab der russische Geschäftsträger in Berlin, Baron A. A. Budberg, auf Veranlassung des Finanzministers S. Ju. Vitte dem Unterstaatssekretar im Auswärtigen Amt, Wolfram v. Rotenhan, eine Note, in der der deutschen Regierung der schwerwiegende Vorwurf gemacht wurde, sie behindere im Widerspruch zu Artikel 5 des deutsch-russischen Handelsvertrages von 1894 die Entwicklung des gegenseitigen Handels. 1 Ursache der russischen Verstimmung war eine Reihe von meist veterinärpolizeilichen Maßnahmen in Preußen, die die Einfuhr russischer Agrarprodukte beträchtlich erschwerten. Zu den russischen Beschwerdepunkten gehörten in erster Linie das Anfang 1896 eingeführte Einfuhrverbot für russisches Schweinefleisch, welches sich auch auf die im Grenzverkehr bisher zugelassenen 2 kg pro Grenzgänger erstreckte; die Herabsetzung des für die Fleischversorgung Oberschlesiens zugelassenen Kontingents russischer Schweine; die strengen, den Handel behindernden Veterinäruntersuchungen für Pferde an der deutsch-russischen Grenze sowie auch die Schließung einiger Transitläger, die für den russischen Getreideexport von Bedeutung waren. Es wurde beklagt, daß die dafür zuständigen russischen Behörden über diese Festlegungen offiziell nicht informiert worden waren. Gegen die Beschränkungen des russischen Agrarexports protestierte besonders der russische Finanzminister Vitte. Er forderte für den Fall, daß die deutsche Regierung nicht bereit sei, die von ihr getroffenen Maßnahmen rückgängig zu machen, die Anwendung von Repressalien gegenüber der deutschen Einfuhr ähnlich denen, „welche die deutsche Regierung heute gegenüber unserer Einfuhr nach Deutschland anwendet". 2 Kurz darauf ging der einflußreiche Finanzminister zu Gegenaktionen über. Ende August schon verfügte er Zollerhöhungen auf einige deutsche Industriewaren, deren Zoll knapp zwei Jahre zuvor als Gegenkonzession für die Aufhebung des Lombardverbotes gesenkt worden war. In den han-
* Ich möchte Frau Dr. Sigrid Wegner-Korfes dafür danken, daß sie mich auf die für diesen Aufsatz äußerst wichtigen Bestände des Archivs für die Außenpolitik Rußlands hingewiesen hat. 1 ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 10669, Bl. 3 ff. 2 Archiv für Außenpolitik Rußlands (im folg.: AVPR), fonds II. Departement-I-5, 1896, delo 15, Bl. 15, Vitte an Lobanov-Rostovskij, 8. 8.1896. 5 Jahrbuch 29
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delspolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland war die Gefahr eines neuen Zollkrieges somit akut geworden. Welches war der Hintergrund dieser Auseinandersetzungen? Am 10. März 1894 war der deutsch-russische Handelsvertrag — der letzte in einem ganzen System von Handelsverträgen — im Reichstag gegen den erbitterten Widerstand der Agrarier angenommen worden. Der Kanzler der Regierung des „neuen Kurses", Leo v. Caprivi, hatte mit seiner Handelsvertragspolitik den Unternehmern durch Ermäßigung der Einfuhrzölle für landwirtschaftliche Produkte den Zugang zu fremden Märkten erleichtert und dadurch den monopolkapitalistischen Aufschwung in der Industrie — allerdings auf Kosten agrarischer Interessen — unterstützt. Die deutschen Agrarier verstärkten nun ihre Angriffe gegen Caprivi, und am 25. Oktober 1894 mußte er seinen Posten verlassen. Nach diesem ersten Erfolg setzten die Agrarier alles daran, die Wirkung der Handelsverträge, die für die Dauer von zwölf Jahren abgeschlossen worden waren, • möglichst weitgehend einzuschränken. Sie versuchten, mit „großen" und „kleinen" Mitteln „dem Stiefkind, der deutschen Landwirtschaft, wieder den Platz an der Sonne drinnen und draußen zu verschaffen, der ihr gebührt", wie Conrad Freiherr von Wangenheim, einer der Vorsitzenden des Bundes der Landwirte (BdL), später schrieb.3 Ihre „großen" Mittel — zu ihnen gehörten der Antrag Kanitz (Einführung eines staatlichen Getreidehandelsmonopols und festgesetzter mittlerer Getreidepreise) und die Doppelwährung — sollten nach Auffassung des BdL der Landwirtschaft wirksam auf die Beine helfen. Die „großen" Mittel standen über Jahre hinweg im Mittelpunkt der Agitation des BdL, der von den Großagrariern beherrscht wurde. 4 Diesen war es gelungen, auf Grund ihrer Stellung als „wirtschaftliche Monopolisten unter den Agrarproduzenten"" die Massenbasis des BdL, die kleineren und mittleren Produzenten, für die Durchsetzung ihrer Interessen einzuspannen. Doch die „großen" Mittel hatten selbst bei der durchaus agrarierfreundlichen neuen Regierung unter Reichskanzler Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst keine Chance auf Realisierung. Die deutschen Großagrarier beschränkten sich jedoch nicht nur auf die sogenannten großen Mittel. Mit ebensoviel Aggressivität und Konsequenz kämpften sie auf allen Ebenen „im Rahmen der jeweils bestehenden Wirtschaftspolitik a
4
5
Deutsche Tageszeitung, Nr. 91, 19. 2.1918, zit. nach Conrad Freiherr von Wangenheim-Klein-Spiegeln, hrsg. von H. Frhr. von Wangenheim, Berlin o. J., S. 124. Der BdL konnte kurz nach seiner Gründung im Mai 1893 bereits auf 162000 Mitglieder verweisen. Bis 1913 hatte sich die Mitgliederzahl auf 330 000 erhöht. Der Anteil der Großgrundbesitzer im BdL schwankte zwischen 0,5 und 0,75 Prozent, während ca. 75 Prozent der Mitglieder Kleinbauern waren. Vgl. Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893—1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966, S. 39, 68 ff., 309. Wirtschaft und Staat in Deutschland. Eine Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 in drei Bänden, hrsg. von Helga Nussbaum/Lotte Zumpe, Bd. 1, Baudis, Dieter/Nussbaum, Helga, Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin 1978, S. 188.
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der Regierung [für] Gesetzesänderungen oder neue Bestimmungen zugunsten der L a n d w i r t s c h a f t . . ,"6 Die Haltung der Agrarier zu diesen „kleinen" Mitteln brachte der konservative Abgeordnete und erste Vorsitzende des BdL, Bertold von Ploetz, im Reichstag unter emphatischem Beifall der Rechten zum Ausdruck: „ . . . jedes Mittel, das uns von der Regierung geboten wird, um der Landwirtschaft zu helfen, nehmen wir dankbar an. Wir wollen fleißig arbeiten und mitberaten und werden dankbar sein, wenn solche Vorschläge Gesetzeskraft erlangen . . . aber diejenigen, denen es jetzt schon schlecht geht, . . . die brauchen andere Mittel, und wir müssen dringend bitten, daß ihnen solche Mittel geboten werden, die sie zu retten im Stande sind, damit der Bauernstand erhalten wird, damit er die starke Säule f ü r Thron und Altar bleiben kann." 7 Bei der Durchsetzung der „kleinen" Mittel konnten die deutschen Agrarier auf die Regierung rechnen. Ganz im Sinne der Ausführungen des Reichskanzlers Hohenlohe vor dem Reichstag, daß „gerade die Abweisung des Antrags Kanitz der Regierung die Pflicht auf [erlegt], alle im Bereich der Möglichkeit liegenden Maßregeln zu ergreifen, die geeignet sind, die Not der Landwirtschaft zu mindern" 8 , verfügten die Reichsleitung und das preußische Staatsministerium im Sinne der Sammlung von J u n k e r t u m und Bourgeoisie eine Reihe von Maßnahmen, mit deren Hilfe die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Agrarproduzenten erhöht werden sollte. Hierbei handelte es sich u. a. um die Aufhebung des Identitätsnachweises und der Staffeltarife 9 , die schon von der Regierung Caprivi ganz im Sinne des Interessenausgleichs zwischen ostpreußischen und süddeutschen Agrariern verfügt worden waren, des weiteren um die Einschränkung der Vieh- und Fleischeinfuhr sowie um die Errichtung von Landwirtschaftskammern und um das Börsengesetz von 1896 (u. a. Verbot des Getreideterminhandels). Die Regierung war in dem Maße bereit, den Sonderinteressen der Agrarier zu entsprechen, in dem der Konsensus agrarischer und industrieller Interessen gewahrt bliebe. Dem trug die Förderung der „kleinen" Mittel Rechnung.
« Puhle, S. 243. 7 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 9. Legislaturperiode, 3. Session, Bd. 150, Berlin 1895, S. 1793. 8 Ebenda, S. 1784. a In Deutschland mußte bis 1894 der Nachweis erbracht werden, daß ein- und ausgeführte Waren miteinander identisch seien, um im Falle der Wiederausfuhr den Zoll erstattet zu bekommen. Im April 1894 wurde die Bestimmung aufgehoben. Die Getreideexporteure bekamen nun für ihr exportiertes Getreide eine Vergütung in H'öhe des Zolles, als wenn die gleiche Menge Getreide eingeführt worden wäre. Die Vergütung wurde in Einfuhrscheinen vergeben, die es ermöglichten, daß auch andere Waren wie Kaffee, Kaviar, Petroleum u. a. zollfrei eingeführt werden konnten, wirkte also als Exportprämie. Diese Bestimmung förderte den Export von Getreide aus Nord- und Ostdeutschland. Als Kompensation für die süddeutschen Agrarier wurden die Staffeltarife für die Fracht ostdeutschen Getreides nach dem Westen aufgehoben. Das bewirkte, daß die Konkurrenz des ostdeutschen Getreides abgeschwächt wurde. Die Staffeltarife hatten den billigen Transport von Ost nach West ermöglicht, da mit zunehmender Streckenlänge die Eisenbahnen niedrigere Frachttarife pro km gewährten. Vgl. Wirtschaft und Staat in Deutschland, S. 243 ff. 5*
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In diesem Zusammenhang verdienen die agrarischen Bestrebungen zum Schutze der deutschen Viehzucht besondere Aufmerksamkeit. Schon vor dem Machtantritt Caprivis war es den Agrariern gelungen, die Vieh- und Fleischeinfuhr aus dem Auslande beträchtlich zu erschweren. So war seit 1873 die Einfuhr von Rindern nach Deutschland verboten, seit 1885 durften Schafe nicht mehr eingeführt werden, 1889 trat das Schweineeinfuhrverbot in Kraft, die Einfuhr von Rind- und Schaffleisch war seit 1881 bzw. 1885 untersagt. Diese schon sehr weitgehenden Verbote genügten den Agrariern jedoch nicht. Infolgedessen war seit der Gründung des BdL, das heißt von 1893 an, der Kampf gegen die Vieh- und Fleischeinfuhr immer ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit gewesen. Schon im ersten, dem sogenannten Tivoli-Programm des Bundes, hatten die Delegierten der konstituierenden Versammlung des BdL gefordert, die gesamte Vieheinfuhr aus seuchenverdächtigen Ländern abzusperren. 10 Seuchenverdächtige Länder waren für die Agrarier vor allem Österreich/Ungarn, die USA und Rußland, d. h. genau jene Länder, aus denen der Hauptanteil an der Vieh- und Fleischeinfuhr nach Deutschland stammte. Am 2. Mai 1894 hatte der konservative Abgeordnete Heinrich von Mendel-Steinfels im preußischen Abgeordnetenhaus eine Interpellation gegen die Seuchengefahr in Deutschland eingebracht, und schon zwanzig Tage später war im selben Hause die Annahme des Viehseuchengesetzes erfolgt. Am 18. März 1895 forderte der in dieser Frage sehr rührige konservative Abgeordnete Ernst Fritz Ring zusätzliche Maßnahmen gegen die Einschleppung der Viehseuchen von außen.11 Das preußische Staatsministerium verfügte nun Anfang 1896 das Einfuhrverbot von frischem Schweinefleisch und die Herabsetzung des Schweinekontingents für das oberschlesische Industrierevier. 12 Sowohl derartige Interpellationen als auch die ihnen folgenden Maßnahmen waren mit der Abwehr von Seuchen zum Schutze der Viehzucht und menschlichen Gesundheit motiviert. Es wäre sicherlich ebenso falsch, diese Argumentation als pure Heuchelei zu bezeichnen, wie sie als bare Münze zu nehmen. Wie Helga Nussbaum nachweist, hatten die deutschen Viehzüchter besonders 1893 und dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre tatsächlich unter der starken Zunahme der Maul- und Klauenseuche bei Rindern und Schweinen zu leiden, was veterinärpolizeiliche Festlegungen erforderlich machte.13 Jedoch kann die hohe Seuchengefahr nicht als alleinige und
1U
Puhle, S. 314. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge, 10, 1894, München 1895, S. 118, 122; ebenda, 11, 1895, München 1896, S. 49f. " Als 1889 die Einfuhr lebender Schweine untersagt wurde, wurde davon ein Kontingent ausgeschlossen, das für die Fleischversorgung der Bevölkerung im oberschlesischen Industrierevier gedacht war. So konnte Rußland 2 550 Schweine wöchentlich in dieses Gebiet exportieren. 1896 wurde das Kontingent auf wöchentlich 1 300 Schweine gekürzt. Die Tiere durften nur noch in der Grenzstadt Sosnowice gekauft werden und mußten sofort in grenznahen Orten Oberschlesiens geschlachtet werden. Das Fleisch wurde mit einem roten Aufdruck „russisches Fleisch" gekennzeichnet. Vgl. Kiskel', I. Ja., Russkij eksport svinej v Germaniju, St. Petersburg 1913, S. 17 f. ia Wirtschaft und Staat in Deutschland, S. 192, Abb. 14.
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ausschlaggebende Ursache der prohibitiven Maßnahmen der deutschen Behörden und des sie begleitenden propagandistischen Lärms gelten. Sehr zum Ärger der Minister ließen die Agrarier häufig die wahren Motive durchblicken. Der Abgeordnete der konservativen Fraktion im Reichstag, Freiherr von Manteuffel, ließ am 12. Dezember 1894 die Katze aus dem Sack, als er lamentierte, daß „Zuchtvieh wie Mastvieh... noch derartige Preise [haben], daß der Landwirt damit wenigstens bestehen kann, vielleicht auch einen kleinen Vorteil daran hat. Wenn aber durch Einfuhr kranken Viehs oder durch billige Einfuhr anderen Viehs auch dieser Zweig der Landwirtschaft lahm gelegt wird, dann freilich wird die Landwirtschaft vor einer Krisis stehen, die womöglich, wenn man überhaupt noch von einer Verschlimmerung der Krisis sprechen kann, noch schlimmer ist, als die heute bereits bestehende."14 Ähnlich äußerte sich Anfang 1896 Graf Herbert von Bismarck: „Was sind die kleinen Mittel, mit denen genutzt werden könnte? Einmal ist es in der Landwirtschaft die Viehzucht. Gewiß die hebt sich momentan, da wir von den Seuchen freier gehalten sind als früher und bessere Viehpreise deshalb haben. Lassen Sie aber einmal im nächsten Jahr den Zustand eintreten, daß sämtliche benachbarte Staaten glaubwürdig nachweisen, daß sie -keine Seuchen mehr haben, dann werden unsere Grenzen wieder geöffnet und alle Auslagen sind weggeworfen, die sich die Leute heute machen, um im nächsten Jahr Viehzucht zu treiben." 15 August Bebel stellte im Namen der sozialdemokratischen Fraktion im Reichstag richtig fest, daß solche Maßnahmen, in diesem Falle die Herabsetzung des Schweinekontingents für Oberschlesien, einzig und allein deswegen durchgesetzt würden, „um die russische Einfuhr von Schweinen unmöglich zu machen, um die stärkere Schweinezüchtung den oberschlesischen Gutsbesitzern möglich zu machen, um denen teuere Preise für ihr Schweinefleisch zu gewähren", und schlußfolgerte: „Die Agrarier bekommen das Fett, die Handwerker die magere Brühe, die Arbeiter haben das Nachsehen..." 1 6 Nun war allerdings die Viehzucht nicht die Domäne der großen Agrarproduzenten. Nur 11,9 Prozent des Rinder- und 7,3 Prozent des gesamten Schweinebestandes entfielen z. B. 1907 auf den Großgrundbesitz (d. h. auf Betriebe mit mehr als 100 ha Betriebsgröße), wogegen im selben Jahr 81,5 Prozent der Rinder bzw. 69,3 Prozent der Schweine auf landwirtschaftliche Betriebe der Größenordnung 2—100 ha, also auf kleine, mittlere und Großbauernbetriebe kamen. 17 Es ist daher zu klären, warum sich die Großagrarier, die den BdL beherrschten, in dieser Frage so sehr engagierten. Wie schon erwähnt, war der Bund der Landwirte, wenn er auch im wesentlichen die Interessen der ostelbischen Großgrundbesitzer vertrat, eine außerordentlich starke und schlagkräftige Massenorganisation. Eine solche Massenorganisation ließ sich auf die Dauer nicht zusammenhalten, ohne den Forderungen der zahlreichen Mitgliedschaft, der kleinen und mittleren Bauern, in dieser oder jener Frage Geltung zu verschaffen. Die Viehzucht war eines der Gebiete, auf dem die Agrarier ihrer Gefolgschaft " Stenographische Berichte, 9. Legislaturperiode, 3. Session, Bd. 148, Berlin 1895, S. 64 f. 15 Ebenda, 4. Session, Bd. 156, Berlin 1896, S. 374. 16 Ebenda, S. 63 f. 17 Wirtschaft und Staat in Deutschland, S. 187, Tab. 37.
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vor Augen führen konnten, daß deren Interessen gewahrt würden. Es war f ü r die Agrarier auch deswegen bequem, sich f ü r die Abwehr der Viehimporte stark zu machen, weil dadurch ihre Sonderinteressen nicht beeinträchtigt wurden, im Gegenteil, der eigenen Viehhaltung daraus nur Vorteile erwachsen konnten. Die agrarische Agitation richtete sich in erster Linie gegen die russische Einfuhr. Unter den Staaten, mit denen Deutschland Handelsverträge abgeschlossen hatte, hatte Rußland den größten Anteil am deutschen Agrarmarkt, auf dem infolge der verstärkten Industrialisierung und des Anwachsens der Stadtbevölkerung die Nachfrage nach Getreide und Fleisch ständig anstieg. Der Anteil russischer Agrarprodukte am deutschen Import war außerordentlich groß. Er betrug bei Weizen Mitte der 90er J a h r e 52,5 Prozent, bei Roggen 66,9, bei Gerste 59,5, bei Hafer 45,8, bei Schweinen sogar 96 Prozent. 18 Die russischen Agrarprodukte stellten durch ihre niedrigen Preise in den Augen der Agrarier eine bedrohliche Konkurrenz dar. Da gerade in jener Zeit große Mengen deutschen Kapitals nach Rußland flössen und sich der Fertigwarenexport • von Deutschland nach Rußland nach Ende des Zollkriegs wieder beträchtlich hob, war das Zarenreich gezwungen, seine Handelsbilanz durch die Ausfuhr agrarischer Produkte auszugleichen. Das mußte unter den gegebenen sozialökonomischen Bedingungen sowohl innerhalb Rußlands und Deutschlands als auch zwischen den beiden Nachbarländern zu ernsten Konflikten führen. In den außenwirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten dominierte der Industriewarenexport über den Kapitalexport bei weitem. Daher war im Wilhelminischen Kaiserreich vor allem die Exportindustrie an guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland interessiert. Sie geriet dabei mit den hauptsächlich gegen Rußland gerichteten protektionistischen Bestrebungen der militanten deutschen Agrarier in Widerspruch. Teile der Großbourgeoisie, insbesondere die der Schwerindustrie und des Finanzkapitals, zeigten sich jedoch oftmals aus innenpolitischen Beweggründen den Forderungen der Agrarier durchaus geneigt. Die russische Industrie, in erster Linie die Uraler und südrussische Hüttenindustrie und die Textilindustrie, hatte bereits hohe Schutzzölle durchsetzen können, die auf der einen Seite zwar die noch junge russische Industrie vor der übermächtigen europäischen Konkurrenz schützten, auf der anderen Seite aber zur Konservierung veralteter Produktionsmethoden und zur engeren Bindung der Bourgeoisie an die reaktionäre Selbstherrschaft beitrugen. Dabei kollidierten sie mit den russischen Agrariern, die in den eigenen hohen Zöllen die Ursachen f ü r die hohen Agrarzölle Deutschlands sahen, aber auch mit Teilen der besonders in den Hafenstädten Rußlands konzentrierten Bourgeoisie, die auf Zulieferungen aus dem Ausland angewiesen war. 19 18
Pokrovskij, S. A., Vneänaja torgovlja i vneänaja torgovaja politika Rossii, Moskau 1947, S. 305. Siehe zu diesem Komplex Nüssbaum, Helga, Außenhandelsverflechtung europäischer Länder und imperialistische deutsche Mitteleuropapläne 1899 bis 1914, in: JfG, Bd. 15, 1977, S. 33 ff., und Kumpf-Korfes, Sigrid, Bismarcks „Draht nach Rußland". Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1871 bis 1891, Berlin 1968, S. 12f.; Sepelev, L. E., Carizm i burzuazija vo vtoroj polovine XIX veka, Leningrad 1981, S. 256 ff.
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So ergab sich in zollpolitischen Fragen der scheinbar paradoxe Gegensatz zwischen russischen Agrariern und der deutschen Exportindustrie einerseits und den deutschen Agrariern und großen Teilen der russischen Industrie andererseits. Diese Differenzen innerhalb der herrschenden Kreise beider Länder zwangen jeweils „den Staat zu einer Politik des Lavierens zwischen deren einflußreichen Strömungen. Zum anderen ermöglichten diese Widersprüche dem Staat eine relativ selbständige, oft von den Sonderinteressen einzelner Gruppen abweichende, von gesamtimperialistischen und konservativ-bürokratischen Erwägungen bestimmte Politik."20 Die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren in Rußland durch die stürmische kapitalistische Entwicklung in der Industrie und durch den großzügigen Ausbau des Eisenbahnnetzes gekennzeichnet. Aber auch die Landwirtschaft entwickelte sich trotz zahlreicher fortexistierender feudaler Uberreste auf kapitalistischem Wege. Sie hatte allerdings ebenso wie in anderen europäischen Staaten unter der seit Ende der 80er Jahre andauernden Agrarkrise zu leiden, die durch die preisdrückende Wirkung der Agrarexporte aus Übersee, besonders aus den USA, hervorgerufen worden war. Mit den USA erwuchs Rußland auf dem deutschen Markt ein Konkurrent, der imstande war, billiger zu produzieren und der zudem von der ständigen Senkung der Transportkosten nach Europa profitierte. Die russische Regierung bemühte sich sehr darum, auf dem deutschen Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Einerseits trat sie entschieden den Bestrebungen der deutschen Agrarier, die auf die Abschirmung Deutschlands vor Agrarimporten gerichtet waren, und den daraus resultierenden Maßnahmen der Reichsleitung und der preußischen Regierung entgegen. Andererseits leitete sie selbst Maßnahmen ein, die den eigenen Agrarexport weiter forcieren sollten. Die russischen Bauern wurden z. B. durch Anziehen der Steuerschraube veranlaßt, nicht nur ihr Mehrprodukt, sondern auch die für die Ernährung der eigenen Familie vorgesehenen Produkte zu veräußern. Der wachsende Agrarexport aus Rußland zeugte daher nicht etwa vom Aufblühen der Landwirtschaft, sondern von einer Verstärkung des ökonomischen Druckes auf die ohnehin schwer leidende russische Bauernschaft. „All das führte zum Verfall der bäuerlichen landwirtschaftlichen Produktion und verengte den Markt für den Absatz von Industriewaren, was die zaristische Selbstherrschaft noch mehr zu einer aktiven Eroberungspolitik im Osten mit dem Ziel, neue Märkte zu erobern, drängte. Und diese Politik forderte immer mehr Geld und verstrickte die zaristische Regierung in immer neue Anleihen und Kredite." 21 Der russischen Regierung waren in ihren verschiedenen Maßnahmen zur Steigerung des eigenen Agrarexportes (z. B. großzügige Kreditvergabe beim Kauf landwirtschaftlicher Maschinen, Senkung der Frachttarife für Agrarprodukte auf den staatlichen Eisenbahnen, verstärkter Bau von Elevatoren usw.) insofern Grenzen gesetzt, als der Schutz und die Förderung der russischen Industrie Priorität besaßen. Sie war sich dieses Dilemmas durchaus bewußt. „Wenn unsere Handelsverträge die Aufgabe haben, den Absatz der Erzeugnisse unseres Bodens 211
21
Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Studien zum deutschen Imperialismus, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1976, S. 36. Pokrovskij, S. 316.
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und unserer nationalen Arbeit zu erleichtern", führte z. B. Finanzminister Vitte aus, „hauptsächlich den Interessen unserer Landwirtschaft zu dienen, so bildet das Ziel unseres Zolltarifs überhaupt die Entwicklung anderer Gebiete unserer Volkswirtschaft, namentlich die Befestigung verschiedener Zweige unserer einheimischen Industrie." 22 Das war eine der Prämissen der russischen Wirtschaftspolitik überhaupt und galt natürlich auch für die handelspolitischen Beziehungen zu Deutschland. In diesem Zusammenhang war auch der russische Vieh- und Fleischhandel von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Hinter dem Getreide- und Holzexport, der in der russischen Ausfuhr seit jeher die dominierende Rolle spielte, nahm die Viehausfuhr und der Export tierischer Produkte dem Wert nach zwar nur den dritten Platz ein.23 Doch nicht allein sein Umfang war auschlaggebend für die hohe Bewertung, die er in einflußreichen Kreisen Rußlands erfuhr. Es lag auf der Hand, daß die Ausfuhr veredelter Produkte — wie Vieh und Fleisch — auf lange Sicht wesentlich profitabler sein mußte als der Handel mit unveredelten Produkten, z. B. Futtermitteln, obwohl deren Ausfuhr seit Mitte der 90er Jahre ständig anstieg. Russische Presseorgane, insbesondere die den Agrariern nahestehenden, wiesen daher nach Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages häufig darauf hin, daß die Nachfrage nach russischem Vieh in deutschen Schlachthäusern sehr groß sei und sich demzufolge für den Viehexport nach Deutschland gute Chancen böten.24 Bedauernd wurde zugleich jedoch vermerkt, daß der Zustand der russischen Viehzucht und die „veterinärpolizeilichen Rücksichten benachbarter Länder" 25 die Ausfuhr des Viehs sehr erschwerten. Die russische Viehwirtschaft befand sich Ende des vergangenen Jahrhunderts auf einem Tiefpunkt. Sie blieb immer mehr hinter dem Wachstum der Bevölkerung und damit hinter der Nachfrage des Binnen- und auch des Außenmarktes zurück. Das hing damit zusammen, daß insbesondere die Bauernwirtschaften, in deren Händen sich mit Ausnahme der Pferdezucht die übrige Viehhaltung konzentrierte, stark unter dem Fortwirken feudaler Überreste zu leiden hatten. Nur die Großbauernwirtschaften waren imstande, halbwegs profitabel Viehzucht zu betreiben. 26 Es wurde daher in der Presse neben einer Verstärkung des Fleischexports, womit die Einfuhrverbote für lebendes Vieh in Deutschland umgangen werden sollten, gefordert, Viehzucht und Viehhandel in Rußland auf eine das benachbarte Ausland befriedigende Stufe zu stellen. Die „Novoe vremja" sprach sich beispielsweise für eine Reform des Viehtransports und vor allem für günstigere Frachttarife für die Viehausfuhr aus.27 Derartige Forde-
•n Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft von Graf S. J. Witte, eingel. von Josef Melnik, Stuttgart/Berlin 1913, S. 214. a
übers, und
Über die Struktur des russischen Außenhandels Ende des 19,/Anfang des 20. Jh. vgl. Pokrovskij, S. 317f£., 348 ff. 24 Siehe z.B. St. Petersburgskie Vedomosti, Nr. 57, 28.2.1895; St. Petersburger Zeitung, Nr. 60, 13. 3. 1895. 25 Torgovo-promyslennaja gazeta, Nr. 50, 4. 3.1895. ^ Dubrovskij, S. M., Sel'skoe chozjajstvo i krest'janstvo Rossii v period imperializma, Moskau 1975, S. 239 ff. 27 Novoe vremja, Nr. 7298, 23. 6./5. 7.1896.
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rungen stießen bei Finanzminister Vitte durchaus auf Verständnis. Die offiziöse „Torgovo-promyslennaja gazeta" berichtete z. B. im Frühjahr 1895 über die Tätigkeit einer Kommission der Abteilung für Handel und Manufakturen beim russischen Finanzministerium, die Maßnahmen zur Verbesserung des Handels mit lebenden Schweinen festlegte. 28 All das erklärt in gewissem Maße, warum gerade der Vieh- und Fleischhandel während der im Herbst 1896 beginnenden handelspolitischen Verhandlungen im Zentrum der Diskussion stand. Dabei darf jedoch folgendes nicht übersehen werden. Der Handelsvertrag von 1894 war ein beiderseitiger Kompromiß. In beiden Ländern gab es starke Kräfte, deren zollpolitische Forderungen in diesem Jahr unerfüllt geblieben waren, die deswegen gegen den Handelsvertrag opponierten und sogar eine Revision desselben anstrebten. Besonders stark war diese Strömung in Deutschland, wo sie einflußreiche Fürsprecher in der Regierung mit dem preußischen Landwirtschaftsminister Ernst von Hammerstein-Loxten und dem Staatssekretär im Reichsschatzamt Artur von Posadowsky-Wehner besaß. Für diese Kreise waren die Streitigkeiten um die russische Vieh- und Fleischeinfuhr das erste handelspolitische Kräftemessen mit Rußland seit Abschluß des Handelsvertrages. Die Verhandlungen von Ende 1896 bis Februar 1897 sollten ihnen zur Erkundung der Kampfbereitschaft bzw. eventuellen Nachgiebigkeit des handelspolitischen Kontrahenten dienen, bevor 1904 das Hauptproblem, die Getreidezölle, zur Diskussion stünde. Daß man in beiden Staaten bereits zu dieser Zeit an' zukünftige Handelsvertragsverhandlungen dachte, beweist die Gründung des „Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" im September 1897 sowie die Denkschrift von 27 Vertretern des russischen Adels anläßlich der Krönung Nikolais II. im Mai 1896, in der eine Revision des Schutzzollsystems gefordert wurde, was von Vitte allerdings strikt zurückgewiesen wurde. 29 All das zeigt, daß handelspolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland unvermeidlich waren. Sie bieten jedoch keine ausreichende Erklärung für die Heftigkeit, mit der die wirtschaftlichen Rivalitäten zwischen beiden Nachbarländern erneut ausbrachen, sowie auch für den Verlauf und die Ergebnisse der sich anbahnenden zollpolitischen Verhandlungen. Eine akzeptable Deutung des Konflikts ist nur möglich, wenn die allgemeinen politischen Hintergründe in die Betrachtung einbezogen werden. In der internationalen Arena waren die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland in dieser Zeit zwar offiziell gut, doch mit manchen Spannungen behaftet. Die deutschen und russischen Interessen im nahen Osten und in China, den damaligen Hauptkonfliktherden der Welt, trafen zwar nie frontal aufeinander, die Zugehörigkeit beider Staaten zu unterschiedlichen, einander letztlich feindlichen Bündnissen wies beiden Ländern im imperialistischen Kräftemessen jedoch oft genug widerstrebende Rollen zu. Im Zentrum der imperia-
29
Torgovo-promyslennaja gazeta, Nr. 50, 4. 3.1895. Vgl. Trebovanija dvorjanstva i finansovo-ekonomiceskaja politika carskogo pravitel'stva v 1880—1890 godach, hrsg. von I. F. Gindin/M. Ja. Gefter, in: IstoriCeskij archiv, 1957, Nr. 4, S. 122ff.; Kaulisch, Baidur, Die Bildung des „Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" im Jahr 1897, in: JbW, 1973, II, S. 11511.
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listischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Hauptmächten stand im Sommer 1896 wieder einmal das Ottomanische Reich. Dort „reiften Ereignisse heran, auf die sich im voraus vorzubereiten jede der Mächte f ü r notwendig hielt, um sie, ohne die Kontrolle über ihre Entwicklung zu verlieren, im eigenen Interesse auszunutzen". 30 Ende August 1896 kam es in Konstantinopel zu blutigen Metzeleien unter der armenischen Bevölkerung, die ganz offensichtlich von Sultan Abdul-Hamid inszeniert worden waren. 31 Diese Pogrome lösten eine neue Krise im Ottomanischen Reich aus und riefen sofort die am Lager des „kranken Mannes" wachenden Mächte — Österreich/Ungarn, Frankreich, Rußland, Deutschland und England — auf den Plan. Hauptkontrahenten hierbei waren Rußland und England. Die russische Regierung konnte auf gute Beziehungen zur Türkei verweisen, hatte aber den alten Plan, die Meerengen zu besetzen, nicht aufgegeben. Solange dieses Projekt nicht realisiert werden konnte, war sie an der Aufrechterhaltung des Status quo im Nahen Osten interessiert. England hingegen drängte aus ökonomischen, politischen und militärischen Erwägungen danach, seine Einflußsphäre auf Kosten Rußlands zu erweitern, was den Sultan, gewarnt durch die Annexion Zyperns und Ägyptens, Schutz in St. Petersburg suchen ließ. Deutschland spielte in der Orientkrise des Jahres 1896 eine keineswegs untergeordnete Rolle. Obwohl die Regierung in Berlin offiziell eine Politik der Nichteinmischung betrieb und angeblich an diesem Konflikt nicht interessiert war, waren die ökonomischen Interessen Deutschlands in der Türkei bereits soweit gediehen, daß man durchaus nicht unbeteiligter Zuschauer bleiben und sich auf die eine oder andere Weise seinen Anteil am türkischen Kuchen sichern wollte. Die deutsche Diplomatie glaubte, dieses Ziel dadurch erreichen zu können, daß sie versuchte, England und Rußland gegeneinander auszuspielen und das f r a n zösisch-russische Bündnis zu hintertreiben. Sie hoffte, auf diese Weise der lachende Dritte zu sein. Bernhard von Bülow bemerkte später zynisch, daß „in Rußland keinerlei Zweifel darüber aufkommen durfte, daß wir trotz unserer wirtschaftlichen Interessen in der Türkei in der Dardanellenfrage uns Rußland nicht in den Weg stellen würden. An dieser f ü r Rußland empfindlichsten Stelle durften wir ihm nicht entgegentreten, das mußten wir anderen überlassen." 32 Und bereits im November 1895 schrieb der deutsche Botschafter in Petersburg, Hugo von Radolin, an seinen Intimus Friedrich von Holstein im Auswärtigen Amt: „Die Russen fühlen ebenso gut wie die Engländer, wie wichtig es f ü r den einen wie f ü r den anderen ist, Deutschland auf seiner Seite zu haben. Ich denke, wir könnten uns unsere Freundschaft recht teuer bezahlen lassen, und ich bin sicher, daß wir gern jeden Preis bekommen würden." 33 Das war eine der charak:iu
Jerussalimski, A. S., Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 1954, S. 264 f. 31 Vgl. ebenda, S. 275 f£.; Proekt zachvata Bosfora v 1896 g., hrsg. von V. Chvostov, in: Krasnyj archiv, 1931, Nr. 47-48, S. 50 ff. s* Bülow, Bernhard Fürst v., Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Vom Staatssekretariat bis zur Marokkokrise, Berlin o. J., S. 46 f. 33 Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, hrsg. von Norman Rich/M. H. Fisher, Bd. 3, Göttingen/(West-)Berlin/Frankfurt a. M. 1961, S. 506.
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teristischen Linien der deutschen Außenpolitik vom ausgehenden 19. Jh. bis 1914, die letztlich so verhängnisvolle Folgen hatte. Die Orientkrise von 1896 beeinflußte die beginnenden handelspolitischen Auseinandersetzungen in nicht geringem Maße. Die Retorsionsmaßregeln Vittes gegen die Behinderung der russischen Viehund Fleischeinfuhr nach Deutschland von Ende August 1896 wurden von einer wilden, gegen Deutschland gerichteten Pressepolemik, die offensichtlich von Vitte inspiriert worden war, begleitet. Besonders die „Novoe vremja", das Organ der profranzösisch orientierten Kreise der herrschenden Klasse, tat sich hierbei hervor. Der deutsch-russische Handelsvertrag von 1894 habe, so das Blatt, vor allem Deutschland genutzt. Die preußische Regierung versuche jetzt unter dem Druck der Agrarpartei, die wenigen für diese ungünstigen Auswirkungen des Handelsvertrages zu beseitigen und den gegenseitigen Warenaustausch unter solche Voraussetzungen zu stellen, unter denen Rußland der günstigen Bedingungen für den Absatz seiner landwirtschaftlichen Produkte verlustig ginge, die Deutschland mit hohem Einsatz abgerungen worden waren. Die Regierung in Petersburg müsse unverzüglich solche Repressalien gegenüber Deutschland anwenden, „die den Nachbarn zwängen, alle Nachteile einer solchen Handlungsweise (gemeint sind die Einschränkungen des russischen Vieh- und Fleischexportes nach Deutschland — D. W.) am eigenen Leibe zu verspüren".34 Diese unverhüllten Drohungen wurden selbst in russischen Regierungskreisen nicht überall mit Zustimmung aufgenommen. Insbesondere das Petersburger Außenministerium war höchst beunruhigt. Die Entrevue Kaiser Wilhelms mit dem Zaren in Breslau Anfang September 1896 hatte für die russische Diplomatie ein befriedigendes Ergebnis gebracht. Wilhelm II. hatte sich mit der Aufrechterhaltung des „status quo in der Türkei, solange es irgend möglich ist", einverstanden erklärt, „eventuell auch unter Anwendung starken Druckes auf den Sultan".35 Den deutschen Vertretern war es hingegen nicht gelungen, Rußland auf feindliche Auseinandersetzungen mit England festzulegen. Das russische Außenministerium ging wie auch früher in ähnlichen Fällen davon aus, daß die Eskalation der handelspolitischen Gegensätze diese für Rußland positiven diplomatischen Verhandlungsergebnisse gefährden könnte. Der russische Botschafter in Berlin, N. D. Osten-Saken, wies darauf hin, daß „eine solch unerwünschte Verschärfung unserer Beziehungen, die mit den günstigen Eindrücken vom Treffen der Monarchen zusammenfallen, ein unerklärlicher Widerspruch in den Augen der hiesigen Regierung und der öffentlichen Meinung sein muß".36 Durch die gereizten Reaktionen aus Deutschland alarmiert, versuchte der nach dem Tode von A. B. Lobanov-Rostovskij provisorisch das Außenministerium leitende N. P. Siskin verzweifelt, den einflußreichen Finanzminister davon zu überzeugen, daß ein zu scharfes Vorgehen gegen die deutM 35
36
Novoe vremja, Nr. 7321, 16./28. 7. 1896. Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes hrsg. von J. Lepsius/A. Mendelssohn Bartholdy/F. Timme, Bd. 11, Berlin 1923, Nr. 2861, S. 360, Wilhelm II. an Auswärtiges Amt, 9. 9.1896. AVPR, fonds posol'stvo Berline, delo 4202, Bl. 11 f., Osten-Saken an Siskin, 30. 8./ 11. 9.1896.
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sehen Veterinärmaßregeln die Beziehungen zu Deutschland insgesamt stören würden. „Ihnen ist die gegenwärtige Lage am Bosporus und das volle Einvernehmen zwischen unserem und dem Berliner Kabinett in dieser Frage bekannt, ein Einverständnis, das seine feierliche Bestätigung in Breslau erhielt und das so ungemein wichtig in einer Minute für uns ist, in der die grundlegenden Interessen Rußlands auf der Tagesordnung stehen", schrieb er an Vitte. „Fürchten Sie nicht, daß die Verschärfung unserer Beziehungen zu Deutschland dessen Zusagen uns gegenüber auf politischer Ebene abschwächt und das zwischen uns existierende Einvernehmen negativ beeinflußt?" 37 Die Furcht der russischen Diplomaten, die mühsam erzielte Absprache in der Orientfrage könne ernsthaft in Gefahr geraten, bestimmte ihr Herangehen an die handelspolitischen Auseinandersetzungen mit Deutschland, die allerdings auch sie für unvermeidbar hielten. Sie vertraten die Auffassung, daß es vor allem darauf ankomme, die handelspolitischen Probleme ruhig und ohne Schärfe durch Verhandlungen zu lösen. Ausgehend von § 20/IV des Abschlußprotokolls zum Handelsvertrag, in dem festgelegt war, daß alle Veterinärfragen auf diplomatischem Wege zu regeln seien, sollte der Abschluß einer Veterinärkonvention angestrebt werden. 38 Die russischen Diplomaten gingen davon aus, daß ein solcher Abschluß auch den Handel mit Vieh und Fleisch impliziert. Ein solches Abkommen würde langfristig die Bedingungen festlegen, unter denen die russische Vieh- und Fleischeinfuhr nach Deutschland erfolgen könne. Den deutschen Agrariern und der Regierung wäre nach Abschluß der Veterinärkonvention auf absehbare Zeit die Möglichkeit versperrt, die Einfuhr aus Rußland ernsthaft zu behindern. Diese Idee war nicht neu. Der Gedanke einer Veterinärkonvention mit Deutschland war bereits 1894 im russischen Finanzministerium entstanden, wo deswegen eine Sonderkommission unter Vorsitz des Leiters der Abteilung für Handel und Manufakturen V. I. Kovalevskij und unter Mitwirkung von V. I. Timirjazev, der 1893/94 die russische Delegation bei den Handelsvertragsverhandlungen geleitet hatte, arbeitete. Er wurde jedoch wieder verworfen, da angesichts der agrarischen Opposition gegen das Viehseuchengesetz, das nur Bestimmungen zur Bekämpfung der Seuchen im Innern Deutschlands enthielt, die Annahme einer Veterinärkonvention im Reichstag als aussichtslos galt. Da Deutschland inzwischen auch gegen die Einschleppungsgefahr von außen geschützt schien, könne es ein solches Abkommen, ohne die im Handelsvertrag enthaltenen Verpflichtungen zu verletzen, schlecht ablehnen.39 Zudem hatte Deutschland bereits 1891 mit der Doppelmonarchie Österreich/Ungarn eine Veterinärkonvention abgeschlossen, was, nach Meinung Osten-Sakens, Deutschland zwinge, mit Rußland auf der Grundlage der Meistbegünstigungsklausel eine ebensolche Vereinbarung einzugehen. Die Haltung des russischen Finanzministeriums in dieser Frage läßt sich schwer aus dem diesem Aufsatz zugrunde liegenden Aktenmaterial rekonstruieren. Aus 37
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Ebenda, fonds Sekretnyj archiv, opis 467, delo 150/156, Bl. 4, Siskin an Vitte, 12./ 24. 9.1896. Ebenda, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 8 f., Osten-Saken an Siskin, 30. 8./ 11.9. 1896. Vgl. auch ebenda, Bl. 5 f., Siskin an Osten-Saken, 10./22. 9. 1896.
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einer geheimen Stellungnahme ist jedoch ersichtlich, daß der Gedanke an sich begrüßt wurde. 40 Der Zusatz, man solle sich jedoch nicht darauf beschränken, sondern alle nach dem Handelsvertrag von 1894 noch zu klärenden Fragen auf einer möglichst schnell stattfindenden Konferenz erörtern, läßt die Vermutung zu, daß Vitte nicht allzu stark mit der Zustimmung Deutschlands zu einem solchen Abkommen rechnete. Zu'Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Schon Anfang Oktober mußte der russische Botschafter in Berlin nach Petersburg berichten, daß der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Marschall von Bieberstein, den Vorschlag, eine Veterinärkonvention abzuschließen, brüsk abgelehnt hatte.'41 Die deutsche Regierung könne auf keinen Fall auf ihr Recht verzichten, das Reich mittels sanitärer Vorschriften gegen die Einschleppung von Seuchen zu schützen, und könne daher auf keinerlei Veterinärkonventionen eingehen. Die Vereinbarung mit Österreich/Ungarn sei, so Marschall, im übrigen ein Beispiel dafür, wie nutzlos ein solches Abkommen wäre. Das einzig Mögliche sei nach seiner Auffassung ein Modus vivendi in der Veterinärfrage. Trotz dieser rigorosen Absage hielt Osten-Saken den Leiter des Auswärtigen Amtes noch für denjenigen, der sich am ehesten den deutschen agrarischen Forderungen entgegenstellen würde und ein Gegengewicht zu dem proagrarischen Landwirtschaftsminister Hammerstein bilden könne. Der Plan einer Veterinärkonvention aber war gescheitert. Die Vorbereitung auf die handelspolitischen Verhandlungen mit Deutschland lag vorwiegend in der Hand des russischen Finanzministers, zu dessen Ressort auch der Außenhandel gehörte. Vitte befand sich dabei direkt im Spannungsfeld der Interessen von Industrie und Landwirtschaft. Seine Politik war auf die allseitige Förderung der industriellen Entwicklung Rußlands im Rahmen der bestehenden absolutistischen Verhältnisse im Zarenreich gerichtet, zu deren Unterstützung er das Schutzzollsystem zu voller Blüte geführt hatte. Die Handelsverträge sollten, wie bereits erwähnt, den Exportinteressen der agrarischen Großproduzenten Rechnung tragen. Daß ein solch widersprüchliches System viele Reibungsflächen bot, zeigte sich recht schnell. Ende 1895 kam es auf der Moskauer landwirtschaftlichen Konferenz zu heftigen Kontroversen zwischen den Herstellern landwirtschaftlicher Maschinen und den Agrariern, die für die Herabsetzung des Zolls auf Landwirtschaftsmaschinen plädiert hatten. 42 Die Auseinandersetzungen um die Vittesche Zollpolitik verschärften sich im August 1896 anläßlich des Niznij-Novgoroder Handels- und Gewerbekongresses. Eine Majorität sprach sich dort für die Aufhebung der Zölle auf landwirtschaftliche Maschinen und auf Eisen aus. Ziel dieses Votums war es, die Einfuhr landwirtschaftlicher Geräte bzw. der für deren Bau benötigten Rohmaterialien nach Rußland zu erleichtern. Die russische Maschinenbauindustrie war nicht in der Lage, den Bedarf an landwirtschaftlichen Maschinen in Qualität und Quantität zu befriedigen. Ihr Extraprofit war allerdings durch die
m
41
Ebenda, fonds II. Departement, 1—5, 1896, delo 15, Bl. 51, Langovoj an Siskin, 20. 9. 1896. Ebenda, Bl. 59 f., Osten-Saken an Lamzdorf, 20. 9./2.10.1896. ZStAP, Auswärtiges Amt, FB. 26117, Nr. 14 519, Cleinow an Auswärtiges Amt, 14. 2. 1896.
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hohen Zölle gesichert. Die bereits kapitalistisch produzierenden Großgrundbesitzer und Großbauern w a r e n demgegenüber daran interessiert, die besseren und preiswerteren Geräte u n d Maschinen billiger, als dies bei den bestehenden Schutzzöllen möglich war, auch aus Deutschland zu bekommen. Durch die F ü r sprache des Handels- und Gewerbekongresses verärgert, polemisierte Vitte auf einem Diner, welches die K a u f m a n n s c h a f t in Niznij-Novgorod zu seinen Ehren gab, energisch gegen jegliche Eingriffe in das von ihm und seinen Vorgängern geschaffene russische Schutzzollsystem. Seine Angriffe richteten sich dabei in erster Linie gegen Deutschland. Die Deutschen erheben einen Zoll auf unseren Roggen, der dem Preis des Produktes gleichkommt, argumentierte Vitte, „solange m a n uns aber im Auslande das Fell über die Ohren zieht, k a n n von einer A u f h e b u n g des Zolls ü b e r h a u p t keine Rede sein"/' 3 Die Auseinandersetzungen in Niznij-Novgorod zeigten, daß die Schutzzollpolitik Vittes in Rußland selbst umstritten war. Aber auch die deutschen Diplomaten in Rußland n a h m e n diesen A u f t r i t t Vittes angesichts der gerade begonnenen handelspolitischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern mit großer A u f m e r k s a m k e i t zur Kenntnis. Der deutsche Geschäftsträger in Petersburg, von Tschirschky, stellte fest, daß der „gereizte Ton [zeigt], wie tiefgehend die Mißstimmung des russischen Finanzministers gegen den deutschen Nachbarn auf wirtschaftlichem Gebiete derzeit ist". 44 Der weitere Gang der Dinge w u r d e von den deutschen Vertretern in Rußland gewissenhaft verfolgt. Im Oktober berichtete der Moskauer Generalkonsul Freiherr von Humboldt-Dachroeden, daß der Streit u m die Zölle f ü r landwirtschaftliche Maschinen trotz der brüsken Absage Vittes weitergehe, ja, sich sogar die Anzeichen mehrten, daß das russische Finanzministerium einlenken wolle. 45 Einige Fabrikanten hätten die Preise auf landwirtschaftliche Geräte und Maschinen bereits herabgesetzt, u m der ausländischen Konkurrenz zuvorzukommen. Der Odessaer Generalkonsul Dr. Focke teilte seinen Vorgesetzten in der Wilhelmstraße mit, daß der Kauf russischer landwirtschaftlicher Maschinen durch günstigere Kreditvergabe erheblich erleichtert worden sei.40 Da die Festlegung sich nach seiner Auffassung gegen die deutsche Konkurrenz in Südrußland richte, empfahl er, auf die russische Regierung mit dem Ziel einzuwirken, deren Zurücknahme bzw. liberalere H a n d h a bung zu erreichen. Ein solches Vorgehen w u r d e vom Auswärtigen A m t jedoch abgelehnt, u m die angespannte Atmosphäre nicht noch weiter anzuheizen. 47 Obwohl eigens zu diesem Zweck im russischen Finanzministerium eine Kommision eingesetzt worden war, konnten die russischen Agrarier jedoch ihr Hauptziel, die Herabsetzung bzw. A u f h e b u n g der Zölle f ü r landwirtschaftliche Geräte u n d f ü r Eisen, nicht erreichen. Dieser Konflikt zwischen den russischen Agrariern und den Industriellen beeinflußte die letztlich lavierende Handelsu n d Zollpolitik der zaristischen Regierung und insbesondere Vittes. Hatte der russische Finanzminister in der f ü r ihn wichtigen Frage des Zolls f ü r landwirt43 44
45 46 47
Novoe vremja, Nr. 7354, 18/30. 8. 1896. ZStAP, Auswärtiges Amt, FB. 10 077, Nr. 10 548, Tschirschky an Auswärtiges Amt, 31. 8. 1896. Ebenda, Humboldt an Auswärtiges Amt, 12.10. 1896. Ebenda, FB. 10 078, Nr. 10 549, Bl. 42 ff., Focke an Auswärtiges Amt, 18./30. 11. 1896. Ebenda, Bl. 45 f.
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schaftliche Maschinen den Interessen der Großbourgeoisie den Vorrang gegeben, mußte er in der Frage des russischen Vieh- und Fleischexportes seine Loyalität gegenüber den einflußreichen Agrariern beweisen. Vitte sah sich jedoch auch Angriffen aus anderer Richtung ausgesetzt. Die auf Frankreich orientierten Teile der Hof- und Militärbürokratie forderten von der russischen Regierung einen harten Kurs gegenüber Deutschland. Das widersprach den Bestrebungen Vittes, die wirtschaftlichen Beziehungen zum Deutschen Reich nicht übermäßig zu belasten, vor allem auch deswegen, weil Deutschland in, der Mitte der 90er Jahre einen beträchtlichen Teil des russischen Kapitalbedarfs deckte. All das engte die Handlungsfreiheit Vittes noch zusätzlich ein. Gegenüber dem deutschen Botschafter in Petersburg, Radolin, äußerte er bei den Vorbesprechungen f ü r die anstehenden Verhandlungen, daß „die hiesige Hof- und Militärpartei, die französisch denkt und geradezu feindlich über Deutschland urteilt, . . . am liebsten den Handelsvertrag mit Deutschland vernichten möchte. Dagegen habe ich einen schweren Stand."® Seine bedrängte Lage ließ ihn sogar in solch untergeordneten Fragen, wie der Wahl des Verhandlungsortes, nach Rückendeckung suchen. In diesem Falle mußte der schwache Siskin herhalten, ehe sich Vitte entschloß, der Bitte der deutschen Regierung nachzugeben und die von ihm initiierte Konferenz zur Lösung der wirtschaftlichen Streitfragen in Berlin stattfinden zu lassen/*9 Sicher kann aber auch angenommen werden, daß Vitte dieses kleine Zugeständnis bei der nächsten Gelegenheit auszunutzen gedachte. Vitte war sich der Kompliziertheit seiner Lage wohl bewußt. Er war dazu verurteilt, die handelspolitischen Verhandlungen mit Deutschland zu einem f ü r die russischen Agrarier annehmbaren Ergebnis zu führen, ohne dabei den Anschein allzugroßer Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland zu erwecken. In Deutschland lösten die eingangs erwähnten Zollerhöhungen Vittes auf einige deutsche Industriewaren (Wassermesser, Zelluloidwäsche, Porzellanknöpfe, ausgewählte Lederwaren) erwartungsgemäß heftigen Protest aus. Das Auswärtige Amt, insbesondere die Handelspolitische Abteilung, die sich als Sachwalter vor allem industrieller Interessen verstand, fühlte sich getroffen. Der russische Botschafter in Berlin, Osten-Saken, hatte sich nicht geirrt, als er seine Befürchtungen über die Aufnahme der russischen Retorsionsmaßregeln in Berlin nach Petersburg meldete. Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Rotenhan, sah sich — wie er ungeschminkt feststellte — durch Vitte „die Pistole auf die Brust gesetzt". 50 Nach George W. Hällgarten vermochte das Auswärtige Amt „die hochkapitalistische Außenpolitik kaum gegen den feudalen und agrarischen Ansturm zu verteidigen". 51 Seine ohnehin schon schwierige Lage verschärfte sich im Hoch48 4a
50
51
Ebenda, Nr. 10 669, Bl. 33, Radolin an Marschall, 25.10.1896. Ebenda, Bl. 32ff.; vgl. auch Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 bis 1914, Bd. 11, Berlin 1923, Nr. 2870, S. 372 f., Radolin an Auswärtiges Amt, 22. 10. 1896, und AVPR, II. Departement, 1-5, 1896, delo 15, Bl. 81 f., Vitte an Siskin, 15.10. 1896. Ebenda, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 11, Osten-Saken an Siskin, 30. 8./ 11. 9. 1896. Hallgarten, George W., Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem ersten Weltkrieg, München 1963, S. 436 f.
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sommer 1896. Es konnte gleich dem russischen Außenministerium nicht zulassen, daß die handelspolitischen Rivalitäten zwischen Deutschland und Rußland solche Ausmaße annahmen, die das Zusammengehen in wichtigen außenpolitischen Fragen unmöglich machten. Die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen mit Rußland mußten zu einem industrielle und agrarische Interessen gleichermaßen befriedigenden Ergebnis geführt werden. Damit standen die Verantwortlichen in der Wilhelmstraße vor einer unlösbaren Aufgabe, an der sie letztlich trotz aller Anstrengungen scheitern mußten. Die Taktik des Auswärtigen Amtes lief darauf hinaus, Rußland zur Zurücknahme seiner Zollerhöhungen zu veranlassen, ohne die politischen Beziehungen in Mitleidenschaft zu ziehen. Dazu mußte das preußische Landwirtschaftsministerium, das in der Regel für die Sorgen der Industrie nicht viel übrig hatte, zur Mäßigung seiner Forderungen auf veterinärpolizeilichem Gebiet veranlaßt werden. Zugeständnisse auf handelspolitischem Terrain sollten durch ein verlockendes Bündnisangebot an Rußland erreicht werden. Schon Anfang September 1896 war diese Konzeption am Rande des Breslauer Monarchentreffens zum Tragen gekommen.52 Auf die Klagen Siskins über die schlechte Behandlung russischer Agrarprodukte in Deutschland entwickelte Marschall die Idee einer gegen die USA gerichteten europäischen Zollunion. Schuld an der europäischen Agrarkrise sei der wachsende Zufluß billiger amerikanischer Bodenprodukte. Um diesen Zustrom abzuwehren und als Antwort auf den zunehmenden Protektionismus in den USA, so Marschall, müßten die europäischen Kontinentalmächte gemeinsam hohe Zollbarrieren gegen amerikanisches Getreide und Fleisch errichten. Eine solche Behandlung der Agrarprodukte aus den USA würde den russischen Produkten einen sicheren Markt bieten „zu Preisen, welche die Arbeit des russischen Landmanns lohnten und für unsere Landwirtschaft keine Gefahr böten".53 Siskin antwortete auf diese weitreichenden Pläne ausweichend, da die protektionistischen Pläne des designierten amerikanischen Präsidenten William Mac Kinley Rußland kaum berührten, wohl aber Deutschland. Es liegt auf der Hand, daß die russische Regierung den Hauptschuldigen für die Schwierigkeiten ihres Agrarexports nach Deutschland darüber hinaus in Deutschland selbst sah. Daß dieser Plan trotzdem nicht sofort beiseite gelegt wurde, lag daran, daß Kaiser Wilhelm dem Zaren Nikolai II. einzureden versucht hatte, wie nützlich und möglich dessen Realisierung war, und ihn gebeten hatte, die Idee der Zollunion auch in Paris zu vertreten. Doch weder Rußland und Frankreich noch Österreich/Ungarn gingen ernsthaft auf die Kontinentalbundidee Wilhelms ein. Zu deutlich schimmerten hier deutsche Hegemoniebestrebungen durch. Dem greisen Reichskanzler Hohenlohe blieb es überlassen, den übereifrigen deutschen Monarchen auf den Boden der Realitäten zurückzuholen. Höflicherweise bemerkte er zwar, daß es ein „sehr guter Gedanke [sei], nur verlange er noch gründliches Studium", allerdings: „Eine Kontinentalsperre könne aber auch ein zweischneidiges Schwert sein, und was
M 53
Vgl. Jerussalimski, S. 298 ft. Die große Politik der Europäischen Aufzeichnung Marschalls, 7. 9.1896.
Kabinette
1871—1914, Bd. 11, Nr. 2858, S. 358 f.,
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der Ackerbau gewinne, könne die Industrie verlieren. Es sei nützlich, den Plan zu verfolgen, aber genau zu rechnen."54 Die Wirtschaftsprobleme mit Rußland ließen sich nicht durch einen Überrumpelungsversuch lösen. Vielmehr standen langwierige und schwierige Verhandlungen mit dem Zarenreich bevor. Der Vorschlag Vittes, die anstehenden Probleme auf einer deutsch-russischen Zollkonferenz zu erörtern, wurde angenommen. Mitte September 1896 schickte Rotenhan einen langen Erlaß nach Petersburg, in dem der deutsche Geschäftsträger aufgefordert wurde, im russischen Außenministerium vorstellig zu werden, um die schleunige Wiederaufhebung der Zollmaßnahmen Vittes zu erreichen.55 In diesem Dokument ist die Argumentation des Auswärtigen Amtes zu den wichtigsten wirtschaftlichen Streitfragen mit Rußland enthalten. Sie betraf zwei Fragenkomplexe: erstens die veterinärpolizeilichen Maßnahmen gegen die russische Vieh- und Fleischeinfuhr. Hierzu hieß es, daß die russischen Klagen völlig unbegründet seien, da die meisten Maßnahmen bereits vor Abschluß des Handelsvertrages getroffen worden wären und deshalb von ihm selbst nicht berührt würden. Die beiden nach seinem Abschluß getroffenen Maßnahmen stünden im Einklang mit § 5 des Handelsvertrages, der den Partnern freie Hand für Einfuhrverbote aus gesundheitlichen, veterinärpolizeilichen und anderen außerordentlichen Gründen ließe. Zweitens wies Rotenhan den Vorwurf zurück, die russischen Exportinteressen würden durch die Schließung einiger gemischter Transitläger für Getreide beeinträchtigt. In Wirklichkeit sei nur ein geringer Teil der Transitläger geschlossen worden, zudem nur solche, wo „von den eingeräumten Lagerrechten überhaupt kein Gebrauch gemacht worden war, oder die Benutzung der Lagerrechte nur in so geringem Umfang stattgefunden hatte, daß ein Bedürfnis für den Fortbestand der Lager nicht anerkannt werden konnte". 56 Dort, wo russische Exportinteressen berührt würden, seien die Transitläger bestehengeblieben. Das Auswärtige Amt war, nachdem es von Vittes Zollerhöhungen Kenntnis erhalten hatte, sehr beunruhigt über die schroffe Art, mit der seitens des russischen Finanzministeriums vorgegangen worden war. Beschwichtigend ließ der Unterstaatssekretär daher durchblicken, daß eine Mäßigung der deutschen Veterinärmaßregeln im Bereich des Möglichen läge. Die russischen Gegenmaßnahmen seien jedoch so schnell nach Übergabe der Note vom 6. August 1896 erfolgt, daß die deutsche Regierung nicht Zeit gehabt hatte, „um inzwischen wegen etwaiger Milderung des Einfuhrverbotes oder der Kontrollmaßregeln das zu der schon damals beabsichtigten wohlwollenden Prüfung erforderliche Einvernehmen mit den preußischen Ressorts herbeizuführen, geschweige denn, die russische Note zu beantworten". 67 Tschirschky wurde beauftragt, dem rus-
54
55 56 67
Ebenda, Nr. 2862, S. 362, Aufzeichnung Hohenlohes, 10. 9.1896. Vgl. auch Hohenlohe-Schillingsfürst, Fürst Chlodwig zu, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, hrsg. von Karl Alexander v. Müller, Stuttgart/Berlin 1931, S. 261. . ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 10 669, Bl. 13 ff., Rotenhan an Tschirschky, 19. 9. 1896. Ebenda, BL 16. Ebenda, Bl. 18.
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sischen Außenministerium den deutschen Standpunkt in einem Aidememoire zu übermitteln.58 Das Auswärtige Amt war demnach durchaus kompromißbereit. Die guten Beziehungen zu Rußland, die von einflußreichen Kräften in Deutschland immer wieder gefordert wurden und die für die Wahrung deutscher imperialistischer Interessen im Orient und in China von eminenter Bedeutung waren, durften von vergleichsweise weniger wichtigen handelspolitischen Rivalitäten nicht in Gefahr gebracht werden. Doch diese Auffassung stieß bei den anderen Ressorts auf wenig Gegenliebe. Für sie hatte der wirtschaftliche Streit mit Rußland prinzipielle Bedeutung. Dem Schutz agrarischer Interessen mußte ihres Erachtens im Sinne des Interessenausgleichs zwischen Junkertum und Bourgeoisie mehr Beachtung beigemessen werden, als es das Auswärtige Amt wahrhaben wollte. Dieser Standpunkt setzte sich auf einer Beratung über den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten aus Rußland und den USA am 3. Oktober 189659 durch. Anwesend waren der Staatssekretär des Reichsamts des Innern, von Böttcher, der Leiter des Auswärtigen Amtes, Marschall, der preußische Landwirtschaftsminister Hammerstein sowie Experten aus dem Reichsamt des Innern, dem Auswärtigen Amt, dem Reichsschatzamt und dem preußischen Finanzministerium. Die russischen Beschwerden wurden in fast allen Punkten als gegenstandslos zurückgewiesen. In den beiden wichtigsten Fragen, der Herabsetzung des Schweinekontingents für Oberschlesien und dem Einfuhrverbot für Schweinefleisch, wurde jede Möglichkeit eines Kompromisses ausgeschlossen. Hierbei handle es sich um Maßnahmen, die zum Schutze der deutschen Viehzucht vor der Einschleppung von Seuchen aus Rußland getroffen worden waren und die nach dem Handelsvertrag zulässig seien. Nach Auffassung des Landwirtschaftsministers sei ein Entgegenkommen nur in der allerdings untergeordneten Frage der Modalitäten für Veterinäruntersuchungen beim Grenzübertritt von Pferden möglich. Im Interesse der Landwirtschaft dürften keinerlei Abstriche an den bestehenden Verordnungen vorgenommen werden. Die Vertreter des Auswärtigen Amtes mußten sich zwar im Prinzip dieser Argumentation beugen, brachten jedoch eine Reihe von schwerwiegenden Einwänden zur Sprache.60 In letzter Zeit würden die veterinärpolizeilichen Maßnahmen so gehandhabt, daß sie mit dem Geist des Handelsvertrages nicht mehr übereinstimmten und es „den internationalen Courtoisien mehr entsprechen würde, wenn man mit mehr Rücksicht auf die betroffenen ausländischen Staaten verführe", so Marschall. „Die Art und Weise, wie die Veterinärmaßregeln 58 5a
AVPR, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 18 ff. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 10669, Bl. 20 ff. Die leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes mögen auch von der Berichterstattung des landwirtschaftlichen Sachverständigen bei der Petersburger Botschaft, Georg v. Cleinow, beeindruckt worden sein. Dieser berichtete gerade 1896 über deutliche Verbesserungen in der russischen Viehwirtschaft. Hier gäbe es kein Laissez-faire wie in anderen Zweigen der russischen Wirtschaft (11. 5.1896). Die deutsche Presse neige sehr dazu, die „vorkommenden Viehkrankheiten stark aufzubauschen und die Vorsichtsmaßregeln, die die hiesige Regierung... trifft, als gänzlich wertlos hinzustellen" (20.4.1896), ebenda, FB. 26117, Nr. 14 519.
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in der Öffentlichkeit unter Hinweis auf deren wirtschaftliche Bedeutung begründet werden, schaffe nicht nur Schwierigkeiten mit Rußland, sondern auch mit anderen Ländern . . . Die getroffenen Maßregeln hätten in Rußland die Befürchtung erweckt, daß wir einen systematischen Feldzug gegen die landwirtschaftliche Produktion Rußlands führen wollten. Es sei daher zu erwägen, ob man nicht in diesem oder jenem Punkte Rußland entgegenkommen könne, denn es sei zu bedenken, daß der Vorteil, der unserer Landwirtschaft aus den getroffenen Maßregeln erwächst, durch die von Rußland auf industriellem Gebiet bereits verfügten, sowie durch die auf diesem wie auf landwirtschaftlichem Gebiet weiter in Aussicht gestellten Gegenmaßregeln weit mehr denn aufgewogen würde."61 Doch die Bedenken Marschalls fruchteten nichts. Die proagrarischen Beamten des Landwirtschaftsministeriums in Berlin gaben kein Jota nach. „Der Vieharzt sollte eine handelspolitische Roßkur durchführen."62 Auch die Beratungen des Preußischen Staatsministeriums vom 3. und 18. November, also unmittelbar vor Beginn der vereinbarten deutsch-russischen Zollkonferenz, gaben dem Auswärtigen Amt nicht mehr Handlungsfreiheit.63 Der preußische Landwirtschaftsminister Hammerstein weigerte sich hartnäckig, Konzessionen bei den entscheidenden Punkten, der Verminderung des Schweinekontingents und dem Fleischeinfuhrverbot, zuzugestehen. Die Verhandlungsposition der Wilhelmstraße wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß neben den bereits existierenden Einschränkungen nun auch noch Quarantänemaßregeln gegen russisches Federvieh vom Landwirtschaftsministerium in Aussicht genommen wurden. Mehr noch wurde die prekäre Situation für das Auswärtige Amt durch den Ende Oktober/Anfang November stattfindenden Skandal um Bismarcks Enthüllungen über den deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag in den „Hamburger Nachrichten" verstärkt. Zum einen mußte man in Berlin zu Recht Unzufriedenheit in Petersburg und damit eine weitere Belastung der Beziehungen zwischen beiden Staaten fürchten, zum anderen war man gezwungen, sich des Drucks der junkerlichen und bürgerlichen Fraktionen im Reichstag zu erwehren, die in den Enthüllungen teils den Beweis für eine falsche Außenpolitik, nämlich für die Abkehr von Rußland, sahen (Konservative), teils für die Unterstützung der Regierung in dieser Frage Zugeständnisse in anderen Fragen forderten (Nationalliberale, Zentrum). Marschall definierte am 16. November 1896 die deutsche Außenpolitik vor dem Reichstag so: „... treues unentwegtes Festhalten an unseren Bündnissen mit Österreich/Ungarn und mit Italien, Pflege der freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland .. .'l64 Damit hoffte er insbesondere die einflußreichen, Bismarck nahestehenden, deutschen Agrarier zu befriedigen, die, obzwar sie auf handelspolitischem Terrain gegen die russischen Interessen antraten, gleichzeitig eifrige Verfechter guter politischer Beziehungen zu Rußland waren. Die russische Regierung war durch 61 10 63 M
6»
Ebenda, Nr. 10 669, Bl. 24 f. Hallgarten, S. 432. ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 10669, S. 40 ff., 73 ff. Stenographische Berichte, 9. Legislaturperiode, 4. Session, Bd. 164, Berlin 1897, S. 3265.
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die Rede Marschalls im großen und ganzen zufriedengestellt. Allerdings war die Notwendigkeit, die anstehenden handelspolitischen Gespräche zu einem vernünftigen Resultat zu bringen, für das Auswärtige Amt noch größer geworden. Forderten die deutschen Agrarier nun nicht gerade einen Erfolg dieser Verhandlungen, sondern eher die Beibehaltung der Veterinärmaßregeln gegen Rußland, erwartete Rußland hingegen einen Beweis für die Pflege der versprochenen freundschaftlichen Beziehungen. Unter diesen ungünstigen Vorzeichen mußte das Auswärtige Amt in die handelspolitischen Verhandlungen mit Rußland treten. Anfang November waren die Vorbereitungsarbeiten für die deutsch-russische Zollkonferenz beendet. Schon Mitte Oktober hatte Vitte dem Außenministerium einen Programmvorschlag unterbreitet. Dieser war von einer Sonderkommission des Finanzministeriums, die vom Direktor der Abteilung für Handel und Manufakturen, V. I. Kovalevskij, geleitet wurde und in der Beamte verschiedener Ministerien mitwirkten, ausgearbeitet worden.65 Er beinhaltete neben dem Hauptproblem, der Vieh- und Fleischeinfuhr nach Deutschland, auch Paß- und Visafragen, insbesondere beim Grenzübertritt russischer Landarbeiter nach Deutschland, und Fragen der Schiffahrt auf den Grenzflüssen. Dabei waren Zugeständnisse in den zweitrangigen Fragen von vornherein nur als Kompensationsobjekt für eventuelle Zugeständnisse in den für Rußland entscheidenden Problemen gedacht. Siskin stimmte diesem Programmentwurf zu. Er beauftragte Osten-Saken, ihn sofort der deutschen Regierung zuzustellen und diese zu veranlassen, den russischen Vorschlag anzunehmen. 66 Es sei notwendig, die wirtschaftlichen Streitigkeiten so schnell wie möglich zu beseitigen, um ungünstige Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu vermeiden. Deutscherseits wurden die russischen Zollerhöhungen auf einige Industriewaren als Verhandlungspunkt vorgeschlagen, was von der russischen Seite akzeptiert wurde. In den anderen zu behandelnden Fragen stimmten die Vorschläge überein.67 Vitte stellte der russischen Delegation die Aufgabe, für russisches Vieh und tierische Produkte einen möglichst freien Zugang zum deutschen Markt zu erreichen.68 Die deutsche Regierung sollte gezwungen werden, solche Verpflichtungen einzugehen, die willkürliche Akte der örtlichen und zentralen Behörden gegen russische Agrarprodukte ausschlössen. Nur in diesem Falle könnten die gerade erst erhöhten Zölle wieder gesenkt werden, woran die deutsche Seite besonders interessiert sei. Im übrigen wolle man nur in dem Maße nachgeben, in dem die deutsche Regierung den russischen Forderungen entgegenkomme, schrieb Vitte an den Zaren. Die deutsch-russische Zollkonferenz begann am 19. November 1896 in Berlin. Die deutsche Delegation stand unter der Leitung des Direktors der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Reichardt. Ihr gehörten außerdem die Beamten derselben Abteilung, Raffauf und Goebel, an. Weiterhin soll65 m 67
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AVPR, II. Departement, 1 - 5 , 1896, delo 15, Bl. 74 f., Vitte an Siskin, 9. 10. 1896. Ebenda, Bl. 76 f., Siskin an Osten-Saken, 10. 10. 1896. Ebenda, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 36 f., Osten-Saken an Siskin, 18./ 30. 10. 1896. Ebenda, fonds II. Departement, 1 - 5 , 1896, delo 15, Bl. 121 ff., Vortrag Vittes beim Zaren, 25.10.1896.
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ten Experten anderer Reichsämter und preußischer Ministerien zu den Verhandlungen hinzugezogen werden. Die russische Delegation wurde wie 1893/94 vom Berliner Agenten des Finanzministeriums, V. I. Timirjazev, angeführt und bestand weiter aus dem Geheimrat Zabugin vom Finanzministerium und dem Danziger Konsul Vrangel, der das Außenministerium vertreten sollte. Die erste Verhandlungsrunde dauerte bis zum 28. November.69 Erwartungsgemäß bildete die Frage des russischen Vieh- und Fleischexportes nach Deutschland den Schwerpunkt der Diskussion. Schon sehr bald zeigte sich, daß die deutschen Unterhändler nicht bereit waren, von ihren Positionen abzurücken. Obwohl Reichardt gleich in der ersten Sitzung beteuerte, daß die „deutsche Regierung sich nicht mit Aspirationen gewisser Agrarier identifiziere" und daß sie bereit sei, Maßregeln zu modifizieren, wenn nichtsanitäre Beweggründe nachgewiesen werden könnten, kam man keinen Schritt voran. Einzig und allein die Zollabfertigung von russischen Pferden sollte nach Meinung Reichardts zügiger und unbürokratischer gestaltet werden. Die Argumente Timirjazevs, die veterinärpolizeiliche Lage in Rußland habe sich bedeutend verbessert, die Rinderpest in Rußland sei z. B. fast völlig ausgemerzt, wurden mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, daß in Rußland keine Anzeige- und Meldepflicht für Seuchenfälle existiere und im übrigen die Veterinärmedizin noch nicht so weit sei, die Inkubationszeit von erkrankten Tieren genau festzustellen, was ein Einfuhrverbot als sicherstes Abwehrmittel erforderlich mache.70 Die russischen Delegierten befanden sich in einer schwierigen Lage. In den Punkten, in denen sie Zugeständnisse erreichen mußten, erschien ein deutsches Entgegenkommen aussichtslos, Verhandlungserfolge in zweitrangigen Fragen würden jedoch ihren Finanzminister nicht befriedigen. Timirjazev sah sich gezwungen, stärkere Geschütze aufzufahren. Gegenüber den deutschen Unterhändlern betonte er, daß in Rußland der peinliche Eindruck entstanden sei, daß Deutschland am Handelsvertrag rüttle und die Entwicklung des gegenseitigen Handels aufhalten wolle. Wenn die deutsche Regierung kein Entgegenkommen zeige, erreiche die Konferenz ihr Ziel zum Schaden des Handels zwischen beiden Staaten nicht. Man werde zwar weiterverhandeln, sehe aber kein befriedigendes Ergebnis voraus. Im übrigen beziehe er sich auf einen Ausspruch des Grafen Caprivi, wonach gute wirtschaftliche auch gute politische Beziehungen im Gefolge hätten. Das letzte war eine unverhüllte Drohung an die Adresse der deutschen Regierung. Die Bilanz von acht Sitzungen der deutsch-russischen Zollkonferenz war für beide Seiten völlig unbefriedigend. Man hatte zwar in einigen Punkten ein Übereinkommen erzielt, z. B. in der schon erwähnten Frage der Zollbehandlung von Pferden, beim Transit von russischem Heu und Stroh durch Deutschland, bei der Flußschiffahrt auf den russisch-deutschen Grenzflüssen, bei Paß- und Visaangelegenheiten, beim Informationsaustausch über Seuchenfälle in beiden
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Die Verhandlungsprotokolle der deutsch-russischen Zollkonferenz liegen gedruckt vor, siehe ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr. 10669, gesammelt unter Bl. 391. Alle nicht weiter belegten Angaben und Zitate zur Konferenz beziehen sich auf dieses Verhandlungsprotokoll. Diesen Argumenten sollte durch den eilig herbeigeholten Dorpater Veterinärexperten Professor Raupach besonderer Nachdruck verliehen werden.
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Ländern und bei der Regelung einiger Zollformalitäten. 71 Die entscheidenden Probleme (der Zugang von russischem Vieh und Fleisch zum deutschen Markt, die Schließung einiger Transitläger in Deutschland, aber auch die für Rußland sehr wichtige Kleiefrage) blieben ungelöst. Da es sich in diesen Fällen um russische Forderungen handelte, konnte man deutscherseits auch nicht mit einem Entgegenkommen bei den eigenen Hauptforderungen hinsichtlich der Wiederherstellung der durch das Zollzirkular Vittes Ende August 1896 aufgehobenen Vergünstigungen für einige deutsche Industriewaren rechnen. Eher schien bei weiterer Unnachgiebigkeit auch das Einvernehmen in zweitrangigen Fragen in Gefahr zu geraten. Vitte war über die ungenügenden Resultate der Konferenz und über den beruhigenden Ton, in dem Timirjazev über sie berichtet hatte, empört.72 Er rügte, daß seine Delegierten die unbedeutenden deutschen Zugeständnisse als beachtenswert gewürdigt und dabei nicht bemerkt hätten, daß diese nur darauf abzielten, die russischen Konferenzteilnehmer von den entscheidenden Fragen wegzuführen. Vittes Zorn ging jedoch nicht so weit, die Konferenz platzen zu lassen. Er war im Gegenteil eher kompromißbereit gestimmt. Obwohl er die deutschen Veterinärmaßnahmen weiterhin als dem Wesen des Handelsvertrages widersprechend betrachtete, gab er die Forderung nach ihrer Aufhebung auf und begehrte nur noch deren korrekte Anwendung gegenüber der russischen Einfuhr. Er war u. a. bereit, als Gegenleistung die Einfuhr von deutschen Lederwaren und von Zelluloidwäsche zu begünstigen. Timirjazev sollte auf der Konferenz in Vittes Namen erklären, daß Rußland den Status quo noch ein halbes Jahr aufrechterhalten wolle, um der deutschen Regierung Zeit zu lassen zu bestimmen, unter welchen veterinärpolizeilichen Bedingungen die Einfuhr von russischem Vieh und Fleisch möglich werden könne, um dann über diese Frage erneut zu verhandeln. Weitere Zugeständnisse Rußlands wurden vom Entgegenkommen Deutschlands in dieser Frage abhängig gemacht. Vitte war gezwungen, in diesem Falle dem Druck des russischen Außenministeriums nach größerer Kompromißbereitschaft nachzugeben. Die Diplomaten befürchteten, daß eine sichtliche Verschärfung der ökonomischen Beziehungen zwischen beiden Monarchien allgemeinpolitische Bedeutung gewinnen würde. Schon wenige Tage nach Eröffnung der Konferenz in Berlin hatte Osten71
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Deutschland war an der Einfuhr von Kleie als Futtermittel interessiert. Uberstieg der Mehlgehalt der Kleie eine gewisse Grenze, konnte sie auch vermählen und das Mehl verkauft werden. Um das zu vermeiden, wurde ein bestimmter Prozentsatz für den Aschegehalt der Kleie festgesetzt, der gleichzeitig ein Kriterium für ihren Mehlgehalt war. Enthielt die Kleie mehr Asche als festgelegt, durfte sie nicht eingeführt werden. Die russische Regierung forderte nun, daß dieser Prozentsatz langfristig festgeschrieben werde, um den russischen Kleieexport, der 1896 immerhin die beträchtliche Summe von 21,4 Mio Mark ausmachte, von Schwankungen unabhängig zu machen. Vgl. Lehrfreund, Ludwig, Die Entwicklung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen, Leipzig 1921, S. 81. AVPR, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 77 ff., Vitte an Timirjazev, 19.11./ 1.12.1896, vgl. auch ebenda, fonds II. Departement, 1—5, 1896, delo 15, Protokoll einer Sitzung im Finanzministerium zu den ökonomischen Schwierigkeiten mit Deutschland, o. D., Bl. 124«., und ebenda, Bl. 159 ff., Vrangel an Osten-Saken, 12./24.11. 1896 (zur Berichterstattung im Außenministerium).
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Saken, beunruhigt über deren unbefriedigenden Verlauf, nach Petersburg geschrieben, daß die handelspolitischen Differenzen im Falle ihrer Verschärfung „unausweichlich unsere Außenpolitik beeinflussen müssen. Caveant consules!" 73 Deshalb könnten die ökonomischen Meinungsverschiedenheiten, so OstenSaken an die Adresse Vittes gewandt, nicht Gegenstand einseitiger Erörterung sein. Diese Bedenken veranlaßten das russische Außenministerium, die vorläufigen Resultate der deutsch-russischen Zollkonferenz etwas positiver einzuschätzen. Daß Vitte, der in anderen Fällen nicht ohne weiteres auf die Bedenken seiner Kollegen einging, hier kompromißbereit war, ist nur zu verständlich. Nur wenige Tage, nachdem Vitte seine Instruktionen an Timirjazev abgeschickt hatte, am 5. Dezember 1896, fand unter dem Vorsitz des Zaren eine Geheimkonferenz statt, auf der im Falle einer dramatischen Zuspitzung der Lage in Konstantinopel die Inbesitznahme des Bosporus durch die russische Flotte beschlossen wurde. 74 Das waren jene Verwicklungen im Osten, jene Verschärfung der allgemeinen politischen Lage, von denen in den Berichten der zaristischen Diplomaten in dieser Zeit so häufig und so nebulös die Rede war. Unter diesen Bedingungen konnte die russische Regierung nicht zulassen, daß sich die Beziehungen zur benachbarten Großmacht Deutschland wegen handelspolitischer Spannungen verkrampften, wo es doch darauf ankam, sich der Loyalität des Kaiserreiches zu versichern. Vitte hatte zwar gegen den Beschluß gestimmt, den Bosporus zu erobern, weil er diese Aktion ohne vorherige Konsultationen mit den anderen Großmächten für zu riskant hielt, war aber natürlich als Mitglied der Regierung an ihn gebunden. So kam es, daß Siskin am selben Tage, an dem die Geheimkonferenz stattfand und nachdem er auf Drängen Osten-Sakens mit Vitte verhandelt hatte, an den Botschafter in Berlin schrieb, daß er mit Vitte übereingekommen sei, in der nächsten Zeit gegenüber der deutschen Einfuhr keine Repressalien anzuwenden, d. h. die Konferenz so schnell wie möglich zu Ende zu führen. 75 Auch in Berlin war man über den Stand der Verhandlungen beunruhigt. Der Leiter der deutschen Delegation, Reichardt, und sein Chef, Marschall, befürchteten, daß, wenn deutscherseits keine weiteren Konzessionen zugestanden würden, die Konferenz zum Scheitern verurteilt sei und ein Zustand in den handelspolitischen Beziehungen zwischen beiden Ländern eintreten würde, der nur als latenter Zollkrieg bezeichnet werden könne. Auf der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums vom 9. Dezember 1896 mußten sie feststellen, daß man von den russischen Zollbehörden bereits die Nachteile eines solchen Zustandes zu fühlen bekomme, indem diese „zwar den Wortlaut des [Handels-]Vertrages respektierten, aber im Zweifelsfalle zu Ungunsten der deutschen Interessen entschieden". 76 Ebenda, Bl. 158, Osten-Saken an SiSkin, 12./24. 11. 1896. ''' Proekt zachvata Bosfora, S. 64 ff.; Zürrer, Werner, Die Nahostpolitik Frankreichs und Rußlands 1891-1898, Wiesbaden 1970, S. 185 ff. 75 AVPR, fonds posol'stvo v Berline, delo 4202, Bl. 76, Siskin an Osten-Saken, 23.11./ 5.12.1896. VB ZStAP, Auswärtiges Amt, Nr.'l0669, Bl. 191. 73
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Nach ihrer Auffassung waren Konzessionen vor allem in ¿er Schweinefleischund Kleiefrage unumgänglich, zumal Vitte dann möglicherweise weiteren Zugeständnissen zugunsten des deutschen Industriewarenexports zustimmen würde. Diesmal konnten die Verantwortlichen des Auswärtigen Amtes auf ein größeres Entgegenkommen ihrer Ministerkollegen rechnen, die, obwohl größtenteils auf proagrarischen Positionen stehend, keinesfalls, eingedenk der Erfahrungen von 1893/94, wegen relativ geringfügiger Handelsstreitigkeiten einen erneuten Zollkrieg provozieren wollten. Bei der trotz allem immer noch heftigen Reaktion Vittes auf den für ihn unbefriedigenden Verlauf der Verhandlungen schien es ihnen angezeigt, den russischen Forderungen etwas, wenn auch widerwillig, entgegenzukommen. Der Aschegehalt der Kleie sollte bis 1900 gebunden bleiben und 2 kg ungekochtes Schweinefleisch im Grenzverkehr sowie als Mundvorrat für die die Grenze überschreitenden Arbeiter zugelassen werden, wobei letzteres keineswegs der Forderung nach allgemeiner freier Einfuhr von russischem Schweinefleisch entsprach. Diese Konzessionen Deutschlands stellten Vitte natürlich nicht zufrieden. Die deutsche Seite hatte auch jetzt keine Antwort auf die Frage gegeben, unter welchen Bedingungen sie die Einfuhr von russischem Vieh und Tierprodukten nach Deutschland zulassen würde. Das war für Vitte der eindeutige Beweis, daß die Regierung in Berlin sich nicht von veterinärpolizeilichen, sondern ausschließlich von ökonomischen Beweggründen leiten ließ. Aber selbst jetzt drohte Vitte nicht, wie er es sonst häufig tat, mit dem Abbruch der Verhandlungen bzw. mit neuen Repressalien gegenüber der deutschen Einfuhr. Der russische Botschafter in Konstantinopel, A. I. Nelidov, reiste eine Woche nach der Petersburger Geheimkonferenz am 12. Dezember 1896 mit Instruktionen in der Tasche ab, die auf eine baldige Okkupation des Bosporus abzielten. Vor den diplomatischen Vertretern Rußlands in Paris und Berlin stand jetzt mit besonderer Dringlichkeit die Aufgabe, im Falle einer militärischen Aktion im Schwarzen Meer die weitgehende Unterstützung der französischen und deutschen Regierung zu erreichen. Das zwang Osten-Saken, darauf hinzuweisen, daß nach seiner Meinung jetzt noch weit mehr als früher die Eskalation der ökonomischen Streitigkeiten mit Deutschland einen für Rußland günstigen Ausgang der politischen Krise in der Türkei gefährden würde, welcher überhaupt nur durch gemeinsame Handlungen der europäischen Staaten erreicht werden könne.77 In dieser Situation war der Plan des russischen Finanzministers, die Konferenz um ein halbes Jahr bei Beibehaltung des Status quo mit dem Ziel zu vertagen, die deutsche Regierung zu einer nachgiebigeren Haltung zu zwingen, zu gefährlich. Noch ein weiterer Gesichtspunkt spielte in den Überlegungen Osten-Sakens eine Rolle. Eine offenkundige Zuspitzung der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland würde die schwer angeschlagene Position des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Marschall, noch mehr ins Wanken bringen. Es sei zu befürchten, daß die ihn ersetzende Person zu bedeutend weniger Zugeständnissen jeglicher Art neige als sein Vorgänger. Diesem Gedanken konnte sich auch der russische Finanzminister nicht verschlie77
AVPR, fonds II. Departement, 1—5, 1896, delo 15, Bl. 198 ff., Osten-Saken an Siskin, 2./14. 12. 1896.
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ßen. Schweren Herzens schloß ier sich Ende Dezember 1896 der Auffassung des Zaren an, daß es wohl besser sei, sich jetzt mit kleinen gegenseitigen Zugeständnissen zufriedenzugeben. 7 8 Die russischen Unterhändler w u r d e n dementsprechend instruiert: F ü r die deutscherseits bereits zugestandenen Konzessionen wird der Import von Zelluloidwäsche und von Ledertaschen erleichtert; weitere Konzessionen f ü r den Import von Uhren, anderen Lederwaren und Seidenwaren können zugestanden werden, w e n n bindende Zusagen in der Kleiefrage erfolgen. In den ausstehenden Verhandlungen sei darauf zu dringen, d a ß n e u n der f ü r Rußland wichtigsten Transitläger nicht geschlossen werden. Im übrigen solle m a n weiterhin versuchen, von der deutschen Regierung doch noch Zusagen zu erhalten, unter welchen Bedingungen Vieh und tierische Prod u k t e nach u n d durch Deutschland gelassen werden. 7 9 Das bedeutete eine deutliche Niederlage Rußlands in der Zollkonferenz. Der Plan, den Bosporus in Besitz zu nehmen, w a r von A n f a n g an in der russischen Regierung umstritten. Neben Vitte monierte der Oberbefehlshaber der russischen Marine, Vizeadmiral Tyrtov, daß dem russischen Botschafter ' in Konstantinopel, Nelidov, die Vollmacht zugestanden worden war, aus eigenem Ermessen die Flotte aus Odessa und Sevastopol herbeizurufen. Schon im zweiten Entwurf des Planes w u r d e dieses Recht beträchtlich eingeschränkt. Nur kurze Zeit nach der Petersburger Geheimkonferenz w a r zudem noch klar geworden, daß Frankreich eine militärische Aktion Rußlands nicht unterstützen würde. 8 0 Die russische Regierung mußte von ihrem Plan vorläufig Abstand nehmen. In dieser neuen Situation k a m es ihr darauf an, den Status quo in der T ü r kei weiter aufrechtzuerhalten und in den Verhandlungen mit den anderen Großmächten die eigenen Ansprüche durchzusetzen. Auch in den nachfolgenden diplomatischen Gefechten u m das Ottomanische Reich w a r es f ü r die russische Außenpolitik notwendig, politische Dissonanzen mit Deutschland zu vermeiden, w e n n sie ihren Einfluß auf den Gang der Dinge in der Türkei und im Fernen Osten nicht verlieren wollte. Dem entsprachen auch die schon erwähnten neuen Instruktionen f ü r die russische Delegation bei den Verhandlungen in Berlin. Ungeachtet dessen taten sich die preußischen Staatsminister sogar bei den wesentlich milderen Forderungen Rußlands schwer. 81 Landwirtschaftsminister Hammerstein protestierte energisch gegen die von Reichardt geäußerte A u f fassung, m a n könne die Aufrechterhaltung einiger Transitläger zugestehen, u m von der Petersburger Regierung weitere Erleichterungen beim Übertritt russischer Landarbeiter nach Deutschland zu erreichen. Der russische Standpunkt, m a n wolle n u r das aus Deutschland exportierte Getreide ersetzen, bedeute, so Hammerstein, daß das russische Getreide dem inländischen Konkurrenz machen wolle, wodurch Deutschlands Entwicklung zum Getreideexporteur gebremst würde. Nach zähem Feilschen gelang es Reichardt, die preußischen Minister wenigstens dazu zu bewegen, die A u f h e b u n g der Transitläger zu verzögern. Die letzte Verhandlungsrunde begann am 2. J a n u a r 1897. Fast alle Probleme schienen gelöst. Allein Vitte gab sich nicht endgültig geschlagen. Durch Timirja78
7 Vgl. über die Bahn Thobie, S. 195 ff., 331 ff.
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weges über Konia hinaus erheblich profitieren. Im Sommer 1903 war die Verbindung beider Linien noch nicht hergestellt, worüber sich der französische Botschafter in Konstantinopel, Jean Constans, beim Sultan beschwerte. 10 Was im Mai, Monate vor der am 23. September 1899 erfolgten Erteilung der Vorkonzession f ü r die Bagdadbahn an die Anatolische Eisenbahngesellschaft festgelegt wurde, erfuhr ungeachtet aller Wandlungen im einzelnen und teilweise recht heftiger Auseinandersetzungen 11 bis Anfang 1903 keine entscheidenden Veränderungen: Beide Banken waren entschlossen, die Bahn gemeinsam zu bauen. Von der Reichsleitung wurde das Vorhaben, französisches Kapital heranzuziehen, voll gebilligt. 12 Die BIO bewog eine ganze Reihe von Gründen, sich zu beteiligen. Der dominierende war, daß das Unternehmen und die damit direkt oder indirekt zusammenhängenden Finanzoperationen f ü r die beteiligten Banken sehr erhebliche Gewinne versprachen, wovon die Ottomanbank nicht ausgeschlossen werden wollte. Für die in der BIO ausschlaggebenden Vertreter des französischen Bankkapitals schienen aber auch allgemeinere Gesichtspunkte f ü r ein Zusammengehen mit der Deutschen Bank zu sprechen. Die Unterstützung der Reichsleitung, deren Einfluß in Konstantinopel im Steigen begriffen war, verschaffte der Deutschen Bank bei der Konzessionsjagd am Goldenen Horn gegenüber anderen Wettbewerbern häufig eine bevorzugte Stellung. Durch die Partnerschaft w u r d e die Ottomanbank bis zu einem gewissen Grade Nutznießerin dieser Entwicklung. So blieben Bemühungen um Konzessionserteiiungen und um die Erlangung des Einverständnisses der zur Durchführung von Finanzoperationen in vielen Fällen vorwiegend der Deutschen Bank, und das hieß in der Regel der deutschen Botschaft in Konstantinopel, überlassen, während an der Finanzierung und damit natürlich auch an den Gewinnen das französische Kapital in einem erheblichen Umfang mitbeteiligt war. Damit entstand eine J a h r e anhaltende deutsch-französische Interessengemeinschaft in Konstantinopel, der auch eine gewisse politische Bedeutung nicht abzusprechen war. Die BIO befürchtete auch, durch eine Nichtbeteiligung an der Bagdadbahn ihre Stellung als führende Bank im Osmanischen Reich zu gefährden. Die gewaltigen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen, die das Unternehmen annehmen mußte, waren seit dem Zeitpunkt, da seine Verwirklichung feste Konturen gewann, nicht zu verkennen. Ein Abseitsstehen, argumentierten Vertreter der Bank gegenüber der französischen Regierung, mindere daher nich,t nur ihr Prestige, sondern auch ihren realen Einfluß. 13 Das konnte im Endeffekt natürlich auch zu finanziellen Einbußen führen. Um die endgültigen Voraussetzungen f ü r den Baubeginn zu schaffen, verhandelten Vertreter der Deutschen Bank Anfang 1903 gleichzeitig in Konstantinopel, London und Paris. In der türkischen Hauptstadt wurde die endgültige Ver10
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Bericht Constans', 16.6.1903, in: Documents Diplomatiques Français (im folg.: DDF), Ser. 2, Bd. 3, Nr. 302. Vgl. etwa Helfferich, Karl, Georg von Siemens, Bd. 3, Berlin 1923, S. 115. Telegramm an Marschall, 12. 2.1900, in : Große Politik der europäischen Kabinette (im folg.: GP), Bd. 17, Nr. 5215. Telegramm an Bompard, 11.2.1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 76; auch zum Vorhergegangenen.
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ständigung mit der P f o r t e über den Streckenbau Konia-Eregli am 11. F e b r u a r erzielt, wobei es der Einschaltung des Großwesirs durch den deutschen Botschafter, Frhr. Marschall v. Bieberstein, bedurfte, u m die türkischen U n t e r händler zur A n n a h m e der Forderungen der Anatolischen Eisenbahngesellschaft zu bewegen. 14 In London hatte im J a n u a r Gwinner eine Unterredung mit dem britischen Außenminister Lord Lansdowne, u m die Zustimmung der Londoner Regierung f ü r die Beteiligung englischen Kapitals am Bagdadbahnbau zu erreichen. 15 Der Direktor der Deutschen Bank gewann dabei und aus Gesprächen m i t V e r t r e t e r n des britischen Finanzkapitals einen positiven Eindruck. Er begann mit der Beteiligung der Engländer fest zu rechnen. Im Hinblick auf deren Beitritt erwies es sich als notwendig, die bisherigen Abmachungen der Deutschen Bank mit der BIO einer Revision zu unterziehen und sie der neuen Situation anzupassen. Während Gwinners Aufenthalt in Paris im J a n u a r k a m es jedoch noch nicht zum Abschluß eines Abkommens zwischen beiden Banken. 16 Dieser erfolgte am 5. F e b r u a r in Berlin. Über die zwischen dem Direktor der Ottomanbank Sir Hamilton Lang und Gwinner geschlossene Vereinbarung liegen zwei Mitteilungen vor, die über 'die vorgesehene Kapitalverteilung in der Bagdadbahngesellschaft merklich voneinander abweichen. Laut einem Erlaß Théophile Delcassés, des langjährigen französischen Außenministers, an den Botschafter der Republik in Petersburg Maurice Bompard, in dem aus der Vereinbarung einige Passagen auch wörtlich a n g e f ü h r t wurden, sollten sich die einzelnen Quoten folgendermaßen verteilen: 10 Prozent Anatolische Eisenbahngesellschaft, deutsche, französische und britische G r u p p e je 25 Prozent; Österreich, die Schweiz und andere Nationen 15 Prozent. 17 Hingegen h ä t t e m a n sich nach einer Äußerung Gaston Auboyneaus, des Direktors der Ottomanbank in Konstantinopel, zu Marschall in Berlin auf folgenden Verteilungsschlüssel geeinigt: 10 Prozent Anatolische Eisenbahngesellschaft, die restlichen 90 Prozent zu gleichen Teilen an das französische und an das deutsche Syndikat. Etwaigen weiteren, sich an der Gesellschaft beteiligenden Finanzgruppen sollten Anteile vom Aktienbesitz des deutschen und des französischen Syndikats proportional überlassen werden. 1 8 Der Unterschied zwischen beiden Versionen ist erheblich. Während sich die A u s f ü h r u n g e n Auboyneaus in den R a h m e n der bisherigen Abkommen zwischen der BIO und der Deutschen Bank durchaus einfügen, konnte die Deutsche Bank nach den Angaben Delcassés im besten Falle mit einer 50prozentigen Kapitalbeteiligung rechnen. Wahrscheinlich w u r d e zwischen beiden Banken eine stille, die Interessen der Deutschen Bank stärker berücksichtigende Absprache getroffen. Ohne Kenntnis der Vereinbarung ist es nicht möglich, bestimmtere Feststellungen zu treffen. Delcassé weigerte sich, das Abkommen vom 5. F e b r u a r zu akzeptieren, da der von ihm stets erhobenen Forderung nach vollständiger Gleichstellung des deut14 15 lü 17 10
Telegramm Marschalls, 12'. 2. 1903, in: GP 17, Nr. 5253. Aufzeichnung Rosens, 31. 1. 1903, ebenda, Nr. 5252. Telegramm an Constans, 21. 1. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 36. Telegramm an Bompard, 11. 2.1903, ebenda, Nr. 76. Telegramm Marschalls,-13. 2. 1903, in: GP 17, Nr. 5254.
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sehen und des französischen Kapitals in der zu gründenden Bagdadbahngesellschaft nicht entsprochen worden sei. Die Unterscheidung zwischen dem Anteil der Anatolischen Eisenbahngesellschaft und der deutschen G r u p p e ließ er nicht gelten. Er monierte ferner, daß Rußland nicht ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich an der Gesellschaft zu beteiligen. Da er, und zwar seit J a h r e n , f ü r Frankreich und Rußland die Majorität in der Bagdadbahngesellschaft zu erlangen trachtete 1 9 und in einer ganz erstaunlichen Weise den Widerstand im Zarenreich gegen das Bagdadbahnprojekt unterschätzte, w a r dieser P u n k t f ü r ihn von großer Bedeutung. In den nächsten Wochen w u r d e jedoch diese Lieblingsidee des Außenministers endgültig zu Grabe getragen. In Petersburg setzte sich A n f a n g März Vitte endgültig durch 20 , der eine Beteiligung an der Bagdadbahngesellschaft seit 1899 a limine zurückgewiesen hatte. Delcasse wollte auch seine Zustimmung zur D u r c h f ü h r u n g der sogenannten Unifikation der türkischen Staatsschuld n u r erteilen, wenn die Parität des französischen gegenüber dem deutschen Kapital im Bagdadunternehmen gesichert war. Eine entsprechende Mitteilung ließ Constans der Ottomanbank bereits am 7. F e b r u a r 1903 zukommen. 2 1 An der Unifikation w a r e n die BIO und die Deutsche Bank gleichermaßen interessiert; die Ottomanbank wegen der ihr bei dieser Konvertierung der türkischen Staatsschuld in erster Linie zufließenden Gewinne, die Deutsche Bank im Hinblick auf die mit der Unifikation verb u n d e n e Vermehrung der türkischen Staatseinnahmen, wodurch die P f o r t e erst die f ü r den Bau der Bagdadbahn erforderlichen finanziellen Sicherheiten leisten konnte. Die bisherigen Einnahmen reichten nicht einmal zur Deckung der dringendsten Ausgaben aus. So k o n n t e selbst in Mazedonien, wo die Autorität des türkischen Staates steten Anfechtungen ausgesetzt war, die Gendarmerie nicht regelmäßig bezahlt werden. 2 2 Marschall und der Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahngesellschaft, Dr. K u r t Zander, lehnten es übereinstimmend ab, den Franzosen weiter entgegenzukommen. Der bevorstehende Abschluß der Bagdadbahnkonvention mit der Türkei, behaupteten sie, w ü r d e dadurch ernsthaft gefährdet werden. 2 3 Mehr Elastizität zeigte die Deutsche Bank. Um Delcasses Widerstand zu überwinden, stimmte sie neuen Verhandlungen mit d e r BIO zu, die am 18. F e b r u a r in Paris zwischen den Direktoren der Deutschen Bank, Gwinner und Steinthal, und den Vertretern der Ottomanbank, Ad. Vernes und Hottinguer, zu einer neuen Vereinbarung f ü h r t e n . Darin w u r d e den Franzosen im Artikel 3 eine 50prozentige Kapitalbeteiligung, also die volle Parität, bewilligt. Sollten sich die Engländer an dem Unternehmen beteiligen, w a r eine Dritteilung des Kapitals vorgesehen. Daneben w a r jedoch im Artikel 7 in wohl bewußt unklar gehaltenen Formulierungen festgelegt, daß die Anatolische Eisenbahngesellschaft eine lOprozentige Kapitalbeteiligung erhalten werde. Es war nicht ausdrücklich la
Telegramm an Bompard, 11. 2. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 76. 'M Telegramm und Bericht Bompards, 8. u. 12. 3.1903, ebenda, Nr. 125, 135. 21 Telegramm Constans', 21.1.1903; Delcasse an Rouvier, 13.7.1903, ebenda, Nr. 35, 347. Über die Unifikation vgl. Gwinner, Arthur v., Lebenserinnerungen, hrsg. von Manfred Pohl, Frankfurt a. M., 1975, S. 81 ff. TJ Bericht Constans', 7. 4. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 164. ZJ Telegramm Marschalls, 12. 2. 1903, in: GP 17, Nr. 5253.
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gesagt, daß ihr diese 10 Prozent unabhängig vom Anteil der Deutschen Bank zuzusprechen seien — es liegt jedoch nahe, dies anzunehmen. Gleiche Bestimmungen enthielten die Festlegungen über die Kapitalverteilung in der zu gründenden Baugesellschaft. Die Vertreter der BIO haben wahrscheinlich die Direktoren der Deutschen Bank zu einigen über die Vereinbarung vom 5. Februar hinausgehenden Zugeständnissen veranlaßt. Die Gleichberechtigung in der Verwaltung der Gesellschaft erreichten die Franzosen jedoch nicht. Im Verwaltungsrat der Gesellschaft wurden ihnen allerdings zusammen mit den Engländern 17 von 33 Sitzen, also die Majorität, zugesprochen. Im Unterschied zu einigen anderen zwischen der Deutschen Bank und der BIO geschlossenen Vereinbarungen, deren Inkrafttreten von der Zustimmung der Regierungen in Paris und Berlin abhing, war das Abkommen vom 18. Februar, oder zumindest wesentliche Teile davon, nicht an derartige Bedingungen geknüpft.24 Bompard, dem die neue Vereinbarung nach Petersburg zugesandt worden war, neigte der Auffassung zu, daß die Vertreter der Ottomanbank größere Zugeständnisse hätten erreichen können. Auch äußerte er den Verdacht, die Banken hätten mit der neuen Redaktion des Abkommens nur den Zweck verfolgt, die französische Regierung zu täuschen. Das war. zu einem guten Teil eine zutreffende Beobachtung: Die Vertreter der Banken suchten die Vereinbarung so abzufassen, daß sie den Pariser Regierungskreisen akzeptabel erscheinen konnte. Am 13. April fand in Konstantinopel die konstituierende Sitzung des Verwaltungsrates der Bagdadbahngesellschaft statt. In dieses Gremium wurden u. a. folgende Franzosen aufgenommen: der Präsident der Ottomanbank Ad. Vernes, der Präsident der Dette Publique Ottomane — der türkischen Schuldenverwaltung — Léon Berger, Auboyneau, Graf Arnoux. Vernes wurde zum Vizepräsidenten der Gesellschaft mit Sitz in Paris gewählt. Präsident wurde Gwinner. 25 Berger weigerte sich jedoch, die offizielle Ernennung zu vollziehen, da durch die gleichzeitige Wahl Zanders zum Administrateur délégué, also zum Generaldirektor in Konstantinopel, die deutsche Präponderanz in der Verwaltung der Gesellschaft zu offen hervortrat. 26 Engländer nahmen an der Sitzung nicht teil. Aus Bergers Vorgehen wird man schließen dürfen, daß sich die Vertreter der BIO des Einverständnisses der französischen Regierung für die getroffene Reglung nicht vergewissert hatten. Balfours am 24. April im Unterhaus abgegebene entschiedene Erklärung, daß die Londoner Regierung den Bagdadbahnbau nicht unterstützen werde, versteifte die Haltung der Pariser Regierung. Solange mit der Beteiligung britischen Kapitals fest gerechnet wurde, besaß die Deutsche Bank in den Verhandlungen mit den Franzosen einen größeren Spielraum. Als sich die Engländer zurückzogen, vergrößerten sich automatisch die Forderungen Delcassés. Dadurch wurde die Position der BIO gegenüber der französischen Regierung erschwert. Das Argument der Ottomanbank, bei einer Nichtbeteiligung des fran24
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DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 125, Fußnote; Bericht Bompards, 12. 3. u. 25.4.1903, ebenda, Nr. 135, 199; Aufzeichnung Gwinners, 15. 6.1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881. Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates der Bagdadbahngesellschaft, 13. 4.1903, ebenda, 10 095. Telegramm Constans', 14. 4. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 180.
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zösischen Kapitals würden Deutsche und Engländer die Bagdadbahn allein bauen 27 , ließ sich nun nicht mehr verwenden. Die Vertreter der BIO rechneten vom Beginn der Verhandlungen mit der Deutschen Bank nicht darauf, im Bagdadbahnunternehmen die volle Parität zu erlangen. Dazu kannten sie sich in den Konstantinopler Verhältnissen zu gut aus. Der Widerstand der Türken machte eine derartige Lösung unmöglich. Allein die Tatsache, daß die Konzession f ü r die Bagdadbahn ausschließlich der Anatolischen Eisenbahngesellschaft erteilt worden war, lieferte dafür einen sehr eindeutigen Beweis. Die Vertreter der Ottomanbank legten auf die Gleichberechtigung in der Gesellschaftsleitung offensichtlich auch keinen übermäßigen Wert. Aus ihrer Korrespondenz mit der Deutschen Bank geht das ziemlich unmißverständlich hervor. Von den meisten französischen Staatsmännern und Diplomaten wurde diese Haltung der Bank jedoch nicht gebilligt. So nahm Bompard beispielsweise daran Anstoß, daß die BIO die Deutsche Bank in der Türkei als gleichberechtigten Partner akzeptierte. 28 Die Ottomanbank mußte daher in den nächsten Monaten eine Formel finden, die von ihr gegenüber der französischen Regierung als Erfolg ausgegeben werden konnte, sie mußte den Eindruck erwecken, daß sie in zähen Auseinandersetzungen mit der Deutschen Bank der Gleichberechtigung in der Bagdadbahngesellschaft nahegekommen sei. Es sei dahingestellt, ob Delcasse von der Ottomanbank über deren Absprachen mii der Deutschen Bank wirklich jahrelang getäuscht wurde. Von französischen Historikern ist das behauptet worden. 29 Bei Maurice Rouvier, dem französischen Finanzminister, der mit den Praktiken des Bankkapitals seines Landes als ehemaliger Direktor der Banque de Paris et des Pays Bas bestens vertraut war, ist es kaum anzunehmen. Viel wahrscheinlicher ist, daß die Rücksichtnahme auf die Interessen der vorhin genannten Bank seine positive Stellungnahme zur Beteiligung französischen Kapitals an der Bagdadbahn bewirkt hat. Die Bank war an den mit der Unifikation der türkischen Staatsschuld zusammenhängenden Finanzoperationen beteiligt. Auch Constans trat f ü r ein Zusammenwirken des deutschen und französischen Kapitals im Bagdadbahnunternehmen eifrig ein. Seine Haltung insgesamt zu beurteilen, bereitet einige Mühe. In der amtlichen Berichterstattung bestand der Botschafter konsequent auf der Parität. Er lieferte Delcasse weitgehend die Argumente, die der Minister gegen die Vereinbarungen der BIO mit der Deutschen Bank ins Feld führte. In Unterredungen mit deutschen Interessenvertretern in Konstantinopel suchte Constans hingegen, diese zu geringen, die wahre Machtverteilung in der Gesellschaft eher verschleiernden Konzessionen zu bewegen. Bei den Sachverwaltern der Deutschen Bank konnte dies nur den Eindruck hervorrufen, daß der Botschafter es mit der „Gleichberechtigung" nicht zu genau nahm. Constans galt als Gegner des russisch-französischen Bündnisses — Wilhelm II. bezeichnete ihn im Oktober 1901 als „anti-Allianzler und deutsch gesonnen" —30, was seine Haltung zu einem bestimmten Grade erklärt 21
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Teigramm an Bompard, 11. 2. 1903, ebenda, Nr. 76. Telegramm Bompards, 13. 2. 1903, ebenda, Nr. 79. Ragey, S. 47 f. Vgl. Auszüge aus Berichten Marschalls v. 25. 2. u. 4. 3.1903, in: GP 17, Nr. 5215, Anm.; Randbemerkung Wilhelms II., ebenda 18/1, Nr. 5459.
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und gelegentlich von ihm nicht geringe äquilibristische Künste erforderte. Die Politik Rußlands gegenüber der Türkei kritisierte er auf das schärfste. 31 Offensichtlich war Constans aber auch mit der Ottomanbank eng liiert. Diese führte bei der Aufzählung ihrer Verdienste um das Zustandekommen der Bagdadbahn die Haltung der französischen Botschaft in Konstantinopel auf ihren Einfluß zurück.32 Die Stellungnahme von Rouvier machte es Delcasse schwer, gegenüber der als „disziplinlos" bekannten Ottomanbank rigoros und mit Härte aufzutreten, wenn diese den Beweis zu führen vermochte, daß sie der Deutschen Bank Zugeständnisse abtrotzen konnte. Damit gewann auch das Feilschen der Vertreter des deutschen und französischen Bankkapitals um die Besetzung der leitenden Posten in der Bagdadbahngesellschaft während der nächsten Monate eine politische Bedeutung, die ihm, wäre die Haltung der französischen Regierungskreise einheitlich gewesen, nicht zugekommen wäre. Das Auswärtige Amt verhielt sich zu den an die Deutsche Bank herangetragenen Wünschen der Franzosen ablehnend. Der Staatssekretär, Oswald Frhr. v. Richthofen, legte Gwinner nahe, ohne Zustimmung der Wilhelmstraße den Franzosen keine neuen Konzessionen zu machen.33 Eine flexiblere Haltung legte Marschall an den Tag, ohne sich jedoch im Auswärtigen Amt durchsetzen zu können. Dort empfand man seine Vorschläge als „nicht ganz unbedenklich". 34 Der Botschaftsrat und zeitweilige Geschäftsträger in Konstantinopel, Frhr. v. Wangenheim, befürwortete einen härteren Kurs als Marschall. Ihm schien Gwinner zu nachgiebig zu sein. Wangenheims Empfehlungen liefen darauf hinaus, die Franzosen kommen zu lassen; die BIO würde, da die von der Deutschen Bank für den Abschnitt Konia-Eregli ausgehandelten Bedingungen glänzend seien, mitmachen wollen und schließlich auf die ihr gemachten Vorschläge eingehen.35 Nach einer Unterredung mit Constans empfahl Wangenheim zwar, in nebensächlichen Fragen den Franzosen Zugeständnisse zu machen, von der eigentlichen Leitung des Unternehmens sollten sie jedoch ausgeschlossen bleiben.36 Die Deutsche Bank suchte einen Mittelweg zu finden, da sie sich den französischen Geldmarkt offenhalten wollte. Sie unterließ es jedoch, fast könnte man sagen ängstlich, auf ihrem elastischeren Kurs gegenüber der Reichsleitung zu beharren. In Anbetracht des hohen Einsatzes, der auf dem Spiele stand, überrascht diese „Disziplin" bis zu einem gewissen Grade. Nicht immer waren deutsche Großbanken, ja selbst bedeutende Privatbanken, gegenüber der Reichsleitung so fügsam. Gwinner maß gewiß der Öffnung des französischen Geldmarktes für die Bagdadbahnanleihen des türkischen Staates hervorragende Bedeutung zu, die uneingeschränkte Unterstützung der Reichsleitung in den Verhandlungen in Konstantinopel hielt er jedoch noch für wichtiger. Vor ein 31
Constans an Loubet, o. D. (1903), in: DDF, Ser. 2, Bd. 4, Nr. 148. BIO an Deutsche Bank, 5. 11. 1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881. 33 Randbemerkung Rosens auf Telegramm Wangenheims v. 25. 4. 1903, in: GP 17, Nr. 5263. 34 Telegramm an Marschall, 29. 4. 1903, ebenda, Nr. 5265, Anm. 35 Telegramm Wangenheims, 25. 4. 1903, ebenda, Nr. 5263. 30 Telegramm Wangenheims, 28. 4. 1903, ebenda, Nr. 5264. M
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Entweder-Oder in dieser einleitenden Phase des Bagdadbahnunternehmens gestellt, zögerte die Deutsche Bank daher nicht, ihr Vorgehen mit den im Auswärtigen A m t vorherrschenden Auffassungen in Ubereinstimmung zu bringen. Das blieb nicht immer so. Der Verzicht der Engländer machte es erforderlich, auch die Verteilung des Kapitals und des reellen Einflusses in der zu gründenden Baugesellschaft neu zu regeln. Die in der Vereinbarung vom 18. F e b r u a r darüber getroffenen Festlegungen gingen davon aus, daß die Engländer sich beteiligen würden. Verhandlungspartner der Deutschen Bank in dieser Angelegenheit w a r die Pariser Régie générale des chemins de fer, die im engen Einvernehmen mit der BIO vorging. In diesen Verhandlungen beanspruchten die Franzosen viel nachdrücklicher, als sie es in der Bagdadbahngesellschaft taten, die tatsächliche Gleichberechtigung. Das ist verständlich: w a r doch bei einem Unternehmen wie der Bagdadbahn der Gewinn der B a u f i r m e n nicht geringer, wahrscheinlich sogar größer als der, den die Banken aus der Emission der Anleihen f ü r sich verbuchen konnten. F ü r den Abschnitt Konia-Eregli überließ die Régie générale zwar die Oberleitung der Bauarbeiten der mit der Deutschen Bank eng liierten F r a n k f u r t e r Firma Holzmann, sie verlangte aber, daß f ü r den nächsten Bauabschnitt die dieser Firma f ü r die Strecke Konia—Eregli zugebilligte Vorzugsstellung einem von ihr zu bestimmenden französischen Betrieb eingeräumt werde. Ihren Anteil am Kapital der Baugesellschaft wünschte die Régie générale von 10 auf 15 Prozent zu erhöhen, was von der Deutschen Bank akzeptiert wurde, der f ü r die BIO vorgesehene Anteil m u ß offensichtlich größer gewesen sein. Der Forderung der Franzosen, in der Leitung und Verwaltung der Baugesellschaft reelle Gleichberechtigung zu erlangen, wollte Gwinner jedoch nicht kampflos nachgeben. Die Vereinbarung vom 18. F e b r u a r sah vor, daß Holzm a n n und die zu benennende französische Baufirma je zwei Vertreter in das Direktionskomitee delegierten; zwei weitere Plätze waren f ü r einen Engländer und f ü r Zander, der die Interessen der Anatolischen Eisenbahngesellschaft w a h r nehmen sollte, vorgesehen. Ende April verlangte der Direktor der Régie générale, Biedermann, falls Zander auch weiterhin einen Platz im Direktionskomitee beanspruchen sollte, einen dritten Franzosen in dieses Gremium zu ernennen. Auch im Verwaltungsrat der Baugesellschaft wünschte die Régie générale, durch einen weiteren Vertrauensmann der BIO vertreten zu sein. 37 Aus d e n Randbemerkungen, mit denen Biedermanns Schreiben in der Deutschen Bank versehen wurde, ist zu erkennen, daß diese Forderungen der F r a n zosen den Widerspruch Gwinners hervorriefen. So lehnte er es ab, f ü r den zweiten Bauabschnitt der Bagdadbahn die Oberleitung der Bauarbeiten den Franzosen zu übertragen. Auch w a r Gwinner nicht bereit, einen dritten F r a n zosen in das Direktionskomitee zu b e r u f e n und der BIO einen weiteren Sitz im Verwaltungsrat der Gesellschaft zuzubilligen. Da eine Z u s a m m e n k u n f t der Vertreter der Ottomanbank und der Deutschen Bank jedoch erst f ü r J u n i vorgesehen war, erachtete er es nicht als opportun, die Auseinandersetzung fortzusetzen, da jede Ü b e r e i n k u n f t über die Baugesellschaft eine generelle Ver-
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Biedermann an Gwinner, 28. 4. 1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881.
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einbarung mit der BIO über das Bagdadbahnunternehmen zur Voraussetzung hatte. 3 8 Die neue Verhandlungsrunde, an der von den Franzosen Auboyneau u n d Pallain, von der deutschen G r u p p e Gwinner, der Direktor der Deutschen Bank Neef und Zander teilnahmen, f a n d am 13. und 14. J u n i in Berlin statt. Ehe die Vertreter der BIO die Reise antraten, suchten Hottinguer und Vernes das f r a n zösische Außenministerium auf. Georges Louis, der Direktor f ü r politische A n gelegenheiten, trug ihnen auf, in der Verwaltung und Leitung der Gesellschaft die vollständige Gleichberechtigung zu erlangen. 39 Im Auswärtigen Amt hegte m a n offensichtlich Befürchtungen, daß die Deutsche Bank den Franzosen zu weit entgegenkommen könnte. Richthofen erachtete es daher f ü r angebracht, Gwinner vor den Unterredungen mit den Vertretern der BIO noch einmal den S t a n d p u n k t des Auswärtigen Amtes darzulegen und ihn auf einen h a r t e n K u r s festzulegen. In der Unterredung spielte die Unifikation der türkischen Staatsschuld eine wesentliche Rolle. Ende Mai w u r d e das entsprechende P r o j e k t vom Sultan offiziell gebilligt, die A u s f ü h r u n g w a r einem von der BIO g e f ü h r t e n französischen Syndikat übertragen. Für die Unifikation sollen sich Marschall und selbst Wilhelm II. bei Abdul Hamid eifrig eingesetzt haben. Auch Constans empfahl dem Sultan, das Projekt anzunehmen. 4 0 Noch hatten aber die offiziellen Vertretungen der Besitzer türkischer Staatspapiere in den einzelnen Ländern, die sogenannten Syndikate, das Vorhaben nicht gebilligt. Fast zwei Drittel der alten türkischen Staatsschuld befanden sich im französischen Besitz. In der Wilhelmstraße n a h m m a n an, daß das von der französischen Regierung beeinflußte Pariser Syndikat seine Zustimmung bis zum Zustandekommen eines von der Regierung gebilligten Abkommens zwischen der Deutschen Bank und der BIO über die Bagdadbahn hinauszögern würde. Gwinner versprach dem Staatssekretär, die Herstellung eines J u n k t i m s zwischen Bagdad und Unifikation nicht zuzulassen. Richthofens Befürchtungen w a r e n nicht unbegründet, da Delcasse tatsächlich durch die Verkoppelung beider Angelegenheiten einen zusätzlichen Druck auf die Deutsche Bank und die Reichsleitung auszuüben bestrebt war. Auch Constans empfahl diese Vorgangsweise und suchte darüber hinaus Abdul Hamid zu veranlassen, bei der Deutschen Bank f ü r die Wünsche der Franzosen einzutreten. 4 1 Nach einer Aufzeichnung des damaligen Orientreferenten des Auswärtigen Amts und späteren Außenministers der Weimarer Republik, Friedrich Rosen, hätte Gwinner ausg e f ü h r t : „Sollte Frankreich auf weitere Zugeständnisse bestehen, so will die Deutsche Bank allein die Strecke Konia—Eregli bauen und die weitere Entwicklung der Bagdadbahn der Z u k u n f t überlassen." 4 2 Über die Unterredungen mit Auboyneau sandte Gwinner dem Auswärtigen Amt eine ausführliche Aufzeichnung zu. Danach hätte er eine Verkoppelung der Beteiligung der Franzosen an der Bagdadbahn mit der Unifikation strikt abge38
Gwinner an Biedermann, 1. u. 2. 5. 1903, ebenda. ^ Hottinguer u. Vernes an Delcass6, 24. 6. 1903, ebenda. 40 Bericht Constans', 4. 6. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 279. 41 Telegramm u. Bericht Constans', 21. 1., 4. u. 16. 6. 1903, ebenda, Nr. 35, 279, 302. Vi Aufzeichnung Rosens, 13. 6. 1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881.
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lehnt, da an deren Gelingen die BIO stärker als die Deutsche Bank interessiert wäre. Auch würden die Franzosen die Mitwirkung der letzteren bei den in Rom und Wien über die Unifikation geführten Verhandlungen laufend beanspruchen43, obwohl eine Verständigung über die Bagdadbahn noch nicht erzielt sei. Diesem Standpunkt soll Auboyneau volles Verständnis entgegengebracht haben. Gwinner ging in der Aufzeichnung ferner auf die von der Deutschen Bank bei den weiteren Verhandlungen mit den Franzosen zu befolgende Taktik ein. Da diese Ausführungen ungeachtet gewisser noch zu machender Einschränkungen ihre Ziele in einer selten anzutreffenden Offenheit darlegen, erscheint es gerechtfertigt, größere Auszüge daraus wörtlich anzuführen. „Bezüglich der französischen Beteiligung bei Bagdadbahn", führte Gwinner aus, „habe ich Seiner Exzellenz dem Herrn Staatssekretär am 13. Juni gesagt, daß wir zunächst unsere Bereitwilligkeit erklären, den Vertrag vom 18. Februar 1903 auszuführen. Da der englische Zwischenfall und die Ansprüche des Herrn Delcassé den Parisern gestatten, diesen Vertrag auch ihrerseits einfach durchzuführen, so wolle die Deutsche Bank eine Verständigung mit den Franzosen versuchen, ohne die Majorität und die Herrschaft über das Geschäft aus der Hand zu geben. Nach außen hin also solle jedes mögliche Entgegenkommen innerhalb dieser Grenzen gezeigt werden, um den Parisern die Beteiligung an dem Geschäft nicht unmöglich zu machen. Hiermit war der Herr Staatssekretär einverstanden. Nach dem am 13./14. ds. mit Auboyneau formulierten unverbindlichen Protokoll behalten die Franzosen nicht mehr als die 40 % Beteiligung, welche sie von Anfang an in dem Geschäft gehabt haben. Durch die Hinzurechnung der Anatolischen Quote zu der deutschen wird eine scheinbare Parität zwischen Frankreich und Deutschland hergestellt, während die restlichen 20 % an österreichische, italienische, schweizerische und türkische Freunde der Deutschen Bank aufgeteilt werden, wie immer beabsichtigt gewesen ist. Tatsächlich haben die Franzosen also nur gemäß dem Vertrage vom 18. Februar die 10% zurückbehalten, welche sie zu der englischen Quote hätten beitragen sollen. Die Geschäftsführung liegt in den Händen des Präsidenten in Berlin (Gwinner) und des Administrateur délégué in Konstantinopel (Zander). Das sechsgliedrige Direktionskomitee, in welchem die Franzosen drei Sitze haben, ist nur eine Kulisse; nämlich nur eine anhörende und beratende Instanz. Differenzen würden vom Verwaltungsrat entschieden, in welchem die Deutsche Bank mit ihren Verbündeten wiederum die Majorität hat. Während nach der Abmachung vom 18. Februar die vereinigten Engländer und Franzosen im Verwaltungsrat 17 Stimmen von 33, also eine Majorität gehabt hatten, würde nach dem jetzigen Vorschlage die deutsche Gruppe tatsächlich die Majorität besitzen. Würde dies ausdrücklich ausgesprochen oder klar erscheinen, so wäre natürlich die Verständigung mit den Franzosen unmöglich. Sofern eine Verständigung zustandekommt, was nach den Auslassungen des Herrn Witte beinahe unmöglich erscheint, so wäre vielleicht an die Stelle des sechsgliedrigen Direktionskomitees unter Wegfall desselben die Einsetzung 43
Vgl. Gwinner, Lebenserinnerungen, S. 83.
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eines französischen délégué général zu diskutieren, welcher aber, weil unter dem Administrateur délégué stehend, so wenig wirkliche Macht bedeuten würde, wie der französische Vizepräsident gegenüber dem deutschen Präsidenten. Auch diese Situation würde jedoch in schonendste Formen einzukleiden sein."44 Die hier von Gwinner skizzierte Vorgangsweise befolgte die Deutsche Bank in den nächsten Monaten konsequent. Schließt diese Feststellung jedoch von vornherein die Möglichkeit aus, daß sich die Deutsche Bank gegenüber der Reichsleitung gleicher oder ähnlicher Methoden bediente, wie sie die BIO im Verkehr mit dem französischen Außenministerium bevorzugte? Oder anders ausgedrückt: Enthielten die Bestimmungen der Vereinbarungen mit der Ottomanbank nicht auch Festlegungen, von denen erwartet werden konnte, daß sie, im Klartext abgefaßt, den Widerspruch des Auswärtigen Amts hervorrufen mußten? Informierte beispielsweise die Deutsche Bank nach dem Abkommen vom 18. Februar die Reichsleitung davon, daß Franzosen und Engländer im Verwaltungsrat der Bagdadbahngesellschaft die Majorität erhalten sollten? Eine Beantwortung dieser Fragen ist ohne Kenntnis der einschlägigen Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts nicht möglich. Aus den in der „Großen Politik" veröffentlichten Dokumenten geht nicht einmal hervor, daß die Wilhelmstraße von den im Februar 1903 zwischen der Deutschen Bank und der Ottomanbank getroffenen Vereinbarungen Kenntnis erhielt. Auch die Berichterstattung Wangenheims von Ende April vermittelt den Eindruck, daß die deutsche Botschaft in Konstantinopel zu diesem Zeitpunkt die Abkommen nicht kannte.45 Dem französischen Außenministerium wurden die mit der Deutschen Bank getroffenen Vereinbarungen von der BIO fast umgehend zugestellt. Allerdings teilte die Ottomanbank Delcassé nicht alles mit. So erfuhr der Minister von den von der BIO am 18. Februar gegenüber der Deutschen Bank eingegangenen finanziellen Verpflichtungen, die einen wesentlichen Teil der Vereinbarung bildeten, erst Monate später.46 Man wird das Fehlen von Hinweisen in der „Großen Politik" nicht überbewerten dürfen. Auch ist nicht zu verkennen, daß die Deutsche Bank der prinzipiellen Zustimmung des Auswärtigen Amts für ein Zusammengehen mit den Franzosen sicher sein konnte. Die BIO befand sich gegenüber der französischen Regierung in einer schwierigeren Lage. Die sofortige Übermittlung von Teilen der mit der Deutschen Bank geschlossenen Abkommen an das französische Außenministerium sollte Delcassé davon überzeugen, daß dem französischen Bankkapital die Parität eingeräumt sei, daß die BIO von der Deutschen Bank erhebliche Zugeständnisse erringen konnte. Dies alles eingeräumt und selbst bei der Annahme, wofür ja auch wohl die größere Wahrscheinlichkeit spricht, daß die Bankvereinbarungen dem Auswärtigen Amt zumindest in den Grundzügen bekannt waren — die aufgeworfenen Fragen sind damit nicht beantwortet. Der französische Botschafter in Petersburg Bompard, der, wie seine Berichterstattung zeigt, die Transaktionen der internationalen Finanzkonsortien aufmerksam verfolgte und sich auf diesem
44 45 40
Aufzeichnung Gwinners, 15. 6. 1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881. Vgl. etwa Telegramm Wangenheims, 28. 4. 1903, in: GP 17, Nr. 5264. Delcasse an Rouvier, 13. 7. 1903, in: DDF, Ser. 2, Bd. 3, Nr. 347.
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Gebiet recht gut auskannte 47 , wußte mit den Vereinbarungen nicht viel anzufangen. Der Sinn vieler Bestimmungen blieb ihm unklar. Fand sich der zuständige Referent im Auswärtigen Amt Rosen, fand sich Richthofen, ja selbst der mit den Berliner Finanzgrößen im engen Kontakt stehende Unterstaatssekretär Otto v. Mühlberg in den zwischen beiden Banken geschlossenen Abkommen besser zurecht? Man wird es bezweifeln dürfen. Nun wies Gwinner in der angeführten Aufzeichnung ja darauf hin, daß die Vereinbarungen bewußt unklar abgefaßt wurden: Die französische Regierung sollte dadurch getäuscht werden. Daß die Formulierungen mancher Bestimmungen in erster Linie diesen Zweck verfolgten, ist unbestritten. Die Unbestimmtheit konnte es aber auch Gwinner erleichtern, seine von Vertretern des Auswärtigen Amts hervorgehobene „Nachgiebigkeit" zu maskieren. Die Gefügigkeit der Deutschen Bank gegenüber Wünschen des Auswärtigen Amts in türkischen Eisenbahnangelegenheiten war in der Vergangenheit nicht unbegrenzt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Bank zuweilen ihr Vorgehen selbst in Dingen, denen große politische Bedeutung zukam, mit der Wilhelmstraße nicht abstimmte, ja Schritte unternahm, die deren Mißfallen erregen mußten. Das markanteste Beispiel hierfür liefert der im Herbst 1896 gefaßte Entschluß der Deutschen Bank, ihren gesamten türkischen Eisenbahnbesitz Rußland zum Kauf anzubieten. Daß Georg v. Siemens einen derartigen Vorschlag Vitte durch Direktor Rapp, den Leiter der Londoner Filiale der Deutschen Bank, unterbreiten ließ, ist seit der Veröffentlichung von Arthur Gwinners Erinnerungen im Jahre 1975 bekannt. 48 Da dieser jedoch das Anerbieten der Deutschen Bank falsch datierte und auch in der Sache ungenau berichtete — er sprach nur von der Überlassung der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft —, erscheint es gerechtfertigt, auf die Angelegenheit kurz einzugehen. Rapp war besonders geeignet, als Vermittler zu wirken. Die Londoner Filiale der Deutschen Bank war 1896 vom zaristischen Finanzministerium beauftragt, für 2 V2 Pfund Sterling Silber zu kaufen. Diese Transaktionen veranlaßten Rapp wiederholt, nach Petersburg zu reisen, wo er in der Regel von Vitte empfangen wurde. Das Verkaufsangebot unterbreitete er dem Finanzminister am 22. November 1896. Es umfaßte die Anteile der Deutschen Bank an der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, den Orientalischen Bahnen und der Linie Saloniki— Monastir.49 In dem hier interessierenden Zusammenhang sollen nicht die Motive 47
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Vgl. etwa seinen Bericht v. 23. 5. 1903, ebenda, Nr. 260. Bompards Wirtschaftskenntnisse hob auch der deutsche Botschafter in Petersburg Frhr. v. Schoen (Erlebtes, Stuttgart 1921, S. 50) hervor. Gwinner, Lebenserinnerungen, S. 61. Rapp an Deutsche Bank, 22.11.1896: Wurde von Vitte liebenswürdig empfangen „und ging ich sofort auf das Orientthema ein. Setzte ihm auseinander, daß wir einer Gruppe nahestehen, teilweise selbst interessiert sind, welche den größten Teil der türkischen Eisenbahnen kontrolliert. Die Transaktion, welche ich mir gestatte, ihm zu unterbreiten, ist nicht nur finanzieller Natur, sondern scheint uns auch politisch von hoher Bedeutung. Ich könne sie nur vergleichen mit der von den Engländern im Jahre 1875 gemachten, als diese vom Khedive für 4 Millionen Pfund Sterling Aktien der Suezkanalgesellschaft erwarben. Wir glauben, in der Lage zu sein, ihm auf Wunsch, wenn nicht die Totalität so doch Majorität der Aktien der 3 Eisenbahngesellschaften beschaffen zu können . . . Mein Vortrag wurde da durch
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erörtert werden, die die Deutsche Bank zur Unterbreitung ihres Vorschlages bewogen bzw. Vitte ihn abzulehnen veranlaßten. Wichtig ist allein, daß die Deutsche Bank ihren gesamten Eisenbahnbesitz in der europäischen und in der asiatischen Türkei an Rußland zu veräußern bereit war. Es bedarf keiner näheren Erläuterungen, daß die Reichsleitung diesen Schritt der Deutschen Bank nicht gebilligt haben konnte. Die Deutsche Bank, die sich um eine grundsätzliche Verbesserung ihrer Beziehungen zur zaristischen Regierung bemühte, setzte sich jedoch 1896 darüber einfach hinweg, weil ihr das Wohlwollen Vittes und damit der zaristischen Regierung, auf lange Sicht gesehen, größere Profite als die Verfolgung ihrer Pläne im Nahen Osten in Aussicht zu stellen schien. Ein weiteres Beispiel für eigenmächtiges Vorgehen der Deutschen Bank in der Bagdadfrage ließe sich aus dem Sommer 1901 anführen, als Siemens einer finanziellen Beteiligung Rußlands an der Bagdadbahn zustimmte und mit der französischen Gruppe entsprechende Vereinbarungen einging, ohne sich des Einvernehmens des Auswärtigen Amts zu vergewissern.50 Kehren wir zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück: Der weitere Verlauf der Verhandlungen der Deutschen Bank mit der BIO beweist eindeutig, daß Gwinner die in seiner Aufzeichnung vom 15. Juni 1903 entwickelten Richtlinien zu verwirklichen suchte. Derartige Eigenmächtigkeiten, wie sie sich Siemens 1896 und 1901 gegenüber dem Auswärtigen Amt herausnahm, beging Gwinner in den folgenden Monaten nicht. Seine Darlegungen sollten jedoch nicht allzu wörtlich genommen werden, einen gewissen Spielraum, der offensichtlich größer war, als ihn die Reichsleitung der Deutschen Bank zuzugestehen bereit war, bemühte er sich zu bewahren. Richthofen und Gwinner erörterten am 13. Juni 1903 noch einen weiteren die Verflechtung von Politik und Ökonomie beleuchtenden Punkt. Die Pforte stellte für die finanzielle Absicherung des Streckenbaus Konia—Eregli u. a. die Zehnten des Wilajets Konia zur Verfügung, die bereits für die von der Türkei an Rußland nach dem Kriege von 1877/78 zu zahlende Kriegsentschädigung verpfändet waren. 51 Obwohl Rußlands Prioritätsrecht an diesen Einnahmen gewahrt blieb, setzte die zaristische Regierung es dann schließlich auch durch, daß diese Zehnten durch die anderer Wilajets ersetzt werden mußten. In der Unterredung am 13. Juni kamen der Staatssekretär und Gwinner jedoch überein, Rußland zu veranlassen, auf dieser Forderung nicht zu bestehen. Die zaristische Regierung wollte man dazu aber erst bewegen, wenn sie sich in Deutschland um die Unterbringung einer weiteren Anleihe bemühen würde.52 Deren Zulassung sollte dann davon abhängig gemacht werden, daß sich Rußland mit der Überweisung der Zehnten aus dem Wilajet Konia an die Bagdad-
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die Frage que proposez vous? unterbrochen, worauf ich antwortete, ob er die Aktien dieser Gesellschaft kaufen wolle, wodurch er maitre de la Situation würde und ob ihn die Angelegenheit interessiert? Nach einem Moment der Überlegung sagte er mir lakonisch: Non, cela ne m'interesse pas", ZStAP, Deutsche Bank 23 056. — Das Schreiben trägt Namenszeichen von Siemens und Gwinner. Aufzeichnung Richthofens, 3. 7. 1901, in: GP 17, Nr. 5232. Telegramm Wangenheims, 21. 5. 1903, ebenda, Nr. 5267. Über die Unterbringung russischer Anleihen in Deutschland zu Beginn des 20. Jh. siehe Vogel, Barbara, Deutsche Rußlandpolitik. Das Scheitern der deutschen Weltpolitik unter Bülow 1900-1906, Düsseldorf 1973, S. 73 ff.
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bahngesellschaft abfinde. Nach Rosens Aufzeichnung hätte Gwinner einen derartigen Vorschlag unterbreitet, während der Bankdirektor in seiner Stellungnahme Richthofen diesen Gedanken äußern ließ. Wie dem auch sei, in Anbetracht des jahrelangen Kampfes, den die Deutsche Bank gegen die Emission russischer Werte durch das Berliner Russenkonsortium führte, in erster Linie gegen das Bankhaus Mendelssohn, kam ein derartiger Vorschlag zweifellos den Wünschen Gwinners entgegen. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg suchte das Auswärtige Amt, die Zulassung russischer Anleihen von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig zu machen.63 Gwinner war bemüht, wie seine Aufzeichnung vom 15. Juni beweist, das Auswärtige Amt davon zu überzeugen, daß die Berliner Verhandlungen mit einem vollen Erfolg der Deutschen Bank geendet hätten. Die Ottomanbank behauptete ihrerseits, von der Deutschen Bank bedeutende Konzessionen erlangt zu haben.54 Wie seit Jahren dienten ihr derartige Feststellungen dazu, den wahren Sachverhalt zu verschleiern. Vernes und Hottinguer hoben allerdings auch gegenüber Auboyneau, also in Äußerungen, die nicht für die französische Regierung bestimmt waren, den von Gwinner bei den Berliner Verhandlungen gezeigten „esprit de conciliation" anerkennend hervor. Offensichtlich war damit in erster Linie die Bereitschaft der Deutschen Bank gemeint, der BIO wieder die 40prozentige Kapitalbeteiligung einzuräumen. Das Ergebnis der Berliner Beratungen wurde in einem Memorandum fixiert, das Auboyneau bereits am 15. Juni Georges Louis übergab. Dieser erfaßte sofort, daß die Bestimmung, die beiden Banken vorschrieb, von ihrem 50prozentigen Kapitalanteil je 10 Prozent anderen Finanzgruppen abzutreten, nur dazu dienen sollte, den Majoritätsanspruch der Deutschen Bank zu verschleiern. Er empfahl daher, einen Zusatz aufzunehmen, wonach der BIO bei der Verteilung der 20 Prozent die gleichen Rechte wie der Deutschen Bank einzuräumen seien. Für das mehr als zweideutige Verhalten der BIO in den Verhandlungen mit der französischen Regierung ist nun kennzeichnend, daß Auboyneau Gwinner ersuchte, die von Louis vorgeschlagene Formulierung zu akzeptieren, gleichzeitig jedoch versicherte, die Ottomanbank werde dieses Recht nicht beanspruchen. Ernste Bedenken meldete Louis auch dagegen an, daß der „Administrateur délégué" in Konstantinopel Zander sein sollte. Da Gwinner Präsident war, fielen die beiden leitenden Posten in der Gesellschaft damit Deutschland zu. Erst als ihm Auboyneau erklärte, die Deutsche Bank werde in dieser Frage nicht zurückweichen, schien sich Louis mit der getroffenen Lösung abzufinden. Er bestand aber darauf, daß der Generalsekretär der Gesellschaft in Konstantinopel, den er sich offensichtlich als Stellvertreter Zanders dachte, ein Franzose sein müßte. Auboyneau bat Gwinner, auch in diesem Punkt nachzugeben. Er erklärte sich jedoch einverstanden, die Befugnisse des Generalsekretärs eng zu begrenzen und ihm keine selbständige Stellung zuzuweisen.55 63
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Lemke, Heinz, Politik und Ökonomie in den deutsch-russischen Beziehungen vor dem ersten Weltkrieg: Bestrebungen, Rußland den deutschen Geldmarkt zu sperren, in: Neue Studien zum Imperialismus vor 1914, hrsg. von Fritz Klein, Berlin 1980, S. 51 ff. Hottinguer u. Vernes an Delcassé, 24. 6.1903, ZStAP, Deutsche Bank 9881. Auboyneau an Gwinner, 16. 6.1903 : „Etant donné que nous sommes parfaitement d'accord sur la répartition des 20% [des Gesellschaftskapitals] qui restera telle
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Wie in der Frage der Kapitalverteilung suchte die BIO also auch hierbei die Deutsche Bank zu überzeugen, daß es sich um eine Scheinkonzession handle, mit der die Zustimmung der französischen Regierung erlangt werden sollte. Viel entschiedener bestand hingegen Auboyneau darauf, einen dritten Franzosen zum Direktor der Baugesellschaft zu ernennen, worüber in Berlin nicht gesprochen worden war. So schien zunächst die Vereinbarung vom 14. Juni in Pariser Regierungskreisen positiv aufgenommen worden zu sein. Die Deutsche Bank lehnte die neuen Forderungen der BIO strikt ab. Gaben ihre eigenen Interessen bzw. taktische Erwägungen dafür den Ausschlag, oder wurde Gwinner tatsächlich, wie er behauptete, von der Reichsleitung unter Druck gesetzt? Das dieser Studie zugrunde liegende Material gestattet es nicht, diese Frage mit einem eindeutigen Ja oder Nein zu beantworten. Vor allem wissen wir nicht, wie in der Wilhelmstraße die Vereinbarung vom 14. Juni wirklich beurteilt wurde. Wie Auboyneau die zusätzlichen Wünsche der BIO mit der Haltung der französischen Regierung begründete, so motivierte jetzt auch Gwinner seine ablehnende Antwort gegenüber der Ottomanbank mit der Stellungnahme des Reichskanzlers, der nicht nur den neuen Forderungen der BIO, sondern auch der Vereinbarung vom 14. Juni die Genehmigung versagt habe. Ohne Zweifel hatte die BIO echte und größte Schwierigkeiten, die Zustimmung der französischen Regierung zu den Vereinbarungen mit der Deutschen Bank zu erlangen. Bei der von Gwinner behaupteten Ablehnung der Vereinbarung vom 14. Juni durch die Reichsleitung ist der Sachverhalt nicht so klar. Den Widerspruch der Wilhelmstraße hätten nach Gwinner vor allem die Bestimmungen über die Kapitalverteilung hervorgerufen 56 , d. h. in erster Linie der Umstand, daß die für die Anatolische Eisenbahngesellschaft vorgesehenen 10 Prozent der deutschen Gruppe zugeschlagen wurden, während man sie bis dahin dem deutschen Anteil nicht zurechnete. Gwinner suchte durch die Hervorhebung des Widerstandes der Reichsleitung gegen die Forderungen der Ottomanbank die Position der Deutschen Bank in
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qu'elle a été fixée entre nous, vous ne verrez certainement pas d'inconvénient à ce nouveau groupement . . . [Generalsekretär :] Je ne puis que vous répéter ici ce que je vous ai dit longuement dans votre jardin dimanche matin, c'est qu'il y a là une concession indispensable à nous faire pour donner satisfaction à notre Gouvernement. Je dois vous redire ici qu'il ne faut pas que M. Zander s'exagère la portée de cette nomination qui, en somme, n'enlèvera rien de son influence et de son initiative. Il aura somme toute un haut fonctionnaire sous ses ordres et voilà tout", ebenda. Gwinner an Auboyneau, 25.6. 1903: „Notre Gouvernement est loin d'accepter une situation d'après laquelle les deux groupes s'étant de nouveau arrangés sur la base de nouvelles demandes du vôtre, n'attendraient que la sanction suprême du Quai d'Orsay. Au contraire, les formules que nous avons établies ici le 14 courant n'ont pas été approuvées et lorsque j'ai dû signaler les nouvelles demandes que me transmettait votre lettre du 16 courant et qui paraissaient ne pas être les dernières, j'ai rencontré un refus formel . . . L a Wilhelmstraße se heurté à voir établi que la participation du Groupe Français soit de 40% et celle du Groupe Allemand de 30%", ebenda; Gwinner an Auboyneau, 4. 7.1903 : „De notre côté nous n'avons pu obtenir la ratification du programme de 14 juin, M. de Bülow refusant son consentement" , ebenda.
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den Verhandlungen mit den Franzosen zu verbessern. Dies schließt jedoch nicht aus, daß ihm in der Wilhelmstraße tatsächlich Schwierigkeiten gemacht w u r den. Vor allem d ü r f t e es sich dabei u m die Wünsche gehandelt haben, die von der BIO nach der Berliner Z u s a m m e n k u n f t angemeldet worden waren. In der Frage der Kapitalbeteiligung lief Louis' Vorschlag darauf hinaus, den Paritätsanspruch der Franzosen vertraglich fest zu verankern. Die Zusage der BIO, dieses Recht, falls man es ihr zugestand, nicht wahrzunehmen, wird in der Wilhelmstraße als mehr oder minder unverbindlich, die formelle Gleichberechtigung als Gefährdung der deutschen „Präponderanz" betrachtet worden sein. Auch die Ernennung eines Franzosen zum Generalsekretär der Bagdadbahngesellschaft konnte Bedenken hervorrufen. Hierbei k a m alles darauf an, mit welchen Befugnissen der Posten ausgestattet werden würde. Von einer Bedrohung des deutschen Führungsanspruchs konnte in diesem Zusammenhang schlecht gesprochen werden: den Franzosen Einblick in die mit dem Bagdadb a h n u n t e r n e h m e n verfolgten Ziele des deutschen Imperialismus zu gewähren, wollte m a n jedoch vermeiden. Die Wahl eines Franzosen zum Stellvertreter Zanders, der „fortdauernd in die Geschäfte eingeweiht bleiben" müßte, erschien beispielsweise Wangenheim als „sehr unangenehm". 5 7 Auboyneau suchte gegenüber der Deutschen Bank und diese gegenüber dem Auswärtigen A m t dem Posten des Generalsekretärs größere Bedeutung abzusprechen. Ob sich aber Gwinner in dieser und in den anderen Fragen mit seiner Argumentation in der Wilhelmstraße durchgesetzt hat, bleibt fraglich. Darauf weist vor allem der Umstand hin, daß die Deutsche Bank mit ihren der BIO Ende J u n i unterbreiteten neuen Vorschlägen deutlich von der Vereinbarung vom 14. Juni abrückte. In der Kapitalverteilung blieb der Anspruch der Franzosen auf Gleichberechtigung zwar nominell gewahrt, tatsächlich wurden ihnen jedoch n u r 30 Prozent zugestanden, da sie von ihrem Anteil fünf Prozent a n die Anatolische Eisenbahngesellschaft, fünf Prozent an den Wiener Bankverein und zehn Prozent an die Genfer Union Financière abgeben sollten. Scheinbar beanspruchte die Deutsche Bank gleichfalls n u r 30 Prozent, da die Anatolische Eisenbahngesellschaft jedoch zehn Prozent erhalten sollte und die restlichen 30 Prozent weitgehend den „Freunden" der Berliner Großbank überlassen blieben, w a r der BIO deutlich die Rolle des J u n i o r p a r t n e r s zugewiesen. Gwinner erklärte sich mit einem Franzosen als Generalsekretär der Gesellschaft einverstanden. Da dieser jedoch nicht Zander vertreten sollte, sondern Gwinner sich als Präsident der Bagdadbahngesellschaft die Ernennung des zeitweiligen Stellvertreters des Administrateur délégué vorbehielt, handelte es sich weniger u m ein Zugeständnis als u m eine Geste. Auch im Verwaltungsrat der Bagdadbahngesellschaft sicherte sich die Deutsche Bank eindeutig die Majorität. Von den 26 Sitzen sollten d e r BIO u n d der Deutschen Bank je sieben überlassen werden, drei waren f ü r die Anatolische Eisenbahngesellschaft vorgesehen, die restlichen sollten im beiderseitigen Einvernehmen von der BIO und der Deutschen Bank an die anderen Teilhaber vergeben werden. Nur bei der Zuweisung der Direktorenposten der Baugesellschaft zeigte sich Gwinner kompromißbereit e r : Er bestand nicht mehr auf der Ernennung Zanders, sondern wollte neben
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Telegramm Wangenheims, 25. 4.1903, in: GP 17, Nr. 5263.
Beteiligung Frankreichs am Bagdadbahnunternehmen
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zwei Deutschen und zwei Franzosen als fünften Direktor einen Schweizer akzeptieren. 58 Als Ganzes betrachtet, bedeuteten die neuen Vorschläge der Deutschen Bank eine Zurücknahme mancher der BIO in Berlin eingeräumten Zugeständnisse. Diese Schwenkung auf einen Machtanspruch der Reichsleitung zurückzuführen, wie es auch Gwinner tat, scheint am plausibelsten zu sein. In der Ottomanbank wurde allerdings das Abrücken der Deutschen Bank von der Vereinbarung vom 14. Juni nicht als endgültig betrachtet. Sie hielt es für erreichbar, die in Berlin getroffenen Festlegungen wieder in Kraft treten zu lassen.59 Anfang Juli fragte die Deutsche Bank offiziell bei der BIO an, ob diese das Abkommen vom 18. Februar verwirklichen wolle. In einem Begleitschreiben begründete Gwinner die Preisgabe des Vorhabens, die Franzosen in einem stärkeren Ausmaß, als es die Vereinbarung vom 18. Februar vorsah, an der Bagdadbahngesellschaft zu beteiligen, wiederum mit der Ablehnung der französischen und der deutschen Regierung, der Vereinbarung vom 14. Juni zuzustimmen. 60 Zu diesem Zeitpunkt war Gwinner noch nicht darüber informiert, daß man im französischen Außenministerium beschlossen hatte, der Ottomanbank die Beteiligung am Bagdadbahnunternehmen völlig zu untersagen. Bereits Ende Juni 1903 erklärte Louis in einer Unterredung einem Vertreter der BIO, die Regierung wünsche aus politischen Gründen, daß die Ottomanbank sich gänzlich aus dem Bagdad'bahngeschäft zurückziehe. Dem Außenministerium deshalb offenen Widerstand entgegenzusetzen, erachtete die Ottomanbank nicht für möglich. Sie war aber auch nicht bereit, sich dem Wunsche Delcasses widerspruchslos zu fügen. Der Ausweg, auf den die Direktoren der BIO verfielen, kam in manchem den zuletzt geäußerten Wünschen Gwinners entgegen. Hottinguer und Vernes fanden sich bereit, auf die Vereinbarung vom 14. Juni zu verzichten und die Vertreter der Bank aus dem Verwaltungsrat sowie der Direktion der Bagdadbahngesellschaft zurückzuziehen. Die finanziellen Verpflichtungen, die sie in dem Abkommen vom 18. Februar gegenüber der Deutschen Bank eingegangen seien — und von denen das französische Außenministerium bis dahin keine Kenntnis hatte 61 —, könnten sie aber, wie sie erklärten, nicht außer Kraft setzen; im Verwaltungsrat der Gesellschaft würden sie sich durch Nichtfranzosen vertreten lassen. Kritisch vermerkten sie, daß die Entscheidung der Regierung das Bagdadbahnunternehmen fast vollständig den Deutschen ausliefere, was wahrscheinlich den Einfluß Frankreichs im Orient verringern werde.62 Anfang Juli wurde Gwinner von dieser Sachlage durch Auboyneau verständigt. 63 Der Entschluß der Ottomanbank veränderte die Lage grundlegend. Von einer „Gleichberechtigung" der Franzosen in der Bagdadbahngesellschaft konnte nun nicht mehr die Rede sein. 08 5 Ilsemann, Bd. 2, S. 212. v ' Cutsche/Petzold, S. 917 ff. Streng vertrauliche Niederschrift von einer Geheimbesprechung des Parteivorsitzenden der DNVP, Oskar Hergt, und des führenden DNVP-Politikers, Karl Helfferich, mit dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern am 1.9.1920, ZStAP, 60 Vo 2 DNVP, 8, Bl. 41 f. /,u Aufzeichnungen von Andreas Gildemeister (DNVP), 30.9.1920: „Politische Eindrücke bei meinem letzten Aufenthalt in Bayern", ebenda, 4, Bl. 85.
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Wenige Wochen später nahm Rupprecht diesen Gedanken allerdings wieder zurück. Mit der Restauration der Monarchie in Bayern hätte er sich nur einverstanden erklärt, „wenn dadurch das Land vom Bolschewismus befreit worden wäre". Da er die „Gefahr des Bolschewismus" f ü r beseitigt halte, wolle er mit der Monarchie warten, bis ganz Deutschland f ü r sie reif sei; es dürfe nichts überstürzt werden. In einigen Teilen des Landes habe es in dieser Richtung schon Fortschritte gegeben. Es müßten sich Zentren bilden, „die allmählich die unsicheren Teile, zu denen hauptsächlich die Großstädte gehören, isolieren und später schlucken"/*7 Offensichtlich mit Bezug auf die soziale Zusammensetzung eines wesentlichen Teiles der Monarchisten in Bayern fügte er hinzu, der „Wiederaufbau Deutschlands" könne „nur durch die Landbevölkerung und das Kleinbürgertum kommen". 48 Kronprinz Rupprecht verwies auch auf den außenpolitischen Aspekt, der vor allem in den Nachkriegs jähren bei allen konkreten monarchistischen Restaurationsplanungen immer eine Rolle gespielt hat. Er wüßte, daß die Entente gegen eine Bayerische Monarchie und wohl auch gegen die übrigen deutschen Monarchien nichts einzuwenden hätte, aber nur mit einem „verkleinerten Preußen" und ohne Hohenzollern. Kaiser und Kronprinz Wilhelm seien „ganz ausgeschlossen". Eine Regentenschaft unter der Kronprinzessin Cecilie, mit der er im Sommer 1920 alle diese Fragen besprochen habe, sei „auch schwierig". 49 Es zeigt sich hier deutlich die immer wieder zu beobachtende Verquickung unterschiedlicher taktischer Überlegungen und abweichender dynastischer bzw. partikularistischer Interessen in der monarchischen Frage. Andere Vorstellungen von der Wiederkehr der Monarchie in Deutschland waren noch verschwommener und wohl auch von vornherein mehr politische Bekenntnisse als reale Programmpunkte. Die Monarchisten in der Deutschen Volkspartei huldigten einem „durch freien Entschluß des Volkes auf gesetzmäßigem Wege aufzurichtenden Kaisertum" 50 , einem „Volkskaisertum", das im Wahlkampf 1924 von bürgerlich-demokratischer Seite zu Recht als ein f ü r die Massen bestimmtes „Schlagwort übelster Art" bezeichnet wurde, dessen Inhalt selbst manche führende Männer der Partei nicht deuten könnten. 51 Von gleicher Seite war der Monarchismus der DVP schon im Zusammenhang mit der Programmdiskussion auf dem Parteitag im Oktober 1919 beleuchtet worden. Dieser Monarchismus sei „temperiert": nicht das alte Gottesgnadentum, sondern eine anscheinend „parlamentarische Monarchie" solle aufgerichtet werden. Er sei auch „kontingentiert": nicht alle deutschen Monarchien, sondern lediglich eine solle wiedererstehen. Und schließlich sei er edn „anonymer Monarchismus", da der Thronprätendent fehle. 52 Tatsächlich fehlte er. Für Wilhelm Kahl, der die monarchistischen Programmpunkte vor dem DVP-Parteitag 47 48 49 50 51
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Ilsemann, Bd. 1, S. 163. Ebenda, S. 165. Ebenda. S. 163. Die bürgerlichen Parteien, Bd. 1, S. 654. Vossische Zeitung, Nr. 312, 3. 7. 1924, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 9114, S. 25 f. Ernst Feder in einem Artikel „Republik oder Monarchie" im Berliner Tageblatt, Nr. 504, 24. 10. 1919, ebenda.
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begründete, war der Monarchismus eine Frage der Institution, nicht der Dynastien oder Personen; eine Rückkehr Wilhelms II. hielt er f ü r unmöglich. 53 Und der Parteivorsitzende Gustav Stresemann huldigte zwar der HohenzollernDynastie, war aber auch gegen die Rückkehr des Kaisers, und trotz seiner persönlichen Bemühungen um den 1918 nach Holland geflohenen Kronprinzen konnte er in diesem einen Thronprätendenten allenfalls auf lange Sicht sehen, ziumal in seiner eigenen Partei kein Geringerer als der mächtige Großindustrielle Hugo Stinnes dem Kronprinzen „ausgesprochen ablehnend" gegenüberstand. 54 Von Interesse sind schließlich noch die Vorstellungen der Nazis bzw. Deutschvölkischen von Monarchie und Monarchismus. K a u f m a n n hat darauf hingewiesen, daß die ursprüngliche Mitgliedschaft der NSDAP sich fast ausschließlich aus monarchistischen Kreisen rekrutierte. Er nennt den kaiserlichen General a. D. Erich Ludendorff, der ein „standhafter Fürsprecher" des legitimistischen Monarchismus gewesen sei und die Nazi-Partei erst verlassen habe, nachdem er ihr Desinteresse an einer Restauration der Hohenzollern erkannt hätte. Kaufmann verweist weiterhin auf den „poet — Baccalaureate" der Nazis, Dietrich Eckhardt, zunächst ein ausgesprochener Monarchist, dessen „Glaube" allerdings nicht einem bestimmten Monarchen, sondern der monarchistischen Idee gehörte 55 , und schließlich auf den Verfasser des ersten offiziellen Parteiprogramms, Gottfried Feder, der es zumindest einer Volksabstimmung anheimstellen wollte, ob die „souveräne Staatsführung" durch einen Monarchen oder einen Präsidenten repräsentiert sein sollte.66 Man kann Kaufmann zustimmen, wenn er die NSDAP in den Anfangs jähren als „mindestens p o t e n t i e l l . . . monarchistische Bewegung" bezeichnet, die eine eventuelle Restauration der Monarchie mit Toleranz beobachtet habe. 57 Er schreibt weiter, daß die Nazis nach dem mißglückten Putsch vom 9. November 1923 den vollständigen und endgültigen Bruch mit dem Monarchismus vollzogen hätten. 58 Ähnlich reagierte der langjährige Kaiser-Adjutant Sigurd von Ilsemann auf die in Doorn 1931 verbreitete Meinung, die Nazis würden den Kaiser auf den Thron zurückbringen. Ilsemann schrieb im Dezember, er habe den Eindruck gewannen, daß etwa 50 Prozent der Nazis die Monarchie prinzipiell nicht, 25 Prozent sie in nächster Zukunft nicht wollten, und daß der Rest sehr geteilte Ansichten über die Person des Monarchen hätte. Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz würde sich f ü r den Exkaiser entscheiden. 58 Hierzu muß einschränkend jedoch bemerkt werden, daß führende Nazis auf dem Wege zur Macht und auf der Suche nach zeitweiligen Verbündeten am Ende der Weimarer Republik zum Teil engen Kontakt mit den Hohenzollern hatten, wie z. B. die erwähnten Besuche Görings in Doorn zeigen. Hitlers gele53
Kaufmann, S. 68. ' Anker an den Kronprinzen Wilhelm, 20. 8. 1920, ZStAP, 90 An 1, 14, Bl. 2. '•*> Gengier, S. 32. 68 Kaufmann, S. 112 f. 57 Ebenda, S. 113. 58 Ebenda. 5 J ' Ilsemann, Bdi 2, S. 175 f. Auch die Herzogin von Braunschweig, die Tochter des Exkaisers, meinte im März 1932, „die Nazis dächten gar nicht daran, den Kaiser zu rufen". Ebenda, S. 187. v
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gentliche positive Äußerungen zur monarchischen Frage60 müssen hier nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin analysiert werden, zeigen aber, daß er die Monarchisten zeitweilig noch brauchte und die Hohenzollern in dem Glauben ließ, er werde die Monarchie restaurieren. 61 Der somit keinesfalls „vollständige und endgültige Bruch" der Nazis mit dem Monarchismus nach 1923/24 bedeutete ohnehin nicht auch umgekehrt eine Abwendung der Hohenzollern von den Nazis. Im Gegenteil: in dem Maße, in dem die NSDAP als Massenmobilisator an Gewicht gewann, „rückte sie auch ins Blickfeld der Hohenzollernfamilie". 62 Die monarchistischen Vorstellungen der Deutschvölkischen berührten sich eng mit denen der Nazis bzw waren vielfach die gleichen. Die Völkischen sprachen in ihren üblichen Phrasen von einer „im deutschen Volkstum wurzelnden, aus deutschvölkischem Geist erwachsenen Monarchie"63 oder von einem künftig eventuell zu realisierenden „germanisch-deutschen Königsgedanken". 64 Ein Vertreter des deutschvölkischen Flügels der DNVP, der spätere Führer der Deutschvölkischen Freiheitspartei, Reinhold Wulle, schrieb 1922 aus Anlaß des Geburtstages Wilhelms II. unter der Überschrift „Republik oder Monarchie", die Arbeit für die Wiederherstellung der Monarchie sei eine „völkische Arbeit", und der künftige Kaiser müsse bewußt ein deutscher Kaiser sein. Entsprechend der antisemitischen Stoßrichtung der Völkischen betonte er, das Judentum gehöre „an den Königsthron von Palästina, aber nicht an den von Preußen". 65 Im April 1924 erklärte Wulle in dem Monarchisten-Blatt „Der Aufrechte", das Volk stünde über der Dynastie, vorerst werde die „völkische Diktatur" erstrebt, und danach solle es dem deutschen Volk überlassen werden, eine geeignete Staatsform zu wählen.66 Auch bei den Völkischen zeigte sich die Tendenz, den Weg für die eigenen politischen Ziele offenzuhalten und daher die beliebig zu interpretierende „monw Ilsemann schreibt am 13. 2.1932, Hitler habe sich dem Hausminister Leopold von Kleist gegenüber für die Monarchie ausgesprochen; gegen Kaiser und Kronprinz habe er jedoch Bedenken, da sie von der Masse abgelehnt würden. (Ebenda, S. 183.) — Bracher, Karl-Dietrich, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen 1960, S. 114 Anm. 71, zitiert die Kronprinzessin, nach deren Angaben Hitler bereits 1925/26 zu politischen Gesprächen in Potsdam/Cecilienhof gewesen sei und dem Kronprinzen erklärt habe, er sehe in der Herstellung der Monarchie die „Krönung seiner Bestrebungen" (!). Hitlers Auftreten sei damals aber noch so „armselig" gewesen, daß der Kronprinz dies mit „äußerster Zurückhaltung" aufgenommen habe. « Gutsche/Petzold, S. 926. 62 Ebenda, S. 918. Erdmann von Hertzberg, Geschäftsführender Vorsitzender des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, an den Kronprinzen Wilhelm, 12.10.1920, ZStAP, 90 He 7 Nachlaß Gertzlaff von Hertzberg, Bl. 5. 04 Ramin, Jürgen v., „Der Kaiser", in: Ringendes Deutschtum, 4, Nr. 3, 15.2.1924, ZStAP, 90 Str 1 Nachlaß Strantz. — Vgl. auch Hitlers Vorstellungen vom „germanischen Staat", Gutsche/Petzold, S. 919. 65 Deutsches Tageblatt, Nr. 23, 27. 1. 1922, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 9027, S. 184. Zit. nach Gengier, S. 149.
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archische Idee** irgendwelchen konkreten monarchistischen Überlegungen vorzuziehen. Graf Ernst zu Reventlow äußerte 1922 im Zusammenhang mit der Feststellung, daß „ein Teil der Arbeiterbevölkerung... bereits jetzt für den monarchischen Gedanken empfänglich" sei, eine weitere Entwicklung in dieser Richtung könne es nur dann geben, „wenn der monarchische Gedanke geklärt und vertieft, wissenschaftlich, historisch und politisch nach ähnlichen Methoden auf breitester Grundlage gepflegt wird, wie seit 50 Jahren die marxistische Irrlehre und die internationalistische Lüge".67 Dieser — wenn auch in übler Verzerrung formulierte — Bezug auf die wissenschaftliche Theorie des Marxismus läßt die Absicht erkennen, dem Monarchismus durch theoretische „Vertiefung" e'ine ideologische Langzeitwirkung und damit gegebenenfalls auch eine gewisse Massenwirksamkeit zu verschaff en. Die unklaren Vorstellungen von einer „deutsch-völkischen" oder „germanischdeutschen" Monarchie zielten nicht auf bestimmte Dynastien oder Personen und schon gar nicht auf die Hohenzollern ab. Gegen letztere gab es — wie in den Äußerungen von Wulle schon deutlich wurde — vor allem „Argumente" aus dem antisemitischen Arsenal, die sich vorwiegend auf den tatsächlichen oder angeblichen ökonomischen und politischen Einfluß jüdischer Vertreter der herrschenden Klasse auf die regierenden Hohenzollern vor 1918 bezogen. Friedrich von der Schulenburg mahnte den Kronprinzen Wilhelm im Frühjahr 1924 zu völliger politischer Zurückhaltung unter anderem mit dem Hinweis, von den Völkischen, die eine noch im Wachsen befindliche „Macht" seien, träte ihm auf seinen Reisen überall „die schroffe Ablehnung des unter jüdischem Einfluß stehenden Hohenzollernhauses entgegen".68 Ein früherer Freikorpsführer, August Raben, der am Kapp-Putsch teilgenommen und bis 1922 „im In- und Ausland Krieg geführt" hatte, schrieb im Januar 1924 an den Kronprinzen Wilhelm, er und seine ehemaligen Soldaten würden „nie im Glauben an das Haus Hohenzollern erschüttert" werden; sie hätten aber einen „dicken Strich" zwischen sich und die Juden gezogen und würden sich daher nur für einen Hohenzollern „in Fetzen hauen lassen", der „unerschütterlich auf deutsch-völkischem Boden steht".69 Karl Georg Hoffmann, „Gauleiter" der Deutschvölkischen in Schleswig-Holstein, propagierte die „völkische Monarchie" ohne dynastische Bindung. In seinem üblen rassistischen und antisemitischen Jargon wandte er sich gegen eine „Monarchie von Judas Gnaden". Er habe Achtung vor den Hohenzollern, aber „die Kette" sei „gerissen". Und in Anspielung auf Karl Rosner, den Bearbeiter
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Zit. ebenda, S. 159. — Reventlow hatte bereits 1920 in seinem „Reichswart" geäußert, die monarchische Propaganda müsse „in die Tiefe gehen, den monarchischen Gedanken systematisch, auch wissenschaftlich behandeln" (wie die Sozialdemokraten den republikanischen und die Demokraten den demokratischen Gedanken behandeln), in: Reichswart, Nr. 3, 15.10.1920, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 9027, S. 153. Von der Schulenburg an den Kronprinzen Wilhelm, 18.4.1924, ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 3, Bl. 223. Raben an den Kronprinzen, 7.1.1924, ZStAP, 15.01 Reichsministerium des Innern, 13 541, Bl. 93.
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der Memoiren des Kronprinzen, fügte er hinzu: „Ein Fürstensohn, dem der Jude als Mitverfasser seiner Denkwürdigkeiten die Feder f ü h r t . . . steht noch fern der völkischen Erkenntnis." 70
3. Politische Aktivitäten der Monarchisten Schon kurze Zeit nach der Novemberrevolution setzte in der Presse, im Bereich der politischen Publizistik und mit öffentlichen Demonstrationen die monarchistische Propaganda von verschiedenen Seiten ein. Neben der allgemeinen Propagierung des monarchischen Gedankens mit dem mehr oder weniger bewußten Ziel einer „Langzeitwirkung" standen massive propagandistische Aktionen, die konkret auf Personen bzw. die Herrscherhäuser Bezug nahmen. Die im April 1921 mit großem Pomp in Potsdam (Sanssouci) inszenierte Beisetzung der ehemaligen Kaiserin Auguste Victoria z. B. nutzten die Monarchisten, um daraus „ein öffentliches Spektakelstück zu machen", wie der „Vorwärts" vom 19. April 1921 schrieb. Und wenn es dort weiter heißt, daß auch die „Heiligenverehrung" die „Monarchie nicht zurückbringen" könne, die „großen monarchistischen Huldigungen" also „praktisch wertlos", aber für die Republik doch „äußerst schädigend" seien71, so ist damit die hauptsächliche Wirksamkeit solcher monarchistischer Demonstrationen umschrieben. Sae hatten nicht nur eine lokale Bedeutung, sondern wurden in der Presse umfassend behandelt und propagandistisch ausgeschlachtet.72 Herre meint, daß Stresemann „angesichts der starken monarchistischen Gesinnung", die bei der Bestattung der ehemaligen Kaiserin „überall eindrucksvoll hervortrat", scheinbar „die Möglichkeit einer baldigen Wiederherstellung des Kaisertums vor Augen"73 hatte. Ein „öffentliches Spektakelstück" ganz ähnlicher Art gab es im selben Jahr (am 5. November) anläßlich der Beisetzung des früheren bayerischen Königs Ludwig III. in München, wo unter Leitung des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und damaligen Präsidenten der Regierung von Oberbayern, Gustav von Kahr, eine Leichenfeier größten Stils stattfand. Eine „Proklamation" des Kronprinzen Rupprecht enthielt das lediglich etwas verklausulierte
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Das deutsche Tageblatt, Nr. 167, 19. 7. 1928, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 9028, S. 51. - Sogar ein Vetter des Kaisers, Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen, bediente sich in einem Brief an Wilhelm Rogge vom 23. 4.1921 antisemitischer „Argumente": „Mir wurde schon vor Monaten gesagt, Stresemann (dessen Frau semitisch sein soll) und viele Juden propagierten den Wieringer H'erren. Das fehlte gerade noch: unsere altehrwürdige Monarchie ,von Judas Gnaden' wieder eingesetzt, mithin von ihm abhängig! . . . Schlimm genug war schon die Verbindung mit Juden vor dem Zusammenbruch." ZStAP, 61 Pr 1 Preußenbund, 7, Bl. 7. Zit. nach Gengier, S. 154 f. — Vgl. auch die sozialdemokratische Münchener Post, Nr. 91, 20. 4.1921: „Die Potsdamer Trauerparade hat wieder aller Welt den innigen Zusammenhang zwischen Militarismus und Monarchismus vor Augen geführt." ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 8537, S. 35. Im Pressearchiv des Reichslandbundes umfassen die diesbezüglichen Zeitungsausschnitte über 50 Seiten, ebenda, S. 1—52. Herre, S. 178.
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Bekenntnis, er sei nunmehr in die Rechte seines Vaters eingetreten.74 Ob der Versuch, ihn anschließend zum König auszurufen, überhaupt unternommen wurde oder von Kahr und dem Kronprinzen selbst „in staatsmännischer Einsicht"75 verhindert worden ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Auf jeden Fall kam es auch hier zu einer forcierten monarchistischen Stimmungsmache. Große und kleine Erinnerungsfeiern, vor allem im militärischen Bereich, waren von Hochrufen auf den Kaiser und von anderen monarchistischen „Bekenntnissen" begleitet.76 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ließ sich der preußische Exkronprinz anläßlich eines Konzertes der Reichswehr 1924 in Breslau feiern und schrieb darüber: „Es war ein überwältigender Eindruck, als die Kapelle von 8 Regimentern in Feldgrau die alten schönen Märsche, unter deren Klängen man unzählige Male seine eigenen Truppen zur Parade oder zu Übungen geführt hat und noch zuletzt im Kriege unsere tapfere Divison in die Schlacht oder aus der Schlacht heraus hat kommen sehen, nach 5 Jahren wieder zum ersten Mal aus unmittelbarer Nähe mit anhören zu dürfen. Es war der größte Eindruck, den ich seit dem Jahre 1918 gehabt h a b e . . . Verschiedentlich und speziell bei dem Liede ,Fridericus Rex' erhoben sich alle Anwesenden und frenetischer Beifall durchbrauste minutenlang den Raum. Den ganzen Abend über konnte man sehen, wie die Leute sich freuten, meine Frau und mich in ihrer Mitte zu sehen . . ,"77 Ähnliche monarchistische Demonstrationen begannen bei relativ harmlosen Reichswehr-Konzerten, setzten sich über die Aufmärsche und das monarchistische Getöne bei den regelmäßigen „Frontsoldatentagen" des „Stahlhelms" fort und endeten schließlich bei solchen „vaterländischen" Großkundgebungen wie denjenigen aus Anlaß der Bildung der „Harzburger Front" im Oktober 1931. Monarchistische Propaganda wurde nicht nur im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen, sondern auch in starkem Maße in der Presse und in der Memoirenliteratur gemacht. 1922 z. B. erschienen die Memoiren des Kronprinzen Wilhelm von Preußen. „Die literarische Gestaltung, auch im Sinne des Weglassens und der Ergänzung", überließ der Kronprinz dem österreichischen Journalisten und Kriegsberichterstatter Karl Rosner78, für den offenbar die apologetische Zwecksetzung des Buches mehr im Vordergrund stand als die wahrheitsgetreue Charakterisierung seines „Helden". Friedrich von der Schulenburg bemerkte hierzu, es habe ihn die Mitteilung von Rosner „tief erschüttert... er wisse sehr wohl, daß der Kronprinz ein anderer ist als . . . in seinen Erinnerungen geschildert . . . aber er habe geglaubt, ihm diesen Dienst erweisen zu müssen". Im übrigen ginge es ihm (Schulenburg) als ehrlichem Menschen „gegen den Strich", „daß der Kronprinz in Volk und Welt für ein Buch gerühmt wird, von dem er kein 7
'' Vossische Zeitung, Nr. 523, 5.11.1921, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 5680, S. 24.' 75 Gengier, S. 119. ™ Erger, S. 20. 77 Kronprinz Wilhelm an Müldner, 11. 4.1924, ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner v. Mülnheim, 4, Bl. 33. 78 Herre, S. 181. — Es handelt sich um die Erinnerungen des Kronprinzen Wilhelm. Aus den Aufzeichnungen, Dokumenten, Tagebüchern und Gesprächen, hrsg. von Karl Rosner, Stuttgart/Berlin 1922. 20 J a h r b u c h 29
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Wort geschrieben hat, und daß er selbstgefällig die Erfolge davon einstreicht und f ü r sich b u c h t . . ."79 Den gleichen Zweck der Selbstrechtfertigung verfolgten die im selben Jahr publizierten Erinnerungen Wilhelms II.80 Die Hohenzollern gingen übrigens bei ihren Rechtfertigungsversuchen nicht sehr rücksichtsvoll mit ihren eigenen früheren Ratgebern um; so wurde Hindenburg z. B. mehr oder weniger offen f ü r die Abdankung und Flucht des Kaisers verantwortlich gemacht. 81 Es wundert daher nicht, daß diese Art von Propagandaliteratur gerade bei den Monarchisten selbst „sehr geteilte Aufnahme" fand 82 und die ehemalige Kronprinzessin Cecilie sogar meinte, das Buch des Kaisers habe „in Deutschland vernichtend gewirkt". 83 Hier liegt einer der Gründe, weshalb sich die Monarchisten nicht auf einen Thronprätendenten einigen konnten. Aus taktischen Gründen standen vielfach gerade in der Nachkriegszeit bei den politisch rechts stehenden großen Parteien und Organisationen der Weimarer Republik die monarchistischen Aktivitäten nicht im Vordergrund. Unter anderem deswegen kam es zur Bildung spezieller Organisationen, die ergänzende Arbeit leisten wollten, „die außerhalb der politischen Parteien vollbracht werden muß" 84 , oder die — in einer etwas zugespitzten Formulierung — die politischen Parteien „von dem Hindernis der monarchistischen Propaganda befreien" wollten. 85 Es handelte sich um eine große Anzahl teilweise nur kurzlebiger Bünde und Vereine 86 , von denen hier lediglich einige genannt werden sollen. Der Bund der Aufrechten (1919—1934) trat f ü r ein „starkes Preußen" und ein „kraftvolles, volkstümliches Königtum der Hohenzollern" ein und war „eine Art Sammelbecken aller monarchistischen, nationalistischen, preußisch-junkerlichen, rassistischen und revanchistischen Elemente" 87 und ein „Zentrum der rein monarchistisch-legitimischen Agitation". 88 Das Eindringen in die Arbeiterklasse erschien ihm nach 1918 als „bedeutsamste Aufgabe"; an der „Volksgemeinschaft der Aufrechten" sollte sich „der Sozialismus aller Schattierungen seine Giftzähne" ausbrechen. 89 Gengier meint, bis zum Kapp-Putsch sei neben den Deutschnationalen „eigentlich nur der Bund der Aufrechten mit Ernst und Eifer an die Werbung f ü r die Monarchie" herangegangen. 90 Der Bund der Aufrechten arbeitete eng mit dem Preußenbund zusammen; Publikationsorgan f ü r 79
Von der Schulenburg an Müldner von Mülnheim, 6.12.192'2, ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 3, Bl. 54. 80 Wilhelm II. Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878—1918, Leipzig/Berlin 1922. 81 Rüge, Hindenburg, S. 191. 82 Gengier, S. 170. 83 Ilsemann, Bd. 1, S. 264. So der Bund der Aufrechten und der Preußenbund, in: Kreuzzeitung, 17.1.1921, zit. nach Berndt, S. 17. 85 So die Preußische Königspartei, in: Hallische Zeitung, 15.1.1921, zit. nach ebenda, S. 18. * Ebenda, S. 17 f. 87 Die bürgerlichen Parteien, Bd. 1, S. 103. 88 Gengier, S. 142. ® Berndt, S. 18. 00 Gengier, S. 67.
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beide w a r „Der Aufrechte". Unter der gemeinsamen Losung „Mit Gott f ü r König und Vaterland! Mit Gott f ü r Kaiser und Reich!" wollte der Bund der Aufrechten jedoch auch über Preußen hinaus wirksam sein und das „Verständnis f ü r Preußens deutschen Beruf auch unter den Brüdern der anderen d e u t schen S t ä m m e . . . wecken". 91 Der P r e u ß e n b u n d existierte schon seit 1913, rückte aber nach 1918 die Wiederherstellung der Monarchie und das Eintreten f ü r die Interessen der Hohenzollern in den Vordergrund seiner Agitationsarbeit, entfaltete in den Nachkriegsjahren seine größte diesbezügliche Aktivität 9 2 und ist somit ein augenfälliges Beispiel f ü r die Verbindung zwischen P r e u ß e n t u m und Monarchismus. Da auch im reaktionären Lager erkannt wurde, wie notwendig eine „Breitenw i r k u n g " sei, äußerte sich der Vorsitzende des Preußenbundes, Wilhelm Rogge, 1919 zurückhaltend zu Vorschlägen zum Zusammenschluß mit Offiziersvereinen; die Hauptsache sei, „daß wir in breiten Volkskreisen F u ß fassen und d a r a u f hin unsere Werbearbeit einrichten". Auf jeden Fall müsse der Verdacht vermieden werden, als ob der P r e u ß e n b u n d „eine Art Offiziersverein" wäre. 9 3 Neben dem P r e u ß e n b u n d gab es mit gleicher Zielstellung f ü r kurze Zeit (1921) noch eine „Preußische Königspartei", eine „politische Eintagsfliege", die sich als „dringend notwendige Ergänzung des zänkischen Parteiwesens" verstand. 9 4 Sie w u r d e von dem ehemaligen leitenden Mitarbeiter der deutschnationalen Schriftenvertriebsstelle, Max Taube, gegründet 9 5 und stieß von vornherein bei der DNVP, dem P r e u ß e n b u n d und dem Bund der Aufrechten als unnötiges Konk u r r e n z u n t e r n e h m e n auf Ablehnung. 9 6 Politisch bedeutsamer waren dagegen die 1919 gegründete Bayerische Königspartei (offenbar das Vorbild f ü r den entsprechenden Gründungsversuch in P r e u ßen) mit ihrem Wochenblatt „Bayerischer Königsbote" bzw. der nach ihrer Auflösung im März 1.921 entstandene „Bayerische Heimat- und Königsbund". 9 7 In der „Bayerischen Königspartei" zeigten sich starke partikularistische, antipreußische Tendenzen, die zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit dem al
Pfeiffer, 2. Vorsitzender des Bundes der Aufrechten, an Rogge, 17. 6.1920, ZStAP, 61 Pr 1 Preußenbund, 1, Bl. 69 f. 10 Die. bürgerlichen Parteien, Bd. 2, S. 472. — Zur Rolle des reaktionären Preußentums nach der Novemberrevolution vgl. Bartel, Horst/Mittenzwei, Ingrid/Schmidt, Walter, Preußen und die deutsche Geschichte, in: Einheit, 34, 1979, 6, S. 645 f. 93 Rogge an Bley, geschäftsführender Vorsitzender des Preußenbundes, 22.9.1919, ZStAP, 61 Pr 1 Preußenbund, 2, Bl. 41. - Vgl. auch Everling an Rogge, 26. 6.1920, ebenda, Bl. 183, wo Everling auf die Notwendigkeit hinweist, der in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiven deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Margarethe Behm Werbematerial des Preußenbundes zu senden, „da hinter ihr große Massen von Frauen der arbeitenden Klasse stehen, auf die der Preußenbund über kurz oder lang wird rechnen müssen". ,J/ * Taube an den deutschnationalen Abgeordneten Mumm, 21. 5.1921, ZStAP, 90 Mu 3 Nachlaß Mumm, 357, Bl. 9. — Gengier, S. 150. Mumm an Beckmann, Siegen, 4.5.1921, wo sich Mumm von der Preußischen Königspartei distanziert, „die wohl im wesentlichen aus ihm (Taube) und dem Buchdruckereibesitzer Kammer besteht". ZStAP, 90 Mu 3 Nachlaß Mumm, 357, Bl. 4. 2 '' Rüge, Hindenburg, S. 230, 287. 118
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derjenige gewesen, der „durch seine vielfachen Beziehungen in kameradschaftlicher Weise geholfen hat, die Verhandlungen über die Rückkehr des Kronprinzen in die Heimat einzuleiten und diese Rückkehr auch durchzusetzen". 125 In der bürgerlichen Presse w u r d e vor allem kritisch vermerkt, daß ein „denkbar ungeeigneter Zeitpunkt" gewählt worden sei. Ein Vergleich mit der Rückk e h r Napoleons von Elba k ä m e zwar nicht in Betracht, weil es sich u m eine Person handele, die „nicht einmal die soliden Eigenschaften eines Durchschnittsmenschen entwickeln konnte", und zwischen dem Münchener Hitler-Putsch und dem „jüngeren Wilhelm" bestünde auch kein direkter Zusammenhang; aber dem deutschen Volk sei d e r Kronprinz in einer Situation, in der von den m o n a r chisch gesinnten Rechtsradikalen die Bürgerkriegsgefahr heraufbeschworen werde, „in höchstem Maße unwillkommen". 1 2 6 Eyck hält die Wahl des Augenblicks auch f ü r ungünstig, entschuldigt jedoch Stresemann mit dem Hinweis, er habe den Kronprinzen als einen Menschen, der sich n u r f ü r F r a u e n und P f e r d e interessiere, f ü r „politisch ungefährlich" gehalten. 127 In diesem Sinne der „Privatisierung" der ganzen Angelegenheit w a r in einem Brief des Kronprinzen an Stresemann vom August 1923 zu lesen, er müsse im Herbst nach Deutschland zurückkehren, u m sein Familienleben wiederherzustellen, seine Kinder zai erziehen und sich bei der Verwaltung seines landwirtschaftlichen Besitzes zu betätigen. „Vorstehende Erwägungen und nicht Wünsche politischer Art sind es, die meine Rückkehr erheischen." 128 Der Kronprinz hat bekanntlich diese, später allerdings von seinen Parteigängern abgeleugnete 129 Zusage der Beschränkung auf das Privatleben nach seiner Rückkehr k a u m beachtet. Zwar w a r e n seine Aktivitäten zunächst nicht so offensichtlich wie 1930 bis 1933, er nutzte jedoch von A n f a n g an — übrigens sehr zum Leidwesen derer, die aus ihm bei passender Gelegenheit noch einen Monarchen machen wollten — jede Möglichkeit zu politischen Demonstrationen, die seinem lange entbehrten Repräsentationsbedürfnis entsprachen (Regimentstreffen, Denkmalseinweihungen u. ä.).130
125
Müldner von Mülnheim an Himmler, 15. 9.1934 (im Zusammenhang mit Müldners kurzer Verhaftung nach dem „Röhm-Putsch"), ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 7, Bl. 8. 128 Frankfurter Zeitung, Nr. 841, 12. 11. 1923, ZStAP, 15.01 RMdl, 13 542, Bl. 70. 127 Eyck, Erich, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1957, S. 374. 128 Abschrift des Briefes, ZStAP, 15.01 RMdl, 13 542, Bl. 50. 129 Müldner von Mülnheim schrieb (in: Der Tag, Nr. 124, 24.5.1932) im Zusammenhang mit der durch die offene Parteinahme des Kronprinzen für Hitler ausgelösten öffentlichen Diskussion, der Kronprinz sei niemals eine Verpflichtung eingegangen, sich im Falle seiner Rückkehr der politischen Betätigung zu enthalten. ZStAP, 61 Sta 1 Stahlhelm, 1553. ™ Müldner von Mülnheim an von der Schulenburg, 1. 5.1924, ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 3, Bl. 212 f., wo Müldner schreibt, daß er nicht für die Teilnahme des Kronprinzen an solchen Veranstaltungen sei, sich aber habe bescheiden müssen, „da ich mit meiner Ansicht völlig allein stehe. Auch im R[eichs]w[ehr]ministerium beurteilt man diese Frage nicht tragisch."
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4. Grenzen und Ergebnisse der monarchistischen Aktivitäten Das konkrete politische Ziel, das letzten Endes alle Monarchisten verfolgen mußten, wenn ihre konzeptionellen Überlegungen, ihre Agitation und die sonstigen Aktivitäten überhaupt einen Sinn haben sollten, nämlich die Wiederherstellung der Monarchie, wurde weder im Reich noch in den einzelnen deutschen Ländern erreicht. Es stellt sich somit die Frage, welche Faktoren den monarchistischen Bestrebungen entgegenwirkten bzw. zu welchen allgemeineren Ergebnissen die Monarchisten überhaupt gekommen sind. Der erfolgreiche antimonarchistische Kampf der KPD und SPD, der in machtvollen Aktionen der vereinten Arbeiterklasse in der Novemberrevolution, bei der Niederschlagung 'des Kapp-Futsches, beim Volksentscheid f ü r die FürstenEnteignung und bei anderen Ereignissen seinen Ausdruck fand, war die wesentlichste K r a f t zur Vereitelung der monarchistischen Pläne. Unter Berücksichtigung dieses Machtfaktors orientierte sich die Monopolbourgeoisie nicht auf die bei weitesten Kreisen der Bevölkerung in Mißkredit geratene Monarchie als Herrschaftsform. Vor diesem Hintergrund wirkten an sich sekundäre, teilweise einander bedingende Widersprüche oder Meinungsverschiedenheiten, wie die Kandidatenfrage, unterschiedliche Vorstellungen über die Art der Monarchie und die Wege zu ihrer Restauration und föderalistische bzw. separatistische Tendenzen, den politischen Zielen der Monarchisten entgegen. Die der Wiedereinführung der Monarchie entgegenstehenden außenpolitischen Aspekte 131 werden hier im einzelnen nicht behandelt. Nach dem unrühmlichen Zusammenbruch des preußisch-deutschen Kaiserreiches waren die Hohenzollern nicht mehr die einzigen Prätendenten f ü r einen eventuellen neuen Kaiserthron. Die preußischen Monarchisten empfanden den bayerischen Kronprinzen als Konkurrenz, hatten sich ihrerseits jedoch keineswegs auf einen gemeinsamen Kandidaten, etwa den preußischen Kronprinzen Wilhelm, geeinigt, von dem ehemaligen Kaiser ganz zu schweigen. 132 Kronprinz Rupprecht wollte sich das Hohenzollern-Kaisertum „nicht wieder gefallen lassen", polemisierte gegen die veralteten „Bismarck-Ideen" der Deutschnationalen und hielt den Kronprinzen Wilhelm f ü r „ganz und gar unmöglich", „unheilbar läppisch", „unreif" und „taktlos", wenn auch „viel, viel besser als sein Ruf". 133 131
In einem Brief an den Kronprinzen Wilhelm vom 18.4. 1924 schrieb von der Schulenburg: „Wir leben heute in einer großen politischen Gärung und gleichzeitig in einer völligen Abhängigkeit von der Entente. Es sind heute ernstere und wichtigere Fragen für das deutsche Volk zu lösen wie die Monarchie oder Republik. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entente heute nicht die Wiederaufrichtung der Hohenzollern-Monarchie unter Allerhöchstdero Führung gestatten würde." Ebenda, Bl. 222 f. rJ * Ilsemann hatte während eines Aufenthaltes in Deutschland im Juni/Juli 1920 festgestellt, „daß an eine Rückberufung des Kaisers als Herrscher nicht zu denken ist". Ilsemann, Bd. 1, S. 157. 1SI Aufzeichnungen von Andreas Gildemeister (DNVP), der eine Zusammenkunft von Hergt und Helfferich mit dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern vermittelt hatte (vgl. Anm. 45 u. 46). ZStAP, 60 Vo 2 Deutschnationale Volkspartei, 4, Bl. 84 f.
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Die Rivalität zwischen dem preußischen und dein bayerischen Thronkandidaten soll auch ein Argument f ü r die Zustimmung der Sozialdemokraten zur Rückkehr des Kronprinzen Wilhelm gewesen sein, weil diese einen „zweiten m o n a r chischen P r ä t e n d e n t e n neben dem Wittelsbacher als eine gewisse Sicherung der Republik ansahen". 134 Auf jeden Fall ist die Feststellung zu bestätigen, die der liberale Publizist Hellmuth von Gerlach über die Absichten und Möglichkeiten d e r Monarchisten bereits im Dezember 1919 traf, nachdem er sich auf einer Preußenbund-Versammlung über die „Ansichten der Gegner aus eigenem Munde" hatte unterrichten lassen: „Man ist Monarchist, aber m a n h a t keinen Monarchen in p e t t o . . . Laßt uns wissen, . . . welchen Mann ihr habt, der Deutschland aus dem maßlosen Elend h e r a u s f ü h r e n kann, in das es Wilhelm II. hineingeritten hat!" 135 Die Personenfrage w a r immer auch mit Sachfragen eng verflochten. Die Orientierung auf diesen oder jenen Thronkandidaten oder der Verzicht vieler Monarchisten, sich zunächst ü b e r h a u p t auf einen Kandidaten festzulegen, erklärte sich nicht aus persönlichen Antipathien oder Sympathien, sondern aus den oben dargelegten unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen. Für die Vertreter des „Legitimismus" waren Restauration der Monarchie und Herrschaft der Hohenzollern identisch, f ü r die Verfechter des „Wahl-" oder „Volkskaisertums" existierte das dynastische Problem nicht oder n u r am Rande, und viele P r o p a gandisten der „monarchischen Idee" verfolgten unter dieser Parole ganz allgemein das Ziel einer diktatorischen Herrschaftsform. Auch die politisch-geographischen, konfessionellen oder sonstigen Unterschiede, die sich in der föderalistischen S t r u k t u r des Reiches widerspiegelten bzw. sich aus ihr ergaben, wirkten gegen unmittelbare Erfolge der monarchistischen Bestrebungen. Sie kamen in dem Dualismus zwischen Preußen und Bayern besonders deutlich zum Ausdruck, der sich wiederum in gewissen Gegensätzen der Vertreter der Dynastien und in den Auseinandersetzungen ihrer Parteigänger offenbarte. Bayern bot mit seiner überwiegend ländlichen Bevölkerung einen „guten Nährboden f ü r konservative Ideologien"; hier h a t t e auf der Grundlage des Katholizismus und der katholischen Wittelsbacher d e r Monarchismus ein nennenswertes Gewicht, und „die lutherischen Hohenzollern w a r e n immer eine Quelle bitterer Ressentiments f ü r die patriotischen Bayern gewesen". 136 Daher w u r den die Hohenzollern selbst nach ihrer Entmachtung im Hinblick auf eventuelle neue Thronkandidaturen mit Mißtrauen betrachtet, und m a n b e w a h r t e die Gegnerschaft gegen P r e u ß e n auch in der Zeit der Weimarer Republik. Einerseits wirkten die alten Gegensätze nach, und andererseits verwandelten VM VJ
Herre, S. 184.
» Gerlach, Hellmuth v., in: Welt am Montag, Nr. 50, 15.12.1919, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 8173, Bl. 96. — Von der Schulenburg schrieb am 11. 9.1924 an Müldner: „Ist eine Persönlichkeit da, die unumstritten der Prätendent ist, haben wir einen großen Schritt auf dem Wege zur Monarchie gemacht. Heute sind wir davon weit ab, und auf Experimente wird sich die Intelligenz des deutschen Volkes nicht einlassen, was ihr auch nicht zu verdenken ist!", ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 4, Bl. 229.
iyti
Kaufmann, S. 79.
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sich die „antipreußisch-partikularistischen Ressentiments der Bevölkerung in Stimmungen gegen die Novemberrevolution und deren Ergebnisse sowie gegen die sozialdemokratisch geführte Preußenregierung". 137 Diese Umwandlung der partikularistischen Argumente kritisierte das Organ des „Bundes der Aufrechten" in Auseinandersetzung mit einem antipreußischen Artikel des „Bayerischen Königsboten" auf seine Weise in politischem Kauderwelsch: „ . . . m a n nenne nicht preußisch, was jüdisch^demokratisch-sozialistisch-zentrümlich ist."138 Carl von Ossietzky charakterisierte den „neubayerischen Föderalismus" treffend als „eine populäre Maske f ü r reaktionäre und monarchistische Bestrebungen" gegen die Koalitionsregierungen im Reich und in Preußen mit dem Ziel, „die Entwicklung zur Demokratie zu verhindern". 139 Kaufmann hält den „Dualismus zwischen dem bayrischen und dem Hohenzollern-Monarchismus" und, verbunden damit, „zwischen dem bayerischen Partikularismus und dem großdeutschen Nationalismus" f ü r einen „entscheidenden Faktor" der „Schwächung des Monarchismus in Deutschland". 140 Wenn auch hierin eine gewisse Überbewertung der Gegensätze Bayern — Preußen zum Ausdruck kommt, so trugen doch die ideologisch unterschiedlich motivierten Rivalitäten unter den Anhängern der Hohenzollern und des bayerischen Kronprinzen Rupprecht dazu bei, daß die Monarchisten keine unmittelbaren Ergebnisse in ihren politischen Bemühungen erzielen konnten. Ähnliche Auswirkungen hatten andere partikularistische Bestrebungen, so z. B. bestimmte Aktivitäten der Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, Tochter des Exkaisers, in bezug auf die zeitweilig von den Engländern propagierte Wiederaufrichtung eines neuen Königreiches Hannover. 141 Einen Teilerfolg erreichten die Monarchisten 1925 mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten. Die Republik h a t t e damit ihren „Ersatzkaiser" 142 , der in den Augen der Monarchisten sogar den Vorzug besaß, nicht „ein Ausbund charakterloser Eitelkeit" wie Wilhelm II., sondern ein „würdiger Spitzenrepräsentant des monarchischen Gedankens" zu sein.143 Die Besetzung des Reichspräsidentenamtes mit dem ehemaligen • kaiserlichen Feldmarschall eröffnete 137
Rüge, Monopolbourgeoisie, S. 137. Zit. nach Gengier, S. 105. iau Berliner Volkszeitung, Nr. 99, 28. 2.1922, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 5680, S. 112. MU Kaufmann, S. 84. i,jl Ilsemann, Bd. 1, S. 162 f. — Von der Schulenburg schrieb am 8.12.'1919 an Müldner von Mülnheim: „Die monarchistische Frage darf von uns, die die Hohenzollern im Auge haben, unter keinen Umständen überstürzt werden, weil wir in Gefahr laufen, daß Deutschland auseinanderfällt. Gerade aus diesem Grunde begünstigt heute die Entente mit Clemengeau unsere monarchischen Bestrebungen in der richtigen Erkenntnis, daß alle katholischen Länder sich mit Süddeutschland und Deutsch-Österreich unter Kronprinz Rupprecht zusammenschließen, daß Hannover, Mecklenburg, Bremen, Hamburg, Lübeck unter einem Weifen zu einem englischen Vasallenstaat werden, daß für Preußen nur ein kümmerlicher Agrarstaat bleibt, und daß unter diesen Verhältnissen ein Hohenzollernkaiser wohl ausgeschlossen ist." ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 1, Bl. 99. 142 Bracher, S. 48. 1/13 Rüge, Hindenburg, S. 141. 138
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einereits, wie oben dargelegt, Möglichkeiten f ü r endgültige Lösungen der Machtf r a g e im monarchistischen Sinne, gestattete jedoch andererseits eine Beschränkung d e r Monarchisten auf die Machtpositionen, die ihnen die bürgerlich-]unkerliche Republik n u n von J a h r zu J a h r immer m e h r einräumte, bzw. ermöglichte eine Orientierung nicht auf die Monarchie, sondern auf andere undemokratische Herrschafts- oder Diktaturformen. Unter diesen Voraussetzungen vollzog sich bei manchen alten Monarchisten, verstärkt ab 1925, eine Hinwendung zur bürgerlichen Republik, zumal die Ablehnung der ehemaligen Monarchen in weiten Kreisen der Bevölkerung sehr deutlich wurde. Das zeigte vor allem der auf Initiative der K P D organisierte machtvolle Volksentscheid vom J u n i 1926 mit 14,5 Millionen Stimmen f ü r die entschädigungslose Enteignung d e r Fürsten. Auch die Entlassung des Chefs der Heeresleitung, General von Seeckt, im Oktober 1926 wegen seiner Zustimmung zur Teilnahme des ältesten Kronprinzen-Sohnes an einem Reichswehr-Manöver14'* w a r ein Zeichen f ü r eine breite antimonarchistische Stimmung, welcher, im Falle Seeckts, der Reichswehrminister Rechnung tragen mußte. K u r t Anker stellte 1926 fest, es gebe in Deutschland n u r noch recht wenige „planmäßig und sieggläubig auf ihr Ziel hinarbeitende Monarchisten", d a f ü r aber u m so m e h r „Namensmonarchisten", deren Kaiser- oder Königstreue sozusagen eine „religiöse Einstellung" sei.145 Ähnliche Worte fielen in der bekannten, 1928 in der Deutschnationalen Volkspartei und der Öffentlichkeit g e f ü h r t e n Monarchismus-Diskussion, die Walther Lambach, einer der leitenden F u n k tionäre des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, durch einen Artikel in der „Politischen Wochenschrift" („Monarchismus", 14. J u n i 1928) ausgelöst hatte. Darin hieß es u. a.: „Oder glaubt ein politisch Einsichtiger, daß es bei uns über den eigentlichen Anhang des Abgeordneten Everling [eines F ü h rers des ultrareaktionären, monarchistischen „Preußenbundes"] hinaus außerhalb Bayerns noch nennenswerte S p u r e n eines aktiven, zielklaren Monarchismus gibt?" F ü r die Jüngeren seien „Kaiser und Könige keine geheiligten und u n a n t a s t b a r e n Größen mehr". Lambach f o r d e r t e im Sinne des „volkskonservativen" Gedankens eine Zusammenarbeit von Monarchisten und Republikanern in der DNVP. 146 Diese öffentliche Debatte w a r einer der Ausgangspunkte f ü r die 1929/30 vollzogene Trennung „christlich-sozialer" und „volkskonservativer" Gruppierungen von der DNVP. Letztere erlangten zwar zeitweilig eine gewisse 144
145
14e
Der Exkaiser kritisierte übrigens heftig, daß Seeckt die Entlassung akzeptiert hatte. Er hätte sich seiner Meinung nach mit der Reichswehr im Rücken dagegen wehren sollen, und „dann hätten wir heute die Monarchie!" Ilsemann, Bd. 2, S. 41 f. Berliner Tageblatt, Nr. 601, 21.12.1926, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, Personen, 6, Bl. 35. Anker veröffentlichte 1919 eine „Ehrenrettung" für den Kronprinzen (Kronprinz Wilhelm, Berlin 1919) und betätigte sich auch publizistisch in monarchistischem Sinne (vgl. Anker, Kurt, Unsere Stunde kommt! Erinnerungen und Betrachtungen über das nachrevolutionäre Deutschland, Berlin 1923). Er machte einige politische Wandlungen durch, wurde Ende 1926 Leitartikler des liberalen Berliner Tageblattes und war zeitweilig — bis 1932 — Mitglied der SPD (vgl. ZStAP, ebenda, Bl. 20, 31, 34 f.). Zit. nach dem Artikel Fort mit Wilhelm, fort mit Westarp! Lambach gegen Monarchie und den Grafen, für Programm- und Führerwechsel, in: Vorwärts, Nr. 287, 20. 6. 1928.
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Bedeutung, 147 konnten sich aber insgesamt mit ihren flexibleren Auffassungen schon auf Grund ihrer geringen Breitenwirkung nicht durchsetzen. Sehr viele Monarchisten wandten sich jedoch nicht der durch die Präsidentenschaft Hindenburgs und die darin offenbarte politische „Rechtsentwicklung" f ü r sie „tragbarer" gewordenen Republik zu, sondern setzten ihre bislang enttäuschten Hoffnungen auf die nationalistischen, revanchistischen und militaristischen Kräfte der „Harzburger Front". Hier suchten sie die ihnen fehlende Massenbasis und arbeiteten damit den Nazis in die Hände.1'*8 Sie erreichten zwar nicht die monarchische Restauration in Deutschland, ihre unterschiedlichen Planungen und Überlegungen trugen aber dazu bei, die Möglichkeiten f ü r die nichtrepublikanische Herrschaftsvariante der Monopolbourgeoisie offenzuhalten und ihr den Boden zu bereiten, um die von der Arbeiterklasse in der Novemberrevolution erkämpften demokratischen Errungenschaften zu beseitigen. In diesem Sinne ist die Bemerkung des USPD-Organs „Freiheit" aus dem J a h r e 1921 zu interpretieren, „die ganze Bewegung der deutschen Gegenrevolution" stehe „unter dem Zeichen der Agitation f ü r die Wiederherstellung der Monarchie". 149 Hier kommt zum Ausdruck, daß — bei aller Zweitrangigkeit oder zuweilen auch Lächerlichkeit monarchistischer Planungen, Äußerungen oder Aktionen im einzelnen — insgesamt gesehen die Monarchisten in der Weimarer Republik Erfolge erzielen konnten. Es handelte sich allerdings um indirekte, längerfristige Wirkungen im ideologischen Bereich mit dem Ergebnis einer allgemeinen Stärkung der konservativen bzw. konterrevolutionären Ideologie, als dessen „zeitlich begrenzt wirksames Element" der Monarchismus gelten kann. 150 August Müller, 1918/19 sozialdemokratischer Staatssekretär im Reichswirtschaftsamt, schrieb 1921, wie f ü r den einen die Republik, sei f ü r den anderen die Monarchie „nur ein Aushängeschild, hinter dem sich ganz andere Interessenkämpfe verstecken"; „allerhand soziale Rückschrittler" bedienten sich des Monarchismus „als Maske", und viele ihrer Anhänger legten „viel mehr Gewicht auf den Antisozialismus . . . als auf die Monarchie". 151 Wenn auch hier nicht der Sozialismus im Sinne der revolutionären Arbeiterklasse gemeint war, so wird aber doch deutlich, daß sich hinter der Parole des Kampfes f ü r die Monarchie vielfach lediglich allgemeine Elemente der konservativen Ideologie, „grund-
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Roeske, Ulrich, Brüning und die Volkskonservativen (1930), in: ZfG, 19, 1971, 7, S. 904-915. 148 Kaufmann, S. 231. - Vgl. auch Anm. 61, 62 u. 165. 149 Die Hohenzollern, in: Freiheit, Nr. 370, 23.1.1921, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 8536, S. 160. IM) Fricke, Dieter, Zur Erforschung konservativer Politik und Ideologie in der Geschichte bürgerlicher Parteien, in: ZfG, 27, 1979, 12, S. 1139. - Vgl. die im Prinzip auf den Monarchismus anwendbare Feststellung, daß „fast alles im Bereich konservativer Ideologie eine rein theoretische Angelegenheit geblieben zu sein" scheint, „eine gedankliche Vorbereitung der Zukunft durch kleine, elitäre Gruppen". Weißbecker, Manfred, Konservative Politik und Ideologie in der Konterrevolution 1918/19, ebenda, 8, S. 718. 151 Nationalzeitung, Nr. 205, 1. 9.1921, ZStAP, 61 Re 1 Reichslandbund, Pressearchiv, 5678, S. 139.
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sätzlicher Antidemokratismus" und „ausgeprägte Volks- und Fortschrittsfeindlichkeit" 152 , verbargen. Vielfach wurde die Monarchie nur deswegen propagiert, um ein „autoritäres" Gegengewicht gegen die republikanische Herrschaftsform zu schaffen. Der Alldeutsche Verband z. B., der sich auf eine Thronfolge der Hohenzollern nicht festlegte, hatte in seiner „Grundsatzerklärung" von 1919 hervorgehoben, das deutsche Volk sei f ü r die „freistaatliche Staatsreform" nicht geschaffen, sondern müsse einer „festen Führung anvertraut w e r d e n . . . , wie sie die Monarchie besser verbürgt als die Republik. Um deswillen halten wir insbesondere fest an dem Kaisergedanken". 153 In diesem Sinne war der Alldeutsche Verband, wie aus einer wenig später erfolgten Satzungsänderung hervorgeht, f ü r die „Wiederaufrichtung eines starken deutschen Kaisertums". 154 Dort, wo die Monarchisten realistisch genug waren, keine Chancen f ü r die Rückkehr zu den politischen Verhältnissen der Kaiserzeit zu sehen, und sich weder auf den Thronkandidaten noch auf die Form der Monarchie festlegen wollten, propagierten sie zumindest die autokratischen Elemente des Monarchismus, nämlich den starken „Führer" bzw. die diktatorischen Regierungsformen. In diese Richtung gingen die Forderungen des Alldeutschen Verbandes nach der „festen Führung" oder dem „starken Kaisertum", die Äußerung von Friedrich Everling, 'der „Schrei nach dem Diktator" sei das „Sehnen des Volkes nach seinem Könige" 155 , die Feststellung von Müldner von Mülnheim, im Augenblick könne kein Hohenzoller „im Inneren Ordnung schaffen", sondern das müsse „irgendein Mann mit fester Hand" tun156, das Streben der monarchistischen Offiziersverbände nach der Diktatur bei unterschiedlichen Auffassungen über ihre Form 157 usw. Die monarchistische Agitation unterstützte ziu einem gewissen Teil die Forderung nach diktatorischen Regierungsformen unter einem „starken Mann" und förderte autoritär-diktatorische Vorstellungen, die „oftmals in neuer Gestalt, mit neuen Mitteln und auch mit neuen Kräften durchgesetzt werden sollten". 158 Zwar erzielte auch diese Agitation zunächst keine unmittelbaren politischen Ergebnisse, weil z. B. Ende 1923 sowohl auf die faschistische als auch auf die Militärdiktatur verzichtet werden mußte 150 , sie zeitigte aber eine längerfristige, bewußtseinsmäßige Wirkung bis zur politischen Realisierung der verdeckten und offenen Diktatur am Ende der Weimarer Republik. In bezug auf die Stel^ Aus der Konservatismus-Definition von Ludwig Elm, zit. nach Fricke, S. 1140. Die bürgerlichen Parteien, Bd. 1, S. 19. 154 Ebenda. 155 Zit. nach Berndt, S. 26 Anm. 33. wo j n e j n e m Brief von Müldner von Mülnheim an Edgar . . . [?] von Sept. 1923 heißt es: „Denk an die Politik des Großen Kurfürsten, die müssen wir treiben. Und im Innern Ordnung schaffen mit dem Rezept des großen Preußenkönigs, des I. Friedrich Wilhelm. Daß der letztere augenblicklich noch kein Hohenzoller sein kann, sondern nur irgendein Mann mit fester Hand und einem mehr oder [weniger] gut sitzenden Cut, steht für mich fest." ZStAP, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, 3, Bl. 64. 157 Die bürgerlichen Parteien, Bd. 2, S. 445. — Berndt, S. 22 f. lb8 Weißbecker, Konservative Politik, S. 709. 159 Rüge, Monopolbourgeoisie, S. 138. 153
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lung der monarchistischen Ideologen zu diktatorischen Regierungsformen ist im übrigen, wie Roswitha Berndt hervorgehoben 'hat, die „Frage nach dem Verhältnis von zeitweiliger und Endlösung" zu berücksichtigen; unter den monarchistisch-restaurativen Verbänden war die „Meinung von der Diktatur als Übergangsstadium'" weit verbreitet 160 , wobei häufig offengelassen wurde, wohin dieses „Übergangsstadium" führen sollte. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Propagierung des „Führers" oder des Mannes mit der „festen Hand". Bei der Behandlung der Rolle politischer Führer der Bourgeoisie wurde unlängst herausgearbeitet, daß das „Führertum" kein „allein dem Faschismus wesenseigenes Strukturelement" darstellt, sondern organisch mit der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt verbunden ist.161 Insofern bezieht sich der Ruf nach einem politischen Führer auch nicht unmittelbar auf den faschistischen „Führer". Dennoch hat die von allen konservativen Kräften und namentlich von den Monarchisten herausgestellte „FührerErwartung" wesentlich den Boden f ü r die diesbezügliche faschistische Propaganda bereitet. 162 Die Beziehungen zwischen Monarchismus und Faschismus beschränkten sich in der Zeit der Weimarer Republik nicht auf den Kontakt der Monarchisten, ehemaligen Monarchen oder anderer Mitglieder gestürzter Herrscherhäuser mit faschistischen Parteien, Organisationen oder Führern, sondern sie zeigten sich auch und gerade im ideologischen Bereich in der oft recht komplizierten Wechselbeziehung zwischen den Elementen der faschistischen und monarchistischen Ideologie. 163 Man kann in dieser Hinsicht über den Monarchismus im wesentlichen dasselbe sagen wie über den Konservatismus, der zu Recht als „nichtoder präfaschistische Variante autoritär-antidemokratischer Ideologie und Politik" bezeichnet worden ist „und insofern eine potentielle Quelle und Grundlage faschistischer Bedrohungen" darstellt. 164 Auch ein bürgerlicher Historiker hat die bemerkenswerte Feststellung getroffen, daß „die deutschen Konservativen, die sich bemüht hatten, die Nazis zu Steigbügelhaltern f ü r die Monarchie zu machen, selbst Steigbügelhalter f ü r den Faschismus geworden" seien. 165 Auch 160
Berndt, S. 23. Weißbecker, Manfred/Gottwald, Herbert, Zur Rolle der Führer bürgerlicher Parteien. Biographische Aspekte in der Geschichte der politischen Parteien des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis 1945, in: ZfG, 27, 1979, 4, S. 305. m Weißbecker, Konservative Politik, S. 713. — Vgl. auch Ramin: Der „germanischdeutsche Königsgedanke" sei eine Zukunftsfrage und nicht so entscheidend, „wenn in unserer künftigen staatlichen Ordnung nur sonst der Führergedanke klar zum Ausdruck kommt." ZStAP, 90 Str. 1 Nachlaß Strantz. UB Vgl. auch Petzold, Joachim, Claß und Hitler. Uber die Förderung der frühen Nazibewegung durch den Alldeutschen Verband und dessen Einfluß auf die nazistische Ideologie, in: JfG, Bd. 21, 1980, S. 247-288; ders., Die Entstehung der Naziideologie, in: Faschismus-Forschung, S. 261—278. le4 Elm, Ludwig, Zu Traditionen und Tendenzen des Konservatismus in der BRD, in: ZfG, 24, 1976, 8, S. 864. m Kaufmann, S. 239. — Vgl. auch die entschuldigenden Bemerkungen über das Verhältnis des Monarchisten Friedrich von Berg zu den Nazis; Berg war 1921—1926 Generalbevollmächtigter des preußischen Königshauses und 1920—1932 Vorsitzen161
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da, wo die Monarchisten nicht direkt die faschistische Diktatur anstrebten, unterstützte ihre Agitation die Wirksamkeit der faschistischen Diktatur-Parolen. Somit kann gerade auch eine Untersuchung über die Monarchisten in der Weimarer Republik mit dazu beitragen, die Entwicklung von der konterrevolutionären Ideologie monarchistischer Prägung zum Faschismus zu verdeutlichen. der der Deutschen Adelsgenossenschaft. Der Herausgeber seiner Erinnerungen schreibt: „Berg, der wie so viele andere, sich konservativ Dünkende, sein bescheidenes Scherflein dazu beigetragen hatte, den Nazis, wenn auch mehr oder minder bewußt, die Tore zu öffnen, erkannte zu spät das wahre Gesicht des Hitler-Systems." Friedrich von Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918. Erinnerungen aus seinem Nachlaß, bearb. von Heinrich Potthoff, Düsseldorf 1971, S. 72 f. (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 1. Reihe, Bd. 7.)
Werner Röhr
Was kann die Arbeiterklasse von der zeitgenössischen Bourgeoisie erben? Zur Kontroverse Hans Günthers mit Ernst Bloch 1936 in der „Internationalen Literatur"
Zu den Anstrengungen, die vom VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale und der Brüsseler Parteikonferenz der KPD 1935 eingeschlagene Volksfrontpolitik gegen den Hitlerfaschismus zu verwirklichen, zählen auch die Bemühungen der deutschen Antifaschisten, das humanistische Kulturerbe in den Kampf gegen den Faschismus einzubeziehen. Bereits der Internationale Schriftstellerkongreß vom Juni 1935 rief in Paris zur „Verteidigung der Kultur" gegen die faschistische Barbarei auf. Die in den 30er Jahren vorwiegend von Schriftstellern geführten Exildebatten — über den Humanismus 1936/37, über Realismus und Expressionismus 1937/38 — entstanden auf der Grundlage der Volksfrontpolitik der KPD aus der Absicht, dieses Erbe nicht kritiklos der Naziverfälschung zu überlassen. Innerhalb der Diskussionen dieser Jahre nimmt die Kontroverse zwischen Hans Günther und Ernst Bloch einen wichtigen Platz ein. Sie w u r d e 1936 in den Spalten der in Moskau erschienenen Zeitschrift „Internationale Literatur" ausgetragen. Die Rezeption dieser Diskussionen antifaschistischer Schriftsteller im Exil durch die historische Forschung und eine größere Öffentlichkeit stand nicht nur „im Kontext mit Klärungsprozessen innerhalb der ästhetischen Theorie sozialistischer Länder und . . . mit der Herausbildung eines adäquaten Konzepts von der Geschichte der Kunst und Literatur unseres Jahrhunderts" 1 , sondern bildete gleichfalls ein notwendiges und nützliches Moment der zunächst unter Literarhistorikern 2 , gegenwärtig unter Historikern sowie anderen Forschern erneut geführten Diskussion über Probleme einer marxistischen Erbekonzeption. 3 Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich dabei bisher vor allem auf die späteren 1
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Künstlerische Avantgarde. Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel, hrsg. von Karlheinz Barck/Dieter Schlenstedt/Wolfgang Thierse, Berlin 1979, S. 14. Vgl. Weimarer Beiträge, 1972 und 1973; Sinn und Form, 1972 und 1973; Dialog über Tradition und Erbe, hrsg. von Dieter Schiller/Helmut Bock, Berlin 1976; Kaufmann, Hans, Versuch über das Erbe, Leipzig 1980; Träger, Claus, Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung, Leipzig 1981. Vgl. Bartel, Horst, Erbe und Tradition in Geschichtsbild und Geschichtsforschung der DDR, in: ZfG, 29, 1981, 5, S. 387 ff.; Küttler, Wolfgang/Seeber, Gustav, Historischer Charakter und regionalgeschichtliche Anwendung des marxistisch-leninistischen Erbeverständnisses, ebenda, 8, S. 726 ff.; Bartel, Horst/Schmidt, Walter, Historisches Erbe und Traditionen — Bilanz, Probleme, Konsequenzen, ebenda, 9, S. 816 f£.
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Phasen, so auf die Expressionismusdebatte 4 , Brechts Notizen zu ihr 5 und den Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukäcs. 6 Die Kontroverse zwischen Bloch und Günther als erste der Exildebatten blieb in der Forschung lange Zeit unbeachtet, ihre Rezeption beginnt erst in den letzten Jahren, teilweise einseitig oder verkürzt. 7 Nachdem 1981 alle Texte dieser Kontroverse in der DDR neu publiziert wurden, bieten sich dem Leser günstige Voraussetzungen. 8 Denn die in ihr erörterten Fragen sowie die historischen Besonderheiten dieser Etappe der Erbediskussionen zwischen 1933 und 1939 rechtfertigen es, sie stärker als bisher in die Rezeption einzubeziehen und f ü r die Lösung einer Reihe von Fragen, die auch in den erneuten Diskussionen der 70er Jahre kaum präzise genug beantwortet werden, zu nutzen. Fragen der marxistischen Erbekonzeption sind keine bloßen Saisonangelegenheiten. Aber jede Diskussion über Erbe und Erben ist nur produktiv, wenn ihre notwendigen historischen Prämissen so konkret wie möglich benannt sind. Diese sind einmal kulturpolitischer, zum anderen geschichtsphilosophischer Natur. Die historisch-politische Bestimmtheit jeder besonderen Erbeauffassung in verschiedenen Phasen der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus genau zu klären, kann falsche wissenschaftstheoretische Konsequenz aus einer historisch notwendigen Erbepraxis verhindern, kann verabsolutierende Schlußfolgerungen vermeiden lassen. Denn die historische und die systematischlogische Konstitution der Erbeauffassung können durchaus als widersprüchliche Momente auseinandertreten. 9 Die Herausbildung der antifaschistischen Volksfrontkonzeption durch die KPD schloß spezifische Wandlungen im Einheitsfrontverständnis, die Überwindung der Sozialfaschismustheorie, die Neubestimmung des strategischen Zieles u. a. ein. Auch die Erbekonzeption der antifaschistischen Volksfront war entscheidend davon geprägt. Ihre Herausbildung und Durchsetzung begriff nicht nur die Überwindung des Proletkults und der Vulgärsoziologie, sondern auch die Abkehr von avantgardistischen Richtungen sozialistischer wie bürgerlicher Kunst und die normative Hinwendung zu älteren realistischen Traditionen '' Vgl. Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hrsg. von Hans Jürgen Schmidt, Frankfurt a. M. 1973. ä Vgl. Mittenzwei, Werner, Der Streit zwischen nichtaristotelischer und aristotelischer Kunstauffassung. Die Brecht-Lukäcs-Debatte, in: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukäcs. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller, Leipzig 1975, sowie die Literaturangaben, ebenda, S. 440 über die Diskussion zur Erstveröffentlichung dieses Beitrages in „Sinn und Form" (Berlin 1967, 1). 6 Vgl. Batt, Kurt, Erlebnis des Umbruchs und harmonische Gestalt. Der Dialog zwischen Anna Seghers und Georg Lukäcs, ebenda, S. 204 ff. 7 Vgl. Lethen, Helmuth, Neue Sachlichkeit. 1924—1932. Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus", Stuttgart 1970; Jarmatz, Klaus/Barck, Simone/Diezel, Peter, Exil in der UdSSR, Leipzig 1979; Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems, Berlin/Weimar 1981. * Vgl. Günther, Hans, Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften, Berlin/Weimar 1981 (im folg.: AS), sowie Kritik in der Zeit. Antifaschistische deutsche Literaturkritik 1933—1945, hrsg. von Klaus Jarmatz/Simone Barck, Halle/Leipzig 1981. s Vgl. Literarische Widerspiegelung, Kap 1; Schröder, Winfried, Brauchen wir eine neue „Theorie des Erbens" ?, in: Dialog über Tradition und Erbe, S. 147 ff.
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ein. „Daß sich in der Sowjetunion und im europäischen Volksfrontbündnis ein an ältere Traditionen gebundenes Kunstkonzept durchgesetzt hat, ist in den geschichtlichen Vorgängen begründet und nicht vor allem der Begrenztheit von Personen und Theorien geschuldet."10 Die Orientierung auf die klassische Ästhetik und die „Tradition eines Realismus als Stilformation" prägte jedoch nicht nur Programmatik und Praxis von Bündnismöglichkeiten und Erbe, sondern auch mehr oder weniger die Theorie des Erbens. Die notwendigen Klärungsprozesse theoretischer, methodologischer und auch konzeptioneller Art führen jedoch zu falschen wissenschaftlichen Auffassungen, wenn ihre jeweiligen historischen Bedingungen für sich genommen, und so enthistorisiert, als hinreichend für die Theoriebildung behandelt werden. Nur ein materialistisches Herangehen an die Geschichte läßt einen verbreiteten Sprachgebrauch, in dem „Erbe" und „Erben" inflationär entleert werden, im Ansatz ausschalten. Marx schrieb 1847: „Die Menschen bauen sich eine neue Welt nicht aus ,Erdengütern', wie der grobianische Aberglauben wähnt, sondern aus den geschichtlichen Errungenschaften ihrer untergehenden Welt. Sie müssen im Lauf ihrer Entwicklung die materiellen Bedingungen einer neuen Gesellschaft selber erst produzieren, und keine Kraftanstrengung der Gesinnung oder des Willens kann sie von diesem Schicksal befreien." 11 Es ist ein Mißverständnis, anstelle der Marxschen Bestimmung von „Errungenschaften des Untergangs" zu reden, um zum Ausdruck zu bringen, „daß der Marxismus fähig ist, alle, restlos alle im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung entstandenen Tendenzen zu beachten und aufzuheben, denen eine Perspektive nicht versagt ist".12 Die Geschichte ist keine aparte Person, die Perspektiven versagt oder vergibt. Solche Perspektiven werden historisch produziert. Der Marxismus ist keine bloße Evolutionstheorie, für den sich Diskontinuität allenfalls auf Selektion reduzierte. Die Arbeiterklasse konstituiert ihr Verhältnis zur Vergangenheit in der Durchsetzung ihrer historischen Interessen. Und dabei geht es nicht um das Ob, sondern das Wie des Erbens. Wenn Marx und Engels im „Manifest" hervorhoben, daß „die kommunistische Revolution . . . das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen" ist und daher „in ihrem Entwicklungsgänge am radikalsten mit den überlieferten Ideen" gebrochen wird13, so wird damit der Sozialismus keineswegs als Gesamterbe seiner Vorgeschichte, sondern in seiner historisch neuen Qualität vorgestellt. Im Aufbau einer neuen Welt machen die Menschen ihre Erfahrung mit der Geschichte. Was Marx im „18. Brumaire" als die Tradition aller toten Geschlechter, als Alpdruck kennzeichnet, kann nur überwunden werden, wenn, wie Benjamin sagte, das epische Moment in der Erfahrung mit der Vergangenheit durch das konstruktive ersetzt wird.14 Wenn das Erbe lu
Künstlerische Avantgarde, S. 16. MEW, Bd. 4, S. 339. 12 Plavius, Heinz, Zum Gegenstand und zur Methode der marxistischen Kulturgeschichte, in: DZfPh, 13,1965, 7, S. 884. " MEW, Bd. 4, Berlin 1974, S. 481. v ' Benjamin, Walter, Eduard Fuchs — der Sammler und der Historiker, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 100. 11
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der „'bewußten Bekräftigung und Vertiefung der eigenen Position dient", dann gewiß im Sinne ihrer Verwirklichung. 15 Tradition und Erbe bleiben zu eng gefaßt, wenn sie die Interessen einer Klasse nur geschichtlich legitimieren sollen.16 „Erbe" und „Erben" sind keine selbständigen Größen, das Verhältnis einer Klasse zu bestimmtem -Erbe darum keine selbständige Frage17, sondern diese leitet sich entscheidend aus den politisch vermittelten Zwecksetzungen der Produktionsprozesse — im weitesten Sinne — dieser Klasse ab. Die Aneignung der Errungenschaften vorhergehender Gesellschaften, Klassen und deren Tätigkeiten ist für Marxisten weder durch Nostalgie noch durch Übernahmefatalismus geprägt. Das Erbe stellt daher kein Arsenal weltgeschichtlicher Güter dar, die aus solchem Reservoir zu beliebigen Zwecken herausholbar, aktualisier- oder reaktivierbar wären.18 Der Umwälzungsprozeß der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse erfolgt als die produktive Hervorbringung der materiellen und geistigen Grundlagen der neuen Gesellschaft. In diesem Aneignungsprozeß der historischen Errungenschaften als Momente eigener Produktivität spielt die Rezeption des kulturellen Erbes eine bedeutende Rolle, doch als Moment der Produktion einer neuen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse ist sie entscheidend von den Erfordernissen, Zwecken und Möglichkeiten gesamtgesellschaftlicher Produktivität bestimmt. Die historische Charakteristik des jeweiligen Erbes wird durch das „Erben" ja nicht außer K r a f t gesetzt. Welche negativen Konsequenzen selbst eine partielle Enthistorisierung und Aktualisierung des Erbes haben kann, verdeutlicht die folgende Kontroverse. Auch die Konstituierung des Erbebegriffs ist damit aus den historischen Zusammenhängen abzuleiten, einen ahistorischen oder apriorischen Erbebegriff kennt der Marxismus nicht. Die Erbeproblematik ist keine ausschließlich ideologische, literarische oder ästhetische, obwohl es dabei um Prozesse ideeller Aneignung geht. Was frühere Produktionen zum Erbe der Arbeiterklasse werden läßt, hängt zwar zunächst und unverzichtbar von deren historisch bestimmten Inhalten ab. Doch die produktive Beziehung einer Klasse zum kulturellen Erbe — als einem Moment ihrer Aneignung der Welt — ist auf dieser Grundlage entscheidend durch ihr Verhältnis von Arbeit und Eigentum bestimmt. Die formationeile Spezifik entscheidet so über die Aneignungsweise, damit über die Voraussetzungen, Instrumente und Fähigkeiten eben auch des Erbens. Was wie angeeignet werden kann, darüber bestimmt die Produktions- und mit ihr die Aneignungsweise, die Eigentumsordnung der aneignenden Klasse. Hier entspringen die Zwecksetzungen der Erberezeption, ihre Normen und Funktionen. Die Fähigkeit einer Klasse, die Bedeutung der von ihr produzierten und angeeigneten Gegenstände entsprechend ihren Interessen zu setzen, ist ein wesentliches Moment ihrer Aneignung derselben. Schließlich wird durch die Produktions- und Aneignungsweise einer Klasse sehr konkret deren Aneignungsfähigkeit her-
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Vgl. Kaufmann, S. 34. Vgl. Schiller, Dieter, Die Klassiker des Marxismus-Leninismus über Tradition, kulturelles Erbe und Erbrezeption, in: Dialog über Tradition und Erbe, S. 12. Vgl. Kaufmann, S. 23. Vgl. auch Lenin, W. I., Auf welches Erbe verzichten wir?, in: Werke, Bd. 2, S. 501 ff. Vgl. Schiller, S. 13.
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vorgebracht, welche f ü r die produktive Beziehung zum Erbe eine u n e n t b e h r liche subjektive Voraussetzung ist. 19 Ein bestimmtes kulturelles Erbe kann historisch durchaus in unterschiedlichen Traditionen wirken. So wie die Perspektive — auch die auf das Erbe — vom S t a n d p u n k t abhängt, so wenig ist dieser Standpunkt, und mit ihm die Kriterien kritischer Aneignung, Selektion, Wertung usw., willkürlich oder als bloße F o r t f ü h r u n g kontinuierlicher Entwicklung eben dieses Erbes bestimmbar. Kein aufklärerisches Verhältnis zum Erbe u n d auch kein Traditionsnihilismus werden uns der Notwendigkeit entheben, auch bei der Theorie und Praxis des Erbens die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse zum Maßstab zu nehmen. In der vorzustellenden Kontroverse ging es direkt u m die Zwecksetzung einer spezifischen Erberezeption, indem sie den unmittelbaren Zusammenhang von Faschismusauffassung, Volksfrontstrategie und Erbekonzeption erörterte. Sie besteht aus drei Beiträgen: Hans G ü n t h e r rezensierte im Märzheft 1936 der „Internationalen Literatur" ausführlich das 1935 erschienene Buch „Erbschaft dieser Zeit" von Ernst Bloch. Dessen „Bemerkungen zu ,Erbschaft dieser Zeit' " als Entgegnung an seinen Rezensenten erschienen im J u n i h e f t der Zeitschrift, was G ü n t h e r wiederum zu seiner „Antwort an Ernst Bloch" vom August veranlaßte. Hans Günther (1899—1938)20 w a r 1932 vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller in die Leitung der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller entsandt worden. Er arbeitete in jenen J a h r e n des Moskauer Exils in der Redaktion der deutschen Ausgabe von „Internationale Literatur", zeitweilig als deren Chefredakteur, später als Bechers Stellvertreter. G ü n t h e r h a t t e Volkswirtschaft bei Oppenheimer und J u r a bei Sinzheimer studiert und einige J a h r e als Direktor einer Aktiengesellschaft gearbeitet. Er k a n n t e daher die kapitalistische Wirtschaftspraxis aus eigener Erfahrung, als er sich 1930 der K P D anschloß. Seine Studien zur Marxschen Wert- und Mehrwerttheorie vervollständigte er Ende der 20er J a h r e durch Forschungen zur Marxschen Krisentheorie bei Henryk Großmann. Für die K P D w a r er vor allem propagandistisch und publizistisch tätig, hielt Vorträge an der MASCH und wirkte in der proletarischen Kulturbewegung mit, wo er entschieden gegen Tendenzen des Proletkults a u f t r a t . Im Moskauer Exil arbeitete Günther praktisch f ü r die Einheit aller antifaschistischen Schriftsteller gegen Faschismus und Krieg, als Redakteur, als Literaturkritiker und -Politiker, als Wissenschaftler. Der Auseinandersetzung mit dem Faschismus dienten alle seine Anstrengungen, seine wichtigsten Arbeiten beschäftigen sich mit der Analyse der faschistischen Politik, Ökonomie und Ideologie, in erster Linie sein Buch „Der Herren eigner Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus" von 1935 und sein Essay „Der Fall Nietzsche. Die Philosophie Friedrich Nietzsches und d e r Nationalsozialismus" aus demselben J a h r e . Seine Literaturkritiken zu Glaeser, Wassermann, Scharrer, Feuchtwanger, Heinrich Mann, Uhse u. a. trugen zur Entwicklung w
Vgl. Röhr, Werner, Aneignung und Persönlichkeit, Berlin 1979, S. 23 f. Zur Biographie siehe Günther, AS, S. 762-772; ferner die Erinnerungen seiner Lebensgefährtin: Richter, Trude, Die Plakette. Vom großen und kleinen Werden, Halle 1972.
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marxistischer Literaturkritik wesentlich bei. Günther w u r d e in den Monaten dieser Kontroverse öffentlich aus Deutschland ausgebürgert. Ernst Bloch (1885—1977)21 war zum Zeitpunkt, des Erscheinens seines Buches in Zürich bereits aus dem Schweizer Exil ausgewiesen worden und nach A u f e n t halten in Wien und Paris in die CSR (Prag) übergesiedelt. Seine zahlreichen Beiträge in der Exilpresse — er w a r u. a. an allen drei Exildebatten der antifaschistischen Schriftsteller beteiligt —, so in der „Internationalen Literatur", im „Wort", auch zahlreich in der „Neuen Weltbühne", waren ein wirkungsvoller Bestandteil des von Kommunisten und bürgerlichen Antifaschisten gemeinsam g e f ü h r t e n antifaschistischen Kampfes. Bloch hatte bei Lipps und Külpe Philosophie studiert, später bei Simmel an dessen Privatkolloquium teilgenommen. Schon sehr f r ü h und dann zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit utopischen Tendenzen als Objekt der Erkenntnis. Vor dem Krieg und d a n n in den J a h r e n der Weimarer Republik u n t e r n a h m Bloch zahlreiche Reisen durch Europa. Als entschiedener Pazifist ging er im ersten Weltkrieg in die Schweiz, forschte und publizierte dort über „Politische P r o g r a m m e und Utopien in der Schweiz". Sein vor der „Erbschaft" wichtigstes Werk w a r das expressionistische Buch „Geist der Utopie" von 1918, das 1923 in wesentlich veränderter Fassung erschien. Seit 1919 lebte Bloch zuerst in Berlin, dann in München, arbeitete in den 20er J a h r e n an der „ F r a n k f u r t e r Zeitung", auch an der „Vossischen Zeit u n g " mit. 1921 erschien sein Buch „Thomas Müntzer als revolutionärer Theologe", 1930 die „Spuren". Philosophisch entwickelte sich Bloch zu einem linken Hegelianer, der sich in den J a h r e n vor der „Erbschaft" dem Marxismus annäherte, politisch zum Sozialisten, der am antifaschistischen Kampf unter F ü h r u n g d e r KPD intensiv publizistisch teilnahm. Als kritische Darstellung der 20er J a h r e insgesamt u m f a ß t e „Erbschaft dieser Zeit" zahlreiche Essays aus den J a h r e n 1924 bis 1934. Im Vorwort von 1934 stellte Bloch es so vor: „Das Buch ist wesentlich während der Zeiten geschrieben, die es untersucht; und in Deutschland. Sein Gegenstand eben: das stäubende Zerfalls-Bürgertum, und zwar in Schichten und Zeiten hintereinander: so ist die ,Zerstreuung' (1924 bis 1929) schon vorüber, die .Berauschung' (1924—1933) noch mitten im Gang; doch wirken beide übergehend fort. ,Sachlichkeit und Montage', als widerspruchsvoller Zustand der Oberschicht, umfassen auch zeitlich die beiden unteren Erscheinungen des Ubergangs. Der Akzent liegt nicht n u r auf der Entlarvung des ideologischen Scheins, sondern auf der Musterung des möglichen Rests." 22 In eine 1962 in F r a n k f u r t a. M. erschienene neue, erweiterte Ausgabe n a h m Bloch seine späteren Artikel zur Expressionismusdebatte und v e r w a n d t e Beiträge mit auf. In einer „Nachschrift 1962" begründete der Autor das „strekk e n w e i s e . . . wie Jetztzeit-Wirken" von Teilen des Buches mit „der fortwirkenden Montage-Zeit". Diese Begründung verband er mit einer schroffen Kritik an den sozialistischen Ländern. Sie werden als „Francoländer der Ostseite" verunglimpft, einer „Korruption des Besseren" geziehen, u m die „Erbschaft dieser Zeit" — als Illustration einer Zeit des Übergangs geschrieben — gerade auch f ü r sie relevant zu erklären. 2 3 21
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Vgl. Markun, Silvia, Ernst Bloch in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1977. Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1973 (im folg.: Erbschaft), S. 18. Ebenda, S. 21.
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Aus der Kontroverse zwischen Günther und Bloch über die „Erbschaft dieser Zeit" seien drei Komplexe herausgegriffen. Die für den Kampf gegen den Faschismus, für die spätere Expressionismusdebatte und auch für unsere gegenwärtigen Probleme der Erbekonzeption wichtigsten sind die Ungleichzeitigkeitstheorie, die Stellung zur imperialistischen Philosophie und die Bewertung der Montagekunst.
1. Rückständigkeit oder Ungleichzeitigkeit der Mittelschichten? In Ernst Blochs Auffassung von der Ungleichzeitigkeit der Mittelschichten bzw. in Hans Günthers Widerlegung (dieser These fassen sich ihre gegensätzlichen Standpunkte mehr oder weniger zusammen. Hier liegt der politische Kern der verschiedenen Streitfragen, weil sich für beide Autoren aus dieser Bestimmung das Begreifen sowohl des Charakters des Faschismus wie der notwendigen antifaschistischen Strategie unmittelbar ableitete. „Ist das Kleinbürgertum in seiner großen Masse ein vorkapitalistischer ,Rest'?'