Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 29. Band (1988) [1 ed.] 9783428465309, 9783428065301

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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German Pages 371 [383] Year 1988

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 29. Band (1988) [1 ed.]
 9783428465309, 9783428065301

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH, PROF. DR. THEODOR BERCHEM, PROF. DR. ECKHARD HEFTRICH, PROF. DR. FRANZ LINK U N D PROF. DR. ALOIS WOLF

NEUE FOLGE / NEUNUNDZWANZIGSTER BAND

1988

Jahrbuch wird i m Auftrage der Görres-Gesellschaft herausDas Literaturwissenschaftliche gegeben v o n Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 M ü n c h e n 19, Professor Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 8700 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der U n i versität, Domplatz 20 —22,44 Münster, Prof. Dr. Franz Link, Englisches Seminar der U n i versität, Kollegiengebäude I V , 7800 Freiburg i. Br. (federführend), u n d Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 78 Freiburg i. Br.

Redaktion: Dr. Kurt Müller, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude I V , 78 Freiburg i. Br.

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils i m Unfang v o n etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig i n Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhalung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezession oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden.

Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUNUNDZWANZIGSTER BAND

Romain Rolland, eine Aufnahme u m oder vor 1925 (nach der W i d m u n g auf der Rückseite »mon amie Berthel 1925«), i m Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N., Depositum Hesse. Wiedergabe m i t freundlicher Genehmigung v o n Madame Marie Romain Rolland (Paris) f u n d Herrn Heiner Hesse (Arcegno).

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM, ECKHARD HEFTRICH FRANZ LINK UND ALOIS WOLF

NEUE FOLGE / NEUNUNDZWANZIGSTER BAND

1988

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06530-1

INHALT AUFSÄTZE Wolfgang

G. Müller (Mainz), Syntaktisch-semasiologische Analyse des Grendel-

Kampfes im Beowulf

9

Walter Blank (Freiburg i. Br.), Junge Minne zu »Alten Frauen«? Ein Probelm des späten Minnesangs (ZU KLD 38, W) 23 Wilhelm Kühlmann (Heidelberg), Aufgeklärtes Befremden: Friedrich von Spees Güldenes Tugendbuch (Ausgabe 1748) in einer Besprechung Isaak Iselins (1778) Frank-Rutger Romanen

35

Hausmann (Aachen), Vorzeichen und Vorbedeutung in Stendhals

RalfR. Nicolai (Athens/Georgia), Grillparzers »Der arme Spielmann«: Eine Deutung

43

63

Julie Meyer-Boghardt (Wolfenbüttel), »Cher maître«: Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland mit einigen ergänzenden Dokumenten 85 Russell E. Brown (Stony Brook/N.Y.), Die Geschäftsstraße als Bühnenbild in Dramen von Horväth und Brecht 139 Bernd Engler (Freiburg i. Br.), Kontingenz und Kohärenz : Zur Problematik fiktiona159 ler Sinnkonstitution in William Faulkners Absalom, Absalom! Walter Bohnacker (Münster), Biographie als Dokumentation: Über Wolfgang Hildesheimer 189 SYMPOSIUM: APOKALYPSE U N D ANTICHRIST I N DER EUROPÄISCHEN LITERATUR Wolfgang Frühwald (München), Einleitung Walter Berschin (Heidelberg), Anselm von Havelberg und die Anfänge einer Geschichtstheologie des hohen Mittelalters 225 Willi Erzgräber (Freiburg i. Br.), Apokalypse und Antichrist in der englischen Literatur des 14. Jahrhunderts: William Langlands Piers Plowman, Joachim von Fiore und der Chiliasmus des Mittelalters 233

219

6

Inhaltsverzeichnis

Hans Rothe (Bonn), Eschatologisches Denken und die Entstehung russischer 253 StaatsaufFassungen im 17. Jahrhundert Eckhard Heftrich

(Münster), Apokalypse und Apocalipsis bei Thomas Mann

..

271

Ulrich Broich (München), Apokalypse und Entropie als konkurrierende Konzepte zur Beschreibung des Weltendes in der englischsprachigen Literatur der Gegenwart 291 Bernhard König (Köln), Geschichte und Geschichten im Zeichen des Weltendes: Zur Bedeutung apokalyptischer Elemente bei Umberto Eco und Mario Vargas Llosa 307

KLEINE BEITRÄGE Franz Link (Freiburg i. Br.), Poes »Tamerlane«, Shakespeare, Keats und Emily Dickinson 323 Rüdiger Ahrens (Würzburg), Artemis Einfuhrungen in die anglo-amerikanische Literatur 326 Heinz Antor (Würzburg), Einführungen und Forschungsberichte zur englischen Literatur: Forum Anglistik

333

BUCHBESPRECHUNGEN Europäisches Frühmittelalter,

hg. Klaus von See (von Fritz Peter Knapp)

339

Rüdiger Schnell, Causa amoris: Liebeskonzeption und LiebesdarsteUung in der mittelalterlichen Literatur (von Peter Dinzelbacher) 341 Pierre Le Moyne, Les Hymnes de la Sagesse divine et de VAmour divin : Le Discours de la 344 poésie (von Volker Kapp) Jacob Balde und seine Zeit: Akten des Ensisheimer Kolloquiums 15. -16. Oktober1982hg. Jean-Marie Valentin (von Wilhelm Kühlmann) 347 Dietmar Kunisch, Joseph von Eichendoiff: Fragmentarische Biographie. Ein formtheoretischer Versuch; Eichendoiff und die Spätromantik, hg. Hans-Georg Pott; Joseph von Eichendoiffim Urteil seinerzeit, hg. Günter und Irmgard Niggl. Band III: Kommentar und Register (von Heinz Gockel) 352 Heinz Antor, The Bhomsbury Group: Its Philosophy, Aesthetics, and Literary Achievements (von Willi Erzgräber) 357 Michael Göring, Melodrama heute: Die Adaption melodramatischer Elemente und Strukturen im Werk von John Arden und Arden/D'Arçy (von Adolf Barth) 360

Inhaltsverzeichnis KarlJosefHöltgen, Aspects of the Emblem: Studies in the English Emblem Tradition and the European Context (von Lothar Hönighausen) 362 Sprechend nach Worten suchen: Probleme der philosophischen, dichterischen und religiösen Sprache der Gegenwart, hg. Klaus Mönig (von Werner Oberholzner) 364 Namen- und Werkregister (von Kurt Müller)

367

NACHWEIS DER ABBILDUNGEN

Titelbild: Romain Rolland, eine Aufnahme um oder vor 1925, im Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N., Depositum Hesse. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Madame Marie Romain Rolland (Paris)f und Herrn Heiner Hesse (Arcegno). Nach S. 84: Porträtphoto René Schickeies, beigegeben dem Artikel von Stephan Großmann, »René Schickele«, Die Dame (Berlin), Jg. 44, H.19, Anfang Juli 1917, S.8. Nach S. 100: René Schickele an Romain Rolland, enter Brief vom 28. Oktober 1915. Verkleinerte Wiedergabe nach dem Original im Besitz der Bibliothèque Nationale, Paris, mit freundlicher Erlaubnis der Herren Rainer und Hans Schickele, Berkeley (California/ USA). Nach S. 108 (Vor- und Rückseite): Brief Victor Cyril(-Berger)s im Auftrag des Direktionskomitees von Clarté an René Schickele. Verkleinerte Wiedergabe nach dem Original im Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. Nach S. 114. Brief(-anfang) Romain Rollands an René Schickele vom 19.11.1921. Verkleinerte Wiedergabe nach dem Original im Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N., mit freundlicher Genehmigung von Madame Marie Romain Rolland f .

Syntaktisch-semasiologische Analyse des Grendel-Kampfes i m Beowulf V o n Wolfgang

G. Müller

I Das Problem von Parataxe und Hypotaxe ist schon immer ein Angelpunkt in der Erörterung der Syntax altenglischer Texte und insbesondere des Beowulf gewesen. Es zeigt sich z. B. darin, daß ae. J>ä Adverb (>dannwenne ond wi{) earm gesaet. (745 b-749)

Der erste dieser parataktischen Sätze kennzeichnet durch die vorangestellten Richtungsadverbien »forö« und »near« und das Verb ¿etstöp mit dem ebenfalls richtungsbezogenen Präfix at die vehemente Vorwärtsbewegung Grendels. I n dem hysteron proteron der beiden folgenden Sätze — die Handlungsfolge wird so dargestellt, als ergriffe Grendel zuerst den Helden mit der Hand und reiche dann nach ihm — spiegeln sich der übermächtige Angriffsdrang und die Gier des Ungeheuers. Bemerkenswert ist, daß in dem Satz rähte ongeanfiond mid folme nach insgesamt sieben Sätzen, deren Subjekt stets Grendel, dieses Subjekt aber substantivisch oder pronominal nicht verkörpert ist, mitßond nun zum ersten Mal das Subjekt wieder explizit genannt wird. Daß sich ßond hier, wie Katherine O'Brian O'Keefe 2 7 und Lana Stone Dieterich 2 8 meinen, auf den anderthalb Verse zuvor noch als hige-pfhtigne (746) bezeichneten Beowulf beziehe, erscheint aufgrund des sonstigen Gebrauchs dieses Substantivs i m Beowulf als unwahrscheinlich. 29 Feond charakterisiert i m Beowulf ausschließlich Grendel. Er ist der >höllische Feind< {ßond on helle, 107 b) der Dänen, auch Beowulf bezeichnet ihn als >FeindVoraussetzung für hohe Minne ist KampfbewährungZuerst Bewährung durch Kampf, dann Lebensgenußwollt ihr euern Leib schon um den L o h n einer alten Frau so anstrengen (im Turnier), dann habt ihr alle Ursache, dann, wenn es sich u m den L o h n einer jungen handelt, nicht nur ebenso zu kämpfen, sondern lieber gar goldene Speere (nicht nur gewöhnliche) i m Kampfe blitzen zu lassender vor Ablauf von zwanzig Jahren von einer Frau belohnt worden istdaß wir am Mittag noch den Morgen erwarten sollenLaßt zuvor am Speer Banner von Gold erglänzen, falls euch die Tochter statt der Mutter lohnen wollte.< Diese Interpretation löst die Schwierigkeiten der beiden genannten Textstellen, indem sie diese aufeinander bezieht, so daß inhaltlich als erstrebenswerter Liebeslohn für den Mann die baldige sexuelle Erfüllung seines Wunsches durch die Tochter, durch eine junge Frau also, vorgestellt wird. Damit ist das Gedicht in der Aussage einheitlich und in der Schlußfolgerung klar und konsequent, die heißt: Laß den Minnedienst, der dich Jahre kostet. Gehe direkter auf den sexuellen Minnelohn bei einem jungen Mädchen los, was die höchste Erfüllung (Gold!) bedeutet. Literaturgeschichtlich gehört dieses Lied somit i n die Reihe der sog. >GegensangBalde< zunächst nur lateinische Spitzfindigkeiten und 1 A n Friedrich Helle, einen jungen Verehrer, o. O. und J., zitiert und datiert nach E. M . A r n d t : Briefe , hrsg. v o n Albrecht Dühr. Drei Bände, Darmstadt 1972-75, spez. Bd. I I I , N r . 1602, S. 566; die Äußerung Arndts entspricht der Ausgrenzung katholischer Überlieferung u. a. bei Gervinus und rekapituliert die sehr weit zurückreichende Ausbildung von zwei verschieden orientierten literarischen Kulturkreisen in Deutschland; dazu Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 [Zts. f. bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11, Reihe 8], sowie ders.: »Warum eigentlich keine bayerische Literaturgeschichte? Defizite der Literaturgeschichtsschreibung aus regionaler Sicht«, in: Kontroversen , alte und neue. Akten des V I I . Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 7, hrsg. von Klaus Grubmüller und Günter Hess. Tübingen 1986, S. 5-13. 2

Z u r Balde-Rezeption bei Herder vgl. Jürgen Galle: Die lateinische Lyrik fakob Baldes und die Geschichte ihrer Übertragungen. Münster 1973, spez. S. 40-48. 3 Dazu gehörte vor allem Goethe: hierzu i m einzelnen Dieter Breuer: »Goethes christliche Mythologie. Z u r Schlußszene des >Faust hrsg. v o n Carl Schüddekopf. Tübingen 1899 [ B L V 218], Nr. 180, S. 445f. (Brief v o m 17.3.1796). 5 Vgl. Gerhard Schaub: »Die Spee-Rezeption Clemens Brentanos«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N . F. 13 (1972), S. 151 -179; ders.: »Friedrich Spee. E i n Dichter mehr als mancher Minnesänger. Zur Wirkungsgeschichte der Trutznachtigall in der deutschen Romantik«, in: Verführung %ur Geschichte. Festschrift zum 500. Jahrestag der Eröffnung einer Universität in Trier. Trier 1973, S. 323-346. 6 Eine genaue buchgeschichtliche Aufnahme der Spee-Drucke hat Richard G. Dimler vorgelegt: Friedrich Spee von Langenfeld. Eine beschreibende Bibliographie. Amsterdam 1984 [Daphnis, Bd. 13, H. 4], hier S. 40 / 676-60 / 696 zur Überlieferung des Güldenen Tugendbuchs; vgl. spez. S. 59/695 f. zur letzten Ausgabe. 7 Z u Daten und Tendenzen dieses Organs vgl. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). Z w e i Teile, zwei Bde, Stuttgart 1978 [Slg. Metzler 174-175], spez. Bd. I I , S. 163-167; dazu immer beizuziehen ist das grundlegende Werk von Ulrich i m Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern — München 1967; die Rezension des Güldenen Tugendbuchs ist hier erwähnt (S. 194).

Aufgeklärtes Befremden

37

M i t einer lebhaften Ungeduld öffnete ich dieses v o n einem urtheilsvollen und weisen Manne auf das Wort eines der größten Philosophen, mir so sehr angerühmte Buch. Ohne diese Empfehlung würde ich es vielleicht bey dem ersten Anblicke wieder weggelegt haben, wenn es mir zufälliger Weise in die Hände gefallen wäre. Ich fand auf allen Seiten nichts als eine durch eine beynahe unbändige und oft kindische Einbildung dahin gerissene Andächteley. Indessen ist es ein christliches Andachtsbuch, das ein Mann v o n Geist und von Talenten verfertiget hat, und also ist es unmöglich, daß nicht unendlich viel Schönes und Erhabenes darinn seyn müsse. Wordurch es aber so vorzüglich den Beyfall des grossen Leibniz erhalten habe ist für mich ein Räth- Querelle du pur amourad hominem< war i m Blick auf das Tugendbuch offensichtlich nicht mehr mit eigenen Lektüreerfahrungen zu vermitteln. Hochbrisante dogmatische Fragen, für die Leibniz noch ein Ohr besaß, gehörten für den fortschrittsbegeisterten Menschenfreund zu einer längst obsoleten Wissensformation. Spees meditativer Ansatz, seine kasuistische Allegorese und spirituelle Lenkung der menschlichen Einbildungskraft, durchaus ignatianischen Gepräges, verfällt nun einem rationalistischen Verdikt, der Disqualifikation einer ungezügelten und ungebildeten Phantasie (»kindische Einbildung«). Iselin greift hier auf das topische Arsenal von Argumenten zurück, mit denen sich viele Vertreter einer psychagogisch wirkenden Erbauungsliteratur längst als ggf. sogar sozial schädliche »Schwärmer« in Verruf gebracht hatten — zunächst bei der protestantischen Orthodoxie, dann auch bei den Wortführern der aufgeklärten Popularphilosophie. 13 Hinzu kommt der V o r w u r f des Aberglaubens. Er konkretisiert sich für Iselin in folgenden Punkten: in der Überzeugung von der Existenz des Teufels, in der als magisch-direkt mißzuverstehenden Wirksamkeit der Bibellektüre, i m Fürwahrhalten übersinnlicher Erscheinungen und i m Vertrauen auf die Hilfe des biblischen Worts gegen Naturkatastrophen, — kurz in der mangelhaften 12 Die Übernahme der Leibniz-Wölfischen Philosophie w i r d gegenüber einem katholischen Mitglied der Helvetischen Gesellschaft ausdrücklich zum Prüfstein der Reform erklärt; vgl. »Briefwechsel des Basler Ratsschreibers Isaak Iselin mit dem Luzerner Ratsherrn Felix Balthasar«, hrsg. v o n Felix Schwarz. Basel 1925 [Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde Bd. 24], S. 38f. (Brief v o m 1.6.1759). 13 Zur Tradition der Phantasiekritik gerade i m protestantischen Raum vgl. Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740. Bad H o m b u r g v . d . H . usw. 1970 [Ars poetica, Bd. 8], S. 175-203; Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung (...). Stuttgart 1977, spez. S. 203ff.; Johann Georg Zimmermann (dazu Schings S. 217 ff.) gehörte zu Iselins Korrespondenzpartnern ebenso wie Friedrich Nicolai. Diese Briefwechsel sind bisher ungedruckt.

Aufgeklärtes Befremden

41

Rücksicht auf den Wirkungszusammenhang natürlicher Ursachen. Daß Iselin wie auch andere Aufklärer schließlich für Toleranz selbst gegenüber dem Aberglauben eintraten, d. h. Rücksicht auf die Mentalität des »Volkes« forderten, das für die de facto bürokratisch ins Werk gesetzte »Vernunft« nicht umstandslos zu gewinnen war, steht auf einem andern Blatt. 1 4 Iselin entnahm die anstößige Passage aus Spees Anweisungen über die »Schöne Weiß, wie man dem ampt der H . Meß andächtig beywohnen könne«. 1 5 Es war die liturgische Frömmigkeit, die sich ihm als Residuum »abergläubischer« Verirrungen präsentierte. Die Anlage der Besprechung illustriert sehr genau und exemplarisch, daß sich Rezeptionsgeschichte als Folge von Lektürevorgängen begründet. Z u dieser Lektüre bedarf es eines Anstoßes; wie das gelesene Buch bewertet und was aus ihm entnommen wird, ist abhängig von persönlichen Bedürfnissen und Vorurteilen, in denen sich Sinnvolles und Unsinniges dissoziiert. Eine solche Unterscheidung als K r i t i k übernimmt gruppenspezifische und epochale Maßstäbe der intellektuellen Dringlichkeit, Kategorien der lebensweltlichen Überzeugung, außer- und vorliterarische Leit begriffe der Selbst Verständigung. Für Iselin konstituiert sich so die Opposition von »Andächteley« und »Nutzen«. Auch Spees Buch wird nach Kategorien beurteilt, die Iselin ein Jahr zuvor in seinen Betrachtungen über die Geistlichkeit y die Bischoftümer und die Klöster vorgetragen hatte. 1 6 Es ging um Grundsätze der mit dem Josephinismus schlagkräftig fortgeführten Säkularisation. Alte Argumente wie der Hinweis auf den »Müßiggang« der Mönche, das Unverständnis für die mögliche Motivation des Klostereintritts und die K r i t i k an fehlender Bildung der Geistlichkeit verbanden sich hier mit der Verachtung einer »nur auf leere Zeremonien und Andächteleien abgesehenen Regel«. Bereits in dieser Abhandlung stand private »Andacht« gegen sozialen Nutzen. Iselin wollte aus den Klöstern Stätten der Jugenderziehung, der Krankenfürsorge, der Erwachsenenseelsorge und der landwirtschaftlichen Ökonomie machen. Auch die Besprechung verrät Iselins utilitaristische Grundeinstellung: nicht nur indem Nützliches aus Spees Buch angeführt, sondern auch, indem selbst der Lektürevorgang wie auch die Anlage des rezensierenden Berichts dem Diktat des eigenen und fremden Nutzens unterworfen wird. Über Seltsames und Abergläubisches — so Iselin i m letzten Satz — braucht der Leser nicht weiter informiert zu werden; der Kritiker übernimmt i m vorausgesetzten Einverständnis mit seinem 14 I m Hof, wie A n m . 7, S. 197; Begriff und Bewertung des Aberglaubens in der Spätaufklärung materialreich die Aufsätze von Dieter Narr: Studien %ur Spätaufklärung im deutschen Südwesten. Stuttgart 1979 [Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 93. Bd.]; hier bes. S. 169ff.: »Superstitio Tolerabilis«, sowie 182ff.: »Fragen der Volksbildung in der späteren Aufklärung«. 15

Güldenes Tugendbuch , ed. van Oorschot, wie A n m . 10, S. 483-498, das Zitat S. 498.

16

Ephemeriden 1777, Zweites Stück, S. 11-30; dazu I m Hof, wie A n m . 7, S. 194-195.

Wilhelm Kühlmann

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Publikum die Vorauswahl des Gelesenen. Rezeption ist selektiv, gerade weil sie aufgeklärte Absichten verfolgt. So referiert Iselin aus dem Andachtsbuch Spees praktische Imperative der sozialen Wohltätigkeit und moralischen Selbsterziehung. Es ging nicht mehr um die Berufung auf einen Jesuiten, der als Autorität einer transkonfessionellen Frömmigkeit in Anspruch genommen werden konnte, sondern um die Frage, wieweit sich aus dem Tugendbuch Impulse für gemeinnütziges Handeln ableiten ließen. 1 7 Diese von Iselin gemeinte Wohltätigkeit richtet sich auf neuralgische Punkte der öffentlichen Fürsorge: auf die Versorgung der Waisenkinder, die Speisung der Armen, die Versöhnung zwischen Feinden, die Rückgabe unrechten Gutes. I n diesem Zweckzusammenhang wird von Iselin meditative Selbsterforschung gerechtfertigt. E i n auf praktische >caritas< gegründetes, am Gebot der Liebe ausgerichtetes Christentum kann v o m V o r w u r f der »Andächteley« ausgenommen werden; dies offenbar selbst dann — vgl. Iselins Fußnote — , wenn das Leben eines Heiligen zum Vorbild genommen wird. Spees Begriff der »Vollkommenheit« (des Heiligen) ließ sich i n den Augen eines Philanthropen recht gut mit ethischen Prinzipien aufgeklärter Perfektibilität vereinbaren. Daß dabei aus katholischen Gedanken der Nachfolge eines Heiligen ein »erhabenes Gefühl« wird, in dem man sich für die Vollkommenheit von »Mitmenschen« bedankt, gehört zu den Interpretationsnuancen, mit denen sich Iselin den Text zurechtlegt. Anstelle des »Heiligen« nicht einen »vollkommenen«, sondern wie der junge Goethe einen »großen« Menschen vorzustellen, 18 wäre Iselin fremd gewesen. Den Kraftgestalten der poetischen Genieepoche stand er ohne Verständnis gegenüber. A u f die in Spees Tugendbuch eingefügten Gedichte kommt Iselin nicht zu sprechen. Sie werden ihm w o h l Merkzeichen des »Seltsamen« und einer notorischen ästhetischen Inkompetenz gewesen sein. Auch Leibniz hatte sich mit dem poetischen Reiz der Trutz-Nachtigall nicht anfreunden können. Gerade von den Gedichten aus fanden die Jüngeren ihren Weg zu Spee. Das Syndrom von Werturteilen und geschmacklichen Verschiebungen, das der Spee-Renaissance des frühen 19. Jahrhunderts zugrundelag, kontrastiert in historischer Deutlichkeit Iselins Versuchen einer rezeptiven Assimilation.

17 Iselin übernimmt aus dem 30. Kapitel (ed. van Oorschot, S. 500-511; »Register etlicher unterschiedlichen guten werck«), die Punkte N r . 17, 19, 27, 41, 44, 67, 85, 87, 90 (hier natürlich in der gegenüber der Handschrift abweichenden Druckfassung; ed. van Oorschot S. 664). 18

Vgl. Goethes bekannten Brief an Herder (undatiert, Anfang 1772), in: Goethes Briefe , hrsg. v o n Erich Trunz, Bd. I , Hamburg 1962, S. 130.

Vorzeichen und Vorbedeutung in Stendhals Romanen V o n Frank-Rutger

Hausmann

E i n e v e r g l e i c h e n d e L e k t ü r e 1 aller f ü n f R o m a n e Stendhals (Armance, Rouge et le Noir,

1 8 2 7 ; Le

1830 ; Luden Leuwen y 1836 ; La Chartreuse de Parme, 1839 ; Lamiel,

1 8 4 0 / p o s t u m 1889) w i e a u c h e i n i g e r N o v e l l e n ( z . B . Le Rose et le Vert)

2

ergibt,

daß der A u t o r stets e i n T h e m a v a r i i e r t , die » é d u c a t i o n sentimentale« eines j u n g e n P r o t a g o n i s t e n , die sich deshalb besonders s c h m e r z l i c h u n d s c h w i e r i g gestaltet, w e i l die E l t e r n - K i n d - R e l a t i o n g e s t ö r t ist u n d die A b n a b e l u n g v o n z u H a u s e b z w . die G r ü n d u n g einer eigenen F a m i l i e v o m M a k e l der A b s t a m m u n g u n d der Trübung

der e l t e r l i c h e n

Zuneigung

überschattet

werden.

Stendhal

bringt

insbesondere d r e i T h e m e n b e r e i c h e z u r D a r s t e l l u n g : 1. Deszendenz u n d F a m i l i e ; 2. L i e b e u n d sentimentale E n t w i c k l u n g ; 3. K l a s s e n z u g e h ö r i g k e i t u n d Sozialaufstieg. Diese d r e i E l e m e n t e , die z u m E n t w i c k l u n g s r o m a n des 19. J h . u n a b d i n g b a r h i n z u g e h ö r e n , k ö n n e n w i r als » K o n s t a n t e n « i n seinem R o m a n w e r k bezeichnen, z u denen »Variablen« h i n z u t r e t e n , da jeweils D e t a i l s abgeändert w e r d e n : M a l hat 1 Einzelne Aspekte dieser Gesamtdeutung finden sich sicherlich in der schier unübersehbaren Flut an Stendhal-Literatur, doch ist mir kein systematischer Vergleich aller Romane i m Hinblick auf Vorzeichen und Vorausdeutungen bekannt. Als besonders nützlich und informativ erwiesen sich die folgenden Studien und Monographien: Maurice Bardèche, Stendhal romancier, Paris 1977; Georges Blin, Stendhal et les problèmes du roman, Paris 1954; Ders., Stendhal et les problèmes de la personnalité, Bd. 1, Paris 1958; Hans Boll-Johansen, Stendhal et le roman . Essai sur la structure du roman stendhalien, Aran (Suisse) 1979; Victor Brombert, Stendhal. Fiction and the Themes of Freedom, N e w Y o r k 1968; Victor del L i t t o , La vie intellectuelle de Stendhal. Genèse et évolution de ses idées 1802 -1821, Paris 1961 [Publications de la Faculté des Lettres et des Sciences Humaines de l'Université de Grenoble, 18]; Henri Martineau, L'Œuvre de Stendhal. Histoire de ses livres et de sa pensée, Paris 1966 ; Jean Prévost, La Création chez Stendhal. Essai sur le métier d'écrire et la psychologie de l'écrivain. Préface de Henri Martineau, Paris 2 1967; Geoffrey Strickland, Stendhal. The éducation of a novelist, Cambridge 1974; Margaret Tillet, Stendhal, the Background of the Novels, London 1971 ; Paulette Trout, La Vocation romanesque de Stendhal, Paris 1970 [Encyclopédie universelle]; Ulrich SchulzBuschhaus, »Stendhal, Balzac, Flaubert«, i n : P. Brockmeier /H. H . Wetzel (Hg.), Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 2: Von Stendhal bis Zola, Stuttgart 1982, 7-71. 2 Die Romane werden zit. nach Stendhal, Romans et Nouvelles. Edition établie et annotée par Henri Martineau, Paris : Ed. de la Pléiade 1952,2 Bde, und zwar Armance I , 23-189 ; Le Rouge et le Noir, I, 215 - 699 ; Luden Leuwen, 1,765-1384 ; La Chartreuse de Parme I I , 21 - 493 ; Lamiel I I , 875-1027. Die Vie de Henry Brulard w i r d zit. nach Œuvres intimes, éd.établie par V . del L i t t o , Paris: Ed.de la Pléiade 1982, I I , 525-959.

Frank-Rutger Hausmann

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der Protagonist eine überstarke Mutter- (Octave in Armance), mal eine überstarke Vaterbindung (Lucien in Luden Leuwen), mal ist er Adoptivkind (Lamiel in Lamiel), mal unehelicher Sohn (Fabrice del Dongo in La Chartreuse de Parme), mal elternlos (Armance in Armance), mal träumt er von einer adeligen Abstammung, um seine bescheidene Herkunft vergessen zu machen (Julien Sorel in Le Rouge et le Noir). Außerdem wird jeder Protagonist von einem oder mehreren geistigen Ziehvätern, die als Ersatzväter fungieren, geprägt und angeleitet (Julien Sorel von dem Militärarzt, dann den Geistlichen Abbé Chélan und Abbé Pirard, danach von Marquis de La Mole ; Fabrice von Abbé Blanès und Graf Mosca ; Lucien Leuwen von Leutnant Jobert und Coffe; Lamiel von D o k t o r Sansfin). E i n ungetrübtes Familienglück gibt es nicht 3 . I n ähnlicher Weise wird auch die Partnerrelation abgewandelt : Die Konstante besteht hierbei darin, daß der Held zwischen zwei Partnern unterschiedlichen Alters schwankt und sich mal für den einen, mal für den anderen entscheidet. Beide Liebesobjekte entsprechen aufgrund ihres Alters dem Mutter- bzw. dem Schwestertypus (Vater und Bruder) : Octave fühlt sich zwar zu seinem Alter ego Armance hingezogen, wird aber von seiner Mutter, Mme de Malivert, dominiert, an deren Stelle gelegentlich Mme de Bonnivet (beachte die Namen Mal-ivert und Bonn-ivet!) tritt. Julien Sorel kann sich nicht zwischen der verheirateten »Mutter«, Mme de Renal, und der jugendlichen »Schwester«, Mathilde de La Mole, entscheiden. Lucien Leuwen liebt die junge Witwe Mme de Chasteller und beginnt, als die sich anbahnende Liaison durch eine neidische Umwelt gestört wird, eine Beziehung zu der reifen Fabrikantengattin Mme Grandet. Fabrice schreitet stets auf dem schmalen Grat kindlicher Liebe und jünglingshafter Leidenschaft zu seiner Tante Gina, Ehefrau erst des Grafen und Generals Pietranera, dann des Grafen Sanseverina-Taxis und zuletzt des Grafen Mosca, ohne daß er je eine erotische Beziehung mit ihr begänne, wie Gina sie ersehnt. Später verfallt er der mädchenhaften Clélia Conti in hemmungsloser Leidenschaft. Lamiel, die einzige weibliche Hauptperson, wird, jedenfalls theoretisch, von ihrem geistigen Vater D o k t o r Sansfin in die Liebe eingeweiht, gibt sich dann dem adeligen Nichtstuer Herzog Fédor de Miossens hin, um zum Schluß, nach einem Intermezzo mit dem Comte de Nerwinde, die große Liebe in den Armen des Verbrechers Valbayre zu finden. Werfen wir zuletzt einen Blick auf die gesellschaftliche Position der Hauptbeteiligten 4 . Armance ist ein Roman, der ausschließlich in aristokratischen Zirkeln 3 Michel Connon, »Pères, mères et fils dans le roman stendhalien«, in : StCl 1984/85, 163-176. 4

XXVIII,

Dazu H.-F. Imbert, Les Métamorphoses de la liberté ou Stendhal devant la Restauration et le Risorgimento , Paris 1967,447 ff. ; Karl-Heinz Bender, »Realität und Roman. Die französische Restaurationsgesellschaft in Stendhals Le Rouge et le Noir «, i n : ZfSLit 85, 1975, 193-210; Pierre Castex, »Le Rouge et le Noir et le ministère Polignac«, in : Littérature et Société. Recueil

Vorzeichen und Vorbedeutung in Stendhals Romanen

45

der Restaurationszeit spielt, mit der mittellosen Armance und dem wohlhabenden Octave jedoch zwei Extrempositionen dieser Klasse vorstellt 5 . Julien Sorel entstammt dem Kleinunternehmertum bzw. der Handwerkerschaft der Provinzstadt Verrières in der Franche-Comté (Dritter Stand) und versucht, zuerst über eine Hauslehrertätigkeit bei Bürgermeister de Renal (Provinzadel), dann über das Pries ter seminar in Besançon (Klerus), zuletzt durch Einheirat in die Adelsfamilie des Marquis de La Mole (Salonadel der Hauptstadt Paris), der ihn durch den K a u f eines Leutnantpatents (Militär) und die Schenkung von Grundbesitz (Landadel) gesellschaftsfähig machen will, den Sozialaufstieg. Lucien Leuwen, Sohn eines wohlhabenden Bankiers holländischer Abstammung, dient zuerst als Leutnant bei den Dragonern in Nancy (Militär), tritt dann auf Vermittlung seines Vaters als Maître des requêtes in das Büro des Ministers de Vaize ein (Administration), leitet einen Wahlkampf i n der Provinz (Politik) und übernimmt, als sein Vater ruiniert ist (Wirtschaft und Banken), ein A m t als zweiter Botschaftssekretär in Capel (Diplomatie). Fabrice del Dongo gehört zwar bereits der Hocharistokratie an, versucht aber auch sein Glück als Soldat (Waterloo-Episode) 6 und Geistlicher, bis er sogar zum Erzbischof und Kirchenfürsten aufsteigt. Stets bewegt er sich i m unmittelbaren Dunstkreis des Farnese' sehen Fürstenhofs in Parma mit all seinen Kabalen und Intrigen. Der Ansiedlung des Handlungsgeschehens in Italien kommt eine besondere Rolle zu 7 . Lamiel zu guter Letzt wächst als Adoptivkind in einer Lehrerfamilie, bei den Hautemare, in der Normandie auf (Dritter Stand ; Provinz), wird Vorleserin bei der Herzogin von Miossens (Aristokratie), doch zieht es sie schon bald nach Rouen, später in die Hauptstadt Paris, wo ihr mehrere Adelige den H o f machen, bis sie sich dem Verbrecher Valbayre hingibt und in die Unterwelt hinabtaucht. Allen Helden ist ein Aufstiegswille gemeinsam, der sie mit wichtigen Bereichen der Gesellschaft in der Provinz und in Paris in Berührung bring; er stellt zwar die Triebfeder ihrer Dynamik dar, hält jedoch nicht bis zum Ende v o r 8 . Die Protagonisten sind Ausnahmewesen, 18-20 Jahre alt, und müssen ihren Weg in der Welt noch erst machen. Da aber ihre Abstammung oder Familiensituation nicht eindeutig bzw. harmonisch ist, geraten sie in einen Konflikt, der einer d'études en l'honneur de Bernard Guyon, Paris 1973, 49-63; Michel Crouzet, Nature et société dans Stendhal. La révolte romantique. Préface de Pierre Reboul, Lille 1985 [Problématiques]. 5 Neuerdings Jean Bellemin-Noël, L'Auteur [Objet]. 6

encombrant: StendhalIArmance, Lille 1985

Mairit Nordenstreng- Woolf, »Etudes sur le troisième chapitre de la Chartreuse Parme' «, in : StCl 16, 1974, 230 - 242.

de

7 Charles Dédéyan, L'Italie dans l'œuvre romanesque de Stendhal, 2 Bde ; Michel Crouzet, Stendhal et Pitalianité. Essai de mythologie romantique, Paris 1982. 8 Merete Gerlach-Nielsen, Stendhal théoricien et romancier de l'amour, Kopenhagen 1965; Robert André, Ecriture et pulsion dans le roman stendhalien, Paris 1977.

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Pattsituation nicht unähnlich ist : Sie versuchen, sich v o m Elternhaus zu lösen, indem sie eine eigene Familie gründen oder doch zu gründen versuchen, die ohne die Defekte der eigenen Deszendenz ist, werden jedoch nie auf Dauer glücklich : Die Ehe von Armance und Octave scheitert an dessen »Babilanismus« (Impotenz) 9 ; ihre Beziehung ist von vornherein zur Sterilität verdammt. Julien Sorel heiratet die von ihm schwangere Matilde de La Mole nicht, da er die bereits verheiratete Mme de Renal mehr liebt und sich nicht aus dem Bann der »Mutter« befreien kann. Lucien Leuwen liebt Mathilde de Chasteller zwar, w i r d auch wiedergeliebt, aber als ihm die reaktionären Neider in Nancy vorgaukeln, sie habe ein K i n d von M . de Blancet entbunden, verläßt er fluchtartig die Stadt und macht auf Wunsch seines Vaters, der ihm alles bis auf eine Eheschließung erlaubt und finanziert, der kalten Mme Grandet den Hof. Das glückliche Ende, das Stendhal vielleicht geplant hatte, blieb bezeichnenderweise unvollendet. Fabrice und seine Tante Gina kommen über das Stadium Neffe-Tante nie hinaus. Als Geistlicher ist Fabrice eine Abwandlung des »Babilan«. Er darf Clélia zudem wegen eines Gelübdes nur i m Dunkeln sehen und kann als Geistlicher ihr gemeinsames K i n d Sandrino, das zudem bald stirbt, nicht legitimieren. Lamiel bricht mit dem ihr hündisch ergebenen Fédor de Miossens und stürzt sich mit mehreren Liebhabern in stets flüchtige Abenteuer. A u f das Ende aller Romane, soweit sie abgeschlossen sind oder doch erkennbare Konzepte vorliegen, wird noch einzugehen sein: Es besteht aus Gefängnis (Julien Sorel; Fabrice del D o n g o ; Lamiel), Klostermauern (Armance, Mme de Malivert; Fabrice) oder T o d (Octave; Julien Sorel, Mme de Renal; Fabrice, Gina, Clélia, Sandrino; Lamiel, Valbayre), und zwischen diesen drei »Zuständen« gibt es nur graduelle Unterschiede : Sie implizieren alle Verstummen und Stillschweigen. Hier ist nur das Scheitern aller Helden festzuhalten, die sich selber neutralisieren. Sie sind aufgrund ihres dubiosen Herkommens »kommunikationsgestört«, da die fundamentalen Beziehungen der Eltern-Kind-Relation des »triangle familial« nicht normal funktionieren. Sie versuchen diesen Defekt dadurch wettzumachen, daß sie eine neue Familiensituation herstellen, verfallen dabei aber aufgrund fehlender Erfahrungen und gestörter Verwandtschaftsbeziehungen i n Einseitigkeit : Die Mutter dominiert i m »triangle érotique« zu Lasten der jugendlichen Partnerin (bei weiblichen Protagonisten entsprechend). E i n Vergleich von Stendhals Autobiographie Vie de Henry Brulard mit seinen Romanen lehrt, daß er in der Fiktion versucht, seine eigene Lebensproblematik zu bewältigen. Zentrale Passagen aus der Vie de Henry Brulard dokumentieren die überstarke Mutterbindung und das nie überwundene Trauma ihres frühen 9

Françoise Gaillard, »De la répétition d'une figure: Armance ou le récit de l'impuissance«, in : Littérature 18,1975,111 -126 ; Eric Gans, »Le Secret d'Octave : Secret de Stendhal, secret du roman«, i n : Revue des Sciences Humaines 40,1975, 85-89; Pierre Bayard, Symptôme de Stendhal. Armance et l'aveu, Paris 1979.

Vorzeichen und Vorbedeutung in Stendhals Romanen

47

Todes 1 0 , weiterhin den lebenslangen Vaterhaß, der sich mit der Verachtung alles Jesuitischen und einem ausgeprägten Napoleonkult verbindet, den der Großvater Gagnon, der erste »Ersatzvater«, ausgelöst h a t 1 1 . I m A k t des Schreibens, in der dichterischen Phantasie, in der Schaffung neuer Biographien für seine Helden, versucht Stendhal, sein eigenes Leben neu zu gestalten, den narzißtischen Monolog zu überwinden 1 2 , den nie stattgefundenen Dialog mit Vater und Mutter nachzuholen und damit der Prädestination des eigenen Schicksals zu entfliehen. Diese Versuche sind jedoch vergebens. Nach positiven Ansätzen ist das Ende stets gleich düster. Immerhin läßt sich auf diese Weise erklären, warum Stendhal nie seine Themen selbst »erfindet«, sondern vorgefundene Stoffe aufgreift und dann neu bearbeitet, um aber, da er sich selber nicht zu entfliehen vermag, stets wieder zum gleichen unausweichlichen Schluß zu gelangen: T o d oder Klaustrierung und Schweigen des Helden, was die ausgeprägtesten Formen der Nicht-Kommunikation sind. Das therapeutische Ziel des Schreibens wird nicht erreicht. Auch der dichterische Dialog verstummt, die Romane werden, wenn überhaupt, überhastet abgeschlossen, Lucien Leurven, Lamiel und einige wichtige Romans et Nouvelles bleiben Fragment. Nicht von ungefähr wird deshalb in jedem Roman die Schwierigkeit der verbalen Kommunikation thematisiert 13 , greifen die Personen zu den absonderlichsten Kontaktmöglichkeiten, um — stellvertretend für den Autor — ihr Unvermögen zu überwinden. Halten wir nur mit einigen Zitaten ihre Hemmungen fest: Octave, den ein in seinen Augen schreckliches Geheimnis plagt, seine Impotenz, sieht zwischen sich und der Welt eine Mauer aus Diamant (108), und auch 10 Gilbert Chaitin, The Unhappy Few. A Bloomington / London 1972.

Psychological Study of the Novels of Stendhal,

11 Stendhal wurde mit sieben Jahren Halbweise, da seine Mutter mit 33 Jahren i m Wochenbett starb. E r liebte sie heiß und innig und haßte seinen Vater wie auch seine Tante Séraphie, die ihn nach dem Verlust der Mutter erzog und v o n der er glaubte, daß ihr der Vater den H o f mache, daß sie also der wahren Mutter den Platz stehle : »Ma mère, madame Henriette Gagnon, était une femme charmante et j'étais amoureux de ma mére« (555 / 556). Er behält das blühende Bild der Mutter in Erinnerung und sieht i m Vater den Rivalen und Geizhals: »C'était un homme extrêmement peu aimable, réfléchissant toujours à des acquisitions et à des ventes de domaines, excessivement fin, accoutumé à vendre aux paysans et à acheter d'eux, archi-Dauphinois« (595). Besonders markant ist die Beschreibung der ödipalen Situation : »Je voulais couvrir ma mère de baisers et qu'il n'y eût pas de vêtements . . . J'abhorrais mon père quand i l venait interrompre nos baisers« (556). 12 Steven Sawds, »The Narcissism o f Stendhal and Julien Sorel«, i n : Romanticism 14, 1975, 337-363. 13 Madeleine Anjubault-Simons, Sémiotisme de Stendhal, Genève 1980 [Histoire des Idées et Critique Littéraire, 186] ; Léon Cellier, »Rires, sourires et larmes dans Le Rouge et le Noir«, in : De Jean Lemaire de Belges à Jean Giraudoux. Mélanges d'histoire et critique littéraire offerts à F. Jourda, Paris 1970, 277 -297 ; Mechthild Albert, Unausgesprochene Botschaften. Zur nonverbalen Kommunikation in den Romanen Stendhals, Tübingen 1987 [Romanica et Comparatistica, 7]. Diese sehr kluge und detaillierte Studie betrifft ausschließlich »Blickkontakte«.

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48 Armance

ist »peu c o m m u n i c a t i v e «

(176). D i e

Folge

ist, daß beide

nicht

zueinander f i n d e n k ö n n e n . J u l i e n Sorel u n d M m e de R é n a l h a b e n sich lange Z e i t n i c h t s z u sagen, was an J u l i e n s S p r a c h l o s i g k e i t l i e g t : La première fois que madame de Rénal essaya avec lui une conversation étrangère à l'éducation des enfants, i l se mit à parler d'opérations chirurgicales ; elle pâlit et le pria de cesser. Julien ne savait rien au delà. Ainsi, passant sa vie avec madame de Rénal, le silence le plus singulier s'établissait etre eux dès qu'ils étaient seuls. Dans le salon, quelle que fût l'humilité de son maintien, elle trouvait dans ses yeux un air de supériorité intellectuelle envers tout ce qui venait chez elle. Se trouvait-elle seule un instant avec lui, elle le voyait visiblement embarrassé. Elle en était inquiète, car son instinct de femme lui faisait comprendre que cet embarras n'était nullement tendre (257). B e r ü h r u n g e n v o n H a n d , F u ß u n d E p i d e r m i s müssen d e n K o n t a k t herstellen. L u c i e n u n d B a t h i l d e gestehen sich aus S c h ü c h t e r n h e i t nie i h r e w a h r e L i e b e , die deshalb a u c h keine E r f ü l l u n g f i n d e n k a n n : Mais quoi ! vous ne trouviez que des mots . . . peu significatifs à me dire au commencement de la soirée ! Etait-ce un sentiment de politesse exagérée ? était-ce . . . la retenue si naturelle quand on se connaît aussi peu ? (ici sa voix baissa malgré elle) ou étaitce l'effet de ce soupçon? dit-elle enfin, et sa voix, pour ces deux derniers mots, reprit subitement un timbre contenu, mais fort marqué. — C'était l'effet d'une extrême timidité : je n'ai point d'expérience de la vie, je n'avais jamais aimé; vos yeux vus de près m'effrayaient, je ne vous avais vue jusqu'ici qu'à une grande distance (931). I n die gleiche R i c h t u n g — F e s t l e g u n g des eigenen Schicksals u n d d a m i t des Romangeschens — w e i s e n die R o m a n t i t e l 1 4 , die zahlreichen »présages«, die jeden StendhaPschen H e l d e n v o n A n b e g i n n a n einschränken, die i n t e r t e x t u e l l e n Z i t a t e u n d A n s p i e l u n g e n , k a p i t e l s t e u e r n d e n Z i t a t e 1 5 , die d e n I n h a l t v o r w e g n e h m e n , sprechenden E i g e n n a m e n u n d n i c h t z u l e t z t die p r o g r a m m a t i s c h e n U n t e r t i t e l , die nicht

»Roman«

sein w o l l e n ,

sondern

authentisches

Zeugnis:

bei

Armance

»anecdote d u X I X e siècle«, bei Le Rouge et le Noir » c h r o n i q u e d u X I X e siècle« b z w . »de 1830«, b e i La Chartreuse de Parme » c h r o n i q u e italienne«. B e g i n n e n w i r m i t d e n W e r k t i t e l n , w o b e i w i r die a u f E i g e n n a m e n l a u t e n d e n (Armance,

Luden

Leuwen, Lamiel)

a u s k l a m m e r n 1 6 . W a s bedeutet zunächst

14 Geneviève Mouillaud-Fraisse, »Le titre comme chimère«, i n : L'Arc 1983, 77-86.

Le

88 (Stendhal)

15 Albert Sonnenfeld, »Romantisme (ou ironie): les épigraphes de Rouge et Noir «, i n : StC/ 20, 1977/78, 143-154. 16 Die Namen Armance und Octave — »A« und »O«, »Alpha« und »Omega«, sind sicherlich symbolisch; auch Armance de Zohiloff, »A« bis »Z«, ist bewußte Setzung. Der Roman ist androgyn-hermaphroditisch, denn w i r haben es mit zwei geschlechtslosen Wesen zu tun, die Bruder und Schwester sein könnten und immerhin Vetter und Kusine sind. Sie müssen von der »kupplerischen« Maman, M m e de Malivert, fast gewaltsam (90)

Vorzeichen und Vorbedeutung in Stendhals Romanen

49

Rouge et le Noir? Farbtitel sollen damals Mode gewesen sein 1 7 , und Stendhal hat auch andere Romane oder Novellen mit »Farben« betitelt oder betiteln wollen : Lucien Leuwen sollte ursprünglich L*Amarante et le Noir (für »le lancier« und »le maître des requêtes«) bzw. Le Rouge et le Blanc (für »libéralisme« und »légitimisme«) heißen ; eine der Novellen trägt den Titel Le Rose et le Vert, doch ist kein Titel so plakativ wie Le Rouge et le Noir. Die Farben, die ein Gegensatzpaar darstellen, wie man es sich stärker nicht vorzustellen vermag, können alles mögliche bedeuten : Militär und Klerus, Liberalismus und Konservatismus, den Zufall des Roulettespiels, Liebe und Tod, Jugend und Alter, Aktivität und Passivität. I n jedem Fall handelt es sich um einen binomischen Titel, der ein Sowohl-als-auch impliziert, wobei Schwarz, das am Ende steht, über Rot den Sieg davonträgt. Die Dichotomie findet sich übrigens i m zweiteiligen Romanaufbau wieder. Zuerst einmal ist aber eine doppelte Binomik festzuhalten, da der Roman den Untertitel »Chronique du X I X e siècle« führt. Dies hat man inzwischen mit Hilfe des »Projet d'article sur le Rouge et le Noir«, der bekannten Selbstinterpretation Standhals aus dem Jahr 1832 für die italienische Zeitschrift »L'Antologia« des Grafen Salvagnoli 1 8 , dahingehend erklärt, Stendhal habe mit dem gespaltenen Titel die beiden Gruppen des stets von ihm anvisierten Publikums einstimmen wollen — die der »femmes de chambre« und die der »salons« : Toutes les femmes de France lisent des romans, mais toutes n'ont pas le même degré d'éducation; de là, la distinction qui s'est établie entre les romans pour les femmes de chambre (je demande pardon de la crudité de ce mot inventé, je crois, par les libraires) et le roman des salons (702).

Der historisch-politische Untertitel soll die Intellektuellen der Pariser Salons ansprechen, der plakative Farbtitel eher die unbedarften Kammerzofen, mithin das gemeine Volk. Gegen diese Deutung spricht aber, daß »Chronique du X I X e siècle« viel eindeutiger und klarer lautet, eigentlich kaum eines Kommentars bedarf, wohingegen Le Rouge et le Noir interpretiert werden muß. Keine der oben vorgetragenen Deutungen ist übrigens ganz von der Hand zu weisen, doch keine ist aus dem Text eindeutig zu belegen. Gegen die populärste Militär / Klerus spricht, daß das Militär allenfalls rote Hosen trug und Juliens Leutnantszeit in zusammengeführt werden. — .Lucien Leuwen und Lamie/ weisen durch die beiden »L« ebenfalls auf eine Kreisstruktur, die keine wahre Entwicklung zuläßt. 17 Maddalena Bertelà, »Les Couleurs dans quelques titres stendhaliens«, in :AJFS X X I I , 1985, 35-42; H.-F. Imbert, »Conjectures sur l'origine scottienne du titre de Rouge et Noir«, i n : Rlc 45, 1971, 305-322; Pierre Castex, »Le Rouge et le Noir« de Stendhal, Paris 2 1970; Gerhard Dörr, »Le Rouge et le Noir. Titeldeutung ohne Ende?«, i n : Stimmen der Romania. Festschrift für W . Theodor Elwert zum 70. Geburtstag, hg. v o n Gerhard Schmidt und Manfred Tiez, Wiesbaden 1980, 173-184. 18

Wortlaut in Zitierausgabe (Anm. 2), 700-714.

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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Straßburg beim 15. Husarenregiment (640 ff.) nur kurze Episode bleibt. Noch spekulativer ist die Interpretation, daß er zu anderen Zeiten Militär geworden wäre, um sozial aufzusteigen, daß ihm aber jetzt unter der Restauration nur der Weg über die geistliche Laufbahn bleibt. Richtig ist, daß die Farben der Kleidung eine gewisse Rolle spielen, wofür es i m Roman nicht wenige, bisher nicht systematisch untersuchte Belege gibt. W i r wollen diesen Hinweisen nachgehen. Z u Beginn wird Julien zum Zeichen seiner neuen (intellektuellen) Tätigkeit schwarz eingekleidet, »avec cet argent, votre fils ira chez M . Durand, le drapier, et lèvera un habit noir complet« (236), und auch i m Pries ter seminar wie i m Salon de La Mole wird er schwarz gekleidet einhergehen. Schwarz als die Farbe mephistophelischer Bosheit und tartüffesker Hypokrisie (Tartuffe ist ja nach der schwarzen Trüffel, die in der Erde steckt, oder nach dem Teufel benannt ! ) 1 9 , ist seine Leib- und Magenfarbe: Es ist die Farbe des 19. Jahrhunderts! M o i , pauvre paysan du Jura, se répétait-il sans cesse, moi, condamné à porter toujours ce triste habit noir ! Hélas ! vingt ans plus tôt, j'aurais porté l'uniforme comme eux ! Alors un homme comme m o i était tué, ou général à trente-six ans... Maintenant, il est vrai, avec cet habit noir, à quarante ans, on a cent mille francs d'appointements et le cordon bleu, comme M . l'évêque de Beauvais. E h bien ! se dit-il en riant comme Méphistophélès, j'ai plus d'esprit qu'eux; je sais choisir l'uniforme de mon siècle . . . Peu à peu l'agitation de Julien se calma; la prudence surnagea. I l se dit, comme son maître Tartufe, dont i l savait le rôle par cœur . . . (525).

N u r in seiner Freizeit tauscht er sie gegen einen blauen Rock ein, den ihm der Marquis de La Mole geschenkt hat. So w i r d Blau die Farbe der Freizeit und der Freiheit, Schwarz die der Arbeit (479; 482): — Permettez, mon cher Sorel, que je vous fasse cadeau d'un habit bleu : quand il vous conviendra de le prendre et de venir chez moi, vous serez, à mes yeux, le frère cadet du comte de Caulnes, c'est-à-dire le fils de mon ami le vieux duc. Julien ne comprenait pas trop de quoi il s'agissait ; le soir même i l essaya une visite en habit bleu. Le marquis le traita comme un égal (477).

Sollen die Farben der Kleidung entscheidend sein, hätte der Roman demzufolge Le Bleu et le Noir heißen müssen, doch scheidet dies aus, da beide Farben keinen Kontrast bilden. Bleibt noch die Farbe Rot, für die es ein wichtiges Indiz gibt, das berühmteste »présage« i m Roman. Kurz nach seiner Ernennung zum Hauslehrer der Rénal betritt Julien die Kirche von Verrières und setzt sich in die Bank seines neuen Brotherrn 2 0 . I m Meßbuch auf dem Betpult findet er einen Zeitungsausriß 19 Jacques Birnberg, »La Lecture stendhalienne du Tartuffe de Molière«, in : Stendhal et le Romantisme . Actes du X V e Congrès International Stendhalien (Mayence 1982), ed.V. del L i t t o et K u r t Ringger, Aran (Suisse) 1984, 269-277. 20

Eva-Maria Knapp-Tepperberg, »Julien Sorels >FamilieromanMusik< und >Melodie< vermeidet (außer in den Worten Jakobs, die den Erzähler betreffen: er sei w o h l »ein wohltätiger Herr« und »ein Freund der Musik«; 45). Es wird nun verständlich, warum der Spielmann behauptet, er könne » [ . . . ] nicht das und das, sondern nur überhaupt spielen. O b w o h l mir das jeweilige Was der Musik mit Ausnahme jenes Lieds, immer ziemlich gleichgültig war und auch geblieben ist bis zum heutigen Tag. Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt Keiner.« (55)

Dies ist eine unmißverständliche Absage an die Musik an sich, und die Verwendung des bestimmten Artikels vor den Komponistennamen hinterläßt den Eindruck einer subtil durchschimmernden Schmälerung. I n bezug auf den zuletzt genannten »lieben Gott« wird sodann der Vorrang des Tones und einfacher Zusammensetzungen über musikalische Kompositionen hervorgehoben: »Die ewige Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seine wundertätige Übereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr, daß« — fuhr er leiser und schamrot fort — »der dritte T o n zusammenstimmt mit dem ersten, und der fünfte desgleichen, und die Nota sensibilis hinaufsteigt wie eine erfüllte Hoffnung, die Dissonanz herabgebeugt w i r d als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz und die Wunder der Bindung und Umkehrung, wodurch auch die Sekunde zur Gnade gelangt in den Schoß des Wohlklangs. — M i r hat das alles, obwohl viel später, ein Musiker erklärt. Und, w o v o n ich aber nichts verstehe, die fuga und das punctum contra punctum, und der canon a due, a tre, 18

W o h l verläßliches Werturteil des Erzählers.

Grillparzers »Der arme Spielmann«: Eine Deutung

73

und so fort, ein ganzes Himmelsgebäude, eines ins andere greifend, ohne Mörtel verbunden, und gehalten v o n Gottes Hand.« (55)

Man könnte hier Anspielungen vermuten auf die pythagoreische Lehre der Harmonie der Sphären, gemäß der die Planeten mit bestimmten Tönen assoziiert werden. I n Anbetracht der Güte und Redlichkeit Jakobs ist vielleicht auch eine Beziehung auf die von Plato und Aristoteles vertretene musikalische Ethoslehre, nach der bestimmte Tonarten einen Einfluß auf sittliches Verhalten ausüben, nicht ganz auszuschließen. V o r allem aber weisen die Worte Jakobs, er könne »nicht das und das, sondern nur überhaupt spielen«, in Verbindung mit seiner Bevorzugung des Tones, auffällige Parallelen zu Gedanken Schopenhauers bezüglich des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem »Willen« und der Musik auf. Der Unterschied zwischen melodiegebundener Musik und dem ausgehaltenen (Grund-) T o n besteht nach Schopenhauer darin, daß erstere die Geschichte des sich selbst bewußten Willens ausdrückt, letzterer die Befriedigung dieses Willens: Die Melodie ist immer ein Abweichen v o m Grundton, durch tausend wunderliche Irrgänge, bis zur schmerzlichsten Dissonanz, darauf sie endlich den

Grundton

wiederfindet, der die Befriedigung und Beruhigung des Willens ausdrückt, mit welchem aber nachher weiter nichts mehr zu machen ist und dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend. 19

W o der Einklang der Töne fehlt, handelt es sich um »das unserer Apprehension Widerstrebende, das Irrationale, oder die Dissonanz«, die dadurch »zum natürlichen Bilde des unserm Willen Widerstrebenden wird«; umgekehrt »wird die Konsonanz, oder das Rationale, indem sie unserer Auffassung sich leicht fügt, zum Bilde der Befriedigung des Willens«. 20 Übertragen auf das Spielen Jakobs würde das heißen: Es geht ihm bei der Unterscheidung von Wohl- und Übelklang (48 f.) vornehmlich um die Darstel19

A r t h u r Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, i n : A . S., Sämtliche Werke (Wiesbaden, 1949), I I , S. 378. Hiernach kurz: Schopenhauer. Eine Beschäftigung Grillparzers mit Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung läßt sich bereits für das Jahr 1820 belegen, und in Aufzeichnungen aus dem Jahre 1856 findet man Bemerkungen zum »Willen« gemessen an Kants »Ding an sich«. Siehe hierzu, ebenfalls in der hier verwendeten Gesamtausgabe, Grillparzers Tagebücher und literarische Skizzenhefte (Erster Teil 1808 bis 1821: N r . 1 bis 956), Zweite Abteilung, Bd. 7, Tagebücher 1, S. 341; und Bd. 11, S. 269. Bei seiner Besprechung des Räuberhauptmanns Jaromir, Grillparzers >DoubleWillem nennt, und der Außenwelt, w o die Taten fallen und Konsequenzen ihre Kreise ziehen, der große Weltriß klafft.« Heinz Politzer, Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier (Wien — München — Zürich, 1972), S. 61, 72. 20

Schopenhauer, I I I , S. 515.

Ralf R. Nicolai

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lung des Willens in seiner harmonischen oder »befriedigtem Form, wogegen die »Dissonanz [ . . . ] als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz« (vgl. Schopenhauers Dissonanz als Ausdruck des >bewußten< Willens) dann hinabgebeugt wird (55). I n wahrer auf Melodien zurückgreifender Musik werden [ . . . ] die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und w i r durchweg uns als rein Erkennende

verhalten. Daher dürfen die Affektationen des Willens selbst, also

wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht erregt werden, sondern nur ihre Substitute, das dem Intellekt Angemessene, als Bild der Befriedigung des Willens, und das jenem mehr oder weniger Widerstrebende, als Bild des größern oder geringem Schmerzes. 21

Diese Darlegungen lassen sich auf die Musiker am Abhang der Dammstraße anwenden, deren Spiel die »Schmerzen« einer »Verwundung« auf »eine analoge Weise empfindbar machen« w i l l (40); hier werden, sehr lebensnah, Substitute von Verwundungen dargeboten, die v o m Erzähler richtig als solche erkannt werden. Anders ist es beim Spielmann, dem lediglich der ordnende »Intellekt« des »Erkennenden« fehlt und der auch kein Musikverständnis hat, das ja Melodie und Rhythmus — Maß in der Zeit — voraussetzt; daher erschöpft sich sein Spiel, gemäß seiner dem >Grundton< des Willens sich fügenden Anlage, i n der Wiederholung nämlicher Verhältnisse und Töne (46 f . ) . 2 2 Der Wille als sinnfreier Daseinsdrang, als eine A r t »Ding an sich«, verschmilzt in dieser Erzählung einmal mit dem Lebensgefühl, das sich in den Saturnalien zur Schau stellt, und findet zum anderen — wie noch zu zeigen ist — Ausdruck in des Spielmanns Gottesidee. Die Worte v o m (musikalischen) Himmelsgebäude, gehalten von Gottes Hand (55), wurden von Gordon Birrell dazu herangezogen, Jakob in die Nähe einer »Theologie der Musik« zu rücken, die er (wenngleich nicht wissend, so doch intuitiv) schaffe; auch habe er völlige Kontrolle über seine Ausdruckskunst, und der kratzende T o n sei w o h l auf die Sprünge in der Violine zurückzuführen. 2 3 Es ist aber so, daß der Spielmann, wie er selbst hervorhebt, 21

Schopenhauer, I I I , S. 516.

22

Eine weitere Erklärung zu dem »nur in großen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten« steigenden und fallenden T o n gibt Schopenhauer am Beispiel des Basses, der »durch feste Regeln« geleitet sei und der Repräsentant des »nur nach allgemeinen Gesetzen bestimmbaren, unorganischen Naturreiches ist« und keine Melodie verträgt, die ihrerseits das aufs höchste gesteigerte Bewußtsein ausdrückt; vgl. Schopenhauer, I I I , S. 516f.; ähnlich schon in I I , S. 306. 23 Siehe den in bezug auf Musiktheorie und Harmonielehre aufschlußreichen Artikel von Gordon Birrell, »Time, Timelessness, and Music in Grillparzer's Spielmann«, German Quarterly 57/4 (Fall 1984), S. 558-575, insbes. 561-563. Hiernach kurz: Birrell. Man vgl.

Grillparzers »Der arme Spielmann«: Eine Deutung

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von den geschilderten Verhältnissen gar nichts versteht 2 4 und er nur fremdes, aufgegriffenes Gedankengut wiederholt. Überdies würde der Erzähler kaum von »Mißklängen« sprechen und davon, daß er den Leser »mit der Beschreibung dieses höllischen Konzerts verschonen will« (48), handelte es sich dabei nicht um eine v o m musikalischen Standpunkt gerechte Beurteilung. Ferner verleihen die Worte des Spielmanns, in seiner Familie habe man von einer »Ohrenfolter« gesprochen, wenn er sich nach seiner »Art ohne Noten« vergnügte (51), dem Urteil des Erzählers und der anderen ähnlich kommentierenden Sprecher zusätzliche Objektivität. Das Argument Birrells, für den »kratzenden und harschen Ton« sei die defekte Violine verantwortlich, 2 5 ist aus mehreren Gründen nicht stichhaltig. Erstens wird nie in dieser A r t von einem kratzenden T o n des Instruments gesprochen, sondern nur davon, daß der Spielmann kratzt (46, 58, 63); zweitens müßte Jakob, sollte er ein musikalisches Gehör haben, sich eines solchen Defekts bewußt sein, doch gerade diese Töne schwängerten ihm die »Luft wie mit Trunkenheit« (54); drittens antwortet er auf Barbaras Frage, ob er derjenige sei, »der so kratzt auf der Geige«, mit den Worten: »Werte Jungfer [ . . . ] das Kratzen rührt von daher, daß ich das Lied nicht in Noten habe, weshalb ich auch höflichst um die Abschrift gebeten haben wollte« (58); 2 6 und letztlich führt Grillparzer das M o t i v des Kratzens assoziativ auf die Verhaltensweise des Spielmanns selbst ein, wenn er schreibt, jener machte dem Erzähler »mit einer Abart vornehmer Leichtigkeit einen ziemlich linkischen Kratzfuß [ . . . ] « (45). Anhand der die »einsamen Übungen« Jakobs betreffenden Äußerungen » [ . . . ] das Gebet gehört ins Kämmerlein« (44) und » [ . . . ] der Abend mir und dem lieben Gott« (45) erweist sich, daß die abends vom Spielmann erzeugten Töne und das Gebet sich entsprechen. Ähnliche Verknüpfungen lassen sich, hält man sich streng an den Text, für den Gottesbegriff und die Violine herstellen. Erstaunlicherweise kann man die Hinweise auf Gott auch auf das Instrument ausdehnen; nicht nur läßt sich der Ausspruch » [ . . . ] der Abend mir und dem lieben Gott [ . . . ] « (45) auf diese A r t deuten, sondern auch der Umstand, daß dem Spielmann nach dem »Wiederkehren zur holden Tonkunst, zu meiner Violine«, diese wie ein belebtes Wesen ihm »treu geblieben ist bis auf diesen Tag« (53). Als er »mit dem Bogen über die Saiten fuhr«, war es, als ob »Gottes Finger« ihn angerührt hatte; unmittelbar darauf folgt sein Geständnis:

aber auch Peter Schäublin, »Das Musizieren des armen Spielmann. Z u Grillparzers musikalischer Zeichensprache«, Sprachkunst 3 (1972), S. 31-55, hier insbes. 37. 24 Seine Schamröte könnte hierauf zurückgehen, da sich hier w o h l ein Bruch zwischen seinem inneren Wesen und seinen Worten andeutet. 2

5 Birrell, S. 563.

26

Da der Spielmann »immer das Schreiben mit Lust getrieben« hatte (58), ist diese Bitte eher psychologisch denn musikalisch von Belang.

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Ralf R. Nicolai »Ich fiel auf die Kniee und betete laut, und konnte nicht begreifen, daß ich das holde Gotteswesen einmal gering geschätzt, ja gehaßt in meiner Kindheit und küßte die Violine und drückte sie an mein Herz [ . . . ] . « (55)

Aus dieser Kennzeichnung der Violine als »das holde Gotteswesen« läßt sich vielleicht die abschätzige Bewertung derer ableiten, die »den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach« spielen, wogegen Jakob selbst »den lieben Gott« spielt. Deshalb kann er »nur überhaupt spielen.« Und wenn er zu dem auf Tönen beruhenden, von »Gottes Hand« gehaltenen »Himmelsgebäude« meint, davon » [ . . . ] w i l l Niemand etwas wissen bis auf Wenige« und man störe vielmehr »dieses Ein- und Ausatmen der Seelen durch Hinzufügung allenfalls auch zu sprechender Worte, wie die Kinder Gottes sich verbanden mit den Töchtern der Erde« (55), so verdrängen die »Göttersöhne« (39) der Mythologie ein christliches Gottesverständnis. Einige weitere Gott nennende Aussagen sind neutraler A r t , 2 7 doch ist bedeutsam, daß in der Schlußszene dem Instrument dieselbe Wichtigkeit zuerkannt zu werden scheint wie einem Kruzifix, da beide Gegenstände den Spiegel flankieren. Leitmotivisch ist die wiederholte Erwähnung der »Ordnung« von großer Wichtigkeit. Die »Losgebundenheit der Lust« und das Sich-Ergießen des Volkes auf den Ort der Festlichkeit »in alles deckender Überschwemmung« (38) ist letzthin ordnungswidrig, doch kann sich das V o l k , das den Rest des Jahres hindurch den Ordnungsprinzipien mühelos folgt, die zeitlich begrenzte Losgebundenheit leisten, ohne Schaden zu nehmen. Anders ist es beim Spielmann, der die Ordnung nie wirklich verinnerücht hat und sie sich immer wieder aufzwingen muß. Er ist in diesem Sinne wirklich ein »Original«, wie ihn der Erzähler zweimal nennt (41, 46), d.h. ein i m Wesen wahrhaft >ursprüngliches< Exemplar. Das saturnalische Fest stellt für ihn eine Gefährdung dar. Die Worte »Sunt certi denique fines« (41) werden als Mahnung verständlich, die der Spielmann an sich selbst richtet, um anschließend »sich mühsam durch die dem Feste zuströmende Menge in entgegengesetzter Richtung« zu arbeiten, gleichsam gegen den Strom schwimmend »mit der entgegenströmenden Menschenwoge« zu kämpfen zu einer Zeit, »wo für andere seines Gleichen erst die eigentliche Ernte anging« (41 f.). Hier ist zu bemerken, daß Saturn als Saat- und Erntegott verehrt wurde, und in seinem ersten kurzen Gespräch mit dem Spielmann wiederholt der Erzähler den Hinweis auf die erst angehende »eigentliche Ernte« (43). Bei solchen Gegenüberstellungen mutet es beinahe paradox an, daß der Spielmann sich von einem Spielen zu distanzieren bemüht, das Aspekte »unordentlicher Ergötzlich27 So sagt der Spielmann über einen abendlichen Abschied i m Hause des Grieslers: » [ . . . ] als ich mich endlich empfahl, klang i h r : Guten Abend! beinahe wie ein Gott sei Dank!«; einmal w i r d Barbara indirekt zitiert: »Sie [ . . . ] tadelte mich unaufhörlich [ . . . ] Gott hatte mir zwei linke Hände erschaffen [ . . . ] « ( 6 7 ) ; der Spielmann bemerkt, der Mensch habe »viele Gnaden v o n Gott« (70).

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keiten wieder lebendig« machen könnte (44), er andererseits dies aber durch sein Phantasieren tut und bezichtigt wird, »die ordentlichen Leute in ihrer Nachtruhe« zu stören (46). Eindringlich ist die Beschreibung des Kontrasts in der zwar geräumigen, doch elenden Kammer, die der Spielmann gemeinsam mit zwei Handwerksgesellen bewohnt und deren Zweiteilung i n der Mitte »von Wand zu Wand [ . . . ] am Boden mit einem dicken Kreidestrich bezeichnet« war: Die Seite der des Tages arbeitenden, also einem ordentlichen und geregelten Leben nachgehenden Handwerker ist schmutzig und in völliger »Unordentlichkeit«, die des Spielmanns »dürftig aber reinlich, und höchst sorgfaltig gebettet und bedeckt« (48). Auch hier ist das Schema, daß äußerliche Unordnung sich derjenige erlauben kann, der sich innerlich den Regeln angepaßt hat. »Die Unordnung ist verwiesen«, teilt der Spielmann seinem Besucher mit (49) und berichtet, wie er die Mitbewohner morgens weckt, wenn er sein »Zimmer in Ordnung« bringt (50). Der Leitsatz des Spielmanns, es müsse »sich der Mensch in allen Dingen eine gewisse Ordnung festsetzen, sonst gerät er ins Wilde und Unaufhaltsame« (43), gilt derart für ihn hier wie auch i n seinem sonstigen Leben. Seine öffentlich vorgetragene Musik, die er »so außer allem Zusammenhang zu hören gab«, steht »in schönster Ordnung« auf den selbstbeschriebenen Notenblättern (41). Phantasiert er hingegen ohne Noten, gerät er ins »Unaufhaltsame«, da er Töne »ewig wiederholt«, was schließlich einen Mann zu dem Ruf veranlaßt, ob das »gar kein Ende« nehmen solle (47); ähnliches geschieht, als Jakob am Ende seiner Geschichte Barbaras Lied zu spielen beginnt. I n den Worten des Erzählers: Und damit ergriff der Alte seine Geige und fing an das Lied zu spielen, und er spielte fort und fort, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Endlich hatte ich's satt, stand auf, legte ein paar Silberstücke auf den nebenstehenden Tisch und ging, während der Alte eifrig immer fortgeigte. (77 f.)

Die selbstauferlegte Ordnung wird für den Spielmann das Leitprinzip und die Stütze, der sich sogar die A r t der Annahme eines Silberstücks zu fügen hat: »Bitte! bitte!« rief der alte Mann, wobei er mit beiden Händen ängstlich abwehrende Bewegungen machte, »in den H u t ! in den H u t ! « — Ich legte das Geldstück in den vor ihm stehenden H u t , aus dem es unmittelbar darauf der Alte herausnahm und ganz zufrieden einsteckte [ . . . ] . (42f.)

Sohn eines einflußreichen Hofrates, war der Spielmann der »langsame Kopf< der Familie, wähnt allerdings in der Rückschau: »Wenn ich mich recht erinnere, so wäre ich wohl i m Stande gewesen, allerlei zu erlernen, wenn man mir nur Zeit und Ordnung gegönnt hätte« (51). Hiermit ist das Problem umrissen: »Zeit« und »Ordnung« waren die fehlenden Ingredienzen — und sind es letzthin noch immer. Jakob demonstriert dies zu Beginn seines Berichts anhand der aufzusagenden Verse des Horaz aus dessen De arte poetica: I h m fiel das W o r t Cachinnum

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nicht ein, das ihm der Vater dann »donnernd« zuruft (52). Die Zeilen lauten vollständig: »Si dicentis erunt fortunis absona dicta/Romani tollent equites peditesque cachinnum« — »Sind nun die Worte entgegengesetzt dem Erlebnis des Sprechers / So erhebt bei den Römern, bei Ritter und V o l k , sich Gelächter«. Es wurde m . E . richtig gesehen, daß, wenn »innere Haltung und äußere Redeweise einander nicht entsprechen«, sich diese »Unangemessenheit des Innern und Äußeren dem Gelächter der Zuhörer« aussetze, und die Nichterinnerung an das Wort >Gelächter< könne auf eine psychologisch bedingte Unterdrückung zurückgehen. 28 Das äußerliche Gebaren des Spielmanns ist keineswegs Spiegel seines Inneren, und noch immer ist er Objekt des Gelächters. Gleich eingangs fällt dem Erzähler auf, daß der Spielmann »die Heiterkeit des vorüberwogenden Haufens erregte, der ihn auslachte« (41, 43); der Spielmann erklärt, daß die Grieslerstochter Barbara ihn verspottete und »eine kleine Lache« aufschlug, als er ihr einen Bogen seines zu Hause befindlichen Papiers anbot (57); lautes Lachen i m Grieslerladen war die Reaktion auf Jakobs Worte, sein Besuch gelte dem Mädchen (61); wiederholt wird er von Barbara verspottet und verlacht (63, 68, 72), und die Leute lachen, als sie von dem Betrug erfahren, der den Spielmann um seine Erbschaft brachte (73, 74). Die Grieslerstochter erwidert schließlich die Gefühle der Sympathie, die Jakob ihr entgegenbringt, vielleicht unter dem Eindruck seines »ehrlichen GemütsDer arme SpielmannOrdnung< auf, die auch mit dem »Nutzen« und dem »Zweck« einer Tätigkeit verzahnt wird. Bisher war dem Spielmann ein jegliches Zweckdenken und von einem Nutzwert motiviertes Handeln fremd. Das Vergessen der »einzelnen Zwecke«, wie es der Erzähler den Massen zuschreibt, wenn sie sich zeitweilig »als Teile des Ganzen fühlen« (39), wäre i m Falle Jakobs nie notwendig gewesen; nur einmal spricht er von dem »Nutzen«, den er aus dem Bekanntwerden mit Barbara für seinen »Wunsch« zu ziehen gedachte, ihres Liedes habhaft zu werden (57). Ansonsten sind seine einen Nutzen erwähnenden Äußerungen noch kritisch: Die Gewerbsleute, und er spricht hier auch von Barbara, wüßten »alles zu ihrem Vorteile zu benutzen« und brächten ihre Feilschaften ins Amtsgebäude (56). Es ist auch Barbara, die — als Jakob beim Abschied ihre Hand faßt — aufsteht und in »gefaßtem Tone« einwirft: »Was nützt das alles? es ist nun einmal so. Sie haben es selbst gewollt, sich und uns haben sie unglücklich gemacht [ . . . ] « ; und es folgt ihr Tadel an seinem mangelnden Ordnungssinn (75). 2 9 Nach der von Barbara zuwege gebrachten Trennung versucht sich Jakob in seiner Ordnungssuche zuerst an der »Musik«, nun also an einer der Ordnung unterworfenen Tonfolge. Aus dem auf diese A r t angeeigneten Wissen w i l l er dann einen »Vorteil« ziehen. Hierbei erfüllt er sich seinen schon ehemals ausgedrückten Wunsch des Kopierens von »Musikalien«, was von Barbara emphatisch als »Albernheiten« abgetan wurde (72): 3 0 »Wie es nun mit mir immer mehr herabkam, beschloß ich durch Musik

mein

Fortkommen zu suchen; und so lange der Rest meines Geldes währte, übte und studierte ich mir die Werke großer Meister, vorzüglich der alten, ein, welche ich abschrieb; und, als nun der letzte Groschen ausgegeben war, schickte ich mich an, von meinen Kenntnissen Vorteil zu ziehen, und zwar anfangs in geschlossenen Gesellschaften, wozu ein Gastgebot i m Hause meiner Mietfrau den ersten Anlaß gab.« (76 f.)

Die Tatsache, daß seine Auftritte »keinen Anklang« fanden, schiebt er auf fehlendes Verständnis der Leute an den Kompositionen, nicht auf sein dilettantisches Kratzen. Nichts deutet darauf hin, daß der Spielmann die Stücke auch auf der Geige eingeübt hätte. Vielleicht ahnt er aber die Wahrheit, denn als nächste Station wählt er »die Höfe der Häuser, da unter so vielen Bewohnern doch Einige 29 I n Anbetracht dieser Worte Barbaras, in denen sie sich ebenfalls unglücklich nennt, scheint Jakobs »selige Empfindung« nach ihrer gleich darauf stattfindenden Heirat (76) unangebracht und einer Fehleinschätzung zu unterliegen. 30 Selbstverständlich folgt er noch seiner »Lust«, denn als »Abschreiber« war er in der Kanzlei »recht« an seinem Platze: »Ich hatte immer das Schreiben mit Lust getrieben«, und »Musiknoten sind nun gar überaus schön« (53).

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sein mochten, die das Ernste zu schätzen wußten«. Zuletzt erst stellt er sich »auf die öffentlichen Spaziergänge«, wo, wie er sagt, er »denn wirklich die Befriedigung hatte, daß Einzelne stehen blieben, zuhörten, mich befragten und nicht ohne Anteil weiter gingen«. Kunstvoll umschreibt dieser Satz, daß Jakob von den Leuten bemitleidet wird. Sollte Jakob die Reaktion der Zuhörer wirklich falsch verstanden haben, dann w o h l deshalb, weil er nur auf der Basis eines solchen Selbstbetrugs bestehen kann. Hier setzt dann sein Zweckdenken ein, allerdings mit einem entschuldigenden Fingerzeig auf »berühmte Virtuosen«: »Daß sie [die Leute] mir dabei Geld hinlegten, beschämte mich nicht. Denn einmal war gerade das mein Zweck, dann sah ich auch, daß berühmte Virtuosen, welche erreicht zu haben ich mir nicht schmeicheln konnte, sich für ihre Leistungen, und mitunter sehr hoch, honorieren ließen. So habe ich mich, obzwar ärmlich, aber redlich fortgebracht bis diesen Tag.« (77)

Der Besuch des Erzählers in der Gärtnergasse nach der Überschwemmung entspringt dem Wunsch, seinen Anteil an einer in Gang gebrachten Kollekte persönlich an die ihn »zunächst angehende Adresse zu befördern«. 31 Hier erfährt er von Jakobs Tod, der insofern wie H o h n wirken muß, als der Spielmann für Dinge starb, die er zeit seines Lebens nie verstand. Hierin liegt seine Tragik. Die glücklichste Episode seines Lebens begann mit einer »ins Riesenhafte« gehenden Ohrfeige und erreichte einen Höhepunkt mit dem Kuß, den er Barbara heftig »durch das Glas« des Türfensters zurückgab (69); und sein Leben endet, nachdem er zuletzt die einer anderen Person gehörenden Steuerbücher und etwas Papiergeld zu retten versucht: 3 2 »Die ehrliche Seele saß da oben sicher in seiner Kammer. Als aber das Wasser kam und er die Kinder schreien hörte, da sprang er herunter und rettete und schleppte, und trug und brachte in Sicherheit, daß i h m der Atem ging wie ein Schmiedegebläs. Ja — wie man denn nicht überall seine Augen haben kann — als sich ganz zuletzt zeigte, daß mein Mann seine Steuerbücher und die paar Gulden Papiergeld i m Wandschrank vergessen hatte, nahm der Alte ein Beil, ging ins Wasser, das i h m schon an die Brust reichte, erbrach den Schrank und brachte alles treulich. Da hatte er sich w o h l verkältet [ . . . ] . « (79)

31 Es ist falsch, daß, wie Benno v o n Wiese behauptet, der Erzähler eine »Hilfskollekte [ . . . ] gesammelt hat und i h m bringen will«; v. Wiese, S. 143. 32 Die nichtdifferenzierende Reihung der Verben (sprang /rettete / schleppte /trug/ brachte [ . . . ] ) macht m. E. deutlich, daß das »Retten« sich auf Gegenstände beschränkte, nicht dagegen, wie immer wieder behauptet wird, daß Jakob die Kinder gerettet haben sollte, da die Eltern ja zugegen waren. Benno von Wiese bringt sogar — selektiv — die »christliche« Nächstenliebe ins Spiel: »Wohl ist dieser T o d eine Tat der christlichen Nächstenliebe, denn er rettet die Kinder und denkt dabei nicht an sich selbst«; v. Wiese, S. 147. Die Rettung der Kinder betonte w o h l zuerst Anna Charlotte Wutzky, Grillpar%er und die Musik (Regensburg, 1940), S. 114-120, und wurde dann wiederholt aufgegriffen (u.a. v o n J. P. Stern, 1964; Heinz Politzer, 1967; Anna Gutmann, 1967; Günther Jungbluth, 1969; Ronald Heine, 1972; usf.).

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Jakobs T o d ist aber auch Heimkehr. Eine Ursache ist die Gewalt der Donau. Z u Beginn der Erzählung kämpft Jakob gegen den Strom einer zeitweilig entfesselten Menschenmenge an, deren »geschwollnere Woge [ . . . ] sich ergießend in Alles deckender Überschwemmung« (37) er flieht »als Einer der heimkehrt« (41). Die Donau hingegen folgt den menschlichem Ordnungsdenken sich nicht fügenden Naturgesetzen. I n diese naturbedingte Überschwemmung, der andere zu entfliehen versuchen, begibt sich Jakob bedenkenlos hinein. Damit wiederholt sich am Ende die Gegenläufigkeit unter umgekehrten Vorzeichen.

III. Nachklang Die beiden Schlußabsätze akzentuieren noch einmal das Widerspiel von Ordnung (und in Verbindung hiermit auch der Zeit und des Geldes) auf der einen Seite und der natürlichen Empfindung und Innerlichkeit auf der anderen. I n der Dachstube, die Jakob bewohnt hatte und in der nun der Sarg steht, trifft der Erzähler auf Barbara, die »Frau Fleischermeisterin« (79). 3 3 Ihr Ordnungsdenken zeigt sich in den an ihre Kinder gerichteten Anweisungen: V o r ihr standen zwei ziemlich erwachsene Kinder, ein Bursche und ein Mädchen, denen sie offenbar Unterricht gab, wie sie sich beim Leichenzuge zu benehmen hätten. Eben als ich eintrat, stieß sie dem Knaben, der sich ziemlich tölpisch auf den Sarg gelehnt hatte, den A r m herunter, und glättete sorgfältig die herausstehenden Kanten des Leichentuchs wieder zurecht. (80)

Bevor die Gärtnersfrau den Erzähler vorstellen kann, fangen »unten die Posaunen an zu blasen, und zugleich erscholl die Stimme des Fleischers von der Straße herauf: Barbara, es ist Zeit!«. Die Prozession folgt genau den etablierten Regeln: [ . . . ] der Z u g setzte sich in Bewegung. Voraus die Schuljugend mit Kreuz und Fahne, der Geistliche mit dem Kirchendiener. Unmittelbar nach dem Sarge die beiden Kinder des Fleischers und hinter ihnen das Ehepaar. Der Mann bewegte unausgesetzt, als in Andacht, die Lippen, sah aber dabei links und rechts um sich. Die Frau las eifrig in ihrem Gebetbuche, nur machten ihr die beiden Kinder zu schaffen, die sie einmal vorschob, dann wieder zurückhielt, wie ihr denn überhaupt die Ordnung des Leichenzuges sehr am Herzen zu liegen schien. (80)

Die Schilderung des Fleischers zeigt, daß er rein mechanisch der Konvention gehorcht, seine »Andacht« aber fingiert ist. Da Barbara, trotz ihres Bedachtseins auf Ordnung, immer wieder »zu ihrem Buche« zurückkehrt, darf man auf 33

Falsch ist die Behauptung Sterns, der Spielmann hätte die letzten Jahre seines Lebens bei Barbara gewohnt. Jene bestand vielmehr nur darauf, die Beerdigungskosten zu bestreiten, und arrangiert deshalb die Feierlichkeiten. Vgl. J. P. Stern, Re-interpretations : Seven Studies in Nineteenth-Century German Literature (New Y o r k , 1964), S. 76. 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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wirkliche innere Teilnahme schließen. Als die Kinder und der Fleischer, wie es üblich ist, etwas Erde auf den Sarg werfen, kniet Barbara am Grabe und hält ihr Buch »nahe an die Augen«, w o h l in dem Bemühen, ihre Gefühle zu verbergen. Allerdings zögert sie nicht, bei Beendigung des »Geschäfts« der Totengräber sich in »einen kleinen Wortwechsel« mit dem Leichenbesorger einzulassen, dessen »Forderung« sie »offenbar zu hoch fand« (80). Einige Tage später folgt der Erzähler seiner »psychologischen Neugierde« (80), und hier schließt sich der Kreis der Erzählung. Er besucht die Fleischerfamilie unter dem Vorwand, daß er »die Geige des Alten als Andenken zu besitzen wünschte.« Die Szene bei seinem Eintritt beschreibt er wie folgt: Ich fand die Familie beisammen ohne Spur eines zurückgebliebenen

besondern

Eindrucks. D o c h hing die Geige mit einer A r t Symmetrie geordnet neben dem Spiegel und einem Kruzifix gegenüber an der Wand. (81)

So rückt aufs neue die >Ordnung< in den Vordergrund, doch fällt auch auf, daß der sich i m Spiegel betrachtende Mensch sozusagen flankiert ist von zwei Gegenständen, denen auf Grund ihrer Anordnung der gleiche Wert zugesprochen scheint. Man erinnert sich, daß Jakob die Geige als »das holde Gotteswesen« kennzeichnete und implizierte, er spiele »den lieben Gott« (55). Der i m Spiegel reflektierte Betrachter sieht sich nunmehr zwischen Kruzifix und Geige, also gewissermaßen in einem Spannungsverhältnis, deren eine Seite die Religion des Christentums darstellt; die andere Seite steht für eine Lebensführung, für die der »Ton« symbolisch ist, sei es i m Sinne einer pythagoreischen Grundhaltung oder auch verbunden mit einer Naturordnung, die als saturnalisch oder, nach konventionellen Maßstäben, als chaotisch bezeichnet werden darf. 3 4 Da der Erzähler für die Geige »einen verhältnismäßig hohen Preis anbot«, hat es den Anschein, sie habe für ihn einen außergewöhnlichen Erinnerungswert. Der Fleischer schien [ . . . ] nicht abgeneigt, ein vorteilhaftes Geschäft zu machen. Die Frau aber fuhr v o m Stuhle empor und sagte: »Warum nicht gar! Die Geige gehört unserem Jakob, und auf 34 Die merkwürdige Anordnung der Gegenstände bemerkte schon Politzer, der sich allerdings bemühte, hier eine Synthese herauszuarbeiten: »Seltsam ist nur das Arrangement der Gegenstände, die da, vermutlich der Eingangstür gegenüber, an der Wand hängen. Dem Kreuz ist nun die Geige gleichgeordnet, so als spielte der Spielmann auf dem verstummten Instrument noch immer den lieben Gott«. Heinz Politzer, Fran% Grillpar^ers »Der arme Spielmann« (Stuttgart, 1967: Erkenntnis und Interesse 2), S. 56. Falsch ist m. E. der Deutungsansatz v o n James L . Hodge, der versucht, das Kruzefix so dem Spiegel gegenüber zu plazieren, daß es nur i m Spiegel sichtbar ist und der Mensch bei dessen direkter Betrachtung sowohl dem Spiegel als auch der Geige den Rücken zukehren muß. Hiermit umsteuert Hodge die wertmäßige Gleichsetzung der Gegenstände. Siehe James L . Hodge, »Symmetry and Tension in >Der arme SpielmannLosgebundenheit der Lust< bei gleichzeitigem Festhalten an den anerzogenen Ordnungsregeln.

Porträtphoto René Schickeies, beigegeben dem Artikel v o n Stephan Großmann, »René Schickele«, i n : Die Dame (Berlin) Jg. 44, H.19, Anfang Juli 1917, S.S.

»Cher maître«: Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland mit einigen ergänzenden Dokumenten V o n Julie

Meyer-Boghardt G e w i d m e t Renée B a r t h , née Schickele.

Der Briefwechsel ist sehr fragmentarisch, nicht nur weil einige Briefe verloren sind, sondern auch weil zwischen den sehr kurzen Perioden eines Austauschs große Pausen liegen. Was die Briefpartner zueinander brachte, war die Notwendigkeit gemeinsamer A k t i o n , was sie trennte, die unterschiedliche Auffassung davon, wie die leitende Idee ihres revolutionären Pazifismus auf die zeitgenössische Politische Wirklichkeit anzuwenden sei.

I Des G r e n z l ä n d e r s René Schickele ( 1 8 8 3 - 1 9 4 0 ) pazifistisches K o n z e p t eines »geistigen Elsässertums« 1 , das die p r o v i n z i e l l e E n g e seiner v o n d e n Siegern D e u t s c h l a n d u n d F r a n k r e i c h a b w e c h s e l n d u n t e r d r ü c k t e n H e i m a t transzendieren sollte, u m beide L ä n d e r z u v e r b i n d e n u n d d a m i t d e n als europäischen B r u d e r k r i e g d e n u n z i e r t e n ersten W e l t k r i e g u n m ö g l i c h z u m a c h e n , f a n d n a c h der K a t a s t r o p h e a u s d r ü c k l i c h seine G r e n z e i n e i n e m E u r o p ä e r t u m , das die neue Sowjetmacht ausschloß.2 Sein » I m p e r i a l i s m u s des Geistes« v o n 1914 u n d sein »geistiges Freischärlert u m « v o n 1915 hatte n i c h t w e n i g e r als die V e r m i t t l u n g der r e p u b l i k a n i s c h e n 1 V g l . dazu meine Dissertation Vom elsässischen Kunstfrühling %ur utopischen Civitas Hominum. Jugendstil u. Expressionismus hei R. Schickele ( 1900-1920), München 1981, S. 3637, zum folgenden S. 28-38 u. S. 100-106. Ferner Finck, Adrien: Introduction à l'oeuvre de René Schickele, Strasbourg 1982, S. 19-28 »La mission alsacienne«. 2 Vgl. Schickele, R. : »Was ist mit Dostojewski?« (1921) aufgenommen in: Wir wollen nicht sterben! (1922), jetzt: Schickele, R.: Werke in drei Bänden, hrsg. Kesten, Hermann, Köln-Berlin 1959-61, Bd. I I I , S. 520-31. 1924 trat Schickele der >Paneuropäischen Union< des Grafen Coudenhove-Kalergi bei, vgl. dessen Brief aus Wien v. 30. 6.1924 an Schickele (unveröffentl. i. Besitz d. Deutschen Literaturarchivs Marbach a.N. = i m folgenden D L V Marbach), der für den Beitritt dankt. Der Mäzen u. Freund Schickeies, Harry Graf Keßler empfand das Konzept der Paneurop. Union als zu eng, weil es die Sowjetunion ausschloß (vgl. Tagebücher 1918-37, hrsg. Pfeiffer-Belli, Wolfg., Frankf. a. M . 4 1979, S. 703.). Derselben Meinung war Rolland (vgl. Albertini, Jean : Romain Rolland. Textes choisis, Paris 1970, S. 78.).

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Julie Meyer-Boghardt

Staatsauffassung Frankreichs und die Vorbereitung der Revolution i m kaiserlichen Deutschland zum Ziel gehabt. Nach dem Erlebnis der Revolution von 1918 bekannte er sich aber zu einem vollständigen »Abschwur jeglicher Gewalt«. 3 Angesichts der Verfolgung und Ausschaltung aller nicht bolschewistischen revolutionären Gruppen durch Lenin und vor Augen die Neuorganisation des militärischen Apparates durch Trotzki, in dem er den heraufkommenden Bonaparte sah, schien ihm die Ausgrenzung Rußlands geradezu die Voraussetzung für die Entwicklung eines zukünftigen Sozialismus mit menschlichem Angesicht, wie er ihn i m nachrevolutionären besiegten Deutschland verwirklicht sah und für das ganze — ihm noch sehr kapitalistisch erscheinende — Europa ersehnte. 4 Daß dieser optimistische Glaube an das künftige Europa der Deutschen und Franzosen, in dem auch der elsässisch-französische Kleinkrieg 5 der Zwanziger Jahre aufgehoben sein würde, 1933 als Irrtum erkennbar wurde, macht die Tragik seiner letzten Jahre aus. Nach der Flucht aus Deutschland schien nur noch die Flucht aus Europa übrig zu bleiben. Aber der innerlich zu Tode Gehetzte starb am 31.1. 1940 in Südfrankreich, wenige Tage bevor das Schiff aus dem Hafen von Marseille auslief. 6 Es brachte nur seine Frau in die Vereinigten Staaten, wo sie von beiden vorangereisten Söhnen erwartet wurde. Seine ehemalige Freundin, politisch radikaler als er schon 1916, jetzt als Sozialistin und jüdische Ärztin von den Nazis verfolgt, 7 ein schweres, mühsames Emigrantenleben fristend mit ihrer

3 Das Gedicht »Abschwur« druckte Schickele zuerst i m Juniheft 1919 seiner Zeitschrift Die weißen Blätter, der Stellenwert dieses Zeitspruchs in seinem spätexpressionistischen Werk kann nicht überschätzt werden. 4

Schickeies grundsätzliche Stellungnahme zur deutschen Revolution von 1918 enthält auch seine Entscheidung f ü r Kautsky und g e g e n Lenin vgl. »Revolution, Bolschewismus und das Ideal«. I n : Die weißen Blätter, Dezember 1918, zusammen mit dem für unseren Zusammenhang besonders aufschlußreichen »Nachwort« in dem Zeitbuch Der neunte November, Berlin 1919. Vgl. dazu meine A n m . 1 angeführte Diss. S. 150-158. 5 Z u m K a m p f um die deutsche Muttersprache u. ihre Unterdrückung durch die Zentralbürokratie in Paris bis hin zum Autonomistenprozeß v o n Colmar (1928) und der späten Gegen-Reaktion in den Dreißiger Jahren vgl. Rothenberger, Karl-Heinz : Die elsaßlothringische Heimat- und Autonomiebewegung %wischen den Weltkriegen, Bern—Frankf. a. M . — München 1976 u. Grünewald, Irmg. : Die Elsaß-Lothringer im Reich 1918-33, Frankf. a. M . — B e r n — N e w Y o r k — N a n c y 1984. Z u Schickeies Situation vgl. Finck (Anm. 1) S. 7993, ferner Fichter, Charles : »René Schickele et Tautonomisme alsacien des années 20« in : Finck/Staiber (Anm. 22) 126-143. 6 Vgl. René Schickele. Leben u. Werk in Dokumenten. I . A . d . Literar. Gesellschaft (Scheffelbund) hrsg. Bentmann, Friedr., Nürnberg 1974, S. 220-23. Ferner verdanke ich die Mitteilung der Situation vor der Abreise nach Amerika Frau Anna Schickele selbst, als ich sie 1972 in Badenweiler besuchte. 7

I n einem Aufsatz bin ich der Frage nach Lebensdaten der »roten Frau« nachgegangen, vgl. Madonna-Kore und Mänade. Zeugnisse z. Wandel d. Frauenbildes i m Werk René

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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u n d Schickeies T o c h t e r , erfährt seinen T o d i n P a r i s . 8 E r s t n a c h d e m F a l l v o n Paris e n t k o m m t a u c h sie m i t K i n d u n d E n k e l k i n d a u f abenteuerlichen U m w e g e n den Verfolgern nach A m e r i k a . 9

II R o m a i n R o l l a n d ( 1 8 6 6 - 1 9 4 4 ) s t a m m t , w i e er i m m e r w i e d e r b e t o n t e , aus der M i t t e F r a n k r e i c h s , aus B u r g u n d . V o m V a t e r her w a r er N a c h f a h r e j a k o b i n i s c h gesinnter A d v o k a t e n , deren erster an der A u s b r e i t u n g der g r o ß e n französischen R e v o l u t i o n m i t g e w i r k t hatte. I h m , d e m S o h n , w a r das, w i e er später e i n e m a m e r i k a n i s c h e n F r e u n d b e k a n n t e , ins B l u t gegangen. V o n d e r M u t t e r w u r d e er i n der jansenistischen T r a d i t i o n v o n P o r t R o y a l u n d m i t der V o r l i e b e f ü r deutsche M u s i k e r z o g e n . 1 0 I n einer ersten, k u r z e n , 1901 geschiedenen E h e w a r er m i t einer französischen J ü d i n , 1 1 i n z w e i t e r seit 1934 m i t einer russischen K o m m u n i s t i n verheiratet. Sie ist es, die, w i e erst n a c h i h r e m T o d e w e i t e r e n K r e i s e n b e k a n n t w u r d e , i m Jahre 1940 z u m k a t h o l i s c h e n G l a u b e n ü b e r t r a t , n a c h d e m sie seit m e h r e r e n J a h r e n v e r s u c h t hatte, R o l l a n d u n d seinen J u g e n d f r e u n d P a u l C l a u d e l Schickeies zwischen 1907 und 1917. I n : Literaturwiss. Jahrbuch. N . F 17 (1976), S. 191 —246. Vgl. jetzt auch meinen Beitrag : René Schickeies Anti-Muse. I n : Recherches Germaniques N ° 18, 1988, S. 103-120. 8 Nach freundlicher Mitteilung v o n Frau Renée Barth in ihrem Brief v o m 14. 2.1987. Sie schreibt : »Wir waren in Paris ; wer immer uns benachrichtigt hat, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich, bei einer Gedenkfeier in diesem Winter in Paris für René Schickele anwesend gewesen zu sein.« 9 Freundliche Auskunft v o n Frau Renée Barth bei einem Gespräch i m August 1985. Wie sie i m Jahre 1938 nach französischem Gesetz als Tochter René Schickeies »reintegriert« wurde — denn v o m Vater anerkannt war sie schon in der Schweiz, hätte also seinen Namen und seine Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie nicht nach deutschem Recht, da sie bei der Mutter in Berlin lebte, offiziell deren Mädchennamen hätte tragen müssen — , schilderte sie folgendermaßen : »Als Renate Mai, staatenlos, reingegangen [in die Mairie von M u t z i g i. Elsaß], rausgekommen als Renée Schickele, Française.« Seit der Heirat i m Oktober 1938 heißt sie: Renée Barth, née Renée Schickele. 10 »He had a passionate interest in the French Revolution. >It has passed into my blood,< he wrote to me ;« vgl. Klein, John W . : »Romain Rolland«. I n : Musik and Letters vol. X X V N ° 1 (Januar 1944), S. 13-22, dort S. 21. Neben treffenden Bemerkungen wie die über Rollands Humorlosigkeit (S. 16) finden sich gravierende Irrtümer z.B. über Rollands T o d 1943 (sie!) in einem deutschen Konzentrationslager. Z u r Biographie deshalb folgende Werke: Götzfried, H . L . : Romain Rolland. Das Weltbild i. Spiegel seiner Werke, Stuttg. 1931 ; Mentel, Marianne: Romain Rolland u.d. bild. Kunst, Salzb. 1966; Hellwig, Hans: Romain Rolland. Ein Lebensbild, Lübeck 1947 ; Barrère, Jean-Bertrand : Romain Rolland par lui-même, Paris 1966. 11

Hellwig (Anm. 10) S. 113 referiert Rollands A n t w o r t an einen jungen Nationalsozialisten, der über sein Ariertum dissertieren wollte. Sie läuft auf die Pointe hinaus : »Überdies sei seine erste Frau eine französische Jüdin gewesen und seine zweite eine russische Kommunistin.«

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einander w i e d e r z u n ä h e r n . 1 2 D a m i t w e r d e n i n d i r e k t B e r i c h t e ü b e r R o l l a n d s späte R ü c k w e n d u n g z u m c h r i s t l i c h e n G l a u b e n u n d seine A b l e h n u n g , der k o m m u n i s t i schen Partei F r a n k r e i c h s b e i z u t r e t e n , b e s t ä t i g t . 1 3 D e n k b a r ist die innere A b w e n d u n g v o m K o m m u n i s m u s n u r als R e a k t i o n a u f d e n H i t l e r - S t a l i n - P a k t , das h e i ß t , als die T r e u e , die R o l l a n d d e n K o m m u n i s t e n F r a n k r e i c h s u n d der S o w j e t u n i o n i n einer k a u m m e h r z u v e r a n t w o r t e n d e n Weise gehalten

hatte,14

einseitig

von

Moskau

verraten

wurde.

Der

Führer

der

französischen K o m m u n i s t e n M a u r i c e T h o r e z , m i t R o l l a n d befreundet seit der französischen V o l k s f r o n t p o l i t i k 1 5 u n d einer d e r j e n i g e n , die einen der l e t z t e n 12 Die in unserer Anm. 10 genannten biographischen Werke v o n Hellwig und Barrère weisen bereits darauf hin. Eine Gesamtwürdigung und genaue Darstellung der Vorgänge gibt die Predigt anläßlich der Trauerfeier für Madame Rolland : »Homélie prononcée par le Père de Paillerets aux obsèques de Marie Romain Rolland, le 3 mai 1985«. I n : Bulletin nos 147-150 (Années 1984-85) der »Association des Amis du Fonds Romain Rolland (Paris)«, S. 6-8. Die Korrespondenz mit Claudel sei zunächst sehr dornenreich (épineuse) gewesen, aber ihr Beitritt zur katholischen Kirche i m Jahre 1940 »pleinement réfléchie«, auf der Suche nach Gott habe sie sich in die Bibel und Meister Eckhart versenkt. 13

Als ich i m Sommer 1968 bei Madame Rolland in Paris wohnte, betonte sie immer wieder in Gesprächen, der Schriftsteller Louis Aragon habe versucht, den alten Rolland auf dem Krankenbett zum Eintritt in die kommunistische Partei zu bewegen. Aber Rolland habe trotz aller Freundschaft den letzten Schritt n i c h t getan. 14

Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, den Führer der französischen Kommunisten Maurice Thorez einen »Ehrenproletarier« zu nennen wie Franz Borkenau : Der europäische Kommunismus. Seine Geschichte von 1917bis %ur Gegenwart, München o. J., S. 57, so stutzt man doch, v o n einem Rolland nahestehenden Kommunisten wie Marcel Cachin zu lesen : »Er hatte sich als Vermittler zwischen der französischen Regierung und Mussolini betätigt und dabei französisches Regierungsgeld benützt oder jedenfalls über seine Verwendung verhandelt — und so zum Bruch Mussolinis mit dem italienischen Sozialismus und zum Eintritt Italiens in den Krieg beigetragen.« (Ebenda S. 85). Nachdem er 1919 diese Vergangenheit abgestreift hatte, machte er Karriere in der PCF und in Moskau (ebenda). Rolland, den ein Photo von 1936 zusammen mit Cachin bei der Aufführung seines Stücks >Le 14 juillet< zeigt, vgl. Barrère (Anm. 10), S. 157, dürfte nicht geahnt haben, wie austauschbar für Kommunisten v o m Schlage Cachins linker und rechter Radikalismus waren. Thorez' Laufbahn als Parteibürokrat scheint sich in erster Linie seiner Servilität Moskau gegenüber zu verdanken, wie sich die Volksfrontpolitik immer mehr durch die Volksfronttaktik der Komintern gestört sah, die zur Allianz v o n den Kommunisten mit der äußersten Rechten tendierte, vgl. Borkenau, Zweiter Teil: »Volksfront«, besonders Kap. I V , »Die Komintern u. d. Volksfront«. Vielleicht war diese Taktik aber für den Zeitgenossen Rolland ebenso schwer erkennbar wie die Vorgänge in Rußland, die 1936 zu den Schauprozessen führten. Nicht zufallig w o h l entstand i m Jahre 1938 Rollands letztes Revolutionsdrama >RobespierreMaja läuft in Moskau herum, und sie müssen ihr von mir erzählt haben: Was würde es ihn (Rolland) kosten, Stalin um meine Begnadigung zu bitten ?< O. M . konnte und wollte nicht glauben, daß sich professionelle Humanisten nicht für das Schicksal v o n Einzelpersonen interessieren, sondern nur für die Menschheit allgemein.« Mandelstam kam in einem Straflager um. Dennoch bemerkt seine Witwe rückblickend: »Der Gerechtigkeit halber muß i m Zusammenhang mit Romain Rolland gesagt werden, daß er während seines Aufenthalts in Moskau eine Erleichterung für die in die >Wörterbuchaffare< verwickelten

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die aus den Erfahrungen von dessen Moskaureise hervorging, streng zurück, was Gide zu erbitterten Warnungen veranlaßte. 21

III Schickele äußerte sich um diese Zeit nicht mehr öffentlich über Rolland, seine letzte inoffizielle Äußerung voll unterdrückter Empörung findet sich in einem Brief an Stefan Zweig v o m 11.9. 1934. 22 Thomas Mann schrieb er 1933 noch freimütiger: ».... ein Romain Rolland kann tun, was er will: neben der e c c l e s i a m i l i t a n s bleibt er ein Mann des Gebets, ein Klosterbruder, dem vor dem Blutvergießen schaudert, sobald er es tatsächlich s i e h t . . .«. 23 Dieses Urteil des von Rolland persönlich enttäuschten 24 Schickele war — wie die postumen Zeugnisse lehren — vielleicht klarsichtiger als das vieler Anhänger oder Feinde Rollands. Als er es formulierte, kannte er das Werk des Schriftstellers und Zeitkritikers seit 30 Jahren: der strenge Antwortbrief des Moralisten Tolstoi von 1886 an den jungen Ästheten Rolland war als Zeugnis für die daraus folgende Bekehrung Rollands zum gesellschaftskritisch engagierten Schriftsteller in den Cahiers de la Quin^aine, die der Schüler Schickele i n der Straßburger Universitätsbibliothek verschlang, 25 bereits abgedruckt worden, ebenso Das Leben Beethovens von Rolland, als 1903 der junge Elsässer bei seiner ersten Reise nach Paris den Häftlinge erwirkte.« Mandelstam, Nadeschda : Das Jahrhundert der Wolfe. phie. Aus dem Russischen v. E. Mahler, Frankf. a. M . 1971, S. 435-436.

Eine Autobiogra-

21 V g l . Roloff, Ernst-August : Exkommunisten. Abtrünnige d. Weltkommunismus. Ihr Leben u. ihr Bruch mit d. Partei in Selbstdarstellungen, Mainz (1969), S. 323 u. S. 325 Gide an die Adresse Rollands : »Früh oder spät werden eure Augen sich öffnen ; sie werden gezwungen sein, sich zu öffnen! U n d dann werdet ihr euch fragen, ihr, die Ehrlichen: wie haben w i r sie so lange geschlossen halten können?« Eine vielleicht noch schwererwiegende Anklage formuliert der Ex-Kommunist Victor Serge {Beruf: Revolutionär, Frankf. a.M. 1967, S. 376): »Ich schrieb i h m : >Heute [1936] beginnt in Moskau ein Prozeß . . . Schluß mit dem Blut über diese arme massakrierte R e v o l u t i o n . . . Sie sind der einzige, der in der U. d. S. S. R. eine moralische Autorität besitzt, die es Ihnen erlaubt einzuschreiten, die Sie zwingt, einzuschreiten !< Romain Rolland schwieg; es folgten dreizehn Hinrichtungen.« — Soweit die Anklagen. Auch Rollands Stiefsohn befand sich in Sowjetrußland. E r fiel i m 2. Weltkrieg gegen Deutschland. Hatte Rolland geschwiegen, um ihn nicht zu gefährden? 22 V g l . Schickele : Werke (Anm. 2) I I I , S. 1206 -1210. Dazu und zum folgenden verweise ich auf mein Referat: »René Schickele und Romain Rolland«. I n : Elsässer, Europäer, Pazifist. Studien René Schickele. Hrsg. v. Adrien Finck u. Maryse Staiber, Kehl 1984, S. 94125. 23

Schickele : Werke (Anm. 2) I I I , S. 1179-82 Schlußsatz, Hervorhebungen v o n Schicke-

24

Ebenda S. 1181.

le. 25

Vgl. die anschauliche Schilderung in Schickeies »Romain Rolland«. I n : Schickele: Werke (Anm. 2) S. 681-99, dort S. 697.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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B u c h l a d e n der Cahiers besuchte, w o er z w a r n i c h t R o l l a n d selbst, aber d o c h P é g u y u n d andere seiner F r e u n d e a n t r a f . 2 6 A u c h d e n i n F o r t s e t z u n g e n i n d e n Cahiers p u b l i z i e r t e n Z y k l e n r o m a n Jean-Christophe

las er später. Reflexe der

Motive

R o l l a n d s w i e das B i l d des b r e n n e n d e n D o r n b u s c h s 2 7 u n d die u m i n t e r p r e t i e r t e C h r i s t o p h o r u s g e s t a l t 2 8 , f i n d e n sich i m F r ü h w e r k Schickeies. I n seiner a n t i k l e r i kalen E m p ö r u n g

ü b e r die P o l i t i k

der K u r i e g e g e n ü b e r d e n

französischen

K a t h o l i k e n , z . B . M a r c S a g n i e r 2 9 , t r a f sich Schickeies Z e i t g e d i c h t » D e r Papst« (1910) m i t R o l l a n d s D i s t a n z i e r u n g v o m C h r i s t e n t u m u n d H i n w e n d u n g

zum

Sozialismus eines Jean Jaurès. N i c h t s l a g also näher, als daß Schickele R o l l a n d s A n t i k r i e g s a r t i k e l , die 1915 g e s a m m e l t u n t e r d e m T i t e l Au-dessus

de la mêlée erschienen, als

Vorbilder

eines k ä m p f e r i s c h e n Pazifismus v e r s t a n d , deren Verfasser i h m als der w i c h t i g s t e Bundesgenosse ü b e r h a u p t erscheinen m u ß t e . N a c h d e m d u r c h die V e r m i t t l u n g der D e u t s c h - F r a n z ö s i n A n n e t t e K o l b K o n t a k t a u f g e n o m m e n w a r 3 0 u n d Schicke26

Ebenda, vgl. ferner meine Diss. (Anm. 1) S. 38 u. S. 109.

27

Das zweite »Buch« i m letzten Band des Romanzyklus Jean-Christophe beschwört i m Titel das biblische Bild des brennenden Dornbuschs, u m damit die Intensität des Lebens auszudrücken. I n sehr ähnlicher Funktion erscheint das M o t i v in Schickeies Gedicht : »Das doppelte Gesicht. E i n Seelenbild.« I n : Schickele, R. : Weiß und Rot, Berlin 1910, S. 100, vgl. zu dem hier gestalteten Schlüsselerlebnis meinen Aufsatz : »Madonna-Kore und Mänade« (Anm. 7) S. 198, dort auch S. 231 Zitat aus dem Roman Benkai, der Frauentröster, der das M o t i v als Bild des Lebensrausches schlechthin benutzt, vgl. dazu meine Diss. (Anm. 1) S. 205. 28

Die allegorisch-utopische Umdeutung der christlichen Legendengestalt am Schluß des Romanzyklus Jean-Christophe erscheint vorbildlich für Schickeies Gestaltung der Figur des Pedroso in seinem spätexpressionistischen Theaterstück Am Glockenturm (1919) vgl. dazu meine Diss. S. 228. 29 Vgl. Schewe, Gerhard : Vom bürgerlichen Krisenbewußtsein %ur Anerkennung der sozialistischen Revolution. — Weltanschauliche u. ästhet. Probleme i m Humanismusbild Romain Rollands, masch. Diss., Berlin Humboldtuniv. 1971, S. 36 Rolland an Chateaubriand unter dem 10. 9. 1910 über Marc Sagnier. Schickele beschäftigte sich sehr ausführlich mit dem Thema in den Artikeln: »Der Machtkampf der Kurie« (16.9. 1910) u. »Pariser kleine Chronik« (24. 9. 1910) in der Straßburger Neuen Zeitung, vgl. dazu meine Diss. (Anm. 1) S. 104, ferner Abschn. : A u f dem Weg zur »Politik der Geistigen«, ebenda S. 106-109. I n diesem Zusammenhang möchte ich eine irrtümliche Formulierung korrigieren, die mir in meiner Dissertation (S. 303, A n m . 1) unterlaufen ist, w o ich v o n Schickele als dem »Zögling >einer Jesuitenschule< « spreche. I m Elsaß konnte es nach dem deutschen Gesetz v o m 12. 5. 1872, das die Kongregation des Landes verwies, kein Jesuitenkolleg geben, in Zabern hatten sie auch vorher nie Fuß fassen können. Diese klärenden Hinweise verdanke ich einem Gespräch mit Herrn Prof. Jean-Marie Valentin (Paris), i m Herbst 1983 in Nancy. — O b Schickele nicht Beziehungen zu Jesuitenschülern oder -Schulen jenseits der damaligen deutschen Grenzen hatte, ist eine andere Frage. 30

Wie der hier abgedruckte Brief v o n Annette K o l b an Romain Rolland v. 8. 3. 1915 recht deutlich macht. Z u r wichtigen Rolle v o n Annette K o l b vgl. meinen Aufsatz >René Schickele und Romain Rolland< (Anm. 22) S. 99-102, dazu die Anmerkungen 42-62 mit Briefzitaten.

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les Zeitschrift Die weißen Blätter Rollands Beifall gefunden hatte, 3 1 besuchte er selbst nach seiner Flucht aus Deutschland Rolland in dessen Exil am Genfer See. Die sehr kurzfristige Anmeldung zu diesem Besuch am 29. Oktober 1915 stammt v o m Vortag und kommt aus Genf. Es ist der erste erhaltene Brief Schickeies an Rolland : eine politische Visitenkarte. Rollands Eindruck von Schickeies Besuch war zwiespältig. 3 2 Er wurde negativ verstärkt durch die Lektüre von Schickeies Antikriegsstück Hans im Schnakenloch. Schickele, der sich offenbar eine andere Reaktion erhofft hatte, schrieb, als Rolland auf seinen — heute verschollenen — Brief vom 1.3.1916 schwieg, 3 3 erneut am 23.9. 1916. Rollands Gegenbrief v o m 27.9. 1916 ist nicht erhalten, nur ein Auszug daraus in einer bisher unveröffentlicht gebliebenen Tagebuchstelle gibt einen Eindruck von seiner Ratlosigkeit. Was für Schickele Gestaltung tatsächlich erlebter Widersprüche des »natürlichen Pazifismus« der Elsässer 34 war, mußte dem mit allen geistigen Mitteln um Vorurteilsfreiheit zwischen den Völkern ringenden Exilfranzosen wie eine Pervertierung seiner Idee erscheinen. Schickeies Darstellungsprinzip eines grotesken aggressiven Realismus (von der glücklichen Korrumpierbarkeit der Elsässer und Franzosen), das nicht nur von einem kriegsmüden deutschen Publikum 1917 sondern sogar von der Obersten Heeresleitung richtig aufgefaßt und später v o m wiener Arbeiter- und Soldatenrat als Verhöhnung militärischer Ehren überhaupt gefürchtet werden sollte, 3 5 verstieß 1915 und 1916 gegen Rollands rigoristischen Idealismus, den er sowohl als Einzelperson in der Kriegsgefangenenfürsorge in Genf wie auch als Mentor eines Kreises von jungen verfolgten französischen Pazifisten 36 beispielhaft vorlebte auf der Suche nach dem nicht korrumpierbaren geistigen Menschen der Zukunft. Dennoch erkannten beide Männer einander trotz fehlender Information richtig : Rolland ahnte, daß Schickele mit der Macht paktierte, wenn er auch nicht wußte, daß das Ziel eine frühzeitige Beendigung des Krieges zwischen Deutsch31

Ebenda S. 99 dazu A n m . 41, ferner meine Diss. (Anm. 1) S. 142-143.

32

Tagebucheinträge Rollands vgl. Das Gewissen Europas, Berlin-Ost Bd. I (1963) S. 670. Vgl. »René Schickele u. Romain Rolland« (Anm. 22) S. 98-99, ferner meine Diss. (Anm. 1) Kap. »Antipode Romain Rollands«. 33

Vgl. meine Diss. (Anm. 1) S. 221-226. Z u Schickeies erstem (verlorenen) Brief über das Theaterstück Hans im Schnakenloch vgl. Rollands Eintrag März 1916 i n : Das Gewissen Europas (Anm. 32) Bd. I I (1965), S. 135-136, dazu unten A n m . 69*. 34 Vgl. Schickeies Artikel : »Die Pazifisten und die auswärtige Politik«. I n : Straßburger Neue Zeitung v. 20. 8. 1912. 35 Bibliographie meiner Diss. (Anm. 1) S. 274 Verbote des Stücks, Nrn. L 1 9 3 - L 197, besonders L 194, dazu Kap. »Hans i m Schnakenloch«. S. 223-24. 36 Vgl. oben A n m . 32 Quellenliteratur : Zeitschrift demain Genf 1916,1917-18; Rollands pazifist. Sammlung L'esprit libre, Paris 1953, dt. Der freie Geist, Zürich (1946), Berlin (Ost) 1966, Rollands Kriegstagebücher.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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land und Frankreich w a r . 3 7 Schickeies Hochachtung für Rolland, den bestgehaßten Pazifisten des ersten Weltkrieges, scheint sich auf etwas altväterische Weise in der ab 1919 gebrauchten Briefanrede auszudrücken. »Cher maître« klingt allerdings vor dem Hintergrund eines spätexpressionistischen Messianismus, wie ihn Schickeies Veröffentlichungen von 1917 bis 1922 atmen, eher wie der Anknüpfungsversuch eines Jüngers, — oder eines vorsichtigen Schülers, der sich etwas spät ein Bild von demain , der revolutionärpazifistischen Zeitschrift des Kreises um Rolland gemacht hatte. Er kannte den dazu gehörenden Autor Barbusse, dessen von der Académie française ausgezeichnetes (Anti-)Kriegsbuch Le feu er auszugsweise in Übersetzungen in seinen Weißen Blättern abgedruckt hatte. Die von Barbusse gegründete pazifistische Bewegung und deren gleichnamige Zeitschrift Clarté verfolgte er mit Interesse. Er war allerdings in Deutschland nicht der einzige, der sich für ihre Erweiterung um eine deutsche Sektion einsetzte. Wilhelm Herzog, der Herausgeber des Forum, das i m Kriege verboten gewesen war, und der Übersetzer beziehungsweise Vermittler vieler Werke Rollands zur Übersetzung ins Deutsche, machte sich zuerst an eine Propagierung der ClartéBewegung in Deutschland. I h m lag an ihrer politischen Radikalisierung, das heißt Umwandlung in ein Instrument der I I I . (kommunistischen) Internationale. Dafür war ihm — wie Barbusse i n Frankreich — manches Mittel recht, besonders große Namen. Der verlorene Brief Rollands von 1919, auf den Schickeies Brief v o m 5.9. 1919 aus U t t w i l am Bodensee antwortet, muß Rollands Berichtigung enthalten haben, daß er n i c h t zu den Unterzeichnern des Gründungsmanifestes von Clarté gehöre, was Schickele bei der Übernahme des Manifestes in seine Weißen Blätter nicht wissen konnte. 3 8 Rolland nämlich hatte vor Barbusse ein eigenes Manifest, das die Unabhängigkeit der Geistesarbeiter von den politischen Parteien und Regierungen betonte, zur Unterzeichnung versandt, Schickele jedoch offenbar vergessen. Wie die Korrespondenz von 1919 zeigt, konnten die Irrtümer ausgeräumt werden. Schickele erwies sich als der wirkliche Gesinnungsgenosse Rollands. Er faßte die »Internationale der Geistigen, Clarté«, zu deren Einführung in Deutschland er — nicht Herzog — v o m Aktionskomitee in Paris beauftragt war, (wie der hier erstmals publizierte Brief von Victor Cyril, v o m 14.10.1919 37 38

Vgl. Diss. ( A n m : 1) S. 112-113.

Ebenda S. 116 mit Anmerkungen 80 u. 82. Es handelt sich um das Juliheft (S. 331 - 334 Clarté mit Unterschriften) und das Dezemberheft (S. 576 Nachwort) 1919 der Weißen Blätter. I m Dezemberheft druckt Schickele die Statuten v o n Clarté ab und benützt die nachfolgende Richtigstellung, daß Rolland Clarté n i c h t angehöre als Auseinandersetzung mit Herzog, von dem er hatte annehmen müssen, i h m gehöre das Vertrauen Rollands. Z u m Text der Richtigstellung vgl. unten den Brief Schickeies an Rolland v. 16. 11. 1919.

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Julie Meyer-Boghardt

datierend, dokumentiert,) als eigenständige Erneuerungsbewegung und Zusammenschluß der Intellektuellen i m Nachkriegsdeutschland auf, die jeden Einsatz von Gewalt abzulehnen hatte. Das Organ sollten Die weißen Blätter werden. 3 9 Sie sollten für ein neues Konzept des Völkerbundes werben und Deutschlands Eintritt vorbereiten helfen. 4 0 Aus der Zeit, als das Scheitern dieses Planes absehbar w a r , 4 1 sind ein Brief Schickeies (Mai 1921) und der Antwortbrief Rollands (3.6. 1921) verloren. V o m Herbst des gleichen Jahres 1921 stammt Schickeies großer Verzweiflungsbrief, der sich einer politischen Argumentation bedient, die der Auseinandersetzung des Ex-Kommunisten und späteren SPD-Mitglieds Paul Levi, eines Schülers von Rosa Luxemburg, mit den Bolschewiki entlehnt ist und die Position der linken Sozialisten kennzeichnet. 42 Rolland antwortet darauf in einer Weise, die sein immer intensiver werdendes Engagement für Gandhi, die indische Befreiungsbewegung und seine Beschäftigung mit der Hindu-Mystik erkennen läßt. 4 3 Rollands Streben nach einer Weltreligion, das sich in den großen Werken über Ramakrishna und Vivekananda kundtut, scheint Schickele nicht verstanden zu haben; er spottete über die Indienmode in seiner Elsaßtrilogie, weil ihm in der bedrängten Gegenwart die politische Verständigung von Deutschen und Franzosen überlebenswichtiger schien. 44

IV Z u Rollands sechzigstem Geburtstag 1926, als der Name und das Werk Rollands in Deutschland den Höhepunkt ihres Ruhms erreichten, erarbeitete Schickele eine Würdigung, mit der er auf Vortragsreise gehen konnte. Er wurde gebeten von pazifistischen Vereinigungen, germanistischen Seminaren und offiziellen kommunalen Kulturbehörden. 4 5 I m Jahre 1932 überarbeitete er den 39

Vgl. meine Diss. (Anm. 1) Kap. »Die weißen Blätter«, Abschnitt: »Mäzene und Verleger«, dort S. 126-7 Harry Graf Keßler. 40 Keßler: Tagebücher (Anm. 2) S. 220: Zürich 18.4. 1920 [ . . . ] »Besprochen, ihn [ = Schickele] mir für meine Völkerbundpropaganda als eine A r t Generalsekretär zu verpflichten.« S. 235: Berlin 9. 7. 1920 »Erste Sitzung des Arbeitsausschusses des >Bundes Neues Vaterland< für die Propagierung meiner Völkerbundidee.« Schickele war Mitglied des Arbeitsausschusses. S. 236: Genf 26. 8. 1920 » [ . . . ] i m Internationalen Arbeitsbüro des Völkerbundes.« S. 254 : Rom 23. 6.1921 [ . . . ] Kardinal-Staatssekretär Gasparri i m Vatikan. [ . . . ] »Für den Genfer Völkerbund hatte er nichts als unverhüllten Hohn.« Keßlers Reformideen begrüßt er, glaubt aber nicht an deren Verwirklichung. 41 Keßlers Tagebücher schweigen. Z u m Schicksal v o n Clarté in Deutschland vgl. meine Diss. (Anm. 1) S. 156. 42

Vgl. Fischer, Ruth : Stalin und der deutsche Kommunismus, Frankf. a. M . o. J., S. 216-217.

43

Dazu ausführlich »Schickele u. Rolland« (Anm. 22) S. 104, dazu A n m . 73 u. 79.

44

Ebenda S. 104, dazu Belegstellen in A n m . 78.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland Vortrag

u n d publizierte

i h n i n Fortsetzungen

i n der

Frankfurter

95 Zeitung,

schließlich n a h m er i h n w e n i g v e r ä n d e r t als Essay i n sein B u c h Die Grenze a u f . 4 6 V o n R o l l a n d s i n d n u r die b e i d e n k u r z e n f r e u n d l i c h e n R e a k t i o n e n v o n 1926 u n d 1932 erhalten. Sie w i e d e r h o l e n die E i n l a d u n g z u m Besuch, d e n Schickele s c h o n i n seinem B r i e f v o m 2 4 . 1 1 . 1921 v e r s p r o c h e n hatte. Es ist n i e d a z u gekommen. E i n e A n t w o r t R o l l a n d s a u f d e n B i t t b r i e f Schickeies v o m 3 1 . 5 . 1927 ist a u c h n i c h t erhalten, a u c h k e i n e r l e i H i n w e i s , o b R o l l a n d ü b e r h a u p t g e a n t w o r t e t hat. Z w i s c h e n R o l l a n d s v o r l e t z t e m u n d l e t z t e m B r i e f l i e g t Schickeies U m s i e d l u n g v o n B a d e n w e i l e r n a c h S ü d f r a n k r e i c h . 4 7 E r k o n n t e also an d e m Pazifistischen W e l t k o n g r e ß , der v o m 27. bis 2 9 . 9 . 1932 i n A m s t e r d a m stattfand, so w e n i g t e i l n e h m e n w i e R o l l a n d , der k r a n k w u r d e . 4 8 Dessen Rede z u r E r ö f f n u n g m u ß t e verlesen w e r d e n . D a er sich j e d o c h offenbar i n der N ä h e aufhielt, schrieb er f ü r die v o n i h m m i t herausgegebene Z e i t s c h r i f t Europe einen K o n g r e ß b e r i c h t . 4 9 D a r i n b e t o n t e er, w i e sehr i h m an einer E i n b e z i e h u n g a u c h der n i c h t k o m m u n i s t i s c h e n G r u p p e n w i e T r o t z k i s t e n , S y n d i k a l i s t e n u n d n i c h t sozialistischen A n h ä n g e r G a n d h i s i n die pazifistische F r o n t g e g e n d e n Faschismus gelegen w a r . Schickele, der v o n d e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n m i t d e m I n t e r n a t i o n a l e n B ü r o 5 0 erfahren 45

Ebenda S. 97 dazu A n m . 28 : Zuerst am 31. 1. 1926 i m Rahmen einer Morgenfeier i m Landestheater Stuttgart, später in Mannheim, Freiburg, München, Karlsruhe vgl. ferner Schickeies Merkbuch 1926 (unveröff. i. Besitz d. D L A Marbach a. N . Sign. A : Schickele) und Romain Rolland. Weltbürger %wischen Frankreich u. Deutschland, Ausstellungskatalog, M ü n chen 1967, S. 40 N r . 151, ferner ein unveröff. Brief v o n Annette K o l b an Romain Rolland v. 27. 4. 1926 (im Besitz des Rolland-Archivs, Paris.) 46 »Romain Rolland und seine Zeit.« I n : Frankfurter Zeitung v. 26. 7. 1932, v. 27. 7. u. 29.7. 1932, u . d . T . : »Romain Rolland.« I n : Die Grenze, Berlin 1932 = jetzt Schickele: Werke I I I , S. 681 -699. 47

Seit Frühjahr 1932 plante er bereits die Übersiedlung, vgl. Briefe an Meier-Graefe v. 11. 3. u. 26. 5. 32 (Schickele: Werke I I I , S. 1163 u. 1165-66). A m 28. 9. 32 befand er sich in St. Cyr-sur-mer, vgl. Tagebucheintrag (Schickele: Werke I I I , S. 1043). Ende November 1932 (Brief v. 19. 11. 32 an Bizer = Schickele: Werke I I I , S. 1169) berichtet er v o n der endgültigen Übersiedlung. 48 Barrère (Anm. 10) S. 185 berichtet hier fälschlich, Rolland habe dem Kongreß präsidiert. Albertini (Anm. 2) S. 284 bemerkt \ »R. Rolland fut empêché par sa santé d'y assister. Mais il en suivit de très près tous les travaux etfit lire ce texte à la séance inaugurale.« Schon aus dem Titel des eigenhändigen Manuskripts v o n Rolland geht hervor, daß er seine Rede verlesen lassen mußte : »Déclaration de Romain Rolland lue à la première séance du Congrès mondial de tous les parties contre la guerre.« Vgl. die Photographie i m Rolland-Ausstellungskatalog (Anm. 45) zwischen S. 32 u. 33 zu N r . 132. Abgedruckt wurde die Erklärung in : Europe v. 15. 9. 1932 = Albertini S. 284-289. 49 Vgl. Romain Rolland : Le Congrès Mondial d'Amsterdam. I n : Europe. Revue mensuelle (Paris) Jg. 1932 N r . 118 v. 15.10. 1932. 50

Rollands offener Brief an Barbusse v. 20.12. 1932 bewirkte einen Kompromiß, vgl. die A n t w o r t des Internationalen Büros, referiert bei Albertini (Anm. 2) S. 293 i m Anschluß

96

Julie Meyer-Boghardt

h a b e n k a n n 5 1 , o d e r bereits v o n R o l l a n d s K o n g r e ß b e r i c h t , der sich g e g e n d e n Sozialismus

des v o n

Schickele

hoch

geschätzten

Friedrich

Adler

zu

den

K o m m u n i s t e n b e k e n n t , i r r i t i e r t w a r 5 2 , b i t t e t R o l l a n d i n seinem letzten erhaltenen B r i e f v o m 4 . 1 . 1933 v o r s i c h t i g u n d p r o v o z i e r e n d z u g l e i c h u m eine P r ä z i s i e r u n g seiner H a l t u n g . R o l l a n d s A n t w o r t v o m 5 . 1 . 1933 bestätigte w o h l die u n v e r e i n b a ren Positionen. R o l l a n d hatte

d e n italienischen

Faschismus,

d e n er z u dieser

Zeit

für

gefährlicher als d e n N a t i o n a l s o z i a l i s m u s h i e l t , 5 3 i n seinem e h e m a l i g e n Freundeskreis u m die Z e i t s c h r i f t La Voce i n F l o r e n z 5 4 w ü t e n s e h e n 5 5 u n d erlebt, w i e deren I n i t i a t o r aus d e m v o n i h m p r o p a g i e r t e n » C a t t o l i c i s m o R o s s o « 5 6 d i r e k t M u s s o l i n i ü b e r g e g a n g e n w a r , w o h i n i h m 1915/16 eine A n z a h l

zu

futuristisch

o r i e n t i e r t e r M i t g l i e d e r g e f o l g t w a r e n . F ü r R o l l a n d hatte das d e n B r u c h m i t an Rollands Brief S. 290-293. Albertini faßt dort allerdings lediglich zusammen, was uns i m Originalwortlaut in Rollands Postskriptum zu seinem Brief v. 5. 1.1933 überliefert ist, vgl. unten Brief N r . 18. S. 120-121. 51

Vielleicht durch seinen Jugendfreund Salomon Grumbach, der sozialistischer Abgeordneter der französischen Kammer war, oder durch seinen emigrierten Freund H u g o Simon, der in Paris Kontakt zu W i l l i Münzenberg (damals Mitglied des in Paris tagenden Internationalen Büros, vgl. Albertini (Anm. 2) S. 293 Anm.) hatte. 52 Was dem radikalen Pazifisten Schickele an Rolland zu militant erscheinen mußte, war dem späteren Ex-Kommunisten Victor Serge zu diesem Zeitpunkt zu halbherzig. Er griff Rolland deshalb an, vgl. Serge, V . : Beruf: Revolutionär, Frankfurt a. M . (1967), S. 357.

53 Vgl. Klein (Anm. 10) S. 22. 54

La Voce, 1908-1914, hrsg. u. geleitet v. Giuseppe Prezzolini, 1914-1916 v o n G. de Robertis, vgl. dazu die sehr umfangreiche Dokumentation von Prezzolini La Voce 19081913. Cronaca, antología e fortuna di una rivista, Mailand 1974. Die in Italien (außer Florenz, dort vollständig nur i m Gabinetto Vieusseux / Palazzo Strozzi) sehr seltene Zeitschrift ist i m reprographischen Nachdruck zugänglich. 55 Der sozialistische Philosoph (Privatdozent in Bologna) und kritische Journalist Giacomo Matteoti wurde von Mussolinis gedungenen Mördern am 10. 6.1924 umgebracht, nachdem er als Abgeordneter dem Diktator i m Parlament die Stirne geboten hatte. E i n ausführlicher Bericht von Gaetano Salvemini »L*Affaire Matteotti« erschien in der Zeitschrift Europe v. 15. 1. 1926. Als einer der Hintermänner verdächtig war der Márchese Allessandro Casati, ehemaliger Förderer der Zeitschrift La Voce, vgl. Prezzolini, G. : »Come nacque La Voce«. I n : l'osservatore político letterario, Dicembre 1974, S. 13-30. Auch der T o d des liberal orientierten Philosophen Giovanni Amendola, der zu den frühesten Mitarbeitern v o n La Voce gehörte, am 1. 4. 1926 in Cannes ging auf das K o n t o der Faschisten. Rolland drückt das in seinem Kondolenzbrief an den Sohn deutlich aus, vgl. »Romain Rolland à Giorgio Amendola v. 22. 5. 1926«, i n : Giordan, Henri: Romain Rolland et le mouvement florentin de La Voce, Paris 1966, S. 355-356. V g l . auch Prezzolini, G. : Amendola e la Voce, Firenze 1973. 56 V g l . Prezzolini, G. : II Cattolicismo Rosso. Studio sul presente movimento di riforma nel Cattolicismo, Napoli 1900. Die politische Zielsetzung der Zeitschrift und der an sie geknüpften Libreria de IIa Voce erinnert an die Cahiers de la Quinzaine von Charles Péguy, dessen christlicher Sozialismus schließlich doch ein Bündnis mit der Vaterlandsliebe einging. Er w i r d in La Voce publiziert und ist Gegenstand v o n Artikeln.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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P r e z z o l i n i u n d seiner Z e i t s c h r i f t u n v e r m e i d l i c h g e m a c h t . I m Jahre 1918 erntete er d a f ü r e n d l i c h a u c h v o n italienischer Seite A n w ü r f e , 5 7 w i e er das v o n deutschen u n d französischen C h a u v i n i s t e n seit 1915 g e w o h n t w a r . D i e s e r B o t e der G e s i n n u n g s r e i n h e i t eines n e u e n g r ö ß e r e n E u r o p a , eines n e u e n W e l t b ü r g e r t u m s b e g a n n 1933 einen v e r z w e i f e l t e n K a m p f g e g e n d e n perversen deutschen H e r r e n m e n s c h e n n a t i o n a l i s m u s u n d einen U n t e r s t ü t z u n g s f e l d z u g f ü r dessen O p f e r . 5 8 A l s Z u f l u c h t v o r d e m V e r b r e c h e n erschien i h m damals eine a k t i v e , w e n n a u c h keineswegs u n k r i t i s c h e A n n ä h e r u n g an die S o w j e t u n i o n , die i h m f ü r die nächste G e n e r a t i o n die E n t w i c k l u n g einer gerechteren Z u k u n f t u n d eines w a h r h a f t i g e r e n M i t e i n a n d e r der V ö l k e r z u v e r b ü r g e n s c h i e n . 5 9

Briefe und Briefauszüge Vorbemerkung 1 M i t Ausnahme des Briefes von René Schickele v. 23.9. 1916 sind alle hier abgedruckten Briefe Erstveröffentlichungen. Die freundliche Autorisation aller Briefe v o n Romain Rolland i m Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N . und des Briefauszugs i m Besitz der Bibliothèque Nationale zu Paris (Fonds Rolland) ist zu verdanken Madame Marie Rolland, gestorben 1985, entsprechend ihrer Erklärung i m Bulletin N r . 139-142 (Année 1983) der Association des Amis du Fonds Romain Rolland, S. 18-19. Für die Autorisation aller Briefe v o n René Schickele i m Besitz der Bibliothèque Nationale zu Paris (Fonds Rolland) danke ich den Herren Professoren Rainer und Hans Schickele (California/USA). 57 Papini, Giovanni: Stroncature. Ter^a edi^ione riveduta, Firenze: Librería de lia Voce 1918, S. 211-221. Rolland war ursprünglich von Prezzolini als Leitbild der jungen Schriftsteller um Zustimmung zur Neugründung gebeten worden, vgl. den ausführlichen Briefwechsel, den Giordan (Anm. 55) zugänglich gemacht hat. Man wundert sich nur beim Durchblättern der Zeitschrift, deren erste Jahrgänge i m Folioformat an die expressionistische Zeitschrift Der Sturm und deren Fortsetzung in Quart an die Aktion erinnern, wie gering die Beiträge über Rolland schließlich sind, vgl. La Voce I, 8,14 u. 20, 23 (4. 2., 18. 3. u. 20., 29. 5. 1909), I I , 48 (10.11. 1909). 58 E i n unübersehbares Signal setzt er mit der Ablehnung der Goethe-Medaille, die i h m i m Auftrag des Reichspräsidenten Hindenburg überreicht werden sollte (April 1933). Darauf folgte eine Kontroverse Kölnische Zeitung — Europe über den Reichstagsbrand, vgl. Rolland-Ausstellungskatalog (Anm. 45) S. 42, N r . 160, ferner Barrère (Anm. 10) S. 165-6 Auszug aus dem Brief an den Deutschen Konsul in Genf. Rollands Interventionen zugunsten politischer Gefangener des Naziregimes vgl. N r . 162 u. N r . 178 i m RollandAusstellungskatalog. 59

Vgl. folgende Texte Rollands: »Pour qui j'écris?« (Dezember 1933), »Du Rôle de l'écrivain dans la société d'aujourd'hui« (1935) i n : Albertini (Anm. 2) S. 294-5 u. 296-306. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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Der Abdruck des Briefes und einiger Briefauszüge (in den Anmerkungen) v o n Annette K o l b nach maschinenschriftlicher Transkription i m Besitz der Bibliothèque Nationale zu Paris (Fonds Rolland, von mir gegengelesen mit den Durchschlägen i m Besitz der Monacensia-Abteilung der Stadtbibliothek München) erfolgt mit freundlicher Erlaubnis von Herrn D r . Kolb-Danvin, Konsul der Bundesrepublik Deutschland (Genua).

2 Die Adressenangaben in den Briefen Rollands entstammen der Transkription der Rollandbriefe i m Dossier Schickele (Bibliothèque Nationale zu Paris, Fonds Rolland), diejenigen in den Briefen Schickeies konnten nach den i m Fonds Rolland erhaltenen Originalbriefumschlägen ergänzt werden.

3 Die Beobachtung, daß der französische Ausdruck i n den Briefen René Schickeies nicht immer korrekt ist, hat Tamina Honolka-Greifeld gemacht. Sie w i r d bestätigt durch die linguistischen Untersuchungen v o n F. K n i f f k e . 6 0 Ihre Beobachtungen werden in den Anmerkungen zu den französischen Texten mitgeteilt, die durch Sternchen gekennzeichnet sind. Ebenso werden emendierte Flüchtigkeiten — fast ausschließlich bei Schickele — und Autorkorrekturen beider Korrespondenten signalisiert, nicht jedoch unleserliche Tilgungen. Herausgeberbemerkungen am Briefkopf oder am Briefende (vgl. Vorbemerkung 2) werden durch Kursive i n K l a m m e r n wiedergegeben. Nicht damit zu verwechseln sind Kursivierungen zur Hervorhebung derjenigen Stellen, die in den Originaltexten unterstrichen sind.

60

V g l . Kniffke, Frédéric: »Über René Schickeies Sprache in Le Retour«. I n : Elsässer, Europäer, Pazifist. Studien ç. R. S. hrsg. Finck / Staiber (Anm. 22) S. 183-205.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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1 A n n e t t e K o l b an R o m a i n R o l l a n d 6 1 Suisse Monsieur Romain Rolland H ô t e l Beauséjour C h a n t a l près G e n è v e

ce 8 mars (Sophienstrasse 7) (München) (cachet p o s t a l 1915)

Monsieur, L e rédacteur des Weisse B l ä t t e r , M o n s i e u r René Schickele m ' é c r i t

pour

m ' e n g a g e r à v o u s e n v o y e r le N ° 3 de sa revue, q u i c o n t i e n t u n discours, q u e j ' a i p r o n o n c é à D r e s d e ce 25 j a n v i e r . 6 2 J ' y j o i n s u n n u m é r o d u Z e i t e c h o . 6 3 I l faudra p r o b a b l e m e n t que je m e rende en Suisse vers le 1 e r a v r i l p o u r quelques j o u r s à cause de la »Revue I n t e r n a t i o n a l e « . 6 4 V e u i l l e z m e d i r e , M o n s i e u r si en poussant 61 Maschinenschriftliche Transkription angefertigt i m Rolland-Archiv Paris. Durch diesen Brief scheint Annette K o l b nicht nur Schickeies Wunsch nach einem Kontakt zu Rolland erfüllt zu haben sondern auch für Rolland zu einer wichtigen Informantin über die junge deutsche Literaturszene geworden zu sein, z. B. Annette K o l b an Rolland 4. 4. 1915 Auszüge: »Les >Blätter für die Kunst< sont une publication que se tient à l'écart comme Wolfskehl lui-même, que je connais, qui a tout de suite souscrit à la Revue des Nations, et qui abhöre cette guerre. [ . . . ] Comme situation littéraire Wolfskehl ne compte guère pour la coterie Blei, Sternheim, >Weiße Blatten, ni pour la Neue Rundschau non plus.« I n der Übersetzung von Tamina Honolka-Greifeld : »Die >Blätter für die Kunst< sind eine Zeitschrift, die abseits steht wie Wolfskehl selbst, den ich kenne, der sofort die Revue des Nations subskribiert hat und der diesen Krieg verabscheut. [ . . . ] Was die Stellung v o n Wolfskehl innerhalb der Literatur angeht, so gehört er eigentlich weder zum Kreis Blei, Sternheim, >Weiße Blätter< noch zur Neuen Rundschau.« 62 Es handelt sich um das Märzheft 1915 der Zeitschrift Die weißen Blätter hrsg. v o n René Schickele, darin u m den Beitrag v o n Annette K o l b : »Die Internationale Rundschau und der Krieg«. Z u r Mittlerrolle v o n Annette K o l b vgl. oben unsere A n m . 30 u. 31. 63 Vgl. das Postskript, die Zeitschrift hatte eine erste Folge v o n A . Kolbs »Briefe an einen Toten« abgedruckt, die Serie wurde v o n Schickeies Weißen Blättern übernommen und fortgesetzt Mai 1915 bis August 1916 (mit größeren Unterbrechungen). 64 Das Projekt der Revue des Nations wurde von Rolland weniger optimistisch betrachtet, vgl. Briefauszug Annette K o l b an Rolland v. 8. 4.1915 : »J'ai revu Pexprésident à Berne ; ses vues ne concordent hélas ! que trop exactement avec les vôtres, et comme vous, il pense que pour Tinstant, i l n'y a rien à faire. Ne voyez-vous pas qu'au lieu de presser, i l vaudrait mieux retarder maintenant le 1 e r Numéro de la Revue des Nations. Ici j'ai passé à la rédaction de la Züricher Zeitung à la demande de ces Messieurs ; ils sont froissés que Häberlin et Reynold ne les aient pas initiés aux intentions de leur Revue. J'ai écrit une longue lettre à M . Häberlin à ce sujet. Mais les journalistes sont des êtres étranges ! si avides d'être pris pour des gens de bonne foi et pourtant en causant avec eux on est gagné par une telle incertitude qu'on finit par être aussi faux qu'eux. Ils étaient sincères pourtant en louant le Forum et les Weissen Blätter et la Schaubühne (que je vous enverrai dès mon retour).« Übers, v. T. Honolka-

7*

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j u s q u ' à G e n è v e , je p o u r r a i s v o u s y r e n c o n t r e r ? Je crois q u e n o u s avons des amis c o m m u n s à R o m e n'est-ce pas ! —

6 5

Recevez je v o u s p r i e M o n s i e u r l ' e x p r e s s i o n de m a p l u s haute c o n s i d é r a t i o n . Annette K o l b L a r é d a c t i o n d u Z e i t - E c h o a p e r m i s q u e les »Briefe an e i n e n T o t e n « soient r e p r o d u i t e s dans la R e v u e I n t e r n a t i o n a l e . M o n s i e u r R a i n e r M a r i a R i l k e q u i est i c i , m e d o n n e v o t r e adresse.

2 René Schickele an R o m a i n R o l l a n d Hotel d'Angleterre (Briefkopf) G e n è v e , le 28 o c t o b r e 6 6 * 1915 Monsieur, de passage à G e n è v e je serais b i e n h e u r e u x de v o u s v o i r ; t o u t e f o i s je ne v o u d r a i s pas encore a u g m e n t e r le n o m b r e des pèlerins d u silence q u i , paraît-il, o n t p r i s l ' h a b i t u d e d ' a l l e r v o u s e n t r e t e n i r de leurs bonnes i n t e n t i o n s . Greifeid: »Ich habe den ehemaligen Präsidenten in Bern wiedergesehen; seine Ansichten stimmen — leider — nur allzu sehr mit den Ihren überein, und er glaubt wie Sie, daß i m Augenblick nichts zu machen sei. Sehen Sie nicht, daß es jetzt besser wäre, das Erscheinen der 1. Nummer der Revue des Nations hinauszuzögern, anstatt es zu forcieren. Ich bin hier, auf Wunsch dieser Herren, in der Redaktion der Züricher Zeitung gewesen; sie sind etwas verärgert darüber, daß Häberlin und Reynold sie nicht in die Pläne ihrer Revue eingeweiht haben. Ich habe hierzu einen langen Brief an Herrn Häberlin geschrieben. Aber die Journalisten sind merkwürdige Wesen! Sie wollen unbedingt für aufrichtige Leute gehalten werden, und dennoch überfallt einen i m Gespräch mit ihnen eine derartige Unsicherheit, daß man schließlich genauso unaufrichtig ist wie sie. I h r L o b über das Forum, die Weißen Blätter und die Schaubühne (die ich Ihnen gleich nach meiner Rückkehr zuschicken werde) war jedoch ehrlich.« Rolland klärte später Annette K o l b über das unausweichliche Scheitern der »Internationalen Rundschau< auf, als er die Hintermänner kannte, während Schickele offenbar noch länger große Pläne hatte vgl. A . K o l b an Rolland 4. 5. 1915: »J'attends Schickele ces jours-ci, qui me dit avoir des propositions importantes ä faire pour la Revue des Nations. J'attends. Pauvre Schickele.« Übers. T . Honolka-Greifeld: »Ich erwarte dieser Tage Schickele, der mir sagt, er habe wichtige Vorschläge für die Revue des Nations zu machen. Ich warte. Armer Schickele.« Vgl. dazu meine Diss. (Anm. 1) S. 142143. 65

Dies stellt Rolland in seinem Antwortbrief v. 11. 3.1915 (unveröffentlicht i. Besitz d. Rolland-Archivs Paris) energisch in Abrede. 66* le 28 octobre Herausgeberkorrektur statt ursprüngl.: le 28. octobre.

René Schickele an Romain Rolland, erster Brief v o m 28. Oktober 1915. Verkleinerte Wiedergabe nach dem Original i m Besitz der Bibliothèque Nationale, Paris, m i t freundlicher Erlaubnis der Herren Rainer u n d Hans Schickele, Berkeley (California/USA).

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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Savez-vous que mon ami Herzog a reçu, en même temps que la défense de faire paraître le »Forum«, sa convocation à la caserne? Vous voyez 6 7 * que l'on n'y va pas de main morte. En attendant un mot de votre part veuillez recevoir, Monsieur, mes plus cordiales Salutations René Schickele (comme aide-mémoire :) Redacteur en chef des Weisse Blätter Exprès Monsieur Romain Rolland Cbampel-sut-Aivt

Hotel Beau-Séjour Prière de faire suivre

3 René Schickele an Romain Rolland 6 7 a Mannenbach, Thurgovie le 23. I X . 16 Cher Monsieur, Mademoiselle K o l b me charge de vous envoyer un feuilleton qu'elle a publié i l y a huit jours dans la Nouvelle Gazette de Z ü r i c h . 6 8 J'en suis d'autan 6 9 * plus heureux que le feuilleton traite d'une pièce à laquelle je tiens beaucoup — de ce malheureux »Hans«, 70 que la censure a suprimé en Alsace, mais qui, paraît-il a aussi eu la malchance de vous déplaire à vous, sur qui j'avais compté le plus. 67* voye% Herausgeberkorrektur statt ursprünglich: voye 6?a Zuerst abgedruckt und faksimiliert in meinem Beitrag : René Schickele und Romain Rolland (Anm. 22) S. 106-109. 68 K o l b , A. : »Hans i m Schnakenloch«. I n : Das literarische Echo. 15. 10. 1916 = Neue Züricher Zeitung Sept. 1916, S. 1474, u. d. T . : »Das elsässische Schicksal«. I n : A . K . : Wege und Umwege, 1919. 69 * autan flüchtig für: autant . Die sprachlichen Anmerkungen 69* bis 79" wurden zuerst publiziert zusammen mit dem Brief vgl. oben A n m . 67 a . Sprachliche Schnitzer scheint bereits Schickeies erster Brief zu seinem Theaterstück an Rolland v. 1. 3.1916, der offenbar verloren ging, ehe das Dossier Schickele von M m e Rolland zusammengestellt wurde, enthalten zu haben vgl. Tagebucheintrag Rollands (Anm. 33) S. 136 »Dieser Brief ist ein tolles Kauderwelsch [...]«. 70 Schickele, René: Hans im Schnakenloch. Schauspiel in vier Aufzügen, Leipzig 1915, abgedruckt in : Die weißen Blätter 111,1 (Januar 1916) S. 1 -100, dort S. [4] Bemerkungen für den Spielleiter. Jetzt: Schickele: Werke I I I , S. 17 Bemerkungen verkürzt.

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Franchement, je n'en reviens pas et je ne trouve qu'une seule explication, c'est que vous n'ayez pas l u 7 1 * jusqu'au bout, que vous vous êtes arrêtez 72 * en route. Ce qui concerne 73 * la scène des députés français je fais remarquer dans les »Bemerkungen für den Spielleiter« : »Die Franzosen i m zweiten A k t sind keine Zerrbilder. Sie lieben nur eine gewisse losgelöste A r t des Ausdrucks, selbst zum Schaden ihrer Würde.« 7 0 L'auteur de la foire sur la place 7 4 ne peut contester la justesse de cette remarque. Cette scène j o u a 7 5 * avant la guerre, comme i l est d'ailleurs parfaitement juste que l'esprit de »Hans« évolue avec la guerre — autrement i l n'y aurait pas de drame. Ne m'en voulez pas, je vous prie, 7 6 * de ces explications. Je souffre réellement de vous voir méconnaître le caractère et le sens même de ce Hans qui est pourtant toute l'Alsace, non l'Alsace des agitateurs, mais tout ce petit peuple paisible et romantique qui paraît condamné à vivre jusqu'à l'arrivée de »temps meilleurs«, à travers les siècles, au bord de l'abîme — et qui pour cela a tant essayé de s'élever audessus de la mêlée. 77 Vous savez le m i e u x 7 8 * que c'est l'effort le plus terrible et le plus redouteux 7 9 * puisque les quelques héros auxquels i l a réussi recouvrent le nom de traître. Et cette injure est plus lourde à supporter que toute autre. Je vous serre la main de tout coeur en restant votre dévoué René Schickele Monsieur Romain Rolland Grand Hôtel Bellevue Sierre (Umadressiert, von Schickele ursprünglich adressiert: Thun Hotel Bellevue)

71

* vous riave^pas lu nachlässig statt: vous ne l'ave^pas lu(e).

72

*

arrête £ Verschreibung von: arrêtés.

73

*

Ce qui versehentlich für : En ce qui.

74 Schickele apostrophiert hier den Gesellschaftskritiker Rolland, wenn er das satirische 1. Buch des 2. Teils von Rollands Zyklenroman Jean-Christophe anführt, das den Titel trägt : »La foire sur la place«. 75

* joua müßte heißen : se joua.

76

* je vous prie flüchtig statt : je vous en prie.

77

Schickele beschwört Rolland mit dem Titelstichwort von dessen pazifistischer Sammlung Au-dessus de la Mêlée, Paris 1915. 78* Vous save% le mieux que c'est müßte korrekt heißen : Vous save% mieux que personne. 79

*

redouteux unkorrekte Zusammenziehung der Wörter redoutable und douteux.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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4 Extrait du Journal de Romain Rolland (1916) Dossier Schickele 80 René Schickelé m'envoie de Mannenbach (Thurgovie), 23 septembre, une critique élogieuse d'Annette K o l b sur sa pièce : Hans i m Schn. . . . I l y joint une lettre où i l se montre affecté de mon jugement défavorable sur la même pièce. » . . . Je souffre réellement, dit-il, de vous voir méconnaître le caractère et le sens même de ce Hans qui est pourtant toute l'Alsace, non l'Alsace des agitateurs, mais tout ce petit peuple paisible et romantique qui paraît condamné à vivre, jusqu' à l'arrivée de »temps meilleurs«, à travers les siècles, au bord de l'abîme, — et qui pour cela a tant essayé de s'élever au-dessus de la mêlée.« Je lui réponds (27 septembre) : que je ne conteste pas son jugement sur l'Alsace, qu'il connaît mieux que moi. Je me suis plaint seulement qu'il ait choisi pour représenter la France des personnages de la Foire sur la Place 81 »Dans le débat tragique qui se livre, au coeur de l'Alsace, entre les deux peuples rivaux, j'aimerais à voir ceux-ci s'opposer par ce qu'ils ont de meilleur, et non par ce qu'ils ont de plus douteux. Votre choix de personnages me paraît de nature à prolonger le malentendu fâcheux qui persiste dans l'esprit allemand sur le caractère français, et dont j'ai relevé avec étonnement les traces dans maints articles d'Annette K o l b elle-même ...«

80

Maschinenschriftl. Transkription, unveröffentlicht, Bibliothèque Nationale, Paris (Fonds Rolland). 81

Vgl. oben A n m . 74. Rollands Großschreibung ist ganz deutlich Selbstzitat.

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5 René Schickele an Romain Rolland Glückwunsch zum Nobelpreis 8 2 (Poststempel Mannenbach

14.11. 16) René S c h i c k e l e Herausgeber der »Weißen Blätter« (Briefkopf) Sincères félicitations! Monsieur Romain Rolland Hotel Château Bellevue Sierre (Umadressiert, von Schickele ursprünglich adressiert: Thun Grand Hotel et du Lac)

6 René Schickele an Romain Rolland Uttwil, Bodensee Le 5 sept 1919 (ursprüngl. Briefkopf gestrichen: Bern, Junkerngasse 19) Cher maître, i l va sans dire que j'insérerai votre rectification 8 3 dans le prochain numéro des »Weisse Blätter«. Je regrette l'erreur commise que je ne m'explique pas. Le premier manifeste du groupe »Clarté«, ne vous nommait-il pas comme adhérent au groupe? Serait-ce indiscret de vous demander pourquoi vous ne faites pas partie du groupe? Vous devez bien penser combien cela m'intéresse. Je ne vois pas, comme paraît le faire N i c o l a i 8 4 , la possibilité d'une collision entre le manifeste

82 Vgl. Rollands Tagebucheinträge v. 16.11. 1916 i n : Das Gewissen Europas (Anm. 32) Bd. I I S. 459: »Glückwünsche v o n René Schickele, Thurgau«. A m 10. 11. hatte Rolland erfahren, daß i h m der »Nobelpreis für Literatur 1915« verliehen worden war. E r reagierte bestürzt, vgl. ebenda S. 455 und stiftete die Gesamtsumme für die Kriegsopfer, ebenda S. 491, d.h. für das internationale Rote Kreuz vgl. Barrère (Anm. 10) S. 183. 83

Vgl. Brief Schickeies v. 16. 11. 19 Nachwort.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain R o l l a n d 1 0 5

du groupe »Clarté« et le v ô t r e 8 5 (que, du reste, on ne m'a jamais demandé de signer!). Dès que j'ai appris votre retour en Suisse, je me suis fait un plaisir de vous adresser le dernier cahier de ma r e v u e 8 6 ; i l m'est revenu d'Interlaken, je l'ai réexpédié 87 * à Ulies et espère que vous l'avez reçu. Agréez, cher maître, l'expression de mes sentiments les meilleurs. René Schickele Monsieur Romain Rolland aux soins de M.P.J. J o u v e 8 8 Ulies (Vaud) ( mit Bleistift gestrichen, darüber unleserlich : Sch... Bad Zug)

7 Romain Rolland an René Schickele Lundi 15 sept. 1919 Cher René Schickelé Tout d'abord, laissez-moi vous exprimer mes regrets que la Déclaration d'indépendance de l'Esprit ne vous ait pas été envoyée. Mais i l n'est pas trop tard, la liste est encore ouverte, et j'espère que vous nous ferez l'honneur de vous y inscrire. Ce n'est pas moi qui étais chargé de recueillir les adhésions en Allemagne. C'est Nicolai. Et il y a eu quelque flottement dans le choix des adhérents : car, au début, la Déclaration ne devait être signée que de 3 ou 4 noms par pays,— un écrivain, un peintre, sculpteur, architecte, ou musicien, un savant, — choisis de préférence 84

Georg Friedrich Nicolai, militanter Pazifist, vgl. die Briefe von Rolland (15. 9.1919) u. Schickele (16.11. 19). 85 Rolland: »Déclaration d'Indépendance de F esprit«, Villeneuve [Schweiz] printemps 1919, abgedruckt: Humanités. 26. 6. 1919. V o n anderen Zeitschriften übernommen vgl. meine Diss. (Anm. 1) S. 116, A . 79. 86 87

*

88

Die weißen Blätter August 1919. réexpédié Herausgeberkorrektur statt ursprünglich : reexpédié.

Pierre Jean Jouve, (ursprünglich pazifistischer) Lyriker mit Rolland befreundet bis 1922. Nach einer religiösen Krise 1923 Bruch mit Rolland. Übersetzt später u.a. Hölderlin und Ossip Mandelstam (vgl. oben A n m . 20), vgl. Micha, René : Pierre Jean Jouve, Paris 1971.

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parmi les notoriétés européennes de plus de 40 ou 50 ans. Mais ce projet a échoué, par suite de la mauvaise volonté rencontrée en France, chez les écrivains de cette génération (même chez ceux qui avaient semblé donner, pendant la guerre, quelques gages d'indépendance). E n revanche, la Déclaration trouve chez les jeunes un assentiment enthousiaste. Nous avons donc été amenés à changer le caractère primitif de notre manifestation ; et Nicolai, prévenu tardivement, (j'étais alors en France), a pu commettre quelques oublis involontaires. — I l m'est assez difficile de m'expliquer, au sujet de »Clarté«, 89 car je ne voudrais rien dire qui pût desservir une oeuvre très utile, dont le parrain, Barbusse 90 , m'est sympathique, (sans parler de l'admiration que j'ai pour son très grand talent). Mais le fait est que ni moi, ni un certain nombre d'écrivains ou artistes français indépendants, (Vildrac, Léon Werth, Bazalgette, Paul Signac, Albert Doyen, Chennevière, Jouve, Arcos, Marcel Martinet, etc. 9 1 ) n'avons pu nous entendre avec Cyril et les fondateurs du groupe sur des points essentiels (questions d'idées et questions de personnes: — nous n'admettons pas, notamment, la facilité, à notre avis, excessive, avec laquelle les premières listes de »Clarté« ont été ouvertes à des adhésions, dont la sincérité nous est suspecte, après l'attitude gardée pendant les cinq années d'épreuves. — Mais je ne veux pas entrer ici dans des précisions; et ce que je vous en dis doit rester entre nous. Nous souhaitons le succès de »Clarté«, et notre abstention n'est pas une opposition. Nous nous retrouverons toujours unis contre l'ennemi commun qui est l'universelle Réaction. Mais j'estime qu'à côté de l'avant-garde de la pensée démocratique, que veut être »Clarté«, i l y a place pour un »Bund« des esprits libres du monde entier, sans distinction de partis, — tous unis dans une même foi internationale et dans un même culte de la vérité. Pour moi, le mot : »international« est plus essentiel encore que celui de »démocratie«; car, tout en étant moi-même d'opinions sociales très avancées, j'ai trouvé, pendant cette guerre, souvent plus de sens de l'humanité fraternelle et de courage à la défendre, chez quelques conservateurs indépendants que chez beaucoup d'ardents démocrates. I l est probable que, d'ailleurs, les uns et les autres étaient un peu inconséquents, et qu'il y avait, à leur insu, confusion d'étiquettes. Mais le fait capital est — non pas q u e 9 2 * Démos ait la »cratie«, mais

89 Z u r Clartébewegung in Frankreich vgl. Racine, Nicole: "The Clarté Mouvement in France«, 1918-1921. I n : Journal of Contemporary Historj 2 (1967), S. 195-208. 90 91

V g l . oben Einleitung S. 4 - 5 und Brief v o n Victor Cyril (Clarté) an Schickele.

Die pazifistischen Dichter P. J. Jouve und M . Martinet hatte Schickele in den Weißen Blättern publiziert. M i t Vildrac und Werth war er befreundet, vgl. Schickele : »Die Reise nach Paris«. I n : Die neue Rundschau M a i 1921 ( = französisch: »Le Voyage à Paris«. I n : L'Art libre Juli-August 1921) und Schickele: E i n Dichter des Antimilitarismus (Léon Werth). I n : Die neue Rundschau September 1921 ( = franz. L'Art libre Sept. 1921).

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain R o l l a n d 1 0 7

qu'il existe entre tous une aspiration à s'unir et à coopérer. Or, ce n'est l'apanage d'aucun parti ; mais bien plutôt une disposition du coeur et de l'esprit, un don de la grâce, qui touche les personnalités les plus diverses. Travaillons à les unir, tout en respectant leur diversité. — J'ai bien reçu le dernier n° de votre très intéressante revue, et je vous en remercie. Veuillez, croire, cher René Schickele, à ma cordiale sympathie Romain Rolland M o n adresse actuelle est à Territet (Vaud), hôtel Richelieu. A partir d'octobre, je serai, de nouveau, à Paris, 3 rue Boissonade ( X I V )

8 Clarté an René Schickele 93 »CLARTÉ« 12, Rue Feydeau PARIS COMITÉ DE DIRECTION: Henri Barbusse, Blasco Ibanez, Georg Brandes, Victor Cyril, Paul Colin, Georges Duhamel, Eckhoud, Anatole France, Charles Gide, Henry-Jacques, Ellen Key, Andréas Latzko, Raymond Lefebvre, Magdeleine Marx, E. D . Morel, Edmond Picard, Ch. Richtet, Séverine, Upton Sinclair, Steinlen, Vaillant-Couturier, H.-G. Wells, Israël Zangwill. Paris, le 14 octobre 1919 9 4 Cher camarade, Sans nouvelles de vous, nous supposons que vous êtes en tournée de propagande ou de conférences. 92 * que v o n Rolland korrigiert aus ursprünglich: qu'un. Inzwischen tauchte in der Bibliotèque Nationale de Paris ein Konzept zu diesem Brief Rollands auf, in dem die Stelle ursprünglich lautete: »qu'un peuple commande«, darübergeschrieben findet sich als Alternativvariante: »qu'un Demos ait la cratie«. Ansonsten weicht das Konzept nur sprachlich zuweilen v o n der Endfassung des an Schickele gesandten Briefes ab. Wie sehr es Rolland um vorsichtige Formulierungen ging, zeigen die vielen Korrekturen, deren Vorstufen allerdings häufig unleserlich sind. Für die Zusendung einer Xerokopie des neu aufgefundenen Entwurfs unter dem 2. 2. 1988 danke ich sehr herzlich Frau Konservatorin Marie-Laura Prévost (Département des Manuscrits / Division des Manuscrits Occidentaux, B N Paris). 93

Originalbrief i m Besitz d. D L A Marbach a.N., bisher unveröffentlicht.

94

Unter dem Datum von Schickeies Hand: 12. O k t . Vgl. dazu Abb. nach S. 108.

108

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Paul C o l i n 9 5 a été notre hôte pendant huit jours. I l a pris la parole à plusieurs réunions organisées par nous, et nous a quittés, muni de tous nos pouvoirs pour organiser d'une façon définitive la section hollandaise. Nous vous remettons sous ce pli tous les documents intéressant l'action de Clarté (Internationale de la Pensée) et notamment la formation d'une section de pays. Nous vous avons tous designé pour prendre en mains le secrétariat général de la section allemande, qui doit s'organiser sur des bases grandioses, et pour faire partie du Comité Directeur International. Nous estimons que nul n'est plus qualifié que vous pour se mettre à la tête du mouvement en allemagne. Nous sommes déjà en correspondance suivie avec K u r t H i l l e r , 9 6 qui s'occupe activement de nous. Vous nous obligeriez infiniment en nous disant le plus tôt possible comment vous prévoyez la composition du Comité allemand, qui doit comprendre — dès maintenant — comme la section française, une quinzaine de membres. Ci-joint le 1 e r numéro du bulletin 9 7 bi-mensuel que nous avons décidé de faire paraître avant le lancement de notre grande revue internationale, pour tenir les adhérents français au courant de notre action. Nous avons déjà tiré à 25000. Et tout a été épuisé en deux jours. C'est sans précédent pour un bulletin d'avant-garde. Nous provoquerons vers Janvier prochain à Berne un premier congrès international d'intellectuels. 98 Nous attendons avec impatience votre réponse.

95 Paul Colin, Herausgeber der Zeitschrift L'Art libre (Brüssel) hielt am 21. 12. 1919 in Berlin (Kunstsalon Cassirer) bei der Gründungsversammlung der deutschen Sektion v o n Clarté die Eröffnungsrede, die Schickele mit einer Begrüßungsansprache erwiderte, deren unkorrigierter E n t w u r f i m D L A Marbach a. N . noch vorhanden ist (Sign. A : Schickele), Titel : Die Lage der Intellektuellen in Europa. V g l . dazu mein Referat : R. Schickele u. R. Rolland (Anm. 22) S. 103. Colin opponierte gegen Barbusse zusammen mit Rolland u. Schickele vgl. meine Diss. (Anm. 1) S. 116. 96 Der Aktivismus des expressionistischen Literaten K u r t Hiller ist in der Zeitschrift Clarté (Anm. 97) immer wieder Gegenstand bewundernder Artikel und Manifeste vgl. Nr. 1 v. 11. 10. 1919, S. 2, Nr. 3 v. 8. 11. 1919, S. 2, N r . 5 / 6 v. 13. 12. 1919, S. 2. 97

Clarté. Internationale de la Pensée. Directeur Henri Barbusse, Paris, 1. Jg. (11. O k t . 1919) — 3. Jg. (3. Dez. 1921). 98

Der Kongreß scheiterte vgl. Racine (Anm. 89) S. 203.

Victor Cyril(-Berger) im Auftrag des Direktionskomitees von Clarté an René Schickele. Verkleinerte Wiedergabe nach dem Original im Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. Datierung »14. Oktober 1919« von Schickeies Hand korrigiert zu: »12. Okt.«

Clarté an René Schickele unter dem 14.10.1919, Briefende mit den Unterschriften des Generalsekretärs Victor Cyril und des geistigen Initiators Henri Barbusse.

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain Rolland

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Avec le salut chaleureux de tous nos collègues du C.D.I. — et l'assurance de nos sentiments fraternels

Henri Barbusse.

V . Cyril

Le Secrétaire Général du Bureau International (Stempel)

9 René Schickele an Romain R o l l a n d " Uttwil, Bodensee 16. 11. 19 M o n cher maître, vous aurez reçu le dernier numéro du »Forum«. W. H . 1 0 0 y parle de »Clarté« et cite quelques phrases d'une lettre que vous lui avez écrite — façon de polémiser contre »Clarté« que je trouve assez malheureuse. I l faut que je réponde. Mais je ne veux pas suivre W. H . sur un terrain qui ne pourra jamais être celui d'une entente entre intellectuels, entente absolument nécessaire en Allemagne. Vous figurez sur la liste de la ligue »Zur Beförderung der Humanität« (de Nicolai) avec des 1 0 1 * noms les plus compromis. Nicolai tirant avec vous à droite, W. H . à gauche nous n'arriverons jamais à former le bloc nécessaire contre l'immense réaction qui se prépare en Allemagne. Le groupe allemand de »Clarté« devait fournir l'occasion unique de réconcilier les bonnes volontés orientées vers le même but. Voilà pourquoi je m'occupe pour la première fois de ma vie d'une organisation. L'Internationale de la Pensée une fois constituée i l y aura sans aucun doute des changements de personnes et des redressements d e 1 0 2 * principes dans la direction — mais d'abord faudrait-il 1 0 3 * qu'elle existe ! I l est si difficile de monter de grosses machines ! Pour le moment c'est l'essentiel 104 * d'y réussir. Croyez-moi, mon cher

99 I m Unterschied zu allen anderen hier publizierten Briefen Schickeies ist dieser nicht mit der Hand sondern mit der Maschine geschrieben und enthält nur wenige handschriftliche Spuren wie die Zahl 16 i m Datum und Verdeutlichungen von einzelnen Buchstaben außer der Unterschrift. Das Fehlen v o n Akzenten vgl. A n m . 107* und 108* könnte mit dem Typensystem einer deutschen Schreibmaschine zusammenhängen. 100 w . H . = Wilhelm Herzog, Herausgeber des Forum, vgl. Einleitung S. 5 dazu oben A n m . 32 und Schickeies Brief an Rolland v. 28. 10. 1915 = Briefzeugnis N r . 2. 101

* des müßte korrekt heißen: les. 102* j e v o n Schickele korrigiert aus: des. 103* faudratt-il 104

müßte korrekt heißen: il faudrait.

* c*est ressentiel korrekt wäre: l'essetitiel est.

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maître, que si nous ne réussissons pas avec »Clarté« i l y aura b r o u i l l e 1 0 5 * continuelle entre 4 ou 5 groupes qui s'entraveront l'un l'autre. Et pourtant, nous voudrions précisément en sortir du »chaos intellectuel«. Je tenais à vous exposer en toute franchise mon point de vue. Je tiens aussi à ce que Ton ne vous mêle pas dans la misérable bataille de clans qui pourrait se livrer en Allemagne autour de »Clarté«. C'est pour cela que je n'ai répondu à W. H . qu'avec 1 0 6 * les quelques phrases, dont je vous donne ici la copie. Croyez, mon cher maître, 1 0 7 * à mon sincère 1 0 8 * dévouement. René Schickele Nachwort109 Soeben erhalte ich die Oktobernummer des »Forum« und lese darin, es sei nicht nötig, den Grund zu verschweigen, warum Romain Rolland sich an »Clarté« nicht beteilige. I n einem Brief an den Herausgeber drücke er ihn selbst so aus : »Gleich Ihnen ertrage ich keine Kompromisse ; gegenwärtig herrscht überall eine Tendenz, die moralischen Defekte dieser letzten fünf Jahre zu vergessen und — infolge Müdigkeit, Schwäche, Kameradschaft die verdächtigsten Bundesgenossenschaften wieder aufzunehmen. Ich lehne sie für mich ab, solange diese sogenannten Bundesgenossen nicht ihre Aufrichtigkeit bewiesen haben. Und das ist einer von den Gründen, weshalb ich mit mehreren meiner Freunde es abgelehnt habe, mich an der Gruppe »Clarté« zu beteiligen, i n deren Listen ich zuviel Leute sehe, die unsere Ideen mit allen Mitteln bekämpft haben.« Über »Clarté« hatte Rolland auch mir geschrieben. Er hatte jedoch hinzugefügt: »Was ich Ihnen hier sage, soll unter uns bleiben.« Ich enthalte mich deshalb zu erwidern, was zu sagen wäre, wenn Rolland die öffentliche Diskussion über den Fall gewünscht hätte. Jedenfalls unterhält Rolland die besten Beziehungen zu den Leitern der »Clarté«, wie ich von ihnen und von ihm selbst weiß, und mir schrieb er : »Wir wünschen den Erfolg von >ClartéClarté< nicht angehöre. Ich möchte jedoch niemandem die Möglichkeit geben, sich auf die i m Forum veröffentlichte Bemerkung zu berufen, um den Bemühungen der Gruppe >Clarté< entgegenzuarbeiten, indem er mich als deren Gegner anführt. — Ich lege i m Gegenteil großen Wert darauf kundzutun, daß ich nicht nur Barbusses künstlerische Kraft, sondern auch seine große Zivilcourage innig bewundere. Wenn ich andererseits das in K a u f genommene Durcheinander der ersten Listen von >Clarté< kritisieren mußte, so freue ich mich festzustellen, daß >Clarté< inzwischen ihre Haltung mit bemerkenswerter Entschlossenheit geklärt hat. — Außerhalb jeder Partei sehe ich persönlich meine erste Pflicht in der Wahrung der Unabhängigkeit des Geistes, der nur einen Lehrmeister anerkennt : die Wahrheit. Aber der beste Teil meiner Sympathie gilt

Die Korrespondenz zwischen René Schickele und Romain R o l l a n d 1 2 9 darum nicht weniger jenen, die für die Freiheit der Völker und für den gesellschaftlichen Fortschritt kämpfen. I n der vordersten Reihe dieser braven Kämpfer steht die Gruppe >ClartéHans im Schnakenloch
privaten< dagegen gibt er sich ehrlicher.« (111) Gough bemerkt weiter, daß die Stille-Straßen-Bühnenbilder i m Gegensatz zu den lakonisch kurzen Anweisungen für viele andere Bühnenbilder immer i n peinlich genauen Einzelheiten beschrieben werden (121). Wertheimer stellt fest, daß die zwei wichtigsten wiederkehrenden Bühnenbilder der Geschichten, die stille Straße und die Szene auf dem Lande »Draußen in der Wachau,« beide von einer Figur beherrscht werden, nämlich v o m Zauberkönig und der teuflichen Großmutter, die Mariannes K i n d sterben läßt (159). Beide sind alte Familienoberhäupter, verwitwet, mit dämonischen Eigenschaften. Wertheimers Bemerkung, nach einer Straßenszene folge jeweils eine Szene auf dem Lande (161), trifft zwar nur für drei der vier Straßenszenen zu (nicht für I I , 1), aber er sieht ganz richtig keinen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden miteinander verbundenen Bühnenbildern (163). So sieht das auch Haag, die die Wachau eine »Verlängerung der stillen Straße« nennt (152). Die unwürdigen, lebensfeindlichen Verhältnisse in der stillen Straße sind nicht nur auf den »achten Bezirk,« sondern darüber hinaus auf Wien und ganz Österreich übertragbar.

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Russell E. Brown

Die fehlerhaft auf dem Klavier gespielten Walzer, die das akustische Requisit der Straße bilden, entsprechen dem Zitherspiel der Großmutter in der Wachau. A m Ende versucht Marianne die mörderische Großmutter mit genau dieser Zither zu erschlagen (249). Unbewußt ahnt sie die Verbindung zwischen der durch das Instrument charakterisierten allgegenwärtigen Massenkultur und dem T o d ihres Kindes, während Horväth selbst damit diese Verbindung dem Zuschauer unmißverständlich mitteilt. Elizabeth Gough hat bei ihrer Einteilung der von Horväth benutzten Bühnenbilder die Häufigkeit der Straßenszenen in seinen Stücken hervorgehoben. Andere typisch städtische Bühnenbilder neben der stillen Straße sind eine Straßenecke (in drei Dramen) und eine Straße vor einem Amtsgebäude (in fünf Dramen). I n keinem dieser Straßenbilder befinden sich Geschäfte. Bemerkenswert bei diesen Bildern sind auch die knapp ausfallenden Anweisungen, die die beabsichtigte Symbolik unterstreichen, die Horväth i n den ausführlich beschriebenen Geschäftsstraßenszenen verfolgt (Gough, 120). Das erste erhaltene Stück Horväths, Mord in der Mobrengasse , entstanden 192324, enthält schon eine stille Straße als Schauplatz des 2. Aktes, eingeschoben zwischen zwei Akten »im bürgerlichen Wohnzimmer.« Mohrengasse. V o n links nach rechts: E i n geschlossener Laden mit Schildaufschrift: Diamanten. Gold. Simon K o h n . Kauf. Verkauf. Eine schmale Hoteltüre, die in einen matt erleuchteten K o r r i d o r mündet. V o r dem ersten Stocke halbkreisförmig trübelektrische Buchstaben: Hotel. Eine Bar. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe, auf der ein altes Plakat klebt, geigt ein Schatten. Man hört aber keine Musik. Es ist Nacht und still. (390)

Wenzel Klamuschke, der »verlorene Sohn,« der aus dem bürgerlichen Wohnzimmer stammt, hat den Juwelier des linken Nachbargeschäfts i m Bühnenbild während eines Raubüberfalls erschlagen. I m 2. A k t besucht er nachts das Geschäft wieder und spricht mit dem Gespenst von Simon Kohn, das ihn verspottet, weil die Beute seines Überfalls nur unechter Schmuck war. Als die Polizei ihm auf die Spur kommt, hängt sich Wenzel zu Hause auf (3. Akt). Das Juwelier- und Pfandleihgeschäft dient damit nicht allein symbolischen Zwecken, es ist i n die Handlung mit einbezogen. Hotel und Bar andererseits repräsentieren das Nachtleben, das Milieu der Prostituierten; sie sind nicht Bestandteil der Haupthandlung selbst. Eine grotesk gekleidete, weißhaarige Prostituierte, die gerade aus dem Gefängnis kommt und einen Jungen in die Geheimnisse des Geschlechtslebens einweiht (der Zuschauer sieht nur das erleuchtete Fenster), verläßt das Hotel und w i r d sofort wieder verhaftet. Die Mohrengasse ist in ihrer Symbolik nicht mit der stillen Straße im achten Bezirk vergleichbar; sie ist lediglich eine übel beleumdete Gegend. Die

Die Geschäftsstraße als Bühnenbild bei H o r v t h und Brecht

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bürgerliche Familie Klamuschke hat auch einen verheirateten Sohn, der Bankangestellter ist, und eine Tochter, die mit einem anständigen Studenten befreundet ist. Das Verhältnis der Familienmitglieder untereinander ist haßerfüllt und bösartig, aber es hat nichts von der Hoffnungslosigkeit des ausgestoßenen, verbrecherischen Sohnes oder der Prostituierten der Mohrengasse. Die Familie w i r d das Grauen über den Selbstmord des Sohnes überleben, auch wenn die Mutter vorübergehend den Verstand verliert. Wenzels Fall zerstört nicht die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft, ist vielmehr ein Ereignis aus der Unterwelt, des spezifischen Milieus der Mohrengasse. I n diesem Sinn sind die Bühnenbilder und die Fabel i m Mord in der Mohrengasse weniger thematisch integriert als in den Geschichten aus dem Wiener Wald, in denen die Gesellschaft so gleichförmig ist, daß die Geschäftsstraße als die vollkommene Verkörperung der bestehenden Sozialordnung erscheint. Mord dagegen besteht aus einer seltsamen Mischung von expressionistischem Stationsdrama — die Straßenszene erinnert an Georg Kaisers von morgens bis mitternachts (1912) — und einer melodramatischen Kriminal- und Gespenstergeschichte. Der ermordete Juwelier sucht als Gespenst nicht nur seinen Mörder heim, sondern auch die nüchterne Polizei. Ein Juweliergeschäft, ein billiges Stundenhotel und eine Bar ergeben schließlich kein Bühnenbild, das für die gesamte Gesellschaft repräsentativ ist. Die andere gesellschaftliche Gruppe — die bürgerliche Familie — kommt mit dieser Welt nur durch den verlorenen Sohn in Berührung, der dort einen M o r d begeht, und nur nach Hause zurückkehrt, um zu sterben. Wenzels Familie wohnt nicht in der Mohrengasse. Das Straßenbild in der Mohrengasse mit ihrer Möglichkeit zur symbolischen Interpretation der drei dort befindlichen Geschäften bezieht sich also nur auf diese Gesellschaftsschicht und nicht auf die Gesamtgesellschaft. Dieses frühe, sehr kurze Stück Mord in der Mohrengasse, das niemals aufgeführt wurde, könnte als eine dramatische Übung aufgefaßt werden, die der Vernichtung früherer Manuskripte zufällig entgangen ist (GW, I, 7 * - 8 * ) . I m Gegensatz dazu ist Die Unbekannte von der Seine ein bedeutendes spätes Stück. Es wurde i m Jahre 1933 geschrieben und aufgeführt, als Hitler an die Macht kam und Horvath kurz vor dem Exil Romane anstelle von Dramen zu schreiben beginnt, weil ihm die deutsche Bühne jetzt versperrt war. Z u m Schauplatz des neuen Stückes wählte er Paris, was möglicherweise als eine Reaktion auf seinen Ausschluß aus Deutschland mit seinen Theatern zu verstehen ist. Das Bühnenbild von der Geschäftsstraße ist hier besonders interessant; es erscheint noch einmal verwandelt in einem Epilog, wie i m folgenden ausgeführt. Eine stille Straße liefert das Bühnenbild im 1. A k t (zur Tageszeit) und i m 2. A k t (Nachtzeit), bevor die Szene in ein möbliertes Zimmer wechselt, ähnlich dem von Alfred und Marianne i n den Geschichten (II, 2).

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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Russell E. Brown Seitengasse. Altes und hohes Haus. Neben dem Haustor ein Uhrmacherladen und eine

kleine Blumenhandlung mit Rosen, Tulpen, Hyazinthen, Kakteen und Flieder — bis auf die Gasse hinaus. Darunter auch eine Stechpalme. Die Besitzerin der Blumenhandlung ist blond, ledig und Mitte der Zwanziger. M i t dem Vornamen heißt sie Irene. I n der Auslage des Uhrmacherladens hängen lauter Uhren — große und kleine, alte und neue. A u c h Kuckucksuhren. U n d ein Barometer. Es geht bereits gegen Abend. Ende Mai. (141)

Das dreiteilige Bühnenbild erinnert übrigens an das i m Mord. Das Gebäude in der Bühnenmitte stellt ein Wohnhaus statt eines Hotels dar, wobei in beiden Stücken das Gebäude wenig mit der Handlung zu tun hat. Weder die Klamuschkes in Mord noch die Hauptpersonen hier, Albert und die Unbekannte, wohnen in diesem Haus. Das Juweliergeschäft wird hier durch das Uhrmachergeschäft ersetzt und in beiden Stücken wird der Eigentümer, der i m Hinterzimmer schläft, bei einem versuchten Raubüberfall ermordet. Der Dieb, Albert, hatte gleichzeitig seine Stelle als Lastwagenfahrer und die Frau, mit der er seit zwei Jahren ein Verhältnis hatte, verloren. Diese ist die Inhaberin des Blumengeschäftes rechts neben dem hohen Haus, wenn wir uns das hohe Haus als in der Mitte des Bühnenbildes vorstellen. Die i m Titel genannte Hauptfigur ist eine junge Frau ohne festen Wohnsitz und ohne Arbeit, die Albert in der Straße kennenlernt, mit ihm schläft und zufallig Zeugin seines Verbrechens wird. A m Tag danach ertränkt sie sich i n der Seine. Deshalb hat auch die Auswahl der Geschäfte — Uhren und Blumen — in dieser Straße symbolische Bedeutung nicht nur für die Gesellschaft oder Schicht, sondern auch für ihr persönliches Schicksal. Uhren haben ihre nunmehr abgebrochene Lebenszeit gemessen. Blumen werden zu Beerdigungen und Gräbern gebracht. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß das tote Mädchen weder ein Begräbnis haben wird, noch werden jemals Freunde oder Verwandte Blumen auf sein Grab legen. A m Anfang des Stückes wird als vorausdeutende Anspielung ein Kranz zur Auslieferung an ein Krematorium bestellt (146). Blumen werden auch mit Liebesbeziehungen und Heiraten i n Verbindung gebracht. Ein junger Mann, Emil, kauft am Anfang Blumen für einen Brautstrauß, und viele Personen des Stückes stehen i m Begriff, sich einen neuen Partner in der Liebe anzuschaffen (Alfred, Irene, Ernst, die Unbekannte). I m hohen Haus gibt es sogar eine untreue Ingenieursgattin, die hinter der Fassade mit ihrem Liebhaber Ehebruch begeht, wie in Mord. Der Uhrmacher wird durch einen Schlag über den Schädel mit einer seiner eigenen Uhren ins Jenseits befördert. Vergleiche Mariannes Angriff auf die Großmutter mit deren Zither. Die Symbolik der Geschäfte konzentriert sich aber auf die weibliche Hauptfigur, die Unbekannte, in weit größerem Ausmaß als auf Marianne in

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Geschichten, in denen sich Fleischhauerei, Spielwarengeschäft und Tabak-Trafik in erster Linie auf das Kleinbürgertum und Wien beziehen. Albert stiehlt Blumen für die mittellose Unbekannte als unbewußt ironischen Ersatz für die Blumen, die bei ihrer Beisetzung fehlen werden. Sie wünscht sich eine Blume, weil sie sich plötzlich an ihren Heimatfriedhof erinnert (150). Einmal holt sie ein Brötchen aus einer Bäckerei (hinter der Szene wie in Se^uan, s. u.), die das einzige Geschäft ist, in dem Lebensmittel verkauft werden. Die direkt auf der Bühne zum Verkauf angebotenen Uhren und Blumen sind überflüssige Gegenstände, auf die man besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten leicht verzichten könnte. Sie sind vielleicht weniger unnütz als das Spielzeug, die Zauberartikel und die Zigaretten der Geschichten. Die Uhr hat übrigens eine positive Assoziation mit den (deutschen) Tugenden von Pünktlichkeit und Ordnung. Gleichzeitig ist sie, wie gesagt, ein memento mori y während Blumen eher mit Jugend, Schönheit, Liebe und Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht werden als mit Sterben und Tod. Eine K r i t i k an der ganzen Gesellschaft ist hier w o h l weniger beabsichtigt, als die Darstellung des Schicksals eines heimat- und heimlosen Mädchens. Das Bühnenbild in der Unbekannten ähnelt dem in Mord insofern, als wieder zwei Geschäfte jeweils seitlich von einem Wohnhaus stehen, und ein Raubmord in dem Geschäft links stattfindet. Die Personen aber erinnern deutlich an die aus den Geschichten. Die Heldin — gleichzeitig auch das Opfer — wagt es zu lieben, wird aber durch die wirtschaftliche N o t und die Unbeständigkeit oder den Egoismus des männlichen Partners zerstört. Sie gleicht Marianne, deren Einwilligung in eine Heirat mit Oskar dem Selbstmord gleichkommt. Der Halunke Albert, der die Heldin gelassen ausnutzt, kehrt nach dem Fall seines Opfers ohne Reue zur ehemaligen Geliebten zurück, die auch Geschäftsinhaberin ist, ebenso wie Alfred, dessen Name ähnlich klingt. Die Besitzerin des Blumengeschäftes, Irene, gleicht der Trafikantin Valerie (beider Läden liegen auf der rechten Seite der Bühne). Ihr gegenwärtiger Liebhaber Ernst erinnert an Erich in den Geschichten. Partnerwechsel und neue Gruppierungen finden an einem Tag statt, in Geschichten dagegen dauert es ein Jahr. Horvath hat den drei Akten der Unbekannten einen Epilog folgen lassen und darin die Geschicke der jungen heiratsfähigen Personen des Stückes einige Jahre später dargestellt. Alle haben sich inzwischen häuslich niedergelassen. Albert und Irene besitzen eine Gärtnerei außerhalb der Stadt und haben einen dreijährigen Sohn, einen kleinen Albert, dessen Schicksal mit dem von Mariannes Sohn Leopold kontrastiert, der schon als Säugling sterben mußte. Die Anweisungen für das Bühnenbild sind wie folgt:

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Russell E. Brown Epilog

Wieder in der Seitengasse vor dem Hause Nummer neun. N u r einige Jahre sind vorbei. W o früher die Blumenhandlung war, ist nun eine Wäscherei, und in dem Laden, in welchem der Uhrmacher erschlagen wurde, befindet sich nun eine bescheidene Buchhandlung. I n der Auslage hängen Zeitschriften, Bücher, überwiegend antiquarisch und eine Totenmaske der Unbekannten in der Seine. I n der Auslage der Wäscherei hängen naturnotwendig Hemden und Unterhosen. (193)

Das Blumengeschäft mit der doppelten Assoziation von Liebe und T o d wird durch eine Wäscherei ersetzt. Durch diesen Ersatz versinnbildlicht Horvath den Übergang von jungen unverheirateten Leuten zu Ehepaaren mit Kindern, den praktischen Aufgaben und dem Alltag des Familienlebens. Unterwäsche hat jetzt die Sentimentalität von Blumen ersetzt. Der Übergang von einem Uhrmachergeschäft in einen Bücherladen ist weniger leicht zu interpretieren, denn die Zeit wäre auch ein passendes Symbol für die unvermeidlichen Wiederholungen i m Eheleben, ihre Regelmäßigkeit und vielleicht ihre Langeweile. Der Bücher laden bietet aber auch Zerstreuung für die in der Ehe gefangenen Paare, nämlich Lesen. So liest die »etwas korpulente« Frau des Buchhändlers »einen spannenden Roman« auf einem Stuhl vor dem Geschäft (193). Die Spezialisierung auf alte, gebrauchte Bücher weist auf die Nostalgie der alternden Paare, auf die verlorenen Geheimnissen und Freuden der Jugend, die nur noch i m Bereich der Freizeitlektüre zu erreichen sind, hin. Noch dazu befindet sich i n dem Bücherladen die gipserne Totenmaske eines aus der Seine geborgenen unbekannten Mädchens, ein Kitsch-Gegenstand aus der Wirklichkeit, der zu dieser Zeit in vielen (auch deutschen) Wohnzimmern des Volkes zu finden war. Hier trägt die Maske natürlich die Züge des Mädchens aus unserem Stück. Das Stück selbst liefert eine Dramatisierung dieser weit bekannten Figur, über die eine Bekannte Honraths, Hertha Pauli, eine Kurzgeschichte geschrieben hatte. Horvath wollte dann zunächst mit der Dichterin zusammen den Stoff dramatisieren (Ges. Werke I I , 3*-4*). Jetzt i m Epilog hat Albert Irene überredet, die Totenmaske zu kaufen und sie über das Brautbett zu hängen. Er vermutet, es könnte das Mädchen sein, dem er i n der Nacht des Mordes an dem Uhrmacher begegnet ist. Sie nahm das Geheimnis seines Verbrechens mit i n den Tod. Die Gewalttätigkeit der Straße, wie sie durch Alberts Verbrechen exemplifiziert wird, bleibt ungestraft, aber auf eine merkwürdige indirekte A r t w i r d der Toten ein Denkmal gesetzt. V o r allem aber demonstriert Horvath dadurch, wie banale und sentimentale Bestandteile der Massenkultur aus tatsächlichen Lebenserfahrungen der Menschen bezogen werden können, indem das wirkliche Leid, Egoismus, Verbrechen und Opfer ausgeblendet werden, um ein süßes, geheimnisvolles und verlogenes Filtrat zu hinterlassen. Die Totenmaske der Unbekannten entspricht den Wiener

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Walzern in den Geschichten. Wie die Walzer, die an jeder Straßenecke gespielt wurden, so hing auch die Maske — ein Massenkultur-Produkt — an jeder Wand. Das Aufhängen der Totenmaske des Mädchens i m Schlafzimmer jenes Mannes, der ihre letzte Hoffnung i m Leben war, ist eine überdeutliche Ironie des Stückes. Bei der Besprechung der Straßenszenen Horvaths sollte zuletzt an Horvaths Bemerkung zu Klaus Mann erinnert werden: »Ich fürchte mich zum Beispiel vor der Straße. Straßen können einem Übelwollen, können einen vernichten.« (Gough, 110) Bekanntlich wurde Horvath von einem stürzenden Baum auf den Champs Elysees getötet. Bertolt Brecht, der wichtigste Autor und Theoretiker des modernen Dramas, verwendet eine Geschäftsstraße als Bühnenbild nur einmal in seinem umfangreichen dramatischen Schaffen. Das könnte zunächst dadurch erklärt werden, daß er — wie das von ihm stark abgelehnte Theater des Expressionismus — häufig abstrakte oder irreale Bühnenbilder benutzte, dabei auch weit entfernt von dem fast photographischen Realismus einer echten Horvath-Geschäftsstraße. Die Schauplätze seiner Stücke sind häufig entweder außereuropäische Länder (China, Indien), oder sie spielen in der Vergangenheit, wie i m vorkapitalistischen Dreißigjährigen Krieg oder i m feudalistischen Kaukasus, statt in zeitgenössischen deutschen Städten mit ihren Bürgern und Geschäften. Geschäftsstraßen als Bühnenbilder wären gut denkbar i n einigen Stücken mit wirtschaftlicher Thematik in (ausländischen) kapitalistischen Schauplätzen wie Im Dickicht der Städte (1923) in Chicago oder in der Dreigroschenoper (1928), die i m viktorianischen London spielt. Aber nur i m Guten Menschen von Se^uan (1940), mit dem Schauplatz einer erfundenen halbeuropäischen Stadt in China, kommt dieses Bühnenbild vor und auch hier nur in einer einzigen Szene. Mehrere Szenen des Stückes finden i m Inneren des Tabakgeschäftes der Shen Te statt. Shen Te, die Prostituierte, erhielt von den Göttern, die sie als den einzigen auftreibbaren guten Menschen bei ihrem Erdenbesuch anerkannten, »über Tausend Silberdollar« als Geschenk. Damit kann sie Ladenbesitzerin werden. I n der vierten der zehn Szenen gibt Berecht diese Anweisung für das Bühnenbild: 4. Platz vor Shen Te's Tabakladen Eine Barbierstube, ein Teppichgeschäft und Shen Te's Tabakladen. Es ist Morgen . . . (56)

Die Geschäfte sind nicht wie in den Horvathschen Texten in einer gradlinigen Häuserzeile angeordnet, sondern sind wohl i m einen Platz herum gruppiert. Verschiedene Hinweise i m Stück deuten auf die räumliche Beziehung zwischen dem Tabakgeschäft und den anderen Läden hin: »gegebüber« (41), »Visavis« (58), »nebenan« (67). Es gibt noch ein anderes Geschäft in der Nähe, das aus der Zuschauerperspektive nicht sichtbar ist, ein »Kuchenbäcker an der Ecke« (33). I n

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dieses Geschäft w i r d ein Junge geschickt, um Kuchen zum Frühstück zu stehlen. Er wird von einem Polizisten gefaßt, als er mit Gebäck beladen zurückkehrt. Es ist bedeutsam, daß der Bäcker dieser ärmlichen Gegend nicht das notwendige Grundnahrungsmittel Brot liefert, sondern den Luxusartikel Kuchen. Das einzige Beispiel der Verteilung der Bäckereiprodukte an die Verbraucher erfolgt nicht durch Verkauf sondern Diebstahl und wird mit der Verhaftung des Jungen vereitelt, so daß keiner der Hungrigen satt wird. Hier ist die kapitalistische Marktwirtschaft voller Widersprüche und Ironien. Die drei Geschäfte i m eigentlichen Bühnenbild bieten wie bei Horväth Waren oder Dienstleistungen an, die nicht notwendig zum (Über-) Leben sind. Teppiche tragen zu den Standardbild einer anständigen (westeuropäischen) bürgerlichen Wohnung bei. Außer daß sie etwas gegen Kälte isolieren, haben sie keinen nützlichen Zweck. Sie sind vor allem als Beweis einer bestimmten Klassenangehörigkeit begehrt. Die Dienstleistungen des Friseurs sind noch weniger von praktischen Nutzen, bringen sie doch nur die äußere Erscheinung der Männer in Einklang mit den gerade herrschenden Modevorschriften. Die Tabakerzeugnisse gar, die seltsamerweise von dem »guten« Menschen Shen Te verkauft werden, bilden nicht mehr solche neutrale Luxus- oder Modeangebote, sondern sind direkt gesundheitsschädlich, wenn auch deren Schädlichkeit dem starken Raucher Brecht und seinen Zeitgenossen noch nicht voll bewußt war. Diese scheinbar zufällige Zusammenmischung von Geschäften i n einem ärmlichen chinesischen Stadtteil ist also sorgfältig ausgewählt, u m den Kapitalismus und, was neu ist bei unseren Beispielen, die Verwestlichung negativ darzustellen. Der Bevölkerung werden Waren und Dienste angeboten, die ebenso nutzlos wie unerschwinglich für sie sind. Der größte Teil der Bevölkerung betreibt selbst irgendeinen Handel und viele sind schon bankrott, leiden wirtschaftliche N o t und sind von der privaten Wohltätigkeit anderer abhängig. Eine Zementfabrik w i r d zwar erwähnt (89), aber es treten keine Vertreter der darin beschäftigten Arbeiterklasse auf. Außer einer achtköpfigen Familie, den bankrotten ehemaligen Mietern von Shen Te's Laden, die sich jetzt bei ihr als Parasiten eingenistet haben, machen ein Zimmermann und das alte Ehepaar, das das Teppichgeschäft führen, Pleite. Die wirtschaftliche Notlage i n Sezuan ist hoffnungsloser als i n den schlimmsten Krisenzeiten von Horväths Dramen. Die komisch übertriebene Verzweiflung der chinesischen Kleinbürger dient der Absicht des Stückeschreibers, mit seinen Stücken eine neue Gesellschaftsordnung vorzubereiten. Diese Absicht wurde nicht von dem Skeptiker Horväth geteilt, der die »Dummheit« der Menschen (s. o.) eher beschäftigt hat als ihre Beiehrbarkeit.

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Bevor die Götter sie vorübergehend reich machten als Belohnung dafür, daß sie ihnen eine Schlafstelle zur Verfügung stellte, arbeitete Shen Te als Prostituierte. Als solche hat sie Dienstleistungen verkauft wie viele andere auch in dieser kapitalistischen Gesellschaft. Zwar verdient sie dabei die Verachtung ehrbarer Bürger (Polizist: »Liebe verkauft man nicht, sonst ist es käufliche Liebe [41]), aber Shen Te liefert etwas, was für ein normales, volles Leben erforderlich ist: die körperliche Liebe. Sie verkauft aber etwas, wofür keiner Geld geben oder empfangen sollte i n einer idealen Gesellschaft. Brecht wollte das Stück ursprünglich »Die Ware Liebe« nennen. Man merke das Wortspiel Ware-wahre. Wie der halbgute Mensch von Sezuan, der Wasserverkäufer Wang, bietet sie eine Ware / Leistung an, die die Mitmenschen oder die Natur unentgeltlich zur Verfügung stellen sollten. Eine gerechte Gesellschaftsordnung würde dafür sorgen, daß niemand von der N o t anderer profitieren könnte, bzw. daß niemand in den notwendigen menschlichen Kontakten mißbraucht oder erniedrigt würde. Die Liebe und das Wasser sind gleichermaßen Notwendigkeiten, die außerhalb eines gerechten Wirtschaftssystems stehen sollten. Wang, der Verkäufer, muß sich ärgern, wenn es regnet, weil dadurch allen das Wasser umsonst geliefert wird, sein mühsam hergeschlepptes Wasser wertlos gemacht wird. Seine Gewinnsucht ist unvereinbar mit dem allgemeinen W o h l in dieser einen Beziehung. Außerdem benutzt er einen Becher mit falschem Boden, um seine Profite durch Betrug zu erhöhen. So wird auch in unserer und Brechts Gesellschaft die Verpackung von Lebensmitteln zum Instrument des Betruges ausgenutzt. Auch Shen Te als Prostituierte muß einen harten Konkurrenzkampf gegen andere Verkäuferinnen der Liebe ausfechten. Sogar nach ihrem Berufswechsel in eine ehrliche Ladenbesitzerin muß sie i m Stadtpark einen attraktiven jungen Freier aus den herumkreisenden alten Kolleginnen herauslocken. Sun . . . Z u m Publikum: Selbst an diesem abgelegenen Platz fischen sie unermüdlich nach Opfern, selbst i m Gebüsch, selbst bei Regen suchen sie verzweifelt nach Käufern. (45)

So wird das Fahnden einer nunmehr respektablen Frau nach einem Mann zum Zweck der Ehe mit den Angeboten von käuflicher Liebe gleichgestellt. Außerdem versucht Shen Te durch eine Heiratsannonce in einer Zeitung, die doch Reklame für viele Waren bringt, einen reichen Gatten (Käufer) ausfindig zu machen — dies auf Anraten des weltkundigen Polizisten. I n dieser von Geld regierten Gesellschaft, wo alles seinen Preis hat, ist es auffallend, daß in den Läden des Bühnenbildes fast nichts verkauft wird. I n den Geschichten wurden einige Verkäufe in der Fleischerei und einer in der Puppenklinik abgewickelt. Hier verschenkt Shen Te ihre Zigaretten oder tut nichts dagegen, wenn sie einfach von Bekannten mitgenommen werden. N u r zwei

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kleine Transaktionen werden auf der Szene vorgeführt. Die alte Dame aus dem Teppichgeschäft kauft ihrem Mann eine billige Zigarre zum vierzigsten Hochzeitstag (41). Der Teppichhändler verkauft seinerseits Shen Te einen beschädigten Shawl, als sie sich verliebt hat und ihre Heiratschancen verbessern w i l l (57-8). Aus der Stube des reichen Barbiers erscheinen niemals abgefertigte Kunden, obwohl dieser den Wasservertreiber einmal aus seinem Geschäft treibt, ihn dabei mit einer schweren Brennschere verletzt, weil Wang seine Kunden angeblich belästigt mit dem »verstunkenen Wasser« (56). Die Kunden selber bleiben unsichtbar. Damit finden die einzigen gezeigten geschäftlichen Transaktionen in den drei Läden zwischen den Händlern der Geschäftsgruppe selbst statt; sie geben einander billige oder beschädigte Artikeln preisgünstig ab. Es gleicht einem Tauschgeschäft innerhalb der Entrepreneur-Gruppe, ohne daß Geld von draußen in die Geschäftsstraße einfließt. Die der Tabakhandlung benachbarten Geschäfte werden von sehr verschiedenen Charaktertypen geführt. Dadurch wird die weite Breite von kleinbürgerlichen Unternehmern gezeigt. Der Barbier Shu Fu auf der einen Seite ist egoistisch, aggressiv und sehr reich. (Wie ein Friseur zu solchem Reichtum gelangen sollte w i r d nicht erklärt.) Das Teppichhändlerehepaar dagegen ist großzügig, ängstlich und sehr arm. Eigentlich würden sie ebenso gut wie Shen Te die Bedingungen der Götter erfüllen, die verzweifelt nach »Guten Menschen« suchend umherirren. Der jähzornige Barbier verunstaltet den Wasserträger und weigert sich irgendwelche Entschädigung auszuzahlen. Selbstverständlich nimmt der Polizist für den reichen Unternehmer und Grundbesitzer Fu und gegen den mittellosen, obachlosen Wang Partei. Klassenjustiz herrscht hier wie in Brechts Europa oder in dem Asienstück Die Ausnahme und die Regel (1930). Die zwei so entgegengesetzten Ladenbesitzergruppen finden doch eine gemeinsame Basis in ihren Anstrengungen, Shen Te's gleich gefährdetes neues Geschäft vor dem Konkurs zu retten. Das alte Ehepar leiht ihr die stattliche Summe von zwei hundert Silberdollar, damit sie ihre Miete bezahlen kann. Diese kaum motivierte und, für die dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse, unglaubhaft wirkende Tat der Milde wird dann gleich durch den Bankrott ihres eigenen Geschäftes heimgezahlt. Während das selbstmörderische Benehmen des alten Ehepaars wenigstens psychologisch durch ihre Rolle als Ersatzeltern für die vollkommen alleinstehende Shen Te begründet wird, sieht der Barbier i n ihr die zukünftige Ehefrau. Er gibt ihr sogar einen Blankoscheck, angeblich weil er ihre Mildtätigkeit den Armen gegenüber bewundert. Also fließt das Geld von den zwei naheliegenden Geschäften in die gefährdete Tabakhandlung Shen Te's auf eine Weise, die nicht in Einklang zu bringen ist mit einer marxistischen Analyse der rücksichtslosen Habgier einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung.

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Horväth zeigt in seinen nicht marxistischen und zugleich wirklichkeitsnahen Schilderungen der kleinbürgerlichen Geschäftswelt niemals solche gegenseitige Hilfeaktionen. I n seinen Stücken wird jeder Unternehmer sich selbst überlassen. Rührselige Beteuerungen der Freundschaft oder Solidarität innerhalb der Unternehmergruppe bilden eine leicht durchschaubare Fassade, hinter der sich nackter Egoismus und Eigennutz verstecken. Als Beispiel lese man die Rede des Zauberkönigs bei der Verlobungsfeier seiner Tochter (179). Einzigartig an der Geschäftsstraße i n Se^uan ist ein Prinzip des dynamischen Wachstums, das die ganze Nachbarschaft verwandelt. (Bei Horvath werden die Stagnation, die Wiederholung hervorgehoben.) Die zu mildtätige Frau Shen Te erfindet einen Vetter, Shui Ta, der die passenden, ihr selbst fehlenden Eigenschaften der Härte und Selbstsucht sowie die praktische Fähigkeit, die Menschen nach seinen Zielen zu lenken, besitzt, um das Geschäft vor dem imminenten Untergang zu retten. Eine ähnliche Persönlichkeitsspaltung bei einer großkapitalistischen / feudalen Figur liefert das Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940-1) in der Person des abwechselnd betrunkenen und nüchternen Puntila. Hier wird Shen Te durch ihre mehrmaligen Verwandlungen in den systemgerechten Vetter und durch die Großzügigkeit des offensichtlich liebestollen reichen Barbiers in die Lage versetzt, aus ihrer kleinen, zugrunde gehenden Einzelhandlung eine Zigarettenfabrik zu begründen. Schließlich besitzt sie eine ganze Kette von Tabakläden, die ihre Produkte an den Mann bringen. Sie schafft den Übergang v o m Kleinhandel zur Produktion der Güter und schließlich zum Großhandel, fast die Herrschaft über die ganze Branche an sich reißend. Die mittellosen, obdachlosen Massen von Unbeschäftigten und ruinierten Geschäftsleuten, die eine Zeitlang von Shen Te's Reisalmosen gelebt haben, werden jetzt, mitsamt ihrer Kinder, als billige Arbeitskräfte in ihr sprunghaft wachsendes Unternehmen eingesetzt. Sogar ihr liederlicher Verlobter, der arbeitsloser Flieger Sun, wird gerettet und zur Arbeit herangezogen. Er weigerte sich die von ihm schwangere Shen Te zu heiraten, ohne das Vorschieben einer Geldsumme, die es ihm ermöglichen würde, die Stadt endgültig und allein zu verlassen. Jetzt, um die wohlverdiente Strafe für seinen Geldbetrug an Shen Te zu entgehen, nimmt er eine Stelle als Hilfsarbeiter in der neuen Fabrik an. Bald steigt er zum Vorarbeiter, Aufseher und schließlich zum Prokuristen auf. Seine verführerischen Eigenschaften werden auch geschäftlich eingesetzt oder umgewandelt, indem er von einer Grundstücksbesitzerin durch seinen Charme wichtige finanzielle Begünstigungen abgewinnen kann. Doch soll in erster Linie das Bühnenbild analysiert werden, nicht das Stück in seiner Gesamtheit. Wichtig erscheint hier das dynamische Wachstumsprinzip, das

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in dieser Straßenszene verborgen ist. Der kleine Tabakladen saugt Kapital von den beiden anliegenden Geschäften auf und entwickelt sich dann geschwind in ein großes Produktions- und Verteilungsunternehmen. Die degradierten Kleinbürger aus ruinierten Geschäften werden aus dem Lumpenproletariat gerissen und in der Produktion eingesetzt. Die Straßenszene auf der Bühne kann diese Entwicklung nicht mehr veranschaulichen. Szenen in den anderswo befindlichen Fabrikräumen und i m K o n t o r (dem verwandelten Geschäftsraum des Ladens) ersetzen das Straßenbild, das sozusagen nur als Ausgangspunkt einmal gezeigt werden mußte. I m Gegensatz zu Horvaths Dramen, w o die kleinen Geschäftsleute der Straßenszene nur überleben wollen, bzw. nur ein einmal früher erreichtes Niveau von bescheidenem Wohlstand behalten möchten, ist Brechts Sezuan-Straße in Bewegung. Indem sie sich ändert, ändert sie die Lage der Menschen von der Straße und Umwelt. Shen Te und ihrem erfundenen Vetter gelingt mühelos der Aufstieg v o m Familienbetrieb zu einem monopolkapitalistischen Konzern. Wenn auch vielen Armen damit geholfen wird, daß sie ein regelmäßiges Einkommen, sogar Wohnungen, bekommen, i m Gegensatz zu ihrer vorherigen Abhängigkeit von Shen Te's Wohltätigkeit, kann es nicht Brechts Absicht gewesen sein, eine Lobeshymne auf die Konzentration des Kapitals in extrem ausbeuterischen Großfabriken und Ladenketten zu schreiben. Man könnte vermuten, daß Brechts Parabel die marxistische Theorie widerspiegelt, die eine Notwendigkeit der dialektischen Entwicklung stufenweise von Feudalismus durch den Kapitalismus zu einer endgültigen sozialistischen Ordnung vorsieht. So hatten viele Marxisten in der Oktoberrevolution und vorher Angst, die Stufe des bürgerlichen Kapitalismus einfach zu überspringen. Erst nach dieser kapitalistischen Phase, glaubten viele, könnte man i n den Sozialismus hineinmarschieren. Was in Sezuan dann dargestellt wird wäre diese unerlässliche Stufe des Hochkapitalismus. Obwohl keine revolutionäre oder klassenkämpferische Perspektive i n den Figuren sichtbar ist — auch Shen Te verkörpert nur die traditionellen christlichhumanistischen Werte — , bietet die gewaltige Verwandlung, die von den drei kleinen Läden der Straßenszene ausgeht, mehr Hoffnung für die Zukunft als i n den starren Fassaden von Horvaths stiller Straße verborgen ist. Da w i r d immer nur die Dummheit vorherrschen. Shen Te's Parallelfigur, Marianne, der gute Mensch der Geschichten , bleibt ein Opfer. Ihr K i n d muß sterben, während Shen Te, ebenfalls ohne Ehemann, gleichzeitig Mutter und Unternehmer werden kann. Marianne wird hin und hergeschoben zwischen einem attraktiven aber rücksichtslosen Liebhaber (ihr Alfred gleicht dem Flieger Sun — mittellos, nicht von der Straße) und einem soliden Geschäftsmann (ihr Oskar gleicht dem Barbier

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Shen Te — beide dicke Inhaber des einzig gutgehenden Geschäftes der Dreiergruppe in der Straße). Aber Shen Te gewinnt über beide Männer, stellt Geld oder Arbeitskräfte in den Dienst ihres eigenen Unternehmens, behält ihre Unabhängigkeit und bringt ihr Baby allein zur Welt. A l l das kann Marianne nicht erreichen, da sie nicht nur von »ihren« Männern (Alfred, Oskar, und ihrem Vater) unterdrückt wird, sondern auch von der allgegenwärtigen, rührseligen und verlogenen Massenkultur Wiens, die in der Einkaufsstraße des achten Bezirks verkörpert wird. Shen The kann vielleicht der Falle der Männerabhängigkeit dadurch entkommen, daß sie einen eigenen Mann, nämlich ihren Vetter Shui Ta, erfunden hat, der als Schutz gegen die wirklichen Männer dient, denen Marianne wehrlos ausgeliefert ist. Z u m anderen scheint es keine hemmende oder irreführende Massenkultur in der Sezuan-Gegend zu geben. Der Name Sezuan erweckt keine Begeisterung in den Herzen seiner Bewohner wie die Wörter Wien oder Donau in Geschichten. Gesungen w i r d kaum in dieser trostlosen Welt, weder Heimat- noch Liebeslieder. Auch die Götter sind nur lächerliche, machtlose Überreste einer alten, halb vergessenen Religion. Shen Te's Aufstieg ist der Gegenteil von Mariannes Untergang. Letztere sinkt aus dem Kleinbürgertum zur Schönheitstänzerin, vielleicht Prostituierte, vielleicht Diebin, die allenfalls eingesperrt wird. Schließlich kehrt sie in die stille Straße als Sklavin, als Frau ohne Hoffnung und Zukunft, zurück. Für Shen Te war die Straßenszene ein Sprungbrett, für Marianne wird sie zum eigentlichen Gefängnis, und zwar lebenslänglich. Die Geschäftsstraßebühnenbilder von Horvath und Brecht kommen in anderen mir zugänglichen deutschsprachigen Dramen, nicht vor, weder bei den Volkstück-ViomciCTi Raimund und Nestroy, noch bei ihren Zeitgenossen der Weimarer Zeit. Marie-Luise Fleisser, die oft mit Horvath genannt wird, zeigt uns keine Geschäftsstraßen von Ingolstadt, obwohl gerade sie viele Jahre hinter der Theke eines Tabakladens zu stehen gezwungen war. Der andere wichtige Erneuerer des Volksstücks, Carl Zuckmayer, benutzt dieses Bild nie. V o n Brecht her gesehen bringt der kommunistische Dichter Friedrich W o l f keine solchen Bilder, ebensowenig linke Autoren wie Rehfisch, Ernst Toller oder in unserer Zeit Peter Weiss und Franz Xaver Kroetz. Bei anderen Dramatikern dieses Jahrhunderts, die sich intensiv mit dem Bürgertum auseinandersetzen, Schnitzler, Sternheim und Kaiser, sucht man auch vergeblich nach einer Straßenszene mit Geschäftsläden. Die Expressionisten schaffen sowieso keine wirklichkeitsnahen Bühnenbilder. Außerhalb des deutschen Sprachbereichs sind der Amerikaner Elmer Rice mit dem Stück Street Scene (1929) und der französisch schreibende Eugène Ionesco mit

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Rhinocéros (1960) zu erwähnen. Bei beiden Autoren allerdings w i r d das Geschäftsstraßenbild nur i n dem hier erwähnten einen Schauspiel verwendet. Wenn Rice keine eigentlichen Geschäftsläden in seiner Street Scene einbezieht, erinnert sein schon i m Titel erwähntes Bühnenbild stark an Horvath, noch mehr an das klassische Vorbild der römischen Komödie. Der Mietskaserne in Street Scene sind jeweils ein Lagerhaus und ein umzäuntes, zum Abbruch bestimmtes Mietshaus zur Seite gestellt. Dadurch wird der Aspekt der Unbeständigkeit und Austauschbarkeit i m modernen Stadtleben nahegelegt, die in den Todesfällen, Vertreibungen und anderen Katastrophen der i m mittleren Gebäude wohnhaften armen Menschen genügend bestätigt wird. Da auf der einen Seite ein Wohnhaus demoliert wird, auf der anderen Seite Möbel und anderer vertrauter Besitz ins Lagerhaus verschwinden, erscheint die provisorische Qualität des Stadtlebens noch stärker ausgeprägt als in Honraths Unbekannte, bei dem i m Epilog nach verflossener Zeit dieselben Geschäftsräume noch i m Fassadenbild vorhanden sind; ihre Auslagefenster sind jetzt nur durch andere Produkte ausgefüllt. Der 1. A k t v o m Rhinocéros findet auf einem Marktplatz statt, wie bei Brechts Se^uan. A u f der rechten Bühnenseite steht ein Cafe mit Terrasse, links i m Hintergrund ein Wohnhaus mit einem Lebensmittelgeschäft i m Erdgeschoß. Dazwischen läuft eine Straße. Während beide Geschäfte dem notwendigen Essen und Trinken gewidmet sind, repräsentiert der Kolonialwarenhandel das praktische, alltägliche Einkaufen für Familie und Haushalt, das Cafe einen in der Freizeit und Öffentlichkeit stattfindenden Verzehr von eher unnotwendigen, sogar gesundheitsschädlichen Genußmitteln: Kaffee, Alkohol, Tabak. Die kleinbürgerliche Mentalität des Krämers zeigt sich in seinem Versuch, einem konkurrierenden Lebensmittelgeschäft eine K u n d i n abspenstig zu machen. Die zwei Geschäftsinhaber i m Bühnenbild stehen einander in Kriecherei und Habsucht nicht nach. Eine Verbindung zwischen beiden Geschäften i m Bühnenbild erfolgt durch das tragische Ende der Lieblingskatze der K u n d i n v o m Kolonialwarengeschäft. Als die Katze von den ersten (oder zweiten) auftauchenden Nilpferd zu Tode getrampelt wird, bringt man die Dame ins Cafe, um ihre Hysterie durch ein Glas Kognac zu beschwichtigen. Bald flirtet sie mit einem alten Kavalier. Eine Ironie liegt darin, daß die Invasion der Nilpferde oder richtiger, die Verwandlung der Stadtbevölkerung in solche Tiere, beide Geschäfte bald überflüssig machen wird. Der Schauplatz wechselt dann in Büros und Mieträume über, während die Straßen der neuen Gattung von Ungeheuern überlassen wird. I n diesem Stück w i r d der ewigen Langeweile des Horvâthschen Stadtviertels ein Ende gesetzt. Aber auch die unheimlich rasche Dynamik von Brechts Sezuanstraße, ihr dialektisch vorwärtsstrebender Marsch durch wirtschaftliche Phasen i n Richtung

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Sozialismus, w i r d w i d e r s p r o c h e n d u r c h Ionescos a p o k a l y p t i s c h e V i s i o n des Untergangs

eines

kleinbürgerlichen

Milieus,

der

Auflösung

einer

ganzen

Z i v i l i s a t i o n . Statt der z u k ü n f t i g e n K a m e r a d e n der letzten gesellschaftlichen Stufe w a n d e r n n u r n o c h archaische Riesentiere d u r c h Ionescos Geschäftsstraße.

Bibliographie Primär: Horväth, Ödön von. Gesammelte Werke (in 4 Bänden). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970. Bd. I Geschichten aus dem Wiener Wald (157-251) und Mord in der Mohrengasse (383-405). Bd. I I Die Unbekannte aus der Seine (139-199). Brecht, Bertolt. Der gute Mensch von Set(uan. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964. (es 73). Rice, Elmer. Three Plays. N e w Y o r k : H i l l and Wang, 1965. Street Scene 63-157. Ionesco, Eugène. Théâtre III.

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Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 (ST 2019), 138-153. Hintze, Joachim. Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater.

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Bern: Lang,

Kontingenz und Kohärenz Zur Problematik fiktionaler Sinnkonstitution in William Faulkners Absalom, Absalom! V o n Bernd Engler I m Laufe seiner über fünfzigjährigen Rezeptionsgeschichte erfuhr William Faulkners Roman Absalom, Absalom ! eine Fülle mitunter recht widersprüchlicher Deutungen. O b w o h l sich die kritischen Bemühungen einigen wenigen Forschungsschwerpunkten und Interpretationsrichtungen zuordnen lassen und sich seit den sechziger Jahren wesentliche Deutungsprobleme lediglich aus wenigen noch strittigen Fragen ergeben, besteht in der K r i t i k allenfalls Einigkeit über die These, daß Absalom, Absalom! einer der bedeutendsten Romane Faulkners sei.1 Wie kaum ein anderes Werk Faulkners verleitet der Roman den Leser dazu, eigene Erkenntnisinteressen und Erwartungshaltungen in den Text zu projizieren. Mag der Sachverhalt selektiver Wahrnehmung i m A k t des Lesens den heutigen Kritiker auch nicht mehr verwundern, 2 so verlangt das Ausmaß der >TextreduktionNegativfolie< reduzieren, gegenüber der sich Shreves und Quentins angeblich um Objektivität bemühte Rekonstruktion so positiv abhebe. 7 Selbst Shreves Drang, den Ereignissen den Charakter einer »gothic tall 6 A u f weitere Beispiele für die Darstellung imaginativer Wirklichkeitsergänzung und Sinnstiftung in der amerikanischen Literatur verweist Franz L i n k in »Auschwitz und die Grenzen der Imagination: Erzähltheoretische Überlegungen zu William Styrons Sophie's Choice«, in: Theorie und Praxis im Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts: Studien %ur englischen und amerikanischen Literatur Ehren von Willi Er%gräber y hg. W . Herget et al. (Tübingen, 1986), S. 311-321; zu Absalom, Absalom! siehe bes. S. 318. 7 V g l . dazu meinen Forschungsbericht. Eine neue Sicht der Funktion der Erzählungen Miss Rosas und M r . Compsons als wesentlichem Beitrag zur Aussage des Romans kündigte sich nach Jürgen Pepers verdienstvoller Studie, Bewußtseinslagen des Erzählens und erzählte Wirklichkeiten (Leiden, 1966), die sich mit Miss Rosas vorrationaler Bewußtseinslage befaßte, erst in der jüngeren Forschung an. V g l . u. a. die Beiträge v o n Evan Watkins, »The

Kontingenz und Kohärenz tale« zuzuschreiben, o d e r Q u e n t i n s R o m a n t i s i e r u n g s v e r s u c h e —

163 Sachverhalte,

a u f die i n der k r i t i s c h e n L i t e r a t u r w i e d e r h o l t h i n g e w i e s e n w i r d 8 — ä n d e r n w e n i g an der fast u n e i n g e s c h r ä n k t v o r h e r r s c h e n d e n D e u t u n g , die b e i d e n seien z u r Wahrheit vorgedrungen. 9 W e n n T h o m a s D . Y o u n g n o c h i m Jahre 1979 z u r S i t u a t i o n der Absaloml-Kritik

Absalom,

feststellen k a n n , »[that despite] t h e fact [ . . . ] t h a t F a u l k n e r exerts

considerable artistic energy i n p o i n t i n g o u t t h a t Shreve M c C a n n o n a n d Q u e n t i n are b o t h u n r e l i a b l e narrators, t h e i r v e r s i o n is u s u a l l y considered t h e reliable o n e [. . . ] « , 1 0 so erhebt er d e n V o r w u r f , die I n t e r p r e t e n h ä t t e n der K o m p l e x i t ä t des Textes g e g e n ü b e r versagt u n d d e m R o m a n eine Geschlossenheit u n d E i n d e u t i g k e i t zugeschrieben, die eher i h r e n eigenen E r w a r t u n g s h o r i z o n t als d e n T e x t selbst reflektiere. Es m a g zunächst überraschen, daß v o n diesem U r t e i l n i c h t jene D e u t u n g e n a u s g e n o m m e n sein sollten, die a u f d e n h y p o t h e t i s c h e n C h a r a k t e r der V e r s i o n Q u e n t i n s u n d Shreves v e r w e i s e n u n d feststellen, F a u l k n e r s

Roman

Fiction o f Interpretation: Faulkner's Absalom, Absalom!«, The Critical Act (New Haven, 1978), S. 188-212, John T . Matthews, »The Marriage o f Speaking and Hearing in Absalom, Absalom ¡«Journal of English Literary History, Bd. 47 (1980), S. 575-594, und Philip J. Egan, »Embedded Story Structures in Absalom, Absalom/«, American Literature, Bd. 55 (1985), S. 199-214. 8 V g l . vor allem die bis heute äußerst einflußreiche Studie Ilse Dusoir Linds, »The Design and Meaning o f Absalom, Absalom!«, PMLA , Bd. 70 (December 1955), S. 887-912, oder Olga W. Vickerys Ausführungen zu Absalom, Absalom! in The Novels of William Faulkner : A Critical Interpretation (Baton Rouge, L A , 1959). Wichtige Ergänzungen zu den noch weitgehend akzeptierten Differenzierungen Linds erfolgten neuerdings u.a. in Suzanne W . Jones' umsichtiger Studie »Absalom , Absalom! and the Custom o f Storytelling: A Reflection o f Southern Social and Literary History«, Southern Studies, Bd. 21 (Spring 1985), S. 82-112. 9 Diese Deutung prägt zwei seit den sechziger Jahren dominante Interpretationsvarianten. Die eine mit dem Begriff «detectiv(ist) criticism« assoziierte Richtung ist bestrebt, den Wahrheitsanspruch der Rekonstruktion Quentins und Shreves durch minutiöse Textanalysen zu untermauern und nachzuweisen, daß allein Quentin durch die Informationen, die er während seines nächtlichen Besuchs in Sutpen's Hundred i m September 1909 (von Henry oder Clytie) erlangte, den Schlüssel zum Geheimnis der schicksalhaften Verstrickungen Sutpens, Henrys und Charles Bons besitze. Die zweite Interpretationsrichtung, die häufig durch den irreführenden Begriff »impressionist criticism« charakterisiert wird, begründet Quentins vermeintliches Wissen nicht mit expliziter Information oder der wahrheitsfindenden Kraft der «ratiocination«, sondern mit dem Vermögen der Imagination, Wahrheit intuitiv zu erfassen. Z u den beiden Interpretationsrichtungen siehe u.a. H u g h M . Ruppersburgs Studie Voice and Eye in Faulkner's Fiction (Athens, G A , 1983), S. 81 f., und meinen Forschungsbericht, S. 231 -238. Der maßgeblichste »detective« ist Cleanth Brooks, vor allem mit seiner Analyse »The Narrative Structure o f Absalom, Absalom!«, in: William Faulkner: Towards Yoknapatawpha and Beyond (New Haven, CT, 1978), S. 301-328. 10

»Narration as Creative Act«, in: Faulkner, Modernism, and Film, hg. Evans Harrington und A n n J. Abadie (Jackson, MS, 1979), S. 82-102, hier S. 82. Duncan Aswells umsichtige Studie »The Puzzling Design o f Absalom, Absalom!« stellt eine der wenigen Ausnahmen dar, insofern sie es konsequent vermeidet, Hypothesen Faktizität zuzuschreiben. 11*

Bernd Engler

164 zeichne n i c h t d e n T r i u m p h ,

s o n d e r n das Versagen der I m a g i n a t i o n

auf. 11

A l l e r d i n g s greifen a u c h diese D e u t u n g e n h ä u f i g v o r s c h n e l l w i e d e r a u f die stereotypen E r k l ä r u n g s m o d e l l e t r a d i t i o n e l l e r »detectivist« o d e r »impressionist« I n t e r p r e t a t i o n e n z u r ü c k , o h n e die w e i t r e i c h e n d e n I m p l i k a t i o n e n ihres Ansatzes a u c h n u r a n n ä h e r n d z u realisieren. O f t b i l l i g e n sie d e n S p e k u l a t i o n e n der b e i d e n J u g e n d l i c h e n i n d i r e k t d a d u r c h F a k t i z i t ä t z u , daß sie Charles B o n a u c h w e i t e r h i n als Sutpens m i s c h b l ü t i g e n u n d v e r s t o ß e n e n S o h n b e h a n d e l n o d e r gar die E x i s t e n z des » s c h e m i n g l a w y e r « als h i s t o r i s c h gegeben anerkennen. A u c h der sich i n d e n l e t z t e n Jahren abzeichnende neue F o r s c h u n g s s c h w e r p u n k t , der Absalom,

Absa-

lom! » n o t so m u c h [as] a b o o k a b o u t a s t o r y as a b o u t story t e l l i n g i t s e l f « , 1 2 also als »study i n n a r r a t o l o g y « o d e r » e p i s t e m o l o g y « b e g r e i f t u n d w i c h t i g e A k z e n t v e r l a g e r u n g e n i n der I n t e r p r e t a t i o n des R o m a n s v e r s p r i c h t , hat diese bisher n u r p u n k t u e l l eingelöst. T r o t z der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h o r i e n t i e r t e n F r a g e s t e l l u n g e n b l e i b e n die m e i s t e n U n t e r s u c h u n g e n b e i der F o r m u l i e r u n g bereits b e k a n n t e r Positionen.13 * * * T r o t z der k r i t i s c h e n D i s t a n z z u e i n e m G r o ß t e i l der b i s h e r i g e n F o r s c h u n g z u F a u l k n e r s Absalom,

Absalom!

w e i ß sich der f o l g e n d e

Interpretationsversuch

11 Siehe u.a. die Ausführungen zu Absalom, Absalom! in O. W . Vickerys The Novels of William Faulkner , Walter J. Slatoffs Quest for Failure: A Study of William Faulkner (Ithaca, N Y , 1960), James Guettis The Limits of Metaphor (Ithaca, N Y , 1967) und Donald M . Kartiganers The Fragile Thread: The Meaning of Form in Faulkner's Novels (Amherst, M A , 1979). 12 James H . Matlack, »The Voices o f Time: Narrative Structure in Absalom, Absalom/«, Southern Review , Bd. 15 ( A p r i l 1979), S. 333-354, hier 343. Matlack kommt zu dem Schluß, daß der Leser aufgrund der Widersprüche innerhalb des Romans zu einem »full collaborator w i t h Faulkner in creating and defining the w o r l d o f his novel« werde (348), er schreckt aber vor den weitreichenden Konsequenzen seiner These zurück. W i r d der Leser wirklich zum »co-creator« des Textes, so kann Matlacks Rückgriff auf die Konzeption einer in sich geschlossenen fiktionalen Welt des Romans nicht mehr aufrechterhalten werden. 13 Dies trifft auch auf die interessante Studie Claudia Brodskys, »The Working o f Narrative in Absalom, Absalom/«, Amerikastudien\ American Studies , Bd. 23 (1978), S. 240259, und auf Paul Rosenzweigs »The Narrative Frames in Absalom, Absalom/: Faulkner's Involuted Commentary on Art«, Arizona Quarterly, Bd. 35 (Summer 1979), S. 135-152 zu. O b w o h l Paul Rosenzweig und Claudia Brodsky die Vorurteilsstruktur der Entwürfe Shreves und Quentins erkennen, greifen sie in ihrer Bewertung der Imagination als vorrangiger Erkenntnismöglichkeit doch wieder auf traditionelle Thesen zurück. Selbst Christine de Montauzons umfangreiche Studie zum Aspekt der >Widerständigkeit< des Romans gegen alle Interpretationsversuche, Faulkner's Absalom, Absalom! andInterpretability: The Inexplicable Unseen (Bern, 1985), macht sich nicht völlig v o n Vorstellungen frei, daß dem Text ein verbindliches Faktengerüst zugrundeliege. Einen interessanten Neuansatz, der die poetischen Qualitäten des Textes in den Vordergrund rückt, zeigt Lothar Hönnighausen in »The Novel as Poem: The Place o f Faulkner's Absalom, Absalom! in the History of Reading«, Amerikastudien/ American Studies , Bd. 31 (1986), S. 127-140.

Kontingenz und Kohärenz

165

dieser Forschung in vielen Aspekten auch verpflichtet. Die unterschiedlichen Deutungsansätze begründen unsere Analyse insofern mit, als sie notwendige Vorstufen dieser Analyse sind. I n seiner ersten Rezeption sieht sich der Leser oft in die Rolle eines »detectivist critic« gedrängt, da der Text eine Fülle von widersprüchlichen Aussagen enthält, die das Bedürfnis nach einer verbindlichen Version der Sutpengeschichte entstehen lassen. Da der Rahmenerzähler die unterschiedlichen Geschichtsrekonstruktionen nur selten in einer Weise kommentiert, die Anhaltspunkte für eine Differenzierung zwischen objektiven Tatsachen und subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen geben könnte, wird der Leser notgedrungen selbst zum Detektiv, der wie Quentin und Shreve eine schlüssige Lösung der Rätsel des Textes anstrebt. Die folgende Analyse von Absalom, Absaloml versucht, die vorhandenen Ansätze zu einer Deutung, die i m Versagen aller Konsistenzbildungsentwürfe das Charakteristikum von Faulkners Roman erkennt, weiterzuführen. Bevor wir uns diesem in der Faulknerkritik bisher noch nicht mit befriedigenden Ergebnissen eingelösten Deutungsansatz widmen, sind einige Anmerkungen zur K r i t i k an traditionellen Interpretationsrichtungen notwendig, die anzeigen, in welchen Punkten sich die eigene Analyse maßgeblich von den vorhergehenden unterscheidet. Prüfen wir zunächst die Grundannahme der »detectivist critics«, daß die Wissenslücke bezüglich der Identität Bons durch Informationen Henrys oder Clyties 1 4 geschlossen wurde und sich allein Quentin mit seinen somit erworbenen zusätzlichen Kenntnissen die nötige Deutungskompetenz erworben habe: Nach Cleanth Brooks, dem herausragendsten Vertreter des »detectivist criticism«, kommt allein Henry Sutpen als Quentins Informant i n Frage. 1 5 Brooks entzieht jedoch seine These jeder Überprüfbarkeit, indem er jenen von i h m hypostasierten Teil des Gesprächs zwischen Henry und Quentin, i n dem die entscheidende Information über Bons Identität weitergegeben worden sein könnte, im Bereich notwendiger, v o m Romantext allerdings nicht vermittelter Ereignisse ansiedelt. Der Sachverhalt, daß aufgrund der Zeitangaben i m Text ein solches Gespräch durchaus möglich ist und daß Quentins Deutung der Ereignisse nur mit dieser Hilfskonstruktion plausibel erscheint, ersetzt freilich keineswegs die erforderlichen Textbelege für Brooks' Theorie. A n der Akribie, die er auf den Nachweis eines nicht wiedergegebenen Teils der Unterredung verwendet, läßt Brooks es jedoch mangeln, wenn es darum geht, Clytie, die uneheliche Tochter Sutpens mit einer Sklavin, als mögliche Informantin auszuschließen. Seiner These widerspre14

A u f die Diskussion der These Hershel Parkers (»What Quentin Saw >Out Theretragischen< Sachverhaltes einer »miscegenation discovered too late«. 17 Die weitere Hypothese, daß dieser Sohn Sutpens mit Charles Bon identisch sei, bietet sich aus Quentins Sicht als Folge des vorherigen Analogieschlusses geradezu an. Auch die komplexen Erklärungsversuche M r . Compsons, denen Quentin noch am frühen Abend vor der Fahrt nach Sutpen's Hundred zugehört hatte, mochten zur Konstruktion eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Sutpen und Bon beigetragen haben, basierten seines Vaters Spekulationen doch auf einem (zweifellos) abstrusen Modell einer

17 Z u diesem Sachverhalt siehe vor allem Estella Schoenberg, Old Tales and Talläng: Quentin Compson in William Faulkner's Absalom, Absalom! and Related Works (Jackson, MS, 1977), S. 84. Die Tatsache, daß Quentins Vermutung einem i m 19. Jahrhundert weitverbreiteten Plausibilitätsschema folgt, erklärt lediglich den Ursprung seiner »miscegenatiori«Konzeption, sagt jedoch noch nichts — wie Brooks annimmt — über deren Gültigkeit in Hinblick auf eine Erklärung der Sutpenbiographie aus.

168

Bernd Engler

>in Gedanken inszeniertem inzestuösen Beziehung zwischen Henry und Judith, in der Bon die Rolle eines gedanklichen Erfüllungsgehilfen / Vollstreckers dieses Inzests zugeschrieben w u r d e . 1 8 Alle Versuche des Lesers, die Frage zu beantworten, auf welche Weise Quentin bei seiner Begegnung mit Clytie zu einer Identifizierung Bons hätte finden können, bleiben jedoch aufgrund der Unbestimmtheitsstellen des Textes bloße Spekulation. Eine verbindliche Klärung dieses Sachverhaltes ist allerdings auch nicht erforderlich, da ja nur von Bedeutung ist, daß uns der Text über den rein intuitiven Ursprung und die somit keineswegs gesicherte Authentizität von Quentins angeblichem Wissen informiert. W i r können folgern, daß Quentins Erkenntnisse nicht auf Henry und auf ein i m Roman nicht wiedergegebenes Gesprächs segment zurückgehen, da sie mehrfach v o m Text eindeutig als Resultat der Begegnung mit Clytie benannt werden. Bedeutung kommt insbesondere der Tatsache zu, daß Quentins >Erkenntnis< Resultat einer bloßen Intuition i s t , 1 9 die — wie auch immer sie zustande gekommen sein mag — keinerlei Faktizität beanspruchen kann, selbst wenn sie historisch vorgegebenen Plausibilitätsmodellen (Eheannullierung aufgrund verborgener »miscegenation«) und Quentins individuellen Plausibilitätsbedürfnissen nachkommt. Auch die Beobachtung, daß M r . Compson von Quentins Hypothese überzeugt scheint und daß dieser — wie aus Quentins späterem Bericht an Shreve hervorgeht — die neue Information über Bons Identität sogleich in seine eigenen Spekulationen aufnimmt, sichert der Hypothese nicht den Status einer Tatsachenaussage. Es muß den Leser allerdings irritieren, wenn er durch Formulierungen wie »He [Sutpen] didn't tell Grandfather that he [named Bon himself], but Grandfather believed he did, would have« (A A, 265) oder »He chose the name himself, Grandfather believed [...]« (AA, 266) mit der offensichtlich widersprüchlichen Annahme konfrontiert wird, die Spekulationen über Bons Identität gingen nicht auf Quentin zurück, sondern basierten auf Vermutungen oder Kenntnissen seines Großvaters und Vaters. Bezeichnenderweise teilt jedoch Quentins aufmerksamer Zuhörer Shreve die Irritationen des Lesers und trägt somit entscheidend zur Klärung der Ungereimtheiten bei: »Your father,« Shreve said. »He seems to have got an awful lot o f delayed information awful quick, after having waited forty-five years. I f he knew all this, what was his reason for telling you that the trouble between Henry and Bon was the octoroon woman?« »He didn't know it then. Grandfather didn't tell him all of it either, like Sutpen never told Grandfather quite all o f it.«

is Vgl. bes. AA, 19

95.

Als erster machte meines Wissens John V. Hagopian in seinem Essay »Black Insight in Absalom, Absalom/«, Faulkner Studies, Bd. 1 (1980), S. 29-36, hier S. 36, auf diese Deutung aufmerksam.

Kontingenz und Kohärenz

169

»Then who did teil him?« »I did.« Quentin did not move, did not look up while Shreve watched him. »The day after we — after that night when we — « »Oh,« Shreve said. »After you and the old aunt. I see. Go on. A n d father said — « (AA y

266)

I m Zusammenhang mit dieser teilweisen Korrektur offenbart Quentins widersprüchliche Äußerung über den Wissensstand seines Großvaters und Vaters dem Leser mehr als einen nur gelegentlichen Irrtum i m A k t des Erzählens. W i r erfahren hier Grundsätzliches über den Ursprung so vieler Widersprüche und über die bedenklichen Erzählstrategien Quentins und seines Vaters. Quentins >Irrtum< basiert nicht auf einem zufalligen Versehen oder einer temporären Konfusion, sondern auf der fragwürdigen Methode der Authentisierung eigener Hypothesen, der sich auch Mr. Compson so gerne bedient. So wie sich Mr. Compson immer wieder (in den Kapiteln I I bis I V finden sich Hunderte von Beispielen) auf die die Wahrheit verbürgende Autorität der Berichte seines eigenen Vaters, General Compson, beruft, um seinen Spekulationen den Anschein von Tatsachenaussagen zu geben, so bedient sich Quentin hier — wie auch andernorts — derselben Methode, indem er seinen Hypothesen unter Berufung auf »kompetente Kenner< der Biographie Sutpens Faktizität unterschiebt. Hieraus ist für die weitere Interpretation allerdings zu folgern, daß Aussagen, die mit Verweisen auf Wahrheitsgaranten (meist M r . Compson oder General Compson) versehen sind, nur bedingt als Äußerungen über verbürgte Tatsachen interpretiert werden sollten, da es sich bei solchen Aussagen auch um reine Spekulationen handeln könnte, die ihren hypothetischen Charakter lediglich hinter einer Authentisierungsformel zu verbergen suchen. Wenn aber der Romantext den Ursprung von Quentins vermeintlichem Wissen eindeutig in einem intuitiven Erkenntnisakt ansiedelt, kann — durchaus i m Sinne der Interpretation Hyatt H . Waggoners - von einem »leap of the imagination« gesprochen werden, allerdings nicht von einem Sprung, der v o m bloßen Sammelsurium historischer und biographischer Einzeldaten zu einer >höheren< Wahrheit ihrer inneren Zusammenhänge führe. 2 0 Der imaginäre Bewußtseinsakt garantiert keineswegs zwingend — wie viele Kritiker annehmen — einen Zugriff zu einer >höheren< Wahrheit, handelt es sich doch in dem i m Roman zur Diskussion stehenden Fall allein um das Urteil, ob ein Sachverhalt (Bons Identität) richtig erkannt wurde. Solange diese Frage unbeantwortet bleibt, können die Konsistenzbildungsversuche der Erzähler lediglich an dem Kriterium der Plausibilität, das heißt, allein an der inneren Widerspruchsfreiheit der hypothetischen Erklärungen gemessen werden. 20

Hyatt H . Waggoner, William Faulkner: From Jefferson 1959), S. 152.

to the World (Lexington, K Y ,

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170

Für dielnterpretation von Absalom, Absaloml ergibt sich folglich insbesondere die Aufgabe zu klären, welche Rolle Faulkner den unterschiedlichen Versionen mit ihren divergierenden Sinnstiftungsversuchen i m Romantext zuweist. Quentins und Shreves imaginative Rekonstruktion könnte ihren Anspruch auf Authentizität nur dann legitimieren, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Erkenntnisgewißheit tatsächlich von den oft als Negativfolien beschriebenen Versionen Rosas und M r . Compsons unterschiede. * * *

M i t der ersten, allerdings recht fragmentarischen Version der Geschichte Sutpens und seiner Familie werden w i r in Miss Rosas Erzählung i m ersten Kapitel von Absalom y Absalom! konfrontiert. Es besteht kein Zweifel daran, daß ihr Konsistenzbildungsversuch eine Dämonisierung Sutpens und seiner Kinder darstellt, die als Reaktion auf Sutpens menschenverachtenden Antrag begreifbar ist, probehalber ein K i n d mit ihr zu zeugen, sie aber nur zu heiraten, wenn sie ihm einen Sohn schenke. Wie traumatisch dieser Affront für sie, die — nach M r . Compsons Theorie — Spätgeborene und ewig v o m Leben Benachteiligte, gewesen sein muß, dokumentiert sich in der Tatsache, daß sich Miss Rosas Erzählung immer wieder mit diesem Erlebnis befaßt, ohne den Sachverhalt jemals beim Namen zu nennen. Erst in Shreves Rekapitulation des ihm bereits Bekannten zu Beginn von Kapitel V I erfahren wir erste Details über die Gründe von Miss Rosas Ressentiments gegenüber Sutpen. Erst dadurch wird ihre Obsession nachträglich motiviert und dem Leser wird nun begreifbar, warum sie alle Ereignisse, die sie und ihre Familie ins Verderben stürzten, damit erklärt, daß Sutpen und seine Abkömmlinge als Fluch über die Coldfields gesandte Dämonen seien. 21 Miss Rosas Verkennung von Wahrheit und Fiktion wird indes keinesfalls — wie die meisten Kritiker annehmen — als bloße Eigenart der Erzählerin abgetan. Bereits i m ersten Kapitel stellt sich die Problematik der Wirklichkeitserkenntnis in bezug auf ihre Abhängigkeit von der Perspektive des Erkenntnissubjekts weitaus grundsätzlicher, um dann — soweit dies Miss Rosas Erzählung betrifft — in Kapitel V auch i n Hinblick auf ihren Ursprung in einer spezifischen Seinsverfassung behandelt zu werden. Gegen die Annahme, Kapitel I befasse sich mit der subjektiven Fehldeutung der Wirklichkeit als allein individuellem Problem einer Erzählerfigur, ist schon einzuwenden, daß sie lediglich die Erzählung Miss Rosas — also nur die zweite Hälfte dieses Kapitels — , nicht aber deren Einbettung in den vorher weitgehend von einem (scheinbar) auktorialen Erzähler beherrschten narrativen Kontext berücksichtigt. Bereits das Eingangs-

21

V g l . u.a. AA,21,

102 und 118f.

Kontingenz und Kohärenz

171

kapitel von Absalom, Absalom! führt dem Leser jedoch vor Augen, welche Auswirkungen Miss Rosas Konsistenzbildungsmodell auf die Wirklichkeitserkenntnis anderer hat, und dies noch bevor w i r ihre Dämonisierung Sutpens i n ihrer vollen Tragweite überhaupt als subjektive Verzerrung einer Erzählerfigur erkennen. Die erste Begegnung des Lesers mit Sutpen erfolgt gerade nicht in der direkten Vermittlung von Miss Rosas Perspektive, sondern schon als i m Bewußtsein ihres Zuhörers Quentin gebrochene Vision. Diese Vision w i r d ihrerseits aber keineswegs als Faktum eingeführt, sondern ist die Hypothese des Rahmenerzählers über mögliche Einflüsse von Miss Rosas Erzählung auf Quentin: O u t o f quiet thunderclap he w o u l d abrupt (man-horse-demon) upon a scene peaceful and decorous as a schoolprize water color, faint sulphur-reek still in hair clothes and beard, w i t h grouped behind h i m his band o f w i l d niggers [...] and manacled among them the French architect [...]. Then in the long unamaze Quentin seemed to watch them overrun suddenly the hundred square miles o f tranquil and astonished earth and drag house and formal gardens violently out o f the soundless N o t h i n g and clap them d o w n like cards upon a table beneath the up-palm immobile and pontific, creating the Sutpen's Hundred, the Be Sutpen's Hundred like the oldentime Be Light.

(AA yM.)

Thema dieser Textpassage ist vorrangig also nicht Miss Rosas subjektiv verzerrtes Bild der Wirklichkeit, sondern die Beeinflußbarkeit des menschlichen Bewußtseins. Insbesondere der Zusammenhang mit der sich anschließenden Textpassage macht auf diesen Sachverhalt aufmerksam. Sie gibt einen fiktiven inneren Dialog Quentins wieder, der dessen Bewußtsein als Überlagerung unterschiedlich beeinflußter Systeme der Wirklichkeitserfassung vorstellt: Then hearing w o u l d reconcile and he w o u l d seem to listen to t w o separate Quentins now [...] the t w o separate Quentins now talking to one another in the long silence o f notpeople, in notlanguage, like this: It seems that this demon — his name was Sutpen — ( Colonel Sutpen) — Colonel Sutpen. Who came out of nowhere and without warning upon the land with a band of strange niggers and built a plantation — (7 "ore violently a plantation, Miss Rosa Coldfield says) — tore violently. And married her sister Ellen and begot a son and a daughter which — {Without gentleness begot, Miss Rosa Coldfield says) — without gentleness. Which should have been thejewels of his pride and the shield and comfort of his old age, only — ( Only they destroyed him or something or he destroyed them or something. And died) — and died. Without regret, Miss Rosa Coldfield says — (Save by her) Yes, save by her. (And by Quentin Compson) Yes. And by Quentin Compson. (AA,

9)

Bewußtsein gilt hier als Summe unterschiedlicher Begriffe von Wirklichkeit, die sich nur scheinbar wieder in die ursprünglich noch nicht relationierten Einzelbegriffe zurückführen lassen. Auch wenn die Benennung jener eindeutig auf Miss Rosa zurückgehenden >Begriffselemente< noch möglich scheint, offenbart Quentins innerer Dialog bereits eine weitgehende Assimilation der dämonisierenden Deutung Sutpens. Doch das, was Miss Rosa ihm erzählte, ist seinerseits nur

172

Bernd Engler

a part o f his twenty years' heritage o f breathing the same air and hearing his father talk about the man Sutpen; a part o f the town's — Jefferson's — eighty years' heritage o f the same air which the man himself had breathed [...]. (A A, 11)

Wenn Quentin i m selben Kontext mit einer einprägsamen Formel als »empty hall echoing w i t h sonorous defeated names« und als »commonwealth« ( A A , 12) charakterisiert wird, so ist auch damit nicht nur Quentins Bewußtsein, sondern die Verfaßtheit menschlichen Bewußtseins schlechthin gemeint. Bewußtsein existiert nie in der Abgeschiedenheit der Selbstreflexivität des Subjekts; es ist immer schon Summe beziehungsweise Synthese von prägenden Vor-Urteilen, von denen es sich i m Zugriff auf Wirklichkeit nie mehr wird lösen können, da sie als Bedingung der Möglichkeit dieses Zugriffs bereits in dessen Wirklichkeitsbegriff eingingen. Mag diese Deutung der einleitenden Passagen von Absalom, Absalom! zunächst noch als Überinterpretation erscheinen, so ist zu bedenken, auf welche Weise der Leser in die fiktive Wirklichkeit des Romans eingeführt wird. Sein durch den Text vermittelter Zugriff auf diese Wirklichkeit ist mehrfach gebrochen: was uns die ersten Seiten des Romans von der >historischen< Wirklichkeit Thomas Sutpens enthüllen, ist das subjektiv verzerrte Wirklichkeitsbild Miss Rosas, wie es sich in der subjektiven Perspektive Quentins gemäß der subjektiven Vermutung des Rahmenerzählers niedergeschlagen haben könnte. Deuten wir diese Komplizierung der Erzählperspektive nicht als bloßes Spiel, so kann uns bereits der Romananfang als Prolegomenon zu jenen erkenntnistheoretischen Problemstellungen und Reflexionen dienen, die den weiteren Romantext so deutlich kennzeichnen. * * *

Auch i n den Kapiteln I I bis I V wird die Frage nach den Möglichkeiten und Modalitäten der Wirklichkeitserkenntnis - wenn auch unter neuem Blickwinkel — gestellt. Die i n diesen Kapiteln dargestellte Erkenntnisskepsis beschränkt sich jedoch keineswegs auf jene von der K r i t i k oft kommentierte Textpassage, in der sich Mr. Compson in Kapitel I V eingestehen muß, die teils widersprüchlichen Daten seiner Rekonstruktion nicht in einen sinnvollen und plausiblen Erklärungszusammenhang integrieren zu können. Als selbstreflexiver A k t über Probleme der Konsistenzbildung ist seine Klage, daß sich die Fakten jeglicher Sinnstiftung widersetzen — »It's just incredible. I t just does not explain. Or perhaps that's it: they dont explain and we are not supposed to know« ( A A , 100) — , lediglich Kulminationspunkt einer Reihe von Textsignalen, die auf Probleme der Wirklichkeitserkenntnis aufmerksam machen. Bereits in Kapitel I I dürfte sich der Leser in der Hoffnung enttäuscht sehen, daß das durch Miss Rosas Erzählung entstandene Defizit an objektiver

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Orientierung nun aufgehoben würde. Obwohl Kapitel I I Objektivität u. a. durch häufige Verweise auf zuverlässige Informanten und glaubwürdige Quellen in Aussicht stellt und mit einem Bericht des scheinbar auktorialen Rahmenerzählers anhebt, zielen eine Reihe von Textsignalen darauf ab, das Vertrauen des Lesers in eine authentische Version der Geschehnisse zu unterlaufen. Bemüht sich der Rahmenerzähler in der ersten Hälfte von Kapitel I I noch darum, die Bruchstücke der »common knowledge« zusammenzutragen, um so — teils aus der Sicht der Bewohner Jeffersons, teils unter Zuhilfenahme anderer Quellen — ein vollständiges Bild der ersten fünf Jahre zu zeichnen, die Sutpen in der Stadt verbrachte, so kündigt sich mit M r . Compsons Erzählung ein entscheidender Wandel in der Erzählweise an. M r . Compson greift bei seiner Rekonstruktion der Ereignisse zweier Tage i m A p r i l und Juni 1838 (dem Tag von Sutpens Verlobung respektive Eheschließung mit Ellen Coldfield) häufig auf bloße Vermutungen zurück, die jeden Verweis auf gut informierte Zeugen als bloße Authentisierungsformel erscheinen lassen. Er ist kaum daran interessiert, die Ereignisse aus der Sicht der Augenzeugen zu dokumentieren; sein vorrangiges Ziel ist es, Sutpen zum einsamen Helden zu stilisieren, der sich heroisch gegen eine ihm feindlich gesonnene Masse zu behaupten weiß. Formulierungen wie »apparently«, »evidently«, «certainly«, »probably«, »doubtless«, »I suppose«, »it seems« oder »in fact«, die M r . Compson in diesem Zusammenhang ständig einsetzt, bewirken in ihrer extremen Häufung keineswegs die erwünschte Authentisierung der Aussage. 22 M r . Compsons Neigung, Wirklichkeit i m Sinne seiner eigenen Vorgaben und Vorstellungen zu erfinden, wird in den weiteren Kapiteln seiner Erzählung noch deutlicher. Z u Beginn von Kapitel I I I wendet sich M r . Compson mehr und mehr v o m Bericht ihm überlieferter Ereignisse ab und Fragen der Lebensempfindungen und Motive der Charaktere zu. M i t dieser Verschiebung hinsichtlich seines Erzählgegenstandes bewegt er sich noch weiter in den Bereich der bloßen Spekulation hinein, selbst wenn dem Leser so mancher Sachverhalt durch seine Ausführungen verständlicher und somit wirklichkeitsbezogener erscheinen mag. Auch / gerade wenn es M r . Compson gelingt, Miss Rosas Verhaltensweisen aus ihren frühkindlichen Erlebnissen psychologisch plausibel zu motivieren oder das Leben Ellen Coldfields / Sutpens in der Schmetterlingsmetapher einfühlend zu charakterisieren, gibt er sich doch in allem als selbstbewußter >Autor< jener Realität zu erkennen, die er nur nachzuerzählen vorgibt: zu sehr überlagern die Grundannahmen seines eigenen Weltbildes seine Wirklichkeitsdeutung, zu häufig tritt sein eigenes Wunschdenken i n Formulierungen wie »I like to believe« oder »I would like to think« als Ursprung seines angeblichen >Wissens< zutage. 2 3 22

Mitunter finden sich zehn und mehr solcher Formeln pro Textseite. Siehe auch die Hinweise auf diesen Sachverhalt in William J. Schultz' »Just Like Father: M r . Compson as Cavalier Romancer in Absalom, Absalom/«, Kansas Quarter¡j> Bd. 14 (Spring 1982), S. 115123.

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Mr. Compsons Erzählung wird somit zu einer Fallstudie jener Theorie, die das Begreifen von Wirklichkeit nicht als Perzeption eines so-seiend Gegebenen, sondern als Prozeß der Konstruktion dieser Wirklichkeit durch das Bewußtsein beschreibt. Die vielfaltigen Verweise auf die Welt des Theaters, 24 vornehmlich auf die der griechischen Tragödie, sind keineswegs beiläufiges Ornat, das uns nur eine Facette von M r . Compsons Bewußtseinshorizont vorstellt. Sie zeigen, daß Bewußtseinsinhalte Welterkenntnis so nachhaltig beeinflussen, daß der Begriff >Welterkenntnis< als solcher schon fragwürdig wird. I n M r . Compsons metaphorischer Gleichsetzung von Welt und Theater beziehungsweise von Leben und dem Spielen von Rollen offenbart sich ein Wirklichkeitsbegriff, der aller Erfahrung von Wirklichkeit lediglich den Charakter der Täuschung, des Als-Ob der Theaterillusion zubilligt. Der SchicKsalsbegriff, mit dem M r . Compson die Ereignisse zu deuten versucht, hat i n erkenntnistheoretischer Hinsicht jedoch beträchtliche Folgen. Gehören die Mächte, die Sutpens Leben bestimmen, einem Bereich an, der dem Menschen grundsätzlich nicht intelligibel ist, so muß auch der Sinnstiftungs- und Rekonstruktionsversuch, den Mr. Compson i n Kapitel I V von Absalom, Absalom! unternimmt, zwangsläufig scheitern. Wenn sich das Leben nur als Abfolge von Daten zeigt, deren (Sinn-)Zusammenhang undurchschaubar bleibt und sich dem Zugriff menschlicher Logik entzieht, bleibt es Resultat jener »illogical machinations of a fatality« ( A A , 102), die M r . Compson erst nach dem Scheitern seiner Konsistenzbildungsversuche anzuerkennen bereit ist. Sein Unvermögen, den tragischen Ereignissen in Sutpens Familie Kohärenz und Sinn zuzuschreiben, ist somit keineswegs ein persönliches Versagen, sondern Symptom des prinzipiellen Versagens des Bewußtseins gegenüber einer kontingenten beziehungsweise kontingent erscheinenden Welt. O b w o h l M r . Compson zu dieser Erkenntnis durchaus fähig ist, wenn er konzidiert, »[that it] just does not explain. O r perhaps that's it: they dont explain and we are not supposed to know« ( A A , 100), schreckt er doch vor den Konsequenzen dieser extremen Erkenntnisskepsis zurück und gibt sich der Hoffnung hin, der Wirklichkeitszusammenhang, in dem sich die Tragik Sutpens entfaltete, könnte sich ihm doch noch offenbaren, wenn er sich nur nachdrücklich darum bemühe: »Yes, Judith, Bon, Henry, Sutpen: all ofthem. They are there, yet something is missing; they are like a chemical formula exhumed along w i t h the letters from that forgotten ehest, 23 Diese häufig in den Text v o n Kap. I I I eingestreuten Formulierungen Kapitel I V durch die noch selbstbewußtere, den Charakter des fiktionalen betonende Aussage »I can imagine« abgelöst. Eine markante Häufung dieser findet sich mit ihrer siebenmaligen refrainartigen Wiederholung in Absalom, beispielsweise auf den Seiten 107-111.

werden in Entwurfs »Formel« Absalom!

24 Vgl. u.a. AA,60-62, 65, 69, 72-73 und 86. Vgl. auch die ebenso einprägsame Beschreibung der Schicksalsverfallenheit des Menschen, die M r . Compson in anderem Zusammenhang i m Bild verborgener Strömungen in einem See entwickelt (AA, 73 f.).

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carefully, the paper old and faded and falling to pieces, the w r i t i n g faded, almost indecipherable, yet meaningful, familiar in shape and sense, the name and presence o f volatile and sentient forces; you bring them together in the proportions called for, but nothing happens; you re-read, tedious and intent, poring, making sure that you have forgotten nothing, made no miscalculation; you bring them together again and again nothing happens: just the words, the symbols, the shapes themselves, shadowy inscrutable and serene, against that turgid background o f a horrible and bloody mischancing of human affairs.« ( . A A , 101)

Der Vergleich der Lebenszusammenhänge mit einer chemischen Formel impliziert freilich Annahmen, die sich bei genauer Prüfung als unhaltbar erweisen und auch der Theorie der »illogical machinations« widersprechen. 25 Er unterstellt, daß die Wirklichkeit, auf die sich M r . Compsons Erkenntnisinteresse richtet, an sich schon bedeutungsvoll sei und Sinn gewissermaßen als etwas Vorgegebenes nur gefunden werden müsse. Die Methode, der sich M r . Compson bedient, gründet allerdings paradoxerweise in jener Logik, die seine Theorie der Illogizität und Kontingenz der Wirklichkeit als erkenntnisinadäquat verwirft. Auch der Einsatz seines ganzen imaginativen Vermögens stellt keinerlei Alternative hinsichtlich der Methode der Erkenntnis dar, ist er doch nur Mittel, um zu Hypothesen zu finden, mit denen die vorhandenen Daten zu einem in sich schlüssigen Erklärungsmodell verknüpft werden können. Als freier Schöpfer einer Phantasieversion, in der er die vermutete Kontingenz der Wirklichkeit durch genialisch kühne Spekulationen zu überlisten sucht, neigt M r . Compson unverhohlen zu jenen Deutungsmöglichkeiten, die seiner Vorliebe fürs MorbidDekadente nachkommen. 2 6 Die Tatsache, daß M r . Compson trotz der großen Freiheit, mit der er die Daten der Geschehnisse i n seine Phantasmagorien der Verführung und Verführbarkeit einbezieht, auch in seinen weiteren Spekulationen keinen schlüssigen Erklärungszusammenhang zu entwerfen vermag, legt die Vermutung nahe, seine erzählerischen Entwürfe dienten allein dazu, die These von der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Wirklichkeit zu exemplifizieren. Die Ursache für M r . Compsons unbeirrbares Unterfangen, diese Erkenntnis zu verdrängen und der Erfahrung der Kontingenz der Wirklichkeit immer neue Konsistenzbildungsversuche entgegenzusetzen, resultiert aus seiner Unfähigkeit, angesichts der Zeitlichkeit 25 Z u r Interpretation dieser Textstelle siehe neuerdings J. Hillis Millers Studie »The T w o Relativisms: Point o f View and Indeterminacy in the Novel Absalom, Absalom/«, in: Relativism in the Arts, hg. Betty Jean Craige (Athens, G A , 1983), S. 148-170. 26 So konstruiert er beispielsweise hinsichtlich des ersten Zusammentreffens zwischen Henry und Bon Ereigniszusammenhänge, die diese Dispositionen offenlegen (AA, 95). Auch M r . Compsons Konzeption einer idealen — da nur geistig mit Bon als >Erfüllungsgehilfen< vollzogenen — inzestuösen Beziehung (AA, 96) spiegelt eher seinen eigenen Deutungshorizont als reale Sachverhalte wider und offenbart seine Vorliebe für die extreme Komplizierung der Motivation seiner Figuren.

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seiner Existenz ein universales Sinndefizit zu ertragen. M r . Compsons Erläuterungen zu Judiths Motivation, den einzigen noch überlieferten Brief Bons Quentins Großmutter zur Aufbewahrung zu übergeben, schließt nicht von ungefähr seine Erzählung i n Kapitel I V ab und leitet so zu Kapitel V mit Miss Rosas Reflexionen über die Verfassung des menschlichen Seins über. Auch wenn M r . Compson betont, er würde nur Judiths Worte bei der Übergabe des Briefes wiederholen, verweist das sich in diesen Worten offenbarende pessimistische Weltbild eindeutig auf ihn selbst als Schöpfer der Gedankenwelt einer gleichsam >fiktiven< J u d i t h . 2 7 Die Äußerungen, die er ihr in den M u n d legt, reflektieren sein eigenes, durch die Gewißheit menschlicher Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit verunsichertes Denken.

* * *

Während M r . Compsons Erzählung i m wesentlichen das Versagen menschlicher Sinnstiftung vorstellt, sich aber nur am Rande mit den Gründen des Zwanges beschäftigt, Wirklichkeit als kohärentes Modell erfassen zu wollen, können Miss Rosas Reflexionen in Kapitel V als Kommentar über die Ursachen des menschlichen Bedürfnisses nach Sinngebung gelesen werden. Miss Rosas existentielles Erleben begründet einen Wirklichkeitsbegriff, der für den weiteren Verlauf des Romans von Bedeutung ist, da er Quentins und Shreves Rekonstruktionsversuch nachhaltig beeinflußt. Entscheidend für Miss Rosas >Auseinandersetzung< mit der Wirklichkeit ist die Neigung, dieser mitunter gänzlich alternative Bewußtseinswirklichkeiten gegenüberzustellen, die sich auf ihre Erfahrungswelt nur noch insofern beziehen, als sie auf diese i m Sinne eines Gegenentwurfs reagieren. Wiederholt vertritt sie die Vorstellung, «[that] there isa migbt-have-been which is more true than truth« (AA, 143), und macht Wirklichkeit somit zum Resultat eines jeweils individuellen Bewußtseinsaktes, einer absolut subjektiven Setzung, die selbst jenen Rest an Lebens Wirklichkeit zu leugnen bereit ist, in dem sich diese Leugnung notgedrungen selbst vollzieht. I n ihrer i n Kapitel V in Quentins Bewußtsein gespiegelten Erzählung läßt sie den Leser an den Tagträumen jenes »summer of wistaria« teilhaben, in dem sie i m Alter von vierzehn Jahren eine Photographie von Judiths Verlobten Charles Bon gleichsam zum Leben erweckte und dieses Phantasiewesen zum Objekt ihrer noch kindlichen Verliebtheit machte. I n bezug auf die erkenntnistheoretische 27 Z u r Funktion der i m Roman wiedergegebenen Briefe und Dokumente siehe vor allem David Krause, »Reading Bon's Letter and Faulkner's Absalom, Absalom!«, PMLA, Bd. 99 (1984), S. 225-241, oder Olga Scherer, »A Polyphonic Insert: Charles's Letter to Judith«, in: Intertextuality in Faulkner , hg. Michel Gresset und Noel Polk (Jackson, MS, 1985), S. 168-177.

Kontingenz und Kohärenz

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Thematik in Absalom, Absalom! ist jedoch nicht Miss Rosas nostalgisch verbrämter Rückblick auf die Traumwelten ihrer Jugend von Interesse, sondern die Tatsache, daß sie auch 49 Jahre nach diesen Ereignissen ihren ehemaligen Träumen noch Wirklichkeitscharakter zubilligt. Der »shadow realm of make believe « ist i m Sinne Miss Rosas nicht nur deshalb »more true than truth«, weil es zusätzlich zur Wahrheit als abstraktem, von der eigenen sinnlichen Erfahrung losgelöstem Begriff von Welt immer eine empfindungsmäßig verbindliche Wahrheit des subjektiven Erlebens gibt, er ist auch >wahrerDid I but dream ?< but rather says, indicts high heaven's very self with: >Why did I wake since waking I shall never sleep again?< (AA,

142f.)

I n ihrer existentialistisch pessimistischen Haltung begreift Miss Rosa das Leben als Zustand der Lähmung, der den Menschen daran hindert, sich selbst projektiv in die Zukunft zu entwerfen und das »what-is-to-be« zu realisieren. Allerdings ist nicht etwa ein »lack of courage « für die Flucht vor der Zukunft verantwortlich, 28 Vgl. die Formulierung »three women put something into the earth and covered it, and he [ Bon] had never been« (AA, 153) oder Quentins Umschreibung der eigenen Existenz in The Sound and the Fury. »Non fui. Sum. Fui. N o n sum« (New York, 1967), S. 216.

12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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sondern die Einsicht in die erbärmliche Seinsverfassung des Menschen, »that true wisdom which can comprehend that there is a might-have-been which is more true than truth«. Da Rosa ihr Leben als »not living but rather some projection of the lightless womb itself « ( A A , 144) erscheint, neigt sie nicht nur dazu, sich ganz und gar der Vergangenheit anheimzugeben, sondern darüber hinaus auch diese Vergangenheit durch Alternativentwürfe zu ersetzen, i n denen sie ihre Lebenssehnsucht zu erfüllen vermag. Der scheinbar paradoxe Entschluß, nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit zum Gegenstand bzw. Ausgangspunkt ihrer Entwürfe zu machen, ist Reflex ihrer Wirklichkeitskonzeption, die der Erfahrung allumfassender Zeitlichkeit, der »sickness somewhere at the prime foundation of this factual scheme«, allein Bedeutung beimißt. Der »rending gash« auf eine verborgene Zukunft hin, von dem Miss Rosa spricht, kann Leben lediglich als Krankheit zum Tode offenbaren. Auch jenes geistige Prinzip, das Wirklichkeit zu transzendieren scheint, bleibt dieser letztlich verhaftet, bleibt >>prisoner souk , da es Wirklichkeit auch dann noch widerspiegelt und >wiederholt^ wenn es sie nur zu einem flüchtig schillernden Widerschein reduziert. I n ihren Traumwelten lebend hofft Miss Rosa deshalb, in die neue Seins- und Bewußtseinsform einer «more than reality « zu erwachen, »not to the unchanged and unaltered old time but into a time altered to fit the dream which, conjunctive with the dreamer, becomes immolated and apotheosized [...]« (A A, 141). Miss Rosa weiß allerdings auch, daß ihre Entwürfe die Lebens Wirklichkeit nur scheinbar zu transzendieren vermögen, daß sie als Träumer immer aus den Träumen erwachen und sich dann erneut mit dem »maelstrom of unbearable reality « (AA, 150) konfrontiert sehen wird. O b w o h l sich Miss Rosas Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit i n vielem von jener M r . Compsons unterscheidet, hat sie mit ihr doch auch manches gemein, insbesondere in Hinblick auf die ihr zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Prämissen. Erkenntnis von Wirklichkeit ist für beide Erzähler als Vollzug menschlichen Denkens immer schon subjektive Konstruktion. Trotz der Annahme, daß alle Wirklichkeit i m Bewußtsein konstituiert werde, verfallen Miss Rosa und M r . Compson jedoch keineswegs in einen subjektiven Idealismus i m Sinne eines esse est percipi. Sie erkennen, daß sich gerade i m Scheitern ihrer Konstruktionen die Widerständigkeit beziehungsweise Kontingenz der phänomenalen Wirklichkeit und somit deren v o m Bewußtsein auch unabhängige Seinsweise manifestiert. I n M r . Compsons vergeblichen Konsistenzbildungsversuchen und Miss Rosas nicht minder vergeblicher Flucht in Phantasiewelten zeigt sich i m individuellen ein prinzipielles Versagen des Bewußtseins i n seinem Zugriff auf die phänomenale Wirklichkeit, ein Versagen, das i n der Dichotomie von Sein und Bewußtsein begründet ist. Indem sie über diesen Sachverhalt in ihren Erzählungen selbst reflektieren, geben sie zu erkennen, daß der Grad an Plausibilität, nach dem sie eigene und fremde Sinnstiftungen beurteilen, kein wirklichkeitsadäquates, sondern nur ein bewußtseinsadäquates Kriterium ist, das

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ohnedies nur eigenen Vorannahmen oder zeitlich begrenzt gültigen intersubjektiven Plausibilitätsmodellen Rechnung trägt.

* * *

Auch die Sinnkonstruktionen, die Quentin Compson und Shreve McCannon in den verbleibenden Kapiteln von Absalom, Absaloml — insbesondere aber in Kapitel V I I I - gemeinsam vornehmen, kommen hinsichtlich der Frage nach der subjektiven Konstituierung von Wirklichkeit zu vergleichbaren Antworten. Entgegen der i n der kritischen Literatur verbreiteten Gegenüberstellung jener die historische Wirklichkeit verzerrenden Versionen Miss Rosas und M r . Compsons und der Rekonstruktion Quentins und Shreves, der es gelinge, die Wirklichkeit zu erfassen, wird die folgende Interpretation nachzuweisen versuchen, daß sich alle Versionen der Sutpengeschichte i m Bereich bloßer Hypothesen bewegen und sich in bezug auf erkenntnistheoretische Aussagen prinzipiell entsprechen. Dem Scheitern der Wirklichkeitskonstitutionen Miss Rosas und M r . Compsons steht keineswegs der Erfolg des Neuansatzes der beiden Jugendlichen gegenüber. O b w o h l Quentin und Shreve in ihren gemeinsamen Bemühungen eine Version der Ereignisse entwerfen, die einen hohen Grad an innerer Plausibilität aufweist, sind sie der Wahrheit nicht näher gekommen als vor ihnen Miss Rosa oder M r . Compson. Den Textsignalen, die Wirklichkeitsentsprechung beziehungsweise Authentizität anzeigen, stehen insbesondere in Kapitel V I I I — dem Kernstück des zweiten Teils von Absalom, Absalom! — eine Fülle von Aussagen gegenüber, die jene Signale unterlaufen und i n ihrer Gültigkeit aufheben. Die Plausibilität der neuen Sinnkonstruktionen ist durch größere Freiheit i m Umgang mit den zugänglichen, scheinbar gesicherten »historischen < Daten und durch weitreichende imaginative Ausfüllung der Wissenslücken erkauft. Quentin selbst weist auf die mitunter beträchtliche Differenz zwischen dem unmittelbaren Erleben und einer die möglichen Zusammenhänge erfassenden Wirklichkeitskonstruktion hin und räumt ein: »If I had beert there I could not have seen it thispiain« (AA, 190). Eindeutigkeit oder Schlüssigkeit sind Kriterien, die das Bewußtsein i n seinen Entwürfen einlösen kann, nicht~aber solche, die die sinnliche Erfahrung von Welt bereits vorfindet. I n der phänomenalen Wirklichkeit scheitert der Wunsch nach Überschaubarkeit an der unendlich komplexen Relationiertheit ihrer einzelnen Elemente. So wie sich die Ereignisse um Sutpens tragisches Schicksal über Generationen hinweg auch (zunächst) völlig Unbeteiligten (so u. a. Shreve) mitteilen, nimmt jedes Ereignis, das auf das System der Wirklichkeit einwirkt, in unüberschaubarer Auffächerung der Wirkungen Einfluß auch auf jene Elemente dieses Systems, die sich der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit des Bewußtseins entziehen: 12*

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Maybe happen is never once but like ripples maybe on water after the pebble sinks, the ripples moving on, spreading, the pool attached by a narrow umbilical water-cord to the next pool which the first pool feeds, has fed, did feed, let this second pool contain a different

temperature of water, a different

molecularity of having seen, felt, remembered, reflect in a different

tone the infinite unchanging sky, it

doesn't matter: that pebble's watery echo whose fall it did not even see moves across its surface too at the original ripple-space, to the old ineradicable rhythm [...J.

(A

A,261)29

Die Erfahrung der Kontingenz der Wirklichkeit, wie sie sich Miss Rosa und M r . Compson als »maelstrom of unbearable reality « (AA, 150) oder Thomas Sutpen beziehungsweise General Compson als »maelstrom of unpredictable and unreasoning human beings« (AA, 275) offenbart, beruht einerseits, wie die Teichmetapher nur annäherungsweise zu verdeutlichen vermag, auf der absoluten und sich i n ständigem Prozeß befindlichen Relationiertheit aller Wirklichkeitselemente, andererseits auf der der Zeitlichkeit unterworfenen Seins- und Erkenntnis weise des Bewußtseins. Sofern menschliches Denken dadurch die komplexe Kohärenz von Welt nur sehr begrenzt begreifen kann, ist jeder Weltzugriff notwendig selektiv. 3 0 Noch bevor Quentin und Shreve jedoch i n Kapitel V I I I ihre eigentliche (Re)Konstruktionsaufgabe aufnehmen, die nach der Einschätzung der meisten Kritiker die Wahrheit schließlich ans Licht zu bringen vermag, wird ihre Version bereits i m Vorfeld durch mehr oder minder versteckte Hinweise als Phantasieprodukt gekennzeichnet. 31 Die mithin nachhaltigste Einschränkung erfahrt der gemeinsam geleistete Sinnstiftungsentwurf allerdings durch eine Äußerung Quentins, die aufgrund ihres Widerspruchs zu diesem E n t w u r f wesentliche Teile der Ausführungen der beiden Jugendlichen in Kapitel V I I I als bloße Erfindung ausweist. I n einer Passage, i n der — laut Quentins Bericht — M r . Compson 29

Z u dieser Textstelle vgl. besonders die Ausführungen Jürgen Pepers in dessen Bewußtseinslagen des Erzählens, S. 242 f. 30 I n dieser Hinsicht ist es nur konsequent, wenn in Absalom, Absalom! auch die menschliche Sprache (als unmittelbarer Ausdruck der Verfaßtheit des Bewußtseins) als höchst defizitäres System der Wirklichkeitserfassung und -Vermittlung gilt. Sprache — so Quentin i m Verweis auf seinen Großvater — ist nur »that meager and fragile thread [...] by which the little surface corners and edges o f men's secret and solitary lives may be joined for an instant now and then before sinking back into the darkness where the spirit cried for the first time and was not heard and w i l l cry for the last time and w i l l not be heard then either [...]« (^L4,251). 31 Der Wahrheitsanspruch der v o n Quentin und Shreve erstellten Version w i r d u.a. dadurch in Frage gestellt, daß ihre Erzählung einerseits v o n ihnen selbst als Spiel zweier Möchtegern-Detektive eingestuft w i r d (vgl. Shreves durchaus wörtlich zu verstehende Forderung »you wait. Let me play a while now«) und daß andererseits der Rahmenerzähler ihre Rekonstruktion mit den wirklichkeitsverzerrenden Erzählungen Miss Rosas oder Thomas Sutpens gleichsetzt (»[...] the t w o o f them, whether they knew it or not, [ . . . were] dedicated to that best o f ratiocination which after all was a good deal like Sutpen's morality and Miss Coldfield's demonizing [...]«, A A, 280).

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darüber spekuliert, welche Daten tatsächlich bekannt waren, räumt er ohne Umschweife ein, [that] nobody ever did know i f Bon ever knew Sutpen was his father or not, whether he was trying to revenge his mother or not at first and only later fell in love, only later succumbed to the current of retribution and fatality which Miss Rosa said Sutpen had started and had doomed all his blood too, black and white both. ( A A , 269)

M i t dieser Einschränkung wird die wesentliche Prämisse i m späteren E n t w u r f der beiden Jugendlichen, daß Bon nämlich um seinen Vater gewußt und mit allen Mitteln — u. a. der Drohung, mit seiner Schwester eine inzestuöse Verbindung einzugehen — dessen Anerkennung gesucht habe, in den Bereich des bloß Spekulativen verwiesen. Auch in Kapitel V I I I w i r d der höchst fiktive Charakter der Erzählung Quentins und Shreves immer wieder hervorgehoben. So greift beispielsweise Shreve den Leitspruch Miss Rosas, »[that] there are some things that just have to be whether they are or not« (AA, 322) wieder auf. Seine Weiterführung des Gedankens, daß es Dinge geben müsse, »[that] have to be a damn sight more than some other things that maybe are and it dont matter a damn whether they are or not« ( A A , 322), verwirft explizit das Prinzip der Wirklichkeitstreue und macht den Entwurf der beiden Jugendlichen zum nicht mehr auf historische Wirklichkeit hin referentialisierbaren Artefakt. Entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung stuft auch der Rahmenerzähler Quentins und Shreves Sinnkonstituierung als Produkt ihrer subjektiven Einbildungskraft ein, wenn er beispielsweise ihre >Rekonstruktion< der Ereignisse jenes Winterabends i m Jahre 1860, als Thomas Sutpen seinem Sohn Henry w o h l mitgeteilt haben mußte, warum er einer Ehe zwischen Judith und Charles Bon nicht zustimmen könne, in folgender Weise kommentiert: [...] and they — Quentin and Shreve — thinking how after the father spoke and before what he said stopped being shock and began to make sense, Henry w o u l d recall later how he had seen through the w i n d o w beyond his father's head the sister and the lover in the garden, pacing slowly, [...] to disappear slowly beyond some bush or shrub starred w i t h white bloom [...]. I t w o u l d not matter here in Cambridge that the time had been winter in that garden too, and hence no bloom nor leaf even i f there had been someone to walk there and be seen there since, judged by subsequent events, it had been night in the garden also. But that did not matter because it had been so long ago. I t did not matter to them (Quentin and Shreve) anyway [...]. ( A A , 2 9 4 f . )

M i t dem Hinweis des Rahmenerzählers, daß es für Quentin und Shreve belanglos gewesen sei, ob die Daten ihrer Version denen der Gegebenheiten entsprachen, wird keineswegs — wie viele Kritiker glauben — die Neigung der beiden Jugendlichen entschuldigt, die Vergangenheit unter Zuhilfenahme romantischer Klischee vor Stellungen zu verklären. Mancher Leser, der ohne diesen Hinweis die

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Widersprüche gar nicht wahrgenommen hätte, wird durch den Erzählerkommentar geradezu zu der Einsicht gezwungen, daß Quentin und Shreve nicht an einer der Wirklichkeit entsprechenden Rekonstruktion der Geschichte, sondern allein am spielerischen Erproben ihrer eigenen Phantasie interessiert waren. Auch i m weiteren Verlauf des Berichts über Shreves und Quentins Bemühungen um eine neue Version betont der Rahmenerzähler den äußerst fragwürdigen Charakter ihres Puzzle-Spiels mit Versatzstücken aus historischen Ereignissen, Hypothesen und subjektivem Wunschdenken. So stellt er u. a. fest, [ . . . that] the t w o o f them creat[ed] between them, out o f the rag-tag and bob-ends o f old tales and talking, people w h o perhaps had never existed at all anywhere, who, shadows, were shadows not o f flesh and blood which had lived and died but shadows in turn o f what were (to one o f them at least, to Shreve) shades too, quiet as the visible murmur o f their vaporizing breath. ( A A , 303)

Die Erzählpassagen, die sich mit der Figur des erpresserischen Anwalts der Familie Bon befassen, der insgeheim die Fäden von Charles' Schicksal in Händen gehalten haben soll, entpuppt sich bei genauer Überprüfung ebenso als bloße Erfindung und als Produkt der ungezügelten Phantasie der Jugendlichen wie der E n t w u r f jener Szene, die Henry Sutpens Zusammentreffen mit Bons Mutter in New Orleans vorstellt: [... they] sat in that drawing room o f baroque and fusty magnificence which Shreve had invented and which was probably true enough, while the Haiti-born daughter o f the French sugar planter and the woman w h o m Sutpen's first father-in-law had told h i m was a Spaniard (the slight dowdy woman [...] w h o m Shreve and Quentin had likewise invented and which was likewise probably true enough) [...]. (AA,

335)

Auch wenn der Rahmenerzähler hier den Phantasiegebilden seiner Binnenerzähler durch Verweise auf ein »Genug« an Wahrheit beizupflichten scheint, kann der Leser daraus keineswegs deren quasi auktoriale Beglaubigung ableiten, zeigt sich doch i m selben Kontext, daß selbst der Rahmenerzähler nicht über gesicherte Erkenntnisse verfügt, die ihn als Instanz verbindlicher Urteile qualifizieren könnten. Z u undifferenziert bleiben die Kriterien seiner Urteile, daß etwas »true enough« sei, als ob auch Halbwahrheiten ausreichten, da der Leser den E n t w u r f ohnedies nicht an historischen Fakten zu überprüfen vermöge. Insofern ein »true enough« nur als Kriterium eines Erzählens gelten kann, das sich allein der oberflächlichen Plausibiütät verpflichtet, wird indirekt auch der implizite Anspruch auf jene Entsprechung von Fiktion und Wirklichkeit völlig negiert, der in der K r i t i k zu Absalom, Absalom! in Hinblick auf den E n t w u r f Quentins und Shreves so oft erhoben und mit dem Hinweis auf die der gemeinsamen Sinnstiftung zugrundeliegenden außergewöhnlichen Bewußtseinsform der »happy marriage o f speaking and hearing« (A A, 316) legitimiert wird. Auch die Annahme einer solchen »happy marriage«, zu der Kritiker immer wieder neigen,

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unterstützt nicht die Hypothese, Quentin und Shreve hätten i n ihrer intuitiven Identifikation mit Charles Bon und Henry Sutpen allein schon aufgrund der Intensität ihrer Einfühlung die Brücke von der bloßen Erfindung zur Wirklichkeit geschlagen. Der Kommentar des Rahmenerzählers zu diesem Bewußtseinsakt der »happy marriage« betont statt dessen, wie sehr doch die beiden Jugendlichen in ihrer eigenen Subjektivität befangen blieben: [...] it did not matter to either o f them which one did the talking, since it was not the talking alone which did it, performed and accomplished the overpassing, but some happy marriage of speaking and hearing wherein each before the demand, the requirement, forgave condoned and forgot the faulting o f the other — faultings both in the creating o f this shade w h o m they discussed (rather, existed in) and in the hearing and sifting and discarding the false and conserving what seemed true, or fit the preconceived — in order to overpass to love, where there might be paradox and inconsistency but nothing fault nor false. (.4.4,316)

M i t aller Deutlichkeit wird in dieser Passage auf die Tatsache verwiesen, daß der gemeinsame E n t w u r f — sowohl was das Erfinden neuer Daten als auch die kritische Überprüfung des Überlieferten anbelangt 3 2 — einer Vielzahl von Fehldeutungen und irrigen Annahmen aufsitzt. Insofern nur das in die Sinnstiftung der beiden eingeht, was ohnedies ihren Vorannahmen entspricht und nach deren Maßgabe >wahr< scheint, ist zwar mit einem Höchstmaß an innerer Schlüssigkeit zu rechnen, keinesfalls aber mit einer Deutung der Ereignisse, die hinsichtlich der Gültigkeit der Aussage anders als Miss Rosas »demonizing« einzuschätzen i s t . 3 3 Auch Quentin und Shreve sind aufgrund der besonderen Struktur des menschlichen Bewußtseins nur fähig, Wirklichkeit subjektiv zu begreifen. I n ihrem E n t w u r f spiegeln sich ihre Vorurteile und die von ihnen geteilten Welterklärungsmodelle der Gesellschaft wider. Die Annahme, daß allein die Gefahr der »miscegenation«, nicht aber die des Inzests für Bons Tod verantwortlich sei, beruht nicht auf Fakten, 34 sondern ist Produkt eines aus der 32 Vgl. dazu auch Shreves kritische Beurteilung der Rekonstruktionen M r . Compsons, AAy 342-344. Wie gering der Anspruch auf die Authentizität der Überlieferung >historischer< Daten schon auf der ersten Stufe der Vermittlung ist, w i r d vor allem offenbar, wenn General Compson in seinem in Kapitel V I I v o n Quentin wiedergegebenen Bericht über die Erzählungen Sutpens dessen Unfähigkeit, eigene Erfahrungen nach einem kohärenten Sinnmodell zu deuten, dadurch kompensiert, daß er mit häufigem Verweis auf Sutpens Nichtwissen sogar von dessen fehlenden Erkenntnissen berichtet und Erfahrungen konstruiert, die Sutpen w o h l hätte machen müssen, wenn er nicht naiv gewesen wäre. Unter Einsatz seines gesamten imaginativen Vermögens bemüht sich General Compson, dem Leser auch Sutpens >Nicht-Erkenntnisse< vorzustellen. V g l . bes. AAy 250-252. 33 34

Vgl. den Kommentar des Rahmenerzählers, AAy

280 (Fußnote 31).

Kritiker führen als Beleg der Faktizität oft auch das Argument an, das Gespräch, in dem Thomas Sutpen seinem Sohn Henry die Wahrheit über Bons Identität offenbart habe, sei dadurch authentisiert, daß er durch den auktorialen Rahmenerzähler vermittelt werde. Gegen diese Argumentation ist indes einzuwenden, daß der Rahmenerzähler keineswegs

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Historie des Südens begriindbaren Plausibilitätsschemas, das für Quentin nicht etwa deswegen Geltung hat, weil es der Wirklichkeit entspricht, sondern weil die es bedingenden rassischen Vorurteile auch i m 20. Jahrhundert persistieren. 35 Auch für die beiden jugendlichen Erzähler gilt als Grundsatz ihrer Konstruktionen der Wirklichkeit, »[that] there are some things that just have to be whether they are or not« ( . A A , 322). Obwohl uns Quentins und Shreves Sinnstiftung in Kapitel V I I I das Vermögen der Imagination vorstellt, i n sich schlüssige Wirklichkeiten zu entwerfen, wird ihr Bemühen notgedrungen auch zum Dokument des Scheiterns der imaginativen Entwürfe an der sich dem Bewußtsein auch immer entziehenden Wirklichkeit. Dieses Scheitern zeigt sich nicht nur in dem kurzen Wortwechsel zwischen Quentin und Shreve gleich zu Beginn des letzten Kapitels, in dem Quentin einräumt, auch er könne so manches nicht verstehen, oder in den provokativen Fragen, mit denen Shreve seinen Freund am Ende des Romans i n die Enge zu treiben versucht, sondern vor allen Dingen in dem kurzen Dialog zwischen Quentin und Henry Sutpen, der als Bindeglied zwischen Quentins Lebenswirklichkeit i m Jahre 1909 und der fernen »historischem Wirklichkeit der Sutpens fungiert. Die zirkuläre Form dieses Dialogs, das fast kryptische Wechselspiel von suggestiver Frage und kurzer Bestätigung des in ihr bereits Implizierten werden zum Inbegriff der Selbstreferentialität von Quentins Denken und — i m Ausbleiben einer verbindlichen Erklärung zu Bons wahrer Identität — zum Sinnbild der prinzipiellen Offenheit von Absalom, Absaloml. Wenn James Guetti in seiner beachtenswerten Interpretation des Romans zu dem Schluß kommt, daß Quentins Fragen i n ihrer Wiederholung die »futile circularity of his imagination« anzeigten, so ist dem wohl nur noch hinzuzufügen, daß sich darin auch das allen Erzählern gemeinsame vergebliche Befragen der Vergangenheit nach Sinnstrukturen offenbart. 36 * * *

die Rolle des traditionellen allwissenden Erzählers übernimmt und daß er — wie der Kursivdruck der betreffenden Textpassage andeutet — das Gespräch so wiedergibt, wie Quentin und Shreve es sich in ihrer Phantasie ausgemalt hatten. 35

Insofern ist Absalom } Absaloml sicherlich auch ein Roman über den »myth o f the O l d South«. Die diesen prägenden Mythologeme finden sich kaum verändert in den Plausibilitätsmodellen Quentins und Shreves (z. B. der »miscegenation discovered too late«) wieder. Ihre Rekonstruktion ist daher keineswegs mythenkritisch. I m Scheitern ihres Sinnentwurfs kritisiert Faulkner — allerdings nur implizit — die Persistenz solcher Mythen. 36 Guetti, S. 79. Z u r Figur des geisteskranken Jim Bond als Verkörperung des Prinzips gescheiterter Konsistenzbildung siehe Guetti, S. 102: »[Jim Bond] is potential meaning, always just out o f reach, but asserting in his idiot howling the negation o f meaning. The suggestiveness of his presence is denied by the very quality that establishes it, his incomprehensibility«.

Kontingenz und Kohärenz

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Gegen Deutungen, die davon ausgehen, daß jeder Sinnstiftungsversuch zwangsläufig an der phänomenalen Wirklichkeit scheitern müsse und lediglich Ausdruck eines Denkens sei, das aufgrund der selbstreferentiellen Verfaßtheit des menschlichen Bewußtseins in allem immer auch sich selbst wiederfinde, führten Kritiker nicht selten das Argument an, daß Faulkner seinen Roman doch dadurch als geschlossenes Kunstwerk mit einem verbindlichen Wirklichkeitsbezug konzipiert habe, daß er dem Romantext, der zugegebenermaßen viele Fragen offen lasse, neben der Skizze seines — allerdings imaginären — Yoknapatawpha County eine Chronologie und Genealogie als Faktengerüst beigefügt habe. Bernard DeVotos Empfehlung, vor der Lektüre des Romans zur Orientierung einen Blick in den Anhang zu werfen, 37 liegt ebenso wie all jenen Interpretationen, die den Anhang als Indiz für die Historizität des Geschehens werten, die Annahme zugrunde, daß an der Glaubwürdigkeit der Chronologie und Genealogie nicht der geringste Zweifel bestehe. 38 Trotz der Einmütigkeit in der Wertung der Funktion des Anhangs wurden Kritiker vereinzelt einiger Probleme gewahr, die von einer Reihe von Widersprüchen zwischen den Angaben i m Anhang und jenen des Romantextes herrührten. 3 9 Wiederholt machten Interpreten den Verlag oder Faulkner selbst für die Unstimmigkeiten verantwortlich und forderten, die unbedeutenden Irrtümer in späteren Auflagen des Romans zu beheben. 40 Hierbei setzten sie freilich voraus, daß die Unstimmigkeiten versehentlich in den Text geraten seien. Es gibt jedoch gewichtige Gründe anzunehmen, daß Faulkner die >Fehler< bewußt in den Roman eingebaut beziehungsweise sie zumindest absichtlich nicht korrigiert habe, weil es ihm gerade auf solche Widersprüche zwischen Romantext und Anhang ankam. Er wollte scheinbar gezielt jene »reliability as evidence« des Appendix untergraben, von der Michael Millgate stellvertretend für viele Kritiker sprach. 41 Auch seinem früheren Roman The Sound and the Fury fügte 37 Bernard DeVoto, »Witchcraft in Mississippi«, Saturday (October 31, 1936), S. 14.

Review of Literature , Bd. 15

38 Vgl. u. a. den zu dieser Frage repräsentativen Kommentar L y n n Gartrell Levins, »The Four Narrative Perspectives in Absalom, Absalom/«, PMLA , Bd. 85 (1970), S. 35-47: »Faulkner fully intended the story o f Thomas Sutpen's thirty-six-year invasion o f Yoknapatawpha County to be considered as a part o f Southern history. By including at the end of the novel the chronological list o f biographical information, the author makes it evident that the Sutpen story did »happen,« that the events o f his life have behind them the firm foundation o f fact« (S. 35). 39

Vgl. dazu besonders Robert Dale Parkers »The Chronology and Genealogy of Absalom, Absalom!: The Authority of Fiction and the Fiction o f Authority«, Studies in American Fiction , Bd. 14 ( A u t u m n 1986), S. 191-198. 40

Brooks, William Faulkner: The Yoknapatawpha Country (New Haven, CT, 1963), S. 424-

426. 41

The Achievement of William Faulkner (New York, 1966), S. 324.

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Bernd Engler

Faulkner (nachträglich i m Jahre 1945) eine gleichermaßen fehlerhafte Genealogie an und weigerte sich, deren Fassung für einen Anhang zu Malcolm Cowleys Portable Faulkner hinsichtlich der Fehler zu korrigieren, auf die ihn Cowley in seiner Eigenschaft als Herausgeber hingewiesen hatte. Insofern die Angaben des Anhangs — nach Aussagen Faulkners 4 2 — nur auf Erkenntnissen und dem Wissensstand eines Erzählers beruhen, der sich als »town historian« verstehe, gehören auch sie dem Bereich der hypothetischen Wirklichkeitskonstruktion an und eignen sich daher kaum, der Theorie, Charles Bon sei Sutpens Sohn, die Authentizität zuzuschreiben, die auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann. Wenn William Faulkner selbst die vermeintlich Faktizität verbürgenden Daten der Genealogie und Chronologie dazu benutzt, aufzuzeigen, daß jede Form der >Wiedergabe< der Wirklichkeit nur das Produkt subjektiver Wirklichkeitskonstitution nach den Erkenntniskategorien unseres Bewußtseins sei, so ist er als Autor w o h l konsequenter, als viele Kritiker vermuten. 4 3 Faulkners Roman Absalom } Absalom! legt seinem Leser die Schlußfolgerung nahe, daß keine Methode der Erkenntnis — weder die der kritischen Rationalität, noch die der einfühlenden Imagination — zu einem objektiven Begriff von Wirklichkeit vordringen kann. Kein Zugriff auf Wirklichkeit ist i n der Lage, die grundsätzlich subjektive und endliche Seinsverfassung des Bewußtseins zu transzendieren und von der Erfahrung der (scheinbaren) Kontingenz allen Seins zu einem Begriff einer diesem zugrundeliegenden Konsistenz vorzudringen. Die Sinnstrukturen, die der Mensch in der Wirklichkeit vorzufinden und zu erkennen glaubt, sind — so wäre zu folgern — nichts anderes als die Strukturen seiner eigenen Sinnstiftungen, die lediglich durch extreme Reduzierung der Komplexität der Wirklichkeit möglich werden. Insofern allerdings menschliches Bewußtsein nach dieser Konzeption dazu verurteilt ist, i n seiner Erkenntnis der Wirklichkeit an dieser

42 Siehe The Faulkner-Cowley (New York, 1966), S. 44.

File: Letters and Memories, 1944-1962, hg. Malcolm Cowley

43 Faulkner scheint auch den Titel seines Romans zur Betonung des Sachverhalts einzusetzen, daß es endgültige Sinnprädikation nicht gebe. Der Bezug auf die biblische Klage K ö n i g Davids u m seinen Sohn Absalom w i r d — wie der gesamte Text — zum unauflösbaren Vexierbild. Bezieht sich der Titel des Romans tatsächlich auf Davids Anerkenntnis seines zuvor verstoßenen Sohnes Absalom, wie sie das zweite Buch Samuel darstellt, so w i r d Charles Bon mit Absalom gleichgesetzt. Nach dem weiteren biblischen Handlungsmuster und seiner Figurenkonstellation müßte Bon allerdings mit A m n o n identisch sein, da dieser von seinem Bruder (Absalom / Henry) wegen des Inzests mit seiner Schwester (Tamar/Judith) getötet wurde. Diese zweite Analogie widerspricht aber ihrerseits Quentins und Shreves Vermutung, daß allein die Gefahr der »miscegenation« das M o t i v für Henrys Tat gewesen sei. Wenn i m Text jedoch nicht einmal Bons Identität eindeutig geklärt wird, muß auch die Titelgebung als A k t der »misdirection« des Lesers erscheinen.

Kontingenz und Kohärenz

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selbst immer wieder zu versagen, entspringt diesem Versagen die Notwendigkeit immer neuer Konsistenzbildungsversuche. Kunst als eine Form des Bestrebens, kontingente Wirklichkeit in ein autonomes System von Wirklichkeitskonstruktion zu überführen, fände ihren Ursprung und ihren dauerhaftesten Impuls daher in der Unfähigkeit des Menschen, das Primat seines Bewußtseins durch jenes einer objektiv gültigen Realität zu ersetzen. Kunst entspringt dem Versagen des Bewußtseins gegenüber der Wirklichkeit und damit paradoxerweise auch dem Scheitern ihrer eigenen Versuche, diese Wirklichkeit anhand von Sinnmodellen zu erfassen. Allein aufgrund der Tatsache, daß Kunst prinzipiell in ihren Bemühungen scheitert, die Wirklichkeit auch nur annähernd darzustellen, erschöpft sie sich nicht i n ihren bereits geleisteten Wirklichkeitszugriffen; allein aufgrund des prinzipiellen Scheiterns des Lesers, die Wirklichkeit des Kunstwerks end-gültig zu begreifen, verliert Kunst nicht ihre Kraft, wie die Wirklichkeit selbst unabschließbare Herausforderung des menschlichen Geistes zu sein. I n diesem Sinne erlangt selbst die in sich widersprüchliche und kontingente fiktionale Welt von Faulkners vielleicht bedeutendstem Roman, Absalom, Absalom/, eine Kohärenz der Bedeutung, die sie gerade nicht zum Analogon von Wirklichkeit macht, sondern doch als Artefakt, als Konstrukt des schöpferischen Bewußtseins erscheinen läßt.

Biographie als Dokumentation Über Wolfgang Hildesheimer Von Walter Bohnacker

I Wer i m Titel zu diesem Aufsatz Offenkundiges, gar Eindeutiges oder nur Tautologisches vermutet, dem sei versichert, daß das Gegenteil von all dem gemeint ist: er zielt auf eine Zweideutigkeit ab, die v o m Thema selbst herrührt. Der Aufsatz befaßt sich mit der Rolle der Biographie bei Wolfgang Hildesheimer und fragt nach ihrem Stellenwert und nach ihrer Funktion i m Gesamtkontext eines Werkes, in dem gerade unter dieser Fragestellung die Ambiguität zum System wird. V o n diesem System soll i m folgenden die Rede sein. M i t dem Biographie-Thema bei Hildesheimer ist ein Schwerpunkt gesetzt, der zunächst der Rechtfertigung bedarf. Einerseits durchzieht es leitmotivisch fast das gesamte Werk und führt schließlich in der Biographie Marbot zu seinem Ziel. Es zeugt damit von einer Kontinuität in Hildesheimers Auseinandersetzung mit der Biographie, die i m literarisch-fiktiven wie i m theoretischen Kontext stattfindet, i m Erzählen wie i m Essay, in reflexiver Prosa wie in Reden und Vorträgen. Z u m anderen besteht Hildesheimers eigener Beitrag zur Biographie über die rein quantitative Beschäftigung hinaus in der Qualität seiner Auseinandersetzung mit ihr. Denn zur Biographie äußert er sich immer als Künstler und keinesfalls als Biograph. Er entwickelt seine Biographiekonzeption als ein Schriftsteller, dessen Zweifel an der Gattung allzu tief sitzen, als daß er sich mit ihr nur theoretisch befassen würde. Die Skepsis geht denn auch so weit, daß er selbst das Wort für unglücklich hält, was ihn freilich nicht davon abhielt, sein letztes umfangreiches literarisches Werk »Eine Biographie« zu nennen. Daß dies nun nicht ein Widerspruch, sondern, i m Gegenteil, eine Konsequenz war, wird zu zeigen sein. I n Anlehnung an Peter Horst Neumanns Essay über Hildesheimers »Ziel und Ende« steht auch hier die »Folgerichtigkeit des Gesamtwerks« 1 i m Mittelpunkt, jedoch in einem etwas anderen Sinn. I m Titel, so viel sei vorweggenommen, deutet sich eine Funktionalität der Biographie an, die bei Hildesheimer dem Hauptzweck seines Schreibens entspricht. 1 P. H . Neumann, »Hildesheimers Ziel und Ende: Über >Marbot< und die Folgerichtigkeit des Gesamtwerks«, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, hg. H . L . A r n o l d (Heft 89/90 >Wolfgang Hildesheimer), S. 20-32.

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II M i t seinen aus einem Beitrag zu einer Festschrift für Max Frisch hervorgegangenen Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes (1983) hat sich Hildesheimer für immer v o m Schreiben als Kunst verabschiedet. Das Ende seiner Schriftstellerexistenz hat er i n Interviews mehrfach begründet mit eben diesem Stand der Dinge: A m Weiterschreiben hindere ihn sein Entsetzen über unsere Zeit angesichts der zunehmenden hemmungslosen und irreparablen Vernichtung unserer Lebenswelt, der fatalen Fortschritte einer längst wertfrei operierenden Wissenschaft und des spürbaren Absterbens alles Menschlichen. Schon in seinem Vortrag »The End of Fiction« (1975) hatte er erklärt, daß der moderne Schriftsteller wirkungslos sei und scheitern müsse bei dem Versuch, die Realität und die Situation des Menschen i n ihr, diese »nicht mehr aufzuhaltende anomale Maschinerie, die unser Schicksal bestimmt« 2 , anhand fiktiver Modelle in den Griff zu bekommen, denn er habe den Bezug zu ihr endgültig verloren. Hildesheimer betrachtet heute nach dem Ende seiner Fiktionen die frühen fünfziger Jahre, als er mit dem Schreiben begann und seine ersten Erzählungen veröffentlichte, als »eine wunderbare Zeit, als man nicht darüber nachdachte, ob die Welt noch zu retten sei oder nicht, und daher jegliche Aktualität ignorieren durfte« 3 . So konnte er damals etwa eine künstlich aufgeschüttete Insel klangvoll und pathetisch i m Meer versinken lassen mitsamt der auf ihr versammelten >Elite< der Kulturträger, die sich inmitten der heraufziehenden Katastrophe in ihrem Reservat ein letztes Stelldichein gibt und bis zum letzten Paukenschlag, als den illustren Köpfen das Wasser schon über die Hälse reicht, i m Kunstgenuß verharrt, bevor ihr schließlich alles Hören und Sehen vergeht. Der Erzähler, eines der vielen fiktiven Ichs des Autors, wollte und durfte freilich die Aktualität nicht ignorieren, ihm mußte es vorbehalten bleiben, den Untergang aus sicherer Entfernung zu beobachten und der Nachwelt v o m Erlöschen einer >Kultur< zu berichten. Inzwischen hat die Aktualität auch ihn eingeholt und ihn ebenfalls verstummen lassen. Aus dem ironisch-heiteren Weltgefühl i m Text »Das Ende einer Welt« (1951) ist bitterer Ernst geworden, und Worte wie Nachwelt und Nachwirkung klingen in Hildesheimers Ohren heute wie Sarkasmus: »Der Mensch wird in Bälde die Erde verlassen haben. Mag sein, vielleicht kommen eines Tages wieder Menschen, oder es bleiben auch einige übrig. Aber diese Übriggebliebenen werden sich nicht gerade um Shakespeare oder Mozart kümmern« 4 . 2 W H , »The End o f Fiction«, in Englisch abgefaßter Vortrag, der zuerst veröffentlicht wurde in der hier zitierten, v o m A u t o r selbst übertragenen Fassung. I n : Merkur, 30 (1976), S. 62. 3

W H , »Zu den Lieblosen Legenden«, in: Lieblose Legenden (Frankfurt, 2 1983), S. 6.

4

Interview mit der Zeitschrift Stern, 14. 4. 1984.

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Das Ende des literarischen Schreibens blieb für Hildesheimer nicht ohne Folgen, denn es bot die Möglichkeit zu einem neuen Anfang in einem anderen Medium. Er ist damit einer alten Gewohnheit treu geblieben, »hin und wieder auf den Ausgangspunkt zurückzukommen« 5 . Das Ignorieren und Ausblenden der Realität, einst die Vorbedingung zum Schreiben selbst, kennzeichnet heute den bildenden Künstler Hildesheimer, der mit seinen Collagen die Fortsetzung der Kunst mit anderen Mitteln betreibt, und der damit wieder zu einem alten, um i m Vokabular der Mitteilungen zu sprechen, Überlebensmittel zurückgefunden hat. V o n seiner neueinsetzenden Kreativität zeugen die Illustrationen für die Mitteilungen ebenso wie der Bildband Endlich allein, in dessen einführendem Essay über »Die Ästhetik der Collage« der Künstler zu seiner Arbeit sagt: »Wer aber fragt, ob ich diese Tätigkeit als so wichtig erachte, dem antworte ich, daß sie für mich lebenswichtig ist. Wer sagt, daß ich aus der Realität ausgestiegen bin, hat recht« 6 . Neueste Collagen des solchermaßen in die Kunst Entflohenen sind in dem Hildesheimer gewidmeten Heft der Zeitschrift Text + Kritik (Januar 1986) 7 abgedruckt. Eine dieser allesamt 1985 fertiggestellten Arbeiten trägt den Titel »Engführung«, und dieses Bildthema ist direkt auf das zu beziehen, was Hildesheimer in einem zweiten Beitrag zu diesem Heft demonstriert. Als »Die letzten Zettel« 8 sind hier noch einmal Aufzeichnungen aus den Jahren 1973 bis 1983 zusammengetragen, ein dem ausgedienten Zettelkasten entnommener Restbestand von Notaten, die in ihrer zeitlichen Ordnung — auf die »Ordnung der Zeit« wird noch einzugehen sein — Beziehungen zu den späten literarischen Arbeiten und zum bildnerischen Werk und damit Spuren eines Schaffensprozesses erkennen lassen, der mit dem Leeren des Kastens als endgültig abgeschlossen gelten muß. Was in Masante (1973), dem letzten Erzählwerk des Autors, noch als Frage formuliert war: »Niederschreiben um abzustreifen, das war das Experiment, ist es schon gemacht?« 9 , erhält mit den »letzten Zetteln« seine späte und deutliche Antwort. Der Konsequenz, mit der Hildesheimer seinen Abschied v o m Schreiben vollzogen hat, ging die andere voraus, die nämlich, mit der er sein Experiment als Programm und Engführung betrieb und es zu seinem Ziel führte. Damit sind wir bereits mitten in unserem Thema. Das Experiment des Schreibens ist das, was der Autor einmal Schreiben als »Beschäftigungstherapie« und »lebensfüllende Selbstdokumentation« 10 nennt. Er wendet sich damit zugleich gegen eine Literatur der Selbstdarstellung und -enthüllung, die, wie er sagt, i n 5 W H , »Vita«, in: Begegnung im Balkanexpreß. An den Ufern der Plotinit^a. Z w e i Hörspiele, mit einem autobiographischen Nachwort (Stuttgart: Reclam, 1968), S. 69.

6 W H , Endlich allein/ Collagen (Frankfurt, 1986), S. 14. 7

Text -I- Kritik

(siehe A n m . 1).

8 Ib., S. 8-18. 9 10

W H , Masante (Frankfurt, 1973), S. 345. »Zu den Lieblosen Legenden«, loc. cit., S. 5.

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einer A r t »Vom-Leibe-Schreiben als selbsttherapeutischer Vollzug« auf einer Skala »von blassem bis zu vehementem Kitsch die Innenwelt des Schreibenden als Welt ausgibt« 11 . Was er meint ist dies: Schreiben nicht als A k t der Bewältigung, sondern »Wiedergabe des Bewältigten« 12 . I n seinem Mozart-Buch macht Hildesheimer v o m Stichwort Selbstdokumentation häufigen Gebrauch, dann nämlich, wenn von Mozarts Briefdokumenten die Rede ist, die er philologisch eingehend analysiert. I n dieser Selbstdokumentation, von Mozart natürlich nicht als solche ins Auge gefaßt, sieht der Mozart-Forscher Hildesheimer nicht die Wieder- oder Preisgabe der seelischen »Innenwelt des Schreibenden«, sondern das genaue Gegenteil: ein Zeugnis der Selbstbeherrschung, der — bewußten oder unbewußten — Überspielung, Umschreibung und Ablenkung, keine Selbstdemonstration also, sondern eine »als Mitteilsamkeit sich tarnende Diskretion« 1 3 , hinter der sich die Persönlichkeit und die jeweilige Verfassung des Briefschreibers Mozart dem Zugriff seines Interpreten entzieht. So lautet denn die von Hildesheimer in Momart (1977) mit allem Nachdruck vertretene und omnipräsente These, daß uns die Gestalt unzugänglich und rätselhaft bleiben muß, nicht nur, weil sie ein Genie war und schon deshalb nach einem anderen Gesetz angetreten ist als ihre Deuter, sondern weil Mozart es mitunter selbst darauf angelegt habe. Wie Hildesheimer zu dieser Behauptung kommt, hängt unmittelbar mit seiner Konzeption der Biographie zusammen und soll hier nun auf dem Weg einer Darstellung seiner Grundpositionen als Schriftsteller und der aus ihnen sich ergebenden Implikationen für die Biographie verdeutlicht werden.

III Für einen, der, von der bildenden Kunst kommend, sich entschloß, »die Welt als Sprache zu sehen« 14 , und der sich »im sogenannten >Absurden< heimisch« 15 11 W H , »Butt und die Welt. Geburtstagsbrief an Günter Grass zum 16. Oktober«, in: Merkur, 31 (1977), S. 968 f.

12 Ib., S. 969. 13

W H , Momart (Frankfurt, 1977), S. 359.

14

I n einer seiner drei Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1967) bezieht sich Hildesheimer auf Günter Eichs Text »Der Schriftsteller vor der Realität«, dem auch dieses Zitat entstammt. 15 W H , »Über das absurde Theater«, in: Theaterstücke. Über das absurde Theater (Frankfurt, 1980), S. 169. Diese Rede, gehalten am 4. 8. 1960 auf der 10. internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen, gehört zu den wichtigsten theoretischen Äußerungen des Autors zur Literatur. Diese wie die Mehrzahl der in unserem Zusammenhang erwähnten Reden wurde wieder abgedruckt in einem Sammelband, der einen repräsentativen Überblick über Hildesheimers Vortragstätigkeit verschafft: W H , Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Frankfurt, 1984. 2

Biographie als Dokumentation

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sieht, konnte Schreiben nicht heißen, sich an einer vernunftwidrigen und objektiv weder erfahr- noch erfaßbaren Realität zu orientieren. I n Anbetracht der absurden Grundsituation des Menschen, i n der die Welt ihm die A n t w o r t auf seine Fragen verweigert, war es für Hildesheimer klar, daß auch von der Literatur keine verbindliche Aussage über die Wahrheit erwartet werden durfte. I m Gegensatz zu einem traditionellen realistischen Erzählen, wo Wirklichkeit gewissermaßen zu Fiktion wird, sah er die Aufgabe von Literatur (stellvertretend für die Kunst schlechthin) darin, Wirklichkeit und Wahrheit »aus Fiktion zu kondensieren« 16 . Schreiben bedeutete für Hildesheimer, von einer dichterischen Freiheit Gebrauch zu machen i m »sprachlichen Griff über die Möglichkeiten kollektiver Erfahrung hinaus, und damit den Vorstoß in eine streng individuelle Begriffsregion, um eine Weltsicht auszudeuten« 17 . I n seiner Hörspielpreis-Rede von 1955 brachte er dies auf die Formel: Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit 1 8 . Der Aufbau einer Wirklichkeit der Literatur entspricht in der Prosa des Absurden dem, was bei Günter Eich >übersetzen< heißt: Der Schriftsteller übersetzt aus einer auf einen unbekannten >Urtext< Realität verweisenden Sprache, er entziffert gleichsam — dies die Metapher der Romantik — jene Hieroglyphen, die das Weltgeheimnis der unendlichen Natur ausmachen, und versucht so, diesem Rätsel Realität und seiner Lösung näherzukommen. Bei der Annäherung an den >Urtext< ist die Situation des Schreibenden i m Erzählvorgang implizit auch die des Lesers, denn die Identifikation von Erzähler und Rezipient ist auf Grund ihrer Stellung i m Absurden immer schon vorausgesetzt. Noch in Hildesheimers Ausführungen über seine Collagen findet sich Entsprechendes. Mehr noch als das Schreiben ist die bildnerische Arbeit für ihn ein kreatives Spiel von >trial and errorgelungen< — sind als reflexive poetologische Prosa auch Demonstrationen einer Vergeblichkeit, Themen zu finden, sie in den G r i f f zu bekommen und Geschichten aus ihnen zu entwickeln. Das Kriterium für die Qualität eines fertigen Werkes ist für Hildesheimer der Grad des Gelingens der »Wiedergabe des Bewältigten« oder dessen, was er mit >Transposition< bezeichnet: die sprachliche (bzw. bildnerische) Verarbeitung und Ausgestaltung einer subjektiven Realitätserfahrung und die gleichzeitige Reflexion auf das Verfahren selbst, auf die i m Prozeß sich ergebenden Veränderungen und Verschiebungen von Wirklichkeits- und Erfahrungsebenen, die den A k t der Entstehung einer übertragenen Wirklichkeit des Kunstwerkes immer zu erkennen geben und es nicht erst als Resultat präsentieren. Wie die Collage enthält auch der Text nicht ein mimetisches Abbild der Realität, sondern das artifizielle, in Stil und Komposition umgesetzte (transponierte) Destillat ihrer Erfahrung. >Transposition< heißt demnach vor allem dies: eine beim Schreiben (und Collagieren) mehr oder minder automatisch und unbewußt sich offenbarende, i m Werk sich objektiviert manifestierende innere existentielle Konstitution des Künstlers, der i m bewußten Vollzug des Schaffensprozesses das in eine künstlerische Form zu bringen sucht, was sich als Reaktion auf die Realität i m Unbewußten angesammelt hat und nach objektivierendem Ausdruck verlangt. Aus dem Dilemma, daß der Schriftsteller mit seiner Aufgabe, aus Fiktion Wahrheit zu machen, oft scheitert, bezieht Hildesheimer gerade seinen Impuls und die Kunst erst ihre Qualität, denn: »Der gefundene Urtext hätte das. Ende der Dichtung zu bedeuten« 21 . Die erlebte Realität zu transponieren, die eigene Erfahrung des Absurden aus der Fiktion zu »kondensieren« und das »Kondensat« in eine analoge Wirklichkeit der Literatur zu übersetzen, erfordert v o m schreibenden Ich auch die Objektivierung seiner selbst als einen Teil dieser Realität, so daß es sich in seiner jeweiligen Situation als modellhaftes Subjekt zu erkennen gibt. So ist Hildesheimers Aussage zu verstehen, er könne letztlich »über nichts anderes

20 Ib., S. 11. Texte wie Tynset und Masante sind nicht nur in musikalischer sondern auch in bildkünstlerischer Hinsicht strengen Kompositionstechniken folgende Prosamonologe, die in ihrer Struktur der Collage sehr nahe kommen. Die klangvollen Titel haben für den Erzähler (ähnlich wie Bildtitel) assoziationsanregende Funktion und benennen als Standoder Fluchtorte des monologisierenden Ich ein Thema als Ziel, dem es sich schreibend zu nähern oder das es stets zu umkreisen und zu definieren gilt. 21

»Die Wirklichkeit des Absurden«, S. 81.

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schreiben als über ein potentielles Ich« 2 2 , also über eine Gestalt seiner Identifikation. Dieses Ich ist als Identifikationsangebot für den Leser i n Hildesheimers Texten jedesmal ein anderes, i m Absurden verfremdetes Ich, hinter dem das Ich des Autors als »subjektives, extrem engagiertes Ich« steht, »das über keine Thesen verfügt« 2 3 : »Der Autor, der sein Ich i m Absurden verfremdet, wird es niemals in einem anderen Werk autobiographisch erlebend auftreten lassen, da für dieses Ich die unübertragene Realität kein beschreibbares Aktionsfeld ist. Es sieht sich exemplarisch, nicht als Individuum. Nicht seine Eigenschaften sind Objekt der Erzählung, sondern jene Erfahrung, die potentiell auch die des Lesers ist. Autobiographien von Kafka oder von Beckett sind undenkbar« 24 . Ob Kafka, Beckett, Proust oder Joyce, jeder von ihnen ist für Hildesheimer zwar nicht Maßstab, so doch maßgebend insofern, als sich jeder in seinem »oft schmerzlich mit seinem Leben identischen Werk« verfremdet hat zu einer »bis zum Sublimen gesteigerten Realität« 25 . Der Zweifel an einer Literatur, die vorgibt, das moderne Weltgeschehen als ein objektiv einsichtiges erfassen zu können, bedingt bei Hildesheimer den Rückzug auf eine extrem subjektive Position: »Der Zustand ist Verzweiflung, nicht als Gemütslage sondern als kontinuierliche Lebenshaltung: Erkenntnis der Unaufhebbarkeit alles Zweifeins« 26 . I m transpositorischen Erfinden einer subjektiven Wahrheit und einer Wirklichkeit, die i m Unterschied zur Realität auch das Mögliche und Wahrscheinliche einschließt, schwingt zugleich, wie Dierk Rodewald bemerkt, »die skeptische Hoffnung mit, daß sich auf diese Weise überhaupt etwas mitteilen lasse« 27 . Was sich bestenfalls mitteilen läßt, ist eine mit dem Schreiben angestrebte Definition des subjektiven Verhältnisses zur Realität und die i m Streben des potentiellen Ich nach Wahrheit gewonnene Erfahrung, die i n der Literatur sichtbar und zu einer Wirklichkeit wird, welche Anspruch auf Gültigkeit und Wahrhaftigkeit erhebt. Hildesheimers Skepsis gegenüber Fiktionen, die sich als Parabeln für Wahres und Wirkliches 2 8 verstehen, ist Ausdruck seiner Verwurzelung i m Absurden, einer Grundhaltung, die i n der Konsequenz ihrer theoretischen Begründung zur Negation jedweder Literatur führen muß, in der in Form einer narratio oder, als 22 »Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich. Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer«, in: Gespräche über den Roman, hg. Manfred Durzak (Frankfurt, 1976), S. 286. 23 24

»Die Wirklichkeit des Absurden«, S. 77. W H , »Das absurde Ich«, in: Interpretationen , S. 98.

25

»The End o f Fiction«, S. 65.

26

»Das absurde Ich«, S. 107.

27

Dierk Rodewald, »Wolfgang Hildesheimer«, in: Deutsche Dichter der Gegenwart: Ihr Leben und Werk, hg. Benno von Wiese (Berlin, 1973), S. 278. 28

1*

»The End o f Fiction«, S. 68.

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deren Variante, einer historia implizit der Anspruch erhoben wird, Realität einsichtig machen zu können. Seine Entschlossenheit, mit der er am Grundsatz festhält, »der >Geschichte< nicht zu glauben und daher nichts aus ihr zu lernen« 2 9 , hat ihre wesentliche Ursache in seiner Reaktion auf die Biographik, jene Literatur also, die, zumindest in ihrem Selbstverständnis als wissenschaftliche Disziplin der Historiographie, — die belletristische Sonderform der hiographie romanceé fallt nicht ins Gewicht — , der Wahrheit verpflichtet ist und Erkenntnisse über die wahren Zusammenhänge dadurch fördern will, daß sie Historie als die Geschichte eines Lebens vermittelt. Für Hildesheimer ist sie die Manifestation des Absurden schlechthin und kommt der Fiktion nahe, wenn sie in der Verbindung von enzyklopädistischer Dokumentation mit scheinbar unbegrenztem Einfühlungsvermögen hermeneutische Rekonstruktionsarbeit leisten w i l l und unter Bezugnahme auf Fakten und Quellen eine Authentizität suggeriert, um so schon die rein historische Distanz zum Objekt (von der intellektuellen oder psychischen ganz zu schweigen) mit falscher Unmittelbarkeit und Nähe zu überbrücken. Strenggenommen müßte alle Geschichtsschreibung und insbesondere die Biographik, so sieht es der absurde Prosaist, »nicht das Auffinden des Urtextes sondern das Sich-Abfinden damit, daß er nicht gefunden w i r d « 3 0 , vorexerzieren. Hildesheimer tut dies denn auch in Momart. Er bekennt sich zu seinem Scheitern, »Mozart als Gestalt erstehen zu lassen« 31 , und macht es zur Prämisse seines Versuchs, dessen Ausgang er somit vorwegnimmt, mit dem er es aber in Sisyphos-Manier 32 immer wieder darauf anlegt. Daß das Scheitern mit der Genialität Mozarts noch nicht erklärt ist, zeigt das Theaterstück Mary Stuart (1970), das als historisches und absurdes Drama die These von der »Unvorstellbarkeit eines historischen Ereignisses« 33 vertritt (gemeint sind Marys letzte Stunden vor ihrer Enthauptung), und mit dem sich Hildesheimer zugleich gegen ihre Biographen wendet, die das Absurde ihrer Geschichte wie das der Geschichte allgemein »zugunsten einer rationalen Deutung und damit einer zweifelhaften Wahrscheinlichkeit« 34 abtun. Gerade bei Figuren, die wie Mary Stuart, Dürer, 29 W H , »Anmerkungen zu einer historischen Szene« (zum Drama »Mary Stuart«), in: Spectaculum 14. Sechs moderne Theaterstücke (Frankfurt, 1971), S. 332. 30

»Die Wirklichkeit des Absurden«, S. 82.

31

Momart, S. 7. I m folgenden beziehen sich die i m fortlaufenden Text in Klammern angeführten Seitenangaben auf die in A n m . 13 genannte Momart-Ausgabe (Frankfurt: suhrkamp, 1977; Suhrkamp taschenbuch 598). 32 Hildesheimers Theorie des Absurden stützt sich auf Albert Camus' Der Mythos des Sisyphos. 33 »Anmerkungen«, S. 331. Siehe dazu als weiteren literarischen Text das Hörspiel »Das Opfer Helena« (1955/1961), in dessen Eröffnungsmonolog die Protagonistin auf die Überlieferung des Trojanischen Krieges Bezug nimmt und die Tendenz des Hörspiels zum Ausdruck bringt: »Aber diese Version ist, wie alle historischen Wahrheiten, unwahr«. Zitiert nach: W H , Hörspiele (Frankfurt, 1976), S. 9. 34

»Anmerkungen«, S. 330 f.

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Shakespeare, Cervantes oder Bach — die bei Hildesheimer eine Rolle spielen — den Zeitaltern vor der Aufklärung angehören, hat die Vorstellungskraft des Biographen zu versagen, und dies besonders dann, wenn er wie Hildesheimer am Künstler und dessen Psyche interessiert ist: M i t einer Gestalt, die sich selbst ausladend offenbart, wie Goethe, hat es der Biograf leicht (und mißbraucht seine Freiheit, um ihn so darzustellen, als sei er einer v o n uns), auch pathologische Fälle wie Beethoven berechtigen den Versuch einer postumen Anamnese — , aber v o n dort nur ein paar Dekaden zurück, über die französische Revolution hinaus und hinein ins Zeitalter des Absolutismus, vor allem dorthin, w o die >Aufklärung< noch nicht so recht u m sich gegriffen hat — , und schon herrscht dichter Nebel in der Seelenlandschaft. Wer meint, hier etwas zu sehen, der irrt. Die Menschen des Absolutismus sind uns fremd und bleiben und ewig fremd, und zwar sowohl jene, die ihn als ein v o n G o t t gegebenes Privileg ausübten, als auch jene, die ihn als ein v o n G o t t auferlegtes Übel hinnahmen. 3 5

Prinzipielle Vorstellbarkeit einer Figur und ihrer Psyche, ihre Faßbarkeit i n einem über alle Zeiträume hinweg bewahrten authentischen Raum, dazu die häufig didaktische und sinnvermittelnde, zuweilen auch, wenn schon nicht moralisierende, so doch beschönigende und idealistisch-glättende Aufbereitung des Ablaufs ihres Lebens entlang seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Höheund Tiefpunkte, dies sind Merkmale, die für Hildesheimer ganz entscheidend zum »Elend der Trivialbiographie« beisteuern. Hinzu kommt ihre fatalste und all dem zugrundeliegende Charakteristik — die Identifikation mit dem Helden. Diese A r t der Biographik, die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert bis heute gehalten hat, bietet Hildesheimer immer wieder Anlaß zu scharfer Polemik: Sie findet für alles jene eingängigen Erklärungen innerhalb der uns zugänglichen und dem Radius unseres Erlebens entsprechenden Wahrscheinlichkeit. Die Primärquelle ist identisch mit dem M o t i v : das Wunschdenken. Die Identifikation des Schreibenden mit dem Helden, seine Fixierung an ihn, machen alles Dargestellte zutiefst unwahrhaftig, denn w i r haben es ja unter dem Aspekt der Ungleichheit der Potenzen zu betrachten. (Momart, S. 11)

Seine Gegenposition faßt Hildesheimer i m Begriff spekulative Biographik zusammen, denn für ihn ist der Biograph, was das eigentliche Ziel seiner Arbeit angeht, ein reiner Spekulant. Spekulation verweist einerseits auf das schlechterdings Unerfahrbare und Unerkennbare des Geheimnisses künstlerischer Kreativität wie auf das Geheimnis einer als absurd verstandenen Welt und ist andererseits doch ein erkenntniskritischer — »Authentische Deutung gibt es nicht« 3 6 — und systematischer Ansatz, der zunächst einmal v o m Gemeinplatz ausgeht, daß jede 35 36

Ib., S. 329 f.

W H , »Bleibt Dürer Dürer?«. Rede, gehalten i m Auftrag des Bayerischen Rundfunks am 23.1.1971 als Eröffnung der Vortragsrede des Senders »Zum Dürerjahr 1971: 6 x Nürnberg. Sechs Schriftsteller sprechen über die Stadt«, in: Das Ende der Fiktionen, S. 28.

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B i o g r a p h i e a u f s u b j e k t i v e D e u t u n g angewiesen ist, w o b e i n a t ü r l i c h entscheidend w i r d , w i e sie d a r i n v e r f a h r t : Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind inkommensurabel. Die Wahrheit existiert objektiv als ein Absolutes, auch wenn sie niemand in ihrer Ganzheit wahrnimmt. Wahrhaftigkeit aber ist subjektiv. Sie ist die Eigenschaft eines Menschen oder seines Denkens oder Handelns. Der Begriff drückt das persönliche Bemühen um die Erkenntnis der objektiven Wahrheit aus und den Vorsatz, sich danach zu richten. Übertragen w i r diese Ausführungen ins Konkrete, so bietet sich zu ihrem Beleg die Biographik an; nicht die Dokumentarbiographik, die niemals mehr als ein Gerüst für die These sein kann, sondern die These selbst, deren Erarbeitung und Ausführung ich hier »spekulative Biographik< nennen möchte. Der Begriff erscheint mit adäquat, da er auch die Fragwürdigkeit dieser Disziplin wiedergibt. Die »spekulative Biographik< kann niemals den Anspruch der Wahrheit erheben, denn sie arbeitet mit den Mitteln der Vorstellungskraft. Was sie aufstellt oder konstruiert, ist nicht beweisbar. Demnach bleiben ihre Aussagen Behauptungen. Der Biograph, der sich diese Unbeweisbarkeit zunutze macht, handelt unwahrhaftig.

Der Biograph, der sich nicht permanent mit der Frage

konfrontiert, ob seine Aussage mit dem Diktat der Überzeugung übereinstimmt, handelt leichtfertig und unverantwortlich. Subjektiv richtig handelt daher nur, wer seine Vorstellungskraft unter Kontrolle seines Gewissens hält. O b er objektiv richtig handelt, ist damit allerdings nicht gesagt. Denn auch das makellose Gewissen ist kein Kriterium des Denkens, und der objektive Wert der Vorstellungskraft steht und fallt mit ihrer Qualität. 3 7 I m Gegensatz z u einer B i o g r a p h i k also, die d a z u n e i g t , d e m R e z i p i e n t e n d u r c h d o k u m e n t a r i s c h e s G e w i c h t die angebliche U n u m s t ö ß l i c h k e i t ihres Bildes einer h i s t o r i s c h e n Gestalt z u v e r m i t t e l n , ü b e r l ä ß t es eine spekulative Biographik

ihrem

Leser, »jene S u b j e k t i v i t ä t z u ermessen u n d z u b e w e r t e n , h i n t e r der die A u t o r i t ä t einer d u r c h Tatsachen gefestigten Ü b e r z e u g u n g steht« (Momart,

S. 9), i n d e m sie

i h n a m Z u s t a n d e k o m m e n dieses Bildes b e t e i l i g t , das V e r f a h r e n selbst seiner K o n t r o l l e w e i t g e h e n d u n t e r s t e l l t u n d i h n n i e z u täuschen sucht. Sie ü b e r z e u g t d o r t a m meisten, w o sie i h r e S u b j e k t i v i t ä t »frei eingesteht u n d d a m i t g l e i c h s a m d e n D e u t e r e r h e l l t « 3 8 : » . . . der Leser w i l l die V e r m i t t l u n g , n i c h t d e n V e r m i t t l e r . 37 W H , »Warum weinte Mozart?«. Rede zur Eröffnung der Idomeneo-Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek München am 26. 5.1981, in: Das Ende der Fiktionen, S. 75 f. 38 »Bleibt Dürer Dürer?«, S. 28. Vgl. dazu auch: »Historische Biografien sind insofern schön und nützlich, als sie Material akkumulieren, manches Werk w i r d durch hingebende Akribie geradezu geadelt, aber wenn es an die Deutung geht, weicht jede Authentizität der Spekulation, der Identifikation mit dem Helden . . . Historische Biografie ist Zeitvertreib, wenn auch nicht der schlechteste. Sie ist bestenfalls Spekulation, schlimmstenfalls Kitsch. Einer Erkenntnis dient sie höchstens, wenn sie als eingestanden subjektive Konstruktion ihren Dichter erleuchtet« (»Anmerkungen«, S. 329 f f ) . Auch in dem 1968 entstandenen Text »Exerzitien mit Papst Johannes«, einer Mischung aus poetologischer Studie und biographischer Skizze, beschäftigt sich Hildesheimer mit dem Roncalli-Papst Johannes X X I I I . , um ihn vor dem Absinken ins »Inauthentische « zu retten, da er Gefahr läuft, zur alles verklärenden und verzerrenden religiös-kitschigen Devotionalie degradiert zu

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Doch auch hier wird er stets nur etwas über das Objekt in der subjektiven Sicht des Darstellenden erfahren, den zu akzeptieren oder abzulehnen i m allerdings frei steht« (Momart, S. 10). Die rhetorische Strategie orientiert sich an der Bereitschaft des Lesers, den »Nachsprung i n die Spekulation« (Momart, S. 9) zu wagen, doch stößt sie freilich dort auf ihre Grenzen, w o diese Bereitschaft fehlt, sich überzeugen lassen zu wollen und gegebenenfalls ein persönliches vorgefaßtes Bild abzustreifen und die Sicht des Interpreten als mögliches Korrektiv dieses Bildes zu tolerieren. Dies sollte, so Hildesheimer, dem Leser jedoch schon deswegen nicht allzu schwerfallen, da es sich ja immer nur um widerlegbare, unbeweisbare und mit Fakten allein nicht zu erklärende spekulative Behauptungen handeln kann, um »Einzelaspekte einer möglichen Wirklichkeit« (Momart, S. 10), die stets in Frage gestellt bleibt. Insofern sich diese Überzeugungen als Widerspruch zu anderen Interpretationen verstehen, fordern sie diesen selbst auch heraus. Z u m anderen ist ja die Identität der Situationen gegeben — Hildesheimers Instrument der Leserlenkung ist der pluralis concordiae —: Biograph und Leser sind gemeinsam auf der Suche nach der Wahrheit, und der Deuter kann sich der Sympathie des Rezipienten allemal sicher sein, wenn er sich ihm als Prototyp des ewig Scheiternden 39 vorstellt. Hildesheimers Verfahren mündet in eine Intersubjektivität zwischen Leser und Biograph, aus der allein ein annähernd objektives Bild v o m Gegenstand hervorgehen soll. Er begibt sich geradezu in eine bewußte »Abhängigkeit v o m Leser« (Momart, S. 15), von dessen Vorstellungsvermögen und -willen, und läßt ihn somit die Wahrhaftigkeit des Dargestellten überprüfen. Dieser Intersubjektivität steht die zwischen Biograph und seinem Objekt gegenüber als eine Beziehung, die sich i m Unterschied zur »Trivialbiographie« aus einer bewußten Identifikation mit und Fixierung an den Helden ergibt. Hildesheimer geht davon aus, daß der eine Künstlerbiographie Schreibende selbst Künstler sein sollte, um sich v o m »inneren kreativen Zwang«, von der »äußeren Freiheit und der inneren Unfreiheit« und von der »alles dominierenden Rolle der Tätigkeit« 4 0 des schöpferischen Objekts eine Vorstellung machen zu können. Er spricht von einem Idealzustand, wenn er darüber hinaus verlangt, daß der Schriftsteller — die Biographie ist für ihn von vornherein eine literarisch-künstlerische Angelegenheit — als Biograph, w i l l er sich nicht seiner Glaubwürdigkeit begeben, i m Grunde »nur eine einzige solche Gestalt« haben kann, die ihn lange i m Denken und Fühlen beschäftigt und sogar werden. Die Beschäftigung mit dieser Figur ist ein Anschreiben gegen die legendenbildende Geschichte und bietet ein Thema, das »ein Maximum an Spekulation und Planung zuläßt« (in: Vergebliche Aufzeichnungen. Exerzitien mit Papst Johannes (Frankfurt, 1979), S. 117-140. 39 Die Figur Andreas ( = anthropos?) ist dies in der thematisch-poetologisch programmatischen Erzählung Hildesheimers mit dem Titel »Die Suche nach der Wahrheit« (1951). 40 W H , »Die Subjektivität des Biographen«. Vortrag, gehalten am 30.1.1982 auf der Tagung Literaturwissenschaft und Psychoanalyse< der Universität und des Psychoanalytischen Institutes Freiburg, in: Das Ende der Fiktionen , S. 136.

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bestimmt haben sollte, »um dann als Biograph wieder zu verstummen« 41 . Dieses Denken und Fühlen ging bei ihm i m Fall Mozart bis zum Nachahmen und Nachfühlen seiner Exzentrizität, in dessen Verlauf sich geradezu ein Zwang zur Identifikation einstellte. Die Kontrollinstanz, die den Biographen vor einer vermeintlichen Affinität mit dem Objekt und vor einer dem Wunschdenken entspringenden Idealisierungsarbeit bewahrt, ist die, möglichst an sich selbst erfahrene, Psychoanalyse, die ihn gelehrt hat, »den Grad seiner Beziehung und der Identifikation mit seinem Gegenstand zu bestimmen und zu regulieren, somit den positiven wie negativen Affekt so weit wie möglich auszuschalten« (Momart, S. 10). Der Biograph, der ein kontrollierendes Bewußtsein entwickelt für das Maß an Subjektivität, das er seiner Figur entgegenbringt, verhindert natürlich nicht nur ihre Glorifizierung (oder deren Gegenteil), sondern er demonstriert dabei vor allem die unüberbrückbare Distanz zu ihr, die »Ungleichheit der Potenzen«, die die Psychoanalyse hervorhebt, indem sie dem in ihr Erfahrenen nach der SelbstIdentifikation die Loslösung ermöglicht und ihn in die Lage versetzt, sich selbst weitgehend zu objektivieren, mit dem Ergebnis, daß der Biograph dadurch auch »einen Schritt näher zur Einschätzung seiner seihst« 42 gekommen ist. Wenn Hildesheimers Mozart-Studie also gewissermaßen den Endpunkt einer am Movens genialer Kreativität ausgerichteten Biographik darstellt, so ist sie dies auch, weil sie, Freud folgend, die Grenzen absteckt, »welche der Leistungsfähigkeit der Psychoanalyse in der Biographik gesetzt sind« 4 3 . Die Psychoanalyse ist für Hildesheimer ein »probates Werkzeug der Erkenntnis« (Momart, S. 10 f.), weil sie Reaktionen der eigenen Seele nicht als Maßstab für die des Objekts zuläßt, Vorstellung und Verständnis auf ein M i n i m u m an Spekulation reduziert, und weil sie doch andererseits wiederum die essentielle Fremdheit einer historischen Figur als ein Merkmal des Absurden bestätigt. Die »größtmögliche Annäherung durch den Versuch der Identifikation« 4 4 ist Teil einer Gesamtrezeption von Leben und Werk, in der beides nicht voneinander zu trennen ist, Vorbehalte aber angebracht sind bei dem Versuch, das eine als den Schlüssel zum anderen aufzufassen. Eine v o m Werk als dem primären Medium der Selbstoffenbarung ausgehende Beurteilung der Figur ist geprägt v o m beschränkten Erfahrungsschatz des Interpreten, der den Künstler mitunter mit imaginären und zum Teil aus dessen Werk selbst abgeleiteten Attributen ausstattet, die in Wirklichkeit wieder v o m Wunschdenken gesteuert sind. Hildesheimer betreibt deshalb in Momart die Werkrezeption als einen Versuch der »Rückübersetzung des Objektivierten i n jenes Intersubjektive, in dem es keine Gemeinsamkeit gibt« 4 5 , er geht

41

Ib., S. 137.

42

Ib.

43

Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung

44

»Die Subjektivität des Biographen«, S. 136.

des Leonardo da Vinci (Frankfurt, 1982), S. 74.

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v o m Werk als dem Resultat des transpositorischen Prozesses aus und versucht ihn zu rekonstruieren. A m dramatischen Werk ansetzend, konstatiert er Mozarts objektive Beherrschung angewandter Psychologie, der dramatische Denkprozeß läßt sich von den Opernfiguren aus einigermaßen zurückverfolgen, da sie, »intuitiv und vorbewußt erfaßt« (Momart, S. 251) und in der Musik der sprachlichen Vorlage enthoben, i n ihrer metaphysischen Qualität, ihrer Wirklichkeit und Plausibilität, etwas über die Beziehung des Schöpfers zu seinen Gestalten aussagen. Aber hinter den möglichen und tatsächlichen, potentiellen und wahrscheinlichen Ursachen ihres Verhaltens verrät sich die psychische Konstitution Mozarts nicht, bestenfalls erlauben sie Rückschlüsse auf die i n den kreativen A k t einfließenden Emotionen, die der Hörer registrieren, nicht aber, da sie verfremdet und sublimiert sind, mit seelischen Regungen Mozarts gleichsetzen kann. Was das Werk über seinen Schöpfer aussagt, ist oft nicht mehr, als daß er die Fähigkeit besaß, dem Geist des Rezipienten ästhetische Erkenntnisse zu vermitteln und seine Emotionen zu beherrschen 46 . Und so lautet ein weiteres vorweggenommenes Fazit in Momart, daß das Genie auch das »Genie eines geheimen Sich-Versagens« (Momart, S. 24) war.

IV Hier ist anzuknüpfen an die Frage nach der Begründung für Hildesheimers These, daß Mozart sich uns als Gestalt nicht enthülle, in seinem Werk wie in seinen Selbstäußerungen, und daß gerade in seinen Briefen dies sich manifestiere: eine »als Mitteilsamkeit sich tarnende Diskretion«. Eine erste A n t w o r t darauf ergibt sich aus dem Vorhergegangenen: Die Position des Spekulierenden ist i m wesentlichen die des absurden Ich, das sich i n die Unabänderlichkeit eines Rests von Schweigen zu finden hat, über das hinaus keinerlei Gewißheit über Wahres und Wirkliches zu erlangen ist. Auch die Feststellung von Mozarts Diskretion bleibt eine Vermutung. Denn darin sieht Hildesheimer die Mozart-Biographen gescheitert, daß es ihnen offensichtlich gelang, das Schweigen ihres Helden zu brechen, daß sie dort deuteten, wo es nichts mehr zu deuten gibt, und daß sie ihre Deutungen auch noch als Gewißheit ausgaben oder das eine mit dem anderen verwechselten. Der objektiv nicht faßliche >Urtext< Realität, dem sich das absurde Ich i m Aufbau einer literarischen Wirklichkeit erzählend zu nähern sucht, indem es, den Text zur Orientierung nehmend, schreibend sein subjektives Verhältnis zu ihr definiert, dieser >Urtext< findet in der Auseinandersetzung mit Mozart seine Entsprechung dort, wo die Frage nach der Authentizität als das »zentrale Rätsel« 45 W H , »Mozarts Nachleben als Herausforderung«. Vortrag, erstmals gehalten am 1. 8.1975 i m Studio Salzburg. Abdruck in: »Süddeutsche Zeitung«, 8./9.11.1975. 46

Siehe dazu: W H , »Was sagt Musik aus?«. Rede, gehalten zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am 26. 7.1980, in: Das Ende der Fiktionen, S. 61.

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(Momart, S. 359) stehen bleibt und wo auch die Vorstellungskraft versagen muß: »Wie hat Mozart sich selbst erlebt?« (Momart, S. 359) Diese wie alle Fragen nach dem wahren authentischen Mozart werden dem Interpreten unbeantwortet bleiben müssen, der sich ihm nicht als einer Gestalt der Imagination und Fiktion nähert, denn es entspricht dem »Diktat seiner Überzeugung« und dem Bemühen um Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, daß Hildesheimer über mögliche Antworten eben nur spekulieren will. I m Blick auf das Endziel Authentizität erschöpft sich die Spekulation über sie in einer zutiefst befriedigenden Erkenntnis eines Geheimnisses. Insofern erklärt sich das Scheitern des Unternehmens Momart, das als hermeneutische Aufgabe »keine Sache des Gelingens« (S. 8) sein konnte und das, in Analogie zu Hildesheimers Prosa- und Collagearbeiten, von vornherein als »Ratespiel« (Momart, S. 229) konzipiert war. Wenn Hildesheimer als einen der primären Anlässe zur intensiven Beschäftigung mit seiner Lieblingsfigur den Wunsch nennt, dem Geheimnis des Kreativen auf die Spur zu kommen und das Rätsel für sich selbst zu lösen 4 7 , so deutet sich hierin schon an, worum es ihm vor allem geht: nicht um den authentischen, sondern um den >eigenen< Mozart, darum, sich selbst über diese Figur und seine Beziehung zu ihr Klarheit zu verschaffen 48 . Als »designierter Gelegenheitsbiograph« 49 äußert er sich damit i m Sinne des Schriftstellers, der sein Thema als ein »nicht erschöpfbares Phänomen« 50 immer aus einem Bekenntnis zur Subjektivität heraus behandelt. I m Fall Mozart w i r d die Beschäftigung zum »Selbstzweck« und zur »Selbstbereicherung« (Momart, S. 8), »bestärkt durch die Hoffnung, daß sie auch andere bereichere« (Momart, S. 8). I m Vordergrund steht somit nicht die Frage, wie Mozart tatsächlich war, sondern das potentielle Gelingen liegt wiederum nur i m Verfahren selbst, in der Transposition dessen, was sich aus einer persönlichen Beziehung an Erfahrung und an Überzeugung, »die jedes Engagement mit sich bringt« 5 1 , objektivieren und als Erkenntnis dem Leser vermitteln läßt, der bereit ist »Autorität der Überzeugung als Qualität und als Disziplin« (Momart, S. 10) anzuerkennen. Für diesen Leser, der auch den Vermittler akzeptiert, ergibt sich ein Gewinn nicht zuletzt aus der Art, wie Hildesheimer über seine »Selbstbereicherung« auch »Rechenschaft« (Momart, S. 9) gibt. Er w i r d Zeuge eines Versuchs — Hildesheimer nennt das Buch nicht ausschließlich der Form wegen einen »großangelegten Essay« 52 — , mit dem der Künstler zu einer höchst subjektiven 47

»Die Subjektivität des Biographen«, S. 127.

48

Ib., S. 137.

49

Ib.

50

Ib., S. 123.

51

»Die Wirklichkeit des Absurden«, S. 55.

52

»Die Subjektivität des Biographen«, S. 126. I n einem Interview sagte er: »Es ist auf jeden Fall ein Essay . . . es ist nicht eine Biographie. Wenn es durchweg in Ich-Form geschrieben wäre, würde ich es einen M o n o l o g über Mozart nennen«, in: Bündner Zeitung (Chur), 9.12.1976.

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Erkenntnis vorstoßen will, zu Klarheit darüber nämlich, wo sich in der Beschäftigung mit dem Objekt und dessen Werk auf dem Weg einer bewußt vollzogenen Identifikation — bei aller »Ungleichheit der Potenzen« — nicht etwa in Mozarts Genialität, sondern in seinem Künstlertum schlechthin, eben doch Möglichkeiten zur Erfahrung von Gemeinsamem bieten. Darin liegt der eigentliche »Selbstzweck« der Spekulation, und dies ist die einzige Klarheit, die sich mit letzter Gewißheit ermitteln läßt. Der Künstler findet zur »Einschätzung seiner selbst«, indem er das Genie in seiner unerreichbaren Ferne und Fremdheit läßt 5 3 , um sich ihm statt dessen als Verkörperung des Prinzips »Künstlertum« zu nähern und so Similarität aufzuspüren. Hinter der dokumentierten »Verehrung« (Momart, S. 7), die Hildesheimer seiner »Jahrtausendfigur« (Momart, S. 259) entgegenbringt, verbirgt sich nicht klischeehaft Emotionales, sondern Verehrung ist auch hier Ausdrucksmittel des absurden Ich: »Definition also, deskriptive Prosa, keine Beschwörung, kein Sprach-Experiment, sondern der zur Verfügung stehende Wortschatz« 54 . Hierin wird der Schriftsteller sichtbar, dem die Arbeit an Mozart ein Schreiben als »Selbstdokumentation« und Selbsterkundung ermöglicht. Gerade am Beispiel der Briefe tritt die künstlerische InterSubjektivität als größtmögliche Annäherung hervor. Hildesheimers Aussagen über das Werk: Mozart habe sich »niemals in seine Mitwelt projiziert« (Momart, S. 64), er habe »keine Botschaften, keine Aussagen komponiert« (Momart, S. 162) und auch »seine Operngestalten nicht dazu mißbraucht, sein Inneres bloßzulegen« (Momart, S. 162), gelten insbesondere für die Selbstäußerungen und sind als subjektive Spekulation legitimierte Erfahrungen einer Gemeinsamkeit, wie sie sich nur in der Verfremdung bestimmen läßt. Die Selbstzeugnisse Mozarts, die Hildesheimer als ein Stück Literatur angeht, interpretiert das engagierte Ich als Kunstform gewissermaßen in eigener Sache. Selbst i n scheinbar belanglosen Briefdokumenten zeigt sich der Künstler, denn Hildesheimer sieht in ihnen komponierte »Parodien des Banalen« (Momart, S. 88), hier manifestiert sich aus seiner Sicht eine »Lust an der Variation des Wortthemas« (Momart, S. 120), Mozarts »verbale Phantasie« (Momart, S. 122) und endlich ein Bewußtsein für das Absurde: eine Lust am Absurden, mit dem der Schreiber i m Unernst entlarvt, was als Tragödie sein Leben so ernst macht, so daß »das Absurde betont, das Groteske, Widersinnige, Ungerechte grimmig unterstrichen wird« (Momart, S. 124). Mozarts Humor als literarischer A k t der Verdrängung, als bewußt angewandte Methode des Selbstschutzes, mit der sich schreibend in der Maske des Narren die Misere überwinden und der Leser bis zum Ende täuschen lassen. Oberflächlich anmutende Kommunikation enthüllt sich in Hildesheimers Interpretation als das 53

V g l . dazu auch die Reden über Dürer und Bach, in denen Hildesheimer sich ausdrücklich zum Begriff des Genies bekennt und ohne ihn nicht auskommen will. 54

»Das absurde Ich«, S. 109.

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Monologisieren eines Mannes, der als Genie sich dem Absurden entziehen und somit in der Kunst wie i n seiner Selbstdokumentation der Realität entfliehen konnte. V o n hier aus ist demnach die Frage nach dem Grund für Mozarts Diskretion neu zu stellen. Die A n t w o r t ist die, daß sie für Hildesheimer, wie er in anderem Zusammenhang erklärt, »die Grundeinstellung jedes wahren Künstlers zu seiner Kunst betrifft« 5 5 .

V W o Hildesheimer seinem Helden am nächsten zu kommen glaubt, in seiner Sprache und in seinem dramatischen Werk, dort bleibt ihm Mozart als Schöpfer seiner eigentlichen Sprache, der Musik, gleichzeitig zutiefst unzugänglich. Als ein Manifest des Scheiterns vertritt das Mozart-Buch die These und zugleich den angestrebten Beweis dafür, daß dem Phänomen nicht beizukommen ist und daß es sich allen Erklärungsversuchen widersetzen muß. Ein »antibiographisches Ziel« (Momart, S. 34) verfolgt es insofern, als i n der Demonstration des NichtWissen-Könnens das Versagen schlechthin einer an der Quelle des Genialen ausgerichteten Biographik vorgeführt wird. N u r darin ist Momart kategorisch streng und sogar didaktisch. Antibiographisch motiviert ist es aber noch in einer weiteren Hinsicht: Hildesheimer ist nicht Biograph sondern »Restaurator« eines »mehrfach übermalten Frescos« (Momart, S. 7), das zu reinigen und wiederherzustellen er sich anschickt, ohne dabei ein neues, geschlossenes Mozartbild entstehen lassen zu wollen. Auch sein eigenes bleibt fragmentarisch: I n Momart fügt der bildende Künstler collagenhaft das einer Reihe von Vorstufen zu dieser Arbeit entnommene und mehreren »Verschiebungen« (Momart, S. 8) ausgesetzte Rohmaterial zusammen; das Ergebnis, bruchstückartig und assoziativ angeordnet, ist ein Torso. Dargestellt ist dies in der offenen essayistischen Form vieler »vergeblichen Aufzeichnungen«, die in der Summe ihrer Erfahrungen mit dem Forschungsgegenstand »eine Geschichte mit Möglichkeiten« (Masante, S. 71) ist, in der es dem Autor daran liegt, »Chronologisches zu verwischen« und statt dessen »der freien Assoziation zu folgen« (Momart, S. 34), u m ähnlich wie i m Erzähltext und in der Collage »einem Drang nach absoluter Klarheit folgend« (»Vergebliche Aufzeichnungen«, S. 56) für sich selbst »radikale Ordnung« (»Vergebliche Aufzeichnungen«, ib.) zu schaffen. Darin liegt eine eminent literarische Qualität des Buches, daß Bezüge zu eigenen literarischen Arbeiten 5 6 hergestellt und Themen des Autors ebenso wie bestimmte Verfahrensweisen in der 55 W H , Der ferne Bach. Eine Rede (Frankfurt, 1985), S. 40; gehalten anläßlich der Eröffnung des Internationalen Musikfestes Stuttgart am 14. 9.1985. 56 So werden z. B. Argumentationen mit dem versteckten Hinweis auf das Drama »Mary Stuart« oder auf den Übersetzungs versuch der Anna L i via Plurabelle-Episode in Joyces Finnegans Wake (in: Interpretationen) bekräftigt. Überhaupt ist in Momart sehr viel v o n Literatur die Rede, vor allem v o n solcher, die der A u t o r als eines Vergleichs mit Mozartscher Musik für würdig erachtet, wie etwa Shakespeare.

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Alternative zum Erzählen fortgeführt werden und, was das Scheitern als Grundprinzip angeht — das überhaupt das Thema des Künstlers i s t 5 7 — , sogar zur Deckung kommen. Das »mangelnde Vertrauen i n die Aussagekraft von Fiktionen« 5 8 äußert sich i m essayistischen Verfahren, mit dem Hildesheimer unter Verzicht auf jeglichen Totalitätsanspruch einer dem linearen Erzählen innewohnenden Tendenz zur Fiktion entgehen will. Sein Aufbrechen der Erzählstruktur wendet sich gegen die traditionelle Mozartbiographik, in der Mozarts Leben als »fiktiver Ablauf« (Momart, S. 9) erscheint, den es ja gerade in eine subjektive Wahrheit zu transponieren gilt: auch hier also dient die Kunst der Sichtbarmachung einer Wahrheit. V o n der Kunst ist in Momart freilich i n mehrfacher Hinsicht und auch i m Zusammenhang mit dem Leben des Helden selbst die Rede. Hildesheimer nennt es ein »Kunstwerk« (Momart, S. 377) per se, eine Tragödie, an deren Ausgang — Mozart i m finalen Stadium des Verfalls — der T o d steht als das Ende »des letzten Aktes in diesem Drama« (Momart, S. 376). A u f einen übergreifenden formalen Aufbau und eine gewisse, wenn auch nicht chronologische »Ordnung der Zeit« w i l l und kann der Künstler Hildesheimer in seiner Interpretation dieses »Kunstwerkes« nicht verzichten, auch wenn er, wie gesehen, es zu tun vorgibt. I m Gegenteil, dem Leser wird gleich zu Beginn nahegelegt, das Ende Mozarts, »diesen dunklen allgegenwärtigen Markstein als Zielpunkt aller Wege und Irrwege des Helden i m Auge zu behalten« (Momart, S. 34). I m eschatologischen Prinzip der Darstellung drückt sich freilich nicht das aus, wogegen Hildesheimer sich vehement zur Wehr setzt: nicht »der Wunsch der Biographen nach abrundender Perfektion« (Momart, S. 19), sondern hierin verbirgt sich eine Interpretabilität des Buches, die weit über den ihm vorgegebenen Rahmen hinausführt.

VI M i t Mozarts T o d ist ein Thema angeschlagen, das sich i m Zusammenhang mit den Briefen andeutete und das, ausgehend von der Beschäftigung mit Mozart, für Hildesheimer zum literarischen Grundmotiv wurde: das Aus-der-Welt-Geraten, Sich-Abstoßen, Sich-Auflösen und Vergehen i m Nichts und die Konsequenz, mit der dies geschieht 59 . Hildesheimers Figuren sind Scheiternde, Irrende, Geblendete, Fremde, vergeblich Wartende und Suchende, Visionäre wie der Professor i m Theaterstück »Die Verspätung« (1961) — »ein Wanderer zur falschen Z e i t « 6 0 — 57 Siehe etwa Collagenthemen wie >Das große Scheitern< oder >Das ewig Scheiternde zieht uns hinanwahren< Version der Erzählung zu Makulatur. Das absurde Thema dieser beiden Texte wie des Gros der Lieblosen Legenden ist die grundsätzliche Frage nach der Trennbarkeit von Realität und Fiktion, und Hildesheimer persifliert die Biographie nicht nur, sondern er bedient sich ihrer in hintergründiger Manier, da er mit ihr der Realität ihren Fiktionscharakter zurückgibt. 6 4 Das legendenbildende Potential der Biographie kommt ebenfalls zum Tragen i m parallel zu den Kurzgeschichten entstandenen einzigen Roman des Autors, Paradies der falschen Vögel (1953) 6 5 , der, ganz v o m T o n der Legenden getragen, das in ihnen begonnene Spiel mit Wahrheit und Lüge fortsetzt und selbst eine einzige große Schelmen-Legende ist. Das in »Das Ende einer Welt« versunkene museale Kunst-Reservat, welches freilich als Musentempel ein gefälschtes Lügengebäude war, wird i m Roman noch einmal heraufbeschworen und zum Paradies er- bzw. verklärt, in dem sich eine ganze Schar von Abenteurern, Erfindern, Schwindlern und Falschmünzern tummelt. Die Geschichte v o m Maler und begnadeten

63 Hildesheimer hat diesen Text auf seinen satirischen Gehalt hin — Pilz, der Verhinderer von Kunst; die Kunst des Weglassens w i r d verkündet — überarbeitet und ihn aktualisiert, indem er Pilz* Lebensdaten änderte und dafür i m Mozart jähr das Pilz jähr feierte bzw. um ihn >trauerteWir spielen, bis uns der T o d abholt< (!). Vögel spielen in Hildesheimers Werk eine nicht unbedeutende Rolle, sie sind nicht zuletzt (poetische) Symbole der Sehnsucht.

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Fälschergenie Robert Guiskard 6 6 (alias Ayax Mazyrka), wiedergegeben v o m IchErzähler, ist i m wesentlichen die Chronik des Zustandekommens einer biographischen Legende, die zum historischen Faktum geworden ist und sich zur unerschütterbaren Wahrheit verfestigt hat. Der Erzähler, seine Anonymität streng hütend, erzählt zusammen mit der Geschichte Guiskards auch die darin verwobene eigene und gibt sich, anstatt »Tatsächliches wiederzugeben« (S. 92), »Schwelgereien der Sehnsucht« (S. 92) hin: er w i l l nicht Licht ins Dunkel gaunerischer Machenschaften bringen, sondern »von alten Zeiten sprechen« (S. 170) und jenem Paradies nachsinnen, in dem er früher selbst nicht ganz unschuldig seinem Fälscherhandwerk alle Ehre machte. Dieser Erzähler ist alles andere als ein >Aufklären, er ist vielmehr ein der (Fälscher-) Kunst verpflichteter unverkennbarer Romantiker, der sich erzählend aus dem Ennui seiner prosaischen Gegenwart wegstehlen will, der dem Goldenen Zeitalter nachträumt und es wieder herbeisehnt, und der, aus der Welt gehend, seinem T u n (das Erzählen einer Biographie) nachgeht, einem ausgeprägt »nostalgieträchtigen Vollzug« 6 7 , mit dem auch er die Aktualität ignoriert. I m Roman offenbart sich ein mit dem biographischen Gestus verbundener und durchaus romantisch zu nennender Grundzug, der als wesentliches M o t i v hinter Hildesheimers gesamtem Schaffen steht und sich auch auf dieses potentielle Ich überträgt. 6 8

VII Für den schreibenden Hildesheimer wird die Arbeit an der Biographie Marbot m zum letzten großen »nostalgischen« Unternehmen, mit dem er über die Malerei wieder zum Ausgangspunkt des Frühwerks zurückkommt. Dieses Buch prägt wie alle Arbeiten des Künstlers der zuletzt in Momart eingestandene »Fluchtcharakter als Motivation« (Momart, S. 7). M i t seiner Studie über die reale 66 I n seinem Trauerspielfragment »Robert Guiskard, Herzog der Normänner« verweist Kleist in einer Anmerkung auf den Zunamen, den der Herzog erhielt: Schlaukopf. E i n solcher ist Hildesheimers Held, der den Normannenherzog auch als einen seiner Vorfahren nennt. N o c h Andrew Marbot w i r d mit normannischer Geschichte in Verbindung gebracht, und er hat natürlich mit dem Pseudonym des Romanhelden die Initialen gemeinsam, denn eine Kunstfigur ist auch er auf eine sehr sublime A r t . Das Kleist'sche Thema v o n Wahrheit und Schein ist auch das Hildesheimers, und Anspielungen auf Werke und Figuren Kleists lassen auf die Rezeption dieses >Außenseiters< schließen. 67

»Zu den Lieblosen Legenden«, loc.cit., S. 6.

68

Siehe etwa in den Mitteilungen an Max: »... ich sehe ja so manches zu romantisch. Andrerseits sehe ich vieles auch nicht romantisch genug« (S. 22). A u c h manche Collage ist auf »Tiefenwirkung, also illusionistisch — und, wenn man so w i l l , romantisch — « angelegt (Endlich allein, S. 13). 69 W H , Marbot. Eine Biographie. Frankfurt, 1981. Die folgenden Seitenangaben in Klammern belegen Zitate aus dieser Ausgabe.

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Gestalt Mozart hatte Hildesheimer das Thema Biographie an die Zunft zurückgegeben, doch freilich nicht das Thema Mozart. Die letzte Version der Biographie im fiktiven Kontext ist das Alterswerk, das gegenüber den frühen »Parodien des Banalen« alles andere ist als ein Scherz oder eine Satire, dessen Wurzeln zwar bis zu den Lieblosen Legenden und zum Paradies der falschen Vögel zurückreichen, das aber einer ganz anderen Kategorie des Spiels mit der biographischen Verfahrensweise angehört. 7 0 Marhof nimmt auf und führt konsequent zu Ende, was der Golch-Biograph in »Ich schreibe kein Buch über Kafka« als das Schlußkapitel seines >magnum opus< angekündigt hatte: »>Über das Wesen der Biographienegative< Mozart-Erfahrung ins >Positive< zu kehren, Unnahbarkeit und Ferne durch Nähe und Anschaulichkeit, Plastizität und sogar Authentizität zu ersetzen, um »im richtigen Maße zwischen belegbaren Fakten und Spekulation, zwischen Vermutung und Wissen, zwischen Überzeugung und Zweifel, und immer das eine vom anderen streng und genau getrennt« 7 3 »sublime Realität« zu schaffen. Darin unterscheidet sich die Fiktion v o m Faktum nicht: I n beiden Fällen betreibt der Psychoanalytiker Hildesheimer spekulative Biographik, hier wie dort lehnt er Objektivität ab und leugnet auch bei der erfundenen Figur die Möglichkeit des definitiven Erfassens ihrer psychischen Konstitution. Der Unwahrscheinlichkeit und der Offensichtlichkeit der Fälschung hätte er ansonsten T o r und Türe 70 Die Figur Marbot setzt die »Ergänzungen zur Kulturgeschichte« der Pilz, Golch, Mazyrka fort und ist ebenso wie sie in die Kulturgeschichte »gleichsam eingewoben« (Klappentext der Suhrkamp-Ausgabe). Z u ihnen gehört auch die Titelfigur des >Hörspiels der Klischees< »Die Bartschedel-Idee« (1957; Manuskript ungedruckt und unveröffentlicht; Erstsendung i m Bayerischen Rundfunk und i m Norddeutschen Rundfunk am 21. 2.1957). Marbot liegt ein tiefer »Ernst der Absicht« zugrunde (vgl. W H , »Arbeitsprotokolle des Verfahrens Marbot«, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1982, H . 1 (Darmstadt, Heidelberg, 1983), S. 24-32. Vortrag v o m 25. 5.1982 auf der Frühjahrstagung der Akademie in Lüneburg). 71 »Kunst- und Wunschfigur inmitten der Geschichte. Wolfgang Hildesheimer i m Gespräch über seine Biographie Marbot«, in: »Frankfurter Rundschau«, 15.10.1981 (Interview mit Wilfried F. Schoeller). 72 W H , »Schopenhauer und Marbot«. Vortrag, gehalten am 5.11.1982 auf der Jahrestagung der Schopenhauer-Gesellschaft F r a n k f u r t / M . (>Schopenhauer in der GoetheZeit^, in: Das Ende der Fiktionen, S. 151. 73

W H , »Arbeitsprotokolle des Verfahrens Marbot«, S. 30 (siehe A n m . 70).

14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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geöffnet: auch Marbot kommt Hildesheimer nicht auf den Grund. 7 4 Und doch liegt der Unterschied zwischen Momart und Marbot auf der Hand: in Marbot hat sich Hildesheimer zum Biographen gemacht, während er sich i n Momart bestenfalls einer Konvention wegen so nennen lassen mußte. 7 5 Hier nun findet Neumann eine passende A n t w o r t auf seine Frage: »Wie konnte ein A u t o r mit einem so stark ausgeprägten antibiographischen Affekt unter die Biographen geraten?«. Er konnte es, so Neumann, weil es sein Wunsch war, in Marbot »im Wissen um das >Ende der Fiktionen< und u m das Ende großer exemplarischer Kunst, noch einmal spielend, also mit heiterem Ernst, von dem zu sprechen, was ihm das Lebenswichtigste ist — von der Kunst. (...) I n der Rolle eines Biographen konnte Hildesheimer von der Kunst noch einmal so sprechen, als läge ein Stück der Zukunft ihres Gelingens noch vor ihr, statt hinter uns« 7 6 . Er konnte es, und dies ist in unserem Zusammenhang das Entscheidende, aber auch deswegen, weil Marbot mit dem Gelingen seines eigenen Experiments als Schriftsteller zu tun hat. Denn der antibiographische Affekt währt gerade so lange, wie die Biographie als Nicht-Fiktion einem objektiven Wahrheitspostulat verpflichtet ist, das sie nicht erfüllen kann. Der Affekt entpuppt sich jedoch dann als Haßliebe, wenn die Biographie als Kunstwerk zum denkbar geeignetsten Instrument und Medium der Sichtbarmachung einer ästhetischen Wahrheit des Künstlers w i r d und so »ihren Dichter erleuchtet« 77 . Dieser Dichter ist es, der i n Marbot den alten V o r w u r f v o m Poeten als Schwindler sich zunutze macht, um als Biograph Realität vorzutäuschen und hinter dieser Maske i m Artefakt sein großes >Endspiel< der Verfremdung zu spielen: »Und Verfremdung bedeutet Spiel i m besten, wahrsten und — nebenbei bemerkt — i m ältesten Sinne« 78 . Diesmal ist Hildesheimer, ganz wörtlich verstanden, der »Gelegenheitsbiograph«, der die Gelegenheit hat, »nach Möglichkeit die Spuren des Arbeitsprozesses zu verwischen«, und der sich in der Fiktion als ihren Erfinder »vergessen können« 7 9 w i l l ; der für sich selbst das >Ende der Fiktionen< zurücknimmt, um i n der Verfrem74

Siehe »Schopenhauer und Marbot«, ib. Hildesheimer w i l l auch i m fiktiven Kontext nicht gelingen, woran er bei Mozart i m realen bewußt scheiterte. Dies steht i m Gegensatz zur Auffassung Günter Blöckers. Vgl., ders., »Die Wahrheit einer Kunstfigur. Wolfgang Hildesheimers biographischer Roman [!] Marbot«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (Hg.), Ein Büchertagebuch (Frankfurt, 1982), S.63. 75 Die Schwierigkeiten der iWö^rZ-Kritiker, das Buch gattungsspezifisch einzuordnen, zeigen sich in den unterschiedlichen Bezeichnungen: von »biographische Meditation«, »Meta«- und »Antibiographie« reicht die Skala bis zu »literarisch-kritisches Zwittergeschöpf« und »Werk sui generis« und sogar »reguläre Biographie«! 76

P. H . Neumann, »Hildesheimers Ziel und Ende«, loc.cit., S. 31 f. Hervorhebungen v o n Neumann. 77

Siehe A n m . 38. Hervorhebung v o n W. B.

78

»Über das absurde Theater«, loc.cit., S. 183.

79

»Arbeitsprotokolle des Verfahrens Marbot«, S. 28.

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dung, sprechend über nichts als die Kunst, auch seine Kunst, die vor allem die Kunst des Schreibens ist, in der Kunst auf eine geheime Weise zu rechtfertigen; eine Kunst des Schreibens über ein potentielles Ich, die sich nicht nur nirgendwo besser als in der Biographie dem Verdacht entziehen kann, je eine direkt autobiographische gewesen zu sein, sondern die gerade in der Biographie zur verschlüsselten »Selbstdokumentation« wird. Das >Wesen der Biographie< Marhof liegt in der systematischen Zweideutigkeit jener »transparenten Dunkelheit«, von der i m Paradies-Roman (S. 119) die Rede ist. Die Verfremdung beruht auf der Konstellation selbst, auf der Aufteilung des potentiellen Ich i n Held und Biograph und i m Spiel der wechselnden Identifikation mit beiden. Da ist auf der einen Seite die Kunstfigur und höchst ambivalente Ausnahmeerscheinung Sir Andrew Marbot (1801-1830), der, früh für die bildenden Künste sensibilisiert und von einem unbedingten Wahrheitsdrang beseelt, sein Leben damit verbringt, Gemälde zu deuten und mit ihnen als Identifikationsmodellen zu operieren; der als Begründer einer psychoanalytischen Kunstästhetik nach den seelischen Ursprüngen der Werke forscht; der zum engagierten Advokaten des Künstlers w i r d und den Großen seiner Zeit begegnet (Turner, Corot, Delacroix, Blake, Berlioz, Goethe, Schopenhauer, Leopardi, etc.); der aber auf seiner Wahrheitssuche, das Schöpferische i m Künstler zu ergründen, scheitern muß, da es ihm selbst versagt geblieben ist; und der als Melancholiker, seiner Leitfigur — von »dringender Aktualität« (S.275) — H a m l e t 8 0 folgend, der erste unter Hildesheimers Helden ist, der seine Lebens Verneinung bis zum Zielpunkt eines Programms betreibt, an dessen Ende sein Selbstmord steht. Und da ist auf der anderen Seite der Biograph, Kunstkenner und Kritiker, der Übersetzer von Marbots Schriften, der seinem Objekt eine i m Freudschen Sinn »besondere Affektion« 8 1 entgegenbringt und der sich, über Freud hinausgehend, als von diesem Objekt gewählt betrachtet; der Marbots ästhetische Disziplin — resultierend in einem fragmentarischen Werk — als den (selbst)-analytischen Versuch der Lebensbewältigung darstellt und der in dessen Aufzeichnungen das Unerhörte entdeckt: Marbots Inzestverhältnis mit der Mutter, das ihn zum Außenseiter und zum pathologischen >Fall< Marbot macht. Was in Momart nicht möglich war, zwischen seinem Werk und seinem äußeren Leben die »verbindenden Mittelstimmen, die seines Unbewußten, seiner inneren Impulse und Diktate, jene Stimmen also, die auf Movens und Agens schließen lassen« (Momart, S. 15 f.), zu finden, das wird am >Fall< Marbot konstruiert. Die

80 Hamlet ist die literarische Gestalt des Autors schlechthin: sie fehlt in kaum einem seiner Werke und ist indirekt erstmals in der Legende »Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe« (1950) vertreten. Einen Hamlet-Roman gab Hildesheimer nach mehreren »vergeblichen Aufzeichnungen« auf. I n Tynset (1965) w i r d sie zur zentralen Identifikationsfigur des Erzähler-Ichs. 81

14*

Eine Kindheitserinnerung

des Leonardo da Vinci, S. 69 (siehe A n m . 43).

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Biographie über diese »vorpsychologische Invention« und »Figurine aus der Retorte« — so hatte Hildesheimer Mozarts Operngestalten genannt — wird geschrieben in der Hoffnung, die Kunstästhetik durch die »Schaffung eines neuen Zuganges« (S. 155) dem Leser nahezubringen, indem sie den Mann beschreibt, der diesen Zugang schuf. Sie w i l l verstanden sein als Lektüreanweisung für eine bevorstehende Neuausgabe von Marbots Schriften mit dem Titel Art and Life und liefert den Schlüssel zum Verständnis des Mannes, der Gefahr liefe, falsch interpretiert zu werden, würden nicht jene »verräterischen Randnotizen« (S. 317) in seinen Aufzeichnungen erklärt, die auf die Tiefendimension des bisher unbekannt gebliebenen Inzestverhältnisses hindeuten und die »Aspekte einer einmaligen Persönlichkeit« (S. 318) aufleuchten lassen. Es gilt den Hinweis zu liefern, »wie er zu lesen sei« (S. 317), und den Hintergrund abzustecken für Marbots tiefes, ja, vehementes Engagement in der Erforschung v o n Beziehungen zwischen Movens und Agens i m schöpferischen Prozeß; eine — mitunter quälende — Spannung zwischen der Intensität ästhetischer Erfahrung und der angestrebten Zurückhaltung i m emotionalen Erleben; den unbedingten Willen zur Objektivität, und eine Einsicht der Gefangenschaft i m Subjektiven, wie w i r sie heute manchem Ästhetiker oder Historiker wünschen möchten. (S. 318)

Z u ergänzen wäre: auch manchem Biographen. Denn in seinem intersubjektiven Verhältnis zum Objekt kommentiert dieser sich hier natürlich selbst. Wie in Momart ist Hildesheimer auch i m Fall des nicht genial überbegabten Marbot an dessen seelischem Haushalt interessiert, an einem Menschen, der über den Umweg der Kunstanalyse selbst potentiell, nämlich schreibend, schöpferisch wird. N u r in der Fiktion ist der Biograph der >Nachfolger< Marbots, tatsächlich aber macht Hildesheimer Marbot zum Psychoanalytiker, erfindet also das »subjektive fiktive Modell eines Einzelfalles« 82 , um über dieses Modell die »ideale« Biographie zu schreiben. Es ist freilich sublimste Ironie, wenn diese ihrem Verfahren nach als ideal konzipierte Biographie am Ende nurmehr ein »biographischer Aufriß« (S. 317) bleibt, der einem editorischen Projekt vorausgeschickt wird. Die Biographie, deren Held das Rätsel künstlerischer Kreativität nicht lösen sondern nur registrieren konnte, — der Mozart-Forscher lebt hier weiter in der Gestalt Marbot — , ist freilich jenseits der Fiktion, wo es keinen illusorischen Endzweck einer Marbot-Ausgabe gibt, wo dem Werk Marbot kein Werk Marbots mehr folgt, wiederum ein in sich selbst ruhendes »Ratespiel«, gespielt um der Sache selbst willen, das sein Ziel und — wie Momart — sein Ende in einem Selbstzweck findet. Dieser Selbstzweck ist einerseits die in der Spiegelung von Held und Biograph verfremdete, in der Chiffre Art and Life zusammengefaßte Reflexion Hildesheimers auf das eigene Verhältnis zur Kunst

82

»The End o f Fiction«, S. 62.

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und zum Leben, projiziert auf das Paradigma Malerei und dargestellt an dem, der sich rezeptiv mit ihr beschäftigt, und der nicht erst i m Freitod sondern bereits i m potentiell schöpferischen Dem-Ende-Entgegen-Schreiben sein Scheitern überwindet. Marbot tut dies nach der Devise: »Der erste Schritt in Richtung auf die Wahrheit ist, Umfang und Bereich des Verstandes selbst zu verstehen, den A k t der Verstandestätigkeit, der Intellektion selber, zu begreifen« und auch danach: »Der erste Schritt in Richtung auf die Schönheit ist, Umfang und Bereich der Imagination zu verstehen, den A k t der ästhetischen Wahrnehmung selber zu begreifen«. M i t Stephen Dedalus, der diese Devise ausgab und der in seiner Rolle als Verkünder des Künstlers ein >Nachfolger< Marbots ist, würde auch Marbot Kunst so definieren: V o n diesen Dingen sprechen und ihre Natur zu verstehen versuchen und, wenn w i r sie verstanden haben, langsam und demütig und beharrlich versuchen, aus der rohen Erde oder dem was sie hervorbringt, aus Laut und Form und Farbe, die die Gefängnistore unsrer Seele sind, ein Bild der Schönheit, die w i r verstehen gelernt haben, zu zwingen, herauszudrücken, auszudrücken — das ist K u n s t . 8 3

Indem Hildesheimer seinen Helden dem Schönen nachgehen läßt und den Gesetzen, denen es folgt, »dem Aufspüren des Tabu, seiner Quelle in der Seele und seine Rechtfertigung in der Kunst« (S. 76), praktiziert er i n Marbot das, w o v o n das Buch handelt. Dies ist der andere Selbstzweck, die Reflexion auf das Verfahren selbst, in dem die Bildinterpretation zur Chiffre für das Schreiben wird, wie etwa am Beispiel von Marbots Rembrandt-Deutung: Zwischen Wirklichkeit und Imagination w i r d hier ein dritter Weg beschritten, der beides vereint und sich als Synthese dem Nacherleben anbietet. Was w i r auf dem Bild sehen, ist demnach eine Kunstfigur (artifice), geschaffen v o n einem großen Künstler, in der Absicht, unsere Seele anhand eines zufalligen Objektes zu berühren, wenn nicht gar aufzurühren . . . (S. 203)

Freilich: Marbot schöpft seinen Impuls zur >kreativen< Interpretation gerade aus der Erfahrung heraus, kein »großer Künstler« sein zu können, und es bleibt seine Aufgabe, Kunst dem Nacherleben anzubieten, um Zeugenschaft zu geben von ihrem Entstehen. Er ist der Vermittler der künstlerischen Übertragung dessen, »was jedermann sehe, i n ein metaphysisches Abbild, das noch niemand gesehen« (S. 263) hat; er vermittelt dem, der diesen künstlerischen »Akt der Sichtbarmachung in seinem eigenen, potentiell schöpferischen, Inneren nachzuerleben imstande« (S. 263) ist. Die Biographie beschreibt den »Akt der Sichtbarmachung« i m Medium der Literatur, sie demonstriert die Epiphanie der Kunst am »zufalligen Objekt« der Kunstfigur Marbot, sie w i l l die Seele berühren, indem sie selbst ein »Bild der Schönheit« entwirft. Diese Schönheit ist ihr Thema und ihr

83

James Joyce, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (Frankfurt, 1977), S. 232 ff.

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Zweck, und der Leser wird in Marbot nicht nur mit dem Produkt, sondern mit seiner Hervorbringung konfrontiert, so wie Marbot dies formuliert: Da Schönheit keineswegs ausschließlich in der Vollkommenheit des Resultates liegt, sondern auch in der Arbeit daran, nicht also nur i m Bestehenden, sondern auch i m Werdenden und der sichtbaren Zeugenschaft dieses Werdenden, so liegt sie auch in der Arbeit an der Überwindung des primär Gegebenen, des produktiven, vor allem des kreativen Veränderns, und damit i m Schaffen asymmetrischer Formen, deren Proportionen sich in eine neue und zwingende entelecheia (Eigengesetzlichkeit) fügen. (S. 40)

Darin liegt der dritte Selbstzweck der Biographie, daß sie nicht nur eine A r t Chrestomathie Marbotscher Schriften enthält, sondern daß sie Wirklichkeit neu gestaltet, indem sie diskret die Kunst ihres Autors selbst dokumentiert durch die Wiederaufnahme von für ihn bedeutsamen und bereits in anderem Zusammenhang behandelten Themen 8 4 , durch geheime (nur für den mit dem Werk Vertrauten erkennbare) »Randnotizen« zu eigenem Schaffen 85 und durch die Vollendung einer transpositorischen Verfahrensweise der »Überwindung des primär Gegebenen«, so daß Marbot , Hildesheimers Eigengesetzlichkeit folgend, schließlich selbst zu einer einzigen, in »Metaphern der Überwindung« (S. 301) geschriebenen Konfession wird, die ihren Künstler erleuchtet, nicht aber die dahinter verborgene Person des Autors. Joyce hat dafür die Metapher geprägt: »Der Künstler, wie der Gott der Schöpfung, bleibt in oder hinter oder jenseits oder über dem Werk seiner Hände, unsichtbar, aus der Existenz hinaussublimiert, gleichgültig, und manikürt sich die Fingernägel« 86 . Hildesheimer läßt Marbot dies bestätigen in seinen Ausführungen zum Selbstporträt: Jede Selbstdarstellung ist unwahr und, indem sie Objektivität vortäuscht, eine Zumutung (imposition) dem gegenüber, der sie uns abnehmen soll. Sie ist nur dem großen Künstler erlaubt, denn indem er sich darstellt, stellt er sich in Frage. Seine Frage nimmt die Form eines Kunstwerkes an. (S. 307)

So nimmt denn i n Marbot auch die autobiographische Komponente, das Thema des Scheiterns und die damit verbundene allgegenwärtige Frage nach der Größe 84 So etwa die Beschäftigung mit Dürer (in »Bleibt Dürer Dürer?«), mit Büchner (Büchnerpreisrede 1966), mit dem Absurden, selbstverständlich mit Mozart und natürlich mit Weltliteratur (Shakespeare, Goethe, etc.). Überhaupt bot Marbot die Möglichkeit, über vieles zu schreiben, insbesondere über die i m Buch auftretenden Personen, und vieles wieder anklingen zu lassen. M i t Marbot hat sich der A u t o r viele Wünsche erfüllt. 85 Betroffen davon sind vor allem Ausführungen, die auch mit der »Ästhetik der Collage« zusammenhängen, wie zum Beispiel die über die Überzeugungskraft (!) des Malers: »>... denn jedes schlecht gemalte Detail, jeder schwache Punkt der Komposition, jede auch nur geringe Notlösung wie etwa ein forcierter farblicher Übergang läßt die sorgfaltig aufgebaute Welt des Bildes zusammenbrechen, und alles ist zunichte: die Illusion des Betrachters, unmittelbarer Zeuge des dargestellten Geschehens zu sein, stellt sich nicht ein . . . « (S. 262). 86

Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, S. 242.

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des Künstlers, die Form eines Kunstwerkes an, das sich selbst i n Frage stellt 8 7 . Denn die Malerei bedarf i m Unterschied zur Literatur nicht des Künstlers, »keines Sängers oder Spielers oder Schauspielers« (S. 319), um sich zu vermitteln, und doch kann sich die Literatur damit rechtfertigen, daß sie zumindest eins mit der anderen Form gemein hat: auch sie erweitert »unsere Wirklichkeit u m die Dimension des Idealen, dessen nämlich, was hätte sein können, wäre die Welt v o m Künstler regiert« (S. 319).

VIII Die Biographie wird letztmals zum Thema in den Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes 88. Hier, in Parenthese und unscheinbar i m Detail, steht sie denn auch ein letztes M a l in Verbindung mit dem Scheitern und dem NichtWissen des potentiellen Ich: »Gewiß, auch ich hatte einmal Höheres im Sinne, nämlich eine Biographie des Anaximander, aber das ist gescheitert, da ich nicht wußte, ob er seinen Satz als junger Mensch oder als abgeklärter Weiser, und ob er nicht doch noch einen zweiten Satz gesagt hat. Vieles spricht dafür« (S. 62 f.). Der Witz über die unmögliche Biographie, der grotesk-triviale Fall des Versagens an einem Satz als Quelle, über die der Biograph verfügen kann und die dennoch wertlos bleibt, dieser Scherz hat freilich seine besondere Bewandtnis, wenn das Ich an anderer Stelle sagt: »Im allgemeinen lebe ich zurückgezogen, spreche wenig, lese hin und wieder ein gutes Palimpsest oder den Satz des Anaximander oder einen luftigen Flattersatz, oder ich spiele auf der Okarina eine Weise oder Teilweise von Liebe und Tod, manchmal auch von Werden und Vergehen« (S. 40). Immerhin scheint dieser Satz also alles andere als ein »luftiger Flattersatz« zu sein, denn er verdient es, des öfteren gelesen und am Ende dann in das Glossarium der Mitteilungen aufgenommen zu werden, und zwar gleich in dreifacher Übersetzung. Bei Nietzsche lautet er denn so: Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit. (S. 78)

Damit ist dem Leser bedeutet, wie die Mitteilungen zu lesen sind und worauf sich der Stand der Dinge bezieht: es sind, mit Kleist sprechend, »Betrachtungen über den Weltlauf«, pessimistische Bemerkungen zum »Lauf der Welt«, die sich 87 Z u Hildesheimer als Gescheiterter siehe: Dierk Rodewald (Hg.), Über Wolfgang Hildesheimer (Frankfurt, 1971), S. 141-161. 88 Zitiert w i r d (durch Seitenangaben in Klammern) nach der Ausgabe: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes. M i t sechs Tuschzeichnungen des Autors. Frankfurt, 1986. Sein Theaterstück »Biografie: E i n Spiel« macht Max Frisch auch diesbezüglich zum Adressaten.

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konsequent auf ihren Stillstand zu bewegt 8 9 . Gemeint sind beide Welten: die, von der sich das Ich in seine freiwillige Isolation zurückgezogen hat und außerhalb derer es sich abschließend noch einmal in abgeklärter Distanz sprachlich einzurichten sucht, ironisch-zweideutig und tiefgründig-melancholisch; und die eigene Welt, beschrieben in einem Werk, an dessen Anfang in den Lieblosen Legenden bereits v o m ersten »Stand der D i n g e « 9 0 die Rede war und das bis zum Stand der »Letzten Dinge« in den Mitteilungen (S. 41) eine einzige Dokumentation des »Werdens und Vergehens« ist, die Geschichte vom Entstehen und v o m »Ende einer Welt«, die jetzt, teleologisch und gemäß ihrer Ordnung der Zeit, an ihren Endpunkt angekommen ist. Dieses Werk, das in Marbot zur Entelechie der Kunst führt und in den Mitteilungen zur Eschatologie des potentiellen Ich, hat seinen Orgelpunkt in dem Satz des Anaximander. Und so werden die Mitteilungen selbst zum Palimpsest, zu einer artifiziellen Selbstdokumentation einer Schriftstellerexistenz und zur Engführung all dessen, woraus sie hervorgehen. Sie sind nicht zuletzt ein Kompendium von Zitaten und, was dem aufmerksamen Leser nicht entgeht, von Selbst-Zitaten, in sich schlüssig und verschlossen, zweideutig wie der Titel selbst, der Gesprächsfreude und Mitteilsamkeit vortäuscht und doch die Diskretion tarnt: Das Sprechen des Ich tendiert zum Monolog und dient nur scheinbar der Kommunikation. So sagt es an einer Stelle: Ich bin eben, wie ich hinlänglich demonstriert zu haben hoffe, immer wieder ein andrer, hoffnungslos und hoffnungsvoll zugleich, abgeklärt und aufgeklärt, abgekehrt und zugekehrt, unscheinbar und doch auf eigentümliche Weise scheinbar. Kurz, wenn ich den M u n d einmal vollnehmen darf,' ein Polyhistor meiner selbst und meiner Umgebung, der sich nur allzu gern auf Abwege begibt und sich dabei aus den Augen verliert, solange uns noch Abwege und Augen offenstehen. (S. 63)

Das Ich wäre nicht dieser Polyhistor, wenn es sich nicht auch am Detail der Biographie auf eigentümliche Weise scheinbar machte. Denn v o m Satz des Anaximander war schon einmal die Rede, in Masante, w o sich der Erzähler buchstäblich auf Abwege begibt und sich i n der Wüste verirrt. Dieses Sich-ausden-Augen-verlieren war damals die Hildersheimersche Metapher für das Ende seines Erzählens: »Wohl dem Anaximander! Er hat nur einen einzigen Satz gesagt, der steht. Gewiß, er hatte das Glück, ihn aus einer weithin unerkannten Welt greifen zu können. Die Meine ist erkannt und ausgebeutet. Sie gibt keinen guten Satz mehr her« (Masante, S. 322). Eine Biographie des Anaximander mußte damals scheitern, da sich alle Themen erschöpft hatten und alles zum Gemeinplatz geworden war, die Sprache sich verbraucht hatte und Worte wie Bilder ins banal-

89

William Congreve, Der Lauf Frankfurt, 1986. 90

der Welt. Deutsch von Wolfgang

Hildesheimer.

»Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe«, in: Lieblose Legenden, S. 77.

Biographie als Dokumentation

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Unverbindliche abgesunken waren. 9 1 Sollte das Schreiben dennoch weitergehen, so mußte dieser eine gute Satz selbst zum Stoff werden und die Biographie des Anaximander zu einem Buch der Welt, in dem sich — romantisch gesprochen — auch die eigene unendlich spiegelt, i n dem das »Höhere« dieses Satzes, die Vergänglichkeit und Endbestimmung aller Dinge, selbst zur Kunst und zur Wahrheit werden sollte. Marbot wurde zu diesem Buch, die »ideale« Biographie der Biographie, in der der Satz des Anaximander, übertragen auf die Kunst und das Leben, voll zur Geltung kommt. Erst damit war auch dieses Thema abgestreift und das Experiment gemacht. Und so kann in den Mitteilungen das Sprechen auch über diese Dinge wieder zu dem werden, worin für den Polyhistor die Biographie als Dokumentation ihr Ende hat: »reiner, seliger Selbstzweck« 92 . Einen anderen Zweck hätte auch eine Biographie des Anaximander nur darin haben können, die Wahrheit seines Satzes nicht i n der Kunst sondern i n der Realität zu suchen. Eine Bestätigung hätte der Biograph in unserer Zeit, die eine aus den Fugen geratene ist, gefunden. Doch hätte dies wiederum bedeutet, einen anderen Satz widerlegen zu müssen, den einzigen nämlich, den der Schriftsteller Hildesheimer von Ezra Pound akzeptiert: »Der Mensch, der seiner Zeit Ausdruck zu geben versucht, statt sich selbst, ist dem Untergang geweiht« 9 3 . Doch darum konnte es schon dem Erzähler in »Das Ende einer Welt« nicht gehen, auch nicht dem GolchBiographen (der aus anderen Gründen untergeht), nicht dem Erzähler i m Roman Paradies der falschen Vögel, nicht dem Mozart-Forscher und nicht dem MarbotBiographen und schon gar nicht dem so schweigsamen Ich der Mitteilungen, das am Ende die Zettelkästen leert. Das Aussteigen aus der Realität bleibt weiterhin Voraussetzung für die Kunst, gerade da das letzte Ich es heute wieder mit dem in Masante hält und auf das Schreiben verzichtet: »Den Punkt setzen, den Schlußstrich ziehen, meine Zeit ist vorbei« (S. 332).

91

Daß das biographische Schreiben keine Sache des Erzählens sein konnte, zeigen, neben Momart und Marbot, auch die »Exerzitien mit Papst Johannes« (siehe A n m . 38). 92

»Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe«, in: Lieblose Legenden, S. 77.

93

»The End of Fiction«, S. 61.

SYMPOSIUM Apokalypse und Antichrist in der europäischen Literatur Einleitung V o n Wolf gang Frühwald I m 20. Kapitel der Geheimen Offenbarung (des Neuen Testamentes) ist jene Rede v o m tausendjährigen Friedensreich Christi enthalten, welche die Grundlage aller chiliastischen Strömungen der Zeitalter seit Christi Geburt geworden ist: Dann sah ich einen Engel v o m H i m m e l herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette. E r überwältigte den Drachen, die alte Schlange — das ist der Teufel oder der Satan — , und er fesselte ihn für tausend Jahre. E r warf ihn in den Abgrund, verschloß diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind Wenn die tausend Jahre vollendet sind, w i r d der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen werden. E r w i r d ausziehen, um die Völker an den vier Ecken der Erde, den G o g und den Magog, zu verführen und sie zusammenzuholen für den K a m p f ; sie sind so zahlreich wie die Sandkörner am Meer. . . . Aber Feuer fiel v o m Himmel und verzehrte sie.

I n Krisen- und Wendezeiten der Geschichte, vor allem in Zeiten der Verfolgung und der Unterdrückung des Christentums haben sich diese Vorstellungen, eng verbunden mit den Gedanken v o m Ende der Welt, von Gericht, Untergang und der Erschaffung einer neuen Erde, jeweils so verdichtet, daß sich die Situation der Entstehung der Geheimen Offenbarung, in der großen Christenverfolgung unter Domitian, in den literarischen und propagandistischen Adaptationen aller Zeiten und Völker spiegelt. I n Krisen- und Wendezeiten verband sich die Vorstellung von Endzeit und Gericht mit der Gestalt des Antichrist, die i m Neuen Testament nur unscharf zu greifen ist, und vielleicht eben deshalb zu einer mythischen Figur geworden ist, welche die literarische Phantasie besonders stark stimulierte. Der Antichrist, der von Martin Luther so genannte Endchrist, der Widerchrist ist schon in urchristlicher Vorstellung ein der Parusie Christi vorausgehender Widersacher des Göttlichen und des Guten, auf dessen Gestalt alles Böse, Gerichtsängste, Schuld- und Strafbewußtsein, Verfolgungsangst und, in der Klimax der Unterdrückung, auch die Hoffnung auf die endgültige Bändigung von T o d und Verderben übertragen werden.

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Nero und das brennende Rom wurden so immer wieder in der Geschichte der Literatur mit dem Antichrist und dem apokalyptischen Feuer identifiziert; Mohammed war in christlicher Vorstellung ein Antichrist; die Mauren wurden i m 8. Jahrhundert in den christlichen Ländern als die Boten des Antichrist gesehen, wie die Türken i m 16. und 17. Jahrhundert. Den Namen Napoleons meinten die Zeitgenossen des französischen Kaisers in der Figur des Apollyon, des Untergangsengels der Geheimen Offenbarung, unmittelbar erkennen zu können, so daß noch die antinapoleonische Propaganda der Befreiungskriege von religiösen Energien gespeist war, die Wortschatz und Bildlichkeit dem Alten und dem Neuen Testament entnahmen. Für die Katholische Bewegung des 19. Jahrhunderts (und für Selma Lagerlöf am Ende dieses Jahrhunderts) waren dann Materialismus und Sozialismus Konfigurationen des Antichrist, so daß Donoso Cortés nach der Überwindung des weltanschaulichen Liberalismus noch i m 19. Jahrhundert den apokalyptischen Endkampf zwischen den Heeren des Sozialismus und des Katholizismus erwartete. Doch schon der alte Joseph Görres hatte, i n Die Aspekten an der Zeitenwende (1848), mit kraftvollen, apokalyptischen Bildern der auf die Revolution zutreibenden Zeit das Horoskop gestellt, so daß er von seinen Schülern wie ein Prophet verehrt und i m Gedächtnis bewahrt wurde: » . . . es ist der neue Tyrann, wie der Vater der Sohn dreier Götter, der eben aufgestiegen. Seinen Namen nennen uns die drei Sterne des Jakobstabes an seinem Gürtel, sie sind die Namen der drei Köpfe des Zerberus: Radikalismus, Kommunismus, Proletariat.« Der pervertierte Messianismus der Führerideologie i m Nationalsozialismus bediente sich apokalyptischer Versatzstücke ebenso wie die Literatur des innerdeutschen Widerstandes gegen Hitler, die i m »Führer« die Personifikation des antichristlichen Bösen gesehen und bezeichnet hat. Reinhold Schneiders Sonett Der Antichrist (1941 i m Leipziger Insel-Verlag gedruckt) war für alle, welche Pius' des X I . Bulle Mit brennender Sorge 1937 gelesen und gehört hatten, unmittelbar verständlich i n seiner Anspielung auf die Sakralisierung politischer Handlungen und Personen i m »Dritten Reich«: E r w i r d sich kleiden in des Herrn Gestalt, U n d Seine heilige Sprache w i r d er sprechen U n d Seines Richteramtes sich erfrechen U n d übers V o l k erlangen die Gewalt.

Die Beschreibung der Hölle schließlich i n Kapitel X X V von Thomas Manns Doktor Faustus, der vielleicht bedeutendsten Gestaltung apokalyptischer Themen i m 20. Jahrhundert, war den Zeitgenossen unmittelbar als die Beschreibung der grauenhaften und doch banalen Realität der Folterkeller der Gestapo einsichtig: M i t symbolis, mein Guter, muß man sich durchaus begnügen, wenn man von der Höllen spricht, denn dort hört alles auf, — nicht nur das anzeigende W o r t , sondern überhaupt alles, — dies ist sogar das hauptsächliche Charakeristikum, und das, was i m allgemeinsten darüber auszusagen, zugleich das, was der Neuankömmling dort zuerst erfahrt, und

Symposium Apokalypse: Einleitung

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was er zunächst mit seinen sozusagen gesunden Sinnen gar nicht fassen kann und nicht verstehen will, weil die Vernunft oder welche Beschränktheit des Verstehens nun immer ihn darin hindert, kurz, weil es unglaublich ist, unglaublich zum Kreideweißwerden, unglaublich, obgleich es einem gleich zur Begrüßung in bündig nachdrücklichster Form eröffnet wird, daß >hier alles aufhörtDas könnt und könnt ihr doch mit einer Seele nicht tunDenkt man sich bei deprimierter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum jüngsten Tage reif. U n d das Übel häuft sich von Generation zu Generation! Denn nicht genug, daß w i r an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern w i r überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit unseren eigenen vermehrt, unseren Nachkommend

I n der Moderne hat sich zumal i m englischsprachigen Raum Bildlichkeit und Thematik der Apokalypse so verdichtet, daß dort sogar eine Autorengruppe auftrat, die sich selbst »The New Apocalypse« nannte, und zu der Dylan Thomas, Henry Treece, Alex Comfort und J. F. Hendry zu zählen sind. Wie Arnos N . Wilder (Modern Poetry and the Christian Tradition: A Study in the Relation of Christianity to Culture y New York 1952) nachgewiesen hat, hat für diese Gruppe

Symposium Apokalypse: Einleitung

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das alte Thema auch stilistische Konsequenzen: »These writers feel their kinship w i t h painters old and new like Hieronymus Bosch, Breughel, E l Greco and Georgio de Chirico. Biblical elements are common i n their work and in some cases a Christian orientation.« *

Die Sektionen für Romanische, Englisch-Amerikanische und Deutsche Philologie der Görres-Gesellschaft veranstalteten auf der Generalversammlung in Augsburg ein Kolloquium, bei dem versucht wurde, einzelne Schnitte durch die apokalyptisch bestimmte Literatur der europäischen Nationalliteraturen (durch deutsche, englische, russische, italienische und spanische Variationen des Themas) zu legen, zugleich aber auch das mögliche Panorama v o m Mittelalter bis zur Neuzeit zu skizzieren. Es versteht sich von selbst, daß die wenigen Referate dabei nur Inseln darstellen können, die einem unübersehbaren Kontinent von Themen und Formen vorgelagert sind. Je zwei Referate waren dem Mittelalter, zwei der frühen Neuzeit und zwei der Moderne gewidmet. Das der deutschen Barockpredigt gewidmete Referat, welches ein deutliches Desinteresse an der Eschatologie in diesen Predigten konstatierte, kann hier leider nicht mit abgedruckt werden; der Aufsatz über Thomas Manns Doktor Faustus wurde in Augsburg nicht vorgetragen, sondern für diesen Band des L J G G verfaßt. V o n den Anfängen einer Geschichtstheologie i m 12. Jahrhundert über das Problem des apokalyptischen Pessimismus und der Vision einer neuen Erde und eines neuen Himmels in der englischen Literatur des 14. Jahrhunderts spannt sich der Bogen zum eschatologischen Denken i m Zusammenhang mit der Entstehung der Staatsauffassung in Rußland, ohne das die Apokalyptik in den Romanen Dostoevskijs und w o h l noch die Endzeitvisionen in den Schriften marxistischleninistischer Klassiker und ihre Aufnahme in den Staaten der Sowjetunion nicht zu verstehen sind. William Golding, Thomas Mann, Umberto Eco und Mario Vargas Llosa sind dann die Beispiele für die Gestaltung des Themas in der Gegenwartsliteratur, in der das ganze Panorama chiliastisch-eschatologischen Denkens von der Geheimen Offenbarung und Joachim von Fiore bis zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Moderne präsent ist. I n der Moderne werden Apokalypse und Weltgericht, auch wenn manches M a l ein anderer Eindruck entsteht, nicht weniger ernst genommen als in den älteren Jahrhunderten. Durch die Verbindung mit Physik und Biologie scheinen sie an Ernst sogar noch gewonnen zu haben. Und wenn Satire, Parodie, oft genug sogar (wie bei Wolfgang Hildesheimer und Herbert Rosendorfer) der Kalauer die Beschreibung einer apokalyptisch gestimmten und bestimmten Welt beherrschen, so ist dies nur die Kehrseite tief wurzelnder Untergangsängste der nachindustriellen Welt, deren verhängnisvolle Ideologisierung durch die Kenntnis ihrer Wurzeln verhindert werden kann.

Anselm von Havelberg und die Anfange einer Geschichtstheologie des hohen Mittelalters* V o n Walter Berschin Anselm von Havelberg ist keiner der großen Namen des X I I . Jahrhunderts, kein Johannes v. Salisbury oder Bernhard v. Clairvaux. Seine Werke sind erst zu Ende der 20er Jahre dieses Jahrhunderts mit der Aufmerksamkeit gelesen worden, die sie verdienen. Max Manitius war schon alt, als das geschah; i m 1931 publizierten dritten Band seiner Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters sucht man vergeblich eine Würdigung der Werke Anselms v. Havelberg. Anselms Hauptwerk Dialogi ist nach wie vor i n der Papiermasse der Patrologia latina von Migne begraben; doch ist eine Neuausgabe innerhalb der Monumenta Germaniae Historica angekündigt, und cupidi rerum novarum sind die Franzosen mit einer zweisprachigen Ausgabe des wichtigsten Teils der Dialogi in den Sources chrétiennes schon vorausgeeilt, wobei der Herausgeber in konziliarer Stimmung des Jahres 1966 seiner Teiledition den attraktiven Untertitel »Renouveau dans l'Eglise« gegeben hat.

Anselms Leben Anselm von Havelberg ist ein Gelegenheitsschriftsteller. Seine literarischen Werke entstehen beiläufig und sind doch ohne die Erfahrung seines Lebens kaum vorstellbar. Er tritt i n die Geschichte i m Jahr 1129. Der PrämonstratenserErzbischof Norbert von Magdeburg (Norbert von Xanten) weiht den kaum mehr als 30jährigen Anselm zum Bischof von Havelberg. Als Herr dieses damals i m deutsch-slawischen Grenzgebiet gelegenen Bistums hat er mit der Wendenmission zu tun; sein Name ist verknüpft mit der Gründung des Prämonstratenserstiftes Jerichow bei Tangermünde rechts der Elbe, einer Backsteinarchitektur von kristalliner Klarheit und Schönheit. Das A m t läßt Anselm Zeit zum Dienst an den Höfen der Kaiser Lothar I I I . , Konrad I I I . und Friedrich I., für den er schließlich als vir prudens et litteratus ..., qui multis diehus in imperii obsequiis et fidelitate probatus fuerat (Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris I V 17), mit dem Erzbistum Ravenna (1155) belohnt wird. I m Gefolge Barbarossas stirbt er 1158 während der Belagerung von Mailand. Sein Leben gleicht dem des berühmten * Vortrag auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft, Augsburg, 5. X . 1987. 15 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 29. Bd.

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Kunstmäzens, Kenners und Sammlers klassischer Literatur und Diplomaten A b t Wibald von Stablo, der denselben drei Kaisern diente wie Anselm und i m selben Jahr gestorben ist. Die beiden haben übrigens auch miteinander korrespondiert und mit denselben geistlichen Größen der Zeit zu tun gehabt: Bernhard von Clairvaux und Petrus Venerabiiis von Cluny. De Ghellinck hat in L'éssor de la littérature latine au Xlle siècle geschrieben, Wibald von Stablo »se serait fait une place de premier plan dans l'histoire de la littérature, si sont rôle politique et religieux auprès des empereurs Lothaire I I I , Conrad et Frédéric I e r , avec ses nombreuses missions diplomatiques et ses fonctions administratives dans l'empire lui avaient laissé le temps de déployer une plus grande activité littéraire«. Das Gleiche kann man von Anselm von Havelberg sagen.

Die griechischen Gesandtschaften V o n den vielen diplomatischen Missionen Anselms waren die beiden griechischen Gesandtschaften 1136 und 1154 wohl die bedeutendsten. Beide Legationen sind mit Disputationen verbunden. Über die erste (1136) hat Anselm selbst berichtet. Er hatte das ursprünglich wohl nicht vor, aber Papst Eugen I I I . (11451153), der Schüler und Freund Bernhards von Clairvaux, hat ihn wie viele andere Autoren seiner Zeit ermuntert, das, was er zu sagen hatte, schriftlich zu formulieren. Das war i m Jahr 1149; dreizehn Jahre waren seit der denkwürdigen Disputation in Konstantinopel vergangen. Anselm hinterließ uns in seinem Bericht eine einzigartige Schilderung der Internationalität geistigen Lebens in der Hauptstadt des oströmischen Reichs. Ort der Disputation war die Irenenkirche i m Pisanerviertel von Konstantinopel. A u f griechischer Seite disputierte der Erzbischof Niketas von Nikomedien, einer der zwölf didascali der Hohen Schule, auf lateinischer Seite Anselm. Niketas sprach griechisch, Anselm lateinisch. Die Verständigung war kein Problem dank der in Konstantinopel lebenden gelehrten Italiener, die zum Teil berufsmäßig als Übersetzer arbeiteten. »Nicht wenige Lateiner nahmen teil, unter ihnen drei weise Männer, die beide Sprachen kannten und literarisch gebildet waren; einer namens Jacobus, ein Venezianer, einer namens Burgundio, ein Pisaner, und als dritter und hervorragendster der ob seiner griechischen und lateinischen literarischen Bildung bei beiden Völkern hochberühmte Moses, ein Italiener aus Bergamo; dieser wurde von allen gewählt, daß er beiden Seiten ein treuer Dolmetscher sei«. Hauptthema war natürlich das filioque: Ist der Sohn v o m Vater ausgegangen oder v o m Vater und vom Sohn, wie die fränkischen Theologen seit dem I X . Jahrhundert sagten? Nach Anselm habe Niketas am Ende zugegeben, daß der Heilige Geist v o m Vater und vom Sohn (filioque) ausgehe, und gesagt, daß ein von den beiden Kaisern und dem römischen Papst geleitetes ökumenisches Konzil die Trinitätslehre für immer festlegen solle.

Anselm v o n Havelberg und die Anfänge einer Geschichtstheologie

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I n der darauffolgenden Woche wurde die Disputation wegen des Publikumsandrangs in die größte Kirche Konstantinopels, die Hagia Sophia, verlegt. Man sprach über die Azymen (die Verwendung »ungesäuerter Brote« i n der lateinischen Kirche) und andere Verschiedenheiten des Ritus und der Kirchenorganisation in Ost und West. Wieder einigte man sich auf ein allgemeines Konzil, »wo«, wie Niketas sagte, »alles, was uns und euch v o m einen selben Ritus trennt, durch eine einheitliche Form zur Eintracht zurückgeführt werden soll, damit die Griechen und Lateiner ein V o l k unter dem einen Herrn Jesus Christus, in einem Glauben, in einer Taufe, i n einem Ritus der Sakramente werden.« Anselm stimmte dem zu und wünschte in bewegten Worten, daß sein Disputationsgegner auf diesem Konzil das W o r t führen möge. Die Zuhörer feierten begeistert diesen geistlich wie menschlich gleich großen Schluß der Disputation: Doxa soi, o theos, doxasoi , o theos, doxa soi, o theos, quodest: Gloria sitdeo, gloria sit deOy gloria sit deo. Calos dialogus, quod est: Bonus dualis sermo. Holographi y holographi, quod est: Totum scribatur, totum scribatur »Ehre sei Gott, Ehre sei Gott, Ehre sei Gott! Ein schöner Dialog! Alles aufschreiben! Alles aufschreiben!« So endet Anselms Bericht, der uns i n eine geistige Welt führt, die erst i m X V . Jahrhundert i m Unionskonzil von Ferrara-Florenz ihre wie auch immer unvollkommene Erfüllung gefunden hat.

Die Dialogi Der Bericht über die griechische Gesandtschaft des Jahres 1136 stellt die Hauptmasse des Buches dar, in dem Anselms Geschichtstheologie enthalten ist. Das Buch heißt Dialogi. Der v o m Autor gewollte Buchtitel lautet eigentlich A N T I K E I M E N O N oder Liber Antikeimenon (Liber contrapositorum) »Buch der Gegensätze«. Es ist einer der für das X I I . Jahrhundert typischen griechischen Büchertitel. Er war überdies (durch Julian v. Toledo i m V I I . Jahrhundert) schon i n die lateinische Literatur eingeführt. Durch diesen Titel wollte Anselm das griechische Kolorit seiner Publikation verstärken. Aber in Editionen und wissenschaftlicher Literatur hat sich wieder der Titel Dialogi eingebürgert, und um der Einfachheit willen soll hier dieser Name beibehalten werden. M i t den Dialogi also hat Anselm dem Wunsch Eugens I I I . nach einem Disputationsbericht entsprochen: er hat jede der beiden Stationen der Disputation in einem Buch geschildert. Aber er hat sich nicht mit dem Bericht begnügt, sondern daraus eine theologische Summe gezogen und diese Summe nach dem Gliederungsprinzip a potiori vorausgeschickt. Die Dialogi sind also folgendermaßen aufgebaut: I II III 15*

Anselms Geschichtstheologie Die Disputation i n Konstantinopel Teil 1 Die Disputation in Konstantinopel Teil 2.

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Wer ihn veranlaßt hat, Teil I zu schreiben, sagt Anselm nicht direkt. Jedenfalls war es nicht der Papst, vielmehr fratres quidam — »Amtsbrüder«, »Ordensbrüder«, »Glaubensbrüder«, etwa sogar griechische? — die es als ein scandalum empfanden, quod in ecclesia, quae una est unamfidem tenendo, tot tarn diversae religionis novitates passim ubique per successiones temporum emergant multiformiter mundo »daß in der einen Kirche, die einen Glauben hat, allenthalben so viele und verschiedenartige Neuerungen immer wieder vielfaltig in dieser Welt entstehen«. Tarn, passim y — es wimmelt in diesem Satz von Adverbien, die die ubique, multiformiter bedrohliche Fülle der Neuerungen unterstreichen. A u f die damit gegebene Frage antwortet Buch I der Dialogi Liber de una forma credendi et multiformitate vivendi a tempore Abel iusti usque ad novissimum electum »über die eine Gestalt des Glaubens und l/»/gestalt des Lebens von der Zeit des gerechten Abel bis zum letzten Erwählten«. Anselm w i l l die Frage also aus der Geschichte beantworten. Die Geschichte erstreckt sich bei ihm weit i n die Prähistorie bis zur zweiten Menschheitsgeneration und weit in die Zukunft bis zum letzten ins Gottesreich berufenen Menschen. I m Zentrum seines Interesses steht die Offenbarung Gottes. Anselm fragt und antwortet weniger als Historiker und Philosoph denn als Theologe. Sein wichtigstes Geschichtsbuch ist die Bibel, in deren erstem und letztem Buch, Genesis und Apokalypse, er Anfang und Ende der Geschichte findet. Die Kapitelüberschriften, die auf den Autor zurückzugehen scheinen, lauten folgendermaßen: Anselmi Havelbergensis episcopi Dialogorum liber I Liber de una forma credendi et multiformitate vivendi a tempore Abel iusti usque ad novissimum electum 1

De eo, quod quidam solent mirari tarn varias christianae religionis formas.

2

Quod unum corpus ecclesiae uno spiritu sancto regitur et gubernatur diversas habens gratiarum divisiones.

3

De diverso sacrificiorum ritu, quo placabatur idem et unus deus ab Abel usque ad Christum.

4

Quod antiqui patres, licet singulos christianae fidei articulos ad plenum non noverint, tarnen in fide futuri salvati creduntur.

5

Quod duae transpositiones famosae religionis factae sunt, legis videlicet et evangelii cum attestatione terraemotus propter ipsarum rerum magnitudinem.

6

Quod vetus testamentum deum patrem quidem manifeste, deum autem filium obscure praedicavit. N o v u m autem testamentum deum filium manifestavit, sed spiritus sancti deitatem primo subinnuit et paulatim sufficienter edocuit.

7

De Septem sigillis significantibus Septem status ecclesiae. Et quod in primo statu exeunte albo equo miraculorum et prodigiorum novitate primitiva ecclesia crescebat.

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Quod in secundo statu ecclesiae exeunte rufo equo gravissima sanctorum persecutio incanduerit.

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Quod in tertio statu ecclesiae exeunte nigro equo maxima haereticorum pericula ecclesiam supra modum turbaverint.

10

Quod in quarto statu ecclesiae exeunte pallido equo in falsis fratribus ecclesia dei supra vires laboraverit, in quo etiam statu multae ac variae religiones creverunt.

11

Quod in quinto statu ecclesiae animae sanctorum sub altare dei clamant: Usquequo, domine, sanctus et verus, non vindicas sanguinem nostrum de his, qui habitant in terra etc.

12

Quod in sexto statu ecclesiae facto terraemotu magno validissima persecutio futura est tempore Antichristi.

13

Quod in septimo statu ecclesiae post multas tribulationes futurum est silentium magnum et instaurabitur octava infmitae beatitudinis: et ita ecclesia dei, quae est una in fide, una spe, una charitate, multiformis est diversorum statuum varietate.

Bei vielen guten Autoren des lateinischen Mittelalters springt bei der Lektüre der Capitulatio nicht nur ein Überblick, sondern auch schon die Idee des Ganzen heraus. Anselm gehört zu diesen guten Autoren. Kapitel 1 wiederholt den Ausgangspunkt seiner Geschichtstheologie: die Formenvielfalt der christlichen Religion. »Warum geschehen in der Kirche Gottes so viele Neuerungen? Warum entstehen in ihr so viele Orden? Wer kann die vielen Klerikerorden zählen? Wer staunt nicht über die vielen Arten von Mönchen? Wer ärgert sich da nicht und wird nicht von Überdruß und Ärger erfaßt angesichts so vieler und so verschiedener Formen der Religion?« Müßte sich unser Anselm nicht zuerst über sich selbst ärgern? Er war Prämonstratenser, Angehöriger eines ganz neuen Ordens, und war nach dem Vorbild Norberts, des Ordensstifters, zugleich Ordensmitglied und Bischof. I n der griechischen Kirche muß ihm die Neuartigkeit der Organisationsformen des lateinischen Mönchtums besonders bewußt geworden sein; dort gab es keine durchorganisierten Orden, wie sie i m Abendland seit Cluny bestanden und zur Zeit Anselms allenthalben neu entstanden bis hin zur paradoxalen Extremform der Mönchsritter domi pacifici, Joris bellatores strenui, domi oboedientes in disciplina regulari , Joris obtemperantes disciplinae militari , domi sancto silentio instructi, Joris ad bellicos strepitus »die zuhause friedlich sind, draußen starke Krieger, zuhause in Regeldisziplin gehorsam leben, draußen der kriegerischen Disziplin unterliegen, zuhause i m Schweigen unterwiesen sind, draußen zu kriegerischem Lärm«. Der Diplomat Anselm stellt eine typisch abendländische kirchliche Entwicklung zur Diskussion. W i r verfolgen Anselms Argumentation in den Hauptzügen weiter. Kapitel 3 legt dar, daß von Abel bis Moses Gott in ganz verschiedenen Riten gedient wurde, darunter einmal bei Abraham sogar mit dem Versuch eines Menschenop-

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fers. Auch das mosaische Gesetz bedeutet nicht die endgültige Form der Religion; vielmehr ist der Weg zum Christentum durch zwei Revolutionen gekennzeichnet — famosae transpositiones (c. 5): v o m Naturgesetz zum Alten Bund, vom Alten Bund zum Neuen Bund. So hatte Paulus schon die Geschichte gegliedert ante legem sub lege sub gratia

Aus den Heiden werden Juden, aus den Juden werden Christen: degentibusIudaeos y de Iudaeis autem christianos fecit (c. 5). I n c. 6 wendet Anselm dieses Schema auf die trinitarische Dogmatik an und sagt dabei leichthin etwas Neues. Man findet es bei genauem Lesen schon in der Formulierung der Capitulatio: Das Alte Testament hat G o t t den Vater offenkundig, Gott den Sohn aber dunkel verkündet. Das Neue Testament offenbart G o t t den Sohn, aber hat die Gottheit des Heiligen Geistes zunächst nur leicht angedeutet (subinnuit) und erst allmählich (paulatim) genügend gelehrt.

Die Brisanz der Aussage steckt i m Adverb paulatim »allmählich«, »Stück für Stück«. Die göttliche Pädagogik hat den Menschen nicht die ganze Wahrheit auf einmal zugemutet, der göttliche Arzt hat der kranken Menschheit die heilsame Arznei paulatim eingeflößt. Erst nach der Himmelfahrt des Sohnes, nachdem seine Gottheit offenkundig war, konnte die Gottheit des Geistes sich offenbaren. Anselm geht nicht so weit zu sagen, daß die Offenbarung des Geistes erst i m I X . oder X I . Jahrhundert mit der Einführung des filioque ins Credo abgeschlossen worden wäre oder daß die Offenbarung des Geistes immer noch andauere oder gar daß noch ein Zeitalter des H l . Geistes bevorstehe, wie das bald nach Anselm Joachim v. Fiore verkündet hat. Für Anselm ist die Offenbarung des Geistes schon abgeschlossen (perfecta est, Migne PL 188, col. 1148). Aber ihre besondere Wirkung dauert nach Anselm an, und diese ist die ständige Erneuerung der Kirche. Vater und Sohn haben ihre Gottheit mit Blitz und Donner und Erdbeben auf Sinai und Golgatha offenbart. Der Geist zeigt sich paulatim. Nach der Weise dieses paulatim wandelt und läutert sich die Kirche, und zwar — das ist der zweite neue Gedanke des Anselm — entsprechend den sieben Phasen der Apokalypse. Kapitel 7 bis 13 der Dialogi zeichnen Etappe für Etappe die Kirchengeschichte als Lösung der sieben apokalpytischen Siegel nach: c. 7

Das weiße Roß ist die Urkirche

c. 8

Das rote Roß die Kirche i m Zeitalter der Märtyrer

c. 9

Das schwarze Roß die Kirche i m K a m p f mit den Häretikern

c. 10 Das fahle Roß die Kirche in der Auseinandersetzung mit falschen Glaubensbrüdern (Hypokriten)

Anselm v o n Havelberg und die Anfange einer Geschichtstheologie

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Das ist nun die Zeit, in der sich Anselm selbst sieht. Kennzeichen seiner Zeit ist — hier ist sich Anselm mit Otto v. Freising (Chronica V I I 35) einig — die Ausbreitung der Mönchsorden, die bewirken, daß der Kirche wie dem Adler immer wieder eine neue Jugend geschenkt wird. Was noch kommt, ist: c. 11 Der Schrei der Seelen der Heiligen, Gott möge die Leiden der Kirche beenden c. 12 Die Erscheinung des Antichrist c. 13 Das große Schweigen, die Wiederkehr des Gottessohnes, das Gericht und die ewige Seligkeit

Der geschichtliche Wandel hat seinen Grund nicht in einem Wandel Gottes, sondern in der Wandelbarkeit und Schwäche des Menschen. Seinetwillen wandeln sich die Formen von Generation zu Generation, und dieser beständige Wandel ist zugleich die spezifische Wirkung des Geistes, der die Kirche paulatim ihrer Vollendung entgegenwachsen läßt. Oder von der Bibel her gesprochen: »Der Geistgehalt des Neuen Testaments kommt erst allmählich zur Auswirkung« (Grundmann). Anselm war nicht der erste Geschichtstheologe. V o r ihm waren viele andere. Die verbreitetsten geschichtstheologischen Systeme sind das biblisch-paulinische ante legem — sub lege — subgratia , die Lehre von den vier Weltreichen, die auf das Buch Daniel zurückgeht, die der sechs Weltalter und der mit der Zahl 1000 spielende Chiliasmus. Was diesen Schemata gemeinsam ist, ist der schmale Raum, der der christlichen Ära zugemessen ist. Da steht viel über Noe, Moses, Nabuchodonosor und die Makkabäer, aber nach den Aposteln kommt kaum noch ein heilsgeschichtlich relevantes Detail. Das Weltende steht unmittelbar bevor, die Menschheit befindet sich seit den Aposteln i m letzten Reich, i m letzten irdischen Weltalter, in der Erwartung der Wiederkunft. Erst das X I I . Jahrhundert hatte den M u t , mit dem aus der Spätantike überkommenen Geschichtspessimismus zu brechen. M i t Anselms Geschichtsentwurf beginnt der bis dahin »leere Geschichtsraum« zwischen den Aposteln und der Gegenwart eine theologische Struktur zu erhalten, und die Zukunft wird etwas anderes als die bloße Erwartung des Jenseits. Die Zukunft offenbart i m Wandel der Zeiten immer neu das Wirken des Geistes. Anselm v. Havelberg hat als erster die Apokalypse mit dem Lauf der Kirchengeschichte seit Christi Himmelfahrt identifiziert. Er hat damit die Geschichte des ersten Jahrtausends strukturiert und den Blick geöffnet für eine weitere, ja für eine unabsehbare Zukunft der Kirche. Der Sinn dieser, seiner und unserer Epoche der Geschichte, ist nach Anselm die dem Geist entsprechende Erneuerung und beständige Verjüngung der Kirche. Das Neue an Anselms Geschichtstheologie ist nicht unbedingt der Einfall, das letzte Buch der Bibel auf die Kirchengeschichte anzuwenden. Darauf hätte auch ein anderer kommen

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Walter Ber

können, gerade i m X I I . Jahrhundert, i n dem sich so etwas wie eine Neuentdeckung der Bibel vollzieht, in dem die Geister sich anstrengen, den verborgenen, symbolischen, typologischen, figuralen Sinn auch der abseitigsten Passagen der Heiligen Schrift zu entdecken. Das Neue ist also nicht so sehr die Idee, sondern die hinter der Idee stehende Haltung der Offenheit und Wachheit gegenüber der unmittelbaren geschichtlichen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Offenbarung ist abgeschlossen. Aber die Formen, in denen die dritte göttliche Person, der Geist, wirkt, sind noch nicht erschöpft. Die alten Geschichtsschemata sind damit nicht abgetan, aber mit neuem Leben, Vertrauen in den Sinn der Geschichte, Optimismus erfüllt. I n der Theologie der Geschichte regt sich das für das X I I . Jahrhundert so charakteristische Lebensgefühl der die Welt erfüllenden Jugend, einer Iuventus mundi.

Nachweise Anselms Dialogi sind gedruckt in Migne, Patrologia latina 188, Paris 1855, col. 1139-1248. N u r Buch I der Dialogi ist mit französischer Übersetzung zu finden bei G. Salet, Anselme de Havelberg. , Dialogues livre I: »Renouveau dans l'église «, (Sources chrétiennes 118) Paris 1966. Daten seines Lebens und Literatur bis ca. 1975 nennt J. W. Braun, Art. »Anselm von Havelberg«, in Die deutsche Literatur des Mittelalters y Verfasserlexikon 2. Aufl., 1.1, Berlin/New York 1978, col. 384 sqq. Neueste Literatur in der seit 1980 in Spoleto erscheinenden Bibliographie Medioevo latino. — J. de Ghellinck über Wibald v. Stablo: L'essor de la littérature latine au XII e siècle , Brüssel 2 1954, p. 195. — Die griechischen Gesandtschaften: W. B., Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus Nikolaus von Kues, Bern/München 1980, p. 261 sq. D o r t auch über die eigentlichen griechischen Titel des Werks. — Anselm über die neuen Ritterorden: Dialogi 110, Migne PL 188, col. 1156. — Herbert Grundmann ist der eigentliche Entdecker der Geschichtstheologie Anselms: Studien über Joachim v. Fiore, Stuttgart 1927, p. 92 sqq. D o r t p. 94 unser Zitat über die »allmähliche Auswirkung« des »Geistgehalt des N . T.«. Das W o r t v o m »leeren Geschichtsraum« zwischen den Aposteln und der Gegenwart in den älteren geschichtstheologischen Entwürfen bei W. Kamiah, Apokalypse und Geschichtstheologie, Berlin 1935, p. 70. Ausführlich behandelt ist Anselm v. Havelberg bei H . D . Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius %um Deutschen Symbolismus, Münster i.W. 2 1979. — »Iuventus mundi«: E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 2 1954, p. 123.

Apokalypse und Antichrist in der englischen Literatur des 14. Jahrhunderts William Langlands Piers Plowman, Joachim von Fiore und der Chiliasmus des Mittelalters Von Willi Er^gräber I m Jahre 1961 veröffentlichte M o r t o n W. Bloomfield ein Buch, dessen Titel Piers Plowman as a Fourteenth-Century Apocalypse das Epos, das i m ausgehenden Mittelalter den Höhepunkt der religiösen Dichtung in England darstellt, inhaltlich wie formal der apokalyptischen Tradition zuweist. Darüber hinaus glaubt Bloomfield, einen Zusammenhang zwischen Joachim von Fiores Lehren und der Thematik des me. Epos nachweisen zu können. Die folgenden Ausführungen versuchen, ein Fazit aus den weitverzweigten Diskussionen zu ziehen, die durch dieses Buch ausgelöst wurden, und dabei eine These zu verarbeiten, die ich 1957 bereits in meinem Buch über William Langlands Piers Plowman : Eine Interpretation des C-Textes i m Ansatz entwickelte. Geht man davon aus, daß alle Versionen des Piers Plowman (A-, B- und CText), den wir konventionellerweise einem Autor namens William Langland zuweisen, in den letzten vier Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts entstanden 1 , so bedeutet dies, daß das Werk insgesamt in eine Epoche tiefgreifender Wandlungen i m politischen, sozialen wie religiösen Bereich gehört — Wandlungen, die es verständlich erscheinen lassen, daß sich der Autor für apokalyptische und chiliastische Vorstellungen und Gedankengänge offen zeigte. V o n den geschichtlichen Vorgängen und Ereignissen, die sich i m Piers Plowman spiegeln und die für die in diesem Epos ausgedrückte Zeitstimmung charakteristisch sind, seien genannt: 1. Der Hundertjährige Krieg, den England i n Frankreich seit 1337 mit wechselndem Erfolg führte und an dessen Ende die Niederlage der Engländer sowie der Verlust der meisten ihrer kontinentalen Besitzungen stand. M i t den Klagen von Lady Meed über die Fehler in der Kriegsführung K ö n i g Edwards II. in Passus I I I artikuliert Langland eine i n England weit verbreitete Stimmung. 1

Vgl. dazu E. Talbot Donaldson, Piers Plowman: The C-Text and its Poet , New Haven, London 1949, 2 1966, S. 199-266.

234

W i l l i Erzgräber

2. Die Hungersnöte und Pestilenzen der Jahre 1348,1349,1361-62,1369 und 1375-76 ließen ganze Dörfer veröden, so daß die Gutsbesitzer oft nicht mehr über genügend Arbeitskräfte verfügten. Als 1381 eine Kopfsteuer mit harten Maßnahmen eingetrieben wurde, kam es in Kent und Sussex zum Bauernaufstand. Der Schlachtruf der Aufsässigen war »Piers Plowman!«, da er als der ideale Führer, der »dux novus« galt, von dem man sich die grundlegende Neuordnung der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse erhoffte. 2 3. Das Zeitalter Langlands war zugleich das Zeitalter Wyclifs. Bissige Satire richtete er gegen die Geistlichen, die in hohen weltlichen Ämtern tätig waren (vgl. De Civili Dominio), gegen die Bettelmönche, die mit übertriebener Gelehrsamkeit die Laien zum Zweifel an ihrem christlichen Glauben brachten und durch eine heuchlerische Beichtpraxis das Bußsakrament entweihten. Als 1378 mit dem Schisma die Übelstände innerhalb der höchsten Kreise der Kirche für jedermann sichtbar zutage traten, sah Wyclif im Papst die Quelle allen Übels innerhalb der Kirche und identifizierte ihn mit dem Antichrist. Er betrachtete das Schisma geradezu als das Werk Christi, der den K o p f des Antichrist in zwei Teile gespalten habe. Die politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die Mißstände i m religiösen Leben und die weitreichenden Auswirkungen, die v o m ökonomischen Bereich auf das kirchliche wie das politische Leben ausgingen — all dies bewirkte i m 14. Jahrhundert in England eine seelische Erschütterung, so daß sich Langland und seine Zeitgenossen fragten, ob die Menschheitsgeschichte nicht sichtbar ihrem Ende zustrebe, ob das Ende des letzten Weltalters nicht unmittelbar bevorstehe. Zur Verdeutlichung dieser Einstellung sei hervorgehoben, daß mittelalterliche Theologen stets davon sprachen, i m letzten Weltalter zu leben. I m ausgehenden Mittelalter aber verschärfte sich dieses Bewußtsein dahingehend, daß man das Weltende, das Erscheinen des Antichrist und die Wiederkunft Christi für die allernächste Zukunft erwartete, vielleicht noch innerhalb der Lebenszeit des jeweils Sprechenden oder Angesprochenen. 3 Die Erwartung drohenden Unheils und bevorstehender Katastrophen, durch die sich das Weltende ankündigt, findet ihren Ausdruck in Prophezeiungen, die Langland an unterschiedlichen Stellen in seine Dichtung eingearbeitet hat und die i m Stil wie i m Inhalt der jüdischen und der altchristlichen Apokalyptik entsprechen. So heißt es beispielsweise innerhalb einer Prophezeiung in Passus V I , 320-330: 2 Vgl. W i l l Durant, Das Zeitalter der Reformation: Eine Geschichte der europäischen Kultur von Wiclifbis Calvin [1300 bis 1564], Bern, München 1959, 2 1962, S. 64 (Die Geschichte der Zivilisation, 6). 3 Vgl. u.a. Robert Adams, »Some Versions o f Apocalypse: Learned and Populär Eschatology in Piers Plowman«, in: Thomas J. Heffernan (ed.), The Populär Literature of Medieval England, Knoxville, Tenn., 1985, S. 194-236.

Apokalypse und Antichrist

235

Whan ye se the [mo]ne amys and t w o monkes heddes, A n d a mayde have the maistrie, and multiplie by eighte, Thanne shal deeth withdrawe and derthe be justice ( V I , 226-28). 4

Wie die jüdische Apokalyptik ist auch diese Prophezeiung durch »dunkle und ungewöhnliche Bilder«, durch eine unlogische Verknüpfung von Bildern und Gedanken gekennzeichnet. Auch bei Langland gibt es »eine beabsichtigte Unbestimmtheit und Unklarheit, die den Eindruck des Geheimnisvollen verstärkt und wohl das Unsagbare und Unergreifbare andeuten soll«. 5 Schließlich finden sich auch bei ihm symbolische Zahlenangaben, über deren Bedeutung die Kommentatoren nur spekulieren können. Möglicherweise deutet in einer Prophezeiung des I I I . Passus die Angabe »six sonnes« auf das 6. Weltalter, und die Wendung »half a shef of arwes« ( = 1 2 Pfeile) auf die Anzahl der Apostel. Allein der Vergleich der Angaben in den kommentierten Editionen zeigt, wie weit der Deutungsspielraum nach wie vor ist. M i t der altchristlichen Apokalyptik haben die Prophezeiungen bei Langland den »ethischen Appell« gemeinsam. »Angesichts des kommenden Endes und des Gerichtstages sind immer wieder ernste Mahnungen am Platze: Bewähren muß sich, wer berufen ist, in das Reich Gottes einzugehen«. 6 So R. Schütz über die altchristliche Apokalyptik. Bei Langland lauten die ethischen Appelle wie folgt: »Ac I warne yow werkmen — wynneth w h i l ye mowe« ( V I , 320) 7 , oder: He (i. e. Resoun) preved that thise pestilences were for pure synne, A n d the south-westrene w y n d on Saterday at even Was pertliche for pride and for no point ellis. Pyries and plum-trees were puffed to the erthe I n ensample, ye segges, ye sholden do the bettre (V, 13-17). 8 4 Alle Zitate aus dem B-Text des Piers Plowman nach folgender Ausgabe: William Langland, The Vision of Piers Plowman, A Critical Edition o f the B-Text . . . by A. V. C. Schmidt, London, Melbourne 1984. I m folgenden werden alle mittelenglischen Zitate in den Fußnoten in deutscher Übersetzung wiedergegeben: »Wenn eine Mondfinsternis eintreten und ihr zwei Mönchsköpfe sehen w e r d e t / U n d eine Jungfrau die Herrschaft ausüben und (Gold) ums achtfache vermehren w i r d , / D a n n w i r d der T o d sich zurückziehen und die Hungersnot Recht sprechen«. 5 Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. v o n Klaus Galling, Bd. I , Tübingen, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage 1957, Sp. 465.

6 RGGy 7 8

I, Sp. 467.

»Aber ich warne euch, ihr (Land)arbeiter — arbeitet solange ihr könnt«.

»Er bewies, daß diese Pestilenzen nur wegen der Sünden geschickt wurden / U n d der Südwestwind am Samstagabend / Eindeutig eine Strafe für den Hochmut und für nichts

236

W i l l i Erzgräber

Kommentatoren weisen daraufhin, daß solche Prophezeiungen i m 14. Jahrhundert weit verbreitet waren, so daß man geradezu von einer volkstümlichen Tradition sprechen kann. Allerdings fließen in die apokalyptischen Prophezeiungen auch Anspielungen auf einen vollkommenen Weltzustand ein (vgl. I I I , 323: »Batailles shul none be, ne no man bere wepene«) 9 , die den apokalyptischen Passagen ein chiliastisches Gepräge geben. Chiliasmus, »die Meinung, die Weltgeschichte werde durch ein mit den Farben eines goldenen Zeitalters ausgemaltes irdisches Gottesreich tausendjähriger Dauer beschlossen, für das nur die Gerechten auferweckt werden« 1 0 , gründet u.a. in einer Stelle der Offenbarung des Johannes, Kap. 20, wo davon berichtet wird, daß der Satan für 1000 Jahre gebunden und Christus während dieser Zeit mit den Gerechten zusammenleben werde, bis das eigentliche Endgericht erfolgt. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Vorstellungen v o m vollendeten Weltzeitalter mit Joachim von Fiore i n Verbindung zu bringen und einen Zusammenhang zwischen Piers Plowman und den Lehren des Joachim von Fiore herzustellen. A m nachdrücklichsten hat sich Bloomfield für diese These eingesetzt und gezeigt, daß Joachims Texte i m 14. Jahrhundert in England weit verbreitet waren. Wenn in Langlands Werk tatsächlich joachitische Gedanken nachzuweisen sind, so stammen sie nach Bloomfields Darlegungen weniger aus den Lehren der franziskanischen Spiritualen als vielmehr aus den Schriften Joachims, in denen er seine Bibelexegese und seine Geschichtsauffassung expliziert. 1 1 Nach wie vor ist es jedoch eine umstrittene Frage, ob chiliastische Vorstellungen, wie sie von Joachim von Fiore verbreitet wurden, in das me. Epos eingegangen sind oder ob sich Langlands Piers Plowman bei der dichterischen Entfaltung endzeitlicher Vorstellungen i m Rahmen einer traditionellen, letztlich auf Augustinus zurückgehenden Sicht v o m Weltende bewegt. Es sei hier nur daran erinnert, daß Augustinus in De Civitate Dei y Buch X X , 7 über Offb. 20,1 ff. bemerkt: »Die tausend Jahre aber können, soviel ich sehe, auf zweierlei Weise verstanden werden. Entweder soll das eben Erwähnte in den letzten tausend Jahren vor sich gehen, also i n dem sechsten Jahrtausend, gleichsam am sechsten Tage, der nun zu Ende geht und auf den der Sabbat folgen wird, der keinen Abend hat, nämlich die Ruhe der Heiligen, die kein Ende hat. [...] Oder aber er denkt bei den tausend Jahren an die gesamten Jahre des jetzigen Zeitalters, so daß also mit der vollkommenen Zahl Tausend die Fülle der Zeit gemeint wäre«. 12 anderes war./Birnbäume und Zwetschenbäume wurden zur Erde niedergerissen/Euch Menschen zur Mahnung, besser zu handeln«. 9

»Schlachten werden nicht mehr stattfinden, noch werden Menschen Waffen tragen«. RGG, I , Sp. 1651.

11

Vgl. M o r t o n W. Bloomfield, Piers Plowman as a Fourteenth-Century Brunswick, N.J., 1961, S. 95. 12

Apocalypse, New

Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. I I , übertragen von Wilhelm Thimme, Zürich 1955, S. 604-5. Das lat. Original lautet: »Mille autem anni duobus modis possunt,

Apokalypse und Antichrist Meine

folgenden

Ausführungen,

i n denen i c h Langlands

237 Verhältnis

zu

e n d z e i t l i c h e n V o r s t e l l u n g e n u n d seine D a r l e g u n g e n ü b e r einen v o l l e n d e t e n Weltzustand behandeln möchte, sind w i e folgt gegliedert: 1. Z u n ä c h s t w e n d e i c h m i c h der Szenenfolge z u , i n der L a d y M e e d erscheint, die i h r V o r b i l d i n der A p o k a l y p s e hat, v o n L a n g l a n d aber m i t einer besonderen B e d e u t u n g ausgestattet w u r d e . 2. D e m A u f t r i t t v o n L a d y M e e d e n t s p r i c h t das E r s c h e i n e n des A n t i c h r i s t i m XIX.

u n d X X . Passus, w o m i t der H ö h e p u n k t

u n d zugleich Abschluß

des

gesamten W e r k e s erreicht w i r d . 3. M i t diesen a p o k a l y p t i s c h e n u n d eschatologischen Szenen ist die Beschreib u n g des v o l l e n d e t e n W e l t z e i t a l t e r s aufs engste v e r k n ü p f t , die L a n g l a n d i n d e n I I I . Passus eingearbeitet hat. 4. S c h l i e ß l i c h w i r d z u e r ö r t e r n sein, o b der T i t e l h e l d Piers P l o w m a n m i t d e n V o r s t e l l u n g e n v o n e i n e m »papa angelicus« o d e r e i n e m » d u x n o v u s « i n V e r b i n d u n g gebracht w e r d e n k a n n .

I D e r A u f t r i t t v o n L a d y M e e d w i r d w i e f o l g t beschrieben: I loked on my left half as the Lady me taughte, A n d was war o f a womman wonderliche yclothed — Purfiled w i t h pelure, the pureste on erthe, Ycorouned w i t h a coroune, the K y n g hath noon bettre. Fetisliche hire fyngres were fretted w i t h gold wyr, A n d thereon rede rubies as rede as any gleede, A n d diamaundes o f derrest pris and double manere saphires, Orientals and ewages envenymes to destroye. Hire robe was ful riche, of reed scarlet engreyned, W i t h ribanes o f reed gold and o f riche stones (II, 7 - 1 6 ) . 1 3 quantum mihi occurrit, intellegi: aut quia in ultimis annis mille istra res agitur, id est sexto annorum miliario tamquam sexto die, cuius nunc spatia posteriora uoluuntur, secuturo deinde sabbato, quod non habet uesperam, requie scilicet sanctorum, quae non habet finem, [...] aut certe mille annos pro annis ómnibus huius saeculi posuit, ut perfecto numero notaretur ipsa temporis plenitudo«. Zitiert nach: Sancti Aurelii Augustini Episcopi De Civitate Dei, Vol. I I , L i b r i X I I I I X X I I , Prag, Wien, Leipzig 1900, S. 441. 13 »Ich sah nach links, wie es mich die Dame (Holy Church) hieß,/Und nahm eine Frau wahr, wunderbar gekleidet,/Ihr Gewand war mit Pelz besetzt, dem schönsten auf Erden, / Sie trug eine Krone — der K ö n i g hat keine bessere. / Hübsch waren ihre Finger geschmückt mit goldenen Ringen,/Und rote Rubinen darauf, so rot wie Feuersglut,/Und kostbaren Diamanten, und Saphiren zweierlei Art, / Tiefblau und aquamarin, die vor Giften

238

W i l l i Erzgräber

Auffallend ist an dieser Beschreibung die Wiederholung des Adjektivs »red«, das noch gestützt wird durch das Wort »scarlet«; dazu kommen als sprachlich markante Signale »gold« und »riche«. Diese Beschreibung dürfte beim mittelalterlichen Hörer Erinnerungen an Kap. 17 der Offenbarung des Johannes wachgerufen haben, wo es heißt: 3 U n d er brachte mich in die Wüste, i m Geist. U n d ich sah ein Weib auf einem scharlachroten Tier sitzen, das über und über mit gotteslästerlichen Namen bedeckt war und sieben Köpfe und und zehn Hörner hatte. 4 U n d das Weib war in Purpur und Scharlach gekleidet und mit Gold, Edelsteinen und Perlen reich geschmückt; und es hielt einen goldenen Becher in seiner Hand, der mit Greueln und Schmutz seiner Hurerei gefüllt war. 5 U n d auf seiner Stirn war ein Name geschrieben, ein Geheimnis, Babylon, die Große, die Mutter der Huren und Greuel der Erde.

Gemeinsam ist beiden Frauengestalten die »welthafte Pracht«, »die pompöse Aufmachung«, »die mächtig aufgetakelte Erscheinung« 1 4 ; weiterhin die verführerische Wirkung, die jeweils von der Frauengestalt ausgeht. Die babylonische Hure verführt zum Götzendienst; bei Langland konstatiert Will, der Träumer, daß sein Herz beim Anblick des Reichtums dieser Frau entzückt war. »Hire array me ravysshed, swich richesse saugh I nevere« (II, 17). 1 5 Hinter beiden Gestalten wird schließlich die Macht des Teufels sichtbar. Über das Tier, auf dem die babylonische Hure erscheint, bemerkt A . Vögtle: »Nach gut apokalyptischer Geschichtsdeutung wurde >der Drache< = der Teufel i n Kapitel 13 als der hintergründige Auftraggeber und die inspirierende Kraft >des Tieres< und >des falschen Propheten< dargestellt«. 16 Bei der Frauengestalt Langlands werden Aspekte des Charakters in der Manier der allegorischen Dichtung durch die Genealogie vermittelt: »For Fals was hire fader that hath a fikel tonge« (II, 25). 1 7 Falschheit und Verrat sind ihr väterlicherseits als Erbe mitgegeben. Dennoch ist ein wesentlicher Unterschied nicht zu übersehen. I n der Apokalypse repräsentiert die Hure von Babylon »die Hauptstadt des heidnischen schützen. / I h r Gewand war kostbar, scharlachrot / M i t goldenen Bändern und teuren Steinen verziert«. 14 Die zitierten Formulierungen von A n t o n Vögtle beziehen sich in seiner Analyse der Apokalypsen auf die babylonische Hure; sie lassen sich unverändert auch auf Lady Meed in Langlands Piers P low man beziehen. Vgl. A n t o n Vögtle, Das Buch mit den sieben Siegeln: Die Offenbarung des Johannes in Auswahl gedeutet, Freiburg, Basel, Wien, zweite durchgesehene Auflage 1985, S. 128. 15 »Ihre äußere Erscheinung versetzte mich in Entzückung, solchen Reichtum sah ich niemals«. 16

A. Vögtle, Das Buch mit den sieben Siegeln, S. 149.

17

»Denn Falschheit war ihr Vater, der eine betrügerische Zunge hat«.

Apokalypse und Antichrist

239

Römerreiches«, das »endzeitliche Gegenstück zu Babylon«. 1 8 Bei Langland ist die Frauengestalt, deren Name von Lady Holychurch mit »Lady Meed« angegeben wird, der Inbegriff aller Macht und zugleich der Versuchung, die den irdischen Gütern, den »bona temporalia« inhärent ist. »Meed« kann >LohnBestechung< bedeuten. 19 Lady Meed symbolisiert dazu alle Reichtümer dieser Erde und die Gefahren, die durch das Streben nach dem Besitz dieser Reichtümer ausgelöst werden. Ausdrücklich weist Lady Holychurch bei der >interpretatio< dieser Gestalt daraufhin, daß durch sie jegliches geordnete Gemeinschaftsleben in Frage gestellt werden könne. Das Streben nach »meed« verleitet zum Betrug, zur Unwahrheit. Die beiden Passus I I und I I I verdeutlichen die Reichweite der Macht, die Lady Meed ausübt; sie korrumpiert die Gerichtshöfe ebenso wie die Umgebung des Königs und des Papstes. Während in der Apokalypse die Babylonische Hure die Versuchungen der politischen Macht (des »imperium Romanum«) darstellt, repräsentiert Lady Meed die Gefahren der ökonomischen Macht. Und weiterhin: Während die Überwindung und endgültige Vernichtung Babylons (Offb. 18,1-24) das Werk des göttlichen Strafgerichts ist, vertritt Langland i m ersten Teil seiner Dichtung, der »Visio de Petro Plouhman«, die Auffassung, daß die Gefahren, die von der ökonomischen Macht ausgehen, gebändigt werden können. Lady Meed ist i m B-Text — zunächst — kein eindeutig diabolisches Wesen, sondern eine doppeldeutige Gestalt. Diese Doppeldeutigkeit wird bereits dadurch angedeutet, daß sie (wiederum i m BText) als ein K i n d von Fals (Falschheit) und Amendes (Besserung, Genugtuung, Buße) vorgestellt wird. So erklärt es sich, daß das Wort »mede« einen negativen und positiven Bedeutungsbereich umfaßt, daß es >BestechungPiers Plowmanc Eine Interpretation Textes , Heidelberg 1957, S. 56.

des C-

240

W i l l i Erzgräber

ihrer Grundstruktur auch von Langland i m 14. Jahrhundert nicht angetastet wurde. Das Scheitern des Piers Plowman, der sich nicht scheut, auch den Hunger herbeizurufen 20 , um seine Vorstellungen von gerechter Ordnung durchzusetzen, bedeutet aber auch: Lady Meed, die Verkörperung weltlich-ökonomischer Macht, die nach dem Vorbild der Babylonischen Hure beschrieben wird, triumphiert letztlich über die Kräfte, die bei Langland durch den König, den Inbegriff der weltlichen Ordnung, sowie durch seine beiden Ratgeber, die allegorischen Personifikationen der Vernunft und des Gewissens, repräsentiert werden. Eine Bestätigung dieser Deutung liefert der C-Text insofern, als dort »mede« den ungerechten Lohn, »mercede« den gerechten L o h n bezeichnet. 21 Wenn ich weiterhin aus philologischen Gründen der Gleichsetzung von »mede« und »coveityse« nicht folgen kann, die T. P. Dunning vorschlug 2 2 , möchte ich dieser Forschungsrichtung insofern zustimmen, als ich in »mede« den Anreiz, den Ursprung für die »cupiditas« und damit für den Konflikt zwischen Weltliebe und Gottesliebe, zwischen »cupiditas« und »Caritas« sehe, wie ihn Augustinus beschrieben hat. V o n dieser augustinischen Sicht her w i r d auch die These verständlich, die John A. Yunck in seiner Monographie The Lineage of Lady Meed (1963) aufstellte: »As the enemy and opposite of Holy Church, Lady Meed is the social embodiment of Antichrist«. 2 3 I m Sinne der typologischen Denkweise ließe sich Lady Meed auch als der Typus bezeichnen, der in der Apokalypse i m Antitypus des Antichrist seine >Erfüllung< findet.

II Die überlegte Kompositionsweise Langlands, an der Kritiker gelegentlich zweifelten, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß der Auftritt Lady Meeds in den ersten Teil, die »Visio«, gerückt wurde, i n der sich Langland i n vielen Einzelheiten dem Alten Testament verpflichtet zeigt, während das Erscheinen des Antichrist den Abschluß der gesamten Dichtung i m 4. Teil, der »Vita de Dobest«, bildet. Zur Gesamtstruktur des Werkes sei an dieser Stelle nur soviel bemerkt: Die »Visio« gibt einen panoramahaften Überblick über die englische Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, über die Mißstände in der geistlichen und weltlichen Hierarchie und über den Versuch des Piers Plowman, eine A r t »reformatio« und »regeneratio« dieser Gesellschaft zu bewirken. Das Scheitern dieses Versuches führt zur 20

V g l . Piers Plowman, B-Text, V I , 169-330.

21

Vgl. Piers Plowman, C-Text, IV, 292 ff.

22

Vgl. W. Erzgräber, William Langlands >Piers Plowman1 am kyng w i t h croune the comune to rule, A n d H o l y K i r k e and clergie fro cursed men to defende. A n d i f me lakketh to lyve by, the lawe wole I take it Ther I may hastilokest it have — for I am heed o f lawe: For ye ben but membres and I above alle< ( X I X , 469-473). 2 9

Zunächst scheint es, als ob sich dieser K ö n i g seiner wahren Aufgaben bewußt sei; er weiß, daß es ihm obliegt, das V o l k zu regieren und die Kirche zu schützen. Dann aber zeigt sich, daß er nicht durchdrungen ist v o m Geist der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe. I n sophistischer Beweisführung versucht er nachzuweisen, daß er als Oberhaupt des Staates über Recht und Gesetz nach Gutdünken 26

»die ganze Ernte der Wahrheit/Vernichtete er und kehrte die Wurzel nach oben«.

27

»er schnitt die Wahrheit ab«.

28

»Gott bess're den Papst«.

29 »Ich bin der K ö n i g mit der Krone, ich habe das V o l k zu regieren, / U n d die Hl. Kirche und die Geistlichkeit gegen Verräter zu verteidigen./Wenn ich nicht genug zum Leben habe, nehme ich, was ich brauche, mit Hilfe des Gesetzes, / W o ich es am schnellsten finde, denn ich bin das Oberhaupt des Gesetzes, / I h r seid die Glieder, und ich stehe über euch allen«.

16*

244

W i l l i Erzgräber

verfügen dürfe: die Rolle des Königs wird hier, wo sich neuzeitlicher Absolutismus schon zu Wort meldet, weit skeptischer beurteilt als in der »Visio«; die Auswirkungen des Antichrist sind i m Verhalten des Königs spürbar. Er heuchelt und täuscht wie der Antichrist selber; er zerstört damit eine der Kardinaltugenden, auf die Langland zu Beginn seiner Dichtung das Herrschertum festlegte: den Geist der Gerechtigkeit, »Spiritus Iusticie« ( X I X , 477). Daß Langland das gesamte Gebäude der Kardinaltugenden i m Vorfeld des Erscheinens des Antichrist bedroht sieht, läßt sich an weiteren Episoden des X I X . und X X . Passus ablesen. 30 Bei der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen dem Christentum und dem Antichrist i m X X . Passus setzt Langland auf der gleichen elementaren Stufe an, auf der die vorausgehende Begegnung des Träumers mit Nede lag. Nachdem Pride, die »superbia«, als Bannerträger des Antichrist erschienen ist, läßt Langland die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur als ein Heilmittel erscheinen, das die Selbstsicherheit des Menschen erschüttert und ihn aus seiner hochmütigen Verblendung erwachen läßt. Aber: so wenig wie der Hunger in der »Visio« eine dauerhafte gesellschaftliche Ordnung zu erzeugen vermag, so wenig vermögen Natur und T o d den Menschen v o m verführerischen Glanz des Irdischen abzubringen. Sobald das Glück, »Fortune«, den Menschen schmeichelt (vgl. X X , 110), erwachen Wollust, Trägheit, Unzucht, Geiz und Ungerechtigkeit. Nachdem Langland den K a m p f des Antichrist und seiner Anhänger gegen die Menschheit in Bildern von barocker Wucht beschrieben hat und auch der Träumer an sich das Schwinden der Lebenskraft erfahren hat, wird er von der Natur selbst auf die dem Menschen gesetzten Ziele verwiesen: »wend into Unitee« ( X X , 204) und »Lerne to love« ( X X , 208). Es ist kennzeichnend für Langlands eindringliche Analyse seiner Zeit, daß er abschließend von den Gefahren berichtet, die den Bestand der einen Kirche von innen bedrohen; sie gehen seines Erachtens von den Bettelmönchen aus, weil sie nach seinem Urteil durch die Lehre von der Gütergemeinschaft als dem erstrebenswerten gesellschaftlichen Zustand die revolutionären Stimmungen i m V o l k schürten. N u r wenn Unite, die Gemeinschaft aller Gläubigen allen heuchlerischen Praktiken zu widerstehen vermag, wenn scharf zwischen Christ und Antichrist geschieden und die Gabe der Unterscheidung durch nichts getrübt wird, besteht nach Langland die Chance, auch den feinen Waffen des Antichrist widerstehen zu können. Die Voraussetzung ist, daß Conscience, die Stimme des Gewissens, wach bleibt. Wenn Langlands Dichtung mit einem Ruf des Gewissens nach Piers Plowman endet, dann zeigt dies, welchen hohen Wert er dieser inneren Instanz i m K a m p f der Menschheit mit dem Antichrist zuweist. 30 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Robert Adams, »The Nature o f Need in Piers Plowman X X « , Traditio 34 (1978), S. 273-301.

Apokalypse und Antichrist

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III Der Schluß wirft die Frage auf, welche Bedeutung w i r dem Protagonisten Piers Plowman insgesamt zumessen wollen und wie sich die Beschreibung des vollendeten Weltzustandes, die i m I I I . Passus gegeben wird, i n die Geschichtskonzeption einfügt, die i m X X . Passus ihren Ausdruck findet, zumal in diesem letzten Passus nirgendwo von einer ersten und zweiten Auferstehung gesprochen wird und auch nirgendwo i m Schlußpassus ein Hinweis auf ein Gottesreich von 1000jähriger Dauer gegeben wird. Die zentrale Stelle in der Beschreibung des vollendeten Weltzustandes i m I I I . Passus lautet: Ac kynde love shal come yit and Conscience togideres A n d make o f lawe a laborer; swich love shal arise A n d swich pees among the peple and a parfit truthe That Jewes shul wene in hire w i t , and wexen wonder glade, That Moyses or Messie be come into this erthe, A n d have wonder in hire hertes that men beth so trewe (III,299-304). 3 1

I n diesen Versen sind alle wesentlichen Kriterien des vollendeten Weltzustandes genannt: Langland spricht von einem Reich der Liebe, der Gerechtigkeit (die der Liebe dient) und des Friedens, einem Reich, das die Juden glauben läßt, ihr Messias sei gekommen. Die vorausgehenden und die folgenden Verse ergänzen dieses Bild; gleich einem Prediger nimmt Langland Grundthemen immer wieder auf, variiert sie und bringt seine Darlegungen mit Vulgata-Zitaten in Verbindung, um seinen Ausführungen Beweiskraft zu geben. Wenn er von der gerechten Ordnung spricht, bezieht er sich auf »oon Cristene kyng« ( I I I , 289) 3 2 , gemeint ist Christus selbst; weiterhin führt er aus, daß weder K ö n i g noch Adel, Verwalter oder Bürgermeister den gemeinen Mann übermäßig belasten werden; d.h.: Knechtschaft und Ausbeutung sind aufgehoben. Es w i r d auch keine Gerichte und Gerichtshöfe mehr geben; Truth (die göttliche Wahrheit) entscheidet, ob Gnade gewährt werden kann oder nicht (vgl. 111,319). Schließlich wird auch Mede keinen Einfluß mehr auf die Rechtsprechung haben. Bemerkenswert ist die Stufung von »lawe« und »love«: »Love« ist in der »Visio« zunächst die Liebe, die der Mensch von Natur aus Gott schuldet; diese Liebe w i r d vom Gesetz (dem Dekalog) gefordert. I n dem vollendeten Weltzustand aber wird das 31 »Aber natürliche Liebe und Gewissen werden zusammen k o m m e n / U n d aus dem Gesetz einen Arbeiter machen. Solche Liebe w i r d entstehen / U n d solcher Friede zwischen den Menschen und vollkommene Wahrheit, / Daß die Juden froh sein werden in dem Glauben, / Moses oder der Messias sei auf die Erde gekommen, / U n d sie werden erstaunt sein, daß die Menschen so wahrhaftig sind«. 32

»ein christlicher König«.

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W i l l i Erzgräber

Handeln der Menschen durch eine spontan geleistete Liebe bestimmt, der das Gesetz als Diener unterstellt ist. Das Leben i m Zeichen der Liebe ist zugleich ein Leben in Frieden. Alttestamentliche Prophezeiungen aus Jesaja 2,4 finden damit ihre Erfüllung. Jüdische Hoffnungen auf den Messias, mit dem eine Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens anbricht, und christliche Vorstellungen, wie sie sich bei Joachim von Fiore und den Spiritualen finden, konvergieren. Sieht man in Joachim von Fiore den prophetischen Verkünder eines vollendeten Weltzustandes, der in Liebe, Gerechtigkeit und Frieden gründet, so scheint es berechtigt zu sein, eine Beziehung zwischen ihm und Langland herzustellen. I n diesem Sinne bemerkt H . H . Glunz in seinem Buch Literarästhetik des europäischen Mittelalters (1937): »Langland bewegten die sozialen und sittlichen Nöte des späten 14. Jahrhunderts in England, und als Rettung aus den Mißständen schlug er den Spiritualismus der Joachimschen Schule v o r « . 3 3 Ähnliche Urteile finden sich auch i n dem eingangs genannten Buch von Bloomfield, der vor allem auf die revolutionäre Interpretation der Heilsgeschichte eingeht, die sich bei Joachim findet. 3 4 M i t Karl L ö w i t h läßt sich die Geschichtsauffassung Joachims i n ihren markanten Grundzügen wie folgt zusammenfassen: Das allgemeine Schema v o n Joachims scharfsinniger Deutung fußt auf der Lehre v o n der Trinität. Drei verschiedene Ordnungen entfalten sich in drei verschiedenen Epochen, in denen die drei Personen der Trinität nacheinander offenbar werden. Die erste ist die Ordnung des Vaters, die zweite die des Sohnes, die dritte die des Heiligen Geistes. Die letztere beginnt geradezu jetzt (d.h. gegen Ende des 12. Jahrhunderts) und entwickelt sich zur vollkommenen »Freiheit« des »Geistes« hin. Die Juden waren Sklaven unter dem Gesetz des Vaters; die Christen waren schon geistig und frei, nämlich i m Vergleich zur Gesetzesmoral der ersten Epoche; in der dritten werden sich die prophetischen Worte des heiligen Paulus erfüllen, daß unser Wissen und Weissagen jetzt nur Stückwerk ist, »wenn aber kommen w i r d das Vollkommene, so w i r d das Stückwerk aufhören«, und schon könne man die Enthüllung des Geistes in seiner ganzen Freiheit und Fülle wahrnehmen. 3 5

Da Langland den zweiten großen Teil seiner Dichtung, die »Vita de Dowel, Dobet, and Dobest«, deutlich auf das Trinitätsschema bezieht, da Dowel i m Zeichen des Schöpfergottes und des Dekalogs steht, Dobet i n der Osterszene gipfelt und Dobest von der Ausgießung des H l . Geistes spricht, folgerten einige Interpreten, daß das dreigliedrige Strukturschema Langlands v o m dreigliedrigen Geschichtsschema Joachims her zu erklären und zu deuten sei. 3 6 Dieser These ist 33 H . H . Glunz, Literarästhetik 1937, S. 533. 34 35

des europäischen Mittelalters , Bochum — Langendreer

M . W . Bloomfield, Piers Plowman as a Fourteenth-Century

Apocalypse , S. 65-67.

K a r l L ö w i t h , Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Geschichtsphilosophie , Stuttgart 3 1953, S. 138-39.

Voraussetzungen

der

Apokalypse und Antichrist

247

jedoch entgegenzuhalten: Während bei Joachim nach dem Urteil der meisten Kritiker nicht von einer christozentrischen Sicht der Geschichte gesprochen werden kann — »die Vollkommenheit ist noch nicht gegenwärtig, gar seit Christus gegenwärtig, aber doch ist sie zu erwarten und zu erreichen« 37 — , hält Langland an der Überzeugung fest, daß die Inkarnation und der Opfertod Christi die Mitte der Geschichte bilden. Die Unterschiede zwischen Langland und Joachim von Fiore treten insbesondere dann deutlich hervor, wenn man sich auf die für das dritte Zeitalter spezifischen Züge konzentriert. V o n Joachim von Fiore sagt beispielsweise H . Grundmann, daß er die Kraft hatte, »an eine Vervollkommnung in zeitlichirdischer Zukunft zu glauben, i n der w i r nicht mehr per speculum i n aenigmate sehen, unser Wissen nicht mehr Stückwerk ist und unsere Beziehungen zu Gott nicht mehr der Vermittlung von Priestertum, Sakramenten und Schriften bedarf«. 38 I n dem von Langland visionär geschauten Weltzustand ist der Klerus nach wie vor notwendig, nur daß er sich nicht mehr weltlichen Angelegenheiten widmen, sondern ausschließlich nach der Erfüllung geistlicher Pflichten streben wird. Ebenso findet sich in Langlands Werk nirgendwo eine Belegstelle dafür, daß er i m Hinblick auf den künftigen Zustand die Sakramente für überflüssig erklärte. Und obgleich er in der »Visio« von der Hoffnung spricht, daß Piers Plowman die Menschheit der Vollendung entgegenführen könne, wagt er nicht, ähnlich wie Joachim von Fiore an eine völlige innere Verwandlung der Menschheit hin zu einem mönchisch-kontemplativen Leben zu glauben. E i n weiterer Unterschied zwischen Langland und Joachim von Fiore besteht darin, daß sich bei Fiore die Vollendung der Menschheit i m Zeichen des H l . Geistes vollzieht, während Langland i n seiner Beschreibung des vollendeten Zustandes in keiner Weise die Wirksamkeit des Hl. Geistes erwähnt. So besteht auch keinerlei Zusammenhang zwischen der »intelligentia spiritualis«, die nach Joachim »die rechte Deutung der beiden Testamente ermöglicht, die selbst aber auch das Ziel und die Frucht der richtigen Deutung ist, ja der ideale Endzustand des geschichtlichen Gesamtprozesses überhaupt« 39 , und der Vernunft ( = resoun) bei Langland; dieser me. Begriff ist eine Entsprechung zum scholastischen Vernunftbegriff, wie er etwa bei Thomas von A q u i n oder Duns Scotus anzutreffen ist. 36

V g l . z.B. H . W . Wells, »The Philosophy o f Piers Plowman«, PMLA 53 (1938), S. 339-49, sowie Robert W. Frank, Jr., Piers Plowman and the Scheme of Salvation , N e w Haven, L o n d o n 1957. 37 Herbert Grundmann, Studien über Joachim von Flor is, Leipzig, Berlin 1927, S. 103 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 32). 38 H . Grundmann, Studien über foachim von Floris , S. 117. Vgl. dazu auch W. Erzgräber, William Langlands >Piers Plowman< , S. 72-76. 39

H . Grundmann, Studien über Joachim von Floris , S. 61.

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W i l l i Erzgräber

Für die Bewertung der Darstellung des vollendeten Weltzustandes i m I I I . Passus ist von Bedeutung, daß die allegorische Gestalt Conscience, der diese Stelle in den M u n d gelegt ist, ihre Ausführungen mit der Feststellung beginnt: »>I, Conscience, knowe this, for Kynde W i t it me taughte1 knowe hym as kyndely as clerc doth hise bokes. Conscience and Kynde W i t kenned me to his place A n d diden me suren hym si[ththen] to serven hym for evere, Bothe to sowe and to sette the while I swynke myghte< (V, 538-41). 4 3

Piers wäre bereit, die Menschen zu dem von ihnen gesuchten Ziel zu führen, aber dieses Unternehmen scheitert. Auch die zeitweilige Unterstützung durch den Hunger, der die Menschen zwingt, so zu arbeiten, wie es Piers von ihnen als freiwillige Leistung erwartet, bringt nur eine temporäre Lösung. Piers gelingt es 40

»Ich, Gewissen, weiß dies, denn die natürliche Vernunft lehrte es mich«.

41

Vgl. R. Adams, »Some Versions o f Apocalypse«, S. 214 ff.

42

V g l . dazu insbesondere Margaret E. Goldsmith, The Figure of Piers Plowman, Cambridge 1981 (Piers Plowman Studies, 2). 43 »Ich kenne ihn (Treuthe) so gut wie ein Gelehrter seine Bücher, / Gewissen und die natürliche Vernunft zeigten mir den Weg zu seiner W o h n u n g , / U n d sie ließen mich schwören, daß ich i h m stets dienen werde, / Säen und pflügen, solange ich arbeiten kann«.

Apokalypse und Antichrist

249

n i c h t , aus der » v i t a activa« u n d der i h r z u g e o r d n e t e n F r ö m m i g k e i t s h a l t u n g einen besseren W e l t z u s t a n d h e r v o r z u b r i n g e n . E r l ö s t sich deshalb v o n d e r »vita activa« u n d l e b t i n » D o w e l « e i n L e b e n ganz i m Z e i c h e n der »pacient p o u e r t e « (cf. h i e r z u a u c h C, X V I , 138). I n der » V i s i o de D o b e t « erscheint Piers als eine G e s t a l t , deren B l i c k tiefer d r i n g t als d e r j e n i g e der G e l e h r t e n , d e r P h i l o s o p h e n w i e T h e o l o g e n . »Clerkes have no knowyng,< quod he, >but by Werkes and by wordes. Ac Piers the Plowman parceyveth moore depper What is the wille, and wherfore that many wight suffreth< ( X V , 198-200). 44 Piers ist z u g l e i c h der W ä c h t e r des Baumes der C h a r i t y , u n d schließlich ist er die V e r k ö r p e r u n g der h u m a n a n a t u r a , die Jesus als R ü s t u n g anlegte, als er d e n W e g z u r K r e u z i g u n g antrat ( v g l . X V I I I , 2 2 - 2 3 ) . I n der abschließenden » V i s i o de D o b e s t « ist Piers das O b e r h a u p t der c h r i s t l i c h e n K i r c h e . D a r a u s f o l g t : Piers repräsentiert die V o l l e n d u n g der L e b e n s f o r m , v o n der der j e w e i l i g e T e i l der D i c h t u n g h a n d e l t . 4 5 D e r Schluß w e i s t Piers P l o w m a n eine besondere F u n k t i o n zu. D a s G e w i s s e n g e l o b t , e i n P i l g e r z u w e r d e n u n d Piers z u suchen, der allein die »superbia« zerstören u n d e i n geordnetes Z u s a m m e n l e b e n der M e n s c h e n b e w i r k e n k ö n n e . D a n a c h r u f t Conscience u m G n a d e . D e u t e t dieser Schluß d a r a u f h i n , daß Piers e i n E n g e l p a p s t , der >dux novusTherfore by colour ne by clergie knowe shaltow hym nevere, Neither thorugh wordes ne Werkes, but thorugh w i l oone, A n d that knoweth no clerk ne creature on erthe But Piers the Plowman — Petrus, id est, Cbristusi ( X V , 209 - 1 2 ) . «

Wenn wir diese Formel auf die Deutung des Schlusses übertragen, dann ergibt sich folgende Konzeption: I n den letzten Versen spielt Langland auf das ChristusK ö n i g t u m an, das mit der Parusie beginnt; es ist nach Burdachs Worten »die Übergangsherrschaft Christi vor der endgültigen All-Einherrschaft Gottes«. 5 0 Diese Deutung basiert auf 1. K o r . 15,23 - 28 und Offb. 20,4 ff. Diese Lehre von »a final flowering of the Church« 5 1 wurde i m Mittelalter auch von einem Theologen wie Heinrich von Langenstein vertreten, der sich deutlich von Fiore distanzierte. Heinrich von Langenstein bemerkt in seinem Tractatus... contra quendam Eremitam die ultimis temporibus vaticinantem nomine Theolophorum: N o n videtur ergo quod futura sit aliqua notabilis Ecclesiae reformatio usque post interfectionem manifestam Antichristi per Jesus Christum D o m i n u m nostrum. Tunc enim Judaei et ceteri infideles . . . convertentur ad Deum . . . Hoc ergo modo videtur Ecclesia post tribulationem per Antichristum valde in omni populo et gente dilatanda ac in fide,. charitate, spe, in omni virtute et sanctitate perficienda. 52

Es ist nicht zu bestreiten, daß Langland sich an solchen Vorstellungen orientierte, als er den Hinweis auf Piers in die Schlußzeilen seiner Dichtung einarbeitete, die von den Ereignissen handeln, die nach dem K a m p f mit dem Antichrist anzusetzen wären. Damit komme ich bei der Interpretation des Titelhelden wie des vollendeten Weltzustandes zum gleichen Ergebnis: Langland berührt sich mit Fiore, insofern er in Grundzügen chiliastische Vorstellungen in sein Werk 48

K . Burdach, Der Dichter des Ackermann aus Böhmen und seine Zeit, S. 326.

49

»Deshalb wirst du ihn (Charity) niemals an seinem Äußeren noch m i t Hilfe der theologischen Gelehrsamkeit erkennen, / Weder durch Worte noch durch Werke, sondern allein durch den W i l l e n . / U n d den erkennt kein Theologe noch irgendein Geschöpf auf Erden, / Ausgenommen Peter der Pflüger, Petrus i d est Christus«. 50

K . Burdach, Der Dichter des Ackermann aus Böhmen und seine Zeit, S. 325.

51

R. Adams, »Some Versions o f Apocalpyse«, S. 220.

52

Zitiert nach: Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages, Oxford 1969, S. 427.

Apokalypse und Antichrist

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einfließen läßt; aber dies sind stets Elemente, die er mit einer breiten religiösen Bewegung i m Spätmittelalter gemein hat, die auf einen >reformator< i m ursprünglichen Sinne des Wortes hoffte. Langland unterscheidet sich von Fiore in den Einzelheiten, die dessen Chiliasmus ein persönliches Gepräge geben. Langland lebt i m wesentlichen aus Vorstellungen, die Gemeingut der mittelalterlichen religiösen Tradition waren. Seine Genialität liegt in der geistlich disziplinierten und zugleich bildhaften Umsetzung überlieferter, augustinisch geprägter Glaubensvorstellungen i n eine Dichtung, die durch ihre visionäre Kraft ausgezeichnet ist.

Eschatologisches Denken und die Entstehung russischer Staatsauffassungen i m 17. Jahrhundert V o n Hans Rothe Eschatalogische Vorstellungen werden, wenn es um russische Geistesart geht, oft mit Dostojevskij verbunden. Bei dem Übersetzungsschritt in andere Sprachen ist dabei zu beobachten, daß Dostojevskijs Gedanken unstaatlich werden, in einem nur gedachten Raum zwar als typisch russische gelten, aber doch als allgemein genommen werden, so daß sie, von jedem besonderen nationalen Wurzelboden abgelöst, ihre Gültigkeit überall gleich behaupten zu können scheinen. Jedenfalls zeigen das die deutschen Dostojevskij-Moden nach den beiden Kriegen, ebenso die französische zwischen ihnen. Tatsächlich waren die Gedanken Dostojevskijs mit unerhörter Kraft und Konsequenz durch die vierzig Jahre seines Schriftstellerlebens auf den Punkt der Letztgültigkeit der Heilstat Christi für das Leben jedes Menschen und jedes Volkes gerichtet, und wirklich hat dabei niemand in neuerer Zeit wie er den Atheismus und das Auftreten des Antichrist als unabdingbar notwendige Bedingung für diese Heilstat erkannt und dargestellt. Sein großer Verführungsroman Besy (Die Dämonen, 1872) lehrt es hinlänglich, mehr noch aber sein letzter und größter Roman Brat*ja Karama^ovy (Die Brüder Karama^ov, 1878). Beide Romane zeigen nun allerdings auch Elemente eines Staatsdenkens, die von den eschatologischen Vorstellungen, die sie ja ganz deutlich enthalten, gar nicht abzulösen sind. Das ist i n der wissenschaftlichen und publizistischen Dostojevskij-Literatur wenig beachtet worden. E i n guter Beleg scheint die Anlage der Brüder Karama^ov zu sein: gedacht als erster Teil einer Pentalogie, die i m ganzen ein Bildungsroman hätte werden sollen, ist dieser einzig ausgeführte Teil thematisch eigentlich ein Doppelroman, nämlich ein Justizroman, in dem das damals neu eingeführte System der öffentlichen Rechtsfindung unter dem Gesichtspunkt religiöser Letztgültigkeit geprüft wird, zugleich aber auch ein religiöser Roman, in dem mystische Gottfindung unter Bedingungen rationaler, religionsfreier Gerechtigkeitsideen analysiert wird. Dostojevskij selber wies i m Anfang des berühmten Kapitels >Der G r o ß i n q u i s i t o r 1 auf die vorpetrinische Zeit als Quelle dieser Ideen Verbindung 1 F. M . Dostojevskij, Brat ja Karama^ovy, Teil I I I , Buch 5, Kapitel 5: Velikij inkvi%itor in: Poln.Sobr. Soc. v 30 tt., Bd. X I V L . 1976 S. 225,6f: »U nas v Moskve, v dopetrovskuju

y

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Hans Rothe

hin, und wirklich finden wir eben i n jener Zeit juristisches und mystisches Denken in einer seltsamen Verbindung, deren große, bis heute unverminderte, Wirkungskraft in ihren eschatologischen Grundgedanken besteht.

I Rußland mußte sich i m 16. und 17. Jahrhundert nolens volens modernisieren. Dazu gehörte auch, die Vorstellungen v o m eigenen Staat zu überdenken und ggf. neu zu bilden. Indessen kann von einer eigentlichen Staatslehre, wie sie damals in England, Italien, den Niederlanden aufgestellt wurde, also einer Lehre über A r t und Verfassung des Staates, keine Rede sein. Dafür waren die Elemente des Juristischen und des Theologischen weder i n sich hinreichend durchgebildet, noch gegeneinander deutlich genug auseinander getreten, ganz zu schweigen davon, daß es weder eine Philosophie noch überhaupt Bildungsinstitute gab. Es gab aber eine Vorstellung von der Rolle, die der eigene Staat spielen sollte. I n dem Maße, in dem Moskau v o m bloßen >Sammeln des russischen Landes< — das war das Stichwort des 15. Jahrhunderts — zu einer Umwandlung in eine imperialistische Großmacht überging, tauchten Gedanken über seinen Platz i m Ablauf der Weltgeschichte auf. Noch bevor es also eine klare Vorstellung über sich selbst und, dem entsprechend, eine ausgebildete Binnenstruktur gab, denkt man über seine Rolle in der Weltgeschichte nach, d.h. zwangsläufig über die Rolle für Andere, die man in diesem Falle weder kannte, noch kennen wollte. Es ist dies eine typische Erscheinung aus dem Vorfeld Europas, die typisch russisch insofern nicht genannt werden darf, als die meisten Elemente der jetzt entstehenden Vorstellung gar nicht russischen Ursprungs waren. Was nun, in einem etwa zwei Jahrhunderte währenden Prozeß, geschah, ist eine merkwürdige Mischung aus Zufall und Konsequenz, in der in Rußland selbst nur Eines: das Politische mit aller Deutlichkeit ins Licht der Geschichte trat. Es ist dies die Begabung, etwas, was gedanklich und politisch in Anspruch genommen wurde, nie wieder aufzugeben, auch nicht nach katastrophalen Mißerfolgen, wie denen in der Regierungszeit Ivans IV. des Schrecklichen (15341586), und auch nicht i n den größten Wirren, wie in den Jahrzehnten danach. Hierbei sind von vornherein zwei Momente fest ins Auge zu fassen. Das eine ist die unendlich langsame Ausbildung von Gedanken, zögernd, tastend, oft wie zufällig und oft abseits von den staatlichen Zentren, manchmal mit langdauernden Unterbrechungen und auch Rückschritten. Es kann nicht eindringlich genug davor gewarnt werden, solche Pausen, Unterbrechungen oder Rückbildungen starinu, takze po£ti dramatifceskie predstavlenija, iz Vetchogo zaveta osobenno, toze soverSalis' po vremenam C - - ) U nas po monastyrjam zanimalis > toze perevodami, spisyvaniem i daze soöineniem takich poem.«

Eschatologisches Denken und russische Staatsauffassungen i m 17. Jhdt.

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für Wende oder Abkehr zu halten. Das macht es aber erforderlich, sowohl — geographisch — sehr weiträumige Zusammenhänge zu erfassen, i n unserem Falle z. B. die Geistesgeschichte Polens mit einzubeziehen, als auch — phänotypisch — die innere Verbindung von mehr konventikelhaften Auseinandersetzungen und weltgeschichtlichen Weichenstellungen zu bedenken. Diese Verbindung mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich anmuten; aber sie ist doch kein Sonderfall in der Geschichte. Sodann ist zwischen mehr oder weniger offiziellen Staatsvorstellungen und solchen, die sich oppositionelle Männer oder Gruppen machten, zu unterscheiden. Geht man nur weit genug zurück, so zeigt sich allerdings oft, daß beide aus derselben Quelle stammen und, zwar in scharfer Spannung, dennoch aber in einem inneren Verhältnis von offizieller Literatur und gesunkenem Kulturgut zueinander stehen.

II Die Staatsvorstellungen nun, die sich seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts i m Moskauer Rußland herausgebildet hatten und nach dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts ausgebildet vorlagen, enthalten vor allem drei Elemente: 1) den Gedanken der >translatio imperiiMoskau das dritte Rombrasses< und Titelblattentwürfen sowie die Beziehungen zur Triumphbogen-Architektur recht deutlich demonstrieren läßt. Der das Buch abrundende Aufsatz über »The Victorian Emblematic Revival« war mir selbst begreiflicherweise besonders wichtig, weil Höltgen hier jene symbolistische Tradition weiterverfolgt, deren Existenz bei der Untersuchung der präraphaelitischen Typologien und solch charakteristischer Formen der Symbolik wie der Blumenemblematik nachgewiesen werden konnte. 4 So gibt er beispielsweise in bezug auf Rev. George Spencer Cautley (1807-80) durch detaillierte biographische Studien eine anschauliche Vorstellung vom gesellschaftlichen, religiösen und kunstgewerblichen Gesamtkonzept der Zeit. Er erwähnt nicht nur Cautleys 180 Stücke umfassende Emblembuchsammlung und dessen eigenes Werk, A Century of Emblems (1878), sondern auch den Umstand, daß die Kinder Spencer Comptons, des Second Marquis of Northampton, deren Tutor Cautley war, zu dem Emblembuch ihres Lehrers und dann später zum präraphaelitischen Kunstgewerbe beitrugen. Diese detaillierten biographisch4 Z u r Blumenemblematik: Gisela Hönnighausen, Christina Rossetti als viktorianische Dichterin , Diss. (Bonn 1969) sowie »Emblematic Tendencies in the Works o f Christina Rossetti«, Victorian Poetry, 10 (1972), 1-15. Eine englische Neuauflage meiner Habilitationsschrift Präraphaeliten und Fin de Siècle (München: Fink, 1971) erscheint demnächst unter dem Titel The Symbolist Tradition in English Literature bei Cambridge University Press.

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historischen Studien wie die zu dem Sammler Sir William Stirling Maxwell, zu Green (Shakespeare and the Emblem Writers, 1870) und Mrs. Gatty (Book of Emblems, 1872) verlieren sich nie i m skurril Antiquarischen, weil der Verfasser sie von der Basis der neueren Präraphaelitismus-Forschung betreibt und weiß, daß das Wiederaufleben der Emblemliteratur i m Zusammenhang mit dem Sakramentalismus der Oxford Movement wie mit der typologischen Kunst der Präraphaeliten zu sehen ist. I n Aspects of the Emblem hat Höltgen zur Erforschung der Restauration der Gattung wie zum tieferen Verständnis ihrer Blütezeit einen gleichermaßen überzeugenden Beitrag geleistet. Lothar Hönnighausen, Bonn

Sprechend nach Worten suchen: Probleme der philosophischen, dichterischen und religiösen Sprache der Gegenwart, hg. Klaus Mönig. München und Zürich: Schnell & Steiner, 1984, 156 S. Der vorliegende Band enthält fünf Beiträge einer Tagung der Katholischen Akademie Freiburg i m Juni 1983, welche sich einem gerade in unserem Jahrhundert immer deutlicher gewordenen Problem widmete. Wie der Einleitungssatz es ausdrückt: »Die Klage über den Verfall unserer Sprachkultur ist in den letzten Jahren immer vielstimmiger geworden, und viele Anzeichen sprechen für ihre Berechtigung.« (S. 7) Vielbenutzte Sprache droht zur Sinnarmut zu verschleißen, doch gleichzeitig versuchen Sprachbewußte durch Innovationen verschiedenster A r t neue Aussagemöglichkeiten zu schaffen und bisher vielleicht Ungesagtes sagbar zu machen. Die Bereiche, die vor allem mit dieser Verschleißgefahr zu kämpfen haben, die aber andererseits der Sprache auch neue Ansätze bieten können, sind vor allem Philosophie, Dichtung und Religion. Entsprechend kommen hier Vertreter der betreffenden Disziplinen zu W o r t : der Philosoph Rainer Marten, der Romanist Wolfgang Raible, der Anglist W i l l i Erzgräber, der Germanist Hugo Steger und der Theologe und Übersetzungstheoretiker Rudolf Kassühlke. Martens Beitrag »Wie Philosophie am Worte hängt« geht zunächst auf sieben Differenzen i m Gebrauch von Worten ein, die er jedoch als bloße »Querelen« abtut. Ob ein Wort etwa ein- oder mehrdeutig gebraucht w i r d oder ob man es, diachronisch gesehen, in seinem ursprünglichen Sinn benutzt — Marten desavouiert all diese Fragen in einer saloppen Sprache, die allein schon seine Distanz zu ihnen belegt. Linguisten und auch andere Sprachphilosophen mögen und werden diese Dinge sehr w o h l interessieren, doch Martens sehr persönlichen Standpunkt muß man hier wohl akzeptieren. Als seine wirklichen Sorgen bezeichnet er eine ganz andere A r t von Sprachverzerrung: Vernunft kann zum eigentlichen Wesen des Menschen erklärt, die sinnliche Komponente damit diskriminiert werden; oder aber, der eigene Denkansatz oder auch die eigene Sprache können verabsolutiert werden, was wiederum Andersdenkende und andere Sprecher abwertet und relativiert. Der Gebrauch einzelner Worte ist angesichts des Wandels in der Gesellschaft sehr wohl zu überprüfen — wie

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Marten es ausführlich am Beispiel des Wortes »Gegenwart« darstellt — , doch letztlich geht es dem Verfasser offensichtlich nicht um das Wort, sondern um Kommunikationsfahigkeit und um vorurteilsfreie Offenheit i m Gebrauch von Worten. Der für diesen Beitrag gewählte Titel relativiert sich so gesehen eigentlich selbst. Wolfgang Raible befaßt sich in »Der Dichter und seine Sprache. Bemerkungen zur französischen Literatur« mit einem völlig anderen Thema. Eine längere einleitende Betrachtung des Spracherwerbs bei Kindern macht deutlich, daß Sprache durchaus etwas originelles und plastisches sein kann. Eben diese Plastizität anhand von französischen Dichtern des 20. Jahrhunderts darzustellen ist Raibles Absicht. Die beiden hier geschilderten Möglichkeiten sind die völlige Zerstörung der Syntax und so die Befreiung der Worte bis hin zur Selbständigkeit — so etwa i m Dadaismus — oder aber, dem entgegengesetzt und etwa bei Raymond Roussel verwirklicht, die Ausnutzung der Mehrdeutigkeiten, die gerade in der französischen Sprache durch deren Hang zur Homophonie gegeben sind. Beiden Richtungen gemeinsam ist ein Mißtrauen gegenüber der alten Sprache und die Forderung nach neuen Wegen der Sinnschaffung — ein Postulat, das freilich nur begrenzten Erfolg hatte. Raibles gut lesbarer Beitrag illustriert die geschilderten dichterischen Versuche in vorbildlicher Weise, doch hätten einige zusätzliche Textbeispiele das hier Gesagte w o h l noch klarer werden lassen. Generell ist es die Lyrik, w o die Dichter die Grenzen ihrer sprachlichen Möglichkeiten am deutlichsten spüren und wo auch am ehesten die Möglichkeit zu sprachlicher Innovation besteht. W i l l i Erzgräber befaßt sich in »Die Sprache meditativer Dichtung: T. S. Eliots Four Quartets « mit Eliots Quartetten, vor allem mit »East Coker«. I n der Tradition meditativer Dichtung und deutlich beeinflußt von Gedankengängen der Mystik versucht Eliot hier, transzendentalreligiöse Zusammenhänge auszudrücken, die den Bereich der Alltagssprache überschreiten. I m Gegensatz etwa zu Raible bietet Erzgräber keinen größeren literaturhistorischen Überblick, sondern spürt dem Problem der Dichtersprache i n Form einer Detailinterpretation nach — eine Verschiedenheit der Ansätze, die den vorliegenden Band durchaus bereichert. Über die Four Quartets existiert bereits eine Fülle von Literatur; Erzgräbers Beitrag verwertet das vorliegende Material in beeindruckender Weise, wobei er vor allem auf das Element des Transzendenten und schwer Auszudrückenden in den komplexen Gedicht »East Coker« eingeht. Die Interpretation bleibt nahe am Text, ist überzeugend und in jeder Stufe nachvollziehbar. Auch der Abdruck von »East Coker« am Ende des Beitrags ist zu begrüßen. Sind Raibles und Erzgräbers Beiträge eher literaturwissenschaftlich orientiert, so stellt sich Hugo Steger mit »Probleme der religiösen Sprache und des religiösen Sprechens« ein linguistisch-pragmatisches Thema. Stegers These ist, daß für jede Sprache parallel nebeneinander verschiedene Kommunikationsbereiche existieren (Gruppensprachen u. ä.), die jeweils unterschiedliche semantische Probleme haben und dem Sprachbenutzer unterschiedliche Verständnisschwierigkeiten bieten. Grundprobleme der religiösen Sprache sind etwa ihre zwangsläufige Neigung zu Metaphorik und Symbolik — da sich das Transzendente

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Buchbesprechungen

durch die Alltagssprache eben nicht ausdrücken läßt — sowie der Hang zum Gebrauch von Anachronismen. Verzichtet man auf die altertümliche Klangfarbung, geht jedoch ein wesentliches Distinktionsmerkmal verloren, das die religiöse Sprache in Unterscheidung zur Alltagssprache markiert. Steger argumentiert gegen eine Nivellierung der Spracheigenarten und für den Neuaufbau einer »christlichen Kommunikationsgemeinschaft« (S. 130). Man kann natürlich hier auch anderer Meinung sein — symptomatisch wäre etwa die Streitfrage u m die Aktualisierung von Bibelübersetzungen — , doch prinzipiell vertritt Steger seine These sehr engagiert und überzeugend. Der Übergang von Stegers Beitrag zu Rudolf Kassühlkes »Die Sprache der Bibelübersetzung zwischen Tradition und Mission« ist nahezu nahtlos, doch argumentiert Kassühlke i m Gegensatz zu Steger eher für eine vorsichtige Aktualisierung. Er schildert Schwierigkeiten des Übersetzens, wie sie vor allem zwischen den Sprachen ganz verschiedener Kulturkreise — etwa i m Rahmen der Mission — auftreten. Eine Abkehr v o m wörtlichen Bibeltext ist hier oft unumgänglich: Der Übersetzer wird zum Neu-Schöpfer. Darauf gibt der Verfasser konkrete Beispiele, wie seine Arbeitsgruppe verschiedene stilistisch unterschiedliche Partien der Bibel neu ins Deutsche übersetzte. V o n allen Beiträgen des Bandes ist dies der am stärksten praxisorientierte, der mehr beschreibt als eine bestimmte These vertritt. Doch gerade in der Vielfalt der Ansätze liegt zweifellos auch ein Vorzug dieses Sammelbandes. Das in der Einleitung geschilderte Problem von Sprachverfall und Verlust von Sprach-Sinn, von der Schwierigkeit, sich i n der Sprache adäquat auszudrücken, liegt letztlich allen Beiträgen des Bandes zugrunde, seien die Ansätze noch so unterschiedlich. Der interdisziplinäre Ansatz ist zweifellos sehr fruchtbar, doch hätte man sich, vielleicht i n Form eines ausführlicheren Vorworts oder von Zwischenkommentaren, eine stärkere Zusammenfassung der fünf recht heterogenen Beiträge wünschen können. Vieles zum Thema bleibt ungesagt: So wird hier etwa die historische Dimension, die Tatsache, daß Unzufriedenheit mit der Unzulänglichkeit von Sprache beileibe nichts Neues ist, bewußt ausgeklammert. Es ist nicht die Absicht des Bandes, das Problem i n allen Aspekten zu illustrieren oder gar zu lösen, noch könnte er dies auch nur annähernd leisten. Dieses Buch muß zwangsläufig eines von vielen zu diesem Thema bleiben, doch sowohl v o m Ansatz als auch von der Qualität der Inhalte her kann es sicher zum Muster für weitere werden. Werner

Oberhöger, Eichstätt

NAMEN- U N D WERKREGISTER Von Kurt Müller (Die Zahlen bedeuten die Seiten, kursive Zahlen die HauptsteUen, A =Anmerkung. Das Register wählt aus.) Albrecht von Johansdorf 24 Alighieri, Dante 343 — Vita Nova 343 Adryane, Philippe 59 — Mémoires d'un prisonnier d'état 59 Anselm von Havelberg 225-231 — Dialogi 225,227-232 Arden, John 360-361 Aristoteles 73 Arndt, Emst Moritz 35 Atlilied 340 Augustinus 236 — De Civitate Dei 236

— Herr Puntila und sein Knecht Matti 153 — Im Dickicht der Städte 149 Brentano, Clemens 36, 39 Bulwer-Lytton, Edward 337 Burke, Edmund 328 — A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful 328 Burton, Robert 363 — The Anatomy of Melancholy 363 Byron, George Gordon, Lord 56 — Don Juan 56 A. 25 Cautley, George Spencer 363 La Chastelaine de Vergy 59 Chanson de Roland 322 Chomsky, Noam 335 Christopher, John 300 Claudel, Paul 87 Comfort, Alex 222 Congreve, William 338 Cortés, Donoso 220

Bakunin, Michail 270 Balde,Jakob, 35, 36, 347-352 Ballard, J. G. 300 Barbusse, Henri 93 — Le feu 93 Barthes, Roland 335 Beckett, Samuel 195, 296 — Endgame 296 — Waitingfor Godot 296 D'Arcy, Margaretta 360-361 Beckford, William 328 Dickens, Charles 330-331, 337 — Vathek 328 Beils, Clive 359 — David Copperfield 331 Beowulf 9-22 — Great Expectations 331 Berkeley, George 358 — Little Dorrit 331 Böhme, Jakob 270 — Martin Chuzzlewit 331 Borges, Jorge Luis 297 A. 26 — Oliver Twist 331 — Our Mutual Friend 331 — »Los teölogos« 297 A. 26 Brecht, Bertolt 139-157, 361 — The Pickwick Papers 330 Dickinson, Emily 324 - 325 — Die Ausnahme und die Regel 152 — »My life closed twice before its close« — Die Dreigroschenoper 149 — Der gute Mensch von Sezuan 139,149 -155 324-325

368

Namen- und Werkregister

Dieudonné, Emmanuel Augustin 59 — Mémorial de Sainte-Hélène 59 Donne, John 363 — »A Valediction: Forbidding Mourning« 363 Dostojewski, Fjodor 253, 269, 270, 331 — Die Brüder Karamazow 253 — Die Dämonen 253 Dryden, John 337 — The Conquest of Granada 337 Duns Scotus 247 Eberstein, Christian Franz Karl von 38 Eco, Umberto 307-322 — Il nome délia rosa 308, 310-314 — PostiUe a >11 nome délia rosa< 308 Edgar David 361 — Rent 361 Eich, Günter 193 EichendorfF, Joseph von 352-357 Eliot George [Mary Ann Evans] 337 Eliot, T.S. 291, 292, 329, 331, 365 — »East Coker« 365 — The Four Quartets 365 — »The Hollow Men« 291 Etherege, Sir George 338 Farquhar, George 338 Faulkner, William 159-187 — Absalom, Absalom! 159-187 — The Sound and the Fury 185 Finnsburglied 340 Forster, E. M. 359 — Aspects of the Novel 359 Frayn, Michael 296 — Against Entropy 296 Freisinger Denkmäler 341 Fry, Roger 359 — Vision and Design 359 Gide, André 89 Giesel, Innozenz 268 — Sinopsis 268 Goethe, Johann Wolfgang von 63, 65, 66,

222 — Italienische Reise 63 Gogol, Nikolaj 270 Golding, William 300-305 — Darkness Visible 300-305

Görres, Joseph 220 — Die Aspekten an der Zeitenwende 220 Gottfried von Straßburg 32 Grettissaga 13 Grillparzer, Franz 63-84 — »Der arme Spielmann« 63-84 Haydocke, Richard 363 Heinrich von Veldecke 342 — Eneide 342 Hendry, J. F. 222 Herder, Johann Gottfried von 35, 36 — Terpsichore 35, 36 Hildebrandslied 340 Hildesheimer, Wolfgang 189-217 — »Die Ästhetik der Collage« 191 — Endlich alkin 191 — »The End of Fiction« 190 — »Engfuhrung« 191 — »Kafka« 207 — »Die letzten Zettel« 191 — Liebbse Legenden 206, 207, 207 A. 64,

208, 216

— Marbot 189,196,206,208,209,210,211, 212, 213, 214, 216, 217 — Mary Stuart 196 — Masante 191,194,194 A. 20,204,216,217 — Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes 190,191, 215, 216,217 — Mozart 192, 198-205, 206, 208f., 210,

211, 212

— Paradies der falschen Vögel 207, 208, 211, 217 — Tynsetm, 194 A. 20 — »Vergeblich Aufzeichnungen« 194, 204 — »Die Verspätung« 205 Honorius von Autun 362 Horvath, Ödön von 139-157 — Geschichten aus dem Wiener Wald 139, 140-144, 145, 147,149, 151, 154,155 — Mord in der Mohrengasse 139, 143, 144-145, 146,147 — Die Unbekannte von der Sonne 139, 143,145-149., 156 Hugo, Herman 362 — Pia Desideria Humbolt, Wilhelm von 355 Ionesco, Eugène 155-157 — Les Rhinocéros 155 -157 Iselin, Isaak 35-42

Namen- und Werkregister Javorskij, Stefan 269 Jean Paul [Johann Paul Friedrich Richter] 355 Joachim von Fiore 231, 236, 247-251 Johnson, Samuel 206 — The Lives of the English Poets 206 Joyce, James 195, 214, 333 Jung, C. G. 307 Kafka, Franz 195, 206, 331 Keane, John B. 361 — Sive 361 Keats, John 325 Kingsley, Charles 337 Knight, Damon 298 A. 28 — »Not With a Bang« 298 A. 28 Kleist, Heinrich 208 A. 66 — »Robert Guiskard, Herzog der Normänner« 208 A. 66 Kolb, Annette 91, 100 A. 64 Krizonic, Juraj 267 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch, Fürst 220 Kubin, Alfred 307 — Die andere Seite 307 Kurbskij, Andrej Michajlovic 256,257,258 Kyrillos 260, 266

— Betrachtungen eines Unpolitischen 276, 277, 279, 280, 282, 285 — Der Betrogene 273 — Die Buddenbrooks 274 — Doktor Faustus 220-221, 279, 280-289 — Die Entstehung des Doktor Faustus 308 — Für das neue Deutschland 278 — Gedanken im Kriege 275 — Gladius Dei 221 — Goethe und Tolstoi 279 —Joseph in Ägypten 271-274 — Der kleine Herr Friedemann 273 — Königliche Hoheit 274 — Mario und der Zauberer 274 — Der Tod in Venedig 273, 274, 275 — Tonio Kröger 274 — Von deutscher Republik 279 — Der Zauberberg 275, 276, 277 Maturin, Charles 327 — Melmoth the Wanderer 327 McTaggart, J. M. E. 358 Mörike, Eduard 355 Moorcock, Michael 298 — The English Assassin 298 Moore, G.E. 358 — Principia Ethica 358 — »The Refutation of Idealism« 358

Lagerlöf, Selma 220 Landauer, Gustav 221 Langland William 231-251 294 Nabokov, Vladimir 323 — Piers Plowman 231-251 294 — Ada 323 Lawrence , D. H. 333-334 Nietzsche, Friedrich 215, 273, 274, 287 — The Plumed Serpent 334 — The Rainbow 334 Orwell, George 328-329 — Sons and Lovers 333 — Animal Farm 328 Leibniz, Gottfried Wilhelm 36,39,40,42, — Down and Out in Paris and London 328 267 — Homage to Catabnia 328 — Essais de Théodicée 39 — Nineteen Eighty-Four 328-329 Le Moyne, Pierre 344-347 — The Road to Wigan Pier 228 — Les Hymnes de la Sagesse divine et de L'Amour divin : Le Discours de la poésie Paracelsus 270 344-347 Pater, Walter 337 Lévi-Strauss, Claude 335 Pellico, Silvio 59 Lewis, Gregory 328 — Le mie prigioni 59 — The Monk 328 Pinter, Harold 331 Lewis, Wyndham 329 Plato 73 Luther, Martin 219 Plautus 139 Mann, Thomas 271-289 Poe, Edgar Allen 323-325 — Eureka 323 — Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krutt 275 — »Tamerlane« 323-325

370

Namen- und Werkregister

Pound, Ezra 329-330 — The Cantos 329 — »La Fraisne« 329 — »A Girl« 329 — Hugh Selwyn Mauberly 329 — »Masks« 329 — »Paracelsus in Excelsis« 329 — »Salve O Pontifex« 329 — »The Tree« 329 Proust, Marcel 195 Pynchon, Thomas 296, 298 — »Entropy« 296, 298 Quarles, Francis 362 — Emblemes 362 Raabe, Wilhelm 331 RadclifFe, Ann 328 — The Mysteries of Udolpho 328 Reade, Charles 337 Rice, Eimer 155-156 — Street Scene 155 -156 Reinmar 25, 26 Rolland, Romain 85-137 — Au-dessus de la mêlée 91 —Jean Christophe 91 — Das Leben Beethovens 90 Rousseau, Jean-Jaques 56 —fulie, ou la Nouvelle Héloïse 56, 59 Roussel, Raymond 365 Russell, Bertrand 358 — Principia Mathematica 358 Salinger, J.D. 331 Sallet, Friedrich von 355 Samjatin, Jewgenij 295 — Wir 295 Saussure, Ferdinand de 335 Schickele, René 85-137 — Die Grenze 95 — Hans im Schnakenloch 92 — »Der Papst« 91 Schiller, Friedrich 56 A. 25 Schlegel, Friedrich 36 Schneider, Reinhold 220 — Der Antichrist 220 Schönbom, Johann Philipp von 39 Schopenhauer, Arthur 73 Scott, Sir Walter 337

Shakespeare, William 56 A. 25, 323-325 — All's WeU That Ends Weü 324 — King Lear 324 — The Merchant of Venice 324 Shaw, George Bernard 331 Shelly, Mary 328 — Frankenstein 328 Sheppard, Sam 361 — Melodrama Play 361 Shorthouse, Joseph Henry 337 Silvio, Enea 263 Skarga, Piotr 261, 262, 263, 264, 268 Smotryckyj, Gerasimos 259 Spee, Friedrich von 35-42 — Güldenes Tugendbuch 35-42 — Trutz-Nachtigall 36, 42 Stendhal [Henri Beyle] 43-62 — Armance 43, 44 f., 48, 56, 61 — La Chartreuse de Parme 43,44,48,52,55, 56, 58, 59 — Lamiel 43, 47, 58 — Luden Leuwen 43, 44, 47, 48, 56, 58 — Le Rose et le Vert 43, 49 — Le Rouge et le Noir 43,44,48,49,51, 56, 56 A. 25, 58, 59 — Vie de Henry Brulard 46, 60 Stevenson, Robert Louis 337 Stoppard, Tom 331 Stryjkowski, Matthias 268 Swedenborg, Emanuel 270 Terenz 139 Thackeray, William 337 Thomas von Aquin 247 Thomas, Dylan 222 Tolkien, J. R. R. 336 — The Hobbit 336 — The Lord of the Rings 336 — The Silmariüion 336 Tolstoi, Leo 90 Treece, Henry 22 Twain, Mark [Samuel Langhorne Clemens] 330 — The Adventures of Huckleberry Finn 330 — The Adventures of Tom Sawyer 330 Vanbrugh, Sir John 338 Vargas Llosa, Mario 307-322 — La guerra del fin del mundo 310,315-322

Namen- und Werkregister Walpole, Horace 327, 328 — The Castle of Otranto 327 Waither von der Vogelweide 26, 27, 33 Wells, H.G. 299 — »The Surs« 299 — The War in the Air 299 — The War of the Worlds 299 Wessenburg, Ignaz Heinrich von 36 Wilde, Oscar 331, 334-335 Wolfram von Eschenbach 342 — Parzival 342 Woolf, Virginia 326-327, 333, 359 — Between the Acts 327

— Mrs. DaUoway 327 — To the Lighthouse 327, 359 — The Voyage Out 111 Wycherley, William 338 Wyclif, John 234 — De Civili Dominio 234 Wyndham, John 300 Zizanij, Stefan 260, 261, 263, 264, 265 Zola, Emile 221, 307 f., 309 — Les Rougon-Macquart 307 f.