Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 3: Philosophie und Psychoanalyse 9783924245856, 3924245851

Die Psychoanalyse galt Linken lange Zeit als ein Gedankengebäude, das theoretisch dem Biologismus huldigt und damit den

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German Pages 233 [242] Year 2002

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitende Studie. Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse (Alfred Schmidt)
Abbildungen
Die Ideologie des Todes
Theorie und Therapie bei Freud
Humanismus und Humanität
Freiheit: zu oder von
Jenseits des Realitätsprinzips
Erwiderung an Erich Fromm
Politisches Vorwort
Die Rolle der Religion in einer sich verändernden Gesellschaft
Die Relevanz der Realität
Ein Gespräch mit Herbert Marcuse (Sam Keen und John Raser)
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Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 3: Philosophie und Psychoanalyse
 9783924245856, 3924245851

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H erbert M a rc u s e N a c h g e la s s e n e S ch rifte n

H erbert M a rc u s e N a c h g e la s s e n e S ch rifte n B a n d 3: P h ilo so p h ie und P s y c h o a n a ly s e H e ra u sge g e be n und m it einem V orw ort von Peter-Erw in Jansen Mit einer e in le ite n d e n S tudie von Alfred S chm id t Aus dem A m erikanischen von C ornelia Lösch

Die N achgelassenen Schriften von Herbert Marcuse werden mit freundlicher Genehmigung von Peter Marcuse, dem Nachlaß Verwalter, veröffentlicht.

Erste Auflage 2002 zu Klampen Verlag Postfach 19 63, D-21309 Lüneburg © für die deutsche Ausgabe bei zu Klampen Verlag © Titelfoto: Isolde Ohlbaum

Druck: Clausen & Bosse, Leck Umschlagentwurf: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg) Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: Marcuse, Herbert: Nachgelassene Schriften / Herbert Marcuse. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikan. von Cornelia Lösch. Lüneburg: zu Klampen Bd. 3. Philosophie und Psychoanalyse / Einl. von Alfred Schmidt. -1. Aufl. - 2002 ISBN 3-924245-85-1

Inhalt

Vorwort von Peter-Erwin Jansen

7

Einleitende Studie von Alfred Schmidt

15

Abbildungen

95

Die Ideologie des Tödes

101

Theorie und Therapie bei Freud

115

Humanismus und Humanität

121

Freiheit: zu oder von

131

Jenseits des Realitätsprinzips

147

Erwiderung an Erich Fromm Briefe

171

Politisches Vorwort

181

Die Rolle der Religion in einer sich verändernden Gesellschaft

189

Die Relevanz der Realität

199

Revolutionäre Erotik Ein Gespräch mit Herbert Marcuse

215

Vorw ort

Die Bedeutung der Psychologie und der Psychoanalyse Sigmund Freuds für das ursprüngliche Programm der Kritischen Theorie ist in zahlreichen Veröffentlichungen über die Geschichte des Instituts für Sozialforschung herausgestellt worden. Einen großen Anteil daran, diese Disziplinen für eine kritische Theorie der Gesellschaft innerhalb des Instituts fruchtbar zu machen, hatte Erich Fromm. Marcuse, der Mitte der fünfziger Jahre inhalt­ lich zu Fromms vehementesten Kritikern gehörte und den »Revisionisten« Fromm in Triebstruktur und Gesellschaft1 scharf attackierte, bestätigte in einem Gespräch mit Jürgen Habermas dessen wichtige Rolle für das Insti­ tut: »Aber die frühen Arbeiten von Fromm, besonders über das Christus­ dogma und dann die ersten Aufsätze in der Zeitschrift, die sind aufgenom­ men worden als eine radikale marxistische Sozialpsychologie. Das ist richtig.«2 Fromm gehörte von 1930 bis 1939 offiziell zum Institut für Sozial­ forschung. Im Exil in den Vereinigten Staaten trennte sich Fromm im Streit vom Institut. Durch die Mithilfe Leo Löwenthals gelangte nicht nur Herbert Marcuse am 30. Januar 1933 - dem Tag der »Machtergreifung« Hitlers - an das Institut für Sozialforschung, sondern drei Jahre zuvor auch Erich Fromm. Löwenthal und Fromm, beide 1900 in Frankfurt am Main geboren, gehörten um 1920 zu einer Gruppe jüdischer Studenten, die stark von dem charis­ matischen Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel beeinflußt war.3 Dar­ aus resultierte eine enge Freundschaft und ein gemeinsames Interesse an einer jüdisch-orthodoxen Lebenspraxis. In Heidelberg begannen die Jugendfreunde ein Psychologiestudium und ließen sich von der 1889 in Königsberg geborenen Psychoanalytikerin Frieda Reichmann analysieren. Sie leitete dort ein kleines psychoanalytisches Sanatorium. Im »Thorapeutikum«, das streng nach jüdischen Ritualen geleitet wurde, trafen sich die Freunde des Nobel-Kreises und diskutierten über Texte von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Im Jahr 1926 heiratete der elf Jahre jüngere Fromm Frieda Reichmann. Beide waren wiederum eng mit Löwenthals erster Ehe­ frau Golde Ginsburg befreundet, die ebenfalls aus Königsberg stammte.

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Neben dieser Verbindung war ein anderer wichtiger Kontakt Vorausset­ zung für den zentralen Stellenwert der Psychoanalyse im interdisziplinären Forschungsprojekt des Instituts. Max Horkheimer, der, wie auch Theodor W. Adorno, in Frankfurt Psychologie studiert hatte, lernte 1927 den FreudSchüler und Psychiater Karl Landauer kennen. Bei ihm machte Florkheimer eine Analyse. Marcuse dagegen lehnte es immer ab, »therapiert« zu wer­ den. Noch im hohen Alter bemerkte er ironisch, er hätte dies nie nötig gehabt. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Landauer- und dem Horkheimerkreis begann mit der Gründung des Frankfurter Psycho­ analytischen Instituts am 16. Februar 1929. Die von Landauer geleitete Ein­ richtung bezog ihre ersten Räume im Institut für Sozialforschung. Zu den Mitarbeitern zählten Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann und Heinrich Meng. Mit der Verleihung der Goethe-Plakette an den Begründer der Psy­ choanalyse Sigmund Freud im Jahr 1930 erlangte das gerade eröffnete Institut Landauers eine größere Aufmerksamkeit. Max Florkheimer, der mittlerweile Direktor des Instituts für Sozialfor­ schung geworden war, verwies in Geschichte und Psychologie von 1931 ausdrücklich auf Fromms wissenschaftlichen Schwerpunkt. »Die Begrün­ dung einer Sozialpsychologie auf psychoanalytischer Grundlage wird in den Arbeiten von Erich Fromm versucht«. Für den gesamten Fragekomplex »zum Verhältnis von Führer und Masse« sei, so Florkheimer weiter, auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse nicht zu verzichten.4 Die Be­ deutung dieser Aussagen sollte sich dann in den »Studien über Autorität und Familie«, diel 936 in Paris erschienen, bestätigen. Erich Fromm war maßgeblich an den »Studien über Autorität und Familie« beteiligt. »Die Theorie von der Familie als der Agentur der Gesellschaft ist von Fromm auf der Grundlage der Freudschen Theorie formuliert worden«, so Löwenthal 1980.5 Während dieser Untersuchung entstanden erste Berührungspunkte zwischen Marcuse und Fromm. Marcuse, der bereits 1933 die Leitung der Zweigstelle des Instituts in Genf übernommen hatte, besuchte seinen Insti­ tutskollegen gelegentlich in Davos. Fromm hielt sich dort mit Unterbrechun­ gen von 1931 bis 1934 zur Behandlung einer Lungentuberkulose auf. Die verhaltenen Anfänge von Marcuses Interesse an der Psychoanalyse stam­ men aus diesen Jahren. Ohne direkt auf Freud oder Fromm Bezug zu neh­ men, finden sich einige Überlegungen aus der psychoanalythischen Theo­ rie zum Beispiel in Marcuses Aufsatz »Zur Kritik des Hedonismus«, der 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien. Vertieft hat er sein 8

Freud-Studium in diesen Jahren sicher nicht. Dies änderte sich erst Anfang der fünfziger Jahre als Marcuse eine neues Betätigungsfeld suchte. Durch die Ideologie des Kalten Krieges verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen im State Departement, wo Marcuse offiziell von 1945 bis zum 26. September 1953, also nach seiner Zeit beim Office of Strategie Services, beschäftigt war. Doch schon ab 1949 war für Marcuse klar, daß er die Regierungsinstitution verlassen wollte. Nur in welche Richtung? An wel­ che Institution? Vielleicht zurück nach Frankfurt, wo er wieder mit Max Horkheimer am 1950 wiedereröffneten Institut hätte arbeiten können? Sowohl beruflich als auch privat waren die Jahre zwischen 1950 und 1953, bis Marcuses Ruf an die Brandeis University in Waltham/Massachussetts fest­ stand, eine schwere Zeit. Immer wieder kreisten die Gedanken um eine Rückkehr nach Deutschland. Auf positive Signale, beispielsweise von Horkheimer, der Marcuse Floffnungen auf die Gadamer-Nachfolge machte, folg­ te schon bald Ernüchterung. »Inzwischen ist es mir gelungen (Fakultätsge­ heimnis !), Teddie [Theodor W. Adorno, PEJ] auf die Liste zu bekommen«, schreibt Florkheimer in einem Brief vom 03. Juli 1950. Ob Marcuse seine Rückkehrwünsche selbst sehr ernst waren, ist zu bezweifeln. So litt Sophie Wertheim, Marcuses erste Ehefrau, an einem unheilbaren Krebsleiden. Sie starb am 08. Februar 1951 in Washington. Der Verlust Sophies war Anlass für eine langjährige philosophische Auseinandersetzung mit dem Tod. Sichtbarstes Ergebnis dieser Überlegungen ist der hier aufgenommene Text »Die Ideologie des Todes«, der 1957 in den USA erschien. In einem Rundbrief zum Tode seiner Frau schrieb er am 03. März 1951 an seine Freunde: »Die Idee, daß der Tod zum Leben gehört«, ist falsch, und wir sollten Horkheimer's Gedanken, daß nur mit der Abschaffung des Todes die Menschen wirklich frei und glücklich werden können, noch viel ernster und realisierbarer nehmen. Es gibt keine widerwärtigere Flaltung als Hei­ deggers intellektuelle Spielerei und Transzendentalisierung des Todes. Teddie hat schon ganz recht: der Tod ist eine Absurdität und die einzige Möglichkeit, mit ihr fertig zu werden, ist, sie zu verdrängen. Helfen tut doch nichts.«6 Erneut denkt Marcuse an eine Rückkehr auf den alten Kontinent. »Pollock hat mir gesagt, was Sie über eine Tätigkeit in Deutschland denken [...] Vielleicht könnte man es zunächst mit einer Gastprofessur versuchen.« (Horkheimer an Marcuse, am 03. April 1951, unveröffentlichter Brief) Das State Departement hatte Marcuse auf dessen Wunsch hin 1950 beurlaubt. Ihm lag ein Angebot für einen Lehrauftrag an der Washington School of Psychiatryvot, den er von 1950 bis 1951 annahm. In diesen Jah­ ren unterrichteten dort Frieda Fromm-Reichmann, Ernst Schachtel - den

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Fromm aus Heidelberger Zeiten gut kannte und der ebenfalls an den Studi­ en über Autorität und Familie mitgearbeitet hatte - und Fromm selbst. Marcuses Vorlesung wurde mit »Philosophische und politische Aspekte der Psychoanalyse« angekündigt. Mitbegründer der 1936 eröffneten School of Psychiatry war Harry Stack Sullivan.7 Der New Yorker Psychiater hatte es Fromm schon Ende der dreißiger Jahre ermöglicht, an seinem Institut zu arbeiten. In diese Zeit fällt Fromms eigene Re-Vision der Freudschen Trieb­ theorie, die dann zum endgültigen Bruch mit dem Frankfurtern führte. Das Zerwürfnis zwischen Fromm und Horkheimer/Adorno hinterließ seine Spu­ ren auch auf der menschlichen Ebene. Briefe wurden nicht mehr ausge­ tauscht, der Kontakt brach ab. Und selbst der ehemalige Jugendfreund aus Frankfurter und Heidelberger Tagen, Leo Löwenthal, ging auf Distanz. Zwiespältig entwickelte sich dagegen das Verhältnis zum Verfasser von Triebstruktur und Gesellschaft. Marcuse und Fromm diskutierten öffentlich miteinander und hatten weiterhin gelegentlich brieflichen Kontakt. Insge­ samt aber blieb das Verhältnis angespannt und unterkühlt. Mit seinem »philosophischen Beitrag zu Sigmund Freud«, so der Unter­ titel von Triebstruktur und Gesellschaft, nahm Marcuse die Diskussion über den Einfluß der Freudschen Theorie auf die Gesellschaftskritik der Kriti­ schen Theorie und über die Auseinandersetzung mit Erich Fromm wieder auf. Marcuse begründete die erneute Überprüfung der Freudschen Katego­ rien wie folgt: »Die Psychologie konnte als eine spezielle Disziplin ausge­ baut und ausgeübt werden, solange die Psyche sich gegen die öffentliche Macht aufrecht erhalten konnte, solange das private Dasein etwas Wirkli­ ches darstellte, etwas, was der Einzelne sich wirklich wünschte und selbst formte; hat der Einzelne aber weder die Fähigkeit noch die Möglichkeit, für sich selbst da zu sein, dann werden die Begriffe der Psychologie zu Begrif­ fen der gesellschaftsformenden Kräfte, die die Psyche bestimmen.«8 Letztlich schlug sich der Einfluß Freuds auf Marcuses Denken auch in den emanzipationstheoretischen Überlegungen und in den zahlreichen Texten zur Studentenbewegung nieder. In Aggressivität in der gegenwärti­ gen Industriegesellschaft schreibt Marcuse: »Der Aggressionstrieb >strebt< trotz aller Sublimierung zum Tod während Eros danach trachtet, das Leben zu erhalten, zu schützen und zu steigern. Folglich kann der Destruktions­ trieb der Kultur und dem Individuum nur so lange nützlich sein, wie er im Dienste des Eros steht; wird die Aggressionsneigung stärker als ihr vom Eros bestimmter Gegenpart, kehrt sich die Tendenz um.«9 Mit einer poli­ tisch interpretierten Triebtheorie hoffte der „Philosoph der 68er Genera-

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tion“, utopische Potentiale für eine Theorie der Befreiung aufzeigen zu kön­ nen. Neben den hier zusammengestellten Arbeiten befinden sich im Marcuse-Archiv einige nicht ausformulierte Vorarbeiten zu Vorlesungen, zum Bei­ spiel zum Verhältnis von Marx und Freud. In einer Skizze, datiert vom 01. November 1974, betont Marcuse ganz im Sinne des frühen Programms der Kritischen Theorie, daß es ihm nicht darum gehe, Marx durch Freud zu er­ setzen, sondern Marx mit Freud zu konkretisieren. Mit Freud möchte er As­ pekte der Veränderung individueller Verhaltensformen herausarbeiten, die Marx weder im Kapitalismus analysiert, noch für den Sozialismus entwickelt hat. Andererseits stellt Marcuse hier gegenüber Untersuchungen aus den dreißiger Jahren fest: »Die Entwicklung des Kapitalismus macht eine ent­ scheidende Überlegung der Freudschen Theorie und Praxis obsolet: die in seiner (frühen) Theorie und Therapie gewonnenen Erkenntnisse, die er aus der Geschichte der frühen Kindheit innerhalb der (bürgerlichen?) Familie herleitete. Heute: die Familie ist nicht länger der erste gesellschaftliche Akteur, der die Entwicklung des Individuums determiniert [...]. Die Familie als Agent der Sozialisation, der Vater als Repräsentant des Realitätsprinzips sind weitgehend ersetzt worden durch die Medien, die ökonomischen Sanktionen, durch peer groups, Jugendgruppen, Sportteams, von Kollekti­ ven aller Art.« Weiter kritisiert Marcuse hier das ständige Gerede über die Suche nach Identität. »Die Suche nach Identität: als ob Identität etwas wäre, das nur gefunden werden müßte, um es dann wie ein Ding zu besit­ zen! Die Suche selbst ist unsere Identität; sie ist begrenzt nur durch unse­ ren Tod.«10 (Zitate aus dem Amerikanischen von P.-E. Jansen) Der dritte Band mit ausgewählten Schriften aus dem Nachlaß Herbert Marcuses versammelt Texte, die teilweise direkte Ergänzungen zum »philoso­ phischen Beitrag zu Sigmund Freud« darstellen. Andere Arbeiten beziehen sich nur indirekt auf dieses Thema, sind jedoch stark von diesen Gedan­ kengängen beeinflußt. Bedauerlicherweise befinden sich im MarcuseArchiv kaum Materialien, wenig Vorarbeiten und keine Manuskripte zu Triebstruktur und Gesellschaft. Das gilt auch für die Vorlesungen, die Mar­ cuse an der Washington School of Psychiatry gehalten hat. Sie bilden laut Marcuse die Grundlage für das Freud-Buch. Damit fehlen wichtige Informa­ tionen, die über den Entstehungsprozeß dieses zentralen Werkes Auf­ schluß geben könnten. Bis auf Ideologie des Todes, erscheinen hier alle Arbeiten erstmals in deutscher Sprache. Diese Abhandlung wurde nach dem Tode Marcuses 1979 in einem heute vergriffenen Band publiziert.11

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Die Bedeutung des Textes und die Tatsache, daß er heute nur schwer zugängig ist, erscheinen dem Herausgeber als hinreichende Gründe, ihn in diesen Band erneut aufzunehmen.

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1 Unter dem Titel »Eros and Civilization« erschien der Band erstmals 1955 in den USA. 2 Jürgen Habermas, Silvia Bovenschen u. a., Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1978, S. 15. Mit der Arbeit über das Christusdogma ist gemeint: Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialp­ sychologischen Funktion der Religion, Gesamtausgabe VI, S. 11-68, 1999 (1930) und: Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemer­ kungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus; Die psychoanalyti­ sche Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie, GA, I, S. 37ff. 3 Vgl. dazu: Rachel Heuberger, Die Entdeckung der jüdischen Wurzeln, in: PeterErwin Jansen (Hrsg.). Das Utopische soll Funken schlagen...Zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal, Frankfurt am Main 2000, S. 47-69. 4 Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmidt Noerr, Bd. 3, Frankfurt am Main, 1988, S. 61 5 Leo Löwenthal. Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt 1980, S. 97 6 Max Horkheimer. Gesammelte Schriftern, hrsg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 18, Frankfurt am Main, 1996, S. 199 7 Harry Stack Sullivan (1892-1949), dessen Hauptwerk The Interpersonal Theory of Psychiatry Fromm stark beeindruckte, stand auch mit Karen Horney in Verbindung. Fromm veröffentlichte in Sullivans Psychiatry. Journal for the Operational State­ ment of Interpersonal Relations einige wichtige Aufsätze. Marcuse rechnete die drei zu der von ihm kritisierten Gruppe des Neo-Freudianischen Revisionismus. Im Juli 1948 trafen sich Sullivan und Horkheimer bei einer Tagung der UNESCO in Paris. 8 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1982, S. 7. 9 Herbert Marcuse, Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in: Her­ bert Marcuse u. a. Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frank­ furt 1968, S. 17 1X) Vorlesungsentwurf vom November 1974 , Marcuse-Archiv der Stadt und Univer­ sitätsbibliothek Frankfurt am Main 11 Der Tod in der Moderne, hrsg. und eingeleitet von Hans Ebeling, Königstein/Ts. 1979, S. 106-116

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Einleitende Studie Herbert M arcuses politische D echiffrierung der Psychoanalyse Von Alfred Schmidt

I Die »Geschichte des Grundeigentums«, legt Marx im K apital dar, bil­ det die »Geheimgeschichte«1 der römischen Republik und erklärt die Abfolge der sie kennzeichnenden Ereignisse. Eine Einsicht, die Marx dahingehend verallgemeinert, daß jeder »wirkliche Fortschritt in der modernen Geschichtsschreibung« dadurch bewirkt worden sei, »daß man von der politischen Oberfläche in die Tiefen des gesellschaftli­ chen Lebens hinabgestiegen ist«2. Wendet der forschende Blick sich hier dem in den Tatsachen verborgenen wie in ihnen sich manifestie­ renden Wesen zu, so lehrt der historische Materialismus, gemäß sei­ nem ursprünglichen Denkansatz, ebenso nachdrücklich das hierzu komplementäre Verfahren. Schon in der Deutschen Ideologie beto­ nen die Autoren, in ihrer Schrift werde, ganz im Gegensatz zu hege­ lianischer Spekulation, »welche vom Himmel auf die Erde herab­ steigt, ... von der Erde zum Himmel gestiegen«; es werde »von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt«3. Daran wird Marx noch im K apital festhalten. Auch hier geht es um den »unmittelbaren Pro­ duktionsprozeß« des Menschen, um seine »gesellschaftlichen Lebensverhältnisse« sowie die »ihnen entquellenden geistigen Vor­ stellungen«4. Zu ihnen rechnet Marx ausdrücklich auch solche der »Religionsgeschichte«. Aber er ist sich der Schwierigkeit des Nach­ weises ihrer »materiellen Basis« durchaus bewußt: »Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebel­ bildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.«5 An berühmter Stelle, im Nachwort zur zweiten Auflage 15

seines Hauptwerks, bestimmt Marx, ähnlich lapidar, sein Verhältnis zu Hegel folgendermaßen: »Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschen­ kopf umgesetzte und übersetzte Materielle.«6

II Marxens allzu bündig formuliertes, sich auch in seinen historischen und politischen Schriften niederschlagendes Selbstverständnis hat unter Anhängern wie Kritikern seiner Lehre mehr Fragen aufgewor­ fen als gelöst.7 So führte die im »Menschenkopf« stattfindende, also durch Bewußtsein vermittelte Umsetzung und Übersetzung des (eben­ falls durch Bewußtsein vermittelten) »Materiellen« in »Ideelles« zu endlosen Debatten, die das Wie dieses Hervorgangs betrafen.8 Einen qualitativ neuen, die Frage präzisierenden Gesichtspunkt lieferte Plechanows Buch Grundprobleme des Marxismus (1908), indem es, inspiriert von Feuerbach, die »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen«9 in die Diskussion einführte. Bestrebt, die zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein vermittelnden Instanzen aufzuspüren, gelangte der namhafte Theoretiker der II. Internationale zu der Auffassung, »daß alle Ideologien in der Psychologie der betref­ fenden E poche ihre gemeinsame Wurzel haben«10. Die »menschliche Psychologie«11 wiederum, so Plechanow, »ist teils unmittelbar durch die Ökonomie, teils durch die ganze darauf sich erhebende sozialpoli­ tische Ordnung« determiniert, wobei »die verschiedenen Ideologien ... die Eigenschaften dieser Psychologie in sich widerspiegeln«12. Plechanows Hinweis, daß marxistisches Geschichtsstudium stets die - ihrerseits abzuleitende - »allgemeine Psychologie des betreffen­ den Zeitabschnitts«13 zu berücksichtigen habe, bedeutete einen Schritt nach vorn. Gleichwohl war seine Darlegung der Dialektik von Basis und Überbau zu schematisch und sein Verständnis von Psycho­ logie rationalistisch beschränkt. Letztere blieb jedoch auf der marxi16

stischen Tagesordnung. So hebt Horkheimers Antrittsvorlesung von 1931, eher beiläufig, hervor, daß bei Autoren, die »bewußt oder unbe­ wußt die durchgängige Entsprechung zwischen den ideellen und materiellen Verläufen vorauszusetzen ... pflegen«, die »komplizieren­ de Rolle der psychischen Zwischenglieder«14 vernachlässigt oder übergangen werde. Näher geht Horkheimer hierauf ein im program­ matischen Vorwort zum I. Jahrgang (1932) der Zeitschrift für Sozial­ forschung. Hier bezeichnet er, anspielend auf den ökonomischen Materialismus, die »Frage des Zusammenhangs zwischen den einzel­ nen Kulturgebieten, ihrer Abhängigkeit voneinander«, welche die der »Gesetzmäßigkeit ihrer Veränderung«15 einschließt, als das wichtig­ ste Problem der Sozialforschung. Seiner Lösung, betont Horkheimer, hat sich, neben anderen Disziplinen, eine noch zu entwickelnde, den »Bedürfnissen der Geschichte« dienende »Sozialpsychologie«16 zu widmen. Genauer bestimmt Horkheimer deren Rolle und Funktion in seinem Aufsatz »Geschichte und Psychologie«. Auch hier unter­ streicht er zunächst die für den historischen Verlauf grundlegende Bedeutung ökonomischer Kategorien. Psychologie, im liberalistischen Zeitalter »Grundwissenschaft«, die von »konstanten psychi­ schen Kräften« ausging und Geschichte aus dem »Zusammenspiel« isolierter, ihre Interessen verfolgender Individuen erklärte, wird jetzt zur »freilich unentbehrlichen Hilfswissenschaft«17 materialistisch gedeuteter Geschichte. Ihr Gegenstand ist nicht mehr der Mensch überhaupt, »sondern in jeder Epoche sind die gesamten in den Indivi­ duen entfaltbaren seelischen Kräfte« sowie die »den gesellschaftli­ chen und individuellen Lebensprozeß bereichernden seelischen Fak­ toren zu unterscheiden von den durch die jeweilige gesellschaftliche Gesamtstruktur determinierten und relativ statischen psychischen Verfassungen der Individuen, Gruppen, Klassen, Rassen, Nationen, kurzum von ihren Charakteren«18. Damit verwandelt sich, wie schon Plechanow festgestellt hatte, jede philosophische, ein überzeitliches, einheitlich-geistiges Wesen des Menschen vertretende Anthropologie in »die Psychologie der in einer bestimmten Geschichtsperiode leben­ den Menschen«19. Die Einsicht, daß die menschliche Natur verwoben ist in Sozial­ geschichte, kann jedoch vielfach insofern nur hypothetischen Wert beanspruchen, als nicht hinreichend bekannt ist, »wie strukturelle Veränderungen des wirtschaftlichen Lebens durch die psychische 17

Verfassung, die b e i... verschiedenen sozialen Gruppen in einem gege­ benen Augenblick vorhanden ist, sich in Veränderungen ihrer gesam­ ten Lebensäußerungen umsetzen«20. Werden die »psychischen Ver­ mittlungen zwischen der ökonomischen und der sonstigen kulturellen Entwicklung« aufgedeckt, so gilt zwar weiter, »daß auf radikale ökonomische Veränderungen radikale kulturelle gefolgt sind«; dies kann aber nicht nur zur »Kritik der Auffassung von den funktionalen Verhältnissen zwischen beiden Reihen« führen, son­ dern, worauf es Horkheimer ankommt, »auch die Vermutung bestär­ ken, daß sich die Folgeordnung in der Zukunft einmal ändern oder umkehren wird«21. Das historische »Rangverhältnis von Ökonomik und Psychologie«22 ist keine Konstante. Hier bereits zeichnet sich die durchgängige Intention der späteren Kritischen Theorie ab, den Pri­ mat des Ökonomischen nicht weltanschaulich-bekenntnishaft zu ver­ stehen, sondern als diagnostischen, künftig »aufzuhebenden« Befund.23 Horkheimer betont daher, daß die in der Zeitschrift für Sozialforschung konzipierte Theorie der Gesellschaft »ebensosehr die Ordnung der Wissenschaften und damit ihre eigenen Thesen in die Geschichte einbezieht wie die menschlichen Triebe selbst«24. Der reale, gegenwärtig das Verhältnis von Ökonomie und Psy­ chologie bestimmende Sachverhalt spiegelt sich auch in der »aktuel­ len Gestalt«25 der letzteren. Horkheimer denkt hier an Freuds Psy­ choanalyse. Sie erklärt, weshalb die Menschen, anstatt in einen objektiv längst möglichen, rationaleren gesellschaftlichen Zustand einzutreten, ökonomische Verhältnisse aufrechterhalten, die das fort­ schreitende Wachstum der Produktivkräfte und Bedürfnisse zuneh­ mend blockieren. Das konformistische Verhalten großer Teile der Bevölkerung beruht nicht, wie Aufklärer des achtzehnten Jahrhun­ derts annahmen, auf betrügerischen Machenschaften, sondern, so Horkheimer, darauf, daß es nicht durch Erkenntnis, »sondern durch eine das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist«26. Die »psychische Gesamtstruktur ... numerisch bedeutender sozialer Schichten« wird infolge »ihrer Rolle im ökonomischen Prozeß fort­ während erneuert«27. Es bedarf deshalb einer »Psychologie des Unbe­ wußten«, deren Aufgabe es ist, vorzudringen zu »tieferliegenden psy­ chischen Faktoren, mittels derer die Ökonomie die Menschen bestimmt«28. In dieser historisch bedingten Form ist jedoch die Sozi­ alpsychologie, deren Grundlage die Individualpsychologie bleibt,29 18

nicht auf alle Schichten der Gesellschaft in der nämlichen Weise anzuwenden: »Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, um so weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugrei­ fen. ... Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken.«30

III Schon die erste Nummer der Zeitschrift des Frankfurter Instituts ent­ hält Erich Fromms richtungweisenden Aufsatz »Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie«. Fromm beruft sich hier - in klarem Gegensatz zu seiner späteren Entwicklung - aus­ drücklich auf Freuds ursprüngliche Lehre, die er als »naturwissen­ schaftliche, materialistische Psychologie«31 kennzeichnet. Der Kon­ zeption des Unbewußten, schreibt Fromm, kommt insofern eminent kritische Bedeutung zu, als sie »private und kollektive Ideologien als Ausdruck bestimmter, trieblich verankerter Wünsche und Bedürfnis­ se entlarvt und auch in den »moralischem und ideellen Motiven ver­ hüllte und rationalisierte Äußerungen von Trieben entdeckt«32 hat. Letztere sind zwar physiologisch und biologisch bedingt, aber - wie Freud gezeigt hat - lebensgeschichtlich und historisch modifizierbar, »wobei der modifizierende Faktor ... die gesellschaftliche Realität ist«33. Diese bestimmt Fromm in Marxschen Kategorien. Sozialpsy­ chologie, wie sie ihm damals vorschwebt, erörtert die einer Gruppe gemeinsamen Schicksale und seelischen Grundzüge und erklärt sie aus der »sozialökonomischen Situation«34 der Mitglieder dieser Gruppe. Einen psychoanalytischen Akzent gewinnt die so verstande­ ne Disziplin dadurch, daß sie »die Triebstruktur ... einer Gruppe aus ihrer sozialökonomischen Struktur heraus zu verstehen«35 sucht. Es handelt sich also darum, die unbewußten Wurzeln sozial relevanter Einstellungen und Ideologien aufzudecken, die sich aus dem Einwir­ ken ökonomischer Bedingungen auf libidinöse Vorgänge ergeben.36

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Wird nach der Vereinbarkeit von Freuds Lehre mit dem histori­ schen Materialismus gefragt, so ist, worauf Fromm energisch hin­ weist, zunächst hervorzuheben, daß Marx und Engels ihre Geschichtsauffassung keineswegs im Sinn einer »ökonomistischen Psychologie«37 verstanden haben. Sprechen sie von »ökonomischen Ursachen«, so ist nicht »Ökonomie als subjektives psychologisches Motiv, sondern als objektive Bedingung der menschlichen Lebens­ tätigkeit«38 gemeint. Das geht zweifelsfrei hervor aus der Darstellung ihrer Version von Materialismus in der Deutschen Ideologie. »Die Menschen«, heißt es hier, »sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten For­ mationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebens­ prozeß.«39 Dieser wiederum hat empirisch feststellbare, gegenständli­ che Voraussetzungen, zu denen zunächst die »körperliche Organisa­ tion« der Individuen und ihr dadurch »gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur«40 gehört, mit deren geographischer, klimatischer und sonstiger Beschaffenheit sie stets zu rechnen haben. »Alle Ge­ schichtsschreibung«, unterstreichen Marx und Engels, »muß von die­ sen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.«41 Dieses - dynamische - Zusammenspiel von natürlich Vorgefun­ denem und historisch Verändertem (oder Veränderlichem) ist für Fromms Bestimmung des Verhältnisses von Psychoanalyse und histo­ rischem Materialismus schlechthin entscheidend.42 Geschichte, so interpretiert er Marx, ist ein »Prozeß der aktiven und passiven Anpas­ sung des Menschen an die ihn umgebenden natürlichen Bedingun­ gen«43. Fromm beruft sich dabei auf die im K apital vorgelegte Analyse des Arbeitsprozesses. Sie kennzeichnet Arbeit als »Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwech­ sel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrol­ liert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte ... setzt er in Bewe­ gung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchba­ ren Form anzueignen. Indem e r ... auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.«44 Wesentlich 20

hieran für Fromms Fragestellung ist das naturale Moment, das nach seiner objektiven wie subjektiven Seite in historische Praxis unauflös­ bar ist. Stets bleibt der geschichtliche Prozeß gebunden an »Gegeben­ heiten der natürlichen Bedingungen außerhalb des Menschen wie sei­ ner eigenen Beschaffenheit«45. Eben darin, so Fromm, unterscheidet sich Marx von »gewissen idealistischen, dem menschlichen Willen unbeschränkte Macht zutrauenden Positionen«46. Freuds Lehre nun - dies Fromms These - kann die »Gesamtauf­ fassung« des historischen Materialismus bereichern, und zwar hin­ sichtlich der »B eschaffenheit des M enschen selbst, seiner >Naturder< Unterbau, wie eine psychologistische Inter­ pretation meint, und >die< menschliche Psyche ist auch immer nur die durch den gesellschaftlichen Prozeß modifizierte Psyche«51. Der historische Materialismus bedarf einer »Wissenschaft von den seeli­ schen Eigenschaften des Menschen«52, die geeignet ist, seine Fra­ gestellungen und Resultate zu konkretisieren. Erst die Psychoanalyse, davon ist Fromm damals überzeugt, kommt diesem Bedürfnis nach. So läßt sich mit Hilfe Freudscher Kategorien der eingangs ange­ führten, allzu formelhaften Auskunft von Marx, er betrachte »das Ideelle ... als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Mate­ rielle«53, ein präziser Sinn abgewinnen. Die Begründer des histori­ schen Materialismus, daran erinnert Fromm, ordnen ökonomische und ideologische Erscheinungen einander vielfach richtig zu, ohne indes zu erklären, auf welchem Weg Ökonomisches zum »menschli­ chen Kopf oder Herz«54 gelangt. Mangels einer »brauchbaren Psy­ chologie« können Marx und Engels die Frage nach dem »Wie der 21

Umsetzung des Materiellen in den Menschenkopf«55 letztlich nicht angemessen beantworten. Psychoanalyse dagegen, so Fromm, »kann zeigen, daß die Ideologien ... Produkte von bestimmten Wünschen, Triebregungen, Interessen, Bedürfnissen sind, die, selber zum großen Teil nicht bewußt, als >RationalisierungWesen des Menschern vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben«, aufzusuchen in konkret-historischen Exi­ stenzverhältnissen, das heißt in jener »Summe von Produktionskräf­ ten, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet«89. Marcuses Freiburger Studien der Jahre 1928-1933 zielen darauf ab, diese Über­ führung von Metaphysik in eine »umwälzende Praxis«90 vorbereiten­ de »Wissenschaft der Geschichte«91 zu reformulieren in dem von Sein und Zeit eröffneten Horizont92 Heideggers 1927 erschienene Schrift hatte, so stellte es sich intellektuellen Beobachtern dar, in poli­ tisch aktualisierbarer Weise das Problem der Geschichte völlig neu aufgerollt. Sein Ort, betont Heidegger, ist den res gestae archivieren­ der Historie oder Geschichtswissenschaft nicht zu entnehmen. Wie deren Fakten »Gegenstand der Historie« werden können, ergibt sich vielmehr aus der ihnen transzendental vorgeordneten »Seinsart des Geschichtlichen, aus der Geschichtlichkeit und ihrer Verwurzelung in der Zeitlichkeit«93 menschlichen Daseins. Historizität, so resümiert Heidegger diesen Gedanken, »ist als Seinsart des tragenden Daseins nur möglich, weil es ... durch die Geschichtlichkeit bestimmt is t.... Die Bestimmung Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des >Geschehens< des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie >Weltgeschichte < und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören.«94 Die elementare, nicht unbedingt bewußt erfahrene Geschichtlichkeit erstreckt sich in den Dimensionen des Vergange­ nen und Zukünftigen. Das jeweils faktisch vorliegende Dasein ist stets zugleich seine Vergangenheit, die in ihm nicht nur gelegentlich nach­ wirkt, sondern, einer bestimmten »Daseinsauslegung« entsprungen, einerseits den relativ beständigen Horizont seines Selbst- und Welt­ verständnisses bildet, andererseits »aus seiner Zukunft her >geschiehtWiederkehr< des Möglichen und weiß darum, daß die Möglichkeit nur wiederkehrt, wenn die Existenz schicksalhaft­ augenblicklich für sie in der entschlossenen Wiederholung offen ist«98. Jahrzehnte vor Sartre interpretiert Marcuse die in Sein und Zeit zentrale Verschränkung von historischer Kontinuität und plötzli­ chem Aufbruch zu Neuem im Sinn eines Existentialismus von politi­ scher Tragweite. Anknüpfen kann er dabei an Marxsche Formulie­ rungen, die nicht auf theoretische Gedanken anderer Autoren antworten, sondern auf brisante, unmittelbar zeitgeschichtliche Ereignisse, deren Akteure bestrebt sind, ein bereits in der Vergangen­ heit möglich Gewesenes zu verwirklichen. »Die Tradition aller toten Geschlechter«, schreibt Marx im 18. Brumaire, »lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden.«99 Ihr Druck ist so stark, daß die Men­ schen selbst in »Epochen revolutionärer Krise« die »Geister der Ver­ gangenheit« heraufbeschwören, ihnen »Namen, Schlachtparole, Kostüme« entlehnen, um in dieser »altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzu­ führen«100. Es gibt aber auch historische Ereignisse, die auf eine sol­ che Rückerinnerung nicht angewiesen sind. Das belegt ein Marxscher Brief, der - die Pariser Kommune von 1871 kommentierend - die »Elastizität«, die »historische Initiative« und »Aufopfrungsfähigkeit«101 der Aufständischen lobend hervorhebt. Marx anerkennt kontingente Sachverhalte, die in die eherne Notwendigkeit des Hegelschen Stufengangs der Geschichte, dem er sich sonst anver­ traut, nicht einzugliedern sind, und bedient sich dabei subjektiver, ja moralischer Kategorien. In ihrem Zeichen vollzieht sich der Bruch mit dem bisherigen Weltzustand. Unter den um 1930 entstandenen, auf Sein und Zeit in marxisti­ scher Diktion antwortenden Schriften Marcuses kommt der Studie »Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus« von 1928 eine aufschlußreiche Rolle zu. Marcuse feiert das Buch sei­ nes Lehrers als »Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie«, 28

nämlich als »den Punkt, wo die bürgerliche Philosophie sich von innen her selbst auflöst und den Weg frei macht zu einer neuen >konkreten< Wissenschaft«102. Heidegger bereitet diese insofern vor, als er im »Bewußtsein ihrer ... akuten Notwendigkeit« die »Grundfrage aller lebendigen Philosophie« wieder aufwirft: »Was ist eigentliche Existenz und wie ist eigentliche Existenz überhaupt möglich?«103 Nach langen Irrwegen, so Marcuse, reformuliert Heidegger die schon in Marx enthaltene Einsicht, daß »Sinn und Wesen des Menschen in seinem konkreten Dasein beschlossen sind«104. Philosophisch rele­ vante Fragen sind daher künftig aufzurollen in ihrer praktischen »Daseinsbezogenheit«; nur so läßt sich feststellen, ob und inwieweit sich in ihnen »existenziale Kämpfe und Nöte« ausdrücken, inwieweit dagegen »Wahrheiten, Lügen und Verhüllungen des In-der-WeltSeins«105. Wird, wie dies in Sein und Zeit emphatisch geschieht, all­ tägliche Existenz wieder vor die Möglichkeit wahrer Existenz gestellt, so erhält Philosophie ihren »höchsten Sinn« als »praktische Wissen­ schaft: als die Wissenschaft von den Möglichkeiten eigentlichen Seins und seiner Erfüllung in der eigentlichen Tat«106. Was Heidegger und Marx in Marcuses damaliger Sicht verbindet, ist die Absage an den akademischen Idealismus. Ihre »Analyse des geschichtlichen Menschen« durchschaut das »Bewußtsein und seine Leistungen« als Bestandteil der »geschichtlich-gesellschaftlichen Totalität«, als bedingt durch das »konkrete geschichtliche Sein«107. Beide Denker verharren auf innerweltlichem Boden. Alle authenti­ sche Erkenntnis, unterstreicht Marcuse, ist insofern zutiefst prak­ tisch, als sie ein menschliches Dasein »in die Wahrheit bringt«108. Hierin bestehen, wie die Marxschen Feuerbachthesen dartun, Sinn und Aufgabe der Wissenschaft. Registriert alles historisch-archivari­ sche Wissen lediglich die Möglichkeit eines einmal faktisch Dagewe­ senen, so vergewissert revolutionäre, Theorie und Praxis vereinigende Erkenntnis sich ihres geschichtlichen Orts und ihrer mit ihm vorge­ zeichneten Aufgabe. Marcuses phänomenologische, durch Heideg­ gers daseinsanalytischen Ansatz ermöglichte Reformulierung des historischen Materialismus beginnt folglich damit, die ihn tragende »marxistische Grundsituation«109 freizulegen. Gekennzeichnet ist sie durch »die geschichtliche Möglichkeit der radikalen Tat, die eine not­ wendige neue Wirklichkeit als Realisierung des ganzen Menschen 29

freimachen soll. Ihr Träger ist der bewußt geschichtliche Mensch, sein einziges Tatfeld die Geschichte, die als Grundkategorie des menschli­ chen Daseins entdeckt wird. Damit erweist sich die radikale Tat als revolutionäre geschichtliche Tat der >Klasse< als der geschichtlichen Einheit.«110 Marcuses - zeitbedingte - Reduktion des Marxismus auf »die Theorie der proletarischen Revolution und die revolutionäre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft«111 gestattet es ihm, zurückzugreifen auf daseinsanalytische Kategorien von Sein und Zeit. Sie bieten sich seiner philosophischen wie politischen Selbstverständigung an.112 Dabei ist Marcuse sich dessen bewußt, daß er die »Geschichtlichkeit des Daseins« in ihrer fundamental-ontologischen Version nicht über­ nehmen kann. Das phänomenologische Verfahren Heideggers bedarf einer Korrektur im Sinn dialektischer Methode, die sich als »der gemäße Zugang zu allen geschichtlichen Gegenständen erweist«113. Marcuses Haupteinwand gegen Heideggers Denkansatz bezieht sich darauf, daß er beim Faktum der »seinsmäßigen Bezogenheit von Dasein und Welt« stehenbleibt und es versäumt, den »ontologischen Grund«114 dieses Faktums zu untersuchen. Seine Rede vom primär besorgend-praktischen Weltumgang des Menschen bleibt daher fol­ genlos. »Nicht Dasein überhaupt«, so lautet Marcuses Einwand, »ist als geworfenes In-der-Welt-sein je seiner Welt verhaftet, und nicht W eltlichkeit überhaupt ist als Bedeutsamkeit je auf ein Dasein bezo­ gen, sondern immer steht ein konkretes Dasein in einer konkreten Welt, ist eine konkrete Welt auf ein konkretes Dasein bezogen.«115 Diese letztinstanzliche »Abstraktion« Heideggers, betont Marcuse, hindert ihn daran, vorzustoßen zum »materialen Bestand« der Geschichtlichkeit, das heißt zu jener - soziologisch zu bestimmenden - »konkret-geschichtlichen Mit- und Umwelt«116, die das jeweilige Dasein als eine es determinierende Realität immer schon vorfindet. Deutlich wird hier, worin Marcuses Entwurf einer materialisti­ schen D aseinsanalytik sich von dem unterscheidet, was Heidegger in Sein und Zeit beabsichtigt. Seine Schrift zielt ab auf »Freilegung des Apriori, das sichtbar sein muß, soll die Frage, >was der Mensch seiEigenschaften< eines so und so >aussehenden< vorhandenen Seienden (sind), sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. Daher drückt der Titel >DaseinBlut< und >Seele< unterworfen«. Nietzsches »neo-individua­ listischer Kampf«137 gegen eine epochal begrenzte Gestalt bürgerlichen Bewußtseins verkehrte sich in die umstandslose, irratio­ nalistische Preisgabe aller vernünftigen Maßstäbe. Marcuse ordnet hier das Freudsche Werk, das er in die Nähe Nietzsches rückt, in sachlich angemessener Weise ein in den theorieund sozialgeschichtlichen Kontext. Bezüge der Psychoanalyse zu der von Horkheimer inaugurierten Theorie der Gesellschaft stellt er aller­ dings nicht her. Aus seiner stichwortartigen Aufzeichnung geht auch nicht hervor, ob und, gegebenenfalls, in welchem Umfang er im Jahre 1940 mit Freuds Schriften vertraut war.138 Wichtige Anstöße zu seiner - gleichwohl eigenständigen - Interpretation Freuds verdankt Marcu­ se der in Abschnitt IV erwähnten Kritik der Wortführer des New Yor­ ker Instituts an therapeutisch orientierten Schulrichtungen des neofreudianischen Revisionismus - eine sich zunehmend verschär­ fende, nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Kritik. Hier sei ledig­ lich an Horkheimers Aufsatz »Ernst Simmel und die Freudsche Philo­ sophie« von 1948 erinnert, dessen Gedanken in Zusammenarbeit mit Adorno entwickelt wurden. Angesichts der »modischen Anpassung der Psychoanalyse an die Bedürfnisse der heutigen organisierten Mas­ senkultur« besteht Horkheimer auf einer (im Simmelschen Sinn) »produktiven Orthodoxie«139. Ist diese bestrebt, »die unbewußten 33

Quellen unseres Handelns ... dort [zu] fassen, wo sie mit biologischen Kräften zusammenfallen«, so verflachen die Verfechter des revisioni­ stischen Flügels der Schule Freuds dessen Lehre, indem sie, die Tie­ fendimension jener »Quellen« ignorierend, zur »Sprache einer letzt­ lich rationalistischen Ich-Psychologie des gesunden Menschenverstandes«140 zurückkehren. Horkheimer pointiert den enzyklopädischen, Soziologie und Anthropologie einschließenden Charakter der Freudschen Entdeckungen. Psychologie versteht Freud nicht nur einzelwissenschaftlich, sondern primär als »Schlüssel zum Verständnis der Irrationalität der menschlichen Existenz, der rätsel­ haften Totalität des Lebensprozesses der Gesellschaft und des Indivi­ duums«141. Horkheimer zögert daher nicht, dem Werk Freuds philosophi­ schen Rang zuzusprechen, obwohl dieser, dogmatischer Metaphysik abhold, sich allein der wissenschaftlichen, unabgeschlossenen, aber auf künftige Einheitlichkeit hinarbeitenden Welterklärung anver­ traut, deren Credo lautet, »daß es keine andere Quelle der Weltkennt­ nis gibt als die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beob­ achtungen, also was man Forschung heißt, daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination«142. Bei dem Wort »Phi­ losophie« denkt Freud, so Horkheimer, zunächst eher an »Rationali­ sierungen unbewußter Wünsche, an die Hypostasierung von Wunschträumen und Ideologien«143, als an verbindliche Einsicht. Gleichwohl ist es angebracht, von einer Philosophie Freuds zu spre­ chen, wenn wir bedenken, daß seine unversöhnliche Abwehr philoso­ phischer Illusionen ihrerseits Ausdruck jener besonderen Weise (ist), an die entscheidenden Probleme des Lebens heranzugehen, die wir als seine Philosophie bezeichnen können«144. Freud, schreibt Hork­ heimer weiter, ist Schüler und Fortsetzer der Aufklärung großen Stils. Wenn »Leidenschaft für die Wahrheit und die Fähigkeit, den mensch­ lichen Geist auf neue Höhen (eher des Verstehens als der Herrschaft) zu führen«145, zum Begriff der Philosophie gehören, dann ist Freud ein bedeutender Philosoph. Zielte der Begründer der Psychoanalyse darauf ab, den »hypnoti­ schen Zauber herrschender Ideologien«146 zu brechen, so läßt sich dies von seinen heutigen Schülern nicht behaupten, leben sie doch »in Frieden mit allem außerhalb ihres eigenen, wohl abgegrenzten Bereichs, dem einer Hilfsdisziplin der Psychiatrie«147. Auf eine »Art 34

von Psychotechnik«148 beschränkt, befürchtet Horkheimer, wird die Psychoanalyse bald ihre umfassend-humanwissenschaftliche Bedeu­ tung verlieren: »Was einmal als eine Wahrheit gedacht war, die dabei helfen würde, die Welt zu verändern, wird zum Kunstgriff, Menschen in der Welt, wie sie ist, zufriedener und leistungsfähiger zu machen.«149 Galt es während der heroischen Periode der Psychoanalyse deren wissenschaftlichen Anspruch gegen Vorurteile der Fachwelt durchzu­ setzen, wobei die philosophische Seite der neuen Lehre zurücktreten mußte, so ist die heutige Situation eine andere. Nach dem weithin erreichten Sieg der Psychoanalyse als therapeutische Technik und ihrer Integration in die offizielle Kultur kommt es Horkheimer zufol­ ge darauf an, sich des »philosophischen Motivs«150 in Freud bewußt zu werden. Wie bereits Fromm in der Zeitschrift für Sozialforschung kennzeichnet Horkheimer Freuds ursprünglichen Denkansatz als den einer naturwissenschaftlichen, materialistischen Psychologie. Das wird vom therapeutischen Eifer seiner revisionistischen Schüler leicht übersehen. Sie sind darauf aus, körperliche Symptome psycho­ logisch zu erklären. Demgegenüber hebt Horkheimer Freuds andere Tendenz hervor, »die höchsten Werte von materiellen Prozessen abzuleiten, das Psychologische ins Physiologische, ja sogar Physikali­ sche aufzulösen«151. Die von jenen Schülern bevorzugte Methode, freilich ein Teilaspekt von Freuds Arbeit, hat weniger »materialisti­ sche, kritische Implikationen«152 und ist deshalb annehmbarer für das herrschende Bewußtsein. Die Therapie hält sich an IchSchwäche und andere, leichter zugängliche Sachverhalte. In einem geistigen Klima, »in dem das theoretische Kernstück der Psychoana­ lyse, Freuds biologischer Materialismus, als eine Art Aberglaube, als nicht verifizierbar und als untauglich, damit rasch zum Erfolg zu kommen, verworfen wird«, erscheint es Horkheimer dringend gebo­ ten, »an der Freudschen Orthodoxie ... festzuhalten und der Verfla­ chung entgegenzuwirken«153. Auf den »philosophischen Kern«154 der Psychoanalyse ist nicht zu verzichten. Er besteht in der Idee, daß es »etwas wie eine objektive Wahrheit gibt und daß das Unglück der Menschen letztlich von der Verfälschung jener Wahrheit unter dem Einfluß von Tabus und anderen Formen psychischen und außerpsy­ chischen Zwangs herrührt«155. Marcuse wird diese kritischen Resultate der Auseinandersetzung 35

des Horkheimerschen Instituts mit den neofreudianischen Revisio­ nismen aufnehmen, radikalisieren und systematisch fortentwickeln. Davon zeugt der »Epilog« des Buches Triebstruktur und G esellschaft, der, wie Robinson bemerkt, eigentlich ein »Prolog« ist,156 weil er, als Vorabdruck veröffentlicht, Marcuses philosophische Aneignung Freuds unter dem Gesichtspunkt der anthropologischen und meta­ psychologischen Kategorien seiner Lehre recht eigentlich einleitet. Wohl versichert Marcuse, die Schrift sei hinsichtlich ihrer theoreti­ schen Position Horkheimer und dessen Mitarbeitern verpflichtet.157 Es ist jedoch offenkundig, daß er, an Erreichtes anknüpfend, in den Freud betreffenden Fragen eigene Wege gegangen ist. Triebstruktur und Gesellschaft entwickelt aus den Kategorien der Freudschen Trieblehre eine von Marx inspirierte G eschichtsphilosophie. Ist Fromm’ um 1930 bemüht, die Psychoanalyse in den historischen Materialismus zu integrieren, plädieren Horkheimer und Adorno, einer »Synthese« aus Soziologie und Psychologie abgeneigt, in den fünfziger Jahren für getrennte Arbeit dieser Disziplinen bei gleicher Blickrichtung, so verlagert Marcuse zu dieser Zeit den wissenschafts­ theoretischen Disput auf eine geschichtsphilosophische Ebene. Aus­ zugehen ist ihm zufolge davon, daß Psychologie, die als spezieller Forschungszweig einmal ein privates, gegen öffentliche Macht sich behauptendes Dasein voraussetzte, beim jetzigen Stand der Geschichte für die Erklärung gesellschaftlicher und politischer Vor­ gänge nicht mehr ohne weiteres herangezogen werden kann. Die ehe­ dem autonome Person ist zum Problem geworden, und die psycholo­ gischen Kategorien haben sich in solche der »gesellschaftsformenden Kräfte« verwandelt, »die die Psyche bestimmen«158. Aus dem damit einhergehenden Verschwimmen der traditionellen Grenze zwischen den Disziplinen ergibt sich die neuartige Aufgabe, die »politische und soziologische Substanz der psychologischen Begriffsbildungen«159 bloßzulegen. Wenn Marcuse in Triebstruktur und G esellschaft klassische Posi­ tionen Freuds gegen revisionistische Entschärfungen verteidigt, so mit dem gleichzeitigen Vorbehalt, daß er Freuds »Gleichsetzung von Kultur und Unterdrückung«160 entschieden ablehnt. Hierzu sieht Marcuse sich historisch, aber auch durch die psychoanalytische Theorie selbst berechtigt. Bildet, so fragt er, die wechselseitige Bezie­ hung von Freiheit und Zwang, Produktivität und Zerstörung, Herr36

Schaft und Fortschritt wirklich das »Prinzip der Kultur«161? Oder drückt sich hierin nur eine historisch begrenzte »Organisation des menschlichen Daseins«162 aus? Ist, in Freuds Terminologie, der Kon­ flikt zwischen Lust- und Realitätsprinzip derart unversöhnlich, daß eine repressive »Umformung der menschlichen Triebstruktur«163 schlechthin unvermeidlich ist? Oder erlaubt jener Konflikt - dies Marcuses utopische Alternative - »die Vorstellung einer Kultur ohne Unterdrückung ..., die auf einer völlig anderen Daseinserfahrung, auf einer völlig anderen Beziehung zwischen Mensch und Natur, auf völ­ lig anderen existentiellen Beziehungen beruht«164? Aus zwei realisti­ schen Gründen hält es Marcuse für gerechtfertigt, diese Idee ernsthaft zu erwägen. Zum einen »scheint Freuds theoretische Konzeption selbst eine konsequente Verneinung der historischen Möglichkeit einer Kultur ohne Unterdrückung zu widerlegen«; zum anderen »scheinen gerade die Errungenschaften der unterdrückenden Kultur die Vorbedingungen für die allmähliche Abschaffung der Unter­ drückung zu bieten«165. Diese utopische Perspektive, die Marcuses Freud-Interpretation kennzeichnet, erklärt seine gleichzeitige, kritische Distanz zu neofreudianischen Autoren wie dem späten Fromm, Karen Horney und Harry Stack Sullivan. Der revisionistische Glaube, es gelte, die Freudsche Theorie durch kulturelle und soziologische Zusätze zu korrigie­ ren, übersieht, daß es dessen nicht bedarf, weil sie, ihrer historischen Substanz nach, bereits soziologisch ist. Der von Revisionisten verwor­ fene »Biologismus« Freuds ist in Wahrheit, so Marcuse, »Gesell­ schaftstheorie in einer Tiefendimension, die von den neofreudianischen Schulen konsequent verflacht worden ist. Indem sie die Betonung vom Unbewußten auf Bewußtes, von den biologischen auf die kulturellen Faktoren verschieben, durchschneiden sie die Wur­ zeln der Gesellschaft in der Triebschicht und nehmen statt dessen die Gesellschaft auf der Ebene, auf der sie dem Individuum als eine kon­ fektionierte >Umgebung< entgegentritt, ohne nach deren Ursprung und Legitimität zu fragen.«166 Daher bewegt sich die neo-freudianische Analyse und Kritik dieser >Umgebung< ausschließlich innerhalb der »wohlgehüteten Sphäre geltender Institutionen«167. Da die Revisionisten über keine begriffliche Basis außerhalb des gegebenen Weltzustands verfügen, bleiben ihre gegen diesen sich 37

kehrenden Vorbehalte ideologisch: »Idealistische Moral und Religion feiern glückliche Wiederauferstehung: der Umstand, daß sie mit dem Vokabular eben jener Psychologie verschönt auftreten, die ursprüng­ lich ihrem Anspruch entgegentrat, kann ihre Identität mit den offiziell erwünschten und propagierten Haltungen nur schlecht verber­ gen.«168 Demgegenüber hält Marcuse gerade an jenen Bestandteilen der Freudschen Lehre fest, die von revisionistischen Interpreten abge­ lehnt werden. Dazu gehören Einsichten in die »historische Struktur der Kultur«, die »späte Triebtheorie« und ihre »Rekonstruktion der Vorgeschichte der Menschheit«169. Während Freud selbst seinen metapsychologischen Überlegungen nur die Rolle brauchbarer Arbeitshypothesen zubilligte, die aufzugeben waren, sobald sie den theoretischen und praktischen Fortschritt der Psychoanalyse behin­ derten, nimmt Marcuse diese Seite des Freudschen Werks geschichts­ philosophisch (und später auch politisch) ernst. Er kann zeigen, daß Freuds Theorie, konfrontiert mit den revisionistischen Schulmeinun­ gen, eine qualitativ neue Bedeutung erlangt. Mehr denn je, unter­ streicht Marcuse, offenbart sich »die Tiefe ihrer kritischen Haltung und - vielleicht zum ersten Mal - die Tiefe jener ihrer Elemente, die die geltende Ordnung überschreiten und die Theorie der Unter­ drückung mit der ihrer Abschaffung verketten« 17°. In offenkundigem Gegensatz zu ihrem therapeutischen Pro­ gramm (des Aufstiegs vom Es zum Ich) führt die »innere Richtung« der Freudschen Theorie »vom Bewußten zum Unbewußten, von der Persönlichkeit zur Kindheit, von den individuellen zu den geneti­ schen Vorgängen«171. Die kulturkritische Erkenntnis bewegt sich der­ art »von der Oberfläche in die Tiefe, von der fertigenPsycho-Logie< im strengen Sinn«181. Damit aber, fährt Marcuse fort, hat er sich einge­ reiht in die »große Tradition der Philosophie« und sein Werk unter »philosophische Kriterien«182 gestellt. Schlüsselfigur dieser Tradition ist Plato, an dessen Symposion Freud erinnert, wenn er, was die Psychoanalyse »Sexualität« nennt, mit dem »allumfassenden und alles erhaltenden Eros«185 gleichsetzt. »Eros als Lebenstrieb«, bemerkt Marcuse hierzu, »bezeichnet eher einen breiteren biologischen Trieb als ein breiteres Wirkungsfeld der Sexualität. ... Auch ohne Freuds ausdrücklichen Hinweis auf Plato wäre der Wandel in der Betonung deutlich: Eros bezeichnet eine quantitative und qualitative Erweiterung der Sexualität.«184 Hieraus ergibt sich für Marcuse ein weitreichender Schluß hinsichtlich des Begriffs der Sublimation. Dieser ist in seiner ursprünglichen Version aufzugeben, die sich auf das Schicksal der Sexualität unter einem repressiven Realitätsprinzip bezieht. Sublimation bedeutet bei Freud »eine gewisse Art von Modifikation des Ziels und Wechsel des Objekts, bei der unsere soziale Wertung in Betracht kommt«185, die sich aus dem Leistungs- und Nützlichkeitsprinzip ergibt. Es gibt jedoch auch andere Formen von Sublimierung. Freud erwähnt zielge­ hemmte »Triebregungen, die man noch nicht sublimierte zu nennen 39

braucht, wenngleich sie diesen nahestehen. Sie haben ihre direkt sexuellen Ziele nicht aufgegeben, werden aber von der Erreichung derselben abgehalten, begnügen sich mit gewissen Annäherungen an die Befriedigung und stellen gerade darum besonders feste und dauer­ hafte Bindungen unter den Menschen her.«186 Freud nennt sie »sozia­ le Triebe«, zu denen die »Zärtlichkeitsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern« gehören, »die Gefühle der Freundschaft und die aus sexueller Zuneigung hervorgegangenen Gefühlsbindungen in der Ehe«187. Auch in M assenpsychologie und Ich-Analyse weist Freud darauf hin, in welchem Grad gemeinschaftlich erbrachte Kulturlei­ stungen auf libidinösen Bindungen nicht-sublimierter und sublimier­ ter Art beruhen.188 Marcuse erblickt in Freuds Andeutungen die Vor­ wegnahme der »Idee einer Kultur«, die »aus freien libidinösen Beziehungen erwächst und von ihnen getragen wird«189. In ihrem Mittelpunkt stünde »nicht-repressive Sublimierung«190, das heißt schöpferische »Selbstverwirklichung des Eros«191 im Sinn der frühen platonischen Dialoge.

VII Eine neue Qualität gewinnt die psychoanalytische Komponente der Philosophie Marcuses in dessen Schriften der sechziger und siebziger Jahre. Seine vielbeachteten Frankfurter Vorträge von 1956 »Triebleh­ re und Freiheit« und »Die Idee des Fortschritts im Lichte der Psycho­ analyse«192, die das Konzept des »eindimensionalen Menschen« in nuce enthielten, zeigten die künftige, an der unmittelbaren Zeitge­ schichte orientierte Tendenz seines Denkens an. Die Ausgangsthese von Triebstruktur und G esellschaft, daß es darauf ankommt, die metapsychologischen Kategorien Freuds hinsichtlich »ihres eigenen, sozio-historischen Inhalts«193 zu dechiffrieren, erscheint in jenen Vorträgen in fortentwickelter, zugespitzter Form. Zwei Gesichts­ punkte sind dabei wichtig. Marcuse betrachtet jetzt Psychologie als »wesentliche[n] Teil der politischen Wissenschaft« und ist anderer­ seits bemüht, nachzuweisen, daß die Freudsche Trieblehre »entschei­ dende Tendenzen der heutigen Politik auf ihren - verdeckten Begriff bringt«194. Es handelt sich also nicht darum, politische Sach­ 40

verhalte psychologisch zu erklären. Vielmehr, betont Marcuse, muß sich die Psychologie selbst »als politisch enthüllen: nicht nur so, daß die Psyche immer unmittelbarer als ein Stück des GesellschaftlichAllgemeinen erscheint - so daß Vereinzelung beinahe gleichbedeu­ tend mit Teilnahmslosigkeit, sogar mit Schuld, aber auch mit dem Prinzip der Negation, der möglichen Revolution ist; sondern auch so, daß das Allgemeine, dessen Stück die Psyche ist, immer weniger >die Gesellschaft und immer mehr >die Politikutopisch< gebrand­ markt wird, ist nicht mehr das, was »keinen Ort< hat und im histori­ schen Universum auch keinen haben kann, sondern vielmehr das, was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustandezukommen«251. Marcuse zweifelt nicht daran, daß sich auf der Basis des technolo­ gisch Erreichten (und noch Erreichbaren) binnen kurzem Armut und Not im Weltmaßstab abschaffen ließen. Dem steht jedoch geschichtli­ che Erfahrung entgegen. Weder »rationaler Gebrauch« noch »kollek­ tive Kontrolle« der verfügbaren Kräfte verbürgen per se, daß Herr­ schaft und Ausbeutung verschwinden: »ein bürokratischer Wohlfahrtsstaat wäre immer noch ein Zustand der Unterdrückung, der sich selbst in der »zweiten Phase des Sozialismus< fortsetzte, wo jeder »nach seinen Bedürfnissen leben soll«252. Damit verlagert sich das Problem für Marcuse auf eine sozialpsychologische Ebene. Wie, so fragt er, läßt es sich bewerkstelligen, daß das Individuum seine Wünsche befriedigt, ohne dadurch zugleich »seine Abhängigkeit von einem ausbeuterischen Apparat zu reproduzieren, der, indem er Bedürfnisse befriedigt, Knechtschaft verewigt?«253 In einer freien Gesellschaft, antwortet Marcuse, würde ein sich steigerndes Wohlergehen der Menschen eine »wesentlich neue Lebensqualität«254 bewirken. Dieser Wandel muß mithin in den Bedürfnissen und den Weisen ihrer Befriedigung stattfinden: »im Unterbau der Individuen (der selbst eine Dimension des Unterbaus der Gesellschaft ist)«255. Neue Produktionsverhältnisse müssen folg­ lich Bedürfnisse ausdrücken, »die ... antagonistisch gegenüber jenen sind, die in den ausbeuterischen Gesellschaften vorherrschen«256. Diese Veränderung würde die »triebmäßige« Basis einer Freiheit bil­ den, die während der Klassengeschichte blockiert war. Sie entstünde, so Marcuse, als »Umgebung eines Organismus, der ... die Aggressi­ 49

vität, Brutalität und Häßlichkeit der etablierten Lebensweise nicht länger zu ertragen vermag«257. Es handelt sich hier für Marcuse um eine politische Praxis, die auf »radikale Umwertung der Werte« abzielt und deshalb hinabreicht in die »Wurzeln der Eindämmung und Zufriedenheit« im libidinösen »Unterbau«258 der Individuen. Bestandteil dieser Praxis, betont Mar­ cuse, ist der Bruch mit »dem Wohlvertrauten, den routinierten Wei­ sen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge« - ein Bruch, der es vermag, den menschlichen Organismus empfänglich zu machen für die »potentiellen Formen«259 einer humaneren Welt. Marcuse ist sich darüber im klaren, daß seine subtilen Betrachtungen - trotz ihrer Nähe zur Zeitgeschichte - weit entfernt sind von der Realität der damals häufig »destruktiv und selbstzerstörerisch«260 agierenden Protestgruppen. Keine von ihnen, unterstreicht Marcuse, »ist die Alternative«261 zum Bestehenden. Sie machen aber seine historischen Grenzen sichtbar. Mit Sympathie verfolgt Marcuse die tastenden Schritte der Akteu­ re, die von einer spontanen, vorpolitisch-somatisch verwurzelten Revolte übergehen zu bewußten Formen organisierter, außerparla­ mentarischer Opposition.262 Als der wohl kompetenteste Interpret der Protestbewegung rekonstruiert Marcuse zugleich die Abfolge ihrer Etappen, wobei er, bestrebt, die Ereignisse auf ihren philosophi­ schen Begriff zu bringen, das faktisch Vorhandene mitunter durch das im humanistischen Sinn Wünschenswerte ergänzt. Er sieht dann mehr in die Dinge hinein als sie an Ort und Stelle enthalten. Was Marcuse letztlich interessiert, ist nicht der Ausgang dieser oder jener studentischen Aktion, sondern die umfassende Perspektive, der »Zukunftshorizont« des durch die Revolte eingeleiteten Wandels, in dem sich die Möglichkeit einer neuen Kultur abzeichnet, die »das humanistische Versprechen erfüllt, das von der alten verraten wurde«263. Der so verstandene »politische Radikalismus« aktiviert Marcuse zufolge das »elementare, organische Fundament« jener »Moral im Menschen«, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie sich vor jeglichem sozialethisch oder ideologisch motivierten Verhalten als eine Disposition des Organismus erweist, »die wohl im erotischen Trieb ihren Ursprung hat, der Aggressivität entgegenzuwirken, >immer größere Einheiten< des Lebens zu schaffen und zu erhal­ ten«264. In der biologischen Existenz des Menschen, in seiner Leib­ 50

lichkeit, entdeckt Marcuse, diesseits vorgegebener Werte, ein »trieb­ psychologisches Fundament für Solidarität unter den Menschen«, das, lange mißachtet, jetzt »als Vorbedingung von Befreiung erscheint«265. Ein Blickwinkel, aus dem Marcuse nach einer »biologi­ schen« Grundlage des Sozialismus fragen kann, die zur Kritik der politischen Ökonomie hinzutreten muß. Da nun die Historizität der menschlichen Natur sich auch auf deren Triebkomponente erstreckt, können moralische Änderungen (wie kulturelle Bedürfnisse insgesamt) in die Biologie des Menschen einwandern und seine physischen Reaktionsweisen modifizieren. Ist einmal, so erläutert Marcuse seine freudianische Konzeption, eine bestimmte Moral zur »Norm sozialen Verhaltens« geworden, dann ist sie nicht nur »verinnerlicht«, sondern wirkt zugleich als Regel »orga­ nischen« Verhaltens: »der Organismus empfängt und reagiert auf gewisse Stimuli, >ignoriert< andere und weist sie im Einklang mit der introjizierten Moral ab, die derart die Funktion des Organismus als lebender Zelle in der jeweiligen Gesellschaft begünstigt oder behin­ dert«266. So erzeugt eine Gesellschaft stets aufs neue und unabhängig von Bewußtsein und Ideologie »Verhaltensmuster und Wünsche als Teil der >Natur< ihrer Mitglieder«267. Es charakterisiert die jüngste Stufe des Kapitalismus, daß die ihn rechtfertigende, ehedem überbau­ hafte Ideologie ihren Sitz jetzt in seiner materiellen Basis hat, zu der auch unbewußte, sich somatisierende Strukturen gehören. Entstan­ den ist unterdessen eine »zweite Natur der Menschen ..., die sie libidinös und aggressiv an die Warenform bindet. Das Bedürfnis, techni­ sche Gebrauchsartikel, Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern, Waren, die den Leuten angeboten und aufgedrängt werden, damit sie diese selbst bei Gefahr ihrer eigenen Zerstörung gebrauchen, ist zu einem >biologischen< Bedürfnis ... geworden. ... Die von diesem System geschaffenen Bedürfnisse sind deshalb stabilisierende, kon­ servative Bedürfnisse: die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert.«268 Hieraus ergibt sich für Marcuse, daß radikaler Wandel, wenn er die Gesellschaft wirklich transformieren soll, in eine von der Marxschen Theorie nicht berücksichtigte »Dimension der menschli­ chen Existenz« hineinreichen muß - »die >biologische< Dimension, in der die vitalen Bedürfnisse und Befriedigungen des Menschen sich geltend machen. Soweit diese ... ein Leben in Knechtschaft reprodu51

zieren, setzt eine Befreiung Veränderungen in dieser Dimension vor­ aus, das heißt: andere Triebbedürfnisse, andere Reaktionen des Kör­ pers wie des Geistes«269. Der unentwegt stattfindende, aber quantitativ bleibende Fort­ schritt schmälert nicht nur den mentalen Spielraum menschlicher Existenz, sondern auch das Verlangen, ihn zu erweitern. Die »Mehr­ heit der organisierten Arbeiterschaft«, daran läßt Marcuse keinen Zweifel, teilt die »stabilisierenden Bedürfnisse der Mittelschichten«, wie dies hervorgeht aus ihren Konsumgewohnheiten und ihrer »emo­ tionalen Abneigung gegenüber der nonkonformistischen Intelli­ genz«270. Die Arbeiterklasse, hierin folgt Marcuse der orthodoxen Lehre, ist zwar objektiv, »an sich«, noch immer Subjekt der historisch notwendigen Veränderung - »für sich«271 ist sie es nicht, sondern hat ein »handfestes Interesse am bestehenden System«272, dem sie geistig und triebpsychologisch verbunden ist. Politische Initiative verlagert sich daher »auf kleine, weit zerstreute Gruppen mit einem hohen Grad an Autonomie, Beweglichkeit und Flexibilität«273. Ihr militantes Auftreten liefert den sechziger Jahren ein vieldeutiges, aber zeitatmo­ sphärisch treffsicheres Stichwort: »neue Sensibilität«274. Marcuse, der die geistige, sich weltweit verändernde Situation genau beobachtet, erkennt im entfesselten, oft possenhaften und clownesken Protest der Neuen Linken zugleich einen ernstzunehmenden »politischen Fak­ tor«, der, wie er annimmt, sich als »Wendepunkt in der Evolution der gegenwärtigen Gesellschaften«275 erweisen könnte. Wichtig ist für Marcuse, daß die neue Sensibilität keine bloße Kopfgeburt ist, son­ dern im Kampf um neue Lebensformen entsteht; »sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnli­ che, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.«276 In dieser politisch wie künstlerisch sich artikulierenden, in histo­ rische Praxis übergehenden Sensibilität erblickt Marcuse den - künf­ tigen - »Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld«277. Der Begriff entfaltet die »transzendierenden Möglichkeiten der Frei­ heit«278, indem er einen Typ von Menschen vorwegnimmt, »die eine Schranke gegen Grausamkeit, Brutalität und Häßlichkeit aufgerichtet haben«; von Frauen und Männern, die - befreit im Sinn Nietzsches 52

»ein gutes Gewissen haben, menschlich und sinnlich zu sein; die sich nicht mehr ihrer selbst schämen«279. Aus Marcuses anthropologischer Perspektive erhellt, weshalb er im Spätwerk, im Gegensatz zur tradi­ tionell-marxistischen, stadialen Geschichtslehre, nur noch im Bruch mit dem historischen Kontinuum insgesamt eine reale Möglichkeit sieht, qualitativen Wandel herbeizuführen. Letzterer scheint, so stellt es sich Marcuse dar, in Anbetracht der heillos verdinglichten Verhält­ nisse eher von existentiellen Faktoren abzuhängen als von theoreti­ scher Einsicht in Gesetze der ökonomischen Dynamik. Dem radikalen »Umbau« der Gesellschaft muß eine tiefgreifende, in der studentischen Opposition keimhaft angelegte Änderung der leibhaftigen Menschen vorausgehen, die ihn bewerkstelligen sollen. Eine ökonomische und politische Wende ist nur dann erreichbar, wenn sie von Menschen vollzogen wird, »die physiologisch und psy­ chologisch fähig sind, die Dinge und sich selbst außerhalb des Zusam­ menhangs von Gewalt und Ausbeutung zu erfahren«280. Es bedarf deshalb eines grundlegend anderen Lebensgefühls, Sensoriums und Denkens, vor allem aber einer anderen, mit dem herrschenden Voka­ bular brechenden Sprache.281 In schwachen, aber beeindruckenden Ansätzen, so schätzt Marcuse die damalige internationale Lage ein, lassen sich an der studentischen Praxis dahingehende Veränderungen des Bewußtseins und Verhaltens ablesen. In dem Maße nun, wie Recht und Wahrheit der Phantasie zu Forderungen der Politik wer­ den, greift diese über auf den bislang apolitischen Bereich des Ästheti­ schen.282 In ihm, so Marcuse, aktiviert der Protest »gerade die organi­ schen Momente: die humane Sinnlichkeit, die gegen das Diktat repressiver Vernunft aufbegehrt und dadurch die sinnliche Gewalt der Imagination beschwört«283. Es eröffnet sich hier für Marcuse die Aussicht auf ein neues, harmonisches Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft. Beide sind »rationale Vermögen« und als solche imstande, »die objektiven (materiellen) Bedingungen der Freiheit, ihre wirklichen Grenzen und Chancen zu ermitteln und zu definie­ ren«284. Anstatt sich der »Rationalität der Herrschaft« unterzuord­ nen, wäre emanzipatorische Sinnlichkeit orientiert an der zwischen »rationalen Vermögen« und »sinnlichen Bedürfnissen«285 vermit­ telnden Imagination. Indem Einbildungskraft im Sinn Kants Sinn­ lichkeit und Vernunft vereinigt, wird sie »produktiv«, was Marcuse nicht transzendental, sondern praktisch versteht: eine »leitende Kraft 53

bei der Rekonstruktion der Wirklichkeit ... mit Hilfe einer Wissen­ schaft und Technik, die ... frei sind für die befreienden Erfordernisse der Phantasie«286.

IX Die im Versuch über die Befreiung entworfene, an zeitgeschichtliche Ereignisse anknüpfende Anthropologie erweist sich, aus heutigem Abstand, als hochgradig spekulativ. Dies im keineswegs abschätzigen Sinn. Marcuses Kategorien bilden, in konjunktivischer Sprache, eher das moralisch-ästhetisch und politisch Wünschenswerte ab als ein bereits Vorhandenes. Während Horkheimer und Adorno, darin mar­ xistischer Tradition folgend, hinsichtlich des sozialistischen Ziels nähere Angaben vermeiden, erscheint Marcuse eine solche Zurück­ haltung nicht mehr angebracht.287 Angesichts des historisch erarbei­ teten Potentials, davon ist er überzeugt, eröffnet sich utopischem Bewußtsein heute die Perspektive einer libidinösen, mit der Sinnlich­ keit versöhnten Vernunft. Marcuse erklärt daher den Gegensatz von »Einbildungskraft und Vernunft, höheren und niederen Vermögen, poetischem und wissenschaftlichem Denken«288 für grundsätzlich aufhebbar. Ein »neues Realitätsprinzip« erscheint möglich, das geeig­ net wäre, eine »neue Sensibilität« und eine »entsublimierte wissen­ schaftliche Intelligenz« zu einem »ästhetischen Ethos«289 zu vereini­ gen. Damit würden zwar Phantasie und Kunst ihre - mit realer Ohnmacht bezahlte - »Freiheit vom Realitätsprinzip«290 einbüßen, zugleich aber beitragen zum Entstehen einer neuen Kultur. Diese bedarf, wie Marcuse bereits in Triebstruktur und G esellschaft ausge­ führt hatte, ebenso einer »Ent-Sublimierung« der Vernunft wie einer »Selbst-Sublimierung«291 der Sinnlichkeit. Ist kulturelle Moral, wie Freud nachweist, die der »verdrängten Triebe«, so bedeutet deren Befreiung eine »Erniedrigung der höheren Werte«292. Dadurch aber, betont Marcuse, könnten letztere reintegriert werden in die »organi­ sche Struktur des menschlichen Daseins ..., von der sie getrennt waren, und die Wiedervereinigung könnte diese Struktur selbst umformen«293. Verlören die »höheren Werte« ihre Abgehobenheit gegenüber den niederen, sinnlichen Vermögen, dann könnten diese 54

»empfänglich für die Kultur«294 werden. Umgekehrt würde sich zei­ gen, daß etwa die Kategorie des Schönen, wie es bei Nietzsche heißt, den »biologischen Wert« dessen hat, was nützlich ist, wohltätig und lebenssteigernd.295 Den normativen Hintergrund des anthropologischen Entwurfs, dem Marcuses Spätwerk seine Kriterien entnimmt, bildet unerschüt­ terliche Treue zur hum anistischen Idee. Was bestehende Gesellschaf­ ten von einer freien Gesellschaft unterscheidet, beeinträchtigt Marcuse zufolge »alle Bedürfnisse und Befriedigungen jenseits der animalischen Stufe, das heißt: alle diejenigen, die wesentlich der m enschlichen Gattung angehören, dem Menschen als >vernunftbegabtem Tiermoralisiert< werden (muß)«; Moralität ist für den späten Marcuse »nicht notwendig und nicht primär ideologisch«298. Die Objektivität eines Glücks, das sich über bloße Befindlichkeiten erhebt, hängt ab von »der wirklichen Solidarität der Gattung >MenschSinn< verleiht oder die Vorbedingung für das >wahre< Leben des Menschen abgibt«339. Marcuse dagegen erblickt im Tod »ein wesentlich externes, wenn auch biologisch inter­ nes Ereignis«. Damit aber wird für ihn »Lebensbejahung tendenziell zum Letzten und gleichsam unbedingt. Das Leben selbst wird ... zur einzigen Instanz der Versöhnung mit dem Leben.«340 Dem widersprechen jene (weit häufiger auftretenden) Philoso­ phien, die den Tod als zugleich »wesentliches wie als biologisches Faktum, als ontologische wie als empirische Größe«341 betrachten. Sie transzendieren das Leben als solches, obgleich keineswegs immer 61

im religiösen Sinn. Entscheidend hieran ist für Marcuse, daß derartige Idealismen das empirische, körperliche und kontingente Dasein des Menschen dadurch abwerten, daß sie es als »bestimmt und versöhnt« ansehen durch den »Bezug auf etwas außerhalb seiner«342. Es wird versichert, der Mensch sei Bürger zweier prinzipiell verschiedener, einander bekämpfender Welten, wobei sein wahres Dasein ihm in der empirischen Welt eine Reihe von Opfern auferlege, deren »höchstes Opfer«343 der Tod sei. Daß die Hauptströmungen westlicher Philosophie in seltener Eintracht dem Tod, einem zunächst naturalen Tatbestand, ontologi­ sche Würde zuerkennen, findet Marcuse insofern bemerkenswert, als »Beherrschung der bloß natürlichen Notwendigkeit sonst als das Auszeichnende des menschlichen Daseins und Strebens gegolten hat«344. Es war eine der wichtigsten Aufgaben traditioneller Philoso­ phie, natürliche und essentielle Sachverhalte scharf gegeneinander abzugrenzen. Nun ist, was Marcuse einräumt, der als »ontologische Kategorie« auftretende Tod »nicht einfach das natürliche Ende des organischen Lebens. Er ist vielmehr das begriffene, >angeeignete< Ende, das intergraler Bestandteil des menschlichen Daseins gewor­ den ist.«345 Sterben hat physische Ursachen, der Tod aber ist ein Metaphysikum:346 eine Wirklichkeit höherer Seinsart. Dem pflichtet Marcuse, der Tradition widerstehend, keineswegs bei. Alles philoso­ phische Bemühen, darauf beharrt er, vermag an der »natürlichen Tat­ sache des Todes« nichts zu ändern, geschweige denn, »sie zu trans­ zendieren, sondern bleibt dem Tod sensu bruto hoffnungslos unterlegen«347. Die offizielle Philosophiegeschichte spricht eine andere Sprache. Seit dem Altertum gehen maßgebende Denker vom Tod als einer klaglos hinzunehmenden Tatsache aus, deren empiri­ sche Notwendigkeit sie in eine ontologische überführen. Der Tod gehört ihnen zufolge »zum Wesen des menschlichen Lebens..., zu sei­ nem existentiellen Vollzug«348. Seine bewußte Hinnahme gilt als »Vorrecht des Menschen und ... als das Zeichen seiner Freiheit«, die Möglichkeit, ihn »am Ende zu negieren, ... als Affirmation der menschlichen Fähigkeiten und Zwecke«349. Daran, erwidert Marcu­ se, ist soviel wahr, daß der Mensch nur dann frei ist, »wenn er den Tod besiegt hat« und sein »Sterben als das selbstgewählte Ende seines Lebens zu bestimmen vermag ... Solange dies nicht der Fall ist, bleibt der Tod bloße Natur und eine unüberwundene Grenze allen Lebens, 62

das mehr ist als bloß organisches, bloß animalisches Leben«350. Einem im strengen Sinn eigenen, individuellen Tod muß ein autonom geführtes Leben vorausgehen, das die herrschende Kultur nicht gestattet. Urbild einer »idealistischen Einstellung zum Tod«351 ist Sokrates, wie ihn Platon im Phaidon schildert. Er leert den Schierlingsbecher und setzt die athenischen Richter ins Unrecht. »Aber seine Philoso­ phie des Todes«, gibt Marcuse zu bedenken, »anerkennt ihr Recht, nämlich das der Polis über den einzelnen«352. Es bleibt in der Schwe­ be, ob Sokrates, das Urteil annehmend, seine Philosophie widerruft, oder ob diese insgeheim jene Mächte stützt, die er stets bekämpft hat. »Tod und Unfreiheit, Tod und Herrschaft«353 erscheinen bei Platon in unzertrennlicher, aber begrifflich ungeklärter Einheit. Sein Körper und Geist verschiedenen Seinsarten zuordnender Idealismus fixiert die Gleise, auf denen die weitere Denkentwicklung stattfinden wird. Körperliches und geistiges Leben, Lust und Freiheit treten auseinan­ der. Glück wird neu definiert als »Selbstverleugnung und Entsa­ gung«354. Die »ontologische Affirmation«355 spielt, immer subtiler und kar­ ger ausfallend, auch in der Moderne eine erhebliche Rolle. Marcuse erinnert daran, wie Hegels Ästhetik die »romantische Weltanschau­ ung« charakterisiert. Hier hat der »von der Naturseite her« an den Menschen herantretende Tod »die Bedeutung der Negativität, d.h. der Negation des Negativen, und schlägt deshalb ebensosehr zum Affirmativen, als Auferstehung des Geistes aus seiner bloßen Natür­ lichkeit und unangemessenen Endlichkeit, um«356. Damit aber ver­ kehren Schmerz und Tod der »ersterbenden Subjektivität« sich zu deren »Rückkehr in sich, zur Befriedigung, Seligkeit und zu jenem versöhnten und affirmativen Dasein, das der Geist nur durch die Ertötung seiner negativen Existenz, in welcher er von seiner eigentli­ chen Wahrheit und Lebendigkeit abgesperrt ist, zu erringen ver­ mag«357. Diese idealistische Tradition wird abgeschlossen in Heideggers »Interpretation des menschlichen Daseins als der Antizipation des Todes«358. Sie entstand, wie Marcuse bitter-ironisch bemerkt, als »jüngste und höchst passende Ermunterung zum Tod« zu eben jener Zeit, »als für die entsprechende Wirklichkeit des Todes die politi­ schen Grundlagen gelegt wurden«359. - Demgegenüber, sagt Marcuse, 63

wäre ein »Normalverhalten« zum Tod denkbar - normal im Sinn schlichter, beobachtbarer Tatsachen, die allerdings unter ideologi­ schem und institutionellem Druck verdrängt werden. Für die meisten ist der Tod »ein Ereignis voller Schmerz und Schrecken, eine Gewalt­ tat und unwillkommen«360. Versuche, ihm zu trotzen, bleiben letzt­ lich ohne Wirkung. Medizinische Fortschritte sind zu verzeichnen. Aber noch herrscht der »Kampf ums Dasein« innerhalb eines Volkes und zwischen Völkern, der immer wieder Anstrengungen durch­ kreuzt, das Leben zu verlängern, das jedoch nur im günstigsten Fall Selbstzweck und nicht Mittel bloßer Subsistenz ist. Erst in einer Gesellschaft, die ihre Möglichkeiten realisierte, könnte die »allmäh­ lich zunehmende Lebensdauer ... Substanz und Charakter nicht nur des Lebens, sondern auch des Todes verändern. Der Tod würde keine ontologischen und moralischen Sanktionen mehr mit sich führen. Der Mensch würde den Tod primär als eine technische Grenze seiner Freiheit erfahren und deren Überwindung würde anerkanntes Ziel individueller wie gesellschaftlicher Anstrengungen. In steigendem Maße hätte der Tod an der Freiheit Anteil und die einzelnen bekämen die Macht, selbst über ihren Tod zu entscheiden.«361 Marcuse ist bewußt, daß ein Leben im Sinn dieser Einstellung zum Tod einschneidende Folgen hätte; er wäre »unverträglich mit den etablierten Institutionen und Wertsetzungen der Kultur«362. Umgekehrt fällt von hier aus Licht auf die traditionelle Vorstellung vom Tod, die sich als »gesellschaftspolitischer Begriff« erweist, »durch den unangenehme empirische Fakten in eine Ideologie umformbar werden«363. Der Tod des Sokrates offenbart in seiner pla­ tonischen Interpretation, wie die Ideologie des Todes mit den histori­ schen (und strukturell fortwirkenden) Bedingungen ihres Entstehens zusammenhängt. Hierher gehören »Gehorsam gegenüber den Geset­ zen des Staates, ohne die die menschliche Gemeinschaft in Unord­ nung wäre; Unangemessenheit eines Daseins, das eher Gefangen­ schaft als Freiheit, eher Unwahrheit als Wahrheit ist; Einsicht in die Möglichkeit eines freien und wahrhaftigen Lebens in eins mit der Überzeugung, daß daran nicht zu denken ist ohne die Negation der bestehenden Verhältnisse. Der Tod ist der notwendige Eingang in das wirkliche Leben, da das faktische Leben des Menschen ohne Wirk­ lichkeit ist, d.h. in Wahrheit gar nicht besteht.«364 Das erlaubt die von Platon in der Politeia bejahte Frage, ob nicht 64

die gegebene Ordnung so verändert werden könne, »daß eine >wahre< Polis daraus wird«365. Der ideale Staat, betont Marcuse, beraubt den Tod, zumindest für die Philosophen-Könige, seiner »transzendenten Funktion«366. Sie führen ein wahrhaftiges Leben und bedürfen des­ halb keiner Befreiung durch ein heroisches Ende. Was die Unfreien betrifft, so müssen auch sie sich nicht mit dem Tod, einem Naturereig­ nis, versöhnen. Unentbehrliches Mittel der Herrschenden wird die Ideologie des Todes erst als Bestandteil der christlichen Lehre, die genötigt ist, ihre Botschaft von der »Freiheit und Gleichheit der Men­ schen als Menschen« in Einklang zu bringen mit fortbestehenden »Institutionen der Unfreiheit und Ungerechtigkeit«367. Der Wider­ spruch zwischen Botschaft und Wirklichkeit wird christologisch gelöst: »Tod und Auferstehung des Gott-Helden, einst Symbol der periodischen Erneuerung des natürlichen Lebens und eines vernünf­ tigen Opfers, lenken von da an alle Hoffnung auf ein übernatürliches Leben im Jenseits. Der höchste Sold muß entrichtet werden, damit der Mensch seine höchste Erfüllung nach dem Abschluß seines irdi­ schen Lebens finden kann.... Der Tod des Gottessohnes verleiht dem Tod des Menschensohnes seine endgültige Rechtfertigung.«368 Dem Nachweis der gesellschaftlichen Genesis und Funktion der Todesideologie folgen immer wieder tastende Versuche Marcuses, das Problem selbst, abzüglich seiner ideologischen Travestie, zu erfas­ sen. Feststeht, daß die Menschen den Tod, was immer Religionen an Tröstlichem Vorbringen, als das »Allerentsetzlichste und endgültige Ende«369 fürchten. »Angst« im Kierkegaardischen Sinn erscheint als existentielle Kategorie; aber angesichts dessen, »daß der Tod nicht nur unausweichlich, sondern auch unberechenbar und überall ist und die tabuierte Grenze der menschlichen Freiheit darstellt, ist jede Angst Furcht ... vor einer realen und allgegenwärtigen Gefahr, und damit die rationalste Einstellung und Empfindung«370. Marcuse rech­ net die »rationale Macht der Angst« unter die stärksten Motive »des Fortschritts im Kampf mit der Natur, beim Schutz und bei der Berei­ cherung des menschlichen Lebens«371. Wird Angst dagegen vorzeitig verscheucht, ohne daß ihr Nährboden wirklich beseitigt wird, so kann dies im Interesse repressiver Ideologie liegen. Die allein kompromißlose Definition der Freiheit ist für Marcuse ein »Leben ohne Angst«372, umfaßt sie doch, materiell wie geistig, alles erhoffbare Glück. Ein solches Leben aber setzt den »Sieg über 65

den Tod« voraus - nicht in dem Sinne, daß der Tod bewußt antizipiert und hingenommen wird, wenn e r ... kommt, sondern so, daß er, seines Schreckens beraubt wird und seiner unberechenbaren Gewalt ebenso wie seiner transzendenten Unberührbarkeit«373. Der dafür erforderli­ che Kampf gegen den Tod in allen seinen Formen würde allerdings die »gesellschaftlich tabuierten Grenzen sprengen«374. Er ist deshalb mit dem medizinischen Kampf gegen Krankheiten nicht identisch. Marcuse vermutet, daß eine »tief verwurzelte psychische Barriere« den Willen schon vor Erreichen der »technische[n] Barriere«375 lähmt. Aufrechterhalten wird die Blockade des Willens durch jene »gesellschaftlich perpetuierten Werte, die ihre Anleihen beim Tod als Erlösung, ja schöpferischer Kraft machen, bei seiner natürlichen wie auch essentiellen Notwendigkeit«376. Man verweist darauf, daß die unberechenbare Kürze des Lebens unentwegt Verzicht und Mühsal, Anstrengung und Opfer mit sich bringe. In allen Predigten »inner­ weltlicher Askese« vernimmt Marcuse die Ideologie des Todes. Ihre »Destruktion«, betont er, würde eine »explosive Umwertung der gesellschaftlichen Vorstellungen« bewirken, etwa »die Möglichkeit mit gutem Gewissen ein Feigling zu sein, die Entheroisierung und ... Entsublimierung. Ein neues Realitätsprinzip wäre impliziert, eines, das das Lustprinzip eher freisetzte als außer Kraft setzte.«377 Eine Verwirklichung dieser streng tabuierten Ziele würde den Zusammenbruch der bestehenden Kultur herbeiführen. Darin pflich­ tet Marcuse Freuds Einsicht in die ruinösen Folgen einer - hypotheti­ schen - Aufweichung des herrschenden Realitätsprinzips bei: »Das dynamische Verhältnis von Eros und Todestrieb ist von der Art, daß der Todestrieb, reduziert unter das Niveau, auf dem er seine gesell­ schaftlich nützliche Funktion ausüben kann, das Lustprinzip über das >erträgliche< Maß hinaus freisetzen würde. Dies bedeutet Entsubli­ mierung in einem Maße, daß die kostbarsten Errungenschaften der Kultur rückgängig gemacht würden.«378 Erschreckt durch seine Ent­ deckungen, setzt Freud hinter die offizielle Kultur ein Fragezeichen, beschwört aber gleichzeitig das geltende Tabu. Die Psychoanalyse hat sich später weitgehend von solchen Spekulationen ihres Begründers abgewandt. Hinsichtlich der schon in Triebstruktur und G esellschaft diskutierten Frage, »ob die Bejahung des Todes Ausdruck ... eines primären >Todestriebs< in jedem organischen Leben ist oder ob dieser >Trieb< nicht erst unter dem historischen Druck der Kultur zur >zwei­ 66

ten Natur< geworden ist«379, tendiert Marcuse dazu, dem Todestrieb »historischen Charakter«380 zuzusprechen. Todesfurcht wie ihre Unterdrückung gehen, als integrative Fakto­ ren, ein in die gesellschaftliche Organisation. Dadurch wird der Tod eine sakrosankte Notwendigkeit. Das »natürliche Faktum« erlangt die Würde einer »gesellschaftlichen Institution«381. Perfekte Herr­ schaft, so Marcuse, verlangt, daß der institutionalisierte Tod »für mehr als ... ein factum brutum genommen wird, nämlich als gerecht­ fertigt und als Rechtfertigung. Der Tod als Rechtfertigung: das scheint am Ende ... das individuelle Schuldgefühl zu sein, das sich vom uni­ versellen herleitet, dem Leben selbst, dem leiblichen.«382 Marcuse erinnert daran, daß hierin die frühchristliche Vorstellung überlebt, alle weltliche Herrschaft sei Strafe für begangene Sünden. Ist Leben von vornherein mit Sünde behaftet, »dann sind alle rationalen Stan­ dards für irdische Gerechtigkeit, Glück und Freiheit... sekundär und werden zu Recht durch - in der Sprache des irdischen Lebens - >irrationalebiologisch< ... Er könnte von historischen Mächten genährt worden sein, von der Not, das Leben des einzelnen zu opfern, damit das Leben des >Ganzen< weitergeht. Das >Ganze< is t... nicht die natürliche Spezies, die Menschheit, sondern eher die Totalität der Institutionen und Relationen, die die Menschen im Laufe ihrer Geschichte aufgebaut haben. Ohne ... instinktive Bejahung ihres unbestreitbaren Vorrangs 68

könnte diese Totalität von der Auflösung bedroht sein.«398 Marcuse erblickt denn auch in Hegels - hier ins Spiel kommender - Geschichtsphilosophie eine moderne Version jener Todesmetaphy­ sik, die mit Platons P haidon beginnt. »Das Besondere«, erklärt Hegel, »hat sein eigenes Interesse in der Weltgeschichte; es ist etwas Endli­ ches und muß als solches untergehen. ... Aber eben im Kampf, im Untergange des Besondern resultiert das Allgemeine.«399 Wenn Hegel, so Marcuse, Geschichte als »Schlachtbank« betrachtet, »auf der das Glück der Individuen dem Fortschritt der Vernunft zum Opfer gebracht wird«, hat er keinen »natürlichen Prozeß« im Blick, sondern ein »historisches Faktum«400. Der sich auf geschichtlichem Boden ereignende, dem Individuum auferlegte Tod ist nicht bloße Natur, sondern, in Hegels Sprache, ein vorübergehendes Moment der sich entfaltenden Vernunft. Sie ist der »absolute Endzweck«401 der Weltgeschichte - nicht das Glück der Individuen.

XI Wenn der Verfasser dem Essay »Die Ideologie des Todes« besondere Aufmerksamkeit widmet, so nicht nur weil dieser, systematisch einge­ schätzt, zum Problemgebiet von Triebstruktur und G esellschaft gehört, sondern vor allem deshalb, weil er sich, Kritik und Utopie ver­ bindend, als geeignet erweist, in die Gedankenwelt auch der übrigen Arbeiten des Bandes einzuführen. Sie zeugen von der exegetischen Kraft Marcuses, dem Reichtum des Freudschen Lebenswerks gerecht zu werden, mit dessen zunächst rein psychologischer Grundabsicht Unvereinbares einherzugehen scheint: Naturforschung (Physiologie und Biologie), ein unterschwelliges, durch empirische Vorbehalte gebrochenes, aber bleibendes Verhältnis zur Philosophie, insbeson­ dere zu metaphysischer Spekulation sowie ausgedehnte historisch­ kulturwissenschaftliche Interessen und Einsichten. Marcuses Aufsatz »Theorie und Therapie bei Freud«, eine 1957 veröffentlichte Rezensi­ on des Buches Myth and Guilt von Theodor Reik, beschreibt, in pole­ mischer Distanz zu gegnerischen Äußerungen, den damaligen Stand der Debatte. »Die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie nach Freud«, heißt es hier, »gleicht in verschiedener Hinsicht dem allge­ 69

meinen positivistischen Trend unserer Zeit; sie eliminiert die Philoso­ phie. Oder vielleicht ließe sich angemessener formulieren, daß sie die Metaphysik eliminiert, Spekulationen eliminiert, die unüberprüft und in Übereinstimmung mit den anerkannten wissenschaftlichen Maß­ stäben unüberprüfbar sind. Abgesehen von ... bemerkenswerten Aus­ nahmen ... haben die orthodoxen ebenso wie die revisionistischen Schulen einen wagemutigen und erfolgreichen Kampf gegen die Freudsche Metapsychologie und Metabiologie geführt, gegen die verstörenden Hypothesen und >Übertreibungen < in Totem und Tabu, Jenseits des Lustprinzips und Der Mann M oses und die m onotheisti­ sche Religion. Mit dieser wissenschaftlichen Läuterung mag der Ver­ such unternommen worden sein, die Theorie den Erfordernissen von Therapie und Methode anzupassen, sie zeitigte aber eine noch ganz andere Wirkung. Die Hypothesen und Übertreibungen, die eliminiert werden, sind genau jene, die der reibungslosen Inkorporation der Psychoanalyse in das bestehende Kultursystem und deren reibungslo­ sem Funktionieren als einer sozial anerkannten Tätigkeit entgegen­ stehen. Nimmt man sie ernst, enthalten die metapyhsischen Vorstel­ lungen eine Gesellschaftskritik, die nicht nur mit den therapeutischen Zielen der Psychoanalyse, sondern auch mit dem Begriff der Psycho­ analyse selbst unvereinbar ist. Denn die zu heilende >Krankheitunteren< Triebe und Bedürfnisse beherrscht«408. An die Stelle der »onto-erotische[n] Metaphysik« tritt der Antagonismus von »Trieb und Ver­ nunft,... Sinnlichkeit und Intellekt«409. Marcuse kann nachweisen, daß sich in der Entwicklung der westlichen Ontologie die des Rea­ litätsprinzips spiegelt, das sich immer stärker in einer gesellschaftli­ chen Praxis durchsetzt, die beherrscht wird von der Rationalität der Unterdrückung und Arbeit. Wichtig an alldem ist für Marcuse: Freud selbst ist zu entnehmen, daß am Anfang der Kultur der Eros und nicht der Logos steht. Was in ferner Vergangenheit einmal möglich war, darin besteht die utopische Hoffnung Marcuses, ist durch das Wachs­ tum der Produktivkräfte erneut möglich geworden: »Je entwickelter, je differenzierter, je bewußter der Organismus ist, desto mehr trans­ zendieren die Triebe ihre unmittelbare Befriedigung ... >Ästhetik< ist die organische Basis der Kultur. Mit dem Fortschritt der organisch71

geschichtlichen Entwicklung tendiert sie zur intellektuellen Kultur: die Entfaltung der Sinnlichkeit hängt von der Entfaltung des Bewußt­ seins ab, ohne das die weitere Vermittlung mit der menschlichen und natürlichen Umwelt unmöglich ist; Rezeptivität verwandelt sich in Produktivität.«410 - Der Horizont einer libidinösen, Trieb und Ver­ nunft versöhnenden Kultur bleibt offen.

Anmerkungen 1 Marx, D as K a p ita l, Band I, Berlin 1955, S. 88. 2 Marx, »Mazzini und Napoleon«, in: MEW, Band 12, Berlin 1963, S. 420 (Artikel in der NezuYork D aily T ribüne, Nr. 5321 vom 11. Mai 1858). Unmittelbar freilich bezieht Marx sich auch hier auf die antike Agrarge­ schichte. 3 M EW , Band 3, Berlin 1962, S. 26. 4 Marx, D as K a p ita l, Band I, l.c., S. 389. 5 Ibid. - Marx setzt sich hier ab vom »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus« seiner Zeit, »der den g esch ich tlich en P rozeß ausschließt« (ibid.), das heißt die Abfolge ökonomischer Gesellschaftsformationen. Daß die streng materialistische Ableitung von Erscheinungen des Überbaus nach der im K ap ital postulierten Methode ebenso weitläufige wie schwieri­ ge Detailforschungen voraussetzt, versteht sich von selbst. Auf sie glaubten manche sozialdemokratische Autoren der Vorkriegszeit verzichten zu können. Engels klagt daher über »fatale Freunde« der materialistischen Geschichtsauffassung, »denen sie als Vorwand dient, Geschichte n icht zu studieren« (Brief an C. Schmidt vom 5. August 1890, in: Marx/Engels, A u s­ gew ählte B riefe, Berlin 1953, S. 500). - Die marxistische Literatur bietet nur wenige Beispiele gelungener Ableitungen von Kulturphänomenen aus sozialen Daseinsbedingungen. Am ehesten folgt Adorno, etwa in den M ini­ m a M oralia, dem Marxschen Postulat, »Ideologisches« aus »Materiellem« zu en tw ickeln , wenn er, auf warenanalytische Sachverhalte rekurrierend, nachweist, daß diese sich noch in zartesten Verästelungen des moralischen Bewußtseins durchsetzen. Allerdings verfährt Adorno hierbei mehr intuitiv als wirklich historisch. Dagegen bevorzugt er in seinen kunst- und litera72

tursoziologischen Studien die von Marx als »leichter« anwendbar betrach­ tete Methode, werk-immanent vorgehend, im Inneren der geistigen Gebil­ de gesellschaftliche Sedimente aufzuspüren. 6 Marx, D as K a p ita l, Band I, Le., S. 17f. 7 Engels’ Altersbriefe konzedieren denn auch, daß Marx und er selbst sich vielfach um die Art d es H ervorgangs der ideellen Sphären (und ihrer scheinbaren Autonomie) aus den Strukturen des gesellschaftlichen Seins ungenügend gekümmert hätten. »Wir alle«, schreibt Engels, »haben zunächst das Hauptgewicht auf die A bleitu n g der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen m üssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen«

(Brief an F. Mehring vom

14. Juli

1893, in:

Marx/Engels, A u sgew äh lte B riefe, l.c., S. 549); cf. hierzu auch ibid., S. 504 (Brief an J. Bloch vom 2 1./22. September 1890). 8 Cf. hierzu Kapitel 43 in Em st Blochs W erk D as M aterialism u sproblem , sein e G esch ich te und Substanz, Frankfurt am Main 1972, S. 377-438. 9 G. W. Plechanow, G ru n d p roblem e d es M arxism us, Berlin 1958, S. 55. Angeregt zur Aufnahme p sy ch olog isch er K ategorien in die materialistisch erklärte Kulturgeschichte wurde Plechanow durch eine bemerkenswerte Fundstelle im 18. B ru m aire (1852), die hervorhebt, daß auch kollektive Mentalitäten Erscheinungen des Überbaus sind. Hier heißt es: »Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingun­ gen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestal­ teter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen« (D er 18. B ru m aire d es L o u is B on ap arte. Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1965, S. 42). 10 Plechanow, G ru n dproblem e d es M arxism us, l.c., S. 85. - Plechanow illu­ striert seine These an der französischen Romantik: »Victor Hugo, Eugène Delacroix und Hector Berlioz wirkten auf drei ganz verschiedenen Kunst­ gebieten. Und alle drei standen einander ziemlich fe rn .... Und doch nennt man diese drei merkwürdigen Männer mit Recht die rom an tisch e D reiei­ nigkeit. In ihren Werken offenbarte sich eine und dieselbe Psychologie« (ibid.).

%

11 Ibid., S. 62. 12 Ibid., S. 84. « Ibid., S. 88. 73

14 Horkheimer, G esam m elte S chriften , Band 3, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 33. 15 Ibid., S. 37. iß Ibid. 17 Ibid., S. 57; cf. zur Rolle der Psychologie als Hilfswissenschaft materialisti­ scher Geschichtsforschung auch S. 59f. 18 Ibid , S. 57. 19 Ibid , S. 50. 20 Ibid , S. 58. 21 Ibid. 22

Ibid.

23 Georg Lukäcs’ Vortrag »Der Funktionswechsel des historischen Materialis­ mus«, gehalten im Juni 1919 anläßlich der Eröffnung des Forschungsinsti­ tuts für historischen Materialismus in Budapest, erörtert erstmals die quali­ tativ neue Rolle der Marxschen Geschichtsauffassung unter Bedingungen bewußt-planerischer Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In: G esch ich te und K lassen b ew u ß tsein , Berlin 1923, S. 229-260. 24 Horkheimer, G esam m elte S chriften, Band 3, L c, S. 58f. 25 Ibid , S. 59. 26 Ibid. 27 Ibid. 28 Ibid. 29 Ibid , cf. S. 60. 30 Ibid , S. 59. 31 Z eitschrift für Sozialforschung, hrsg. vom Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, Jahrgang I, Doppelheft 1/2, Leipzig 1932, S. 28. - Als Fromm seinen Aufsatz schrieb, war die Diskussion über den in Jen seits d es Lustprinzips (1920) von Freud in die psychoanalytische Theorie eingeführ­ ten »Todestrieb« noch in vollem Gange. Daher die von Fromm in dieser Frage geübte Zurückhaltung, die übrigens für die Freud-Rezeption des Frankfurter Instituts und insbesondere Marcuses charakteristisch geblie­ ben ist. Fromm hält Freuds »Modifikation seines ursprünglichen Stand­ punkts« für »bedeutsam«, gibt aber zu bedenken, daß die Annahme eines mit den »lebenserhaltenden (erotischen) Trieben« in ewigem Widerstreit befindlichen »Todestriebes« einen »bei weitem spekulativen und weniger empirischen Charakter« hat als die ursprüngliche Konzeption der Psycho­ analyse. Fromm resümiert seine Stellungnahme wie folgt: »Uns scheint eine Konsequenz der Gesamtauffassung von Freud zu sein, daß die 74

menschliche Seelentätigkeit sich in Anpassung an Lebensvorgänge und Lebensnotwendigkeiten entwickelt und daß die Triebe als solche gerade dem Todesprinzip entgegengesetzt sind« (ibid.). 32 Ibid. 33 Ibid., S. 34. 3* Ibid. 33 Ibid. 36 Ibid., cf. S. 40. 37 Ibid., S. 42. 3» Ibid., S. 43; 44. 39 M EW , Band 3, l.c., S. 26. 40 Ibid. S. 21. 41 Ibid. 42 Marcuses spezifische Freud-Rezeption, daran sei hier schon erinnert, hat, ungeachtet seiner späteren Distanzierung von Fromm, stets an dessen sozi­ alpsychologischer Ausgangsposition in der Z eitschrift für S ozialforschu n g festgehalten und dabei betont, es sei Fromms Verdienst, daß er die soziolo­ gischen Gehalte der Freudschen Theorie hervorgehoben habe. Cf. dazu Triebstruktur und G esellsch aft. Ein p h ilo so p h isch er B eitrag zu Sigm und Freud, deutsch von Marianne von Eckhardt Jaffe, Frankfurt am Main 171995, S. 237-240. 43 Fromm, »Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsycholo­ gie«, l.c., S. 44. 44 Marx, D as K apital, Band I, l.c., S. 185. 45 Fromm, l.c., S. 44. 46 Ibid., S. 44f. - Schon in der D eu tschen Id eo lo g ie halten Marx und Engels fest an der »Priorität der äußeren Natur« (MEW, Band 3, l.c., S. 44); diese setzt sich gegenüber jeder Form ihrer historisch-sozialen Vermitteltheit durch, die immer nur ihr Wahrnehmungsbild im jeweiligen Hier und Jetzt betreffen kann. 47 Fromm, l.c., S. 45. 48 Ibid. 49 Ibid. 50 Marcuses Spätwerk wird Fromms Eingliederung der Psyche und ihrer libidinösen Energie in den »Unterbau« der materialistischen Geschichtsauf­ fassung bewußt wieder aufnehmen und praktisch-politisch akzentuieren. Cf. dazu seinen Essay V ersuch ü ber d ie B efreiung, deutsch von Helmut Reinicke und Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1969, S. 16f.; 24ff. 75

51 Fromm, l.c., S. 45f. 52 Ibid., S. 46. 53 Marx, D as K a p ita l, Band I, l.c., S. 18. 54 Fromm, l.c., S. 46. - Fromm beruft sich hier auf Engels’ unter Fußnote 7 zitierten Brief vom 14. Juli 1893 an F. Mehring. 55 Fromm, l.c., S. 46. 56 Ibid. 57 Ibid. ss Ibid. 59

bid., S. 4 6 ,4 7 .

60 Marx, D as K a p ita l, Band I, l.c., S. 47. 61 Fromm, l.c., S. 49f. 62 Ibid., cf. S. 50. 63 Ibid., S. 53. 64 Ibid. 65 ibid.

66 Ibid. 67 Marcuses zeitgeschichtlich geprägtes Spätwerk wird, orientiert an Fromms ursprünglicher Konzeption von Sozialpsychologie, unter dem Titel »neue Sensibilität« die subversiven Aspekte einer libidinösen, in jähem Wandel begriffenen Struktur anschaulich darstellen. Cf. dazu seinen Essay Versuch ü ber d ie Befreiung, l.c., S. 43ff. 68 Fromm, l.c., S. 53. 69 Ibid.; cf. hierzu auch S. 28-31. 70 Ibid., S. 54. 71 Ibid. - Was die Letztinstanzlichkeit ökonomischer Determination betrifft, so bezieht Fromm sich hier auf Engels’ Brief an J. Bloch vom 21./22. Sep­ tember 1890, wo es heißt: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Pro­ duktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. ... Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus ... üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form (Marx/Engels, A u sge­ w äh lte B riefe, l.c., S. 502). 72 Fromm, l.c., S. 51. 73 Ibid , cf. S. 54. 74 Ibid. 75 Ibid , S. 29. 76

76 Ibid., S. 54. 77 Wenn Horkheimer und Adorno hier den ersten psychoanalytischen Auf­ satz der Z eitschrift für S ozialforsch u n g, nicht aber seinen Autor erwähnen, so wegen dessen späterem Abfall von Freudscher Orthodoxie. Fromms W echsel ins Lager des neofreudianischen Revisionismus ändert jedoch nichts daran, daß er, bis 1937, als Autor der Z eitschrift für S ozialforschu n g die psychoanalytische Komponente der Kritischen Theorie entscheidend beeinflußt und dabei Motive des Marcuseschen Spätwerks vorweggenom­ men hat. Zur wissenschaftstheoretischen Rolle der Frommschen Beiträge cf. den Essay des Verfassers »Die Z eitschrift für SozialforschungSelbstbewegung der Idee< die darunter verborgene w irkli­ c h e g esch ich tlich e B ew egu n g zu entdecken und diese revolutionäre geschichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrig bleibende >Absolute< zu proklamieren« (hrsg. von Erich Gerlach, Frankfurt/W ien 1966, S. 61). In G esch ich te un d K lassen bew u ß tsein schreibt Lukäcs, erst bei Marx habe die Dialektik zur »Methode der Geschichte« werden können: dadurch, daß sie, materialistisch gewendet, ans Proletariat überging, das heißt an eine Klasse, »die das ... Subjekt der Tathandlung, das >Wir< der Genesis von ihrem Lebensgrund aus in sich selbst zu entdecken fähig war. ... Die Geschichtserkenntnis des Proletariats setzt mit der Erkenntnis der Gegenwart, mit der Selbsterkenntnis der eigenen gesellschaftlichen Lage, mit dem Aufzeigen ihrer N otwendigkeit... ein« (Berlin 1923, S. 164; 175). 79

- Schließlich ist an Marcuses Abhandlung »Neue Quellen zur Grundle­ gung des Historischen Materialismus« (1932) zu erinnern, die Marxens Ö kon om isch -p h ilo so p h isch e M an u skripte von 1844 untersucht, deren Erstveröffentlichung insofern ein entscheidendes Ereignis in der Geschich­ te der Marx-Forschung bildete, als hier Licht fiel auf das Verhältnis der Marxschen Lehre zur Hegelschen Philosophie, insbesondere unter dem Aspekt des Arbeitsbegriffs der P h ä n o m en o lo g ie d es G eistes und der Pro­ blematik menschlicher Selbstentfremdung. 113 Marcuse, Schriften , Band 1, l.c., S. 348. 114 Ibid., S. 373; 374. 115 Ibid , S. 347. ns Ibid. 117 Heidegger, Sein un d Z eit, l.c , S. 45. 118 Ibid. - Da Marcuse Heideggers Unternehmen zu überbieten sucht, indem er (nur empirisch ermittelbare) Bestände ereign isgeschichtlicher Art in die »Geschichtlichkeit des Daseins« einführt und so deren begriffliches Gerip­ pe von innen her sprengt, kann er sich Heideggers »Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie« (ibid. cf. S. 45-50) nicht anschließen. Seine daseinsanalytischen Kategorien, die sol­ che des materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft ausdrücklich einbe­ ziehen, fallen entsprechend »anthropologisch« aus. Mit Marcuses späterer Freud-Rezeption treten psychologische und selbst biologische Kategorien hinzu. Es ist offenkundig, daß Marcuse mit der Aufnahme einzelwissen­ schaftlich gewonnener Befunde auf »reine« Philosophie verzichtet. Er hat zu dieser, wie alle authentischen Materialisten, ein eher gebrochenes Ver­ hältnis. 119 Ibid , S. 42. 120 Ibid , S. 382f. 121 Ibid , S. 383. 122 Marcuse, Schriften, Band 1, l.c , S. 365. 123 Ibid , S. 369. 124 Ibid. 125 Ibid. 126 Wenn Marcuse den »materialen Bestand« der Geschichtlichkeit als die »nicht nur ... faktisch, sondern auch ... strukturell letzte Bestimmtheit des Daseins« (ibid, S. 374) bezeichnet, so meldet er einen schwerwiegenden Vorbehalt an gegen die - letztlich idealistische - Grundthese von Sein und Z eit, daß alle inhaltliche Historie im transzendentalen Sinn in der Zeitlich80

keit, das heißt Endlichkeit des Menschen gründe. - Marx und Engels haben schon in der D eu tschen Id eo lo g ie die hegelianische Vorform des Gedankens kritisiert, materiale Geschichte sei aus einem ihr a priori vorge­ ordneten Prinzip abzuleiten. Unter idealistischen Prämissen, schreiben sie, ist es »natürlich, daß alle Verhältnisse der Menschen aus dem Begriff des Menschen, dem vorgestellten Menschen, dem W esen des Menschen, dem Menschen abgeleitet werden können. Dies hat die spekulative Philosophie getan« (MEW, Band 3, l.c., S. 48). 127 Marcuse, Schriften, Band 1, l.c., S. 369. 128 Marcuse, F eindanalysen . Über d ie D eu tschen , hrsg. von Peter-Erwin Jan­ sen mit einer Einleitung von Detlev Claussen, übersetzt von Michael Haupt, Lüneburg 1998, cf. S. 119. 129 Ibid., S. 121. !30 Ibid. Ibid. !32 Ibid. 133

Ibid.

134 Ibid. 135

Ibid., S. 122.

136 Ibid. 137 Ibid. 138 Paul A. Robinson datiert, ohne nähere Angaben, die Anfänge von Marcuses gründlicher Beschäftigung mit Freud auf die späten dreißiger Jahre. In einem 1965 mit dem Philosophen geführten Gespräch habe dieser erklärt, nach den Enttäuschungen durch den Spanischen Bürgerkrieg und die Moskauer Prozesse sei ihm die Notwendigkeit radikalerer kritischer Begriffe bewußt geworden. Der Marxismus, so gibt Robinson Marcuses damalige Ansicht wieder, hatte sich nicht als hinreichend revolutionär erwiesen. Künftige Sozialkritik hatte, unter Rückgriff auf Einsichten der Psychoanalyse, negativer und utopischer zu sein als der kodifizierte Mar­ xismus, dessen Lehren freilich - gerade in der totalitären Ära - gültig blie­ ben (The S exu al R ad icals. R eich. R öheim . M arcuse, London 1970, cf. S. 136). i39Bernard Görlich/Alfred Lorenzer/Alfred Schmidt, D er S tach el Freud. B eiträge und D oku m en te zur K ulturism us-K ritik, hrsg. von Bernard Görlich, l.c., S. 142. 14 0

Ibid.

i*i Ibid. 81

142 Freud, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanaly­ se«, in: G esam m elte W erke, Band XV, l.c., S. 171. 143 Horkheimer, »Em st Simmel und die Freudsche Philosophie«, l.c., S. 139. 144 Ibid., S. 140. i « Ibid. Ibid. 147 Ibid., S. 141. 148 Ibid , S. 144. 149 Ibid , S. 141. 150 Ibid. Ibid , S. 142. 152 Ibid. 153 Ibid. 154 Ibid , S. 144. 155 Ibid. i5® Robinson, The Sexu al R ad icals. R eich. R öheim . M arcuse, l.c , cf. S. 148. Die erste Publikation des in Eros a n d C ivilization aufgenommenen »Epi­ logs« erfolgte in der Zeitschrift D issent, II, 3 (Summer 1955), unter dem Titel »The Social Implications of Freudian >Revisionismkulturelle< Sexualmoral und die moderne Nervosität«, in: G esam m elte W erke, Band V II, London 1941, S. 149.

213 Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: G esa m m elte W erke, Band XIV, l.c , S. 455. - Freuds Schrift rechnet mit einer »primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander«, durch die »die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht ist«. »Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht Zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünf­ tige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten« (ibid, S. 471). 214 Ibid , S. 442. 215 Ibid , S. 455. 216 Ibid , S. 456. 217 Marcuse, Triebstruktur und G esellsch a ft, l.c , S. 13. 218 Ibid , S. 19. 219 Ibid , S. 21. 220 ibid. - Marcuse rekurriert hier auf ein Motiv der D ia lek tik d er A ufklärung, das sich auf die Freudsche Kulturbetrachtung bezieht. »Unter der bekann­ ten Geschichte Europas«, schreiben Horkheimer und Adorno, »läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. Von der faschistischen Gegenwart aus, in der das Verborgene ans Licht tritt, erscheint auch die manifeste Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite« (Frankfurt am Main 21969, S. 246).

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221 Horkheimer, G esam m elte S chriften , Band 6: >Zur K ritik d er instrum entei­ len Vernunft< und >Notizen 1949-1969neuen Anthropologien, M ünchen/Zürich 1988, S. 30-71. 303 MEW, EB, Erster Band, l.c , S. 583. 88

304 Ibid., S. 538; cf. hierzu auch S. 536. 305 Marx, D as K a p ita l, Band III, Berlin 1953, cf. S. 873f. 306 Marcuse, Versuch ü ber d ie B efreiu n g, l.c., S. 39. 307 Ibid., S. 133; S. 134. 308 Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: G esa m m elte W erke, Band XIV, l.c., S. 506. 309 »Es scheint mir unzweifelhaft«, erklärt Freud, »daß eine reale Verände­ rung in den Beziehungen der Menschen zum Besitz ... mehr Abhilfe brin­ gen wird als jedes ethische Gebot; doch wird diese Einsicht bei den Soziali­ sten durch ein neuerliches idealistisches Verkennen der menschlichen Natur getrübt und für die Ausführung entwertet« (ibid., S. 504). 310 Marcuse, Triebstruktur u n d G esellsch a ft, l.c., S. 146f. 311 Ibid., S. 220. 312 Ibid., S. 227. 313 Ibid , S. 227f. 314 Ibid , S. 228. Ibid. 318 Ibid. 317 Ibid. Ibid. 319 Marcuse spielt hier an auf die Hegels Schrift beschließende Stufe des »absoluten Wissens«. Hier heißt es: »Indem seine [des Geistes] Vollen­ dung darin besteht, das was er ist, seine Substanz, vollkommen zu w issen , so ist dies Wissen sein In sich g eh en , in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewußtseins versunken, sein verschwundnes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobne Dasein, - das vorige, aber aus dem Wissen neugeborne, - i s t ... eine neue W elt und Geistesgestalt. In ihr hat er ... von vom bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen .., als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre, und er aus der Erfahrung der frühem Geister nichts gelernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbe­ wahrt und ist das Innre und die in der Tat höhere Form der Substanz« (P h ä n o m en o lo g ie d es G eistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 563f.). 329 Ibid , S. 564. 321 Marcuse, Triebstruktur u nd G esellsch a ft, l.c , S. 21. 322 Ibid , S. 229. 323 Ibid. 89

324 Ibid. 325

Ibid., S. 231.

326 Ibid. 327 Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, in: G esa m m elte W erke, Band X III, l.c., S. 68. 328 Marcuse, Triebstruktur und G esellsch aft, l.c., S. 231. 329 ibid. 330 iibd. 331

Ibid., S. 232.

332

Ibid.

333 Ibid. 334 Ibid. 335 Ibid. 336 Ibid., S. 232f. Ibid., S. 233. Ibid.

337 338

339 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, hier: S. 102. 340 ibid., S. 102. 341 Ibid , S. 103. Ibid.

342

343 Ibid. 344 Ibid. 345 Ibid. 346 Schopenhauers Philosophie kann geradezu als Paradigma für diese tradi­ tionelle Auffassung gelten, von der sich Marcuse mit aller Entschiedenheit lossagt. »Der Tod«, heißt es im Zweiten Band der W elt a ls W ille un d Vor­ stellung, »ist der eigentliche inspirierende Genius, oder der Musaget der Philosophie«. Anderswo erklärt Schopenhauer: »Der Tod ist das Ergebniß, ist das R esu m e des Lebens, oder die zusammengezogene Summe, w elch e... mit Einem Male ausspricht,... daß das ganze Streben, dessen Erscheinung das Leben ist, ein vergebliches, eiteles, sich widersprechendes w ar «(Säm t­ lich e W erke, Band 3, hrsg. von Arthur Hübscher, Wiesbaden 1949, S. 528; 732). Leiden ist Schopenhauer zufolge die »wahre Bestimmung« (ibid, S. 731) des menschlichen Daseins, Tod der »eigentliche Zweck« (ibid. S. 732) des Lebens. Das vielerörterte Kapitel 17 leitet das m etap h y sisch e B edü rfn is des Menschen aus der »Endlichkeit alles Daseyns« und der »Vergeblich­ keit alles Strebens« ab. Mit der Besinnung darauf »entsteht das dem Men­ schen allein eigene B edü rfn iß ein er M etap h y sik: er ist sonach ein an im a l 90

m etap h y sicu m « (ibid., S. 176). - Hierzu findet sich bei Freud, auch in die­ ser Frage Marcuses Gewährsmann, folgende Kritik: »Die Philosophen haben behauptet, daß intellektuelle Rätsel, welches das Bild des Todes dem Urmenschen aufgab, habe sein Nachdenken erzwungen und sei der Aus­ gang jeder Spekulation geworden. Ich glaube, die Philosophen denken da

zu - philosophisch, nehmen zu wenig Rücksicht auf die primär wirksamen Motive. Ich möchte darum die obige Behauptung einschränken und korri­ gieren: an der Leiche des erschlagenen Feindes wird der Urmensch trium­ phiert haben, ohne ... sich den Kopf über die Rätsel des Lebens und Todes zu zerbrechen. Nicht das intellektuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Gefühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch auch fremder und gehaßter Personen hat die Forschung der Menschen entbun­ den. Aus diesem Gefühlskonflikt wurde zunächst die Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr von sich ferne halten, da er ihn in dem Schmerz um den Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte. An der Leiche der geliebten Person ersann er die Geister, und sein Schuldbewußt­ sein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen man sich ängstigen mußte. Die Veränderungen des Todes legten ihm die Zerlegung des Individuums in einem Leib und in eine - ursprünglich mehrere - See­ len nahe... Die fortdauernde Erinnerung an den Verstorbenen wurde die Grundlage der Annahme anderer Existenzformen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode« (»Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: G esam m elte W erke, Band X, London 1946, S. 347f.). 347 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, hier: S. 103. 348 Ibid., S. 104. 349 Ibid. 339 Ibid., S. 105. Ibid. 352 ibid. 333 Ibid., S. 106. 334 Ibid. 333 Ibid. 336 Hegel, Ä sthetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Band 1, Berlin und Weimar 1976, S. 504. 337 Ibid.

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358 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, S. 107. - Marcuse bezieht sich hier auf die einschlägigen Paragraphen 46-53 in Sein und Z eit, die den Tod als »ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins« (l.c., S. 234) erörtern. Heideggers Methode ist auch in dieser Frage auf tran szen den tale R ein heit bedacht. Die allem Ontischen vorgeordnete »Ontologie des Daseins«, damit des Todes, geht aller »Biologie und Ontologie des Lebens« voraus und »fundiert alle biographisch-historische und ethnologisch-psy­ chologische Untersuchung des Todes« (Ibid., S. 247). - Eine instruktive Parallele zu Marcuses Kritik der Heideggerschen Ontologisierung der Pro­ blematik des Todes liefert Adornos N egative D ia lek tik . »Theoretisch zu widerrufen«, heißt es hier, »wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt« (Frankfurt am Main 1966, S. 357). Der Verlauf des Lebens der meisten Menschen, betont Adorno, ist so wenig durchsichtig und rational, daß er keineswegs durch den Tod zu einer »Ganzheit des Daseins« (ibid., S. 360) abgerundet werden kann. 359 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, S. 107. 560

ibid.

361 Ibid , S. 107f. 362 Ibid , S. 108. 383 Ibid. 364 Ibid. 365 Ibid. 366 ibid. 367 Ibid , S. 108f. 368 Ibid , S. 109. - Daß die platonische, die Sinnlichkeit abwertende Ideenleh­ re der Christologie vorgearbeitet hat, steht außer Frage. Während zur Zeit Homers, woran Freud erinnert, nachtodliche Existenzen sich »schatten­ haft, inhaltsleer und ... geringgeschätzt« darstellen, gewinnt das Motiv der Unsterblichkeit der Seele später erhebliche Bedeutung. Die Religionen, erklärt Freud, »brachten e s ... zustande, diese Nachexistenz für die wertvol­ lere, vollgültige auszugeben und das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herabzudrücken« (»Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, l.c , S. 348). 369 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, l.c , S. 109. 370 Ibid. 371 Ibid. 92

372 Ibid. 373 Ibid. 374 Ibid. 375 Ibid., S. 110. 376 Ibid. 377 Ibid. 37« Ibid. 379 Marcuse, Triebstruktur und G esellsch a ft, l.c., cf. S. 219-233. 380 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, S. 111. 381 Ibid. 382 Ibid. 383 Ibid. 384 Ibid. 385 Ibid. 386 Ibid. 387 Ibid. 388 Ibid , S. 112. 389 Ibid. 399 Ibid. 391 Ibid. 392 Ibid. 393 Ibid. 394 Ibid. 393 Ibid , S. 113. 396 Ibid. 397 Ibid. 398 Ibid. - Marcuse paraphrasiert hier - aus freudianischer Sicht - Hegels geschichtsphilosophische Lehre vom »sittlichen Ganzen«, die Hegel wie folgt skizziert: »Im Gange der Geschichte ist das ... wesentliche Moment die Erhaltung eines Volkes, Staates, und die Erhaltung der geordneten Sphären des Lebens. Und das ist die Tätigkeit der Individuen, daß sie an dem gemeinsamen Werke Teil nehmen, und es in seinen besonderen Arten hervorzubringen helfen; das ist die Erhaltung des sittlichen Lebens« (Hegel, P h ilo so p h ie d er W eltg esch ich te, hrsg. von Georg Lasson, Band I, Leipzig 1944, S. 74). 399 Hegel, e .c , S. 83. 400 Marcuse, »Die Ideologie des Todes«, S. 113. - Marcuse bezieht sich hier auf Hegel, l.c , S. 58. 93

«O1 Hegel, Le., S. 58. 402 Marcuse, »Theorie und Therapie bei Freud«, hier: S. 116. 43 Ibid., S. 118. 404 Marcuse, »Political Préfacé«, hier: S. 184. 405 Ibid , S. 185. 46 Ibid. 407 Schopenhauer, D ie W elt als W ille und Vorstellung, Erstes Buch, hrsg. von Arthur Hübscher, in: S äm tlich e W erke, Band 2, Wiesbaden 1949, S. 389. 408 Marcuse, »Political Préfacé«, hier: S. 185. 409 Ibid. 410 Ibid., S. 186f.

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Marcuses Personalausweis, ausgestellt am 24. Juli 1931 in Freiburg. Marcuse Archiv, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

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