Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 6: Ökologie und Gesellschaftskritik 3924245878, 9783924245870

In "Ökologie und Gesellschaftskritik", dem abschließenden Band der "Nachgelassenen Schriften", tritt

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German Pages 176 [178] Year 2009

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung. Rückblick und Ausblick eines kreativen kritischen Theoretikers (Iring Fetscher)
Abbildungen
Philosophie des Scheiterns. Karl Jaspers’ Werk (1933)
Gedanken zu einer »negativen Metaphysik«
Thesen über wissenschaftliche Philosophie
Deutsche Philosophie zwischen 1871 und 1933
Zur Autoritätslehre bei Luther, Calvin und Hobbes
Wissenschaft und Phänomenologie
Sozialistischer Humanismus?
Die Verantwortung der Wissenschaft
Zur Aktualität der Dialektik bei Hegel und Marx
Kinder des Prometheus. Thesen zu Technik und Gesellschaft
Ökologie und Gesellschaftskritik
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Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 6: Ökologie und Gesellschaftskritik
 3924245878, 9783924245870

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H erbert M arcuse N achge la ssen e Schriften

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H erbert M arcuse N a ch ge la ssen e Schriften Band 6: Ö kologie und G esellschaftskritik H erausgegeben und m it einem V orw ort von Peter-Erwin Jansen Einleitung von Iring Fetscher Aus dem A m erikanischen und Französischen von Thom as Laugstien

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Die Nachgelassenen Schriften von Herbert Marcuse werden mit freundlicher Genehmigung von Peter Marcuse, dem Nachlaß Verwalter, veröffentlicht.

© 2009 zu Klampen Verlag •Rose 21 •D -31832 Springe e-mail: [email protected] •www.zuklampen.de Satz: thielenVerlagsbüro, Hannover Druck: CPI - Clausen & Bosse, Leck Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten; Hamburg © Titelfoto: Isolde Ohlbaum ISBN 978-3-924245-87-0

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Inhalt

V o rw o rt von Peter-Erwin Jansen

7

Einleitung. R ückblick und Ausblick eines kreativen kritischen Theoretikers von Iring Fetscher

14

A bbildungen

34

Philosophie d es S cheiterns Karl Jaspers’ W e rk (1933)

39

G ed an ken zu ein er »negativen M etaphysik«

50

T h esen üb er w issenschaftliche Philosophie

54

D eutsche Philosophie zw ischen 1871 und 1 9 3 3

58

Z u r A utoritätslehre bei Luther, Calvin und H o b b es

75

W issen sch aft und Phänom enologie

104

Sozialistischer H um anism us?

118

Die V eran tw o rtu n g d e r W issenschaft

130

Z u r Aktualität d e r D ialektik bei H egel und M arx

137

Kinder des P rom etheus Thesen zu Technik und Gesellschaft

157

Ö kologie und G esellschaftskritik

165

V o rw o rt

Herbert Marcuse war im Jahre 1919, kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs, in Berlin in einem Soldatenrat politisch aktiv. Schon bald aber entschloss sich der Einundzwanzigjährige, an der Humboldt Universität das Studium der Litera­ turwissenschaften aufzunehmen. Nach den ersten vier Semestern in Berlin setz­ te er in Freiburg sein Studium fort und belegte zusätzlich Seminare in Philoso­ phie und Politischer Ökonomie, hörte Vorlesungen bei Edmund Husserl (18591938) und dem Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch (1865-1923). Er beendete sein Studium 1922 mit seiner Dissertation Der deutsche Künstler­ roman.1 Marcuse kehrte anschließend nach Berlin zurück, wo er und seine künftige Frau Sophie Wertheim (1901 -1951) - sie hatten sich während des Studiums in Freiburg kennen gelernt - eine kleine Wohnung in Charlottenburg mieteten. Sie heirateten 1924. Drei Jahre später wurde Sohn Peter geboren. In Berlin verhalt Vater Carl Marcuse (1864-1948), ein wohlhabender Kaufmann, seinem Sohn zu einer Teilhaberschaft an dem kleinen Verlagshaus und Antiquariat von S. Mar­ tin Fraenkel. Dort arbeitete Marcuse bis zum Jahre 1928, als er erneut nach Frei­ burg ging. Auf die Frage, warum er nach Freiburg zurückgekehrt sei, antwortete er in einem Interview: »Ich las Sein und Zeit als es 1927 erschien. Nachdem ich es gelesen hatte, beschloss ich nach Freiburg zurückzukehren - wo ich 1922 mei­ nen Doktor in Philosophie erworben habe - in der Absicht, mit Heidegger zu arbeiten.«2 Die große Zahl der Veröffentlichungen Marcuses zwischen 1928 und 1933 in verschiedenen philosophischen Fachzeitschriften3 zeigen, dass Marcuse ein klassisches Philosophiestudium absolvierte. Er schrieb über Dilthey, Freyer, Descartes, Kant, Dewey, Marx, Hegel, Lukäcs, Heidegger4. Alfred Schmidt hat als einer der Ersten darauf hingewiesen, dass Marcuse in diesen Jahren aus einer philosophischen Perspektive heraus damit beginnt, »sich die Marxsche Lehre im

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Horizont von Heideggers Sein und Zeit« anzueignen und Marcuses originären philosophischen Überlegungen zu wenig Anerkennung zuteil wurde. Für Marcuse war einer der entscheidenden Kritikpunkte an Heideggers abstrakter ontologischer Seins-Analyse, dass aus dieser »schwermütigen Philo­ sophie« (Horkheimer) keinerlei konkrete Konsequenzen für die aktuelle gesell­ schaftliche Situation abzuleiten seien. Nach Marcuse beanspruchen Heideggers Begriffe der Geworfenheit und des Nicht-Authentischen, unhinterfragbare Uni­ versalien zu sein, und proklamieren für jede historische Situation einen nicht wei­ ter zu begründenden Gültigkeitsanspruch. Damit würden, so Marcuses Interpre­ tation, spezifische Probleme menschlicher Existenz und gesellschaftlicher Ver­ änderungen ausgeschlossen, die aber in der Phase nach dem Ersten Weltkrieg alle sozialen und individuellen Bereiche massiv beeinflussten. Marcuse war der Überzeugung, dass eine Synthese von Heideggers phä­ nomenologischem Existentialismus mit der Marx-Hegelschen Dialektik und dem historischen Materialismus zu einer »konkreten Philosophie« führen könne, die in der Lage sei, die gesellschaftlichen Konflikte und die soziale Existenz des Menschen zu erklären. Es ist der Beginn einer produktiven Debatte, die dann unter dem Titel Existentialistische Marx-Interpretation5 bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein Diskussionen in Frankreich, besonders bei Jean Paul Sar­ tre und bei den jugoslawischen Praxis-Philosophen, beeinflussen sollte. Den Philosophen Marcuse schätzten Horkheimer, Löwenthal und Fromm, der sich nach dem Zerwürfnis mit Horkheimer und besonders Adorno in den sechziger und siebziger Jahren weiter theoretisch mit Marcuse auseinandersetz­ te. Fromm und Marcuse kannten sich bereits aus Genfer Zeiten. Ihre unterschied­ lichen Deutungen der Freudschen Triebtheorie führten nach dem Erscheinen von Triebstruktur und Gesellschaft6 zu öffentlichen, scharfen Kontroversen. Die Kon­ takte rissen dennoch nicht ab und sie begegneten einander mit Respekt. Rainer Funk, der das Erich-Fromm-Archiv leitet, veröffentlichte einige Interpretationen zu dem äußerst komplizierten Verhältnis zwischen dem Institutskreis und Fromm. »Herbert Marcuse war der einzige Institutskollege, mit dem sich Erich Fromm nach der Trennung vom Institut für Sozialforschung noch (kontrovers) auseinan­ dersetzte.«7 Mit dem Eintritt in das Institut für Sozialforschung Ende Januar 1933 orien­ tierte Marcuse seine philosophischen Überlegungen an den Forschungsaufga­ ben der Kritischen Theorie, wie sie von Max Horkheimer, der 1931 das Amt des Institutsdirektors übernommen hatte, in seiner programmatischen Veröffentli­ chung Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Insti­ tuts für Sozialforschung8 (1931) Umrissen worden waren. Horkheimer gesteht der »schwermütigen Philosophie« Heideggers allenfalls die Befriedigung einer

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»Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung« zu und kommt mit seinen Überle­ gungen zum Aufgabenfeld der Sozialphilosophie sehr nahe an die Themen, die auch Marcuse zu dieser Zeit beschäftigten. Es gehe, so Horkheimer, »um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderun­ gen auf den Kulturgebieten im engeren Sinne.«9 Wenige Jahre später wurde Marcuse damit beauftragt, einen programmatischen Aufsatz zu verfassen, der neben Horkheimers Traditionelle und kritische Theorie10 (1937) die wissen­ schaftlichen Arbeitsbereiche des Instituts präzisierte. In Philosophie und kritische Theorie (1937) schreibt Marcuse: »Die Auseinandersetzung der kritischen Theo­ rie mit der Philosophie ist an dem Wahrheitsgehalt der philosophischen Begrif­ fe und Probleme interessiert: sie setzt voraus, dass die Wahrheit wirklich in ihnen enthalten ist.«11 Die Kritik der Kritischen Theorie an den »Kategorien der bürger­ lichen Philosophie«, könne aber, so Marcuse, auf die Substanz der Begriffe wie Vernunft, Wahrheit, Geist, Bewusstsein, Moralität und Freiheit nicht verzichten. Aufgabe der Kritischen Theorie wird es also sein, diese auf die konkreten Mög­ lichkeiten einer gesellschaftlichen Veränderung im Sinne freiheitlich agierender Individuen hin zu entwickeln. »Was ist der Mensch?« fragt Kant, und Marcuse antwortet, damit sei nicht die »Beschreibung des je vorhandenen Menschenwe­ sens« gemeint, sondern »der Aufweis der je vorhandenen menschlichen Mög­ lichkeiten«12 und die Kritik an den jeweiligen gesellschaftlichen Blockaden. Die enge Anlehnung Marcuses an die Forschungsvorhaben des Instituts und die kooperative Zusammenarbeit mit den Institutsmitarbeitern aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gewann in den ersten Jahren im New Yorker Exil neue Konturen. An der Columbia Universität fanden die Emi­ granten zwischen 1934 und 1941 eine neue Wirkungsstätte. Neben der Fertig­ stellung der Studien über Autorität und Familie (1936), den ersten konzeptionel­ len Entwürfen zur Untersuchung über den Autoritären Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil (1949/50) führten die Wissenschaftler des Instituts an der New Yorker Universität Vorlesungsreihen zu Autoritätsproblemen, zu autoritären Staatsideen, zur gesellschaftspolitischen Entwicklung in Europa und zur Entste­ hung des nationalsozialistischen Systems durch. Marcuse war es, der in diesen Vorlesungsreihen den ideengeschichtlichen Teil übernahm und über die wich­ tigsten philosophischen Theorien und Konflikte zwischen Individuum und staat­ licher Herrschaft seit der Reformation referierte. Eine dieser Vorlesungen von Marcuse ist in diesem abschließenden Band der nachgelassenen Schriften erst­ mals veröffentlicht.13 Immer wieder kehrte Marcuse in kritischer Absicht zur Philosophie Hegels und besonders zu Hegels Dialektik zurück. In Reason and Revolution (1941)

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unternimmt erden Versuch, einerVereinnahmung der Philosophie Hegels durch konservative und rechte Ideologieproduzenten entgegenzuwirken. »In unserer Zeit verlangt die Entstehung des Faschismus gebieterisch nach einer neuen Interpretation der Hegelschen Philosophie. Wir hoffen, dass die hier gebotene Analyse nachweisen wird, dass Hegels Grundbegriffe denjenigen Tendenzen feindselig gegenüberstehen, die zu faschistischer Theorie und Praxis geführt haben.«14 Ihn interessieren die bewusstseinsphilosophischen Implikationen, ver­ mittelt durch den Begriff der Arbeit, wie sie Hegel im Kapitel über Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes (1806) exemplifiziert hat. Auch gegen die mechanistischen Simplifizierungen orthodox marxistisch-leninistischer Seite, die Hegels Philosophie als schnödes idealistisches Beiwerk abqualifizierten, bezieht Marcuse Stellung. Angeregt durch die gesellschaftlichen Reformversuche in den kommunistischen Staaten, die seit der ungarischen Revolution von 1956 in unre­ gelmäßigen Zyklen wiederkehrten, durch die philosophischen Debatten inner­ halb der Praxis-Gruppe im ehemaligen Jugoslawien und den Austausch mit Dis­ sidenten aus der ehemaligen Tschechoslowakei setzt sich Marcuse in den 1960er Jahren erneut mit dem Dialektikkonzept Hegels und den Verzerrungen der Marxistischen Theorie tiefgründig auseinander. Gerade Vernunft und Revo­ lution wurde in diesen Jahren in osteuropäischen Ländern sehr viel Beachtung geschenkt. »Erlauben Sie mir noch zu bemerken, dass Ihr Buch Reason and Revolution in Prag fleißig studiert wird,«15 schreibt beispielsweise der marxisti­ sche Philosoph Karel Kosik 1963 an Herbert Marcuse. Als Herbert Marcuse im Sommer 1979 zu den Frankfurter Römerbergge­ sprächen eingeladen wurde, und seine Thesen zu Technik und Gesellschaft referierte, diskutiert er ein weiteres Motiv seiner kritischen Philosophie unter dem Aspekt aktueller Krisenerfahrungen. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt vor sei­ nem Tod am 29. Juli 1979 in Starnberg. Die kritische Analyse des dialektischen Spannungsverhältnisses zwischen technologischem und gesellschaftlichem Fortschritt, der Herrschaft des Men­ schen über die Natur und eine irrationale Verwendung technischer Rationalität zieht sich wie ein roter Faden durch die Schriften des Autors. Während des Natio­ nalsozialismus stellt sich Marcuse immer wieder die Frage, inwieweit die tech­ nische Rationalisierung alle Lebensbereiche erfasst hat, selbst das moralische Bewusstsein in Technologie transformiert wurde.16 In Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie17 weist er auf die Gefahren und Potentialitäten technologischer Entwicklung hin. »Die Technik selbst kann Autoritarismus för­ dern wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Überfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit wie deren Abschaffung. Der Nationalsozialismus ist ein schlagen­ des Beispiel dafür, wie ein hochrationalisiertes und durchmechanisiertes Wirt-

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schaftssystem von höchster Produktivität im Interesse von totalitärer Unterdrükkung und verlängertem Mangel funktionieren kann. In der Tat ist das Dritte Reich eine Art Technokratie.«18 Diese Rationalität, diese »instrumentelle Vernunft« (Max Horkheimer), hat den aufklärerischen Charakter der Vernunftphilosophie im Sinne emanzipatorischer Freiheit eingebüßt. Sie »begründet Urteilsformen und begünstigt Einstellungen, die die Menschen befähigen, das Diktat des Apparats zu akzeptieren oder zu verinnerlichen.«19 Es sind gerade diese engen Bezüge zu originär philosophischen Themen, die während der Studentenbewegung annähernd in Vergessenheit geraten sind. Es wäre eine dankenswerte Aufgabe, die Arbeiten Marcuses, die in diesen Jah­ ren verfasst wurden, von ihrem zeitbezogenen Überschuss zu befreien und sie auf ihren philosophischen Kern hin neu zu überprüfen.20 Der nun vorliegende sechste Band der nachgelassenen Schriften schließt die thematische strukturierte Edition der Dokumente, Materialien und Aufsätze aus dem Marcuse-Archiv ab. Der Herausgeber beabsichtigt, in unregelmäßigen Abständen solche Materialien weiter zu publizieren, die im Editionskonzept nicht berücksichtigt wurden. Für die zahlreichen wichtigen Hinweise und für die intensiv geführten Diskussio­ nen möchte ich mich bei Douglas Kellner und Charles Reitz bedanken. Dank gilt auch Peter Marcuse und Harold Marcuse. Ohne ihre vielfältige Unterstützung und das entgegengebrachte Vertrauen über Jahre hinweg hätte dieses Projekt nicht realisiert werden können. Iring Fetscher ist zu danken für die kenntnisreiche Ein­ leitung, Rainer Funk für die wichtigen Hinweise zu Marcuse und Fromm. Sie hal­ fen mir, diese konfliktreiche Beziehung besser zu verstehen. Das Fromm-Archiv stellte freundlicherweise die Aufnahme mit Marcuse und Fromm zur Verfügung. Die Recherchearbeiten von Martina Vargova für diesen Band waren mir eine gro­ ße Hilfe. Mit dem zu Klampen Verlag stand mir ein verständnisvoller und unter­ stützender Partner beiseite. Meine Frau Maria Friesenhahn und meine Tochter Lea Melissa Jansen hat­ ten über Jahre hinweg in Herbert Marcuse einen konkurrierenden Zeit-Dieb. Sie ertrugen es rücksichtsvoll, wohl wissend, dass Herbert Marcuse zwar gelegent­ lich eine Havanna-Zigarre rauchte, aber nicht zu den grauen Herren gehörte, die den Menschen ihre Lebenszeit als sinnlose Verschwendung vorgaukeln. Peter-Erwin Jansen Frankfurt im Juli 2009

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Nachweise und Anmerkungen

1 Wieder veröffentlicht in: Herbert Marcuse, Der deutsche Künstlerroman. Frühe Auf­ sätze, Schriften, Bd.1, Springe 2004. 2 Frederick Olafson, Herbert Marcuse, Irrtum oder Verrat an der Philosophie? Fragen an Herbert Marcuse zu Martin Heidegger, in: Befreiung denken - ein politischer Impe­ rativ, Peter-Erwin Jansen (Hg.), Offenbach 1990, S. 123. 3 So in den Zeitschriften: Die Gesellschaft. Philosophische Hefte und Archiv für Sozial­ wissenschaft und Sozialpolitik. 4 Ein Teil dieser Arbeiten sind wieder veröffentlicht in: a.a.O. Schriften, Bd. 1. 5 Herbert Marcuse, Alfred Schmidt, Existentialistische Marx-Interpretation, Frankfurt a. M. 1973 6 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1955, wieder veröffentlicht in: ders. Schriften, Bd. 5, Springe 2004 7 Rainer Funk, Erich Fromm, Liebe zum Leben. Eine Bild-Biographie, Stuttgart 1999, S. 101 8 In: Max Horkheimer, Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, Frankfurt a.M. 1981, S. 33-47. Horkheimer bezieht sich hier ebenfalls aus­ drücklich auf die Philosophie Hegels. Seine Interpretation kommt derjenigen Marcuses aus diesen Jahren sehr nahe. 9 Ebd., S. 43 10 Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt 1970, S. 12-57 11 Schriften, Bd. 3., S. 239. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VI, 1937 12 Ebda., S. 238 13 Einen weiteren Vortrag, Staat und Individuum im Nationalsozialismus, hielt Marcuse 1941 bei einer anderen Vorlesungsreihe des Instituts. Er ist im fünften Band der nach­ gelassenen Schriften Feindanalysen. Über die Deutschen, Springe 2004, publiziert. 14 Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution, Neuwied 1962. Wieder veröffentlicht in: ders. Schriften, Bd. 4, Springe 2004, S. 11. 15 Kosik an Marcuse, unveröffentlichter Brief vom 6. März 1963, Marcuse-Archiv, Frank­ furt a.M. Dort heißt es weiter: »Ist hier das Jahr 1933 und Heideggers Kollaboration mit den Nazis, d.h. die politischen Gründe, oder aber ihre wissenschaftliche Entwicklung, welche Ihr Interesse von Heidegger zu Hegel hinüberführte, die tiefste Ursache des­ sen, dass Sie sich später nicht mehr mit Heidegger beschäftigt haben?« 16 Vgl. dazu, a.a.O., Feindanalysen, Springe 2004 17 Herbert Marcuse, Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie (1941), wie­ der veröffentlicht in: Schriften, Bd. 3, S. 286-320. Vgl. auch: ders., Das Problem des

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sozialen Wandels In der technologischen Gesellschaft, in: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, Lüneburg 1999, S. 37-67. 18 Ebd., S. 286 19 Ebd., S. 290 20 Wichtige Pionierarbeit leistete hier der Band von Stefan Bundschuh, »Und weil der Mensch ein Mensch is t...«: anthropologische Aspekte der Sozialphilosophie Herbert Marcuses, Lüneburg 1998.

Einleitung R ü ck b lick u nd A u s b lic k eines kreativen kritischen Th e o re tik e rs von Iring Fetscher

In diesem letzten Band der »Nachgelassenen Schriften« Herbert Marcuses sind Arbeiten sowohl zwischen 1932 und 1934 als auch aus der Periode von 1965 bis 1979 enthalten. Während die früheren Arbeiten eine kritische Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Philosophie sowie einen Rückblick auf das 19. Jahrhundert und den Beginn der Neu­ zeit enthalten, geht es in den späteren Texten in erster Linie um das Ver­ stehen der Rebellion amerikanischer und deutscher Studenten gegen die konservative Politik der führenden westlichen Mächte. Die Tatsa­ che, daß eine Auseinandersetzung mit dem totalitären Regime der Sow­ jetunion und der von ihr dominierten Staaten dabei fast ganz unbeach­ tet bleibt, bedeutet keineswegs eine prosowjetische Einstellung Herbert Marcuses, wie seinerzeit Max Horkheimer in einer aus dem Nachlass veröffentlichten Notiz meinte: »Herbert Marcuse ist der Prototyp der radikalen Intellektuellen, die nicht etwa nur die Mißstände im eignen Land angreifen, sondern gleichzeitig mit dem Osten sympathisieren. Damit propagieren sie aber die schlimmste Art der Barbarei... Die Zuchthaussysteme des Ostens sind viel schlimmer als die teilweise gro­ ben Verfälschungen der demokratischen Ordnung im W esten«1. Wie Unrecht Max Horkheimer mit dieser Notiz hat, wird nicht nur aus Mar­ cuses Buch »Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus« deut­ lich, sondern auch aus seiner Auseinandersetzung mit Merleau Pontys sozialistischem Humanismus. In diesem Text wird erkennbar, inwiefern Marcuse den Kalten Krieg und die Auseinandersetzung zwischen Sow­ jetsystem und westlichen kapitalistischen Gesellschaften für die Stagna­ tion der objektiv möglichen Emanzipation in den fortgeschrittenen Staaten mitverantwortlich macht. Auch die Entstalinisierung stellt kei­ nen hoffnungsvollen Ausweg dar: »... nach der Entstalinisierung in der 14

kommunistischen Welt, ist die >Lösung< so wenig in Sicht wie am Ende des Krieges. Die Sowjetunion wird nicht >humanistischerStimmungSubjekt< dem Nichts entspre­ chen: der Angst, Langeweile etc.) ...« Dennoch bleibt bei Heidegger wie in aller bisherigen Philosophie - eine »versteckte Transzendierung: das Nichts wird selbst wieder auf einen Sinn transzendiert«. Die mei­ sten Philosophen transzendieren das Zeitliche ins Ewige, das Endliche ins Unendliche...« Angemessen allein wäre die »Ausrichtung des Lebens auf die Gegenwart«, in der sowohl Vergangenheit als auch Zukunft als Dimension enthalten sind. Dagegen sind die Philosophien des »Augenblicks« charakteristisch für spekulative Theologien, die im Augenblick »irgendwie« den Einbruch des Ewigen ins Zeitliche unter­ stellen. Diese Skizze über eine »negative Metaphysik« stellt aufschluß­ reich, aber nur angedeutet, die philosophische Grundüberzeugung Marcuses dar, zu der er sich 1933 vermutlich distanzierend durch seine Nähe zu Heidegger veranlasst fühlte. Wie stark seine Beeinflussung durch Heideggers »Sein und Zeit« noch 1929 war, geht aus seinem Arti­ kel »Über konkrete Philosophie« hervor2. Konkrete Philosophie, wie sie Marcuse hier darstellt, hat die Aufgabe, die entfremdete Existenz des Einzelnen durch praktische Veränderung des ihn prägenden sozialen und politischen Ganzen zu ihrer Wahrheit zu bringen. Die konkrete Philosophie »muß wissen, daß sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, in die ganz konkreten Nöte der Existenz einzugreifen, weil der existentielle Sinn der Wahrheit nur so erfüllt werden kann. So steht notwendig am Rande jeder echten konkreten Philosophie die öffentli­ che Tat. Anklage und Verteidigung des Sokrates; Platos politisches W ir­ ken in Syrakus; Kierkegaards Kampf mit der Staatskirche«3. In Gedan­ ken kann hier Karl Marx und die revolutionäre Transformation der kapitalistischen Gesellschaft hinzugefügt werden. Marcuse hebt stattdessen allein Kierkegaards öffentliches Wirken hervor, das freilich letzt­ lich gescheitert ist. Überraschend kann Herbert Marcuse am 14. Dezember 1933 in der »Vossischen Zeitung« noch einen umfangreichen Artikel über das drei­ bändige Hauptwerk von Karl Jaspers unter dem Titel »Philosophie des Scheiterns« veröffentlichen. Im Unterschied zur »wissenschaftlichen Philosophie« nimmt die Existenzphilosophie von Jaspers die »ewigen« Grundfragen des abendländischen Denkens »Was ist das Sein? Warum ist etwas, warum nicht nichts? Wer bin ich? Was will ich eigentlich?« wieder ernst. Charakteristisch für Jaspers heißt es bei ihm einmal »Phi­ losophieren ist ein >Denken ohne spezifischen G egenstands (Bd. 1. 16

S. 44). Die drei Dimensionen der Existenz sind Freiheit, Geschichtlich­ keit und Kommunikation, Existenz aber »das aus dem eigenen Ursprung geschehende Sein, das der Suchende selbst ist«, von dem aus erfolgt das Philosophieren als »Transzendieren« in den »drei Richtun­ gen als Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik«, die »auf­ einander fundiert sind«. Das wesentliche »Selbstsein« kommt allein in »Grenzsituationen« zu sich. In diesen Situationen geht es »einzig nur noch um« das Selbst, das sein Sein »auf sich nehmen muß«. Diesen Aspekt der Jasperschen Philosophie nennt Marcuse einen Ausdruck »der schönsten und tiefsten Kraft seines Werkes«. In der Analyse von Grenzsituationen wie Tod, Liebe, Kampf, Schuld ... und dem Wagnis gerade heute jenseits von Psychoanalyse, Charakterologie und derglei­ chen werden »die letzten einsamsten Sphären der Person« offenbar. Letztlich transzendiert das existierende Ich zum Nichts, es ist ein »Sprung in das Leere«, damit wird diese Philosophie zu einer »Philo­ sophie des Scheiterns«, allerdings eines Scheiterns »jenseits jedes mög­ lichen Resultats, das allem echten Philosophieren wesentlich ist, sofern Transzendieren immer ein Sprung ins Nichts, ein Aufbrechen leerer Räume ist«. Dennoch geschieht in diesem Transzendieren etwas Wesentliches »in ihrem Suchen erhellt die suchende Existenz sich und das Seiende mehr und mehr, bis in dieser Helligkeit.. .das Sein aufleuch­ tet« . Abschließend hebt Marcuse den leicht verkennbaren wesentlichen Unterschied zwischen Jaspers und Heidegger hervor. Bei Heidegger sind die Kategorien der Existenz »rein ontologisch«, während sie für Jas­ pers eine ethische Dimension haben. Die Unzulänglichkeit der Jaspersschen (wie der Heideggerschen) Philosophie wird hier deutlich am Terminus »Geschichtlichkeit«, die »Existenzphilosophie hört mit der Konkretisierung des Begriffs der Geschichtlichkeit eben da auf, wo die eigentlich gefährliche Problema­ tik anfängt...« Durch die Unterstellung, daß die »menschliche Existenz prinzipiell in jed er geschichtlichen Situation sich zu ihrer eigensten Frei­ heit ermöglichen ... kann ..., aus jeder Situation heraus als sie selbst in ihrer >Eigentlichkeit< zu existieren vermag«, bleibt dieses Denken letzt­ lich >ungeschichtlichSein und Zeit< erscheint diese Idee in radikaler Form; die Analyse und die Beant­ wortung der Frage nach dem Sinn von Sein des Daseins sollen der Ana­ lyse der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt vorangehen. Es ist die Grundintention von >Sein und ZeitSein und Zeit< betritt, ist Heidegger nicht bis zum Ende gegangen. Er ist gerade dort stehen geblieben, wo er mit der Frage nach dem Sinn des Daseins endet und wo er zur Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt übergehen müßte. Nachdem er auf Grund der Analy­ se des Sinnes von Sein des Daseins zu dem Schluß gelangt, daß die Grundverfassung des Daseins - In-der-Welt-Sein-Sorge und der Sinn seines Seins - Zeitlichkeit ist, gibt Heidegger am Ende der ersten Hälf­ te seines Hauptwerks einige Hinweise, wie er anschließend die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt beantworten werde. >Die existential-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeit­ lichkeit. Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der eksta­ tischen Zeitlichkeit selbst den exstatischen Entwurf von Sein über­ haupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? ...« Im folgenden Abschnitt seines Textes kommt Petrovic auf das Verhältnis von Heidegger und Marx ausführlich zu spre­ chen: »Marx und Heidegger ist gemeinsam, daß sie beide die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt als untrennbar von der Frage n ach dem Sinn d es m en schlichen Seins betrachten. Aber ihre Antwort auf die Fra­ ge nach dem Sinn von menschlichem Sein ist nicht dieselbe. Der Sinn des menschlichen Seins ist nach Heidegger Z eitlichkeit, nach Marx freie sch öp ferisch e Tätigkeit, Praxis. Das, was Heidegger unter Zeitlich­ keit versteht, hat allerdings gewisse Berührungspunkte mit dem, was Marx >Praxis< nennt. Und doch unterscheiden sich diese beiden Begrif­ fe wesentlich.« Die von Marx her als Defizite der Heideggerschen Auffassung von Mensch und gesellschaftlicher Welt erscheinenden Auffassungen ver­ deutlicht Petrovic, indem er hervorhebt, daß Heideggers Philosophie letztlich dem Nihilismus verbunden bleibt: »Für Heidegger selbst ist es vielleicht das unangenehmste Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der 23

Geschichtlichkeit^«, in gewisserWeise habe Marcuse damit auch »dem französischen Linksexistentialismus J. P. Sartres und M. Merleau-Pontys vorgearbeitet« (S. 143). An einer andren Stelle seines Artikels kommt Tadic auf Heideggers Einfluß noch einmal zurück: »Die Mar­ cusesche kritische Theorie der Gesellschaft schöpft ihre Inspiration nicht allein aus der marxistischen Dialektik, sondern auch aus der Quel­ le des bürgerlichen Denkens des 20. Jahrhunderts, in erster Linie aus der deutschen Geistestradition, aus der wahrscheinlich auch die Theorien Freyers, Schelskys und Gehlens erwachsen sind«. Eine freilich etwas fragwürdige Anmerkung des serbischen Professors. Der folgende Abschnitt ist dagegen wieder zutreffend: »Da sind vor allem die Exi­ stenzphilosophie Martin Heideggers und die Soziologie der rationalen Bürokratie Max Webers. Wo Marcuse sich die Aufgabe stellt, den instru­ mentalen Charakter der wissenschaftlichen >ratio< aufzuzeigen, nach der diese als Form der gesellschaftlichen Kontrolle und Vorherrschaft ein apriori der Technologie ist, die nicht allein reine Ideen anbietet, son­ dern auch die Mittel zu einer wirksamen Herrschaft des Menschen über den Menschen mittels der Herrschaft über die Natur« (S. 155). In dem letzten Teil seiner Ausführungen geht Marcuse außerordent­ lich genau auf einige der präfaschistischen und nationalsozialistischen Autoren ein, deren Arbeiten ihm 1934 zur Verfügung standen. Er fasst deren Orientierung unter dem Stichwort »heroisch-völkischer Realis­ mus« zusammen. Dabei zieht er übrigens auch Personen heran, die spä­ ter von den Nazis selbst nicht mehr hochgeschätzt wurden, deren Gedanken aber zweifellos zur Nazi-Ideologie beigetragen haben. Lud­ wig Klages (1872-1956) mit seinem Buch »Der Geist als Widersacher der Seele« (1929/33) setzt den Geist als lebensfeindlichen Verkümmerer der vitalen Triebe ins Unrecht, während Oswald Spengler (18801936) in seinem »Untergang des Abendlands« (1918-1922) und vor allem in seinen späteren Arbeiten die Abkehr von der sensiblen, an Kunst und Literatur orientierten deutschen Kultur der Innerlichkeit und stattdessen eine nüchterne Akzeptanz der Welt von Macht und Technik als Grundlage künftiger deutscher Größe propagiert. Von vielen Autoren wird das »Ende der humanistischen Illusion« begrüßt und die Entwick­ lung heroischer Entschlossenheit und Opferbereitschaft aus enger Ver­ bundenheit mit Rasse, Blut und Boden gepriesen. In diesen Kontext gehört auch Ernst Jüngers »Der Arbeiter« (1932), in dem nicht etwa der einfache Lohnarbeiter, sondern generell der auf praktische technische 24

Tätigkeit orientierte Machtmensch als Mensch der Zukunft verherrlicht wird. Von den im engeren Sinne nazistischen Denkern erwähnt Marcuse Alfred Bäumler (u.a. den Band »Männerbund und Wissenschaft« (1934) und Emst Krieck (1882-1947), dessen Arbeiten »Menschenfor­ mung« (1925) schon vor der Machtergreifung eine heroische Pädagogik predigten und der 1935 mit seiner »nationalsozialistischen Erziehung« einflußreich gewesen ist. Erwähnung finden schließlich auch Alfred Rosenberg, dessen »Mythus des 20. Jahrhunderts« (1930) in der späte­ ren Nazizeit nur wenig Beachtung fand. Dagegen tritt Carl Schmitt zurück, der mit seinen anspruchsvollen Arbeiten »Der Begriff des Poli­ tischen« (1927), »Legalität und Legitimität« (1932) sowie der ersten unter der Naziherrschaft veröffentlichten Studie »Staat, Bewegung, Volk, die Dreigliederung der politischen Einheit« (1933) vor allem für die geltende Verfassungslehre nachhaltig einflußreich war. Marcuse geht nur kursorisch auf ihn und Autoren wie Ernst Jünger ein. Aus diesem Grund kommt auch die Diskrepanz zwischen dem Schmittschen Konzept des rational von der Gesellschaft getrennten und abgehobenen über ihr stehenden totalen Staates von den rassistischen und biologistischen Ideologiebestandteilen des Nationalsozialismus nicht zum Vorschein. Marcuse vermengt hier undifferenziert Autoren und Texte, die irgendwie zum Umfeld des kulturellen Milieus gehörten, in dem die Nazis bei Teilen auch der Gebildeten Anklang fanden. Eine ausführliche Würdigung des Aufsehen erregenden letzten Werkes von Edmund Husserl »Die Krisis der europäischen Wissen­ schaften und die transzendentale Phänomenologie« (1936) geht dessen Entwicklung über »phänomenologische Reduktionen« bis hin zur »transzendentalen Subjektivität« nach, die das »Sein« in Abstraktion von aller lebensweltlichen Gegebenheit ist. Damit geht die Philosophie hinter die an Natur und Gesellschaft gebundene Wissenschaft zurück und wird damit auch frei von deformierenden Einflüssen. In seiner knappen Kritik betont Marcuse, daß »Husserls transzendentale Subjek­ tivität ... wiederum eine rein kognitive ist. Man muß kein Marxist ein, um zu betonen, daß sich die empirische Realität durch das Subjekt des Denkens und d es H an deln s konstituiert, durch Theorie und Praxis. Husserl erkennt das historische Subjekt in seiner >sinngebenden Leis­ tung einen langen Umweg zum TodeZuerst die Moral< entgegen­ hält, der ignoriert ihn in all dem, was er Wahres gesagt und was seinen Ruhm in der Welt begründet hat; der setzt die Mystifikation fort; der geht am Problem vorbei.«2 D ie Lösung: »Für den Humanismus sprechen, ohne für den humanistischen Sozia­ lismus < angelsächsischer Prägung zu sein, die Kommunisten >verstehenauftragsorientierten< Regierungs­ behörden kommen, werden die Forschungsprogramme unweigerlich auf die Bedürfnisse der Behörde zugeschnitten und nicht der wissen­ schaftlichen Auffassung dessen entsprechen, was vom rein wissenschaft­ lichen Standpunkt wichtig ist.«1 Senator Fulbright sagt dasselbe in allgemeineren Worten: »Ich fürchte, wenn eine Universität ganz eng auf die aktuellen Bedürfnisse des Staates orientiert wird, nimmt sie ein wenig eine geschäftliche Atmosphäre an und verliert die einer Bildungsstätte. Die Naturwissenschaften werden, fürchte ich, auf Kosten der Geisteswissen­ schaften betont und innerhalb der Geisteswissenschaften die behavioristische Schule der Sozialwissenschaft auf Kosten der traditionelleren und meiner Ansicht nach humaneren - Ansätze. Ganz allgemein würde ich erwarten, daß das Interesse an verkäuflicher Information, die mit aktuellen Problemen zu tun hat, auf Kosten allgemeiner Ideen betont wird, die mit der Conditio humana zu tun haben.«2 Mit anderen Worten, die vermeintliche Neutralität der Wissen­ schaft, ihre gerühmte Wertfreiheit, fördert in Wirklichkeit die Macht äußerer Mächte über die innerwissenschaftliche Entwicklung. Verteidiger der wissenschaftlichen Neutralität weisen oft daraufhin, daß die Wissenschaft einen eingebauten Korrekturmechanismus hat. So schreibt C.P. Snow: »Wissenschaft ist ein selbstkorrigierendes System. Das heißt, daß kein Betrug (oder ehrlicher Irrtum) lange unentdeckt bleibt. Es bedarf keiner äußeren Wissenschaftskritik, weil Kritik dem Prozeß immanent ist. Ein Betrug kann also höchstens die Zeit der Wissenschaftler stehlen, die ihn aufklären müssen.«3 Das Problem ist, daß nicht »Betrug« in den Wissenschaftsprozeß eindringt, sondern ganz legitime »wissenschaftliche« Aufgaben und Zie­ le. Dem Wissenschaftler werden Probleme gestellt, die in seiner Kompe133

tenz und seinem Interesse als W issenschaftler liegen: wissenschaftliche Probleme; es ist eben nur so, daß es auch Probleme der Lebensvemichtung, der chemischen und bakteriologischen Kriegführung sind. Wenn sich aber der Selbstkorrekturmechanismus der Wissenschaft mit diesen Problemen nicht befaßt, verliert die Betonung ihres selbstkritischen Cha­ rakters viel von ihrer Gültigkeit. Ihre eigene »Wertfreiheit« macht die Wissenschaft blind für das, was im menschlichen Leben geschieht. Oder, anders und etwas unfreundli­ cher formuliert, die wertfreie Wissenschaft propagiert blindlings bestimmte gesellschaftlich-politische Werte und legitimiert, ohne auf die reine Theorie zu verzichten, eine bestehende Praxis. Der wissenschaftli­ che Puritanismus verkehrt sich in Unreinheit. Und diese Dialektik hat nun dazu geführt, daß die Wissenschaft (und nicht nur die angewandte) mit dem Aufbau der effektivsten Vernichtungsmaschinerie in der Geschichte kollaboriert. Wie kommt es, daß die anfangs fortschrittliche Trennung von Wis­ sen und Werten nun rückschrittlich ist? Was ist das Verhältnis zwischen Fortschritt und Destruktion? Destruktion ist in gewisser Hinsicht selbst progressiv und befreiend, und die moderne Wissenschaft war in ihren Anfängen destruktiv in diesem fortschrittlichen Sinne. Sie war destruk­ tiv gegenüber mittelalterlichem Aberglauben und Dogmatismus, destruktiv gegenüber der heiligen Allianz von Philosophie und irratio­ naler Autorität, destruktiv gegenüber der theologischen Rechtfertigung von Ungleichheit und Ausbeutung. Die moderne Wissenschaft entwikkelte sich im Konflikt mit den Mächten, die gegen die Freiheit des Den­ kens standen; heute befindet sich die Wissenschaft im Bündnis mit den Mächten, die die menschliche Autonomie bedrohen und den Versuch vereiteln, zu einer freien und vernünftigen Existenz zu gelangen. Was sind die Möglichkeiten, diesen Trend umzukehren? Eines muß von Anfang an klar sein: Es kann keine Umkehrung des wissenschaftli­ chen Fortschritts geben, keine Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter »qualitativer« Wissenschaft. Es ist natürlich richtig, daß ein Wandel nur als ein Ereignis in der Entwicklung der Wissenschaft selbst denkbar wäre, jed o ch kann eine solche Wissenschaftsentwicklung nur das Resul­ tat umfassender Gesellschaftsveränderung sein. Erforderlich ist nichts weniger als eine völlige Umwertung der Ziele und Bedürfnisse, die Ver­ änderung der repressiven und aggressiven Politiken und Institutionen. Die Veränderung der Wissenschaft ist nur in einem veränderten Umfeld 134

denkbar; eine neue Wissenschaft würde ein neues Klima verlangen, in dem neue gesellschaftliche Bedürfnisse dem Verstand neue Experimen­ te und Projekte eingeben. Ganz allgemein würde diese Veränderung das Absterben der gesellschaftlichen Bedürfnisse nach parasitärer Ver­ schwendungsproduktion und ihren Produkten, nach aggressiver Vertei­ digung, nach Statuskonkurrenz und Konformitätsdruck bedeuten und die entsprechende Befreiung der individuellen Bedürfnisse nach Frieden, Freude und Ruhe verlangen. Nicht weitere Naturbeherrschung, sondern die Wiederherstellung der Natur, nicht den Mond, sondern die Erde, nicht die Eroberung der Außenwelt, sondern die Hervorbringung der Innenwelt, nicht die eher unfriedliche Koexistenz von Überfluß und Armut, sondern die Abschaffung des Überflusses bis zum Verschwinden der Armut, nicht Kanonen und Butter in den überentwickelten Natio­ nen, sondern genug Margarine für alle Nationen. Natürlich wäre das die denkbar radikalste globale Veränderung. Was kann der Wissenschaftler dafür tun? Scheinbar nichts. Aber auch hier sind wir mit einer Illusion konfrontiert, denn der Wis­ senschaftler ist nicht mehr der zurückgezogene, abgehobene Forscher, er ist zum Stützpfeiler der bestehenden Institutionen und der etablierten Politik geworden. Je mehr die Wirtschaft zu einem technologischen System wird, desto mehr wird auch die Wissenschaft zu einem entschei­ denden Faktor in den ökonomischen Abläufen der Gesellschaft. Selbst körperliche Arbeit beruht zunehmend auf wissenschaftlichen (techno­ logischen) Grundlagen. Gleichzeitig verengt sich die Kluft zwischen rei­ ner und angewandter Wissenschaft; die abstraktesten und formalsten Resultate von Logik und Mathematik sind in ganz konkrete materielle Werte übertragbar (wie zum Beispiel Computer). Die Wirtschaft lebt buchstäblich von der Wissenschaft. Sofern die Wissenschaft Teil der gesellschaftlichen Basis ist, wird sie zu einer materiellen Macht, zu einer ökonomischen und politischen Kraft, und jeder einzelne Wissenschaft­ ler ist ein aliquoter Teil dieser Macht. Je mehr der Wissenschaftler zur Unterstützung seiner Forschung vom Staat und von der Industrie abhän­ gig ist, desto mehr sind Staat und Industrie auch von ihm abhängig. Der einzelne Wissenschaftler mag in der Tat machtlos sein, wenn es darum geht, die Flut »wissenschaftlicher« Destruktion aufzuhalten, aber er kann sich weigern, der Perfektion der Zerstörung seine Hand und sein Hirn zu leihen, und er kann seine Stimme erheben. Gewiß sind seine Weigerung und sein Protest nur individuelle Äußerungen, und sie kön135

nen zum Verlust der Unterstützung für ein bestimmtes Vorhaben füh­ ren. Diese Gefahr gibt es immer. Doch seine Weigerung kann Staat und Industrie nachdenklich machen, und sie kann andere dazu ermutigen, ihm zu folgen. Wenn wir diese Anstrengung als »bloß negativ« abtun wollen, sollten wir uns daran erinnern, daß das Negative oft der erste Schritt zum Positiven war. Es gibt heute keinen Konflikt zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft (der bestehenden Gesellschaft); sie treiben einander voran in der bestehenden Richtung des Fortschritts, in einer Richtung, die als zunehmend menschheitsgefährdend erscheint. Es gibt aber einen Kon­ flikt zwischen der modernen Wissenschaft, so wie sie betrieben wird, und dem inneren Telos der Wissenschaft. Die Wissenschaft wird durch ihren eigenen Fortschritt bedroht, durch ihre Entwicklung zum Werkzeug wertfreier Macht statt zum Werkzeug von Wissen und Wahrheit. Wis­ senschaft ging wie alles kritische Denken aus dem Bemühen hervor, das menschliche Leben in seinem Kampf mit der Natur zu schützen und zu verbessern; das innere Telos der Wissenschaft ist nichts anderes als die Bewahrung und Verbesserung menschlicher Existenz. Dies war die Ratio der Wissenschaft, und ihre Preisgabe ist gleichbedeutend mit dem Bruch zwischen Wissenschaft und Vernunft. Die Wissenschaft mag weiterhin wachsen, in einem technischen Sinn und als eine Technik, verliert aber dabei ihre raison d ’être. Wissenschaft als menschliche Anstrengung bleibt die stärkste Waf­ fe und das wirksamste Werkzeug im Kampf für eine freie und vernünfti­ ge Existenz. Diese Anstrengung geht über das Studium, das Labor und das Klassenzimmer hinaus und zielt auf die Hervorbringung einer gesell­ schaftlichen wie auch natürlichen Umwelt, in der die Existenz befreit werden kann von ihrer Verbindung mit Tod und Zerstörung. Solch eine Befreiung wäre kein äußeres Ziel oder Nebenprodukt der Wissenschaft, sondern ihre Verwirklichung.123 1 New York Times, 11. Mai 1966. 2 Senator Fulbright auf der Tagung »The University in America« am Santa Barbara Center, Mai 1966. 3 »The Moral Un-Neutrality of Science«, in: Science, 27. Januar 1961, S. 257.

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Z u r Aktualität d e r Dialektik bei H e g e l u n d M a rx

Kein anderer Vertreter der Kritischen Theorie beschäftigte sich wissenschaftlich und politisch so intensiv mit den Entwicklungen innerhalb des Marxismus und den ideologischen und politischen Veränderungen im Herrschaftsbereich der ehemaligen Sowjetunion wie Herbert Marcuse. Nicht nur sein Buch über den Sowjetmarxismus1 belegt dies. Darüber hinaus besuchte er in den sechziger und siebziger Jahren die ehemalige Tschechoslowakei und nahm an der von den jugoslawischen »Praxis-Philosophen«2 gegründeten Sommerschule teil, die 1963 in Dubrovnik gegründet, dann bis 1974 auf Korcula, einem alten Festungs­ städtchen auf der gleichnamigen Adriainsel, durchgeführt wurde. Marcuses erste Beteiligung an der Sommerschule geht auf das Jahr 1964 zurück. Unter dem Arbeitstitel Sinn und Perspektiven des Sozialismus trafen sich erstmals kritische Marxisten und Philosophen auf Korcula. Vier Jahre später, zum Andenken an den 150. Geburtstag von Karl Marx, lautete das Thema Marx und die Revolution. Dort lernten sich Herbert Marcuse und Ernst Bloch erstmals per­ sönlich kennen. Den Vortrag Freiheit und Notwendigkeit. Bemerkungen zu einer Neubestimmung3 beginnt Marcuse: »Ich freue mich und bin stolz darauf, dass ich heute in der Gegenwart von Ernst Bloch sprechen kann, dessen Werk Geist der Utopie, das vor mehr als vierzig Jahren erschien, zumindest meine Genera­ tion beeinflusst und gezeigt hat, wie realistisch utopische Konzepte sein kön­ nen, wie eng verbunden mit dem Handeln, mit der Praxis.«4 Auch Iring Fetscher und Agnes Heller, die zu den Gründern der Praxisgruppe zählt und später auf den Lehrstuhl von Hannah Arendt an der New School for Social Research in New York berufen wurde, referierten 1968. Bloch, Marcuse und Erich Fromm, der von Beginn an zu den Referenten der Sommerschule gehörte, unterstützten als Redakteure die Zeitschrift Praxis, die, 1964 gegründet, dann 1974 verboten wur­ de und seit Mitte der neunziger Jahre als Constellations fortgesetzt wird.

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Die Tagung in Krocula fand im August 1968 statt, gerade an den Tagen, als russische Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten und die Reformbe­ strebungen des Prager Frühlings mit Panzern niederwalzten. Dadurch gewann diese Zusammenkunft eine ernorme öffentliche Bedeutung für die osteuropäi­ schen Intellektuellen, die sich in der Praxis-Gruppe zusammengeschlossen hat­ ten. Die Tagungsmitglieder hatten Protestschreiben verfasst und an die Mit­ gliedsstaaten des Warschauer Pakts geschickt. Die Zeit veröffentlichte am 30. August 1968 den Artikel Der verhöhnte Marx won Iring Fetscher. Dort ist zu lesen: »Das Tagungsprogramm fiel aus. Statt dessen wurden drei Briefe und Resolu­ tionen redigiert und von den Anwesenden unterschrieben. Zunächst ein Brief an Präsident Tito mit der Bitte, alles in der Macht stehende zu tun, um dem tsche­ choslowakischen Volk und seiner Kommunistischen Partei zu helfen. Dann eine Resolution für die breite Öffentlichkeit, in der die absolute Unvereinbarkeit des Einmarsches der fünf Warschauer-Pakt-Staaten mit dem Völkerrecht und den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus hervorgehoben wurde. Endlich ein Telegramm an den Sekretär des Politbüros des ZK der KPdSU, Genosse nein, schrie es von allen Seiten: Herr Breschnew - der aufgefordert wurde, unverzüglich die Invasion zu verurteilen und zu stoppen.«5 Iring Fetscher berich­ tete dem Fierausgeber, dass die Gruppe geschlossen von Korcula aus an die Jugoslawisch-Russische Grenze fuhr und dort am Grenzübergang demonstrier­ te. »Wir standen dort an der Grenze, wussten aber nicht so recht, was wir machen sollten und diskutierten einfach in kleinen Gruppen weiter über die Invasion«. Als Alfred Munk, Senatsmitglied der Universität von Kalifornien in San Die­ go am 4. September 1968 bei Marcuse anfragt, eine Resolution an den ameri­ kanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson zu unterzeichnen, worin dieser auf­ gefordert wurde, politisch gegen diese Invasion vorzugehen, antwortet Marcuse in einem Brief: »Ich habe nicht solange gewartet. Zwölf Stunden nach der Inva­ sion habe ich, zusammen mit Philosophen aus Jugoslawien, Ungarn, der Tsche­ choslowakei und der westlichen Welt, ein Protestschreiben unterzeichnet, in dem wir unmissverständlich diese Invasion verurteilt haben. Das Schreiben war an die Staaten des Warschauer Pakts gerichtet und wurde in der Europäischen Presse veröffentlicht.«6 Marcuse ergänzt, es sei für ihn nicht möglich, sich in dieser Ange­ legenheit an den gleichen Präsidenten zu wenden, der in Vietnam alle Men­ schenrechte missachte, die von den Vereinten Nationen allen Staaten garantiert würden. Im Marcuse-Archiv sind neben den erwähnten Artikeln auch zahlreiche Vor­ lesungsskripte, handschriftliche Notizen und andere Aufzeichnungen aus den sechziger Jahren zu finden, die sich auf die Auseinandersetzung mit den theo-

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retischen Überlegungen zur Dialektik bei Hegel und Marx beziehen.7 Aus einem zweiseitigen Arbeitspapier, das mit dem Vermerk »Notizen zum Prager Vortrag 1966« (309.01) versehen ist, stellt sich Marcuse die Frage: »Warum wieder Hegel-Marx Dialektik?« und er notiert weiter: »nicht Marxologie , sondern wirkli­ che Verlegenheit«. Ergebnis dieser Beschäftigung mit Marx und Hegel war der hier erstmals veröffentlichte Beitrag. Es konnte nicht geklärt werden, wann und zu welchem Zweck Marcuse diese Arbeit verfasst hat. Der Abdruck folgt dem Originaltyposkript (313.01) und umfasst 25 Schreib­ maschinenseiten in deutscher Sprache. Nicht eindeutig geklärt ist, ob die im Archiv angegebene Jahreszahl 1967 mit dem Entstehungs- oder möglichen Vortragsjahr übereinstimmt. Andere Arbeiten und Notizen, die den Jahren 1969/1970 zu geordnet werden können, deuten auf das Jahr 1970 hin. Der Titel wurde vom Herausgeber gewählt.

1 Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (Orig. 1957), wie­ der veröffentlicht in: ders., Schriften, Bd. 6, Springe 2004. 2 Vgl den lesenswerten Beitrag von Gajo Petrovic, Die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis, in: Axel Honneth/Albrecht Wellmer (Hg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin 1986, S. 59-80. 3 Wieder veröffentlicht in: Marcuse, Schriften, Bd. 8. 4 Erstmals erschienen in: Ernst Bloch u.a., Marx und die Revolution, Frankfurt/Main 1970, S. 12-23, wieder veröffentlicht in: Marcuse, Schriften, Bd. 8, S. 227. 5 Iring Fetscher, Der verhöhnte Marx. Philosophen-Kongress verurteilte die sowjetische Invasion, Die Zeit, 30. August 1968, Nr. 35. 6 Brief von Munk an Marcuse in englischer Sprache, 12. September 1968, Marcuse-Archiv Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. 7 So auch: Herbert Marcuse, Zur Geschichte der Dialektik, in: Sowjetsystem und Demo­ kratische Gesellschaft, Freiburg 1966, Bd. 1, 1192-1211 und Zum Begriff der Negati­ on in der Dialektik, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1969, S. 185-190, wieder veröffentlicht in: ders., Schriften, Bd. 8. Letztgenannter Titel war Marcuses Vortrag auf dem Prager Hegel-Kongress 1966.

In den gegenwärtigen Versuchen, das Verhältnis von Marx zu Hegel neu zu bestimmen, macht sich eine Unsicherheit über Wert und Wahrheit der Dialektik bemerkbar. Die Kritik richtet sich zunächst gegen Hegel: gegen den geschlossenen, positiven und letzten Endes beruhigend-kon­ formistischen Charakter seiner Dialektik, die die Struktur des Systems 139

selbst reflektiert und aus ihm nicht herauszulösen ist. Durch alle Nega­ tionen und Regressionen hindurch, in aller Entäusserung und Entfrem­ dung entfaltet sich immer nur das innere Wesen der Substanz als Sub­ jekt. In allem was passiert kann ihr doch nichts passieren. Die Vernunft herrscht, mit allen ihren Widersprüchen und Gegensätzen, im Herrn und im Knecht, in dem blinden Kampf ums Dasein in der Natur, und auf der nicht so blinden Schlachtbank der Geschichte. Gewiss, diese bleibt in allem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und Gleichheit unvollkommen, inadäquate Erscheinung der Idee und ihre Unreinheit ist nur im reinen Denken aufgehoben. Gewiss, es gibt die Eule der Minerva und die Stimmung der einbrechenden Dunkelheit - zur selben Zeit als Saint Simon die ungeheuren Möglichkeiten der industriellen Gesellschaft propagiert und Fourier die durch ihre Negation mögliche Utopie. Aber diese Stimmung der einbrechenden Dunkelheit bleibt in befremdender Weise persönlich, partikulär: es ist nur eine der »For­ men« des Lebens die alt wird - auf sie werden neue Formen folgen, die dem Begriff noch nicht zugänglich sind. Mag die Gegenwart auch ein Kreuz sein, der Blick des Philosophen bleibt auf die Rose am Kreuz haf­ ten. Und folgt nicht auf die Kreuzigung die Auferstehung? Wenn die Positivität des Hegelschen Systems die Struktur der Hegelschen Dialektik selbst ist, dann ist allerdings nicht zu verstehen, wie letztere »umgestülpt« und in eine materialistische verwandelt wer­ den kann, ohne das System selbst umzustülpen, d.h. aber, ohne ein anderes System zu konstruieren: ein materialistisches anstelle des idea­ listischen. Marx würde mit aller seiner Kritik der politischen Ökonomie und mit aller seiner Theorie der revolutionären Praxis ein Philosoph bleiben, und die in den Feuerbach-Thesen geforderte Aufhebung der Philosophie bliebe unvollzogen. Die kritische Theorie würde über die Theorie nicht hinausgehen, und ihre Einheit mit der Praxis bliebe abstrakt und der Kontingenz als einer noch nicht bewältigten Macht unterworfen: Revolution in der Theorie, im Denken, im Begriff der Wirklichkeit - aber noch keine Verwirklichung des Begriffs; oder: die richtige, konkrete Theorie der Befreiung, aber noch keine Befreiung. Folglich: immer noch Geschichte hinter dem Rücken und auf dem Rükken der Menschen (obwohl eine andere Geschichte). Oder vielmehr: eine von den Menschen (von einigen Menschen) selbst gemachte, geplante Geschichte, aber nach einem Plan, der das Alte, die Herrschaft, verwandelt ohne sie aufzuheben. 140

Schon die Verwandlung der Herrschaft ist wirklicher Fortschritt, wo sie nicht nur das Elend verringert und die materiellen Voraussetzun­ gen für die Beseitigung der Brutalität, Verdummung und Vermassung schafft, sondern auch im Kampf steht gegen das gesellschaftliche System, das Brutalität, Verdummung und Vermassung reproduziert und exportiert - profitable Unkosten seiner Prosperität. Zweifellos hat die Marxsche Theorie zu diesem Fortschritt wesentlich beigetragen, trotz allen Modifikationen und Entstellungen, die sie erfahren hat - ja viel­ leicht war es die Entstellung, die solchen Beitrag möglich gemacht hat. Stalinismus, Revisionismus, Maoismus: dialektische Entfaltung der Theorie in der Praxis, oder ex p ost Anpassung der Theorie an die Tatsa­ chen? Tatsachen wie die Integrierung und Verbürgerlichung des Proleta­ riats in den fortgeschrittenen Industrieländern, die stabilisierte Dikta­ tur über die Arbeiter und Bauern, die revolutionäre Rolle der vor-kapitalistischen und rückständigen Länder lassen sich aus der originären Theorie nach deren eigenen Begriffen ableiten. Damit aber wäre die ori­ ginäre Theorie selbst in Frage gestellt, denn sie hätte einen eingebauten Mechanismus, der sie gegen jede Falsifikation abdichtet - sie wäre immun gegen den Widerspruch, undialektisch. Alles was als Anderes und Entgegengesetztes auftritt, wäre dann eben nur das Andere und Entegegengesetzte des einen Wesens das sich in ihnen durchhält, und die Marxsche Dialektik bliebe der Hegelschen verfallen - System der Positivität der Geschichte, in dem anstelle der Selbstentwicklung des Gedankens die »wirkliche Entwicklung in der Natur und Geschichte« tritt (Engels' Brief an Conrad Schmidt, 1. November 1891), so dass die »wirkliche Entwicklung« nun das sich im Fortschritt zur Freiheit ent­ faltende Wesen ist. Der positiv-systematische Charakter dieser Dialektik ist nicht dadurch beseitigt, dass die geschichtliche Gesetzmässigkeit der Befrei­ ung sich nur in der bewussten Praxis durchsetzt und so das Element der dieser Praxis offenen Freiheit, damit aber ein Element der Kontingenz enthält. Indem aber diese Kontingenz in die Theorie selbst eingebaut wird, wird das Kontingente zu einer Stufe oder Erscheinung des Gesetzmässigen. Die Gesetzmässigkeit der Entwicklung schliesst nicht aus, dass die Praxis des Proletariats (oder der Partei) »falsch«, gegen das wirkliche und allgemeine Interesse ist; die Revolution kann niederge­ schlagen, oder verraten werden. Doch können diese (entscheidenden!) 141

Wendungen als »Abweichungen« oder »Fehler« begriffen werden - so werden sie zu Bestätigungen der Gesetzmässigkeit. Eine ähnliche Abdichtung der Theorie gegen ihre bestimmte Negation geschieht im Begriff der Z eit Die relative »temporäre« Stabilisierung des Kapitalis­ mus kann Jahrzehnte dauern, ohne aufzuhören temporär zu sein; die »Endkrise« kann eine ganze geschichtliche Periode umfassen, ohne auf­ zuhören, »Ende« zu sein. Das mag richtig sein - aber Feststellung von Tatsachen anstatt ihres Begriffs. In der Geschichte ist wahrscheinlich alles temporär. Das Spezifische der Entwicklung verschwindet im abstrakt-Allgemeinen der Zeit; die Tatsachen bleiben konstatiert aber unbegriffen liegen. Indem die Methode, die »Abweichungen« in die Theorie hineinzu­ nehmen, dem abstrakt-Allgemeinen verfällt, verselbständigt sie das Spezifische als Faktor der Entwicklung. Ausbruch und Verlauf der rus­ sischen Revolution, der russisch-chinesische Konflikt, die amerikani­ sche »Gesellschaft im Überfluss« usw. sollen aus den jeweils spezifi­ schen Bedingungen erklärt werden: eine »zusätzliche« Bestimmung (sur-déterm ination) der Ereignisse - zusätzlich zu ihrer Bestimmung durch die allgemeine dialektische Gesetzmässigkeit. Aber die Verle­ genheit ist dadurch nicht beseitigt: die spezifischen Bedingungen, das wirklich Konkrete bleibt als bestimmend - bestimmter Faktor entwe­ der ausserhalb der Dialektik, eine ihr fremde und nicht unterworfene Macht, oder es wird wieder zur Abweichung von der Regel, die die Regel bestätigt. Angesichts dieser Schwierigkeiten möchte ich die Frage stellen, ob die Marxsche Dialektik, trotz aller »Umstülpung« oder vielmehr Fun­ dierung auf einer wesentlich verschiedenen Basis, nicht doch der posi­ tiven Systematik verpflichtet bleibt. Das heisst: ob nicht auch in dieser materialistischen Dialektik die Aufhebung der Gegensätze »früher oder später« zu einer höh eren Stufe der Vernunft in der Geschichte führt, ob nicht die Revolution noch die befreiende Entfaltung (oder Explosion) des auf der früheren Stufe »gefesselten« und deformierten, gesellschaft­ lichen Wesens darstellt - Fortschritt m algré tout. Die materialistische Konzeption des Fortschritts mag richtig sein, d.h. die tatsächliche geschichtliche Entwicklung begreifen und reflektieren. Die grossen Revolutionen mögen wirklich »nur« den Übergang zu einer höheren Stufe des gesellschaftlichen Wesens sein, das sich bei aller qualitativen Differenz in einem Wesentlichen durchhält und ein wesentliches Altes 142

reproduziert - reproduziert mit einer viel grösseren Rationalität, mit viel weniger Kosten und Unkosten, ökonomisch und geistig, so dass die neue Produktivität sogar als Freiheit erscheint, aber eben doch Repro­ duktion eines Wesentlichen: der Herrschaft. In der Marxschen Theorie ist die »Diktatur des Proletariats« der Wendepunkt, an dem das Konti­ nuum der Herrschaft gebrochen wird, weil die Kontrolle des Produkti­ onsprozesses durch die »unmittelbaren Produzenten« selbst die Basis der Ausbeutung und damit der Herrschaft abgräbt - aber gerade an die­ sem Punkt bleibt die wirkliche Entwicklung im unaufgehobenen Wider­ spruch zu ihrer Theorie: in den fortgeschrittensten Industrieländern ist die Arbeiterklasse nicht mehr die absolute Negation des Bestehenden und deshalb kann die Idee ihrer Herrschaft nicht mehr die des Endes der Herrschaft anzeigen. Und als Antwort auf diese wirkliche Entwick­ lung geschieht die Konstruktion des Sozialismus in den Ländern des Ostens unter einer neuen Form der Herrschaft. Marx hat dagegen protestiert, dass seine Skizze der Genesis des Kapitalismus in West Europa zu einer universalen geschichts-philosophischen Theorie ausgeweitet wird: die verschiedenen Nationen könn­ ten eine sehr verschiedene Entwicklung durchlaufen. Immerhin aber impliziert einer seiner zentralen Begriffe die Gesetzmässigkeit des Fort­ schritts: Von der feudalen zur kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft bedeutet die »Entwicklung der Produktivkräfte« den Über­ gang zu einer höheren geschichtlichen Stufe. Die inneren Widersprü­ che des Feudalismus und Kapitalismus werden in einer produktiveren (und in diesem Sinn »besseren«) Gesellschaft aufgehoben; in der Nega­ tivität der früheren wird die Positivität der späteren geboren. Ob diese dialektische Gesetzmässigkeit im Sozialismus aufhört, bleibt offen. Aber gilt sie selbst für den Kapitalismus? Rechtfertigt seine Geschichte, sei­ ne Gegenwart und deren Dynamik die These, nach der die Entwicklung der Produktivkräfte die Basis für den Fortschritt der Vernunft und Frei­ heit abgibt? Was ist hier Fortschritt, Vernunft, Freiheit? Für Marx ist es die immer leistungsfähigere Verwendung der verfüg­ baren materiellen und intellektuellen Kräfte für die Befriedigung der materiellen und intellektuellen Bedürfnisse. Diese Definition enthält eine entscheidende Voraussetzung, nämlich, dass die Befriedigung der Bedürfnisse das Leben der Menschen erleichtert, glücklicher macht, d. h. Armut, Ungerechtigkeit, Brutalität, Dummheit beseitigt. Das wären die Grundbedingungen der Freiheit, die ihrem Wesen nach nur in die143

ser Negation bestimmt werden kann: das »Wozu?« der Freiheit bleibt selbst frei, das Ende des Elends, der Repression und der Ausbeutung, die Versöhnung des allgemeinen mit dem besonderen Interesse würde dem destruktiven Gebrauch der Freiheit entgegen wirken. In dieser Konzep­ tion bleibt der Begriff des Bedürfnisses unbestimmt. Seine dialektische Bestimmung ist gefordert durch die Tatsache, dass jenseits (und viel­ leicht nicht nur jenseits!) der primären biologischen Sphäre die mensch­ lichen Bedürfnisse sich als geschichtlich-gesellschaftliche konstituieren, ihre Befriedigung also selbst dem Fortschritt der Vernunft und der Frei­ heit entgegenwirken kann. So hat die »Gesellschaft im Überfluss« eine ganze Reihe von in diesem Sinne negativen Bedürfnissen entwickelt und befriedigt (systematisch, methodisch entwickelt!), die der Befreiung entgegenstehen; z.B. das Bedürfnis nach »Zusammenhalt« (»together­ ness«), aggressiver Tätigkeit und Zerstreuung (Automobil, Motorboot, etc.) Konformität, Sicherheit im Gegebenen, Stillstellung des Bewusst­ seins (Denkens), etc. Es besteht keine prästabilierte Harmonie zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Befreiung des Menschen; im Gegenteil, die erste hat zu einer zivilisierten Versklavung, zu einer technologischen Brutalisierung, zu einer rationalen Destruktion geführt, die eher die Idee eines »Endes der Geschichte« (wenn anders Geschichte = Zivilisation ist) als die des Fortschritts nahelegen. Selbstverständlich ist der Grund dafür in der Reproduktion der Klassengesellschaft zu sehen: in der Tat­ sache, dass die Produktivkräfte im Interesse der Herrschaft und der Aus­ beutung entwickelt wurden. Dass schliesslich die Beherrschten und Ausgebeuteten selbst davon profitierten, ist im Rahmen der Negativität des Ganzen in der Tat Fortschritt, aber ein Fortschritt, der diese Nega­ tivität global ausdehnt und ihre Negation hindert oder selbst kontami­ niert. Damit aber ist die Marxistische Lösung durch den revolutionären Bruch mit der Herrschaft in Frage gestellt... (Vielleicht ist an diesem Punkt die positiv-systematische Dialektik Hegels negativer, realistischer als die Marxsche! Der Begriff des »Endes der Geschichte«, wie ihn besonders die Rechtsphilosophie nahelegt, meint, dass die Geschichte das ihr mögliche Stadium der Vernunft und Freiheit erreicht hat. Die Unterwerfung der bürgerlichen Gesellschaft unter die sie meisternde Staatsgewalt, die Rechtsstaat und souveräne Monarchie ist, ist Endstadium in dem Sinne, dass die begriffene Geschichte für den Fortschritt in ein qualitativ höheres Stadium keine 144

Grundlage abgibt. In der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis ist der Staat letzte Autorität und Souveränität, als solche ist er nationaler Staat im Kampf mit anderen Nationalstaaten, und die Gewalt, der Krieg ent­ scheidet. Selbst die List der Vernunft in der Weltgeschichte lässt diese Gegensätze ungelöst; was so in der Wirklichkeit der Praxis ungelöst bleibt, kann nur in der Wirklichkeit der Theorie, im reinen Denken auf­ gehoben werden.) Aber der Anspruch der materialistischen Dialektik besteht zu recht: der Begriff der Wirklichkeit ist die begriffene gesellschaftliche Materie; sie ist das Ganze, zu dem auch, o h n e ihr A nderssein einzubüssen, die geistige Wirklichkeit gehört. In diesem Ganzen müssen die dialekti­ schen Begriffe verifiziert werden; wenn sie das gegebene Ganze tran­ szendieren, muss diese Transzendenz die ausweisbarer Kräfte und Ten­ denzen sein. Dialektik ist empirisches Denken, aber Empirie, die zeigt, dass die unmittelbare Erfahrung, und selbst die wissenschaftlich gesi­ cherte Erfahrung, falsch, unwahr sein kann - falsch nicht im Sinn der subjektiven Täuschung, sondern des gesellsch aftlich en Scheins. Marx’ Begriff des »phantasmagorischen Charakters« der Wahrenform mag als Modell solchen wirklichen Scheins dienen. Um anzudeuten, wie der Schein die Gesellschaft als Ganzes durchherrscht und, als w irklicher Schein, Erfahrung und Praxis der Menschen bestimmt, sei auf die erfah­ rene und praktizierte Form der D em okratie in der »Gesellschaft im Überfluss« hingewiesen. Der zur »volonté générale« aufgespreizte W il­ le der Majorität äussert sich (mit wichtigen Ausnahmen!) frei in den Wahlen, im Angebot und Kauf der Waren, des Amusements und der Kultur, selbst in dem von der Meinungsforschung wissenschaftlich fest­ gestellten Einverständnis zum Krieg und anderen Akten der Gewalt und Unterdrückung. Und die vom Volk mehr oder weniger gewählten Poli­ tiker rechnen mit dieser »volonté générale«, auf die sie für ihre Wieder­ wahl angewiesen sind. Das ist alles Wirklichkeit und nicht blosser Schein. Und so ist die Tatsache, dass der Apparat der Massenkommu­ nikation und -Produktion in den wenigen herrschenden Gruppen kon­ zentriert ist und in dieser monopolistischen oder oligopolistischen Organisation den demokratischen Willen vorbestimmt. Vorbestimmt, nicht: bestimmt, d.h. die freie individuelle Meinungsäusserung geschieht auf dem Grunde einer höchst wirksamen, meistens unbemerkten und unbewussten Indoktrinierung, die einfach dadurch erfolgt, dass entwe­ der überhaupt keine radikal-abweichende Information und Kritik 145

zugänglich ist, oder sie nur sporadisch, oft in defamierender Weise und »aufgehoben« im Konzert der herrschenden Politik übermittelt werden. Der Einzelne stimmt ohne Zwang dem Allgemeinen zu, oder er kann seine abweichende Meinung äussern und demonstrieren: sie wird als Abweichung vom Apparat registriert und ins Ganze aufgenommen. Die Negation wird selbst zum Positiven, indem sie die Wirklichkeit der Demokratie bestätigt. Die das Ganze durchherrschende Heteronomie wird von der Majorität als Autonomie erfahren und ausgeübt: überwäl­ tigende Einheit des Allgemeinen und Besonderen - phantasmagorische Form der Demokratie. Und diese phantasmagorische Form, die doch Wirklichkeit ist, falsifiziert alle Feststellung und Bewertung von Tatsa­ chen, Tendenzen, Verhältnissen, die nicht auf das Ganze bezogen sind und den gesellschaftlichen Schein in ihre Begriffe aufnehmen. Das gilt auch für den Begriff der Negation, wie sie bei Marx im »Pro­ letariat« geschichtlich verkörpert ist. Marx hat den inneren Wider­ spruch aus der Struktur des Ganzen (des Kapitalismus) entwickelt und diese Entwicklung bis zu der Schwelle verfolgt, wo sie, in der Aktion des Proletariats, zur Revolution des Ganzen wird - oder werden kann. Die Negation der Negation innerhalb des bestehenden Ganzen ist nur als »Abweichung« anerkannt, d.h. aber, dialektisch nicht bewältigt; die Negation verselbständigt sich dem Ganzen gegenüber. Vielleicht ist der Grund für diese (»temporäre«) Stillstellung der Dialektik derselbe, auf dem Hegel es der Philosophie verbot, die gegebene geschichtliche Gestalt der Vernunft zu transzendieren: »Hic Rhodus, hic salta.« Ob der kapitalistischen Vernunft noch andere Formen der Bewältigung offen stehen, wissen wir nicht; die gegenwärtige Vernunft hat im Proletariat ihre Grenzen gefunden, die auch die Grenze der Hoffnung ist - der Blick bleibt auf die Rose am Kreuz der Gegenwart gerichtet. Aber bei Marx wie bei Hegel bestimmt die Grenze auch das, was jenseits der Grenze ist. Bei Hegel ist es Fortschritt und Rückkehr der Vernunft in das ideel­ le Reich (Kunst, Religion, Philosophie); bei Marx die klassenlose Gesell­ schaft. Die suspendierte Dialektik verführt zur Positivität: die dann von der Geschichte widerlegt wird. Und doch bleibt wahr, dass die Geschichte falsch sein kann und die Theorie richtig. Denn »wahr« und »falsch« meinen allgem ein -gültige Sachverhalte = gültig für das Lebewesen, das dieser Unterscheidung fähig ist, gleich gültig in allen Differenzen der Rasse, Sprache, Farbe, Nationalität, Klasse. In dieser Abstraktion liegt die Hybris der Theorie, 146

aber auch ihre (abstrakte, schwache) Freiheit von einer Faktizität, in der diese Unterschiede zu Verhältnissen der Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Unterdrückung geworden sind. Unter diesen faktischen Herrschafts­ verhältnissen treten die Begriffspaare »wahr«-»falsch« und »gut­ schlecht«, treten Logik und Ethik, Tatsache und Wert auseinander. Was »gut« für die grossen Konzerne ist (vielleicht) »gut« für das Volk, das an ihrem Segen teilhat, und es ist »schlecht« für das Volk, wie das in Vietnam. »Wahr« aber ist, dass diese Verteilung »falsch« ist und des­ halb »letzten Endes« auch nicht gut sein kann - allgemeingültig nicht gut sein kann, wenn anders auch die Konzernherren und ihre Politiker »letzten Endes« Menschen sind. Geschichte ist von den Herrschenden gemacht, die von diesen Unterschieden leben; wo sich ihr besonderes Interesse in der Gesellschaft als Ganzes durchsetzt, ist die Wahrheit im abstrakt-Allgemeinen. Hegel hat die Wirklichkeit des Allgemeinen in der Geschichte erkannt, aber er hat schliesslich die sich durchsetzende Faktizität des Allgemeinen mit der wahren Allgemeinheit identifiziert. Wenn auch das berühmte Distichon im Vorwort zur Rechtsphilosophie das Vernünftige nicht mit dem Bestehenden gleichsetzt, so tendiert doch in seiner Philosophie die Gesamtentwicklung der Geschichte zu einer solchen Gleichsetzung. Solange die Unterdrückung besteht, ist das Allgemeine (im abstrak­ ten) Begriff. Aber nicht nur im Begriff. Die spätindustrielle Gesellschaft hat nicht nur zu einer geographischen, sondern auch strukturellen Zer­ splitterung und Verlegung der Opposition geführt: die militante Praxis der nationalen Befreiung in den dem Neokolonialismus zum Opfer fal­ lenden Ländern, die zur Praxis strebende Intelligenz in den Metropo­ len. Kann diese neue geschichtliche Gestalt der Opposition (»Erbe« des Marxschen »Proletariats«?) als die Kraft des Negativen bestimmt wer­ den, die der Sprengstoff des bestehenden Ganzen ist? (In der Diskussi­ on dieser Frage kann es sich hier nur um eine abstrakte Analyse des Begriffs der dialektischen Negation handeln.) Ich stelle noch einmal die dialektischen Bestimmungen zusammen, auf Grund deren eine ausweisbare gesellschaftliche Kraft (ökonomisch­ politische Dynamik, Lebensbedingungen, soziale Klassen und Grup­ pen, etc.) als revolutionär (d.h. zu qualitativer Veränderung des Gan­ zen) angesprochen werden kann. (1) Die sprengende Kraft kann, ihrem Wesen nach, nicht innerhalb des bestehenden Ganzen gehalten werden: sie übersteigt es notwendig. 147

(Für Marx: die Produktivkräfte, und das vitale »Interesse« des Proleta­ riats.) (2) Sie muss befreien de Kraft sein in dem Sinne, dass sie auf die Möglichkeit geschichtlich »höherer« Formen der menschlichen Gesell­ schaft gerichtet ist (Für Marx: höher = rationaler, mit allseitiger Ent­ wicklung individueller Fähigkeiten und Bedürfnisse.) (3) Die durch die Revolution befreiten Fähigkeiten und Bedürfnis­ se tendieren, in ihrer Entwicklung und Befriedigung, zur Aufhebung der Ausbeutung, Unterdrückung, Aggression. Hierin sind sie wesentlicher Gegensatz und Widerspruch zu der Entwicklung und Befriedigung der Bedürfnisse im bestehenden Ganzen. (4) Die Entfaltung dieses Gegensatzes und Widerspruchs (d. h. die Entstehung befreiender und befriedender Bedürfnisse) hat zur Voraus­ setzung die Existenz der Negation im bestehenden Ganzen selbst: Frei­ heit von dem objektiven (gesellschaftlichen) Interesse (besser: von der gesellschaftlichen Notwendigkeit) der Ausbeutung und Unterdrückung. Dies ist die Grundbedingung für die Anwesenheit des Allgemeinen im Besonderen: die negierende Kraft ist je nur partikuläre Kraft, und nur als partikuläre wird sie aktiv (die umstürzende Praxis des Proletariats als besonderer gesellschaftlicher Klasse): die besondere Klasse muss daher von der herrschenden (falschen) Allgemeinheit getrennt sein, um das wahre Allgemeine repräsentieren zu können. (5) In der geschichtlichen Welt ist die sprengende Kraft bew usste Kraft, ihre Entfaltung ist vom »an sich« zum »für sich«. (Das Klassen­ bewusstein als notwendiger Faktor revolutionärer Praxis.) Hier, wo die materialistische Dialektik auf die Wirklichkeit des Ide­ ellen stösst, wird das Verhältnis von Bewusstein und Sein zu ihrem Schicksal. Das Schema ist klar: das gesellschaftliche Sein des Proletari­ ats bestimmt sein Bewusstsein; dies wird zur Erkenntnis der Notwen­ digkeit der sozialistischen Revolution und als solches Wissen zur Lei­ tung der Praxis: Wechselwirkung auf der sich verändernden materiel­ len Grundlage. Aber wenn das miserable gesellschaftliche Sein die Basis für das potentiell revolutionäre Bewusstein hergibt (falls es der Erkennt­ nis zugänglich ist und von ihr ergriffen wird), würde nicht das aus der Misere herausgearbeitete gesellschaftliche Sein zur nicht-revolutionä­ ren, sogar gegen-revolutionären Basis werden? Der Marxismus hat konsistent gegen die mechanistische Korrelation »Elend-revolutionäres Potential« protestiert und daraufhingewiesen, dass es selten die elend148

sten Schichten der Ausgebeuteten waren, die zu revolutionärem Bewusstsein und Handeln gelangten. Diese Entvulgarisierung des Mate­ rialismus bedeutet aber zunehmendes Gewicht des ideellen Faktors: es ist die Erkenntnis der unversöhnbaren Gegensätze, der Irrationalität und Destruktivität des Ganzen, der Unfreiheit im Schein der Freiheit, der verratenen Möglichkeiten des Menschen, die zum revolutionären Potential wird. Kurz = es ist die Vernunft, der »Begriff« der W irklich­ keit, in dem die Kraft des Negativen nun konzentriert ist; es ist die Ver­ nunft im Subjekt, die zur objektiven Vernunft, zur umstürzenden Pra­ xis treibt. Rückfall in die idealistische Dialektik, oder interne Dialektik des Historischen Materialismus, der die Realdialektik der späten Indu­ striegesellschaft reflektiert? Das Bewusstsein, die kritische Erkenntnis wird zur Kraft der Nega­ tion, indem das Bewusstsein der materiellen Grundlage gegenüber auto­ nom wird, zu ihr in Widerspruch tritt. Es negiert das bestehende Gan­ ze, obgleich diese Gesellschaft Fortschritt ist, das Elend reduziert, die Arbeit erleichtert, das Leben bequemer macht, die Produktivkräfte ent­ wickelt, die Wissenschaft fördert, den Weltraum erobert. Die erkennen­ de Vernunft tritt in Gegensatz zu diesem Ganzen, indem sie es als Schein erkennt und enthüllt - Schein, weil die »Gesellschaft im Über­ fluss« das Grauen, den Terror und das Elend in ihrem sich ausdehnen­ den Imperium reproduziert und die Unterdrückung organisiert und bewaffnet. Gegenüber dem materiellen Fortschritt, der so mit der Unter­ drückung und Ausbeutung im Bunde ist, wird die Negation wieder ide­ ell, »ideologisch« - aber in dem Sinn, in dem die Wahrheit der realen Falschheit gegenüber ideologisch ist. Und als ideelle Negation wird die Sprengkraft abstrakt: das Konkrete ist gegen sie abgedichtet. Damit ist die Einheit von Theorie und Praxis, die in der vorherge­ henden Periode wenigstens zeitweise wirklich war, zerrissen. Die zur Theorie gewordene Revolution tritt auch zu den gesellschaftlichen Klas­ sen in Widerspruch, die damals das geschichtliche Subjekt der Zukunft waren. Die Arbeit ist nicht mehr der Hebel des Umsturzes, und die ent­ fesselte Industriegesellschaft ist für ihren Fortschritt immer weniger auf die physische Arbeitskraft der Menschen angewiesen. Auch hier, im Produktionsprozess selbst wächst die gesellschaftliche Rolle der Ver­ nunft: hier als technische Intelligenz, Geschicklichkeit, Aufmerksam­ keit. Und hier ist auch die Einheit von Theorie und Praxis, Idee und Materie in neuer Unmittelbarkeit produktiv geworden: die »reine«, 149

abstrakte Dimension der Mathematik, Logik und Physik enthüllen ihren praktischen Wert im Betrieb der Informations-Industrie, der Eroberung des Raumes, der Rüstung und der Aggression. Die Phanta­ sie, einst Prärogative des Traums und der Dichtung, wird produktive Einbildungskraft im Dienst der Herrschaft. In wachsendem Masse wird die intelligible Welt zum Faktor der politischen Ökonomie, der Men­ schenverwaltung, der Unterdrückung. Wenn in der Geschichte der Marxistischen Dialektik das Ideelle, die intelligible Welt, die Vernunft zur gesellschaftlichen Sprengkraft im Materiellen und gegen das Materielle wird, so ist diese Entwicklung genuin: begriffene (und antizipierte) Realität. Aber es wäre eine dogma­ tische Stillstellung der Dialektik (oder ihre Verkehrung in positive Systematik), wenn die Vernunft, als Kraft der Negation, weiterhin in den Arbeiterklassen beheimatet wird, die an der Vernunft als Macht des Positiven, Bestehenden teilnehmen. Nicht die Trennung, sondern die Verbindung des revolutionären Bewusstseins mit dem gesellschaftli­ chen Sein dieser Arbeiterklassen verstösst gegen den Geist des Histori­ schen Materialismus, denn eine solche Verbindung hat keine gesell­ schaftliche Basis. Die Realdialektik der Industrie-Gesellschaft hat die Einheit von Theorie und Praxis noch an einer anderen Stelle zerrissen: dort wo die Chance der sozialistischen Revolution von der Solidarität der Ausge­ beuteten abhängig war. Je mehr die gegenwärtige Welt ein e wird, das politisch-ökonomische System global, seine Dynamik direkt internatio­ nal, desto grösser der Riss zwischen den beherrschten Klassen, desto aggressiver und abstossender die konkurrierenden Nationalismen und nationalen Interessen. Die organisierte Arbeiterschaft in den U.S.A. hat nichts mit den VietCong gemein (aber viel mit dem amerikanischen Kriegszug!), und die englischen und deutschen Organisationen der Arbeit folgen (mit wenigen Ausnahmen) dem amerikanischen Vorbild. Und innerhalb der Nation herrscht weitgehend Animosität, wenn nicht Feindschaft zwischen den Organisierten und Gesicherten der grossen Gewerkschaften einerseits und der drohenden Reservearmee der Neger, Puerto Rikaner, Mexikaner anderseits. Das Ersticken der Solidarität (Konsequenz der ungleichen Entwicklung des Kapitalismus - und des Sozialismus) ist ein zentrales Phänomen: es trifft nicht nur einen der humansten Marxschen Begriffe, sondern die Möglichkeit des Sozia­ lismus selbst: seine Realität. Denn die freie Gesellschaft kann nur als 150

wahrhaft internationale existieren, auf dem Grunde des allgemeinen Interesses. Im Verlust der Solidarität äussert sich die Macht der repressiven Industriegesellschaft über die Psyche: Abschaffung der Seele, Verwal­ tung des Restbestandes. Politische Solidarität, wie sie im revolutionä­ ren Klassenbewusstsein zum Ausdruck kommen sollte, erwächst auf triebhafter Grundlage: instinktiv-somatisches »Teilhaben« an dem Lei­ den und der Ohnmacht Anderer, das wiederum in Hass gegen die Ver­ ursacher umschlägt: instinktiv-somatische Unfähigkeit, ohne Hass mit ihnen zu leben. Daher, von Seiten des Systems, das die Gewalt zum Höchsten gemacht hat, die Predigt der Gewaltlosigkeit, die automatisch die gegen die herrschende Gewalt kämpfenden Gruppen ins Unrecht setzt und die Solidarität mit ihnen untergräbt. Wenn (nach Adorno) die Produktionsverhältnisse selbst zur Ideo­ logie werden, dann wird ebenso die Ideologie selbst unmittelbar zur Gewalt, die die Kernwaffen in Bewegung setzt, Massakres normalisiert, und die Menschen bei der Stange hält. Erst die Besetzung und Militär­ verwaltung der intelligiblen Welt durch den totalitären Apparat der Massenmedia hat diese Errungenschaft möglich gemacht. Mit ihr ist die prekäre Brücke abgebrochen, die in der Marxschen Dialektik die Nega­ tivität des gegenwärtigen Systems mit der Positivität des zukünftigen verbindet: die Ratio kann nicht mehr leisten, was ihr aufgetragen war. Sie kann nicht zum revolutionären Bewusstsein werden, weil sie in kei­ ner (potentiell) revolutionären Klasse die Gestalt ihrer Objektivität fin­ det, und wo sie Objektivität wird, d.h. sich als wirkende gesellschaftli­ che Kraft manifestiert, ist sie die Vernunft des Bestehenden, und als sol­ che ist sie zur materiellen Gewalt geworden. Als die Macht des Negativen, als die Kraft der Erkenntnis existiert sie nur subjektiv, im Bewusstsein und im Tun Einzelner (und Gruppen von Einzelnen), die gegen das Ganze stehen und über die das Ganze seine Übermacht aus­ übt. Aber der Einzelne, heute Mitglied einer intellektuellen Elite (die sich jedoch aus allen Klassen rekrutiert: erste Erscheinung radikaler Integration!), ist potentiell jed er Einzelne, alle Einzelnen. Denn sie sind alle die, die von dem Herrschaftsapparat erfasst sind, alle diejenigen, deren Existenz durch die Produktionsverhältnisse und deren Kulturma­ schine bestimmt ist - auch diejenigen, die ihre Heteronomie als Freiheit erleben. Denn sie sind alle Objekte einer Verwaltung, die die Menschen blind und taub macht gegen die Befreiung - selbst gegen die Notwen151

digkeit der Befreiung. Nicht mehr nur eine besondere Klasse, sondern die Totalität der »underlying polulation« ist »an sich« der gesellschaft­ liche Träger des Umsturzes - die Dialektik der späten Industriegesell­ schaft treibt über das Proletariat hinaus: aber nicht jenseits der beste­ henden Gesellschaft zu einer neuen Positivität, sondern in die bestehen­ de Gesellschaft zu einer neuen Gestalt der Negativität, und ihrer Überwindung. Der Erbe des Proletariats ist das verwaltete Ganze - alle Einzelnen. Aber nur »an sich«. Der existentielle Individualismus ist mehr als je zuvor Ideologie, Schein. Das Individuum gibt es nicht: das gesellschaft­ lich principium individuationis ist das der regimentierten Tauschgesell­ schaft, in die besondere Qualitäten nur als Tauschwerte eingehen; Indi­ vidualität ist gut für den Umsatz, die Konkurrenz, die Leistung. Über die Einzelnen, die nur »an sich« sind, hat die Herrschaft Gewalt, und die Gewalt, die jetzt auch den Geist und die Wissenschaft appropriiert hat, ist total auch dort, wo sie nicht angewandt wird, sondern auf »freiwilli­ ger Unterwerfung« beruht. Hier ist eine neue Form des Umschlags von Quantität in Qualität, mit der sich die materialistische Dialektik ausein­ andersetzen muss. Denn die Gewalt, die nicht nur die Technik, sondern auch die »reine« Wissenschaft, nicht nur die Naturwissenschaften, son­ dern auch die »behavioristischen« Sozialwissenschaften in Dienst genommen hat, ist qualitativ verschieden von früheren Entwicklungs­ stufen; sie ist Gewalt als Vernunft, Gewalt als Produktivität, als Reich­ tum. Als solche schickt sie sich an, die Welt zu erobern, und ihre blos­ se Anwesenheit, ihre Drohung genügt, um ganze Erdteile gefügig zu machen. Unter dem Druck der Notwendigkeit erweiterter Akkumula­ tion wird sie skrupellos eingesetzt, wo Widerstand jenseits der nationa­ len Grenzen ausbricht, und unter dem Druck der Notwendigkeit, ihre Ordnung aufrechtzuerhalten, wird sie im Innern der Nation gegen rebellierende Opfer des Systems losgelassen. Solcher Gewalt gegenüber erscheint nicht nur die Aktion eines Proletariats, sondern auch jede andere Aktion, die nicht über eine gleiche oder grössere Gewalt verfügt, hoffnungslos. Sie wirkt auch der Totalisierung des revolutionären Potentials entgegen, die in der Dynamik des Systems angelegt ist. Diese Totalisierung (aller Einzelner als Objekt repressiver Verwal­ tung) erschien als das Negativ des gleichgeschalteten Ganzen. Seine Einheit wäre dann selbst Schein: die (verwaltete) Gemeinsamkeit des Interesses an der Erhaltung und Ausdehnung des Ganzen wäre »an 152

sich« ebenso die Allgemeinheit des Interesses an seiner radikalen Ver­ änderung. Der innere Widerspruch wäre total. Aber diese Solidarität gegen das Ganze beruht auch auf Triebkräften, die wiederum auf Iden­ tifizierung m it dem Ganzen drängen. Es ist eine Solidarität der Schuld. Der Begriff der Kollektivschuld ist kein metaphysischer Begriff: er schreibt die Verantwortung nicht einem hypostasierten Kollektiv zu, sondern vielen Einzelnen als Einzelnen. Wenn ich weiss, was geschieht, wenn ich Photographien der Gefolterten und Verbrannten sehe, wenn ich die Augenzeugen-Berichte über die systematische Vergiftung und Zerstörung von Nahrungsmitteln hungernder Menschen lese, und dazu schweige, bin ich schuldig. Es gibt Grade der Schuld: wenn mein Pro­ test mich das Leben kosten würde, oder das Konzentrationslager, ist der Grad gering - niemand, der nicht selbst das Opfer gebracht hat, kann mich schuldig sprechen. Und keine Entschuldigung gibt es in der freien Demokratie, wo die Tatsachen zugänglich sind und das Recht des Widerspruchs verfassungsmässig gesichert ist. Berufung auf das natio­ nale Interesse intensiviert die Schuld, denn dieses ist selbst den Normen untergeordnet, die es ausser Kraft zu setzen sich anmasst. Die Verteidi­ gungskriege eines mit den tödlichsten modernen Waffen ausgerüsteten Systems, das sich in den entferntesten Ecken der Welt von den schwäch­ sten und ärmsten Menschen bedroht fühlt, sind Angriffskriege, und sei­ ne strategischen Vernichtungen sind Mord. An dem nationalen Verbre­ chen nehmen die teil, die wissen und schweigen. Das Verbrechen wird verdängt, indem es auf das nationale Interesse (definiert vom Führer) übertragen wird: Verantwortlichkeit der Einzelnen ist delegiert auf ihre Repräsentanten. Die Demokratie vereinigt Volkssouveränität und Unverantwortlichkeit des Volkes, Schuld und Unschuld. In dieser Ein­ tracht perpetuiert sie die Untaten als Kreuzzug. Aber mindestens seit Freud wissen wir, welche Rolle das Verbre­ chen (und welches Verbrechen) in der Entstehung und Stabilisierung der politischen Gemeinwesen spielt. Die Söhne, die, ohne selbst die legalistische Rechtfertigung einer Kriegserklärung zu haben, bomben, verbrennen und vergiften, vergehen sich nicht gegen den (unechten) Landesvater, sondern gegen den biologischen Vater, der ihnen einst die Gebote beigebracht hat, die der Gott-Vater geheiligt hatte. Die Demo­ kratie, in der die Mehrheit der Söhne (mit ihren Vätern) dem Verbre­ chen zustimmt, demokratisiert die Schuld, ohne sie zu sühnen. Die Ver­ antwortung wird von den Einzelnen auf das Ganze abgewälzt. Das Gan153

ze ist schuldig: Totalisiemng der Schuld. Sie ist das Korrelat der totalisierten Herrschaft: ihrer Ausübung und ihrer Akzeptierung. Die Dynamik der späten Industriegesellschaft führt über das Prole­ tariat (als umstürzender Kraft, als Negation) hinaus zu dem Ganzen. Es ist Einheit der Positivität (des Bestehenden) und der Negativität (die gesamte verwaltete Bevölkerung ist, als ausgebeutete, »an sich« die umstürzende Kraft.) Es ist eine erstarrte, versteinerte Kraft. Ihre Ent­ wicklung zum Bewusstsein und zur Praxis ist blockiert von der dreifa­ chen Macht der nur den Herrschenden verfügbaren totalen Gewalt, des hohen Lebensstandards, und der Gleichschaltung der Triebe und des Geistes. Das heisst aber, dass die qualitative Änderung (die Negation der Negation) nun das G anze betreffen muss: die Beherrschten und die Herrschenden. Der Marxsche Begriff des Umschlags liess das neue geschichtliche Ganze, den Sozialismus, in und aus dem bestehenden Ganzen (durch die Revolution) entstehen; jetzt scheint es, dass das neue Ganze »a u sserh a lb « des bestehenden entstehen müsste, und dass der Umschlag es »von aussen« treffen würde. (Es ist nur ein schwacher Trost für diese Heterodoxie, dass das »aussen« eigentlich ein »innen« ist, da die Welt der späten Industriegesellschaft die eine Welt ist.) Die­ se Konzeption ist nicht nur eine Folgerung abstrakt-dialektischer Logik: wenn es wahr ist, dass das gesellschaftliche Subjekt des Umsturzes durch ein »Interesse« konstituiert ist, das dem etablierten Ganzen wesentlich entgegensteht, qualitativ anders ist, und nur durch die Ver­ änderung des Ganzen erfüllt werden kann, dann weist die gegenwärti­ ge Periode auf ein ausserhalb der hochentwickelten Industriegesell­ schaft stehendes geschichtliches Subjekt. Damit ist die vorne gestellte Frage teilweise beantwortet: die dieser Gesellschaft noch nicht einge­ gliederten, aber von ihr ausgebeuteten und bekämpften Völker, Schich­ ten, Gruppen wären das potentielle (und wo sie im Kampf stehen - aktu­ elle) geschichtliche Subjekt des Umsturzes. Aber auch hier verbietet die dialektische Analyse jede Hypostasie­ rung einer zukünftigen Positivität. Gewiss, diese »Aussenstehenden« sind wesentlich andere Menschen, die Majorität der Menschen, mit menschlichen Bedürfnissen und Aspirationen. Aber eine Reihe sehr konkreter Faktoren steht der geschichtsphilosophischen Schematisie­ rung entgegen und verdunkelt die Chance der Rückständigen; insbeson­ dere die ökonomische und technische Schwäche und die Zersplitterung dieser Kräfte (unterlegene Gewalt gegenüber der höchstentwickelten 154

Gewalt), und die vieldeutige Rolle der grossen kom m u n istischen M äch­ te. Sie ist nicht nur ein strategisches und politisches Problem, sondern sie betrifft die globale gesellschaftliche Struktur dieser Länder in ihrer Differenz zum gegenwärtigen Kapitalismus. Ist die sich nach dem Sowjet-Modell entfaltende sozialistische Gesellschaft (aktuell oder potentiell) die bestimmte Negation der kapitalistischen? Vorab muss gesagt werden, dass die Verstaatlichung der Produkti­ onsmittel und die staatliche Planung eine von der kapitalistischen wesentlich verschiedene Basis der Entwicklung darstellt, auf der ein wirkliches Allgemeininteresse entstehen könnte. Nicht der Mangel an Demokratie, nicht die bureaukratische Diktatur steht dem entgegen, sondern die eingeschlagene Richtung und die Ziele der Diktatur, näm­ lich, die in der feindlichen Koexistenz fundierte repressive Steuerung der Gesellschaft. Aber die Frage ist noch prinzipieller: ist die Verände­ rung der Produktionsverhältnisse eine ausreichende (oder grundlegen­ de) Bestimmung der qualitativen Differenz? Oder muss nicht - in Anbe­ tracht der Tatsache, dass die Unterdrückung (und Ausbeutung) sich vom Proletariat als den unmittelbaren Produzenten auf die gesamte beherrschte Bevölkerung ausgedehnt hat - die qualitative Differenz anders bestimmt werden? Und zwar nicht nur so, dass die Bestimmung noch andere Faktoren zu dem Produktionsprozess hinzufügt, sondern so, dass der Begriff des Sozialismus selbst einen anderen Inhalt auf­ nimmt? Sozialismus war konzipiert als Befreiung von der Not und von einem die Not perpetuierenden System gesellschaftlicher Herrschaft. Diese Konzeption erfasste die Periode, die der des Weltsystems des Monopolkapitalismus und des mit ihm koexistierenden Kommunismus voranging. Was ist heute der Sinn von Befreiung? Er schliesst zwei anscheinend entgegengesetzte Ziele ein: Befreiung von der Not; Befreiung von (die Not perpetuierendem) Überfluss. Befreiung von der Not ist das Ziel für die faktisch entrechteten und armen Schichten in den Industrieländern, und für die rückständigen Länder (in denen, unter dem System des Neukolonialismus, soziale und nationale Befreiung koinzidieren). Befreiung der »Gesellschaft im Überfluss« heisst Befreiung des Menschen von ihrer (die Reproduktion des Überflusses ermöglichenden) introjizierten Dummheit, Gleichgül­ tigkeit, Brutalität - notwendige Voraussetzung für eine vernünftige und 155

das Elend überwindende Produktionsweise. (In diesem Sinne wenig­ stens besteht der Begriff der »kulturellen« Verarmung zu Recht: die Ver­ dummung ist zu einem ökonomischen Faktor geworden - »Produktiv­ kraft« in der fortgeschrittenen Klassengesellschaft. In beiden Dimensionen der Befreiung ist der Weg nicht der der D em okratisierung. Das muss ausgesprochen werden in einer Situation, in der »Demokratie« zur ideologischen Waffe geworden ist, die gegen die Befreiung eingesetzt wird. Nur die Verdummung und die ohnmäch­ tige Gleichgültigkeit stehen der Einsicht entgegen. In der Realität ist es die grosse Demokratie des Westens, die eine faschistische oder vorfa­ schistische Militärdiktatur nach der anderen einsetzt, anerkennt, oder finanziert - mit Wissen und Willen des demokratischen Volkes und sei­ ner Repräsentanten. Und diese faschistischen Diktaturen sind nicht gegen die Demokratie gerichtet (mit der sie nach relativ kurzer und bru­ taler »Schulungsperiode« vereinbar wären), sondern gegen die andere Diktatur, die Diktatur von links, die unter den gegebenen Verhältnis­ sen der Weg zur Befreiung ist. Denn was heute Demokratie ist, ist, in der »Gesellschaft im Überfluss«, die kontrollierte Freiheit eines Demos, der, gut geschult und indoktriniert, will, was die Herrschaft will, und dessen Abweichungen und Opposition im Rahmen der Herrschaft bleibt. Und in den im Rückstand gehaltenen Staaten ist das Volk zu elend, zu schwach, um sich als die Majorität, die es ist, zu konstituieren und durchzusetzen; gegenüber der konzentrierten ökonomischen und militärischen Gewalt seiner »eigenen«, von aussen abhängigen Regie­ rung kann es sich nur in »illegalen« minoritären Kampfgruppen orga­ nisieren. Die Diktatur, nicht der Freiheit, aber der Befreiung erscheint hier als die Strategie der Revolution »von unten«.

K in d e r d e s P ro m e th e u s Thesen zu Technik und G esellschaft

Seinen letzten öffentlichen Auftritt vor seinem Tod in Starnberg hatte Herbert Marcuse als Referent der 6. Römerberggespräche am 18. Mai 1979. Er war schon geschwächt und musste in dieser Zeit mehrmals ein Frankfurter Krankenhaus aufsuchen. Sein Herz und seine Nieren waren stark angegriffen. In Frankfurt erholte sich Marcuse wieder etwas und folgte dann einer Einladung von Jürgen Habermas nach Starnberg. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich dort in kurzer Zeit dramatisch. Darüber hatte Habermas Leo und Susanne Löwenthal informiert, die in den siebziger Jahren wieder sehr engen Kontakt mit­ einander hatten. Sie schickten via Habermas am 15. Juni 1979 besorgte Gene­ sungsgrüße. Ein Glückwunschtelegramm von Löwenthals zum 80. Geburtstag erreichten Marcuse im Kreiskrankenhaus von Starnberg, wo er sich zuerst ambu­ lant, dann aber stationär medizinisch versorgen lassen musste. Marcuse starb an Herzversagen am 29. Juli 1979. Das Thema der Römerberggespräche, an denen unter anderen auch der Physiker Robert Jungk, der Frankfurter Politologe Iring Fetscher und der Psycho­ analytiker Horst-Eberhard Richter teilnahmen, lautete Die Angst des Prometheus, Fortschritt ohne Sinn. Die Moderation und Organisation lag in der Verantwortung von Erhard Denninger. Im Marcuse-Archiv findet sich ein handschriftlich verfasstes Thesenpapier (565.00), das 12 Seiten umfasst. Dieses Papier diente dem Abdruck in der Zeit­ schrift Neues Forum (Heft 307/8) als Vorlage. Im Originalmanuskript sind nicht 25, sondern 30 Thesen zu finden. Einige Inhalte der Thesen des Originals sind in dem hier wieder zugänglich gemachten Vortrag inhaltlich zusammengefasst. Auffällig ist aber, dass Marcuses Thesen 29 und 30, im Originalmanuskript mit »Zusammenfassung« überschrieben, nicht berücksichtigt wurden. Dem Heraus­ geber sind sie aber so bedeutend, dass sie hier im Wortlaut nachgeeicht wer­ den.

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These 29: Der destruktive Fortschritt hat einen Sinn und hat eine Zukunft. Er lie­ fert das Instrumentarium für eine befreite Gesellschaft: die technischen Mittel zur Abschaffung der Armut, zur Umkehrung des Verhältnisses von gesellschaftlich notwendiger (entfremdeter) und freier Zeit. Aber die Freisetzung des befreien­ den Potentials der Technik setzt den Umschlag von Quantität in Qualität voraus: Die radikale Transformation des technischen Instrumentariums von der Flerrschaft über den Menschen zur Autonomie des Menschen, von der Zerstörung der Natur zu ihrer Wiederherstellung als Umwelt des befreiten Lebens kann nur als eine radikale Veränderung der Bedürfnisse begriffen werden. These 30: Dieser Bruch mit dem gegebenen System bleibt das Anliegen politi­ scher Praxis, - aber einer Praxis, die ihre subjektive Basis in der Triebstruktur, und im Bewusstsein der Individuen hat. In ihr gründet die Umwertung der Werte, die die reale Möglichkeit mensch­ lichen Fortschritts hier und jetzt anzeigt. Er stünde unter der regulativen Idee, Menschen aufwachsen zu lassen, denen es physisch und psychisch unmög­ lich wäre, ein neues Auschwitz zu erfinden. Es konnte nicht ermittelt werden, ob Marcuse diese Zusammenfassung nicht referiert hat, oder die Redaktion des Neuen Forums diese Thesen bewusst nicht publiziert hat. Der hiesige Abdruck folgt der Erstveröffentlichung. Die Überschrift wurde übernommen.

1. Fortschritt-Kriterien: Stand der Naturbeherrschung, Stand der menschlichen Freiheit. Beide Tendenzen sind positiv und negativ auf­ einander bezogen: Herrschaft über die Natur ist zugleich Herrschaft über Menschen, mittels des technisch-wissenschaftlichen Apparats der Kontrolle, Steuerung, Manipulation; Apparat der Unfreiheit. A ber: Herrschaft über die Natur ist auch Herstellung und Verfügbarkeit über die Mittel zur Befriedung des Existenzkampfes - Apparat der Freiheit. 158

2. Die westliche Industriegesellschaft hat von Anfang an den Pri­ mat der Naturbeherrschung auf Kosten der Freiheit festgehalten. Das geschah im Rahmen einer politischen Emanzipation (bürgerliche Demokratie). Diese Demokratie kompensierte für die Unterwerfung der Menschen unter ihre Arbeit mit der (weitgehend scheinhaften) Wahl der Herrschenden durch die Beherrschten und durch die Erhöhung des Lebensstandards (quantitativer Fortschritt). 3. Dieses Herrschaftssystem wird reproduziert durch die Befrie­ dung materieller und kultureller Bedürfnisse für die Mehrheit der Bevöl­ kerung - bei gleichzeitiger Steuerung der Bedürfnisse durch den die Ökonomie immer mehr regelnden Staatsapparat. 4. Der Schein der Selbstbestimmung (oder wenigstens Mitbestim­ mung) ermöglicht die Internalisierung der das System reproduzieren­ den Bedürfnisse (systemimmanente Bedürfnisse): Das Aufoktroyierte wird zum Angebotenen und dann zum Eignen des Individuums, zum Gewählten. 5. Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte ist dem Kapi­ talismus durch seine eigene Dynamik aufgezwungen: notwendige inten­ sive und extensive Ausbeutung der Natur, Steigerung der Produktivität der Arbeit unter dem Druck auf die Profitrate und auf die erweiterte Akkumulation. Konsequenz: Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Prinzip produktiver Destruktion - Kernkraftindustrie, Umweltver­ giftung, Entmenschlichung der Arbeit. Aggression auch in der »popu­ lär culture«: im Sport, Verkehr, Musik, Pornographie ... 6. Der Prozeß der produktiven Destruktion ist im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft irreversibel. Die Aufhebung des produkti­ ven Destruktionsprinzips widerspricht dem Organisationsprinzip des Kapitalismus. 7. Notwendigkeit der Expansion und der entfremdeten Arbeit. In der gegenwärtigen Periode kündigt sich die mögliche Negation des quantitativen Fortschritts nicht primär in der politökonomischen Basis an (keine Endkrise!), sondern in der kulturellen Sphäre (Kulturrevolu159

tion!): In der Desintegration der Normen, auf deren Legitimierung und Anerkennung im Verhalten der Menschen das Funktionieren des Kapi­ talismus beruht (Verhalten in der Arbeit und Freizeit). 8. Diese nicht mehr als legitim und lebensnotwendig erscheinen­ den Normen sind u.a.: die puritanische Arbeit, die menschliche Existenz als Produktionsmittel, die bürgerlicher Sexualmoral, das Leistungs­ prinzip ... Diese Weigerung, das Bestehende zu legitimieren, erscheint nicht nur in den »Katalysatoren-Gruppen« der Gegenkultur (Studenten- und Frauenbewegung, Bürgerinitiativen usw.), sondern auch in der Arbei­ terklasse selbst: spontane Sabotage, Absentismus, Forderung nach Kür­ zung der Arbeitszeit. 9. Die Negation des quantitativen Fortschritts ist bestimmte Nega­ tion: Sie schöpft ihre wirkliche Kraft aus den in der bestehenden Gesell­ schaft schon diese transzendierenden Tendenzen. Sie erscheinen sub­ jektiv in der radikalen Umwertung der Werte der Gegenkultur; objek­ tiv in der Reife (Überreife) der Produktivkräfte, die eine Überwindung des Mangels zur realen (nur von den herrschenden politökonomischen Interessen verhinderten) Möglichkeit macht. 10. Angesichts der Konkretheit der Utopie darf die Umwertung der Werte in der Kulturrevolution nicht als bloße Ideologie, Überbau abge­ tan werden. Sie ist getragen von einem wahren Bewußtsein, das zugleich antizipierendes Bewußtsein ist. Außerdem realisiert sich dieses Bewußt­ sein in gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensweisen. Zum Beispiel: Enttabuierung der Sprache; Emanzipation des Kör­ pers von seinem Gebrauch als Produktionsinstrument: die »neue Sinn­ lichkeit«; Ausscheiden aus dem Konkurrenzkampf... 11. Technischer Fortschritt ist objektive Notwendigkeit für den Kapitalismus sowohl wie für die Emanzipation. Letztere ist abhängig von einer Weiterentwicklung der Automation bis zu dem Punkt, wo die herrschende »Ökonomie der Zeit« (Bahro) umgestürzt werden kann: freie schöpferische Zeit als Lebenszeit.

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12. Aber vielleicht ist das ein Kurzschluß, zu sagen, daß nur der Mißbrauch von Wissenschaft und Technik an der fortdauernden Repression schuldig ist: Die Umwertung der Werte und Zwänge, die Emanzipation der Subjektivität, des Bewußtseins könnte sehr wohl schon in der Konzeption der Technik selbst, im Aufbau des technisch­ wissenschaftlichen Apparats wirksam werden. Die Technik der Emanzipation könnte eine andere als die der Herr­ schaft sein: andere gesellschaftliche Prioritäten der Forschung, andere Größenordnung des Apparats ... Vielleicht ist die Technik die Wunde, die nur durch die Waffe, die sie schlug, geheilt werden kann: nicht Abbau der Technik, sondern Umbau zur Versöhnung von Natur und Gesellschaft. 13. Ein Kurzschluß wäre es auch, wenn die Auflösung der repres­ siven Konsumgesellschaft durch eine aufoktroyierte Einschränkung des Konsums durchgeführt würde: Das hieße, die Emanzipation mit inten­ sivierter Repression beginnen! Entscheidende Rolle des »subjektiven Faktors«: Die Emanzipation von der Konsumgesellschaft muß zum vitalen Bedürfnis der Individu­ en selbst werden. Und das selbst wieder voraus: eine radikale Transfor­ mation des Bewußtseins und der Triebstruktur der Individuen. Voraussetzung ist die interne Schwächung der Konsumgesellschaft in ihrer politökonomischen Basis. 14. Aber ein sinkender Lebensstandard verändert noch nicht das bestehende System der Bedürfnisse, ihrer Qualität: Selbst wenn die Menschen nicht mehr Automobile, mehr »gadgets«, mehr Komfort haben könnten, würden sie noch diese Waren begehren! Das unerfüll­ te Bedürfnis bleibt Bedürfnis! Was sich ändern müßte, wäre der Unterbau unter der ökonomisch­ politischen Basis: das Verhältnis zwischen Lebens- und Destruktions­ trieben in der psychosomatischen Struktur der Individuen. Das hieße: Veränderung der heute dominierenden psychosomatischen Struktur, die das Einverständnis mit der Destruktion, die Gewohnheit an das ent­ fremdete Leben, das nicht immer schweigende Einverständnis mit der Aggression und Destruktion trägt.

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15. Wie soll diese Umwälzung in den Individuen selbst zustande kommen? Die »Kinder des Prometheus« sind nicht »ratlos«: Die über den Fortschritt heute Entscheidenden, die Herren der Wirtschaft und der Politik, machen weiter. Die lange Sicht interessiert sie nicht übermäßig: die anderen, die diesen Fortschritt nicht mehr ertragen wollen, konsti­ tuieren sich, fast spontan, zu einer Opposition in neuen Formen, zum großen Teil außerhalb und gegen die etablierten politischen Parteien und Klassenorganisationen. 16. Es ist ein Protest aus allen Klassen der Gesellschaft, motiviert von einer tiefen, körperlichen und geistigen Unfähigkeit mitzumachen, von dem Willen, das zu retten, was noch an Menschlichkeit, Freude, Selbstbestimmung zu retten ist: Revolte der Lebenstriebe gegen den gesellschaftlich organisierten Todestrieb. 17. Dieser Protest gegen den produktiv-destruktiven Fortschritt aktiviert den subjektiven Faktor in der Umwälzung: Er verankert die Emanzipation in der zum Objekt gemachten Subjektivität. 18. Die Verankerung der Revolte in der Subjektivität der mensch­ lichen Existenz macht die Bewegung allergisch gegen umfassende Orga­ nisation. Das schwächt ihre Stoßkraft, isoliert sie von den Massen und gibt ihr den elitären Anschein und die Qualität des Unpolitischen: Flucht aus der politischen Theorie und Praxis. 19. Fehleinschätzung: Der politische Stellenwert der Subjektivierung liegt in den (von den Massenorganisationen und ihrer Ideologie verdrängten) Werten der Selbstbestimmung. Er liegt in der Konkretisie­ rung der längst ins Abstrakte relegierten qualitativen Differenz. Es geht um jeden einzelnen und die Solidarität von einzelnen; nicht nur um Klassen oder Massen! 20. Wenn die traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen selbst zur Reproduktion des destruktiven Fortschritts beitragen müssen und wenn die gesellschaftlichen Gegensätze zu einer repressiven Einheit zusammengekommen sind: ein unwahres Ganzes, 1 62

in dem der Fortschritt weitertreibt, ohne je über dieses Ganze hinaus­ zugehen, dann mögen die Kräfte qualitativen Fortschritts sehr wohl in antizipatorischen (»frühreifen«) Formen einer auf die Individuen zen­ trierten Gegenkultur zur Erscheinung kommen! 21. Aber diese Gegenbewegung ist im höchsten Grade ambivalent: Einerseits ist die »Verkörperung« (im wörtlichen Sinn!) der Revolte gegen den quantitativen Fortschritt negativ, insofern sie bei der Weige­ rung stehen bleibt; andererseits ist sie positiv, wo sie im Zeitalter der totalen Integration die konkrete Utopie eines Fortschreitens über das Gegebene hinaus bewahrt: wo sie gegen die Produktivität der instru­ menteilen Vernunft auf die kreative Rezeptivität der Sinnlichkeit, wo sie gegen die Allmacht des Leistungsprinzips auf das Recht des Lustprin­ zips insistiert. 22. Dieses Fortschreiten in ein Neues erscheint heute in der Frau­ enbewegung gegen die patriarchalische Herrschaft, die erst im Kapita­ lismus zur gesellschaftlichen Reife gekommen ist; in dem die fixierte Klassengliederung überschreitenden Protest gegen die Atomindustrie und die Zerstörung der Natur als Lebensraum; und: in der trotz aller Totsagung immer noch lebendigen Studentenbewegung in ihrem Kampf gegen die das System reproduzierende Degradierung des Lernens und Lehrens. 23. Während diese Formen des Protests ihren (unorthodoxen) poli­ tischen Stellenwert bewahren, ist die Politisierung gebrochen, wo die Weigerung in der Innerlichkeit steckenbleibt: Die Verzweiflung am Politischen führt dann zu jener berüchtigten »Reise nach innen«, die in der sogenannten »Politik in der ersten Person« als Scheinpolitik Aus­ druck gefunden hat. 24. Diese Reise nach innen wird dann zu jener (besonders in der Literatur herrschenden) Veröffentlichung des nur Privaten: Sie wird zur Aufspreizung des Ichs als Zentrum auch der politischen Welt. A ber - nicht alle Probleme, Sorgen, Erlebnisse des Ich sind gesell­ schaftlich relevant, auf das Konto der Klassengesellschaft zu schreiben!

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25. Es gibt ein Kriterium, an dem sich zeigt, wie sich heute authen­ tische von nichtauthentischer Innerlichkeit unterscheidet; jede Verin­ nerlichung, jede veröffentlichte Erinnerung, die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält, die von Auschwitz als belanglos desavouiert wird, ist Flucht, Ausflucht; und ein Begriff des Fortschritts, der nicht eine Welt begreift, in der Auschwitz immer noch möglich ist, ist (in schlechtem Sinne) abstrakt.

Ö k o lo g ie u n d G e se llscha ftskritik

In den frühen siebziger Jahren setzte sich Marcuse mit den Neuen Sozialen Bewegungen auseinander, die sich nach dem Niedergang der Studentenbewe­ gung zahlreich konstituierten. Neben Interviews und Publikationen zum Feminis­ mus1 beschäftigte sich Marcuse immer intensiver mit den Auswirkungen der Zer­ störung der natürlichen Umwelt. Schon im Eindimensionalen Menschen finden sich zahlreiche Passagen, die sich mit dem destruktiven Charakter frei entfes­ selter Technologien beschäftigen. So heißt es in dem Kapitel Vom negativen zum positiven Denken: technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft: »Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen, dass die Zerstörung der Preis des Fortschritts ist, wie der Tod der Preis des Lebens.. .«.2 Eine Technik, die sich einzig in den Dienst der Herrschaft stellte, von dieser kontrolliert wird und die Lebensgrundlagen der Menschen nicht mehr im Blick hat, hatte nach Marcuses Analysen nichts mehr mit gesellschaftlichem Fortschritt zu tun. Drei Jahre nach dem Tod Marcuses schickte Bruce Johnson von der Uni­ versität in San Diego ein 25 Seiten umfassendes Skript (0565.00), dem ein Ton­ bandmitschnitt eines Redebeitrages von Marcuse zugrunde lag. In dem beige­ fügten Brief3 bittet er Ricky Sherover-Marcuse (1938-1988), Marcuses dritte Ehe­ frau,

und

Peter Marcuse,

diesen

Vortrag

in einem

Sammelband

zu

veröffentlichen. Dazu kam es nicht. Marcuse hielt diesen Vortrag mit dem Titel Ecology and the Critique of Modern Society am 23. April 1979 vor Studentinnen und Studenten, die einen »Wilderness-Course« belegt hatten. Mitorganisatoren waren Aktivisten des Modern Wilderness-Movement. Der Beitrag erschien erstmals 1989/1990 in dem vergriffenen Band Befrei­ ung Denken - ein politischer Imperativ.4 Die Übersetzung besorgten Eva Maria Krampe und Peter-Erwin Jansen. Der Titel wurde vom Herausgeber in Anlehnung an den amerikanischen Vortragstitel gewählt. 165

1 Unter dem Titel »Marxismus und Feminismus« erschien in der Monatszeitschrift links, die vom Sozialistischen Büro in Offenbach herausgegeben wurde, ein Vortrag in deut­ scher Übersetzung, den Marcuse am 7. März 1974 auf Einladung des Center for Research on Women in Stanford gehalten hatte. In der darauf folgenden Ausgabe führ­ te die links-Redaktion ein Interview mit Marcuse zu diesem Vortrag. In einigen späte­ ren Ausgaben kritisierten dann in umfangreichen Stellungnahmen Vertreterinnen des Frauenzentrums Berlin und die Soziologin Eva Senghaas-Knobloch die Thesen Marcuses. Vgl. Susanne Kill: Marcuse, die Weiblichkeit und eine alte Utopie, in: Peter-Erwin Jansen (Hg.): Befreiung denken - ein politischer Imperativ, Offenbach 1990, S. 99-109. Marcuses Vortrag ist abgedruckt in: Marcuse, Schriften, Bd. 9, S.131-143. 2 Herbert Marcuse: Der Eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrit­ tenen Industriegesellschaft, Darmstadt 1967, S. 160, wieder veröffentlicht in: Marcuse, Schriften, Bd. 7 3 Johnson an Marcuse, 2. Juni 1982, Marcuse-Archiv, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. (565.02) 4 Weitere Veröffentlichungen des Beitrages: Herbert Marcuse and Radical Ecology, in: Capitalism, Nature, and Socialism, Vol. 3, Nr. 3 (Sept. 1992), 43-46; Commenti da Her­ bert Marcuse, in: Capitalismo Natura Socialismo, N. 6 (Anno II N. 3) Dicembre 1992: 61-64

Vielen Dank für die herzliche Begrüßung. Ich freue mich sehr darüber, heute hier sprechen zu können. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt noch etwas Aktuelles zum Problem beitragen kann. Denn wie Sie wis­ sen, hat Präsident Carter mehr als sechsunddreißig Millionen Morgen Wildnis unter das Primat kommerzieller Entwicklung gestellt. Es gibt also kaum noch genug unberührte Natur, die wir erhalten könnten. Aber dennoch werden wir es weiter versuchen. Was ich zu tun beabsichtige, ist, die Zerstörung der Natur im Zusam­ menhang mit der generellen Zerstörung zu diskutieren, die unsere Gesellschaft charakterisiert. Dann möchte ich den Wurzeln dieser Zer­ störung in den Individuen selbst nachspüren; das heißt, ich werde die psychologische Zerstörung im Innern der Individuen untersuchen. Meine heutigen Ausführungen beruhen größtenteils auf dem grund­ legenden psychoanalytischen Konzept, das von Sigmund Freud entwikkelt wurde. Zu Beginn werde ich in kurzer und vereinfachender Weise die wichtigsten Freudschen Begriffe, die ich verwende, definieren. Zuerst Freuds Hypothese, daß der lebende Organismus von zwei Primärtrieben oder Instinkten geformt wird. Den einen der beiden nennt er Eros, ero166

tische Energie, Lebenstrieb; diese Begriffe werden mehr oder weniger synonym verwendet. Den anderen nennt er Thanatos, zerstörerische Energie, den Wunsch, Leben zu zerstören, Leben zu vernichten. Freud beschreibt diesen Wunsch als den frühesten Todesinstinkt im menschli­ chen Sein. Den anderen psychoanalytischen Begriff, den ich kurz erläu­ tern werde, bezeichnet Freud als Realitätsprinzip. Das Realitätsprinzip kann im einfachsten Sinne definiert werden als die gesamte Summe der Normen und Werte, die von einer bestehenden Gesellschaft als herr­ schendes, normales Verhalten verlangt werden. Abschließend werde ich kurz die Aussichten einer radikalen Ände­ rung in der heutigen Gesellschaft skizzieren. Radikale Änderung definie­ re ich als eine Veränderung nicht nur in den grundlegenden Institutio­ nen und Beziehungen der bestehenden Gesellschaft, sondern auch im individuellen Bewußtsein in solch einer Gesellschaft. Radikale Verän­ derung kann weiterhin so tiefgehend sein, daß sie das individuelle Unbe­ wußte beeinflußt. Diese Definition befähigt uns, zu unterscheiden zwi­ schen radikaler Veränderung des ganzen gesellschaftlichen Systems und Veränderungen innerhalb dieses Systems. Mit anderen Worten, radika­ le Veränderung muß beides zur Folge haben: eine Veränderung in gesell­ schaftlichen Institutionen und ebenso eine Veränderung der vorherr­ schenden Charakterstruktur der Individuen in dieser Gesellschaft. Meiner Meinung nach ist unsere heutige Gesellschaft durch eine Erweiterung der zerstörerischen Charakterstruktur ihrer Individuen gekennzeichnet. Aber wie können wir über solch ein Phänomen reden? Wie können wir den zerstörerischen Charakter in unserer Gesellschaft identifizieren? Ich vermute, daß bestimmte symbolische Ereignisse, symbolische Entscheidungen, symbolische Handlungen die Tiefendimension der Gesellschaft veranschaulichen und erläutern können. Das ist die Dimen­ sion, in der die Gesellschaft im Bewußtsein und Unbewußten der Indi­ viduen selbst reproduziert wird. Diese Tiefendimension ist grundlegend für die Erhaltung der bestehenden politischen und ökonomischen Ord­ nung der Gesellschaft. Ich werde drei Beispiele solcher symbolischen Ereignisse anführen, um die momentane Tiefendimension der Gesellschaft zu erläutern. Erstens möchte ich betonen, daß die Zerstörung, von der ich spreche, die destruktive Charakterstruktur, so beherrschend in unserer Gesell­ schaft ist, weil sie im Zusammenhang mit der institutionalisierten Zer167

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Störung gesehen werden muß, die charakteristisch für die äußeren und inneren Angelegenheiten ist. Diese institutionalisierte Zerstörung kennt jeder und Beispiele dafür zu bringen, ist einfach. Sie schließt die konstan­ ten Steigerungen des Rüstungsetats auf Kosten der Sozialausgaben, die Ausbreitung nuklearer Einrichtungen, die allgemeine Vergiftung und Verschmutzung unserer Umwelt, die eklatante Unterordnung der Men­ schenrechte unter die Forderungen globaler Strategien und die Kriegs­ bedrohung im Falle einer Herausforderung dieser Strategie mit ein. Die­ se institutionalisierte Zerstörung ist sowohl offen als auch legitimiert. Der Zusammenhang wird hergestellt, indem die individuelle Reproduk­ tion der Zerstörung stattfindet. Kommen wir zu den drei Beispielen symbolischer Ereignisse zurück, um die Tiefendimension der Gesellschaft zu erläutern. Erstens: die schicksalhafte Reaktion des Bundesgerichtshofes, eine gesetzliche Vor­ schrift zur Nuklearindustrie zu erlassen. Dieses Gesetz hätte ein Memo­ randum über alle nukleartechnischen Einrichtungen im Staat beinhal­ ten können, denen die angemessenen Vorrichtungen fehlen, die eine töd­ liche Atomnutzung verhindern. In dieser Frage entkräfteten die Richter dieses Gesetz, weil sie es für verfassungswidrig hielten. Brutal interpre­ tiert: Viva la muerte! Long live the death! Zweitens: Der Brief über Auschwitz, der in den großen Tageszeitungen erschien. In diesem Brief beschwerte sich eine Frau darüber, daß die Veröffentlichung eines Bil­ des von Auschwitz auf der ersten Seite der Zeitung eine - ich zitiere »Sache eines extrem schlechten Geschmacks« gewesen sei. Was ist der Grund, fragte die Frau, diesen Horror schon wieder zu veröffentlichen? Müssen sich die Leute denn an Auschwitz erinnern? Brutal interpretiert: Vergiss es! Drittens: Der Begriff »nazi surfer«. Einhergehend mit solchen Begriffen erscheint das Hakenkreuz. Beides, der Ausdruck und das Sym­ bol wurden stolz übernommen und werden verwendet, um zu zeigen, Surfer, - ich zitiere wieder - »haben sich total dem Surfen hingegeben«. Brutal interpretiert: nicht notwendig. Die eingestandenen - und das neh­ me ich aufrichtig an - unpolitische Absicht des Begriffs »nazi surfer« ent­ wertet nicht die innere unbewußte Affinität mit dem zerstörerischsten Regime des Jahrhunderts, das hier den Gegenstand einer sprachlichen Identifikation ausdrückt. Lassen sie mich zu meiner theoretischen Diskussion zurückkehren. Der Primärtrieb, der der Zerstörung in den Individuen selbst entgegen­ steht, dieser zweite Primärtrieb ist der Eros. Die Ausgeglichenheit zwi168

sehen diesen beiden Trieben ist ebenso in den Individuen zu finden. Ich spreche von dem Ausgleich zwischen ihrem Willen und Wunsch zu leben und ihrem Willen und Wunsch, Leben zu zerstören, der Ausgleich zwischen dem Lebens- und Todesinstinkt. Beide Triebe, so Freud, sind unveränderlich in den Individuen verschmolzen. Wenn sich ein Trieb verstärkt, geschieht dies auf Kosten des anderen Triebes. Mit anderen Worten: jede Verstärkung der destruktiven Energie im Organismus führt, mechanisch und notwendig, zu einer Schwächung des Eros, zu einer Schwächung der Lebenstriebe. Dies ist eine sehr wichtige Vorstel­ lung. Die Tatsache, daß diese Primärtriebe Individualtriebe sind, könnte dazu führen, jede Theorie sozialer Veränderung auf die Individualpsy­ chologie einzuschränken. Wie können wir eine Verbindung zwischen Individualpsychologie und Sozialpsychologie hersteilen? Wie können wir von der Individualpsychologie zu den triebhaften Fundamenten der gesamten Gesellschaft, der gesamten Zivilisation übergehen? Ich vermute, daß der Unterschied und der Gegensatz von Indivi­ dual- und Sozialpsychologie irreführend ist. Es besteht keine Trennung zwischen beiden. Auf allen Entwicklungsstufen sind die Individuen gesellschaftliche Wesen. Das gesellschaftlich vorherrschende Realitäts­ prinzip beherrscht die Manifestationen der individuellen Primärtriebe, genauso wie die des Ichs und des Unterbewußtseins. Die Individuen ver­ innerlichen die Werte und Ziele, die in den sozialen Institutionen ver­ körpert sind: in der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, in der beste­ henden Machtstruktur usw. Und umgekehrt spiegeln die gesellschaftli­ chen Institutionen und die Politik (beide in Affirmation und Negation) die sozialisierten Bedürfnisse der Individuen wider, die auf diesem Weg zu ihren eigenen geworden sind. Dies ist einer der wichtigsten Prozesse in der gegenwärtigen Gesell­ schaft. Daraus folgt, Bedürfnisse, die den Individuen von den Institutio­ nen angeboten werden, werden letztlich zu ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Diese Akzeptanz überlagerter Bedürfnisse verursacht eine affirmative Charakterstruktur. Sie verursacht eine Bejahung und Anpassung an das bestehende System der Bedürfnisse, die weder gewollt noch erzwungen ist. Tatsache ist, wenn die Zustimmung eine Negation ermöglicht, wenn sie ein nicht angepaßtes soziales Verhalten ermöglicht, dann ist dieses Verhalten größtenteils von dem determiniert, was der Nonkonformist verweigert und ablehnt. Die von außen überlagerten und 169

verinnerlichten Bedürfnisse werden akzeptiert und bejaht - diese negative Verinnerlichung ist auch Grund für eine radikale Charakter­ struktur. Ich möchte Ihnen nun in psychoanalytischen Begriffen eine Defini­ tion einer radikalen Charakterstruktur geben, die uns schnell zu unse­ rem heutigen Problem führen wird. Eine radikale Charakterstruktur ist auf der Freudschen Basis definiert als ein Übergewicht der erotischen Energie gegenüber den zerstörerischen Trieben. In der Entwicklung der westlichen Zivilisation wurde der Mechanismus der Verinnerlichung verfeinert und so weit vergrößert, daß der gesellschaftlich geforderte affirmative Charakter normalerweise nicht mehr brutal erzwungen wer­ den muß, wie es unter autoritären und totalitären Regimen der Fall ist. In den demokratischen Gesellschaften reicht die Verinnerlichung aus, das System am Laufen zu halten (mit dem Zwang von Law and Order, immer gegenwärtig und legitimiert). Mehr noch, in den entwickelten Industrieländern wird eine affirmative Verinnerlichung, ein angepaßtes Bewußtsein dadurch erleichtert, daß sie aus rationalen Gründen weiter­ laufen und eine materielle Grundlage besitzen. Ich spreche von dem bestehenden hohen Lebensstandard der Mehrheit der privilegierten Bevölkerung und einer ziemlich lockeren gesellschaftlichen und sexuel­ len Moral. Die in diesem Punkt beträchtliche Erweiterung kompensiert die intensivierte Entfremdung in Arbeit und Freizeit, die diese Gesell­ schaft charakterisiert. Angepaßtes Bewußtsein liefert nicht nur eine ima­ ginäre Kompensation, sondern auch eine reale. Dies hemmt das Entste­ hen eines radikalen Charakters. Die gegenwärtige Befriedung in der sogenannten Konsumgesell­ schaft erscheint umso mittelbarer und repressiver, wenn man sie der rea­ len Möglichkeit der Befreiung im Hier und Jetzt gegenüberstellt. Sie erscheint repressiv, wenn man sie mit dem kontrastiert, was Emst Bloch einst die konkrete Utopie nannte. Blochs Idee der konkreten Utopie bezieht sich auf eine Gesellschaft, in der die Menschen es nicht mehr län­ ger nötig haben, unter Bedingungen der Entfremdung ihr Leben als ein Mittel zur Erringung des Lebensunterhaltes zu leben. Konkrete Utopie: »Utopie« weil eine solche Gesellschaft bisher noch nirgendwo existiert: »konkret« weil eine solche Gesellschaft eine reale historische Möglich­ keit darstellt. In einem demokratischen Staat lassen sich Effektivität und Ausmaß der affirmativen Verinnerlichung daran messen, wie stark die Unterstüt170

zung für die bestehende Gesellschaft ist. Diese Unterstützung drückt sich u.a. aus in Wahlergebnissen, in dem Fehlen einer radikalen Opposition, in Meinungsumfragen, in der Akzeptanz von Aggression und Korrupti­ on als normale Bestandteile des Geschäfts- und Verwaltungslebens. Hat die Verinnerlichung unter dem Druck von Ersatzbefriedigung im Indi­ viduum Wurzeln geschlagen, so kann den Menschen ein beträchtlicher Freiraum an Mitbestimmung gewährt werden. Aus guten Gründen wer­ den die Menschen ihre Führer unterstützen oder zumindest ertragen, sogar bis zu einem Punkt, an dem Selbstzerstörung droht. Unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist die Befriedi­ gung immer an die Destruktion gebunden. Die Beherrschung der Natur geht einher mit der Vergewaltigung der Natur; die Suche nach neuen Energiequellen ist verbunden mit der Vergiftung der natürlichen Umwelt; Sicherheit ist gebunden an Knechtschaft, nationale Interessen sind mit weltweiter Expansion verknüpft; technischer Fortschritt ist gebunden an die fortschreitende Manipulation und Kontrolle der Men­ schen. Und dennoch existieren potentielle Kräfte für eine soziale Verände­ rung. Diese Kräfte bieten die Möglichkeit für die Entstehung einer Cha­ rakterstudie, in der die emanzipatorischen Triebe die Übermacht über die kompensatorischen gewinnen. Heute erscheint diese Tendenz in der Form einer primären Rebellion von Geist und Körper, von Bewußtsein und Unbewußtem. Sie tritt auf als eine Rebellion gegen die destruktive Produktivität der etablierten Gesellschaft und gegen die verstärkte Repression und Frustration, die mit dieser Produktivität einhergeht. Die­ se Phänomene könnten durchaus auf eine Subversion der Triebstruktur der modernen Zivilisation hindeuten. Bevor ich kurz auf die historisch neuen Charakteristika dieser Rebel­ lion eingehe, möchte ich das dieser Gesellschaft zugrundeliegende destruktive Konzept erläutern. Dieses Konzept wird durch die Tatsache, daß die Destruktion selbst in einem inneren Zusammenhang mit der Pro­ duktivität und der Produktion steht, verdunkelt und betäubt. Auch wenn die Produktivität Menschen und natürliche Ressourcen aufzehrt und zerstört, so trägt sie doch zur Erhöhung materieller und kultureller Befriedigung für eine Mehrheit der Menschen bei. Die Destruktivität tritt heute nur selten in ihrer reinen Form auf, ohne die ihr eigene Rationali­ sierung und Kompensation. Gewalt findet bestens bereitgestellt und handhabbare Ventile in der populären Kultur, in dem Gebrauch und 171

Mißbrauch von Maschinen und in dem kanzerösen Wachstum der Ver­ teidigungsindustrie, wobei letzteres durch die Berufung auf »nationale« Interessen« schmackhaft gemacht wird. Der Begriff der »nationalen Interessen« ist so flexibel geworden, daß er in der ganzen Welt verwen­ det werden kann. Unter diesen Umständen ist es schwierig, ein nonkonformistisches Bewußtsein, eine radikale Charakterstruktur zu entwickeln. Kein Wun­ der, daß eine organisierte Opposition nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Kein Wunder, daß diese Art der Opposition ständig durch Verzweiflung, Illusionen, Eskapismus usw. behindert wird. Aus all diesen Gründen tritt die gegenwärtige Rebellion nur in Form von kleinen Gruppen in Erschei­ nung, die sich quer aus allen Klassen zusammensetzen, z.B. die Studen­ tenbewegung, die Frauenbewegung, die Bürgerinitiativen, Ökologie-, Kollektiv- und Kommunebewegung usw. Darüber hinaus nimmt diese Rebellion besonders in Europa einen bewußt betonten persönlichen Charakter an, der methodisch ausgeübt wird. Es handelt sich dabei um die Beschäftigung mit der eigenen Psyche, den eigenen Trieben, mit Selbstanalyse, der Zelebrierung der eigenen Probleme, der berühmten Reise des Menschen in sein eigenes Inneres. Diese Rückkehr in sich selbst ist locker mit dem politischen Leben verbunden. Persönliche Schwierigkeiten, Probleme und Zweifel werden (ohne sie zu negieren) in Verbindung gesetzt mit und erklärt durch die Begriffe sozialer Bindun­ gen und umgekehrt. Das Politische ist das Persönliche. Es zeigt sich eine »Politik in der ersten Person«. Die soziale und politische Bedeutung dieser primären persönlichen Radikalisierung des Bewußtseins ist höchst ambivalent. Auf der einen Seite deutet sie auf Entpolitisierung, Rückzug, Flucht hin, während die­ se Rückkehr zum eigenen Selbst andererseits auch die Eröffnung oder die Wiederaneignung einer neuen Dimension sozialer Veränderung beinhaltet. Es ist die Dimension der Subjektivität und des Bewußtseins des Individuums. Und letztlich bleiben doch die Individuen (in der Mas­ se oder als Individuum) die Agenten historischer Veränderungen. Der oft verzweifelte Versuch, sich gegen die Vernachlässigung des Individu­ ums in der traditionellen radikalen Praxis durchzusetzen, charakterisiert die derzeitige Rebellion in kleinen Gruppen. Darüber hinaus konterka­ riert diese »Politik in der ersten Person« eine Gesellschaft, die auf effek­ tiverer Integration beruht. An der Oberfläche gelingt es der modernen Gesellschaft, die Individuen durch den Prozess der affimativen Verinner172

lichung gleichzuschalten. Ihre verinnerlichten Bedürfnisse und Hoff­ nungen werden universalisiert, sie werden allgemein, zum Normalen in der ganzen Gesellschaft. Veränderung jedoch setzt eine Desintegration dieser Universalität voraus. Veränderung setzt einen allmählichen Umsturz der bestehenden Bedürfnisse voraus, so daß in den Individuen selbst das Interesse an kompensatorischer Befriedigung von den emanzipatorischen Bedürfnis­ sen verdrängt wird. Diese emanzipatorischen Bedürfnisse sind keine neuen Bedürfnisse. Sie sind nicht einfach Gegenstand von Spekulation oder Prophetie. Diese Bedürfnisse sind gegenwärtig, hier und jetzt. Sie durchdringen das Leben der Individuen. Diese Bedürfnisse begleiten und befragen das individuelle Verhalten, aber sie sind nur in einer Form gegenwärtig, die, mehr oder weniger effektiv, unterdrückt und verzerrt wurde. Solche emanzipatorischen Bedürfnisse schließen das folgende mit ein. Erstens, das Bedürfnis nach drastischer Reduzierung gesell­ schaftlich notwendiger Arbeit, an deren Stelle dann kreative Arbeit tritt. Zweitens, das Bedürfnis nach autonomer freier Zeit anstelle vorbe­ stimmter Freizeit. Drittens, das Bedürfnis, nicht bloß eine Rolle zu spie­ len. Viertens, das Bedürfnis nach Rezeptivität, ausreichender Ruhe und Freude, anstelle des unaufhörlichen Lärms der Produktion. Die Befriedigung dieser emanzipatorischen Bedürfnisse ist unverein­ bar mit den bestehenden kapitalistischen und sozialistischen Staaten. Sie sind unvereinbar mit einem gesellschaftlichen System, das sich durch entfremdete Arbeit und durch selbstgesetzte Leistungsforderungen, pro­ duktive und unproduktive, reproduziert. Das Gespenst, das die fortge­ schrittenen Industriegesellschaften heute plagt, ist das Verhalten der vollständigen Entfremdung. Das Bewußtsein über dieses Gespenst hat sich fast vollständig, in größerem oder geringerem Maße, in der Bevöl­ kerung verbreitet. Das populäre Bewußtsein dieses Verhaltens zeigt sich zuerst in der Schwächung der Arbeitswerte, die heute das Verhalten der gesellschaftlichen Anforderungen beherrschen. Die puritanische Werte­ ethik nimmt ab, zum Beispiel, als patriarchalische Moralität. Die recht­ mäßigen Geschäfte konvergieren mit der Mafia; die Forderungen der Gewerkschaften verschieben sich von den Lohnforderungen zu einer Reduzierung der Arbeitszeit. Daß eine andere Qualität von Leben möglich ist, ist bewiesen wor­ den. Blochs konkrete Utopie kann erreicht werden; dennoch verweigert sich eine große Mehrheit der Bevölkerung auch weiterhin der Idee der 173

radikalen Veränderung. Dies ist zum Teil begründet in der überwältigen­ den Macht und der kompensatorischen Kraft der etablierten Gesell­ schaft. Zum anderen liegt der Grund dafür in der Verinnerlichung der offensichtlichen Vorteile dieser Gesellschaft. Noch ein weiterer Grund findet sich in der grundlegenden Triebstruktur der Individuen selbst. Damit kommen wir schließlich zu einer kurzen Diskussion der Wurzeln gegen eine historisch mögliche Veränderung in den Individuen selbst. Wie ich zu Beginn erwähnte, argumentiert Freud, daß der mensch­ liche Organismus einen Grundtrieb aufweist, der nach einem Zustand, ohne leidvolle Spannungen leben zu können, nach einem Zustand der Freiheit von Schmerz strebt. Freud lokalisiert diesen Zustand der Erfül­ lung und Freiheit im Beginn des Lebens, im Leben im Mutterschoß. Folg­ lich betrachtet er den Trieb nach einem Zustand ohne Leiden als den Wunsch, zu einer früheren Phase des Lebens zurückzukehren, zu einer Phase, die noch vor dem bewußten organischen Leben liegt. Diesen Wunsch schrieb er dem Todes- und Destruktionstrieb zu, der danach strebt, eine Negation des Lebens durch Extemalisierung zu erreichen. Das bedeutet, daß sich dieser Trieb vom Individuum weg richtet, weg von ihm selbst. Er richtet sich auf das Leben außerhalb des Individuums, denn würde er dies nicht, befänden wir uns in einer Selbstmordsituati­ on. Der Trieb ist extemalisiert. Er richtet sich auf die Zerstörung ande­ rer lebender Dinge, anderer Lebewesen und der Natur. Freud nannte die­ sen Trieb »einen langen Umweg zum Tode«. Können wir aber, im Gegensatz zu Freud, das Streben nach einem Zustand der Freiheit ohne Leid dem Eros, also den Lebenstrieben und nicht dem Todestrieb zuordnen? Wenn das so wäre, läge das Ziel des Wunsches nach Erfüllung nicht im Beginn des Lebens, sondern in sei­ ner Blüte und Reife. Er würde dann nicht mehr Wunsch nach Rückkehr, sondern Wunsch nach Fortschritt sein; er würde dazu dienen, das Leben selbst zu beschützen und zu verbessern. Der Trieb nach Freiheit von Leid, nach Befriedigung der Existenz würde dann in der beschützenden Sorge für lebende Dinge seine Erfüllung finden. Er würde Erfüllung fin­ den in der Wiederaneignung und der Wiederherstellung unserer leben­ den Umwelt, in der Restauration der Natur, und zwar der äußeren sowohl wie der inneren des Menschen. Genauso sehe ich die gegenwär­ tige Umwelt- bzw. Ökologiebewegung. Im Zusammenhang der letzten Analyse stellt sich die Ökologiebe­ wegung als eine politische und psychologische Freiheitsbewegung dar. 174

Sie ist politisch insofern, als sie sich gegen die konzertierte Macht des Großkapitals stellt, dessen vitale Interessen von der Bewegung bedroht sind. Sie ist psychologisch, weil (und dies ist der wichtigste Punkt) die Befriedung der äußeren Natur, der Schutz unserer lebenden Umwelt auch zu einer Befriedung der Natur der Männer und Frauen führen wird. Eine erfolgreiche Umweltbewegung wird die destruktiven Energien des Individuums seinen erotischen Energien unterordnen. Heute wird die Stärke der transzendierenden Kraft des Eros, die nach Erfüllung drängt, durch die gesellschaftliche Organisation der destruktiven Energie in bedrohlichem Maße reduziert. Daraus folgt, daß die Lebenstriebe nicht mehr mächtig genug sind, eine Revolte gegen das herrschende Realitätsprinzip zu initiieren. Wozu die Kraft des Eros aber noch mächtig genug ist, ist das folgende: Sie dient dazu, eine nonkonfor­ mistische Gruppe zusammen mit anderen Gruppen nicht schweigender Bürger zu einem Protest anzutreiben, der sich wesentlich von traditio­ nellen Formen radikalen Protestes unterscheidet. Daß in dieser Protest­ form eine neue Sprache, neue Verhaltensweisen und neue Ziele ins Erscheinungsbild treten, zeugt von ihren psychosomatischen Wurzeln. Was wir vor uns haben, ist die Politisierung der erotischen Energie. Dies, denke ich, ist das Unterscheidungsmerkmal der meisten gegenwärtigen radikalen Bewegungen. Diese Bewegungen repräsentieren in keiner Weise den Klassenkampf im traditionellen Sinne. Sie konstituieren kei­ nen Kampf, mit dem vorhandene Machtstrukturen durch andere ersetzt werden sollen, vielmehr stellen diese radikalen Bewegungen eine exi­ stentielle Revolte gegen ein obsolet gewordenes Realitätsprinzip dar. Es ist eine Revolte, die sowohl vom Geist als auch vom Körper der jeweili­ gen Individuen getragen wird, die intellektuell und gleichzeitig triebhaft ist, eine Revolte, in der der ganze Organismus, die eigentliche Seele des Menschen, politisch wird, eine Revolte der Lebenstriebe gegen die orga­ nisierte und gesellschaftliche Destruktion. Ich muß nochmals auf die Ambivalenz einer ansonsten hoffnungs­ vollen Rebellion hinweisen. Die Individualisierung und Somatisierung des radikalen Protests, seine Konzentration auf die Sensibilität und die Gefühle der Individuen, konfligiert mit der Organisation und der Selbst­ disziplin, wie sie von einer effektiven politischen Praxis erfordert wer­ den. Der Kampf, die objektiven, ökonomischen und politischen Bedin­ gungen, die die Grundlage der psychosomatischen, subjektiven Trans­ formation sind, zu verändern, scheint immer flauer zu werden. Körper 175

und Seele des Individuums waren immer entbehrlich, bereit, geopfert zu werden (oder sich selbst zu opfern) im Interesse eines reifizierten, hypostasierten Ganzen, sei es der Staat, die Kirche oder die Revolution. Sen­ sibilität und Imagination sind keine Gegner für die Realisten, die unser Leben bestimmen. In anderen Worten: eine gewisse Machtlosigkeit scheint ein inhärentes Charakteristikum jeder radikalen Opposition zu sein, die außerhalb der Massenorganisationen politischer Parteien, Gewerkschaften usw. bleiben will. Verglichen mit der Effektivität von Massenorganisationen mag der moderne radikale Protest zu marginaler Bedeutung verdammt sein. Sol­ che Machtlosigkeit zeichnet anfänglich immer solche Gruppen und Individuen aus, die die Menschenrechte und humane Ziele gegenüber den sogenannten realistischen Zielen hochgehalten haben. Die Schwä­ che solcher Bewegungen dürfte wahrscheinlich ein Zeichen ihrer Authentizität sein, ihre Isolation ein Zeichen der verzweifelten Anstren­ gungen, die es braucht, aus dem alles umarmenden Herrschaftssystem auszubrechen, das Kontinuum einer realen, profitablen Destruktion zu brechen. Die Rückkehr, die die modernen radikalen Bewegungen vollzogen haben, ihre Rückkehr in die psychosomatische Domäne der Lebenstrie­ be, ihre Rückkehr zum Bild der konkreten Utopie, mag uns dabei hel­ fen, das menschliche Ziel der radikalen Veränderung neu zu definieren. Ich will einmal wagen, dieses Ziel in einem kurzen Satz zu bestimmen. Das Ziel radikaler Veränderung heute ist die Entstehung von Menschen, die weder physisch noch geistig in der Lage, sind, ein neues Auschwitz zu erfinden. Der Einwand, der manchmal gegen dieses hochfliegende Ziel erho­ ben wird, insbesondere der Einwand, daß dieses Ziel unvereinbar mit der Natur des Menschen ist, zeugt alleine davon, wie sehr sich dieser Ein­ wand der konformistischen Ideologie gebeugt hat. Im Gegensatz zu die­ ser Ideologie bestehe ich darauf, daß es so etwas wie eine unveränderli­ che menschliche Natur nicht gibt. Auf einem höheren Niveau als die Tie­ re stehend, sind die Menschen formbar, und zwar in Körper und Geist, bis hinunter in ihre ureigenste Triebstruktur. Männer und Frauen kön­ nen zu Robotern computerisiert werden, ja - aber sie können sich dem auch verweigern.

eines D e u tsch la n da u fe n th a lts in S tarnberg.

»Es besteht keine prästabilierte Harmonie zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Befreiung des Menschen; im Gegenteil, die erste hat zu einer zivilisierten Versklavung, zu einer technologischen Bru­ talisierung, zu einer rationalen Destruktion geführt, die eher die Idee eines >Endes der Geschichte< (wenn anders Geschichte = Zivilisation ist) als die des Fortschritts nahelegen.« Herbert Marcuse

H e rb ert M arcuse, g e b o re n am 19. Juli 1898 in Berlin, w ird nach d e m M ilitärdienst im 1. W e ltkrie g für kurze Z e it M itglied eines S olda ten ra tes in Berlin. Ab 1919 stud ie rt er L iteratu rw isse n scha ft und P hilosophie in F re ib u rg/B re isg au (u. a. bei Husserl und H e id eg g er). 1933 w ird er M ita rb e ite r d e s Frankfurter Instituts für S ozialforschung und e m ig rie rt 1934 nach N e w York, w o er am Institute of Social R esearch tätig ist und M itb e g rü n d e r d e r Kritischen T heorie d e r G esellschaft w ird. W ährend d es 2. W e ltkrie g s a rb e ite t M arcuse für d en am e rika nische n G eh e im d ie nst, um d ie K rie g san stre ng u ng e n d e r Alliierten g e g e n Nazi­ d eu tsch la n d zu unterstützen. Nach d e m E nde d e s K rieges ke hrt er nicht, w ie H o rkh e im e r und Adorno, nach E uropa zurück, so n d e rn lehrt an ve rsch ie d e n e n re n o m m ie rte n U niversitäten d e r USA: an d e r Harvard University, d er B randeis University, d e r P rinceton University, d er U niversity o f California. Hier verfaßt er seine großen W e rke »Triebstruktur und G esellschaft«, »Vernunft und Revolution«, »D er e in d im e n sio n a le M ensch«, d ie zu d en g ru n d le g e n d e n Texten für die S tu d e n te n ­ b e w e g u n g d e r se ch zig e r und s ie b zig e r Jahre w e rd en . Am 29. Juli 1979 stirb t H e rb ert M arcuse w ä h re n d

Die d e s tru k tiv e Kraft d e r k a p ita listisch e n P ro d u k ­ tio n s w e is e w a r ze itle b e n s ein ze n tra le s T h e m a in d e n S chriften H e rb ert M arcuses. Im m e r w ie ­ d e r hat e r d ie ze rstörerische U m le n k u n g d e r m e n s c h lic h e n Triebkräfte im fre m d b e s tim m te n A rb e itsp ro ze ss analysiert, d e n Z u s a m m e n h a n g von auto ritä re n C h a rakte rstru kturen u n d a u to ­ ritärem Staat aufgezeigt, das a g g re s s iv e P o te n ti­ al d e r im p e ria listisch e n B löcke g e g e iß e lt. In se in e n sp äte n S chriften th e m a tis ie rt M a rcu se ein w e ite re s M o m e n t d e r A u s b e u tu n g : N ach d e r U n te rd rü c k u n g d e r inneren N atur d e s M e n s c h e n rü ckt d ie A u sb e u tu n g und U n te rd rü c k u n g d e r äußeren N atur durch d en M e n sch e n im m e r stä r­ ker in d e n Focus seines D enkens. Ö k o lo g ie und G e se llscha ftskritik v e rs a m m e lt e n ts c h e id e n d e Texte aus allen S c h a ffe n s p e ri­ o d e n M a rcu se s und z e ig t ihn als e in e n frü h e n V isionär d e r Ö k o lo g ie b e w e g u n g - o h n e d e re n S ch w a n ke n zw isch e n S c h re b e rg a rte n p e rs p e k ti­ ve u nd U n te rg a n g sp ro p h e tie .