Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen 392424586X

Herbert Marcuse hatte sich schon früh in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und gegen den US-Krieg in Vietnam engag

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German Pages 253 [255] Year 2004

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung. »Die Revolte der Lebenstriebe«. Marcuse als Mentor gegenkultureller Bewegungen (Wolfgang Kraushaar)
Abbildungen
Kuba
Rede vom 3. Mai 1961 auf der Kuba-Protestversammlung an der Brandeis University
Das Begräbnis der Demokratie
Vietnam
Erklärung zu Vietnam und der Dominikanischen Republik
Die innere Logik der amerikanischen Politik in Vietnam
Analyse eines Exempels
Der Studentenprotest ist gewaltlos
Rede auf einem Teach-In an der University of California in San Diego am 6. Januar 1973
1968 und die Studentenbewegung
Die Pariser Revolte im Mai 68
Die Unterschiede zwischen alter und neuer Linker
Die Bewegung in einer neuen Arader Repression. Eine Bestandsaufnahme
Die 68er-Bewegung zehn Jahre danach
Israel
Israel — Palästina. Bemerkungen zur Krise im Jahr 1970
Israel ist stark genug für Zugeständnisse
Gedanken über Judentum und Israel
Angela Davis
Rede auf einer Protestveranstaltung für Angela Davis
Offener Brief an Angela Davis. Brief an Franklin Alexander vom 10. Januar 1971
Brief an Neues Forum
Angela Davis war meine beste Studentin
Brief vom 24. Oktober 1972
Briefwechsel mit Rudi Dutschke
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Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen
 392424586X

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Herbert Marcuse Nachgelassene Schriften

Herbert Marcuse Nachgelassene Schriften Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen H erausgegeben und m it einem V orw ort von Peter-Erwin Jansen Einleitung von W o lfg an g Kraushaar Aus dem A m erikanischen von Thom as Laugstien

Erste Auflage © 2004 zu Klampen Verlag Röse 21 •D-31832 Springe e-mail: [email protected] www.zuklampen.de Satz:

thielenvERLA G SBüR O , H a n n o v e r

Druck: Clausen & Bosse, Leck Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten; Hamburg © Titelfoto: Isolde Ohlbaum Der Verlag dankt Gretchen Dutschke-Klotz für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Briefe Rudi Dutschkes. © für die Dutschke-Briefe: Gretchen Dutschke-Klotz ISBN 3-924245-86-X Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Inhalt

V o rw o rt von Peter-Erwin Jansen

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Einleitung. »Die Revolte d e r Lebenstriebe« M arcu se als M entor geg en ku ltu reller B ew egun gen von W olfgang Kraushaar

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A bb ild u n g en

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KUBA

31

R ede vo m 3. Mai 1961 auf d e r K u b a-P ro test­ versam m lu n g an d e r Brandeis U niversity

34

Das B egräbnis d e r D em o k ra tie

39

V IE TN A M

43

E rklärung zu V ietn am und d e r D om inikanischen R epublik

44

Die innere Logik d e r am erikanischen Politik in V ietn am

48

A nalyse ein es E xem pels

53

D e r S tu d en ten p ro test ist gew altlos

75

R ede auf ein em T each-In an d e r University of California in San D iego am 6. Januar 1 9 7 3

77

1968

U N D D IE S T U D E N T E N B E W E G U N G

Die P ariser Revolte im Mai 6 8

83 84

D ie U n tersch iede zw ischen alter und n eu er Linker

103

Die B ew eg u n g in ein er neuen Ära d e r R epression Eine B estan dsaufnahm e

112

Die 6 8 e r-B e w e g u n g zeh n Jahre danach

130

ISRAEL

141

Israel - Palästina. B em erku n g en zu r Krise im Jahr 1 9 7 0

142

Israel ist stark genug für Z u g estän d n isse

146

G ed an ken über Juden tum und Israel

152

ANGELA

1 57

DAVIS

R ede auf ein er P rotestveranstaltung für Angela Davis

158

O ffen er Brief an Angela Davis - Brief an Franklin A lexan d er vom 10. Januar 1971

165

Brief an N eues Forum

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Angela Davis w a r m eine beste S tudentin

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Brief vom 2 4. O kto b er 1 9 7 2

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B R IE F W E C H S E L MIT RUDI D U T S C H K E

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Vorw ort

Politische Akteure neigen im Rückblick gelegentlich dazu, ihre eigene Wirkung zu übertreiben. Die politischen Gegner hingegen verzerren diese Wirkung ger­ ne oder streuen bewußte Lügen. So gehen heute die Ansichten über den Ein­ fluß der Studentenbewegung von 1968 auf die gesellschaftliche Entwicklung weit auseinander. Aus den Schriften der kritischen Theoretiker - speziell aus denen Herbert Marcuses, dem angeblichen »Guru« der Bewegung - wurden von den einen die Morde der Rote Armee Fraktion während der siebziger Jahre abgeleitet, als sei diese Gestalt der Gesellschaftskritik eine Einstiegsdroge in den militanten Kampf gewesen. Von anderen wieder wurde in den Arbeiten der Kritischen Theoretiker ein bundesrepublikanischer Gründungsmythos lokalisiert - als gehörten die Gesellschaftsanalyen von Adorno, Horkheimer, Marcuse oder Löwenthal bereits zur unseligen deutschen »Leitkultur«.1 Besonders in den Debatten um die angeblich »militante« Vergangenheit des deutschen Außenministers Fischer erregten sich die Gemüter über die gealterten Bösewichte früherer Jahre. Hier eine Entschuldigung, da eine Rich­ tigstellung. Trotz aller vorsichtigen Distanz: dabeigewesen sein wollen auch heute noch alle. Es scheint sich da gleichsam ein olympischer Geist< der 68er-Generation auszudrücken, egal, ob man nun mittendrin, ganz am Rand oder auf der »falschen« Seite stand. Häuserwände wurden in den sechziger Jahren mit Zitaten aus den Werken von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse oder Walter Benja­ min besprüht. Aus kritischen Gedanken wurden plakative Parolen, festgehalten auf bunten Postkarten. In einer »Tatort«-Folge diente das Adorno-Zitat »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« als Lebensweisheit einer jungen Frau, die sich nach dem Tod sehnte. Die »Große Weigerung« (Marcuse) half einer Diät­ produktkette als Ideengeber zum Kaloriensparen. Ernst Blochs »Prinzip Hoff­ nung« und der Begriff der »konkreten Utopie« (Marcuse/Bloch) stehen in der 7

PR-Branche als Mehrfachverwender ganz oben. Politiker verwenden sie, um sich mit wenigen Worten den Anschein zu geben, sie hätten viel gesagt. Die Reduktion von Gedanken der Kritischen Theorie auf Schlagzeilenniveau ist in Mode. Was aber ist dran an der Behauptung, die Studentenbewegung sei durch die Kritische Theorie geprägt und die bundesrepublikanische Wirklichkeit wiede­ rum durch sie verändert worden? Sicherlich hat die Gesellschaftskritik der Kri­ tischen Theorie Teile der Studentenbewegung beeinflusst. Aber sie hatte gewiß keinen Einfluß auf die gesamte Studentenbewegung und schon gar keinen ausschließlichen. Die 68er-Bewegung war Ergebnis von vielen zeitgeschicht­ lichen Einflüssen über einen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren: In der Bundesrepublik wird man sich in der Diskussion über den Grad der Verstrickung der Kriegsgeneration in das nationalsozialistische System anläss­ lich des Eichmann-Prozesses in Israel der »Banalität des Bösen« bewußt. Zwei Jahre später, 1963, beginnt in Frankfurt der Prozeß gegen Wärter des Vernich­ tungslagers Auschwitz. Es zeigt sich, dass selbst die systematische Vernich­ tung von Millionen von Menschen in eine Alltagsnormalität eingebunden wer­ den konnte. Fast zeitgleich wird die NPD gegründet, die dann 1966 in Hessen und in Bayern in die Landtage einzieht. Die SPD schließt 1961 Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus der Partei aus. Der SDS veröffentlicht 1962 die Denkschrift »Hochschule und Demokratie«, die eine demokratische Entwicklung an den Hochschulen fordert und zu zahlrei­ chen Gegenseminaren an den Universitäten führt. 1968 werden die Notstands­ gesetze verabschiedet. Gegen die Notstandsgesetze protestieren im Mai über 70.000 Menschen. Die Antivietnamkriegsbewegung schwappt aus den USA nach Europa. Zahlreiche Veranstaltungen gegen den Krieg finden statt, so auch 1966 und 1967 in Berlin. Hauptredner ist neben Herbert Marcuse Rudi Dutschke, der bald darauf von der Springerpresse als gefährlicher Agitator gebrand­ markt wird. Die Ostermarschbewegung mobilisiert 1967 150.000 Menschen, die gegen Atomwaffen und für Frieden in Vietnam demonstrieren. In Ländern der sogenannten Dritten Welt entstehen zahlreiche nationale Befreiungsbewe­ gungen. Ihre revolutionären Köpfe wie Che Guevara, Fidel Castro oder Ho Chi Minh werden in Europa wie Helden gefeiert. In Brasilien, Argentinien, Mexiko, Polen, Italien, Frankreich und zahlreichen anderen Ländern gehen die Men­ schen auf die Straßen und protestieren gegen die herrschenden gesellschaft­ lichen Verhältnisse. Im März 1968 wird Daniel Cohn Bendit als Rädelsführer der Bewegung in Frankreich verhaftet. Seine Inhaftierung und die Abschiebung nach Deutschland führt zu weiteren Protesten. In den westlichen Industrielän-

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dem werden Fabriken besetzt und alternative Arbeitszusammenhänge aufzu­ bauen versucht. Es kommt zu Massenstreiks. In Frankreich mobilisiert am 24. Mai 1968 ein Warnstreik über 10 Millionen Menschen. In Prag marschieren im 21. August die russischen Panzer ein und zerstören die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus. Rockmusik mobilisiert Abertausende von jungen Menschen gegen den verstaubten Musikkitsch der Elterngeneration. Die Flower-Power- und die Hippie-Bewegung propagieren das Ziel sexueller Befrei­ ung und ziehen in den Schlafzimmern der angeblich prüden Nachkriegsgene­ ration die Bettdecke weg. Äußerst wichtig war in diesem Zusammenhang die Bürgerrechtsbewe­ gung in den USA. Ihr galt Herbert Marcuses frühes aktives politisches Engage­ ment ganz besonders. Die politische Praxis der Bürgerrechtsbewegung hat Marcuse zu zahlreichen theoretischen Überlegungen veranlasst, beispielswei­ se zum Begriff des »Widerstandsrechts« und der »repressiven Toleranz«. Als am 11. April 1968 der bedeutende amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet wird, setzt die amerikanische Regierung die Nationalgarde ein, um die nach dem Mord einsetzenden Unruhen einzudämmen. Sechsundvier­ zig Menschen sterben, 2.100 werden verletzt und 21.000 verhaftet. Am selben Tag feuert Josef Bachmann auf Rudi Dutschke mehrere Schüsse ab und ver­ letzt ihn lebensgefährlich. Die bekannteste Studentin Marcuses, die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis, wird vom FBI verhaftet und wegen Landesver­ rats angeklagt. Der zu dieser Zeit in San Diego lehrende Marcuse engagiert sie daraufhin als Assistentin. Er selbst erhält Hunderte von Drohbriefen, darunter eine ernstzunehmende Morddrohung des KuKuxKlan. Er verlässt San Diego und wird von Leo Löwenthal in dessen Wochenendhaus in Carmel Valley ver­ steckt. Für diejenigen, die sich nicht nur dem politischen Aktivismus hingaben, son­ dern ihr eigenes Tun dabei auch noch kritisch reflektierten, waren die Analysen der kritischen Theoretiker - und nicht zu vergessen Walter Benjamins - eine Fundgrube für die Analyse der Hintergründe und Ursachen der Ereignisse, für die Krisen und Brüche der angefeindeten Gesellschaft. Insofern hat die Kriti­ sche Theorie sicher einige der Protagonisten der sechziger Bewegung beein­ flusst und Spuren in der politischen Praxis der Akteure und in ihrem Denken hin­ terlassen, vielleicht sogar in der bundesrepublikanischen Entwicklung. Dabei stand Herbert Marcuse während der 68er-Revolte stärker im Ram­ penlicht als andere Vertreter der Kritischen Theorie, was allerdings nur teilwei­ se sein eigenes Verdienst war. Er sah sich nie als »Sprecher«, »geistiger Vater« oder »Guru« der Bewegung. Dafür sorgten die Medien und die Berufsdenun-

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zianten. Rechtskonservative Politiker und Medien bezeichneten ihn in der Hochphase der Studentenbewegung als einen der drei gefährlichen »M« (Marx, Mao, Marcuse) und denunzierten seine Emanzipationstheorie als wirkungsvol­ les Mittel, »unser Staatswesen zu zerstören«. Kurze Zeit später schlugen die Glocken der Parteimarxisten Alarm: Marcuse sei ein CIA-Spitzel. Seine Verab­ schiedung des Proletariats als revolutionärer Klasse sei nicht nur eine marxisti­ sche Fehldeutung und seine Kritik an der sowjetischen Gesellschaft resultiere nicht aus ernsthaften theoretischen Überlegungen, sondern stünden eigentlich im Dienste des kapitalistischen Feindes und der bürgerlichen Gesellschaft. Kein Wort wurde zu den wahren Hintergründen seiner Arbeit beim Office of Strategie Services verloren. Marcuse hatte sich während des Zweiten Weltkrie­ ges in dieser amerikanischen Forschungseinrichtung engagiert, um seinen Bei­ trag zum Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland zu leisten. Weil Marcuse die Veränderungen und Fehlentwicklungen der Protestbewegung mit solidarischer Kritik begleitete und sich aktiv an Teach-Ins, Diskussionen und aktuellen Auseinandersetzungen beteiligte, wurde er doch auch zu Recht als Ideengeber der Studentenbewegung gesehen. Dieses Engagement bescherte ihm nicht nur offene Feindseligkeit von Sei­ ten der politischen Gegner, sondern auch inhaltlichen Streit mit alten Freunden wie Adorno und Horkheimer. Das zeigt sich besonders in deren Briefwechsel aus den späten sechziger Jahren.2 Der Konflikt verschärfte sich, als die ge­ schäftsführenden Direktoren des Instituts für Sozialforschung Ludwig v. Friede­ burg und Theodor W. Adorno das im Januar 1969 von Studenten besetzte Gebäude von der Polizei räumen ließen. Marcuse sollte 1969 auf Einladung des Instituts in Frankfurt sprechen. Aufgrund der Ereignisse waren v. Friedeburg und Adorno aber der Meinung, dass eine öffentliche Diskussion Marcuses mit den streikenden Studenten nicht empfehlenswert sei. Marcuse schrieb am 5. April 1969 an Adorno: »Ich glaube, daß, wenn ich die Instituts-Einladung annehme, ohne auch mit den Studenten zu sprechen, ich mich mit einer Position identifi­ ziere (oder identifiziert werde), die ich politisch nicht teile.« Marcuse befürchte­ te, dass er bei einer reinen Institutsveranstaltung als jemand wahrgenommen würde, der ebenfalls hinter der polizeilichen Räumung des Instituts stünde. Das widerstrebte ihm. Er schreibt weiter: »Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflusst sind - ich bin darüber froh und bin gewillt, mich mit dem Vater­ mord abzufinden, obwohl es manchmal weht t u t ... Ich diskutiere mit den Stu­ denten, ich beschimpfe sie, wenn sie nach meiner Ansicht stupide sind und den Anderen in die Hände spielen, aber ich würde wahrscheinlich nicht die schlech­ teren, scheußlicheren Waffen gegen ihre schlechten zu Hilfe rufen. Und ich

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würde an mir (an uns) verzweifeln, wenn ich (wir) auf der Seite einer Welt erscheinen würden, die den Massenmord in Vietnam unterstützt oder zu ihm schweigt, und die alle Bereiche außer dem Bereich ihrer eigenen unterdrücken­ den Macht zur Hölle verwandelt.« Adorno antwortete Marcuse mit Brief vom 5. Mai 1969: »Der Fall der Institutsbesetzung erlaubte kein anderes Verhalten als das unsere. Da das Institut eine selbständige Stiftung ist und nicht unterm Schutz der Universität steht, wäre die Verantwortung für alles, was hier ange­ richtet worden wäre, auf Friedeburg und mich gefallen. Die Studenten hatten die Absicht, anstelle des Seminars das Institut »modifiziert zu besetzen«, wie sie es damals nannten; was weiter geschehen wäre, mit Schmierereien und über­ haupt, kann man sich vorstellen , «. Ablehnend stand Adorno jeder öffentli­ chen Diskussion mit den streikenden Studenten gegenüber: »Also um auf die Frage unmissverständlich zu antworten: wenn Du nach Frankfurt kommst, um mit den Studenten zu diskutieren, die sich mir, uns allen gegenüber als berech­ nend Regredierende erweisen, dann musst Du das auf eigene Kappe tun, nicht unter unserer Ägis. Die Entscheidung, ob Du das willst oder nicht, kann ich Dir nicht abnehmen.« Mittlerweile hatte sich Max Horkheimer in einem Spiegel-Interview öffent­ lich zu Marcuses Verhältnis zur Protestbewegung und zu seiner scharfen Kritik an der amerikanischen Vietnampolitik geäußert. Horkheimer warf Marcuse vor, er schüre antiamerikanische Ressentiments. Darauf reagierte Marcuse im Brief vom 21. Juli 1969. »Ich sehe zufällig im Spiegel, dass auch Max sich dem Cho­ rus meiner Angreifer zugesellt hat. Ich habe es peinlichst vermieden, unsere Differenzen in die Öffentlichkeit zu tragen. Jetzt muss ich öffentlich antworten.3 Dass Max in seinem Angriff das Privateigentum an Ideen reklamiert, die in gemeinsamer Diskussion erarbeitet wurden, scheint mir nur merkwürdig; dass diese Gedanken bei mir »gröber und simpler< geworden sind, akzeptiere ich gerne. Ich glaube, daß diese Vergröberung und Simplifizierung die kaum noch erkennbare radikale Substanz dieser Gedanken wieder sichtbar gemacht haben ... Und muss man diese Bewegung von vorneherein als »ohnmächtige Gewalt« denunzieren - wo es doch zunächst einmal mehr als fragwürdig ist, ob man hier überhaupt mit gutem Gewissen von Gewalt sprechen kann - vergli­ chen mit der, über die die Herrschenden verfügen? Was kommt den Gegnern mehr »gelegen«: die autoritative Versicherung der Ohnmacht dieser Bewegung oder die Stärkung der Bewegung? Die Studenten wissen sehr gut von den objektiven Schranken ihres Protests - sie brauchen uns nicht, um sie ihnen klar zu machen, aber vielleicht brauchen sie uns, um ihnen über diese Schranken hinwegzuhelfen. Die Gewalt, die »practicioners of violence« sind auf der ande­ ren Seite, im Lager des Gegners, und wir sollten uns hüten, seine Kategorien 11

zu übernehmen und mit ihnen die Protestbewegung treffen. Und die Diktatur nach dem Umsturz? Wir sollten die theoretische Courage haben, die Gewalt der Befreiung nicht mit der Gewalt der Unterdrückung unter der allgemeinen Kate­ gorie der Diktatur zu identifizieren. Scheußlich als es ist: der Vietnamesische Bauer, der den Landlord erschießt, der ihn Jahrzehnte lang gefoltert und aus­ gebeutet hat, tut nicht dasselbe wie der Landlord, der den rebellierenden Skla­ ven erschießt«. Marcuse unterstellte der Haltung des Instituts »eine kritiklose Identifizierung mit der amerikanischen Politik« und eine Art Anpassungsmenta­ lität an das »kleinere Übel«. Der Streit war in der Öffentlichkeit und wurde als endgültiges und persön­ liches Zerwürfnis stilisiert. Letzterem widersprach Marcuse entschieden in einem Fernsehinterview, das er aus Anlass von Adornos Tod am 6. August 1969 gab und das am 24. August 1969 ausgestrahlt wurde. »Diese Differenenzen und das muß von vornherein gesagt werden - entstanden auf dem Grunde einer Gemeinsamkeit und einer Solidarität, die durch sie in keiner Weise geschwächt worden sind«.4 In den Jahren darauf zeichnete Marcuse den politischen Zustand und die Entwicklung der antiautoritären Revolte sowie der späteren Feminismus- und Ökologiebewegung in zahlreichen Essays und Interviews minutiös nach. Die meisten Titel seiner Aufsätze von 1965 bis 1979 bringen die Veränderungen, Auswirkungen und Schwächen der Studentenbewegung auf den Punkt. Die hier publizierten Texte von Herbert Marcuse stehen alle im Zusammenhang mit den politischen Konflikten, auf die die Protestbewegungen der sechziger und frühen siebziger Jahre reagierte. Sie sind größtenteils Erstveröffentlichun­ gen. Die übrigen Arbeiten sind - bis auf drei Ausnahmen - noch nicht in deut­ scher Sprache erschienen. Die hier vorliegende Sammlung von Texten beginnt mit der Kuba-Krise, die mit der gescheiterten Invasion von 1.500 Exil-Kubanern und mit Unterstützung der CIA im April 1961 ihren dramatischen Anfang nahm. Die amerikanische Reaktion darauf entfachte kontroverse Diskussionen an den amerikanischen Universitäten und Proteste gegen die amerikanische Politik. Auch Marcuse, der zu dieser Zeit noch in Brandeis lehrte, beteiligte sich daran. Als er 1965 dem Ruf an die Universität von Kalifornien in San Diego folgte, war der Protest gegen den Krieg in Vietnam bereits auf seinem Höhepunkt angelangt. In zahlreichen Publikationen, Vorträgen und auf Diskussionsveranstaltungen äußerte er sich dazu. So auch auf dem SDS-Kongreß am 22. Mai 1966 in Frankfurt. Marcuse hielt das Eröffnungsreferat Vietnam - Analyse eines Exempels. Der Beitrag erschien bald darauf in einer kleinen Broschüre in deutscher Sprache.5 Er wird 12

wegen seiner Bedeutung für Marcuses kritische Haltung gegenüber dem Krieg in Vietnam hier nochmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Mai 1968 hielt sich Marcuse in Paris auf und wurde Augenzeuge des »Pariser Mai«. Über die »Revolte in Paris« gab er mehrere Interviews. Als Augenzeuge der europäi­ schen Ereignisse folgte er zahlreichen Einladungen des amerikanischen SDS. Der Herausgeber hat sich bewußt dazu entschieden, auch Marcuses bisher in deutscher Sprache noch nicht erschienene Stellungnahmen zum Israel-Palästina-Konflikt in diesen Band aufzunehmen. An diesem Konflikt, der nur selten im Zusammenhang mit der Studentenbewegung erwähnt wird, entbrannten in den sechziger und in den siebziger Jahren heftige Diskussionen innerhalb der deutschen Linken. Selbst für die gegenwärtige Diskussion um eine friedliche Lösung der militärischen Auseinandersetzung im Nah-Ost-Konflikt könnten Marcuses Äußerungen hilfreich sein. Die Vorträge, die Schriften zu Angela Davis und der Briefwechsel zwischen Rudi Dutschke und Herbert Marcuse sind weitestgehend Erstveröffentlichun­ gen. Marcuse und Dutschke verband seit 1967 eine enge Freundschaft. In sei­ nem Artikel zum 80. Geburtstag von Herbert Marcuse betonte Dutschke die politische Bedeutung Herbert Marcuses für die antiautoritäre Revolte: »... daß Herbert Marcuse etwa den doch oft spontan Aufgebrochenen, die als Träumer und Krawallmacher denunziert wurden, Legitimation gab und historischen Sinn mit seinen theoretischen Studien und seiner demonstrativen Solidarität.«6 Für die hilfreiche Unterstützung danke ich besonders Christian Schmidt, dem Spiegel-Archiv Hamburg, dem Marcuse Archiv der Stadt- und Universitäts­ bibliothek Frankfurt am Main, dem Archiv des amerikanischen SDS, dem Euro­ päischen Forum Alpbach und dem Theodor W. Adorno Archiv. Peter-Erwin Jansen Frankfurt am Main, Februar 2004

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Nachweise und Anmerkungen 1 Vgl. den Band Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsge­ schichte der Frankfurter Schule. (Hg.) Clemens Albrecht u.a., Frankfurt a.M. 1999. Wer an umfangreichen Originaldokumenten und zeitgeschichtlichen Interpretationen über die Bewegung interessiert ist, findet umfangreiches Material in dem dreibändigen Werk Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995. (Hg.) Wolfgang Kraushaar, 3 Bde., Hamburg 1998. 2 Die hier zitierten Briefstellen und weitere Briefe zwischen Adorno und Marcuse sind veröffentlicht im Band 2 von: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995. Wolfgang Kraushaar, 3 Bde., Hamburg 1998, und in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 18, Briefwechsel 1949-1973, (Hg.) Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1996, S. 672 ff. 3 Das Spiegel-Gespräch mit Herbert Marcuse erschien unter der Überschrift Revolution aus Ekel, in: Der Spiegel, 28. Juli 1969, 23. Jg., Nr. 31, S.104 ff. 4 Aus: Herbert Marcuse, Reflexionen zu Theodor W. Adorno. Gespräch mit Michaela Seiffe in »Titel, Thesen, Temperamente«, vom 24. August 1969. 5 In: Neue Kritik, Juni/August 1966, Nr. 36/37, S. 30-38. 6 Rudi Dutschke, Pfad-Finder - Herbert Marcuse und die Neue Linke, in: Neues Forum Nr. 297/298, September/Oktober 1978, S. 58-65.

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Einleitung »Die Revolte der Lebenstriebe« M arcuse als Mentor gegenkultureller Bew egungen von W olfgang Kraushaar

Wohl kaum ein anderer Gedanke eines Sozialphilosophen hat für mehr Aufsehen gesorgt, schwerere Mißverständnisse produziert und stärke­ re Schelte eingetragen als das Bekenntnis: »... ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein >Naturrecht< auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, wel­ che die etablierte Hierarchie schützen ... Es gibt keine anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte.«1 Die einen glaubten in dem 1965 von Herbert Marcuse verfaßten Aufsatz über »Repressive Toleranz« einen Freibrief dafür erkennen zu können, den Legalitätsrahmen der parlamentarischen Demokratie nach Belieben überschreiten zu dürfen, die anderen meinten hier den Sündenfall eines neomarxistischen Gesellschaftstheoretikers zu se­ hen, der die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates im Zweifel mit Füßen trete. Marcuse selbst hat auf solche Vorwürfe immer gelassen reagiert und auf das klassische Widerstandsrecht in demokratischen Staaten verwiesen. In seinem Essay geht es um die Kritik an einem Grund­ begriff des Liberalismus. Im wohlfahrtsstaatlich organisierten Kapita­ lismus, so seine Überzeugung, werde die Toleranz immer öfter zum Selbstzweck. Indem sie Diskriminierung und Unterdrückung dulde, werde ihr universalistischer Gehalt pervertiert. Unparteilichkeit und Gleichheit förderten häufig konservative und reaktionäre Kräfte und schwächten dagegen oppositionelle Bewegungen, die auf Emanzipa15

tion ausgerichtet seien. Toleranz könne nicht puristisch als abstraktes Prinzip hochgehalten werden; ihre Wirksamkeit müsse an den jeweili­ gen gesellschaftlichen Verhältnissen überprüft werden. Die »Kritik der reinen Toleranz«, ursprünglich im Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, dem Kampf um die Gleichberechtigung der Schwarzen, geschrieben, wurde kurze Zeit später auch für eine schein­ bar wie vom Himmel fallende Studentenbewegung attraktiv. Als der >Sozialistische Deutsche Studentenbund< (SDS) im Mai 1966 an der Frankfurter Universität den Kongreß »Vietnam - Analyse eines Exempels« veranstaltete, trat Marcuse auf der Schlußkundge­ bung als Hauptredner auf. Nach einer Analyse der US-Außenpolitik, einer Beschreibung der Containment-Politik und der Erörterung der Frage, ob sich der Vietnamkrieg noch nach Argumentationsmustern einer klassischen Imperialismustheorie interpretieren lasse, wandte er sich den unterschiedlichen oppositionellen Strömungen in den Verei­ nigten Staaten zu. Marcuse unterschied vier verschiedene Gruppen: »1. Intellektuelle und Jugendliche. 2. >UnterprivilegierteDer eindimensionale Mensch Katalyst-GruppenWomen’s Liberation Movement< für die vielleicht wichtigste und radikalste politische Bewegung der damaligen Zeit hielt. »In der patriarchalischen Zivilisation«, so analy­ sierte Marcuse das historische Joch, das sich in Sozialisations- und Kulturationsformen niedergeschlagen hat, »wurden und werden die Frauen einer spezifischen Repression unterworfen, ihre geistige und physische Entwicklung wurde und wird in eine spezifische Richtung gelenkt. Aus diesem Grund ist eine eigenständige Frauenbewegung nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Aber gerade die Zielset­ zungen dieser Bewegung implizieren so radikale Veränderungen sowohl der materiellen als auch der intellektuellen Kultur, daß sie nur durch Veränderung des gesamten Gesellschaftssystems erreicht wer­ den können. Über und durch ihre eigene Dynamik ist die Frauenbewe­ gung mit dem politischen Kampf um die Revolutionierung der beste­ henden Lebensverhältnisse und menschlichen Verkehrsformen, für die Freiheit von Frauen u n d Männern verbunden.«11 Marcuse mach­ te deutlich, daß es nicht einfach nur um Gleichberechtigung gehen könne; denn diese würde in letzter Konsequenz auf eine Anpassung an und eine Integration in die männlich geprägte Gesellschaft hinauslau­ fen. Was er jedoch ebenfalls nicht propagieren wollte, das war eine umstandslose Ersetzung des Patriarchats durch ein Matriarchat: »Eine Gesellschaft, ... in der die Frau dominiert, eine Art Matriarchat als geschichtliche Nachfolge des Patriarchats wäre noch nicht per se eine bessere und gerechtere Gesellschaft. Erst und nur dann, wenn die weiblichen Qualitäten, die wirklich antithetisch zu Unterdrückung und Aggression stehen, durch die Emanzipation der Frau zu gesell­ schaftlichen Qualitäten werden (bestimmend in der Gesellschaft als ganzer), wäre das Patriarchat tatsächlich überwunden.«12 Was Marcu­ se vor allem propagierte, das war die Überwindung der Antithese »maskulin -feminin« durch eine Synthese im, wie er freilich selbst ein21

gestand, auch von mythologischen Zügen geprägten Konzept des Androgynismus. Dabei bestritt er allerdings, daß die natürlichen Geschlechtsunterschiede darin völlig verschmelzen und sich als sol­ che auflösen würden. Auf dem Höhepunkt der von Marcuse so enthusiastisch begrüßten Frauenbewegung gab es eine andere aus der Studentenbewegung ent­ standene Strömung, die ihn mit den Schattenseiten der 68er-Revolte konfrontierte - die >Rote Armee Fraktion< (RAF). Obwohl es seitens der christdemokratisch-konservativen Kräfte nicht an Stimmen fehlte, die Marcuse als den angeblichen geistigen Vater des Terrorismus an den Pranger stellen wollten, so konnte er von Anfang an darauf verwei­ sen, daß das von ihm für unterdrückte Minderheiten beanspruchte >Naturrecht auf Widerstand< in keiner Weise als Rechtfertigung von Terroraktionen zu mißverstehen sei. Im Sommer 1972 verurteilte Mar­ cuse in einem Interview die Bombenanschläge der RAF mit den W or­ ten: »So etwas ist objektiv konterrevolutionär.... Der Terror von klei­ nen Gruppen hat noch nie die Sache der Revolution gefördert.«13 Ganz ähnlich äußerte er sich im April 1975 nach dem Überfall eines RAF-Kommandos auf die Deutsche Botschaft in Stockholm und wäh­ rend der Schleyer-Entführung im Herbst 1977. Marcuses persönliche wie politische Integrität stand dabei außer Zweifel. Dies galt auch für seine Beziehungen zu Protagonisten der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke. Als er nach dem auf ihn im April 1968 verübten Attentat lebensgefährlich verletzt in einer Klinik lag, war Marcuse einer derjenigen, die ihn dort besuchten. Solidarität und Treue, nicht zuletzt gegenüber Freunden, Schülern und Wegge­ fährten, waren für ihn unverzichtbar. Die von 1967 bis 1979 reichen­ de Korrespondenz zwischen Dutschke und Marcuse zeigt überdies, in welch hohem Maße zwischen ihnen Einigkeit bestand in der Abwehr aller sektenförmigen Organisationen, die aus der Konkursmasse der Studentenbewegung entstanden waren und von denen die RAF nur die gewaltbereiteste Kadergruppe darstellte. Ein anderer Testfall war die Verfolgung seiner amerikanischen Schülerin Angela Davis, die in Verdacht geraten war, Waffen für den mißglückten Versuch, einen vor Gericht gestellten Anhänger der Black-Power-Bewegung zu befreien, besorgt zu haben. Als sie vom FBI gesucht und nach kurzer Fahndung gestellt wurde, zögerte Marcuse keinen Augenblick, sich hinter die schwarze Bürgerrechtlerin zu stellen 22

und ihre Freilassung zu fordern. Und als im Juni 1972 in Frankfurt, wo Angela Davis auf Empfehlung Marcuses zwei Jahre studiert hatte, ein Solidaritätskongreß veranstaltet wurde, hielt er vor Tausenden von Zuhörern den Hauptredebeitrag für seine nur wenige Tage darauf von einem kalifornischen Gericht freigesprochene Ex-Studentin.14 In seiner letzten Rede, die er bei den Frankfurter Römerbergge­ sprächen im Mai 1979 hielt und die zunächst unter dem Titel »Fort­ schritt und Innerlichkeit« angekündigt war und später unter der Über­ schrift »Die Revolte der Lebenstriebe« veröffentlicht wurde, faßte er noch einmal die zentralen Motive seines Denkens zusammen. Er ging von der unauflösbaren Einheit von Destruktivität und Produktivität in der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte aus, die im Rah­ men des bestehenden Systems irreversibel sei. Eine Negation des bloß quantitativen Fortschrittsprinzips kündige sich nicht mehr primär in der polit-ökonomischen Basis an, sondern in einer allmählichen »Des­ integration der Normen«, einer weitreichenden kulturellen Revoluti­ on. »Das ist ein Protest«, so definierte er diese neue Form der Opposi­ tion, »aus allen Klassen der Gesellschaft, motiviert von einer tiefen körperlichen und geistigen Unfähigkeit mitzumachen und dem Willen, das zu retten, was noch an Menschlichkeit, Freude, Selbstbestimmung zu retten ist. Revolte der Lebenstriebe gegen den gesellschaftlich orga­ nisierten Todestrieb.«15 Wenngleich er den politischen Charakter der soziokulturell charakterisierten Gegenbewegungen wegen ihrer unge­ brochen starken Tendenzen zur Innerlichkeit als ambivalent bezeichnete, so gab er ihnen dennoch den Vorzug gegenüber den traditionel­ len linken Organisationen und Gewerkschaften, die immer noch ungebrochen an der Reproduktion eines destruktiven Fortschritts fest­ hielten. Repräsentiert seien die noch frühreifen Kräfte eines qualitati­ ven Fortschritts in der Frauen-, Studenten- und Ökologiebewegung. Zum Abschluß seiner Ansprache, die seine letzte überhaupt sein sollte, thematisierte Marcuse das Trauma, das ihn bei seinen Deutsch­ land-Besuchen am stärksten beschäftigte: »Ich glaube, ... es gibt ein Kriterium, an dem sich zeigt, wie sich heute authentische von nicht­ authentischer Innerlichkeit unterscheidet. Nämlich: jede Verinnerli­ chung, jede veröffentlichte Erinnerung, die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält, die von Auschwitz als belanglos desavouiert wird, ist Flucht und Ausflucht; und ein Begriff des Fortschritts, der nicht eine Welt begreift, in der Auschwitz immer noch möglich ist, ist in schlech23

tem Sinne abstrakt.«16 Hier blitzte noch einmal auf, was im Zentrum seines System- und fortschrittskritischen Denkens stand - das Einge­ denken des Holocausts. Nach Marcuses Tod im Juli 1979 traf sich in Frankfurt eine Grup­ pe von Schülern, darunter auch Daniel Cohn-Bendit, die Überlegun­ gen anstellte, in welcher Form Herbert Marcuses angemessen gedacht werden könne und die schließlich die Absicht verfolgte, einen >Herbert-Marcuse-Gedenkkongreß< zu veranstalten. Einzelheiten wurden bei einem Treffen mit Rudi Dutschke im Dezember ausgemacht. Der überraschende Tod Dutschkes am 24. Dezember in Aarhus führte dann zu einem vorzeitigen Abbruch des Unternehmens, das vielleicht die Gelegenheit hätte wahrnehmen können, die seinerzeit in Entste­ hung begriffene und unter dem Schlagwort >No future< bekannt gewordene Jugendrevolte mit dem Denken Marcuses zu konfrontie­ ren.17 Statt dessen machten sich allenthalben Stimmen bemerkbar, die einen Abgesang intonierten. So wie Marcuse, auf dem Höhepunkt der Revolte zur Vaterfigur stilisiert, geradezu in den Himmel gehoben wur­ de, so ist er anschließend herabgesetzt worden.18 Weil er sich nicht gescheut hat, sich öffentlich mit dem Aufbruch von 1967/68 zu solida­ risieren, ist im nachhinein sein ganzes Werk mit dem Niedergang der Emanzipationsbewegungen identifiziert worden. Es gehört ohne Übertreibung zu den bittersten Ironien, daß das Denken eines Mannes, der sich nicht nur auf die Bewegungen eingelassen, sondern ihnen vor­ weggedacht und sie reflektierend begleitet hat, heute entwertet, ver­ zerrt und so gut wie vergessen ist, bestenfalls noch den Status einer flüchtigen Reminiszenz einnimmt. Die Tatsache, daß er aus dem aka­ demischen Bereich ausscherte und sich mit den Bewegungen solida­ risierte, so scheint es jedenfalls, ist ihm nie verziehen worden.

Anmerkungen 1 Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff/Barrington Moore/Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt am Main 1965, S. 127f. 2 Herbert Marcuse, Die Analyse eines Exempels (Hauptreferat), in: neue kritik, 7. Jg., Nr. 36/37, Juni/August 1966, S. 35. 3 Ebenda, S. 35f.

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4 Ebenda, S. 37. 5 Ebenda, S. 38. 6 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch - Studien zur Ideologie der fortge­ schrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/West-Berlin 1967, S. 267. 7 Ebenda, S. 268 8 Horst Kurnitzky /Hansmartin Kuhn (Hg.), Das Ende der Utopie. Herbert Marcuse dis­ kutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität Berlin über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, West-Berlin 1967, S. 14. 9 Ebenda. 10 »Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft läßt sich der traditionelle Begriff der Neutralität der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird.« Herbert Marcu­ se, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Indu­ striegesellschaft, Neuwied / West- Berlin 1967, S. 18. 11 Herbert Marcuse, Marxismus und Feminismus, in: ders., Zeit-Messungen, Frankfurt am Main 1975, S. 10. 12 Ebenda, S. 16f. 13 »Dieser Terror ist konterrevolutionär« - Interview mit Herbert Marcuse, in: Konkret vom 15. Juni 1972, Nr. 13, S. 15. 14 Vgl. Angela Davis Solidaritätskomitee (Hg.), Am Beispiel Angela Davis - Der Kongreß in Frankfurt. Reden, Referate, Diskussionsprotokolle, Frankfurt am Main 1972. 15 Herbert Marcuse, Die Revolte der Lebenstriebe, in: Psychologie heute, 6. Jg., Heft 9, September 1979, S. 41. 16 Ebd. 17 Als Folge- und Ersatzprodukte der Vorbereitungen für diesen Herbert-MarcuseGedenkkongreß sind drei Buchpublikationen erschienen: Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt am Main 1980; Detlev Claussen (Hg.), Spuren der Befreiung - Herbert Marcuse. Ein Materialienbuch zur Einführung in sein politisches Denken, Darmstadt/ Neuwied 1981; Hauke Brunkhorst/Gertrud Koch, Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg 1987. 18 Am drastischsten fiel wohl das Urteil eines Hitler-Biographen aus, der ihn in einem Nachruf als Konventikel-Denker verhöhnte: Joachim Fest, Widersprüche und Wahr­ heiten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 1979.

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Abbildungen

Herbert Marcuse während eines Interviews in San Diego, etwa 1972.

Rechte Seite: W idmung von Rudi Dutschke an Herbert Marcuse. Das Buch mit der W idm ung stammt aus Marcuses Bibliothek und befindet sich in der Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt/Main.

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Rudi Dutschke Versuch, Lenin auf die ’ Füße zu stellen Ober den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum So­ zialismus. Lenin, Lukäcs und die dritte Internationale. M

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Links: Angela Davis, ca. 1972.

Unten: Angela Davis und Erich Honecker, September 1972. Aus: Peace Friendship Solidarity. Angela Davis in the GDR, Dresden 1972.

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Herbert Marcuse auf einer Anti-Vietnamkriegsdemonstration auf dem Campus der Universität von San Diego, etwa 1967.

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Kuba

Mit der Unterstützung des amerikanischen Geheimdienstes CIA erreichten vom 16. auf den 17. April 1961 circa 1.500 bewaffnete Exil-Kubaner die von Fidel Castro regierte Insel Kuba. Ihre Landung erfolgte in der sogenannten »Schweinebucht«. Im Inneren des Landes sprangen amerikanische Fall­ schirmspringer ab und amerikanische Bomber griffen kubanische Flugplät­ ze an. Die »Invasion in der Schweinebucht« scheiterte. Castros Armee schlug die Angreifer zurück. Im August 1962 eskalierte der Konflikt erneut. Die ame­ rikanische Regierung unter John F. Kennedy erfuhr, dass die Sowjetunion auf Kuba bereits Raketenabschußbasen für Mittelstreckenraketen errichtet hat­ te, diese weiter ausbauen und dann mit Raketen mittlerer Reichweite ausrüsten wollte. Darauf reagierten die Amerikaner mit einer totalen See­ blockade Kubas. Sie begann am 24. Oktober 1962 und endete nach umfangreichen Verhandlungen zwischen der sowjetischen und amerikani­ schen Regierung am 28. Oktober. Nach der Invasion in der Schweinebucht fand am 3. Mai 1961 an der Universität von Massachusetts in Brandeis eine gut besuchte und hitzige Protestveranstaltung statt. Redner der Universität von Brandeis waren Dr. Walter, Professor für politische Wissenschaften, Dr. Stein, Professor für So­ ziologie, und FHerbert Marcuse. Von der Plarvard Universität sprachen der Soziologiedoktorand Edward Friedman, der auch Vorsitzender der Studen­ tengewerkschaft war, und Fl. Stuart Hughes, Soziologe und Professor für Geschichte. Hughes und Marcuse kannten sich seit ihrer Zusammenarbeit beim Office of Strategie Services. Alle Hauptredner kritisierten mit unter­ schiedlicher Pointierung die amerikanische Kuba-Politik. Doch schon während der Redebeiträge entbrannte im Publikum ein hef­ tiger Streit über den Diskussionsstil, über die einseitige Verurteilung der USA und über eine Protestresolution. Dr. Milton Sacks, Professor für Politik an der Universität von Brandeis, verteidigte die Intervention. Der Politikwissen31

schattier Kenneth Slapin unterstellte den Kritikern der amerikanischen Poli­ tik »Blindheit gegenüber dem Weltkommunismus« und meinte: »Unsere nationalen Irrtümer legitimieren nicht unsere Feinde«. Dagegen forderte Irl Solomon eine weitreichende Unterstützung des linken Castro-Kritikers Manolo Ray1 und seiner »Revolutionären Volksbewegung«. Nach einer drei­ stündigen Debatte stimmte die Versammlung unter dem Protest der Gegner über eine Resolution ab. Der Diskussionsleiterin Madeline Geltman, die Soziologie studierte, warf man einen undemokratischen und ideologisch geprägten Stil vor. Sie habe eine »Austreibung verfügt« und keine demokratische Auseinandersetzung geleitet. Ihr autoritärer Stil habe eine alternative Resolution verhindert. Die Protestresolution beginnt mit den Sätzen: »Wir, die Unterzeichnenden, pro­ testieren vehement gegen jede weitere Intervention auf Kuba. Wir sind der Überzeugung, daß alle Anstrengungen unternommen werden müssen, den Konflikt durch Verhandlungen beizulegen. Wir protestieren weiter gegen das »undemokratische Moratorium über die Kritik< an dieser Politik. Auf das Schärfste verurteilen wir die Aufforderung des Präsidenten zu einer Selbst­ zensur der Presse.« Reaktionen auf die Protestversammlung veröffentlichte die Campuszeitschrift »The Justice« am 9. Mai 1961. Auf Druck linker studentischer Organisationen wurde eine Veröffentli­ chung des Textes so lange untersagt, bis die Alternative auf einer neuen Anhörung am 10. Mai öffentlich diskutiert werden konnte. Entscheidender Unterschied gegenüber der ersten Protestresolution war die ergänzte Auffor­ derung, linksradikale amerikanische Kräfte sollten die revolutionären AntiCastro- Kräfte im Lande von außen paramilitärisch unterstützen. Fünf Jahre später, am 8. Dezember 1967, stellte Marcuse von San Die­ go aus den Antrag, vom 4. bis 11. Januar als Redner an dem »Cultural Congress« in Havanna teilnehmen zu dürfen. Das State Department lehnte die­ se Anfrage am 28. Dezember ab. Unter anderem führte es an, es habe aus sicherer Quelle erfahren, dass Marcuse an einer Sektion mit dem Titel »Colonialism and Neocolonialism in the Cultural Development of Countries« zu sprechen beabsichtige, den der staatliche Rundfunk live übertragen wollte. Der »Kongress« deute auf eine Propagandaveranstaltung hin, die letztlich der amerikanischen Politik völlig entgegenstehe (vgl. Marcuses Antrag zur Kubareise, 8. Dezember 1961, und Antwortschreiben von Nathan Lewin, Deputy Administrator Bureau of Security and Consular Affairs. Marcuse Archiv, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main). Marcuses Redebeitrag (HMA 231.00) umfaßt sechs maschinenge­ schriebene Seiten. Er ist in englischer Sprache verfasst und mit der Bemer32

kung »Not For Publication« überschrieben. Der Titel gibt die von Marcuse selbst gewählte Titelzeile wieder. Der zweite Beitrag von Marcuse erschien in der Zeitschrift The Justice (Vol. XIII, No. 25., May 9,1961, Brandeis). Darin sind auch Diskussionsbeiträ­ ge der übrigen Teilnehmer der Protestveranstaltung und der oben erwähn­ ten Kritiker, auf die Marcuse antwortete, veröffentlicht. Der Titel stammt von Marcuse.

Anmerkung 1 Manolo Ray kämpfte ab 1957 an der Seite Castros gegen Präsident Batista und wur­ de unter seiner Regierung Arbeitsminister. Kurze Zeit später brach er mit Castro und gründete die Untergrundbewegung M.R.P., die von Castro verfolgt wurde. Ray floh nach Miami ins Exil und sprach zu den Vorfällen um die Schweinebucht am 3. Mai 1961 an der Harvard Universität.

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Rede vom 3. Mai 1961 auf der Kuba-Protestversam m lung an der Brandeis University

Ich will nicht in Frage stellen, ob die Vereinigten Staaten das Recht haben, in der westlichen Hemisphäre gegen den Kommunismus zu kämpfen - ich möchte allerdings die Definition der westlichen Hemi­ sphäre in Frage stellen, zu der jetzt auch Laos in Südostasien und eini­ ges andere gehört. Das ist eine Definitionsfrage, genauso wie - und auch dies meine ich sehr ernst - die Bedeutung des Satzes: »Wir kämp­ fen gegen den Kommunismus.« Wogegen kämpfen wir? Wenn wir das Sperrfeuer von Propaganda und Indoktrination für einen Moment durchbrechen, dann kämpfen wir dagegen, daß rückständige Länder und Regionen eine Gesellschaftsform einführen wollen, die sich von unserer eigenen grundlegend unterscheidet. Zu dieser Gesellschafts­ form gehören so durchgreifende Maßnahmen wie eine Agrarreform, die Verstaatlichung zumindest der Schlüsselindustrien und Banken und eine völlige Umverteilung von Eigentum und Macht, um damit die Entwicklung von sogenannten unterentwickelten Ländern zu errei­ chen, die der Meinung sind, daß unsere Gesellschaftsform auf sie nicht anwendbar ist. All das findet in einem heftigen Kampf gegen mächtige Interessengruppen statt, die sich diesen Reformen widersetzen; das heißt, es findet statt im Rahmen der Unterdrückung von bürgerlichen Freiheitsrechten, es findet statt in Form einer Diktatur. Genau das ist das Wesen einer Revolution. Wenn man sich in einem akuten, offenen Bürgerkrieg befindet - und nicht nur in einem Bürgerkrieg, sondern in einem Bürgerkrieg, der ganz eng mit einem Krieg nach außen und mit Interessengruppen verbunden ist, die dem Versuch der Einführung einer neuen Gesellschaftsform im Weg stehen - , dann kann man sich die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht leisten, die den Interessengrup­ pen schnell wieder zu ihrem alten Einfluß verhelfen würden und, wie 34

die Geschichte zur Genüge gezeigt hat, immer wieder verholten haben. Ich kenne keine Revolution, und das gilt auch für die amerikanische, die nicht zuerst und für eine ganze Weile die bürgerlichen Freiheits­ rechte unterdrückt hat. Ich bin kein amerikanischer Historiker, aber ich glaube nicht, daß es während der amerikanischen Revolution bür­ gerliche Freiheitsrechte für die britischen Loyalisten gab. Niemand ist dafür, daß bürgerliche Freiheitsrechte unterdrückt werden, und ich bin es ganz bestimmt nicht, aber ich hasse und verab­ scheue die Heuchelei, mit der man Castros Unterdrückung der bürger­ lichen Freiheitsrechte als einen Hauptgrund für unseren Kampf gegen die kubanische Revolution hinstellt. Die widerwärtige Heuchelei, wenn gleichzeitig, soviel ich weiß, keiner von denen, die die Interven­ tion in Kuba unter anderem deshalb organisieren und befürworten, weil Castro bürgerliche Freiheitsrechte unterdrückt, militärische oder andere Interventionen gegen Tschiang Kai-scheks Formosa, gegen Francos Spanien, gegen Salazars Portugal, gegen die Dominikanische Republik, gegen Haiti, gegen Guatemala oder gegen eine ganze Reihe von lateinamerikanischen Staaten befürworten oder organisieren wür­ de, wo die bürgerlichen Freiheitsrechte ungleich brutaler und blutiger unterdrückt werden als in Castros Kuba. Es hat mit anderen Worten den Anschein, daß wir nur gegen die Unterdrückung von bürgerlichen Freiheitsrechten durch die Linke sind, aber beileibe nicht durch die Rechte. Dieselbe Konstellation, die die Castro-Regierung zwingt, in einem offenen Bürgerkrieg bürgerliche Freiheitsrechte zu unterdrücken, führt nun auch unvermeidlich zu einer Verbindung mit ausländischen Mächten. Es ist inzwischen so, daß praktisch auf der ganzen Welt die Interessengruppen, die den Bewegungen zur Einführung einer neuen Gesellschaftsform im Weg stehen, mit den Vereinigten Staaten ver­ bündet sind, während die anderen, die diese Bewegung unterstützen, mit der Sowjetunion verbündet sind. Zunächst verbünden sich die Interessengruppen mit dem Westen, dann die revolutionären Gruppen mit der UdSSR. Dadurch wird es ganz einfach, auf der ganzen Welt die einheimischen Sozialrevolutionären Bewegungen als Bewegungen hinzustellen, die von einer fremden Macht abhängig sind oder von ihr gesteuert und organisiert werden, anders gesagt: den Ausdruck »Kom­ munismus« nicht nur als einen Slogan für all diese radikal gesell­ schaftsverändernden Bewegungen zu benutzen, sondern all diese 35

Bewegungen auch als Agenten des sowjetischen oder chinesischen Kommunismus zu denunzieren. Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß die Castro-Regierung mit dem Sowjetblock verbündet und vielleicht sogar von ihm abhängig ist. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, um sie dazu zu zwingen. Was soll man anderes erwarten von einem Land, das um sein Überleben kämpft, angesichts einer Wirtschaftsblockade, bei der durchaus ein Großteil der Bevölkerung hätte verhungern können? Wenn Castro sich heute technisch und vielleicht sogar militärisch auf die Hilfe der Sowjets stützt, dann ist das unsere eigene Schuld. Aber das ist alles nicht der entscheidende Punkt. Was mich genau­ so stark beschäftigt, sind die Folgen dieser Politik - die, um es noch ein­ mal zu sagen, nicht nur die Politik gegen Kuba ist: es ist schon ein Stück Propaganda, wenn man die Kubapolitik von der Politik in Laos trennt, von der Politik in Formosa und in anderen Weltgegenden - für unser eigenes Land. Was wir erleben, ist eine rapide Umwandlung unserer eigenen Gesellschaft in eine unfreie Gesellschaft, die schon die glei­ chen Tendenzen aufweist, die wir in anderen Ländern so wacker anklagen. Der Abbau demokratischer Institutionen; die Einschrän­ kung der Pressefreiheit, die um keinen Deut besser wird, wenn sie zur Selbstzensur wird - was im Gegenteil noch abscheulicher ist die hier schon angesprochene Zwei-Parteien-Einheitsfront; das Kritikmorato­ rium, die undemokratischste aller undemokratischen Institutionen; eine Desinformation der Öffentlichkeit, die Norbert Mintz in seiner Dokumentation über die Informationspolitik der New York Times vom, glaube ich, 9. bis 23. April ganz ausgezeichnet festgehalten hat ich kann euch nur empfehlen, euch ein Exemplar dieser Dokumenta­ tion zu besorgen und sie zu lesen, damit ihr seht, wie schwierig es ist, die einfachsten Wahrheiten in die Presse und aus der Presse zu bekom­ men - ; und zu guter Letzt erleben wir in diesem Land genau das, was man in anderen Ländern »Personenkult« genannt hat. Ich will das nicht weiter auszuführen, sondern den heute eingegangen Brief einer früheren Brandeis-Studentin verlesen, die jetzt an der University of California in Berkeley promoviert. »Es hat eine große Demonstration gegen die amerikanische Inter­ vention in Kuba gegeben und danach einen Protestmarsch zum Fede­ ral Building. Lenny und ich gehörten zu denen, die die Absperrung kontrollierten, als eine gut organisierte Gruppe von rechten Studenten 36

aus den Colleges von San Francisco hemmungslos herumgrölte, Plaka­ te zerriß, mit Hühnerfutter warf und einen Hagel von Eiern losließ. Unsere Leute waren wunderbar diszipliniert, es gab also keinen Gewaltausbruch. Das lag aber nicht an der Polizei, die grinsend dabei­ stand und zusah, wie Provokateure mit Gegenständen warfen, Laut­ sprecherkabel durchschnitten und so weiter. Sie wurden angeführt von einem ganz kleinen und« - ich zitiere - »häßlichen, effiminierten Jüngling mit dicker Brille, der mit hoher Quiekstimme ständig geschrien hat, was dieses Land zeigen müsse, sei Stärke, Stärke und nochmals Stärke. Als wir nach Berkeley zurückkamen, mußten wir feststellen, daß der Präsident der University of California - der große Liberale Clark Kerr - der Presse mitgeteilt hatte, unsere Demonstrati­ on in San Francisco sei bestimmt nicht spontan gewesen, genauso wenig wie unsere Protestversammlungen auf dem Campus. Sie seien offenbar nicht das Werk von Studenten, sondern von außen gesteu­ ert.« Ich möchte hinzufügen, daß diese Studentin gleichzeitig schreibt, sie sei entsetzt, wie schnell sich unter den Studenten ein nicht unbe­ dingt latenter Antisemitismus verbreitet. W er von euch auch nur ein kleines bißchen über die neuere Geschichte Bescheid weiß, wird erkennen, daß dieses Syndrom von Antisemitismus und den in diesem Brief beschriebenen sonstigen Aktivitäten kein Zufall ist. Gibt es nun eine Alternative? Wenn das die Folgen unseres Kamp­ fes gegen den Kommunismus sind, dann ist daran irgend etwas grund­ legend verkehrt. Und nicht nur das: Die schlimmste dieser Folgen habe ich noch nicht einmal erwähnt, nämlich die stets klare und gegenwär­ tige Gefahr eines Atomkriegs. Darauf muß man immer noch hinweisen, weil offenbar die Zahl derer, die lieber sterben oder mit einer anständigen Portion Radioaktivität in den Knochen als Blattgemüse vor sich hin vegetieren wollen, viel größer ist als die Zahl derer, die weiterleben wollen und die weiter als relativ normale und gesunde Menschen leben wollen. Trotz meines Alters gehöre ich ganz entschie­ den zu dieser letzteren Gruppe. Gibt es also, um zum Schluß zu kommen, eine Alternative? Ihr wollt ja immer eine Aufgabe haben; das ist jetzt einer von den wenigen Fällen, wo ihr tatsächlich eine Aufgabe habt. Ich mache mir keine Illu­ sionen, aber ich glaube, daß es unsere Pflicht ist, von den demokrati­ schen Möglichkeiten und Instrumenten, die wir immer noch haben, 37

Gebrauch zu machen und dem Präsidenten - nicht der CIA: die ame­ rikanische Politik wird vom Präsidenten gemacht, und wir sollten aus der CIA keinen Sündenbock machen - zu sagen, was ihr davon haltet. Die Alternative wurde schon von Stuart Hughes Umrissen: Verhand­ lungen mit Kuba, Aufkündigung unserer unheiligen Allianz mit den brutalsten Diktaturen in aller Welt und volle Unterstützung für die sozialen Bewegungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in denjenigen Ländern, die nicht so überprivilegiert sind wie wir - auch wenn sie sich dabei für gesellschaftliche Institutionen und Verhältnis­ se entscheiden, die wir in unserem eigenen Land nicht gutheißen. Vielen Dank.

Das Begräbnis der Dem okratie

Ich pflege normalerweise nicht auf Schriftstücke zu antworten, die Tat­ sachen durch Verdrehungen, Argumente durch Invektiven und Ver­ nunft durch Ressentiments ersetzen. Bei Mr. Solomon muß ich eine Ausnahme machen, um eine Studentin gegen unverschämte Anwürfe zu verteidigen. Ich antworte nicht auf die vulgäre Ignoranz des Brief­ schreibers - ich wende mich an die Brandeis-Studenten, die ich kennen und schätzen gelernt habe. Mr. Solomon zufolge war die Kuba-Protestversammlung von letz­ ter Woche (1) ein »Zirkus«, (2) ein »Spektakel« und (3) eine »Austrei­ bung«. Miss Geltman, die »dieser Austreibung vorsaß« (der Stil verrät den Stilverletzer) schwang die Peitsche, brachte die Versammlung auf Linie und versuchte durch »undemokratische Machenschaften« »alle Anwesenden zu manipulieren.« Kein Wunder, meint Mr. Solomon, weil Miss Geltman ohnehin »in einer ideologischen Zwangsjacke agie­ ren muß«, die ihr »jede besondere Ausstrahlung auf die studentische Körperschaft (!) nimmt.« So beteiligte sie sich (zusammen mit den Hochschullehrern auf dem Podium) an den »gröbsten politischen Exzessen«, mit denen die Studenten »massenhaft« »einer Gehirnwä­ sche unterzogen wurden, um eine unklare und unsinnige Petition zu unterzeichnen.« Soviel zu Mr. Solomon und seinem Vokabular. Nun ist Miss Geltman eines der stillsten, scheuesten und zurückhaltendsten Mädchen, die ich kenne; sie konnte sich auf der Versammlung kaum Gehör verschaffen, sie hat in völliger Übereinstimmung mit den parla­ mentarischen Regeln gehandelt, sie hat auch bei den lautesten Störun­ gen die Ruhe behalten. Es wäre lächerlich, sie der »gröbsten politischen Exzesse« zu bezichtigen, wäre es nicht allzu bezeichnend dafür, wes Geistes Kind ihr Ankläger ist. Und ich bekenne mich schuldig, daß ich mich »von der Vorsitzenden einspannen ließ«, daß ich mich dazu ein­ spannen ließ, sie vor rüden Störungen zu schützen, daß ich mich dazu 39

einspannen ließ, ihr zu helfen, damit eine vernünftige Diskussion zustande kam. Wie sehen die Fakten aus? Die Versammlung wurde als Protestver­ sammlung zu Kuba einberufen und angekündigt, nicht als Kuba-Dis­ kussion. Sie mußte zeitlich begrenzt werden, weil am gleichen Abend um acht Uhr die Gedenkveranstaltung zum Warschauer Ghetto anfan­ gen sollte. Als deutlich wurde, daß viele Studenten die Diskussion fort­ setzen wollten, wurde beschlossen, die Versammlung unbegrenzt wei­ terlaufen zu lassen (ich habe mich bereit erklärt, zu bleiben, solange es Fragen und Beiträge gab; auch meine Kollegen sind dageblieben). Zu Beginn war angekündigt worden, daß nach den Erklärungen auf dem Podium und nachdem die Vorsitzende die kurze Resolution verlesen hatte, die der Versammlung vorgelegt werden sollte, die Diskussion eröffnet wird. Vor der Verlesung der Resolution wurde die Vorsitzende von einem Hochschullehrer aus dem Publikum unterbrochen, der sich zu Wort meldete. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß er nach den ohne Widerspruch angenommenen Regeln in zwei Minuten sprechen könne. Dann sprach er, und er sprach genauso lange wie jeder Podiumsteilnehmer und wurde kein einziges Mal unterbrochen. Meine Kollegen auf dem Podium haben kurz geantwortet (ich habe nicht geantwortet, weil ich nichts zu sagen hatte), und dann begann die Dis­ kussion - um es noch einmal zu sagen: auf Wunsch der Zuhörer ohne zeitliche Begrenzung. Diejenigen Studenten, die weder »indoktriniert« noch eingeschüchtert waren, haben die Petition unterschrieben. Die Diagnose von Mr. Solomon, sie hätten in »unüberlegter Idiotie« gehan­ delt, überlasse ich dem dafür zuständigen Experten. Ich muß aber gleichzeitig das Kunststück bewundern, daß nach dem Urteil dieses Experten, dessen Stil und Vokabular allem Anstand spottet, Professor Stein »jeden Anstand vermissen läßt.« Erst jetzt komme ich zum Thema, einem sehr ernsten Thema. Die Kuba-Protestversammlung war ein Versuch, eine kleine Minderheit zu Wort kommen zu lassen, die darum kämpft, gegen die übermächtige Tyrannei der öffentlichen Meinung Gehör zu finden - gegen eine öffentliche Meinung, die so indoktriniert ist, daß sie über unerfreuliche Fakten hinwegsieht und eine verheerende Politik unterstützt. Diese Minderheit wird heute diffamiert, eingeschüchtert und denunziert. Das »unüberlegte« Schriftstück unseres Experten trägt zu dieser Diffamie­ rung bei. Er hat das Glück, daß seine Ansichten auf der gleichen Linie 40

liegen wie die der meisten Zeitungen, der anderen Massenmedien, des Komitees für unamerikanische Aktivitäten und des FBI. Er und seines­ gleichen haben mit dem »Zirkus« und »Spektakel« einer Kuba-Protest­ versammlung nichts im Sinn - sie bereiten sich auf ernstere Dinge vor: auf ihr eigenes Begräbnis und auf das Begräbnis der Demokratie. Man muß immer noch darauf hinweisen, daß Demokratie in einer etablier­ ten Gesellschaft nicht bedeutet, daß man mit den Wölfen heult, daß man die offizielle Politik gedankenlos schluckt oder die Minderheit dif­ famiert und denunziert, sondern daß man das Recht zum Protest gegen eine Politik verteidigt und ausübt, die durchaus in der Lage ist, die Demokratie gleichzeitig zu propagieren und auszuhöhlen. Vor langer Zeit hat einmal jemand gesagt, es könne in diesem Land durchaus pas­ sieren, daß die Demokratie im Namen der Demokratie zerstört wird. Der von mir angesprochene Brief ist ein Teil von jener Kraft, die diese Prophezeiung wahrmachen kann. Mr. Slapin, der es in puncto Vulgarität und Tatsachenverdrehung mit Mr. Solomon aufnehmen kann, übertrifft ihn durch seinen G e­ brauch der Verleumdung als Waffe politischer Diffamierung. Aus die­ sem Grund verlangt sein Text eine Antwort. (1) Er sagt: Ich ginge »so weit, mit größter Geschmacklosigkeit zu unterstellen, daß der Kampf gegen Castro von effeminierten, häßlichen Antisemiten angeführt wird.« »Unterstellen« ist gut gesagt, weil ich nichts dergleichen gesagt habe. Ich habe aus einem Brief zitiert, der sich auf eine Studentende­ monstration an der Westküste bezog, bei der ein (in diesem Brief) als häßlich und effeminiert beschriebener Mann die Provokateure aufhetz­ te. Der Antisemitismus wurde in diesem Zusammenhang gar nicht angesprochen, sondern (wie ich ausdrücklich erklärte) aus einem spä­ teren Absatz des gleichen Briefes zitiert, wo von einem zunehmenden Antisemitismus innerhalb der Universität die Rede war. Ich habe aus dem Brief vorgelesen, um einige Tendenzen aufzuzeigen, die mit der neuen Politik in diesem Lande verbunden sind. (2) Ich habe nicht von der »historischen Notwendigkeit der Unterdrückung bürgerlicher Frei­ heiten in unterentwickelten Regionen« gesprochen. Das ist kompletter Blödsinn. Ich sprach von der Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten in einer revolutionären Situation, besonders in unterentwickelten Regio­ nen und in einem offenen Bürgerkrieg in Verbindung mit einem Krieg nach außen. (3) Der Schreiber ruft aus: »Soll er (das heißt ich) doch noch einmal erklärt haben (sic), daß die ungarische Revolution von 41

Grund auf neofaschistisch war.« Ich kann ihm diesen Gefallen nicht tun, weil ich schlecht etwas wiederholen kann, das ich nie gesagt habe. Ich habe gesagt, daß die ungarische Revolution als eine spontane und echte Arbeiterrevolution gegen ein Unterdrückerregime anfing, aber dann von reaktionären Gruppen verfälscht wurde, die ich beim Namen nannte: unter anderem von Anhängern des früheren faschistischen Regimes von Admiral Horthy. War der Student, der den Artikel unter­ zeichnet hat, auf der Versammlung von 1956, wo ich über die ungari­ sche Revolution sprach? Wenn nicht, hätte er dann nicht seine Infor­ mations- und Inspirationsquelle zitieren sollen? (4) Der Schreiber bezeichnet die Hochschullehrer auf dem Podium als »fanatische >Linkeengagement< deinem Interdikt verfällt«. (Brief von Marcuse an Adorno, 5. Mai 1966, Marcuse Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.) 53

Diese erste große zentrale Veranstaltung des SDS zum Krieg in Vietnam fand unter dem Titel »Vietnam - Analyse eines Exempels« statt. Über 2.200 Teilnehmer diskutierten in zahlreichen Arbeitsgruppen die Auswirkungen des Vietnam-Krieges und die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in die­ ser Auseinandersetzung. Weitere Referenten neben Herbert Marcuse waren unter anderen Wolfgang Abendroth, Norman Birnbaum, Frank Deppe, Jürgen Habermas, Arno Klönne, Oskar Negt, Theo Pirker und der damalige SDSBundesvorsitzende Helmut Schauer. Die Eröffnungsrede hielt sein Stellver­ treter Hartmut Dabrowski. Das Hauptreferat Marcuses erschien unter dem Titel »Vietnam - Analy­ se eines Exempels« im Juni/August 1966, in: Neue Kritik, 36/36, S. 30-38.

Anmerkungen 1 Gleich nach dem zweiten Weltkrieg gründeten der Wiener Student und Wieder­ standskämpfer Otto Molden und der Innsbrucker Universitätsdozent für Philosophie Simon Moser in Alpbach/Tirol eine gesellschaftspolitische Diskussionsplattform, die sich 1949 den Namen »Europäisches Forum« gab. An den verschiedenen Hauptse­ minaren, die einmal im Jahr stattfanden, nahmen auch Theodor W. Adono, Ernst Bloch, Paul Feyerabend, Max Horkheimer, Karl Popper teil. Das Seminarthema im August 1966 lautete »Gesellschaft versus Wissenschaft«. Marcuse gehörte zu der Arbeitsgruppe »Hegel zwischen Ost und West«. Weitere Teilnehmer waren Professor Erich Heintel, Wien, und Dr. Jindrich Zeleny aus Prag. Otto Molden schrieb zu Marcu­ ses Teilnahme: »Er dominierte die Veranstaltung zumindest in ihren philosophisch­ politischen Sektoren.« (Otto Molden, Der andere Zauberberg. Das Phänomen Alp­ bach. Wien 1981, S. 104 ff.) 2 Der Vortrag in Prag trug den Titel Hegel und die Gegenwart. Darin diskutierte Marcu­ se die Beziehung der Marxschen Dialektik zu Hegels Philosophie und stellte die Fra­ ge, ob der Begriff der Dialektik für eine Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft noch sinnvoll zu verwenden sei. Marcuse bezweifelt dies, da im Spätkapitalismus eine »Stillstellung« der »negativen Begriffe« zu konstatieren sei. Anhand der These, daß die von Hegel entwickelte innere Negation heute nicht mehr als Potential eines »huma­ nen Wegs des Fortschritts« zu interpretieren ist, sei auch eine Neubestimmung der Marxschen Begrifflichkeit unumgänglich.

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Ich werde über die Gründe für den Krieg in Vietnam sprechen, und zwar: 1. über seine offizielle Rechtfertigung, die offizielle Ideologie; 2. über die nicht-ideologischen Gründe des Krieges in Vietnam, und in diesem Zusammenhang werde ich die Frage diskutieren, ob die klassische Imperialismustheorie auf die Situation in Vietnam anwendbar ist; 3. über die Opposition gegen den Krieg in Vietnam, und zwar die Opposition im globalen und nicht nur im nationalen Rahmen, und schließlich 4. ganz kurz über die Prognose der Alternativen, wenn es solche Alternativen gibt. Ich fange damit an, die marxistische These zur Diskussion zu stellen, nach der der Krieg in Vietnam nicht nur ein lokales Ereignis ist, nicht nur eine Phase der amerikanischen Außenpolitik, sondern so etwas wie eine logische Manifestation eines Weltsystems, die innere Dyna­ mik der sogenannten Gesellschaft im Überfluß oder des amerikani­ schen Spätkapitalismus. Ich möchte die Diskussion einleiten mit einer ganz kurzen chronologischen Übersicht der Hauptstadien, die zu der amerikanischen Intervention, zu der immer destruktiveren amerikani­ schen Intervention in Vietnam geführt haben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die »Front der Nationalen Befreiung« (FNL) Erbin der Vietminh, die während des Zweiten Weltkrieges und nach dem Zweiten Weltkrieg erst gegen die französische und dann gegen die japanische Kolonialmacht gekämpft hat; und wie die Nationale Befreiungsfront Erbin dieser Zeit ist, so ist die amerikanische Intervention Erbin der amerikanischen Hilfe, die bereits den französischen Truppen in Indo­ china geleistet wurde. Die Intervention beginnt in der Tat nicht mit dem Bürgerkrieg in Vietnam, sie beginnt bereits während des Zweiten Weltkrieges und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, und 1950 erklärte Präsident Truman, daß die amerikanische Hilfe in Vietnam, die Hilfe für die Franzosen, beschleunigt werden muß. Das Folgende ist Ihnen bekannt: 1954 - Das Ende des französischen Kolonialregimes und das Gen­ fer Abkommen. Es teilt Vietnam in zwei Gruppierungszonen; es wur­ de ausdrücklich stipuliert, daß dies in keiner Weise eine territoriale oder nationale Trennung sein sollte. Keine zwei Staaten wurden hier etabliert, sondern eine provisorische Umgruppierungslinie um den 55

17. Breitengrad bis zu den Wahlen, freien Wahlen, die in ganz Vietnam spätestens 1956 stattfinden sollten. Die Vereinigten Staaten haben das Genfer Abkommen nicht unterschrieben, sie haben aber gleichzeitig eine separate Erklärung abgegeben, in der sie die Bestimmungen des Genfer Abkommens einzuhalten sich verpflichteten. Während der Genfer Verhandlungen noch wurde die Regierung Bao Dai durch die Regierung Ngo Dinh Diem ersetzt. Was da gesche­ hen ist, ist bis heute eines der interessantesten Mysterien der gegenwär­ tigen Politik. Ich verweise Sie auf eine Publikation, die in den Vereinigten Staa­ ten Aufsehen erregt hat. Die Zeitschrift »Ramparts« veröffentlichte im April 1966 einen Bericht über das berühmte Michigan State University Project, das 1955 in Vietnam begann. Der Bericht hat einiges zu sagen über die Zusammenarbeit zwischen der Universität und der Central Intelligence Agency (CIA) und über die eigenartige Tätigkeit von Professoren und besonders von Professoren, die außer dieser sich nun entfaltenden Tätigkeit eigentlich bisher sehr wenig getan hatten. Es gibt da einen jungen unbekannten Professor der politischen W is­ senschaft, einen Freund von Diem, der sich plötzlich in Vietnam als einer der mächtigsten Politiker sieht und Diem berät. Fakultätsmitglie­ der der Michigan State University - ich referiere den Bericht - helfen, die Polizeitruppen Diems zu rekrutieren, eine Fingerabdruckkartei aufzubauen, einen Intelligence Service einzurichten, Waffen und Munition zu beschaffen, usw. Das war in den Jahren 1955 bis 1960. Inzwischen verging das Jahr 1956, ohne daß die Wahlen, die die nationale Einigung wieder herbeiführen sollten, stattfanden: Die süd­ vietnamesische Regierung Diems weigerte sich mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, diese Wahlen abzuhalten. Über die Gründe brauchen wir nicht zu spekulieren. Wir haben das Wort eines so vertrauenswürdigen Mannes wie Eisenhower, der erklärt hat, daß, wenn die Wahlen 1956 stattgefunden hätten, wahr­ scheinlich eine Majorität für Ho Chi Minh und sein Regime sich auch in Südvietnam ergeben hätte. Nach 1956 wächst die amerikanische Hilfe, 1956 bis 1961 steigen die Kredite für die südvietnamesische Armee, und 1960 wird nun die Front der Nationalen Befreiung gegrün­ det, hauptsächlich als Protest gegen die immer mehr zur repressiven Diktatur organisierte Regierung Diems, der nebenbei gesagt seine eige56

nen Wahlen, wahrscheinlich sogar zehnmal, in Südvietnam hat statt­ finden lassen, nachdem die Opposition vorher entweder eingesperrt oder in den Norden geflüchtet war. 1960 bricht nun der eigentliche Krieg in Vietnam aus, die Unter­ stützung aus dem Norden ist immer noch sehr gering. Wir haben Zahlen für 1963, nach denen in diesem Jahr 25 000 Guerillas plus ungefähr 60 000 bis 80 000 sogenannte Irreguläre und 300 000 »Sym­ pathisierende« der Bevölkerung gegen 400 000 südvietnamesische plus 16 000 amerikanische Soldaten kämpften. 1964: der berühmte Tonkin-Zwischenfall, wo zwei amerikanische Zerstörer in nordvietnamesischen Gewässern angegriffen, aber nach ihrer eigenen Erklärung eigentlich nicht getroffen werden, und sofort danach die Bombardierung von nordvietnamesischen Anlagen. Heute beträgt die Truppenstärke der USA in Vietnam wahrschein­ lich schon 350 000. Die jährlichen Kosten - nebenbei gesagt, und das gilt für alle Zahlen, die ich anführe: ich benutze ausschließlich entwe­ der unparteiische oder neutrale Berichte, oder, und zwar in überwie­ gender Zahl, Aussagen amerikanischer Regierungsstellen - des Krie­ ges in Vietnam beziffern sich bei einer Truppenstärke von 250 000 auf $ 13 Milliarden jährlich, bei einer Truppenstärke von 400 000 auf $ 2 1 Milliarden jährlich. Die Truppenstärke von 400 000 soll bereits im nächsten Jahr erreicht werden. Was ist das Resultat dieses ungeheu­ ren Aufwandes an Menschen, Menschenleben und Geld? Das Territo­ rium, das heute von den Vereinigten Staaten und Südvietnam kontrol­ liert wird, ist wahrscheinlich kaum größer als es am Beginn des Krieges war. Wir haben heute ein Stadium erreicht, wo der Krieg mehr und mehr von amerikanischen Truppen geführt werden muß, weil die süd­ vietnamesischen einfach nicht mehr zuverlässig erscheinen. Lassen Sie mich jetzt sehr kurz die offizielle Rechtfertigung für das Eingreifen der Vereinigten Saaten geben. Sie hat im Lauf der Jahre gewechselt. Erst war es die Rechtfertigung mit der Verpflichtung gegenüber Südvietnam, besonders gegenüber der Regierung Diem. Aber Eisenhower erklärte, daß diese Verpflichtung in keiner Weise die Entsendung amerikanischer Truppen nach Vietnam einschloß. Dann, nach dieser Erklärung Eisenhowers, kam die Rechtfertigung mit der SEATO, dem Südostasienpakt. Senator Morse hat mehrfach festge­ stellt, daß die Bestimmungen des SEATO-Vertrages, die eine solche Intervention rechtfertigen würden, nicht eingehalten worden sind. 57

Da die Rechtfertigung mit Verträgen zweifelhaft ist, möchte ich auf die allgemein politische Rechtfertigung eingehen, nämlich: Verteidi­ gung gegen kommunistische Aggression im nationalen Interesse der USA, die sogenannte Containment Policy, und die Frage, die ich vorlegen möchte, ist: Haben wir es hier mit Ideologie oder mit W irk­ lichkeit zu tun? W elcher Kommunismus ist aggressiv und wo ist er aggressiv? Bekämpfen die Vereinigten Staaten wirklich den Kommu­ nismus? Bekämpfen sie den Kommunismus in der Sowjetunion? Die Stimmen mehren sich, die sogar von irgendeiner Verständigung zwi­ schen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten sprechen. Bekämpfen sie den Kommunismus in Jugoslawien? Nein! Sie bekämp­ fen eine ganz bestimmte Form des Kommunismus in bestimmten Län­ dern, auf die ich noch zurückkommen werde. Wie steht es nun mit der Aggression? Man meint besonders Aggres­ sion von seiten Chinas und Nordvietnams. Der chinesische Imperialis­ mus ist heute wirklich ein Schlagwort in Amerika geworden, und es hilft nicht einmal viel, wenn man demgegenüber einfach die Frage stellt, ob denn chinesische Truppen und chinesische Militärbasen an allen sie­ ben Enden der Welt zu finden sind, oder ob nicht umgekehrt China selbst fast umringt ist von amerikanischen Basen und Truppenstütz­ punkten. Diese rationalen Argumente helfen kaum noch, und man muß sich umsehen, wo vielleicht eine chinesische Aggression gefunden wer­ den kann. Zwei Fälle werden genannt: der chinesisch-indische Grenz­ konflikt und die chinesische Besetzung von Tibet. Der chinesisch-indische Grenzkonflikt: die ganze Angelegenheit ist noch obskur. Ich weise darauf hin, daß ein amerikanischer General schon vor Jahren erklärt hat, Indien und nicht China hätte vielleicht diesen Grenzkonflikt begonnen. Anders ist die Situation in Tibet. Es gibt keinen Zweifel, daß Tibet von den Chinesen besetzt worden ist, und diese Tatsache wird nicht dadurch geändert, daß chinesische Regierungen für Hunderte von Jahren die Herrschaft über Tibet bean­ sprucht haben. Aber es ist eine Tatsache, daß Tibet eines der rückstän­ digsten, barbarischsten und repressivsten Länder der Erde war und daß dort heute nach den von den Chinesen eingeführten Reformen die Verhältnisse besser sind als sie unter der sogenannten tibetanischen Unabhängigkeit waren. Wie steht es nun mit der chinesischen Intervention in Vietnam selbst? Nicht einmal das amerikanische Außenministerium spricht 58

von einer entscheidenden Intervention. Wenn sie sich das berühmte White Paper ansehen, dann werden Sie darin wenig von chinesischem Truppeneinsatz usw. finden. Aber wie steht es mit der Invasion von sei­ ten Nordvietnams, mit der nordvietnamesischen Unterstützung des Bürgerkrieges? Es ist sinnlos zu bezweifeln, daß Nordvietnam den Krieg der Nationalen Befreiungsfront in Südvietnam unterstützt, und zwar ent­ sprechend der wachsenden Intervention Amerikas. Ich glaube, daß die Intervention Nordvietnams in Südvietnam eine Reaktion und Antwort auf die rapide anwachsende amerikanische Intervention ist, eine Defensive und nicht eine Aggression, ganz abgesehen von der Tatsa­ che, daß ja schließlich auch die Nordvietnamesen Vietnamesen sind, was man von den Amerikanern kaum behaupten kann. Lassen Sie mich Ihnen erstaunliche Zahlen nennen aus Senator Morses Einlei­ tung zur Veröffentlichung der Verhandlungen des Senate Foreign Relations Committee über Vietnam (März 1966). Diese Zahlen, die nach Senator Morse vom Pentagon stammen, sagen folgendes: 1965:11 000 nordvietnamesische Truppen gegenüber 200 000 ame­ rikanischen und 700 000 südvietnamesischen Truppen. Ausrüstung ich werde darauf zurückkommen - : die modernste technologische Destruktionsmaschine gegen die primitivste Bewaffnung, die man sich überhaupt vorstellen kann. Irgend etwas muß mit diesem Krieg nicht in Ordnung sein. Wie steht es nun mit der offiziellen Containment-Policy im Rah­ men der globalen Politik? Es ist unbestreitbar, daß es im berechtigten Interesse des amerikanischen Kapitalismus liegt, diese ContainmentPolicy so effektiv wie möglich durchzuführen, obgleich es nicht so sehr im Interesse anderer kapitalistischer Nationen zu sein scheint, wie z.B. England und Frankreich. Die Frage ist zu stellen, ob der Kommunismus in der gegenwärti­ gen Phase nicht etwa self-containing ist, in der Defensive, auf dem Rückzug, und das nicht erst als Folge der amerikanischen Contain­ ment-Policy. Oder, um mich für einen Augenblick, etwas brutaler aus­ zudrücken, ist vielleicht Containment des Kommunismus in W irklich­ keit bewaffneter Export des Kapitalismus? Zweifellos setzt sich in der gegenwärtigen Phase die Überlegenheit des Monopolkapitalismus auf der Basis höchstentwickelter Produkti­ vität und technologischer Ausbeutung der Arbeit allgemein durch und 59

besitzt eine gewisse Ansteckungskraft. Es ist kein Wunder, daß, vergli­ chen mit den Leistungen des amerikanischen Kapitalismus, andere Länder und andere Völker dieselbe Entwicklungslinie beschreiten wollen und zum Teil beschritten haben. Dementsprechend und dieser Ansteckungskraft des höchstentwickelten Kapitalismus gegenüber eine defensive Politik des Kommunismus, die meiner Meinung nach nicht primär und vielleicht überhaupt nicht auf militärischer Unterle­ genheit beruht. Solche Defensivpolitik des Kommunismus ist beson­ ders in der Sowjetunion deutlich geworden, und in den erfolgreichen präventiv antikommunistischen Gegenrevolutionen der letzten beiden Jahre, in Indonesien, in Ghana, Kenia, Santo Domingo, Brasilien usw. Was ist nun der Preis der Containment-Policy, oder vielmehr, was ihre gesellschaftliche Dynamik? Antwort: die finanzielle und militäri­ sche Intervention, die gewaltsame Unterdrückung jeder radikalen Reform, und zwar gerade da, wo eine solche radikale Reform am not­ wendigsten ist. Der Preis der Containment-Politik ist nicht nur diese Unterdrückung jeder radikalen Reformbewegung, sondern auch die Etablierung reaktionärer Militärdiktaturen in den Entwicklungslän­ dern, die Perpetuierung brutalster Formen der Ausbeutung und des Elends. Ist es Propaganda, ist es Sympathie für den Kommunismus, wenn man behauptet, daß in vielen Entwicklungsländern die Kommu­ nisten die einzigen sind, die bisher radikale Reformen, besonders die Agrarreform, durchgeführt haben, und daß darin vielleicht die Popula­ rität der kommunistischen Bewegung in den Entwicklungsländern liegt? Für die Fragen, die ich eben gestellt habe, zitiere ich Senator Robert Kennedy, nach der »New York Times« vom 11. Mai 1968: »Wir geben militärische und andere Hilfe an Regierungen, welche diese Mittel dazu verwenden, notwendige Reformen zu verhindern. Es gibt ein Dorf in den Anden, in dem der einzige Mensch, der glaubt, daß die Bauern Land haben sollten, ein Kommunist ist. Kein Wunder, wenn in diesem Dorf der Kommunist die Sympathien der anderen Dorfbewohner hat.« Ähnlich der amerikanische Botschafter in Viet­ nam, Henry Cabot Lodge, nach der »Los Angeles Times« vom 27. Februar 1966, und Senator Fulbright (ebenda, 23. März 1966). Wenn das so ist, welches sind denn nun die Gründe dafür, daß es keine Alternativen gibt, daß in diesen Entwicklungsländern die Reform, die radikale Reform repressiver vorkapitalistischer oder para60

sitär-kapitalistischer Verhältnisse den Kommunisten zufällt, daß sie nicht auf irgendeinem demokratisch-liberalen Wege möglich zu sein scheint? Ich glaube, daß es in den Entwicklungsländern unter dem imperia­ listischen Druck keine unabhängige nationale Bourgeoisie gibt, wel­ che die beherrschten Klassen für eine radikale demokratische Reform im Interesse der Industrialisierung und Modernisierung des Landes organisieren könnte. Eine solche unabhängige nationale Bourgeoisie gibt es in diesen Ländern nicht. Was es an Bourgeoisie gibt, ist verfilzt mit dem noch semi-feudalen Großgrundbesitz in diesen Ländern. Unter diesen Umständen muß die Reformbewegung von Anfang an radikale und undemokratische Formen annehmen. Man kann eine Demokratie nicht mitten in der Luft aufbauen: Wenn die soziale Basis nicht dafür vorhanden ist, geht es eben nicht. Es gibt daher offenbar nur die Wahl zwischen einer kommunistischen Diktatur und einer Militärdiktatur der herrschenden Klassen in diesen Ländern, und wenn es nur diese Wahl gibt, ist es klar, auf welche Seite die amerika­ nische Politik setzt. Nun die nichtideologischen, die wirklichen Gründe für den ame­ rikanischen Krieg in Vietnam. Ich stelle zunächst die Frage: Ist denn für den amerikanischen Kapitalismus der bewaffnete Kampf gegen den Kommunismus wirklich eine Lebensnotwendigkeit? Und hier ist auf die in Amerika gegen diese Politik innerhalb der herrschenden Klasse bestehende Opposition hinzuweisen, eine Opposition im Rahmen des Systems selbst und im Interesse des Systems. Diese Opposition wird am sichtbarsten repräsentiert durch eine kleine Zahl von Senatoren: Morse, Gruning, Fulbright, Kennedy und einige andere, durch einige industrielle und finanzielle Kreise, die sehr schwer zu identifizieren sind, und durch Gruppen der freien Berufe. Diese Opposition im Rah­ men und auf der Grundlage des Systems befürwortet einen ökonomi­ schen und kulturellen Austausch mit den kommunistischen Ländern in friedlicher eher als militärischer Konkurrenz und Koexistenz. Es ist diese Opposition, die in Vietnam heute den Waffenstillstand und Ver­ handlungen auch mit der Nationalen Befreiungsfront fordert, außer­ dem eine positive China-Politik, das heißt, die Aufnahme Chinas in die Vereinten Nationen. Der Einfluß dieser Opposition »von oben« ist nun außerordentlich schwer abzuschätzen, weil Fernsehen, Radio und die Presse die öffent61

liehe Meinung in einer Weise bestimmen und formen, die selbst hier, glaube ich, noch unvorstellbar ist. Es gibt in den Vereinigten Staaten keine oppositionelle Presse, keine oppositionelle Tageszeitung; es gibt nur Flugblätter und Zeitschriften der Opposition, mit einer Auflage, die verglichen mit der der großen Presse lächerlich klein ist. Und dann noch der Druck des allgemeinen Konformismus, die Angst vor der ökonomischen Diskriminierung wegen irgendeiner Abweichung von der Norm - das wirkungskräftigste Mittel der Gleichschaltung. Vance Packard hat den weitgehend unsichtbaren ungeheuren Apparat der Manipulation und privaten Spionage beschrieben, der registriert, mit wem man verkehrt, ob Neger zu einem ins Haus kommen, mit wem man assoziiert ist, und das alles ohne jeden Terror in der Form freier Demokratie. Aber nehmen wir einmal an, daß diese schwache Opposition »von oben« sich durchsetzt. Was wäre die Wirkung auf den amerikanischen Kapitalismus? Ein »Super New Deal«, d. h. eine Vergrößerung des öffentlichen Sektors, die nun wirklich den Staatskapitalismus bedeuten würde, und eine vollständige Umkehr der gegenwärtigen Propaganda, der gegen­ wärtigen Reklame, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Moral, Ideo­ logie usw. Gegen diese Tendenz sind gegenwärtig in den Vereinigten Staaten noch alle Kräfte mobilisiert. Warum diese Herrschaft der Johnson/McNamara-Politik, diese Insistenz auf einer aggressiven Außen­ politik? Haben wir es hier mit der objektiven Dynamik des Systems zu tun, mit einer objektiven Dynamik, die sich hinter dem Rücken der Individuen auswirkt? Hinter dem Rücken der Individuen, weil auch die, die heute Politik machen, natürlich keinen Krieg »wollen«; auch sie würden es vorziehen, wenn sie, was sie wollen, ohne Krieg bekom­ men könnten. Haben wir also eine objektive Dynamik, die sich in diesem Sinne hinter dem Rücken der Individuen durchsetzt? Wir sollen nicht zu schnell mit der Gesetzlichkeit in der Geschichte, mit geschichtlichen Gesetzen umspringen. Die Entwicklung in Vietnam zeugt für die Blindheit in der Gesetzlichkeit. Ich glaube, man kann sagen, das, was als temporäre, geringe, schwache Unterstützung eines absterbenden Kolonialregimes, nämlich der Franzosen, beginnt, wird »automatisch« zur Sache des Prestiges, der Verteidigung des nationalen Interesses, zur Existenzfrage im Weltmaßstab. Der Apparat, der eingesetzt ist, 62

wächst unter seiner eigenen Schwerkraft und wird zur Triebkraft des ganzen Systems, das er nach seinem Bilde verwandelt und mit sich zieht. W ir müssen uns daran erinnern, daß dies eine irrationale Gesell­ schaft ist, in all ihrer Rationalität vielleicht die irrationalste Gesell­ schaft, die es je gegeben hat, und daß diese Irrationalität die Vernunft dieser Gesellschaft ist und bestimmt. Der Zufall der Persönlichkeiten (der amerikanischen Präsidenten, der Direktoren, der Generäle) -, diese Zufälligkeit wird zum Ausdruck einer Grundtendenz, die das Ganze durchdringt und das Amerika der Freiheitsrechte und der Unabhängigkeitserklärung, das Amerika, das vor nicht zu langer Zeit der Feind des Nazismus war, mit wachsenden antidemokratischen, militaristischen und selbst profaschistischen Kräften bedroht. Im Lich­ te dieser Tendenz nimmt das lokale Ereignis wirklich globale Bedeu­ tung an. Was meint Vietnam? Vietnam meint China als die neue geschichtliche Stufe. Vietnam meint alle nationalen Befreiungsbewe­ gungen im Bereich der überentwickelten Industriegesellschaft; Befrei­ ungsbewegungen, die die Vernunft, die Institutionen und die Moralität dieser überentwickelten Industriegesellschaft in Frage stellen und bedrohen. Vietnam ist zum Symbol geworden für die Zukunft der öko­ nomischen und politischen Repression, zum Symbol geworden für die Zukunft der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Was wür­ de der Sieg der nationalen Befreiungsbewegung in Vietnam bedeuten? Ein solcher Sieg würde bedeuten, und hier ist meiner Meinung nach der entscheidende Aspekt, daß eine elementare Rebellion von Men­ schen gegen den mächtigsten technischen Repressionsapparat aller Zeiten erfolgreich sein kann. Hier einige Zahlen, ich beziehe mich auf die Aussage Verteidi­ gungsminister McNamaras vor dem Senat im Februar 1966, die wir vielleicht die Umsatzbilanz McNamaras nennen könnten. Innerhalb eines Jahres sollen in Vietnam eingesetzt werden: 1,7 Mill. Bomben, 4,9 Mill 2,75 “-Raketen, 88 Mill. Luft-BodenGeschosse, 1 Mrd. Gewehr- und Maschinengewehrmunition, 16 Mill. 40-mm-Granaten, 11. Mill. Runden Mortar- und Artilleriemunition. 2623 Kernwaffenköpfe sind in der sogenannten »Strategie alert force« zum Einsatz bereit. Und McNamara fügte hinzu - ich zitiere wörtlich: »Dies hat die Heldentat ermöglicht, innerhalb von Monaten 300.000 kampffertige Soldaten 10.000 Meilen entfernt einzusetzen und zu ver­ sorgen.« Dieser ungeheure technologische Zerstörungsapparat gegen 63

eines der ärmsten Länder der Welt, das gerade angefangen hat, die pri­ mitivste Industrie aufzubauen und das bis jetzt mit den primitivsten Waffen ausgerüstet ist - und trotzdem die Gefahr, daß die nationale Befreiungsbewegung vielleicht am Ende doch siegen könnte. Was wür­ de ein solcher Sieg der nationalen Befreiungsbewegung bedeuten? Daß der nur primitiv bewaffnete menschliche Körper und der W il­ le zur Verteidigung eines in neuer Hoffnung ermutigten Lebens die gewaltigste Destruktionsmaschinerie aller Zeiten in Schach halten kann, dies könnte das Signal werden für den Aufstand in den anderen Hinterländern des Systems, wo die Ausgebeuteten in der Hoffnung auf Befreiung leben. Nicht so sehr um den Kampf gegen den Kommunis­ mus handelt es sich, als um den Kampf gegen jedes Regime, das in den Entwicklungsländern die radikale Reform jener Verhältnisse durch­ führen könnte, die bisher die Bevölkerung auf einem unmenschlichen Lebensniveau gehalten haben. Steht in diesem Zusammenhang Vietnam nun auch für unmittel­ bare ökonomische Interessen? Hier möchte ich wenigstens kurz die Imperialismustheorie diskutieren. Braucht der Monopolkapitalismus auf der gegenwärtigen Stufe wirklich ein globales Hinterland? Es besteht gerade unter den Marxisten eine Tendenz, den Imperia­ lismusbegriff, die klassische Imperialismustheorie als veraltet beiseite zu legen. Und in der Tat, es wäre absurd zu behaupten, daß die Verei­ nigten Staaten in Vietnam für ihre Investitionen, für billige Arbeit und für billige Rohstoffe kämpfen. Das tun sie natürlich nicht. Immerhin müssen wir die Frage aufwerfen, ob es sich nicht darum handelt, den Kriegszug gegen Vietnam im Zusammenhang mit globalen Interessen des Spätkapitalismus zu sehen. Lassen Sie mich hier wieder einige Zahlen geben, nur einige wenige. Sie sind wieder aus Quellen, die über jeden Zweifel erhaben sind, besonders dem Survey of Current Busi­ ness, der regelmäßig vom amerikanischen Department of Commerce veröffentlicht wird. Die direkten privaten Auslandsinvestitionen der Vereinigten Staaten betrugen 1950 11,8 Mrd. Dollar, 1963 40,6 Mrd. Dollar, 1966, nach vorsichtiger Schätzung, 50 Mrd. Dollar. Von 1957 bis 1963 stieg der Absatz der ausländischen Filialen in den Vereinigten Staaten um 54%, während der inländische Absatz nur um 17% stieg. Von 1960 bis 1965 wuchs das Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten von 503 Mrd. im Jahre 1960 auf 676 Mrd. im Jahre 1965, d.h. es stieg um 34%, während die Profite der großen Konzerne während 64

derselben Zeit um über 50% stiegen. Das Marxsche Gesetz des tenden­ ziellen Falls der Profitrate ist offenbar nicht haltbar. In dem Buch »Monopoly Capital« von Baran-Sweezy ist diese Entwicklung in einer sehr gründlichen Weise demonstriert. Danach haben wir keinen ten­ denziellen Fall der Profitrate, sondern ein wirkliches Steigen des Pro­ fits und ein Steigen des sogenannten ökonomischen Surplus, und die Schwierigkeiten der Investition und Verwendung dieses Surplus wer­ den immer größer und sind heute wahrscheinlich einer der Hauptwi­ dersprüche des kapitalistischen Systems. Noch eine einzige Zahl hier: für Standard Oil New Jersey. Die Investitionen von Standard Oil im Ausland betrugen nur die Hälfte der inländischen Investitionen, aber der Profit von Standard Oil im Ausland war viermal größer als der in den Vereinigten Staaten selbst. Ich überlasse es Ihnen, ob Sie noch irgend etwas mit der Imperialismustheorie anfangen wollen oder nicht. Nur ein W ort über die Rolle der Kriegsindustrie für die amerikani­ sche Ökonomie, weil das auch immer als Grund dafür angegeben wird, daß der Kapitalismus in Vietnam kämpfen muß. Niemand in den Vereinigten Staaten, der die Sache wirklich kennt, leugnet, daß die Rüstungsindustrie heute direkt und indirekt einen bedeutenden Stimulus für die Ökonomie darstellt. Man braucht dafür nur das »Wall Street Journal« zu lesen, was ich überhaupt empfehle, weil es wahrscheinlich die einzige nichtideologische Zeitung in den Vereinigten Staaten ist. Immerhin, verfallen wir nicht in den Fehler zu glauben, daß die amerikanische Wirtschaft, die kapitalistische W irt­ schaft, auf diese Rüstungsindustrie angewiesen ist, in solcher Weise, daß die Alternative eben nur die schon so unendlich lange vorausge­ sagte Endkrise des Systems darstellen würde: das ist nicht der Fall. Die amerikanische Ökonomie kann ohne die riesige Rüstungsindustrie bestehen, aber das würde fundamentale Änderungen in den ökonomi­ schen und politischen Institutionen bedeuten, d.h. - ich habe es bereits angedeutet - , die Tendenz zum vollen Staatskapitalismus, die in der gegenwärtigen Phase in Amerika wenig evident erscheint. Aber die rein ökonomische Analyse ist nicht mehr ausreichend, wenn sie je ausreichend war, um zu erklären, was in dieser Gesellschaft vorgeht. Alle Ökonomie ist politische Ökonomie im weitesten Sinne und das System der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist global, auch in dem Sinne, daß es alle Dimensionen der menschlichen Exi65

stenz privat und öffentlich den herrschenden gesellschaftlichen Mäch­ ten ausliefert. Das System ist global auch in dem Sinn, daß es für die­ ses System überhaupt keine äußeren Faktoren mehr gibt, daß die geo­ graphisch und anders am weitesten entfernten Kräfte zu inneren Kräften des Systems werden. Die Innenpolitik, deren Fortsetzung die Außenpolitik ist, mobilisiert und kontrolliert das Innere des Men­ schen, die Triebstruktur, ihr Denken und Fühlen; sie kontrolliert die Spontaneität selbst - und entsprechend diesem globalen und totalen Charakter des Systems ist die Opposition, von der ich jetzt sprechen werde, nicht nur und nicht primär politisch, ideologisch, sozialistisch, sondern gleichzeitig eine instinktive, moralische oder wenn Sie wol­ len, unmoralische, zynische existientielle Opposition. Vorherrschend ist die spontane Weigerung der oppositionellen Jugend mitzumachen, mitzuspielen, ein Ekel vor dem Lebensstil der »Gesellschaft im Über­ fluß«, der sich hier durchsetzt. Nur diese Negation ist artikuliert, nur dieses Negative ist die Basis der Solidarität, nicht aber das Ziel: sie ist Negation der totalen Negativität, die das System der »Gesellschaft im Überfluß« durchherrscht. Der globale Kriegszug gegen den Kommunismus muß als Teil die­ ser totalen Negativität verstanden werden, und die ökonomische Ana­ lyse der Gründe muß die Analyse der anderen gesellschaftlichen Dimensionen in sich aufnehmen. Die traditionelle Unterscheidung von Basis und Überbau wird fragwürdig. Wie die Ausgaben für Sozio­ logie und Psychologie im Dienst von »Scientific Management«, »Human Relations«, »Marktforschung«, Reklame und Propaganda schon lange nicht mehr nur Unkosten sind, sondern zum Teil zu notwendigen Produktionskosten wurden, so gehören heute psycho­ logische Faktoren zur notwendigen Reproduktion des bestehenden gesellschaftlichen Apparats. Sie reproduzieren, als Elemente der per­ manenten Mobilisierung der Bevölkerung, den globalen Kreuzzug gegen den Kommunismus in der psychologischen Struktur der Indivi­ duen selbst. Diese Gesellschaft benötigt einen Feind, dessen bedrohen­ de Macht die repressive und destruktive Ausbeutung aller materiellen und intellektuellen Rohstoffe rechtfertigen muß. Der Kontrast zwi­ schen dem gesellschaftlichen Reichtum, zwischen dem technischen Fortschritt, zwischen der Beherrschung der Natur einerseits, und der Verwendung aller dieser Kräfte zur Perpetuierung des Existenzkamp­ fes auf nationaler und globaler Grundlage, durch Schaffung von unnö66

tiger parasitärer Arbeit, durch methodische Verschwendung und Zer­ störung im Angesicht von Armut und Elend, durch Unterwerfung des Menschen unter den Riesenapparat totaler Verwaltung. Diese ganze fatale Einheit von Produktivität und Destruktion, von Prosperität und Elend, von Normalzustand und Krieg wirkt auf die Menschen als kon­ stante Repression, und diese verwalteten Menschen, die Objekte die­ ser Repression, antworten auf sie mit einer diffusen Aggressivität. Die­ se Aggressivität, die in der Gesellschaft im Überfluß akkumuliert wird, muß in einer für die Gesellschaft erträglichen und profitablen Weise ausgelöst und nutzbar gemacht werden, sonst könnte sie die Einheit des Systems selbst bedrohen. Ich sehe in dieser wachsenden Aggressi­ vität, in der instinktiven Aggressivität in der überentwickelten Indu­ striegesellschaft einen der gefährlichsten Faktoren für die kommende Entwicklung. Dieselben aggressiven Kräfte führen meiner Meinung nach von dem Tod auf den Highways und Straßen zu den Bombardierungen, Folterungen und Verbrennungen in Vietnam. Es gibt auf den High­ ways in den Vereinigten Staaten in einem Jahr 49 000 Tote und über 4 Millionen Verletzte. Vergleichen Sie das mit den Verlustziffern in Viet­ nam, und Sie werden vielleicht verstehen, daß dieser Krieg keine Mas­ senreaktion hervorgerufen hat. Weiter erwähne ich als Ausdruck der Aggressivität die kommerzielle Vergewaltigung der Natur, den Ein­ bruch in die Privatsphäre - der überall »gefangene Zuhörer« schafft und eine ungeheure Brutalisierung der Sprache, an die die Menschen allmählich gewöhnt werden. Ich habe selbst während des Zweiten Weltkrieges und selbst in der Nazipresse eine solche offene Brutalität nicht gefunden, wie sie täglich in den amerikanischen Zeitungen sich breit macht - in den Schlagzeilen, die sieghaft die Zahl der (angeblich oder wirklich) Getöteten und der gefundenen Leichen verkündet. Und von der Kriegführung und ihrer Sprache geht die Brutalisierung in die Sphäre der Unterhaltung, des Amüsements ein. Wir haben hier eine wirksame Akklimatisierung und Enthumani­ sierung und diese wiederum führt zu einer Art Massenhysterie: Das Bild des Feindes wird aufgeblasen bis zur Unkenntlichkeit und die Unempfindlichkeit, die Unfähigkeit zu unterscheiden zwischen Propa­ ganda, Reklame und Wahrheit wird immer deutlicher. Die Organe für diese Unterscheidung scheinen zu atropieren. Man kann nicht einmal sagen, daß jeder glaubt, was ihm vorgesetzt wird, es ist vielmehr die 67

Stimmung: Darüber kann ich nicht urteilen, die Regierung weiß das besser, und da kann man nichts dagegen machen. Jetzt einige Worte über die Gegenkräfte, und zwar zum Unter­ schied von der Opposition »von oben« nun die Opposition, die ein radikaleres Potential darstellt. Ich wiederhole: Auch die Opposition muß im globalen Maßstab gesehen werden, aber der Übersichtlichkeit halber werde ich diese Gegenkräfte in verschiedene aufgliedern, zunächst in den Vereinigten Staaten selbst. Vier Gruppen lassen sich identifizieren: 1. Intellektuelle und Jugendliche. 2. »Unterprivilegierte« Gruppen der Bevölkerung, z.B. Puertorikaner, Neger usw. 3. Eine religiös-radikale Bewegung, und 4. die Frauen. In allen diesen Gruppen ist die Opposition nur eine Minorität, das müssen Sie im Auge behalten. Die Opposition unter den Intellektuellen und der Jugend, beson­ ders an den Universitäten, ist in dieser Kategorie wahrscheinlich die hörbarste, sichtbarste und wirksamste Opposition. Ich habe schon darauf hingewiesen: Auch die radikale Opposition unter den Studen­ ten und der Jugend ist keine sozialistische und keine kommunistische Opposition. Das Mißtrauen gegen alle Ideologie (und Kommunismus, Sozialismus, Marxismus gelten diesen Jungen und Mädchen als Ideo­ logie) ist ein entscheidender Faktor in dieser Bewegung. Das Schlag­ wort »Wir trauen keinem, der über dreißig Jahre alt ist« charakterisiert die Situation. Man hört es oft: »Diese älteren Generationen haben uns in den Dreck gebracht, in dem wir heute sind, und was die uns zu sagen haben, das kann uns nichts mehr sagen.« Auffallend ist die spontane Einheit von politischer, intellektueller und instinktiver sexueller Rebellion - eine Rebellion im Benehmen, in der Sprache, in der Sexualmoral, in der Kleidung. Es ist natürlich Unsinn, wenn die Presse dauernd berichtet, daß bei den Studentende­ monstrationen »bearded advocates of sexual freedom« vorherrschen. Das ist eine der typischen diskriminatorischen Sprachregelungen der Presse; aber immerhin, man spürt da etwas, das über die politische Opposition hinausgeht und eine neue Einheit darstellt: eine Einheit von Politik und Eros. Ein Bild, das mir im Gedächtnis bleibt: Ich war in Berkeley am Vietnamtag und habe Demonstrationen mit 2000 bis 68

4000 Studenten gesehen, die nach dem Truppenbahnhof marschier­ ten, wo die Truppentransporte der Eingezogenen abgehen. An der Stadtgrenze war die Polizeibarrikade, mehrere Reihen dicht, Polizi­ sten in schwarzen Uniformen und Stahlhelmen, mit den Waffen bereit. Der Zug der Demonstranten hielt vor der Polizeibarrikade; es gab eini­ ge, entweder Provokateure oder einfach Unbesonnene, die den Zug plötzlich aufreizen wollten, die Polizeibarrikade zu durchbrechen; das hätte natürlich nur blutige Köpfe gegeben. Im letzten Augenblick hat­ te man sich anders besonnen, und es geschah, was schon oft in solchen Situationen geschehen war: die Demonstranten setzen sich auf die Straße, Arm in Arm, Jungen und Mädchen, die Liebkosungen begin­ nen, die Gitarren kommen raus, Volkslieder werden gespielt und auf diese Weise ist die Gefahr wenigstens für den Augenblick abgewendet, »aufgehoben« in der Einheit von Politik und Erotik. Ich mag hier vollkommen romantisch sein, ich will das zugeben, aber ich sehe in dieser Einheit eine Verschärfung und Vertiefung der politischen Opposition. Die zweite Gruppe, die sogenannten »Unterprivilegierten«, die Bürgerrechtsbewegung und der Kampf gegen das Elend. Ist sie eine wirkliche Gegenkraft? Es gibt in diesen Gruppen, besonders unter den Negern, eine Führung, die die Verbindung zwischen der Bürgerrechts­ bewegung in den Vereinigten Staaten und dem Krieg in Vietnam her­ zustellen versucht - nicht sehr erfolgreich. Denn wir dürfen nicht ver­ gessen, daß ein großer Teil der unterprivilegierten Bevölkerung in den Vereinigten Staaten in Verhältnissen lebt, denen gegenüber selbst die Einberufung nach Vietnam als eine Verbesserung der Lage erscheint. Außerdem herrscht die Erwartung, daß diese Unterschichten inner­ halb des Systems selbst aufrücken können und daß die bestehende Gesellschaft diese Möglichkeit verwirklichen kann. Nur ganz kurz über die dritte und vierte Gruppe. Die radikalreligiöse Protestbewegung hat ihre Märtyrer: Die Zahl ist klein, und die Wirkung nicht sichtbar. Die Kategorie »Frauen« mag in diesem politischen Zusammenhang befremden. Ich habe sie nur erwähnt, um der Tatsache gerecht zu werden, daß die von Tür zu Tür gehenden Sammler von Unterschriften gegen den Krieg am meisten Verständnis bei Hausfrauen gefunden haben. Sind Frauen von der Aggressivität der männlichen Gesellschaft noch relativ verschont?

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Sie haben wahrscheinlich eine Gruppe bei dieser Aufstellung der Gegenkräfte in den Vereinigten Staaten vermißt, nämlich die Arbeiter­ klasse. Das war kein Versehen. Wir können nicht sagen, daß die Arbeiter­ klasse in der Opposition gegen den Krieg ist. Sie werden gelesen haben, daß von der Gewerkschaftsführung in Amerika Erklärungen ausge­ gangen sind, die den Krieg in Vietnam ungewöhnlich stark billigen, daß die Gewerkschaften sich geweigert haben, Schiffe zu verladen, deren Abfertigung selbst vom amerikanischen Außenministerium genehmigt worden war. Die Arbeiterklasse in den Vereinigten Satten gehört nicht zur Opposition, sie ist integriert in das System. Integriert nicht nur ideologisch, sondern integriert auf der materiellen Basis stei­ gender Produktivität und eines steigenden Lebensniveaus. Selbstver­ ständlich ist Amerika eine Klassengesellschaft und der wirkliche Unterschied zwischen denen, die über das Leben bestimmen und denen, deren Leben bestimmt wird, ist vielleicht größer als er je gewe­ sen ist: die Entscheidungen sind konzentriert bei einer kleinen Grup­ pe, die weniger »von unten« kontrolliert ist als je zuvor. Aber diese Klassengesellschaft ist nicht mehr eine des Klassenkampfes im tradi­ tionellen Sinne; den Klassenkampf gibt es natürlich noch, es ist ein rein ökonomischer für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit, bessere Arbeits­ bedingungen, eine rein ökonomische Gewerkschaftspolitik und keine politische. Nun zu den Gegenkräften außerhalb der Vereinigten Staaten. In Europa handelt es sich meiner Meinung nach um ein Hauptproblem, nämlich: Kann die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten als Modell gelten, für das, was in den kapitalistischen Ländern Westeuropas zu erwarten ist? Ist hier noch ein unabhängiger Weg offen, der Weg des geplanten Kapitalismus und der Arbeiterselbstverwaltung, wie sie besonders in Frankreich als die neue Strategie der Arbeiterbewegung vertreten wird? Ich habe lange darüber mit meinen Freunden André Gorz und Serge Malle diskutiert, wir sind hier nicht einer Meinung, ich glaube, daß sich die amerikanischen Tendenzen früher oder später durchsetzen werden und ich glaube, daß die Strategie der »Autogesti­ on« nach der Revolution Erfolg haben kann, aber nicht vorher, da vor der Revolution die Gefahr besteht, daß hier neue wirksame Interessen innerhalb des Systems geschaffen werden, die sich dann festsetzen.

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Gegen die These, daß die amerikanische Gesellschaft Modell für den europäischen Kapitalismus werden wird, spricht ja nun die Tatsa­ che, daß es in Frankreich und Italien eben noch eine politische Arbei­ terbewegung gibt, die in den Vereinigten Staaten nicht existiert, und vielleicht doch einer sozialistischen Politik den Weg bereiten kann. Der ökonomische, politische und militärische Einfluß Amerikas in Europa scheint dieser Alternative zu widersprechen. Als letzte und meiner Meinung nach entscheidende Gegenkraft nun die Opposition in den Entwicklungsländern. Hier sind objektiv, wenn auch nicht subjektiv, die klassischen Bedingungen für den Über­ gang zum Sozialismus gegeben, nämlich: 1. das Elend der unmittelbaren Produzenten als Klasse, als agrari­ sches, nichtindustrielles Proletariat, 2. das vitale Bedürfnis nach radikaler Umwälzung unerträglicher Lebensbedingungen, 3. die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die Produktivkräfte zu entwickeln, 4. die militante Organisation der nationalen Befreiungsfront, die eine Einheit von nationaler und sozialer Revolution darstellt. Und alle diese Kräfte wirken innerhalb des Weltsystems des impe­ rialen Kapitalismus. Der Sieg dieser Kräfte würde in der Tat, wie ich es angedeutet habe, die Ökonomie der Metropolen erschüttern. Die Fra­ ge, vor die wir hier gestellt sind, ist die des Überspringens von Entwick­ lungsstufen. Kann es so etwas wie eine nichtkapitalistische Industria­ lisierung in diesen Ländern geben, eine Industrialisierung, die die repressive ausbeutende Industrialisierung des frühen Kapitalismus vermeidet, die den technischen Apparat aufbaut »ä la mesure de l’homme« und nicht so, daß er von Anfang an über den Menschen Gewalt hat und der Mensch sich ihm unterwirft? Kann man hier wieder von einem geschichtlichen Vorteil des »Spätkommenden« sprechen? Gegen diese große Chance einer nichtkapitalistischen und nicht repressiven Industrialisierung steht leider die Tatsache, daß die mei­ sten dieser Entwicklungsländer für die ursprüngliche Akkumulation auf die entwickelten Industrieländer auf Gedeih und Verderb angewie­ sen sind, auf die entwickelten Industrieländer entweder des Westens oder des Ostens. Immerhin glaube ich, daß objektiv die militante Befreiungsbewegung in den Entwicklungsländern heute die stärkste potentielle Kraft radikaler Umwälzung darstellt. 71

Ich spreche nicht von der kommunistischen Welt als Gegenkraft gegen die kapitalistische, weil meiner Überzeugung nach diese Kon­ stellation noch ganz im Fluß ist. Entscheidend ist hier die Tendenz zur Assimilierung zwischen der Sowjetgesellschaft und der amerikani­ schen Gesellschaft und zur Spaltung der kommunistischen Welt in wohlhabende und arme Völker, die eine solche Assimilierung sehr erleichtern würde. Zum Schluß eine Antwort auf die Frage, die mir von Ihnen gestellt worden ist: Gibt es eine reale Basis der Solidarität für alle diese sozial und geographisch so verschiedenen und so getrennten Gegenkräfte, gibt es eine Basis für eine konkrete Solidarität? Meine Antwort ist: keine außer der Solidarität der Vernunft und des Sentiments. Diese instinktive und intellektuelle Solidarität ist heu­ te vielleicht die stärkste radikale Kraft, die wir haben. Man soll eine sol­ che Solidarität nicht verkleinern, besonders nicht die instinktive spon­ tane Solidarität des Sentiments. Sie geht tiefer als die organisierte Solidarität, ohne die sie nicht wirksam werden kann; sie ist Teil der Gewalt des Negativen, mit der die Umwälzung beginnt. Ich komme noch einmal auf die Prognosen für die Alternativen zurück. Die Idee des Sozialismus scheint widerlegt durch den Skepti­ zismus gegenüber jeder ideologischen Verpflichtung und besonders durch die ungeheure Wirkung der steigenden Produktivität und des steigenden Lebensniveaus in der fortgeschrittenen Industriegesell­ schaft, eine Entwicklung, die den traditionellen Begriff des Sozialis­ mus als bestimmte Negation des Kapitalismus in Frage zu stellen scheint. Wir müssen uns sehr ernsthaft überlegen, ob der Begriff der Entwicklung der Produktivkräfte überhaupt noch eine solche be­ stimmte Negation faßt, ob nicht die qualitative Differenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus in einer anderen Dimension zu suchen ist, nicht so sehr in der Entwicklung der Produktivkräfte als in ihrer Umkehr. Sie ist die Voraussetzung für die Abschaffung der Arbeit, die Autonomie der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung und die Befriedung des Existenzkampfes. Aber gerade weil diese utopische Idee so wenig utopisch ist, ist die gesamte Gesellschaft heute gegen sie mobilisiert und diese Mobilisierung, wie ich angedeutet habe, setzt sich in den Individuen selber fort. Keinerlei Illusion gegenüber dieser furchtbaren Einheit von Produktivität und Destruktion, von Freiheit und Unter­ drückung, von Prosperität und Elend. Und dann die Abwesenheit jeder 72

Massenbewegung. Es gibt keine revolutionäre Massenbewegung und es wird auch in den überentwickelten Ländern keine revolutionäre Massenbewegung in der absehbaren Zukunft geben. Die Einheit von Theorie und Praxis, nach der wir alle schreien, läßt sich nicht organi­ sieren und sie läßt sich nicht kalkulieren. Auf der gegenwärtigen Stufe ist sie nicht da und die prekäre Brücke liegt eben in der Solidarität die­ ser so weit verbreiteten und getrennten und selbst antagonistischen Gegenkräfte, die ich gezeigt habe. In dieser Situation wird die Kraft des Negativen als Arbeit für die Befreiung des Bewußtseins und des Wissens zu einer Hauptaufgabe. Diese Arbeit an der Befreiung des Bewußtseins ist heute unmittelbar politische Arbeit und muß unmittelbar politische Arbeit werden, denn es gibt keine abstrakte Dimension, keine Dimension der Wissenschaft, keine Natur- sowohl wie Geisteswissenschaft, in die die Repression und die Lüge nicht eingedrungen sind und aus der sie nicht erst einmal entfernt werden müssen, um wieder so etwas wie eine kritische Theo­ rie überhaupt möglich zu machen. Hier sehen wir die gegenwärtige Dialektik des historischen Materialismus: in dem Maß, wie das Klas­ senbewußtsein in dem allgemein verwalteten Bewußtsein aufgeht und dieses allgemein verwaltete Bewußtsein zu einer repressiven Produk­ tivkraft im Reproduktionsprozeß des Bestehenden wird, wird die Arbeit an der Befreiung des Bewußtseins eine materielle Grundbedin­ gung für die Umwälzung des Bestehenden. Ich wiederhole: das ist kei­ ne revolutionäre Aktion, gewiß nicht, es ist im Augenblick eine hilflo­ se, vielleicht sogar für lange Zeit hoffnungslose Opposition, besonders unter der Jugend, aber eine Bewegung, vor der die Machthaber heute schon nervös werden und gegen die heute schon die konzentrierte Macht der Polizei, der Presse und der Regierung gerichtet ist. Man fragt immer noch, ob die Universität etwas mit Politik zu tun haben soll, ob Politik an der Universität gemacht werden soll. Gewiß, wir haben politische Wissenschaft in der Universität, aber die soll so wenig wie möglich mit Politik zu tun haben. Aber sicher hat Ethik einen legitimen Platz in der Universität, und eine der Sachen, die ich jedenfalls gelernt habe und die viele meiner Freunde, Sozialisten, Mar­ xisten, gelernt haben, ist, daß Moral und Ethik nicht bloßer Überbau und nicht bloße Ideologie sind. Es gibt eben in der Geschichte so etwas wie Schuld, und es gibt keine Notwendigkeit, weder strategisch, noch technisch, noch national, die rechtfertigen könnte, was in Vietnam 73

geschieht: das Abschlachten der Zivilbevölkerung, von Frauen und Kindern, die systematische Vernichtung von Nahrungsmitteln, Mas­ senbombardierungen eines der ärmsten und wehrlosesten Länder der Welt - das ist Schuld und dagegen müssen wir protestieren, selbst wenn wir glauben, daß es hoffnungslos ist, einfach um als Menschen überleben zu können und vielleicht für andere doch noch ein men­ schenwürdiges Dasein möglich zu machen, vielleicht auch nur, weil dadurch der Schrecken und das Grauen abgekürzt werden könnten, und das ist heute schon unendlich viel.

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Der Studentenprotest ist gew altlos

Bis zum Jahr 1968 erhöhten die Amerikaner ihr Truppenkontingent in Viet­ nam auf 543.000 Soldaten. Unentwegte Luftangriffe gegen Stellungen des Vietcong, aber auch vermehrt gegen die vietnamesische Zivilbevölkerung, unterstützten die Truppenverbände. Unter dem Eindruck der Eskalation des Krieges verschärfte sich aber auch die Kritik an der Kriegspolitik. Die AntiKriegsbewegung, der sich auch die Bürgerrechtsbewegung und ihr militan­ ter Flügel, die »Black Panther«, angeschlossen hatten, radikalisierte sich auch international. An den amerikanischen Hochschulen herrschte Ausnah­ mezustand. Universitätsgebäude wurden besetzt, der Lehrbetrieb lahmge­ legt. Auf dem Höhepunkt der Bewegung demonstrierten am 15. Oktober 1969 in Washington 250.000 Menschen. Die Radikalisierung der Bewegung führte zu heftigen Diskussionen in den amerikanischen Medien. Auch die New York Times berichtete in Einzel­ heiten über die Aktionen der Studenten und ihre Militanz. Der Grund des Pro­ testes, der Krieg in Vietnam, drohte hinter der Berichterstattung über die Aktionen der Demonstranten zu verschwinden. Darauf reagierten am 4. Mai 1969 verschiedene Wissenschaftler mit Leserbriefen. Unter ihnen war auch Herbert Marcuse (HMA 368.00). Die Redaktion der New York Times hatte Marcuse als »Professor der Philosophie, San Diego, radikaler Theoretiker« angekündigt. Der Titel gibt das amerikanische Original in der New York Times wieder.

Die gegenwärtigen Studentenunruhen müssen im Zusammenhang mit einem tief verwurzelten Protest gegen die bestehende Gesellschaft, gegen ihren unmoralischen und illegalen Krieg in Vietnam, gegen ihre schreiende Ungleichheit und Ungerechtigkeit und gegen ihre allgemei75

ne Aggressivität und Heuchelei betrachtet werden. Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich nur auf diesen Zusammenhang; andere Fälle legitimen polizeilichen Einschreitens (wie die Durchsetzung der Bürgerrechtsgesetze gegen Anhänger der Rassentrennung) werden deshalb nicht angesprochen. In bestimmten Fällen ist das Einschreiten der Polizei auf dem Campus auch nach den Kriterien der Linken gerechtfertigt: wenn Gefahr für Leib und Leben besteht und bei drohender Körperverlet­ zung, auch im Falle mutwilliger Zerstörung von Einrichtungen und Gegenständen, die dem Bildungsauftrag der Universität dienen (Bibliotheken etc.). Soviel ich weiß, gehören solche Zerstörungen nicht zur Strategie und Taktik der Neuen Linken. Die Besetzung von Gebäuden und die Störung des »normalen Betriebs« sind meiner Ansicht nach keine Gründe für polizeiliches Einschreiten. Solche vorübergehenden Gesetz- und Ordnungswidrig­ keiten sind im Lichte der Verbrechen zu beurteilen, auf die sie auf­ merksam machen wollen - das anhaltende Gemetzel in Vietnam und die anhaltende Unterdrückung von rassischen und nationalen Minder­ heiten. Im Vergleich zu dieser normalen alltäglichen Gewalt, die größ­ tenteils ungestraft und unbemerkt vor sich geht, ist der Studentenpro­ test gewaltlos.

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Rede auf einem Teach-In an der University of California in San D iego am 6. Januar 1973

Im Januar 1972 legte Präsident Nixon in einer Friedensinitiative einen Acht­ punkteplan vor, der auch freie Präsidentschaftswahlen in Süd-Vietnam vor­ sah. Die Regierung Nord-Vietnams erstellte einen Kompromißvorschlag, der die wichtigsten Punkte der Amerikaner berücksichtigte, aber freie Wahlen in Süd-Vietnam ablehnte. Dennoch schien ein Friedensabkommen greifbar nahe. Am 23. März wurden die Friedensverhandlungen überraschend abgebrochen, worauf der Vietcong Ende März mit einer Großoffensive ant­ wortete. Daraufhin ordnete Nixon die Verminung der wichtigsten Häfen Nord­ vietnams an und startete seinerseits eine Gegenoffensive. Erneute Friedens­ bemühungen im Oktober, die von Sicherheitsberater Henry Kissinger und dem nordvietnamesischen Botschafter Le Duc Tho geleitet wurden, blieben erfolglos. Das Jahr 1972 war zwar von Bemühungen um einen Friedensplan geprägt, andererseits aber bombardierten die Amerikaner in den Verhand­ lungspausen immer heftiger die vietnamesischen Stellungen und zivile Ziele. Höhepunkt der amerikanischen Angriffe war die Bombardierung von Hanoi und Haiphong während der Friedensverhandlungen Mitte Dezember in Paris. In weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung stießen die militä­ rischen Exzesse auf Ablehnung und mobilisierten noch einmal die Anti-Vietnam-Kriegsbewegung. Erst am 28. Januar 1973 trat das Waffenstillstands­ abkommen in Kraft. Gerade im konservativen San Diego, einem Zentrum der Rüstungsindu­ strie, wo sich einer der größten Marinehäfen der USA befindet, verschärfte sich die Auseinandersetzung zwischen Kriegsgegnern und Kriegsbefürwor­ tern. Zentrum des Widerstandes war die Universität, der Hauptfeind der Kriegsbefürworter Herbert Marcuse. Seine Professur geriet in Gefahr, Mord­ drohungen erreichten ihn. Konservative Kräfte schalteten Zeitungsanzeigen, in denen sie die Leitung der Universität aufforderten, Marcuse zu entlassen. Als dies zu keinem Erfolg führte, boten rechte Gruppierungen wie die 77

»Legion San Diego« und die »Christian Anti-Communism Crusade« der Uni­ versitätsführung an, Marcuses Vertrag für 20.000 Dollar aufzukaufen. Auch dieses Ansinnen scheiterte. Im Herbst 1969 kam es zu einer eindrucksvollen Protestveranstaltung, als der damalige Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, die Universi­ tät besuchte. Die Studenten empfingen ihn mit einer gespentisch wirkenden »Schweigedemonstration«. Unter ihnen befand sich Herbert Marcuse. Rea­ gan betrat den Campus durch ein Spalier von schweigenden Demonstran­ ten. Kein Laut war zu hören. In die Fernsehmikrofone sagte ein reichlich ver­ störter Reagan, daß die Studenten überhaupt nicht verstünden, was in der Welt vor sich gehe. Auf die Nachfrage des Reporters, was denn die Absicht des studentischen Protests sei, antwortete Reagan: »They want to destroy the Universities«. Und der damalige Vizepräsident der USA, Spiro Agnew, äußerte sich in einem Fernsehinterview über Marcuse: »Marcuse ist ein extrem gefährlicher Professor, der das Denken der jungen Studenten vergif­ tet, ich meine es wörtlich: vergiftet.« Der Protest in San Diego erlebte einen traurigen Höhepunkt, als sich im Januar 1970 der Student George Winnie auf dem Campus mit Benzin über­ goß und anzündete. Zwischen 1970 und 1972 blieb die Situation äußerst angespannt, was auch in direktem Zusammenhang mit der Verhaftung von Angela Davis am 13. Oktober 1970 in New York stand. Kontinuierlich fanden Diskussionsrunden, politische Aktionen und Protestmärsche statt. Die hier erstmals veröffentlichte Rede hielt Herbert Marcuse am 6. Janu­ ar 1973 auf einer Protestveranstaltung auf dem Campus der Universität von San Diego. Weitergehende Informationen zu diesem Teach-In konnte der Herausgeber nicht ermitteln. Das maschinengeschriebene Redemanuskript (HMA 484.00) umfaßt im Original acht Seiten und ist mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Der Titel wurde vom Herausgeber gewählt.

Warum sind wir in Vietnam? Schon wieder Vietnam - fangt schon wieder von vorne an! Und hört nicht auf, von vorne anzufangen, solange wir in Indochina sind, weil dies darüber entscheiden wird, ob wir hier in diesem Lande und all die anderen Völker noch imstande sein werden, eine bessere Gesell­ schaft aufzubauen und zu erleben. Dieses: Warum sind wir in Vietnam? 78

Fangt an, mit der Orwellsprache zu brechen, mit der offiziellen Propaganda und mit dem Regierungssprecherjargon. Antwortet: Um die nationalen Befreiungskräfte mit allen Mitteln daran zu hindern, die Kontrolle über eine strategisch und wirtschaftlich wichtige Region zu gewinnen. Nicht zwangsläufig ein »Krieg gegen den Kommunismus«! Friedliche und sachliche »Verständigung« mit den mächtigen kommunistischen Ländern! Kämpfen wir für dieses Ziel der Regie­ rung? Indem wir eine der blutigsten, korruptesten und unpopulärsten Diktaturen der neueren Zeit unterstützen, deren Führer in einer aus­ gezeichneten Erpresserposition ist? Ich glaube zwar, daß Thieu einer friedlichen Regelung zustimmen müßte, wenn Nixon, in Ermangelung der Kapitulation seines Feindes, tatsächlich Frieden will. Will er? Die Frage ist nicht, ob Nixon Frieden will, sondern ob sich die US-Politik grundsätzlich mit Frieden vereinbaren läßt. Werfen wir einen Blick auf die Tatsachen: - Im Oktober wurde ein Abkommen geschlossen - nur um von Washington nach ein paar Tagen widerrufen zu werden (was die Regierung verschweigt). - Der Frieden war vor den Wahlen »greifbar nahe«, nur um nach den Wahlen wieder »unerreichbar« zu sein. - Das Flächenbombardement und die Bombenteppiche wurden wäh­ rend der Verhandlungen ausgeweitet und intensiviert, nur um zu bestimmten Anlässen gestoppt zu werden, die für die Regierung zu kompromittierend sein könnten: Weihnachten, Neujahr oder Inaugu­ ration Day. Warum hat die US-Politik so ein vitales Interesse an einem immer explosiveren Engagement in Indochina? Warum kann diese Politik nirgendwo in der Dritten Welt, und auch nicht in den fortgeschritte­ nen Ländern, den Sieg einer Befreiungsbewegung akzeptieren? Weil er sich über andere kolonisierte Regionen ausbreiten würde. Er würde zeigen, wie verwundbar die technische Supermacht gegen­ über einer Volksrevolution ist. Und er würde die Hegemonie bedro­ hen, auf der das anhaltende Wachstum der US-Ökonomie beruht. Des­ halb müssen die Menschen in diesem Land weiter die menschlichen und materiellen Kosten des Kriegszustands tragen. Sie müssen daran gewöhnt werden, mit Inflation, mit Bildungs- und Sozialstaatsabbau, mit Spitzeln und elektronischer Überwachung, mit Rassismus und ver­ schärfter Ausbeutung zu leben. Weil der Abbau der Kriegswirtschaft in 79

der Tat eine ernsthafte Bedrohung für einen Wohlstand ist, der sich nicht an menschlichen Qualitäten, sondern am steigenden Bruttosozi­ alprodukt bemißt, Vergeudung und Zerstörung inbegriffen. Aber seien wir ehrlich. Warum sollen wir etwas dagegen tun? Der Krieg betrifft uns nicht besonders. Wir haben unseren Spaß, es geht uns (vergleichsweise!) gut, und die Regierung definiert die »nationale Sicherheit« und kümmert sich darum. Und wenn ich behaupte, daß es so etwas wie Solidarität mit leidenden Menschen gibt (und seien sie noch so weit weg und nicht weiß), daß es ein tiefsitzendes Gefühl, einen tiefen Haß gegen die Verursacher des Leidens gibt - dann ist das altmodisch, romantisch oder »liberaler Scheiß«. Man kann sehr gut ohne solche störende Gefühlsmoral leben. Man hat uns längst beigebracht, daß die Politik keinen ethischen oder moralischen Normen gehorcht, daß auch die Wirtschaft keinen ethischen oder moralischen Normen gehorcht. Wenn es so wäre, wür­ de das ganze System, das auf Ungleichheit, profitablem Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit aufbaut, nicht funktionieren. Schon daran könnt ihr sehen, daß moralische Fragen zu einer politischen Kraft, oder sogar zu einer revolutionären Kraft werden können! Währenddessen führt die unmoralische Zustimmung zu dieser Gesellschaft zu einer systematischen Verrohung; sie bewirkt eine Ent­ fremdung und Frustration, die sich in eskalierender Aggression, Zer­ störung und Repression Luft macht. Vietnam ist nur die Extremform dieser Erziehung zu Brutalität, Ignoranz, Unglück und Apathie in unserem eigenen Land: Lerne den anderen auszustechen, lerne etwas zu leisten und zu konkurrieren, ler­ ne zu betrügen und nicht erwischt zu werden. Und lerne schließlich mit Napalm zu bomben und zu töten ohne das hemmende Schuldge­ fühl - jenseits von Gut und Böse. Die Regierung, die sich diese Gesell­ schaft gegeben hat, hat sich in gleicher Weise jenseits von Gut und Böse postiert, jenseits von Recht oder Unrecht, jenseits von wahr oder falsch. Befreit von allen altmodischen Verpflichtungen, von allen Ein­ schränkungen ihrer Macht durch den demokratischen Prozeß. Die Regierung operiert jenseits jeder wirksamen Kontrolle durch das Volk und kontrolliert und steuert umgekehrt eine willfährige Bevölkerung. Vielleicht niemals in der Geschichte hat ein demokratisch gewähltes Parlament, der Kongreß, haben die Vertreter des Volkes bei vitalen Entscheidungen so schamlos ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen 80

preisgegeben. Vielleicht niemals in der Geschichte hat ein freies Volk so leicht auf seine politische Freiheit verzichtet. Vielleicht niemals in der Geschichte wurden Betrug und Korruption so reich belohnt und so leicht hingenommen: »So ist es nun mal.« Der Krieg in Vietnam und die innenpolitische Repression finden auf dem Rücken einer schweigenden, apathischen oder defätistischen Bevölkerung statt. Die Menschen sind an den massiven Kriegsverbre­ chen beteiligt, sie machen sich schuldig, auch wenn das Schuldgefühl immer noch wirksam verdrängt wird. Schuldig weshalb? Weil sie sich das alles gefallen lassen, weil sie solche Führer wählen, weil sie die Ver­ letzung der Grundrechte eines souveränen Volkes hinnehmen. Aber: Sie können etwas dagegen tun. Dies ist noch keine faschisti­ sche Gesellschaft! Sie können die Kriegstreiber aus dem Amt wählen. Ihre Vertreter können gegen den Kriegshaushalt stimmen, und wenn sie sich gegen das Präsidentenveto nicht durchsetzen können, haben sie noch andere Druckmittel. Sie können darauf bestehen, daß die Medien (die ja schon eine wirksame Selbstzensur ausüben!) von der Einschüchterung durch die Regierung befreit werden. Warum tun sie das nicht? Das ist eine Identifikation mit den Führern! Und auch ihr könnt als privilegierte Minderheit etwas tun. Erzieht euch selbst, wenn es eure Erzieher nicht tun. Versucht zu begreifen, was los ist, was euch und euren Kindern bevorsteht. Sprecht mit ande­ ren, durchbrecht die Kommunikationsbarrieren, brecht mit der Orwellschen Sprache. Organisiert Demonstrationen, die nicht zu überhören sind und nicht überhört werden. Lernt den politischen Wert der Wiederholung. Und lernt, das vitale Bedürfnis nach Organi­ sation zu organisieren, über und jenseits aller unrealistischen ideologi­ schen Streitigkeiten der Linken. Organisiert eine Einheitsfront, damit ihr zahlenmäßig stärker werdet. Frieden jetzt, Abzug aus Indochina, Wiedergutmachung.

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1968 und die Studentenbewegung

Die Pariser Revolte im Mai 68

Zu Beginn des »Pariser Mai«, aus dem Daniel Cohn-Bendit als einer der be­ deutendsten Protagonisten der französischen Studentenbewegung hervor­ gehen sollte, hielt sich Herbert Marcuse in der Hauptstadt Frankreichs auf. Er erreichte Paris am 1. Mai und fuhr am 12. Mai, also einen Tag nach den turbulenten Barrikadenkämpfen im studentischen Viertel Quartier Latin, wei­ ter nach Berlin, wo er am Abend des 13. Mai an der Freien Universität über »Geschichte, Transzendenz und sozialen Wandel« sprechen sollte. Seine Anwesenheit in zwei Zentren der studentischen Bewegung hatte ihm den Vorwurf eingebracht, er »hechele« der Bewegung hinterher. Das war eindeu­ tig falsch. Der Zufall wollte es, daß sich Marcuse genau zu dem Zeitpunkt an diesen beiden Orten aufhielt, als die Studentenbewegung einen ungeheu­ ren Zulauf erhielt und in militanten Straßenkämpfen endete, die weltweites Aufsehen erregten. Die Kommission der UNESCO hatte Marcuse bereits zu Beginn des Jah­ res 1968 aus Anlaß des 150. Geburtstages von Karl Marx zu einer wissen­ schaftlichen Konferenz nach Paris eingeladen. Der Titel der Tagung, die vom 5. bis 7. Mai dauerte, lautete »Karl Marx et la pensée scientifique«. Die vierte Sektion, die am 6. Mai stattfand und von dem britischen Marxspezialisten Eric Hobsbawn geleitet wurde, arbeitete zu dem Thema »Marx et la conditi­ on de l'homme«. Marcuse hielt hier den Vortrag »Re-Examination of the Con­ cept of Revolution«.1 Die anschließende Diskussion über die zentralen The­ sen dieses Beitrages konnte nicht zuende geführt werden. Daraufhin fand am Abend des 7. Mai eine Podiumsdiskussion statt, an der auch der dama­ lige französische Kommunist Roger Garaudy2, der ägyptische Professor für Philosophie Anouar Abdel Malek und die sowjetischen Professoren für Mar­ xistische Theorie Timofeev und Zamoskin teilnahmen. Alle kritisierten Marcuses scharfe Angriffe auf die orthodox-marxistische Lesart: Das Proletariat sei auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern das revolutionäre 84

Gesamt-Subjekt. Stattdessen formulierte Marcuse hier seine als »Randgrup­ pentheorie« bekanntgewordene These, die out-casts, die Marginalisierten, die Menschen in den Elendsvierteln der Metropolen und die Rebellen der Bewegung wirkten als »Katalysatoren« für einen möglichen revolutionären Prozeß. Im August 1968 hielt sich Marcuse erneut in Europa auf. Auf der Adria­ insel Korcula nahm er vom 14. bis 24. August an der 5. internationalen Som­ merschule der jugoslawischen »Praxis-Gruppe« teil. Dort diskutierte er unter anderen mit Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Ernst Fischer, Agnes Heller und Iring Fetscher über »Karl Marx und die Revolution«. Anschließend erholte er sich ein paar Tage in Pontresina in der Schweiz. Von dort schrieb er an Leo Löwenthal: »Lieber Leo, es ist total verrückt: Reporter und Fotografen verfol­ gen mich, und die europäischen Zeitungen veröffentlichen meine Aufent­ haltsorte und was ich gemacht habe! Ein schlechter Scherz des Weltgeistes. Nun haben wir einen Rückzugsort hier in den Bergen gefunden, denken noch immer an Dich und die Zeit, die wir in Carmel Valley verbracht haben. Sei gesegnet!«3 Kurz nach seiner Rückkehr an die Universität in San Diego organisierte das Department of Philosophy eine Veranstaltung mit Herbert Marcuse zu den Ereignissen in Europa. Sie fand am 23. Mai statt. Marcuse sprach vor über 500 Zuhörern über die Unruhen in Paris und seine Eindrücke über die Studentenbewegung in Berlin. Der hier erstmals in deutscher Sprache abge­ druckte Text wurde 1968 von einigen amerikanischen Zeitschriften nachge­ druckt.4 Auch in dem ausführlichen Interview »Marcuse defines his new Left Line«, das im Oktober 1968 in New York Times Magazine abgedruckt wur­ de, kommt er immer wieder auf seine Erfahrungen aus dem Mai 1968 in Paris zu sprechen. Die Übersetzung folgt dem transkribierten Tonbandmitschnitt. Die Auszüge aus der anschließenden Diskussion werden erstmals publiziert. Das engbeschriebene Typoskript umfaßt fünf, die anschließenden Antworten Marcuses vier Seiten (HMA, ohne Signatur). Der Titel wurde vom Herausge­ ber gewählt.

Anmerkungen 1

Der Vortrag wird im 5. Band dieser Ausgabe erstmals in deutscher Sprache publi­ ziert.

2

Der Ex-Kommunist Roger Garaudy gilt heute als ein Chefideologe der rechten Revi­ sionisten. Er wurde im Februar 2004 von einem Gericht in Paris als »Negationist«

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wegen »Leugnung des Holocausts« zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Garaudy war schuldig befunden worden, in seinem 1995 erstmals erschienenen Buch Die Gründungsmythen der israelischen Politik (Les mythes fondateurs de la politique israelienne) den Völkermord an den Juden durch die deutschen Nationalsozialisten verharmlost zu haben. 3

Herbert Marcuse an Leo Löwenthal, unveröffentlichter Brief vom 28. August 1968. (Abs. Grand Hotel Kronenhof Bellavista, Pontresina, Schweiz). In Carmel Valley, süd­ lich von San Francisco, besaß Leo Löwenthal ein Ferienhaus, in dem sich Marcuse 1968 eine zeitlang versteckte. Leo Löwenthal Archiv, Stadt- und Universitätsbiblio­ thek Frankfurt am Main.

4

The Paris Rebellion, in: The Peace News, L.A., 28. Juni 1968, S. 6-7; The French Revolution, in: Canadian Dimension, Vol. 5, No. 6, September/Oktober 1968, S. 20-23 (HMA 357.00).

Die Bewegung hat ganz harmlos angefangen ... als eine Bewegung für die Universitätsreform. Ausgelöst wurde das ganze anscheinend durch eine Demonstration in Nanterre, dem neuen Ableger der Pariser Uni­ versität, und zwar nach Disziplinarmaßnahmen gegen Studenten, die an einer Vietnamdemonstration teilgenommen hatten. Daraufhin gab es auch eine Demonstration in Paris, an der Sorbonne, und zwar mit den üblichen Forderungen - nämlich nach einer radikalen Reform der völlig überholten, mittelalterlichen Universitätsstruktur. Die wichtig­ sten Forderungen waren die Einstellung von tausend neuen Professo­ ren, die Einrichtung von neuen Hörsälen und Bibliotheksarbeits­ plätzen und eine tiefgreifende Reform des unglaublich strengen, wahnsinnigen Prüfungssystems. Um diesen Forderungen mehr N ach­ druck zu verleihen, haben die Studenten demonstriert, und sie demon­ strierten vor allem im Innenhof der Sorbonne. Aus Gründen, die kei­ ner richtig versteht - es war eine ganz friedliche Demonstration - , hat der Rektor, offenbar auf Veranlassung des Innenministers, die Polizei gerufen, um den Hof räumen zu lassen. Die Polizei kam, und sie ist zum erstenmal in der Geschichte dieser Universität in die Sorbonne einge­ drungen. Das war ein historisches Novum. Die europäischen Universitäten genießen gegenüber der Polizei Immunität. Die Polizei hat in der Uni­ versität nichts zu suchen, und das ist eine Tradition. Eine jahrhun­ dertealte Tradition, die in Frankreich und anderen Ländern auch ein86

gehalten wird. Es war das erste Mal in der Geschichte, daß die Polizei eingeschritten ist und gewaltsam den Innenhof räumte - mit ein paar hundert verletzten Studenten. Es folgten immer größere Demonstra­ tionen, die in ganz abgelegenen Teilen von Paris anfingen und im Quartier Latin zusammenliefen. Die Sorbonne war zwischenzeitlich geschlossen worden, und die ganze Gegend rund um die Sorbonne war von Polizei besetzt und abgeriegelt. Jetzt verlangten die Studenten die Wiedereröffnung der Universität. Das Quartier Latin, das sie als ihr eigenes Viertel ansahen, sollte von der Polizei geräumt werden und wieder ihnen gehören. Sie haben sich in der Sorbonne versammelt, und weil es hieß, daß die Polizei die Gegend wieder gewaltsam räumen würde, wurden Bar­ rikaden gebaut. Das war eine ganz spontane Aktion. Die Studenten nahmen einfach die vielen Autos, die nicht nur auf der Straße, sondern auch auf dem Bürgersteig parkten, wie das in Paris üblich ist, kippten sie ohne jeden Respekt vor dem Privateigentum um und blockierten die Straßen damit. Nicht die großen Boulevards, das wäre unmöglich gewesen, sondern die engen alten Straßen hinter der Sorbonne. Auf die Autos packten sie dann alles mögliche - Holzbretter und Kisten, Sperr­ müll, Kartons, alte Blechtonnen und was sie sonst noch auftreiben konnten. Dann rissen sie die Verkehrsschilder heraus - Einbahnstra­ ßenschilder, Stopschilder oder was sonst noch - und lockerten damit das Straßenpflaster. (Ich erzähle euch das hier nicht, damit ihr lernt, wie man eine Revolution macht; das würde hier sowieso nicht gehen, weil das Pflaster viel zu fest ist.) Mit diesen Straßenschildern lockerten sie also die guten alten Pariser Pflastersteine, die schon in der 48erRevolution und 1870 gute Dienste geleistet hatten, und benutzten sie als Waffen gegen die Polizei. Sie bewaffneten sich auch mit den Dekkeln der alten Blechtonnen und mit Stahlketten, und sie haben alles, was sie finden konnten (vor allem dieses Eisenzeug, wo die Straßen­ bäume drinstecken), dreieinhalb bis vier Meter hoch auf die Barrika­ den gepackt, also oben auf die Autos. Und die Parole war, die Polizei nicht anzugreifen - sie nicht anzugreifen, sondern sie auf den Barrika­ den zu empfangen. Alles ging dann gut bis gegen halb drei Uhr morgens, als die Poli­ zei schließlich den Befehl bekam, die Straßen zu räumen und die Bar­ rikaden zu entfernen. Es war so, daß die Polizei Gasgranaten einsetz­ te, Tränengas, angeblich auch Chlorgas - sie streitet das ab, aber die 87

Tatsachen scheinen es zu belegen. Ich habe selbst gesehen, daß die Stu­ denten alle rote Gesichter hatten, brennende Haut, rote Augen. Der Einsatz dieses Gases führte natürlich dazu, daß die Barrikaden ge­ räumt werden mußten. Keiner kann dieses Gas ohne Gasmaske aushalten. Mit Gasmas­ ken wären sie mit der Polizei vielleicht fertig geworden, weil die Pari­ ser Polizei keine Schußwaffen einsetzt. Sie haben keine Pistolen und Revolver. Sie haben nur ihre Gummiknüppel, und sie haben eine ganz üble Waffe: Bleiwesten. Die rollen sie zusammen und schlagen mit ihnen zu. Die Sicherheitskompanien haben außerdem Gewehre Karabiner - , was aber für die Studenten ein Schutz ist. Sie können ja nicht einfach mitten im Handgemenge schnell zum Gewehr greifen, wie man eine Pistole oder einen Revolver abfeuert. Das Gas hat die Studenten also gezwungen, die Barrikaden zu räu­ men und zu fliehen, woraufhin die Polizei offenbar mit Brandgranaten geschossen und die Barrikaden in Brand gesetzt hat. Ich möchte dar­ auf hinweisen, daß die Bevölkerung des Quartier Latin - und das ist der größte Unterschied zwischen den Ereignissen in Paris und den hie­ sigen Ereignissen - die ganze Zeit über entschieden mit den Studenten sympathisierte. Sie haben die Polizei aus den Fenstern mit allen mög­ lichen Gegenständen beworfen (Unruhe) ... in Paris werden immer noch Nachttöpfe benutzt (Gelächter), und sie haben das genommen und alle möglichen Abfälle. Die Polizei hat mit diesen Gasgranaten in die Wohnungen zurückgeschossen. Die Studenten mußten also die Barrikaden räumen. Sie wollten fliehen, und jetzt stellte sich heraus, daß ihre eigenen Barrikaden zum Hindernis wurden, weil sie die Straßen an beiden Enden verbarrika­ diert hatten, auf beiden Seiten, und sie kamen nicht mehr heraus. Sie wurden buchstäblich zusammengeschlagen, wie einer der Professoren - ich möchte übrigens hinzufügen, daß jeder, der von den Professoren mit dabei gewesen ist, von Anfang bis Ende ganz energisch auf der Sei­ te der Studenten stand. Sie sind auf die Straße gegangen, sie waren mit ihnen auf den Barrikaden, sie haben geholfen, wo immer sie konnten, und so weiter. Jetzt versperrte also die Barrikade am anderen Straßen­ ende den Fluchtweg, und die Polizei hatte leichtes Spiel. Es gab insge­ samt etwa achthundert Verletzte in jener Nacht, und von diesen Acht­ hundert waren ungefähr Dreihundertundfünzig bis Vierhundert Polizisten, was kein schlechtes Verhältnis ist (Gelächter). Damit war 88

aber die Demonstration und der Studentenprotest keineswegs zu Ende. Ihr junger Anführer Cohn-Bendit, der die Barrikaden organisiert hatte und die ganze Zeit bis sechs Uhr morgens mit dabei gewesen ist, sagte nach der verlorenen Straßenschlacht: »Jetzt gibt es nur noch eins, nämlich den Generalstreik.« Und innerhalb von einer Stunde ging er zu den mächtigen französischen Gewerkschaften. Innerhalb von einer Stunde brachte er die großen Gewerkschaften dazu, für den kommenden Montag den Generalstreik auszurufen. Wie ihr wißt, wurde der Streikaufruf hundertprozentig befolgt. Jetzt möchte ich euch erklären, warum dieses Ereignis nach meiner Überzeugung von so großer Bedeutung ist. Zuallererst sollte es ein für allemal diejenigen kurieren, die immer noch am intellektuellen Min­ derwertigkeitskomplex leiden. Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß in diesem Fall die Studenten den Arbeitern gezeigt haben, wo es lang geht. Und die Arbeiter sind ihnen gefolgt. Die Parole und das Bei­ spiel kam von den Studenten. Sie waren buchstäblich die Avantgarde - nicht einer Revolution, weil es keine Revolution ist, aber die Avant­ garde einer Aktion, die sich spontan in eine Massenaktion verwandelt hat. Und das ist meiner Ansicht nach hier der entscheidende Punkt. Was wir in Paris in diesen W ochen erlebt haben, ist die plötzliche Auf­ erstehung und Wiederkehr einer Tradition, und zwar einer revolutio­ nären Tradition, die in Europa seit Anfang der zwanziger Jahre einge­ schlafen war. Die spontane Ausweitung der Demonstrationen und ihre Intensivierung - vom Barrikadenbau bis hin zur Besetzung von Gebäuden. Zuerst der Universitätsgebäude, dann der Theater, dann der Fabriken, Flughäfen, Fernsehstationen und dergleichen mehr. Eine Besetzung natürlich nicht mehr durch die Studenten, sondern Stück für Stück durch die Arbeiter und Angestellten dieser Institutio­ nen und Unternehmen. Die alte Protestbewegung war von den kommunistisch kontrollier­ ten Gewerkschaften und von der kommunistischen Tageszeitung L'H u m an ité zuerst heftig kritisiert worden. Sie haben den Studenten nicht nur mißtraut, sie haben sie auch beschimpft. Auf einmal ist ihnen wieder der Klassenkampf eingefallen, den die Kommunistische Partei seit Jahrzehnten auf Eis gelegt hat. Sie haben die Studenten einfach als Bürgersöhnchen bezeichnet, und sie wollten sich von diesen Bürgersöhnchen nichts sagen lassen. Eine verständliche Haltung, wenn wir 89

im Auge behalten, daß sich die studentische Opposition von Anfang an nicht nur - ich komme noch darauf zurück - gegen Frankreichs kapi­ talistische Gesellschaft außerhalb der Universitäten gerichtet hat, son­ dern auch gegen den stalinistischen Aufbau des Sozialismus. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Sie hat sich auch entschieden gegen die Kommunistische Partei in Frankreich gerichtet, die - so komisch das hierzulande auch klingt - als ein Teil des Establishments angesehen wurde und wird. Als eine Partei, die noch keine Regierungs­ partei ist, die aber nichts anderes im Sinn hat, als so schnell wie mög­ lich an die Regierung zu kommen. Und das war in Frankreich seit Jah­ ren die Politik der Kommunistischen Partei gewesen. Wenn wir uns fragen, wie es dazu kam, fällt die Antwort sehr schwer. Wie ich schon sagte, war die Bewegung zuerst auf die Universität beschränkt, und die Forderungen waren zuerst akademischer Natur - die Forderung nach einer Universitätsreform. Dann kam aber ganz schnell die Erkenntnis, daß die Universität schließlich ein Teil der Gesellschaft ist, ein Teil des Bestehenden, und daß die Bewegung nichts ausrichten wird, wenn sie nicht über die Universität hinausgeht und diejenigen Stellen trifft, wo die Gesellschaft als ganze ihre Schwachpunkte hat. Sie würde sonst isoliert bleiben. Deshalb wurde lange vor dem Ausbruch dieser Ereig­ nisse der systematische Versuch unternommen, aktiv die Arbeiter zu gewinnen. Gegen das gewerkschaftliche Verbot, sich der Protestbewe­ gung anzuschließen. Die Studenten wurden in die Fabriken geschickt, in die Betriebe in Paris und in den Vororten. Sie sprachen mit den Arbeitern, und sie haben anscheinend Sympathien und Anhänger gefunden, vor allem unter den jüngeren Arbeitern. Als sie dann auf die Straße gingen, als sie anfingen, Gebäude zu besetzen, sind die Arbeiter ihrem Beispiel gefolgt. Sie haben ihre For­ derungen - ihre eigenen Forderungen, vor allem nach höheren Löh­ nen und besseren Arbeitsbedingungen - mit den akademischen Forde­ rungen der Studenten verbunden. Beide haben sich spontan und keineswegs koordiniert miteinander verbunden, und damit ist die Stu­ dentenbewegung tatsächlich zu einer sozialen Bewegung geworden, zu einer breiten politischen Bewegung. An diesem Wendepunkt, als schon hunderttausende von Arbeitern streikten und in Paris und in den Vororten die Fabriken besetzten, entschloß sich die kommunisti­ sche Gewerkschaft, die CGT, die Bewegung zu unterstützen und einen offiziellen Streik daraus zu machen, eine offizielle Demonstration - die 90

Politik, die sie seit Jahrzehnten verfolgt hatten: Sobald ihnen eine Bewegung aus der Hand zu gleiten droht und nicht mehr von der Kom­ munistischen Partei kontrolliert wird, wird sie sofort unterstützt und damit vereinnahmt und von ihnen organisiert. Die politischen Forde­ rungen kann man jetzt so zusammenfassen: gegen das autoritäre fran­ zösische Regierungssystem und für die Politisierung der Universität, das heißt für einen erkennbaren und funktionierenden Zusammen­ hang zwischen dem, was im Hörsaal gelehrt wird, und dem, was sich außerhalb des Hörsaals abspielt, um damit die Kluft zwischen mittel­ alterlichen, überholten Lehrmethoden und Lehrplänen zu überbrükken und um die Realität, die schreckliche und elende Realität außer­ halb des Hörsaals zu erreichen. Politisierung der Universität, volle Rede- und Ausdrucksfreiheit - mit einer sehr interessanten Einschrän­ kung. Cohn-Bendit hat bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt, daß man die Rede- und Ausdrucksfreiheit mißbrauchen würde, wenn man die Protagonisten der amerikanischen Politik und die Befürworter des Vietnamkriegs toleriert (Beifall). Das Recht auf Redefreiheit war also nicht so zu interpretieren, daß man damit diejenigen toleriert, die mit ihrer Politik und mit ihrer Propaganda darauf hinarbeiten, die letzten Reste von Freiheit zu beseitigen, die es in dieser Gesellschaft noch gibt, und die Welt, oder große Teile der Welt, in ein neokoloniales Imperi­ um zu verwandeln. Das wurde ganz deutlich gesagt. Eine andere For­ derung war die Schaffung von Arbeitsplätzen. Eine der Sorgen, eine der wirklichen Ängste der Studenten ist die, daß sie jahrelang studiert haben und eine Ausbildung absolviert haben - vor allem in den Natur­ wissenschaften als Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und so wei­ ter - , und daß sie dann, wenn es darum geht, einen Job zu finden und seinen Lebensunterhalt zu verdienen, keine Arbeit bekommen. Die Arbeitslosigkeit ist nämlich in Frankreich wieder sehr hoch, so daß diese ganze Generation mit der Gefahr konfrontiert ist, keinen Job zu finden. Auch darin verbindet sich unmittelbar eine akademische For­ derung mit der politischen Forderung, dem Protest gegen die bestehen­ de Gesellschaft. Die Bewegung ist, oder sie wird, wenn man so will und auch das wieder ganz spontan - , ganz entschieden zu einer sozia­ listischen Demonstration und zu einer sozialistischen Bewegung aber wie ich schon sagte und wie ich noch einmal betonen will, zu einer sozialistischen Bewegung, die von Anfang an gegen den repressiven 91

Aufbau des Sozialismus ist, der in den sozialistischen Ländern bis zum heutigen Tag vorgeherrscht hat. Das erklärt wohl die vorgeblich maoistischen Tendenzen, die wieder vor allem von der kommunistischen Presse benutzt wurden, um die Studenten als Trotzkisten, Revisioni­ sten und Maoisten hinzustellen - Maoisten in dem Sinne, daß Mao auf die eine oder andere Weise zum Symbol für eine Tendenz geworden ist, die sich gegen den Stalinismus richtet, mit seiner bürokratischen Repression, die für den sozialistischen Aufbau der Sowjetunion und des Sowjetblocks charakteristisch ist. Darin kommt noch ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt der Studentenbewegung zum Vorschein, und hier gibt es, glaube ich, einen gemeinsamen Nenner der amerika­ nischen Bewegung und der französischen Bewegung. Es ist ein totaler Protest, ein Protest, der nicht nur - weil er zwei­ fellos durch den Protest gegen bestimmte Mißstände ausgelöst wurde - auf bestimmte Unzulänglichkeiten zielt, sondern gleichzeitig ein Pro­ test gegen das ganze System der Werte, Ziele und Leistungen, die in der bestehenden Gesellschaft gefordert und praktiziert werden. Es ist mit anderen Worten eine Weigerung, die Kultur der bestehenden Gesell­ schaft zu akzeptieren, sie weiter hinzunehmen und damit anzuneh­ men. Nicht nur die ökonomischen Verhältnisse, nicht nur die politi­ schen Institutionen, sondern das ganze, für sie völlig verrottete Wertesystem. Und in dieser Hinsicht kann man hier, glaube ich, auch von einer Kulturrevolution sprechen. Einer Kulturrevolution in dem Sinne, daß sie sich gegen das ganze kulturelle Establishment richtet, einschließlich der herrschenden Moral. Gut, wenn ihr jetzt die Frage stellt, wie wir erklären können, daß die Studentenbewegung in Frank­ reich bei der Bevölkerung auf spontane Unterstützung und Sympathie gestoßen ist und in der Arbeiterklasse, in der organisierten wie auch in der nicht-organisierten, ganz entschiedene Unterstützung gefunden hat, während in diesem Land das genaue Gegenteil der Fall ist, dann ist die Antwort, die uns dazu einfällt, eine doppelte. Erstens ist Frankreich noch keine Wohlstandsgesellschaft, das heißt: die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit liegen immer noch weit unter dem amerikanischen Lebensstandard. Was natürlich für eine viel losere Identifikation mit dem Bestehenden sorgt als hierzulande. Zweitens ist die politische Tradition der französischen Arbeiterbewegung immer noch in einem erheblichen Maße lebendig, und ich könnte noch hinzufügen, eine ziemlich metaphysische Erklä92

rung, der Unterschied zwischen den Aussichten, die in Frankreich bestehen, den Aussichten auf eine radikale Bewegung in Frankreich und hier in diesem Lande ließen sich auch so zusammenfassen, daß Frankreich schließlich in hundert Jahren vier Revolutionen erlebt hat. Das begründet natürlich so etwas wie eine revolutionäre Tradition, die sich wieder entzünden und lebendig machen und erneuern läßt, wenn sich die Gelegenheit bietet. Laßt mich jetzt ein paar Worte über die Studentenbewegung in Deutschland hinzufügen. Ich kann nur über die Studentenbewegung in Berlin sprechen, ich habe in Deutschland diesmal keine anderen Orte besucht. Und da hat es eine erhebliche Veränderung gegeben, seit ich letztes Jahr das letzte Mal in Berlin war. Die Bewegung ist viel radi­ kaler geworden, und zwar in dem Sinne, daß sie ständig nach konkre­ ten Aktionen verlangt - daß sie ständig konkrete Aktionen verlangt und alle Gespräche, Diskussionen oder theoretischen Anstrengungen ablehnt. Das Verlangen nach unmittelbarer Praxis ist so stark, daß es sich fast jeden Tag bemerkbar macht. Die Vollversammlungen in der Freien Universität finden buchstäblich jeden Tag statt. Der größte Hör­ saal steht den Studenten für politische Versammlungen zur Verfügung und wird ständig benutzt. Übrigens ist die Berliner Universität meines Wissens die einzige, wo die Satzung eine Studentenvertretung in den Gremien vorsieht. Die Studentenvertreter sitzen im Akademischen Senat und haben Sitz und Stimme bei der Berufung und Entlassung von Hochschullehrern (Beifall). Das steht in der Satzung der Universität, die, glaube ich, 1948 gegründet wurde. Nun hat diese Radikalisierung - und ich denke, wir können darüber sprechen - ihre Gefahren. Sie konfrontiert nämlich die Studentenbewegung mit weit überlegenen Kräften, gegen die sie nichts ausrichten kann. Rein zahlenmäßig hat die Pariser Studenten­ bewegung zwischen, sagen wir, anfangs 10.000 bis 15.000 in Paris bis zuletzt etwa 80.000 bis 100.000 Menschen umfaßt. Nun kann man mit dieser Zahl Gebäude besetzen, man kann sie auch eine Zeitlang besetzt halten. Besonders wenn man dazu noch die Unterstützung aus der Bevölkerung hat. Nichts dergleichen in Berlin. Die Studentenbe­ wegung ist ganz entschieden mit der offenen Feindseligkeit der Berli­ ner Bevölkerung und mit der offenen Feindseligkeit der organisierten Arbeiterschaft konfrontiert. In dieser Hinsicht sieht es ganz ähnlich aus wie hier in den Vereinigten Staaten. Unter diesen Bedingungen ist 93

also eine Politik von verschärften Demonstrationen - Demonstratio­ nen, die über ein bloßes Ritual hinausgehen wollen und die sich auf eine Konfrontation mit der Polizei einlassen - ein gefährliches Unter­ nehmen - aber, und das will ich hier ganz deutlich und ehrlich sagen, eine Tendenz, gegen die man, glaube ich, im Augenblick eigentlich nichts sagen kann. Auch wenn ich versucht habe, das zu tun und auf diese Gefahren hinzuweisen. Es hat aber keinen Zweck, weil sie die Geduld verloren haben. Sie glauben nicht - und das kann ihnen keiner vorwerfen - an den demo­ kratischen Prozeß, wie er in Deutschland abläuft. Die Brutalität der deutschen Polizei kennen sie nur allzu gut. Sie wissen auch, in wel­ chem Maße die Regierung der Bundesrepublik immer noch von den Einstellungen des Nazisystems durchsetzt ist, und sie kennen auch die immer noch sehr autoritäre Universitätsstruktur und die feindselige Haltung der meisten Hochschullehrer und Professoren. Wieder ganz im Gegensatz zur Lage in Frankreich. Unter diesen Umständen sind sie jetzt einfach der Meinung, daß es keinen Sinn hat, wenn sie nichts tun - wenn sie nicht in einer Weise etwas tun, daß die Menschen mit eige­ nen Augen und Ohren sehen und hören, was los ist, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre Forderungen der Gesellschaft leibhaftig und direkt einzuhämmern. Die Konsequenz ist: je radikaler, je nonkonformisti­ scher diese Opposition zum Ausdruck kommt, desto besser. Anders gesagt, von der Verbrennung von Symbolen bis zum Einwerfen von Schaufenstern und anderen diesbezüglichen Anstrengungen und Aktionen dieser Art wird alles versucht und versucht man alles zu tun, um gehört und gesehen zu werden, das heißt: um die alles vereinnah­ mende Macht dieser Gesellschaft zu durchkreuzen. Nun nimmt dies besonders für Nichtstudenten manchmal etwas unerquickliche Formen an. Besonders in der Universität und auf den Vollversammlungen. Es hat auch eine ganz entschiedene Tendenz, alles zu verurteilen, was nicht auf der Linie dieser gesteigerten Aktion für eine Politik um der Aktion willen liegt - all dies als »liberal« zu ver­ urteilen. Gut, ich will den Ausdruck nicht benutzen, der in diesem Zusammenhang verwendet wird und ständig gerufen wird, wenn jemand eine nicht ganz so radikale Meinung äußern will. »Liberal« ist jedenfalls zum Schimpfwort geworden. Daran gibt es keinen Zweifel, und wenn wir uns noch einmal die Tradition des deutschen Liberalis­ mus ansehen, und nicht nur des deutschen, dann ist es zumindest ver94

ständlich, daß dies zum Schimpfwort geworden ist. Und wieder ist es heutzutage ganz schwierig, sich wirklich gegen diese Tendenz zu stel­ len, denn wenn man sich die ganze Bewegung ansieht, wenn man sich ansieht, in welch erstaunlichem Maße sie, ohne es zu wollen, eine internationale Bewegung geworden ist und tatsächlich auch die einzi­ ge wirkliche internationale Opposition ist, die wir heute haben, dann zögert man doch sehr stark und schreckt sehr stark davor zurück, selbst die unerfreulichen und unreif linksradikalen Seiten der Bewe­ gung zu verurteilen. Man meint, sich damit identifizieren zu müssen, in der Hoffnung, daß die Bewegung durch Versuch und Irrtum an Stärke gewinnt und daß sie gleichzeitig ihre internationale Organisation und Koordination festigen wird. Gut, das ist, glaube ich, alles, was ich fürs erste sagen will.

Diskussion (Auszüge) Frage: Unterstützen Sie die Ansicht, daß es nicht möglich sein soll­ te, sich fü r den Vietnamkrieg auszusprechen ... [Rest unverständlich, es ging um Redefreiheit] Marcuse: Bekanntlich unterstütze ich diese Ansicht, ja (Beifall). [Weitere Frage] Ich habe nicht gesagt, daß man diejenigen, die anderer Meinung sind, nicht tolerieren soll. Ich habe, wie ich schon sagte, ausdrücklich gesagt, daß diejenigen, die den Krieg in Vietnam verteidigen und pro­ pagieren, in einer wirklich demokratischen Gesellschaft nicht das demokratische Recht auf Redefreiheit haben sollten (Beifall). Ihre Politik untergräbt zwangsläufig die Demokratie, soweit sie noch exi­ stiert. Die Frage ist also nicht, ob man anderer Ansicht ist als ich ... Frage: Was würden Sie verbieten? Eine andere Philosophie? Den Objektivismus? Marcuse: Nein. Wie Sie wissen, liebe ich die Philosophie, und ich wüßte heute von keiner Philosophie, die eine wirkliche Gefahr für das bestehende System oder für dessen Veränderung zu einem besseren wäre. [...] Ich sage ganz deutlich, daß der Begriff der repressiven Toleranz absolut nichts mit irgendeiner Zensur von Kunst, Literatur, Musik, Philosophie oder was auch immer zu tun hat. Darum geht es überhaupt nicht. Ich spreche nur davon, daß Bewegungen, die sich als aggressiv und destruktiv erwiesen haben, keine Toleranz verdienen. 95

[Frage zu den deutschen Notstandsgesetzen und ihren A usw ir­ kungen auf die Studentenbewegung] Marcuse: Die Notstandsgesetze, die jetzt im deutschen Parlament debattiert und aller W ahrscheinlichkeit nach verabschiedet werden, gehören meiner Ansicht nach zu den unseligsten Gesetzeswerken, mit denen wir heute zu tun haben. Sie geben der Regierung die Möglich­ keit, in einem Ausnahmezustand beispielsweise die wichtigsten Ver­ fassungsgarantien außer Kraft zu setzen, und das ist der phantastische Freibrief zur Mobilmachung und zum Einsatz der Streitkräfte im Innern. Es ist kein Wunder, daß sich die Studentenbewegung in Deutschland heute vor allem gegen die Notstandsgesetze richtet. Ich fürchte, daß sie keinen Erfolg haben wird und daß die Notstandsgeset­ ze mit Unterstützung der Sozialdemokratischen Partei verabschiedet werden. Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, und das ist eine gute Gele­ genheit, das bekannte Argument zurückzuweisen, das in Verbindung mit der Studentenbewegung immer wieder vorgebracht wurde, daß nämlich diese Radikalisierung der Linken in der jetzigen Situation nur die Rechte stärkt. Das heißt, das bekannte Argument zur Diskreditie­ rung des Gegners. Ich warte immer noch auf eine Opposition, die den Gegner nicht diskreditiert. Das ist der Sinn einer Opposition, aber nicht das, was im Augenblick gesagt und getan wird, und auch das ist eine internationale Verschwörung. Die Linke, besonders die studenti­ sche Linke, wird jetzt schon für die mögliche oder wahrscheinliche Stärkung der extremen Rechten in Europa - und nicht nur in Europa - verantwortlich gemacht. Gleiches hat man auch über die kommuni­ stische und sozialistische Agitation vor der Nazizeit gesagt, und so wei­ ter. Und ich denke, man sollte dieses Argument hier ein für allemal als eine eklatante Geschichtsfälschung bezeichnen. Was ist denn zum Beispiel in der Weimarer Republik passiert? Hitler ist doch nicht des­ halb an die Macht gekommen, weil die Linke zu radikal und zu stark war, sondern gerade deshalb, weil die Linke nicht radikal genug war, weil sie nicht stark genug war. Die Linke war gespalten, und durch die­ se Spaltung, durch diese Schwäche der Linken konnte die Rechte an die Macht kommen. Dieses Argument ist also mit historischen Fakten zu widerlegen. [Frage zum Bündnis von Arbeitern und Studenten]

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Marcuse: Es ist durchaus möglich und ich halte es für sehr wahr­ scheinlich, daß sich die Bewegung wieder spalten wird und daß die Fragen wieder getrennt entschieden werden. [...] Die extreme Rechte ist [in Frankreich] nicht besonders aktiv. So wie es heute aussieht, konzentriert sich die Opposition gegen die Pro­ testbewegung weniger auf die sogenannte extreme Rechte als vielmehr auf die Mitte, das heißt auf die bestehende Regierung. [...] Ich halte das für eine ganz wichtige Veränderung - eine Veränderung, die, glaube ich, immer noch mit dem Kampf gegen Nazismus und Faschismus zu erklären ist, denn da sind rechtsextreme Parteien natürlich von Anfang an negativ abgestempelt. Sie sind aber nicht gerade die eigentlichen und typischen Vertreter der Rechten. [...] [Der umfassende Angriff auf] die Gesellschaft ist den Studenten bewußt oder zumindest unterschwellig bewußt. Bei den Arbeitern scheint es immer noch der alte gewerkschaftliche Protest zu sein. Ich habe gesagt: es scheint immer noch der alte gewerkschaftliche Protest zu sein, weil es offenbar nicht für diejenigen Arbeiter gilt, die mit den Gewerkschaften hochgradig unzufrieden sind und die mehr wollen als Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen. Sie erheben zum Beispiel auch die ganz entschieden politische Forderung nach einem Ende des autokratischen Regimes und nach echter und wirklicher Redefreiheit, Ausdrucksfreiheit, Versammlungsfreiheit und so weiter. Dieser umfassende Charakter der Bewegung wird also nicht bewußt und systematisch erklärt und praktiziert. In den Äußerungen der Stu­ denten kommt er deutlich zum Ausdruck, bei der Opposition aus der Arbeiterklasse ist es immer noch sehr viel unsicherer. [...] [Frage zu Europa] Marcuse: Die Tschechoslowakei hatte in erheblichem Maße an der stalinistischen Tradition festgehalten. Und eines kann man mit Sicherheit sagen: Die terroristische Repression, diese vollständige Kontrolle aller gedanklichen Äußerungen und diese sofortige Unter­ drückung aller abweichenden Meinungen hat sich als immer willkür­ licher und unnötiger erwiesen, als die wirtschaftliche und auch die politische Situation konsolidiert schienen. Was nun in dieser Situati­ on eintrat, waren hauptsächlich wirtschaftliche Probleme, die Forde­ rung nach einer Wirtschaftsreform, die den hochgradigen Zentralis­ mus lockert oder in erheblichem Maße beseitigt und in die sozialistische Wirtschaft Elemente einführt, die für die kapitalistische .

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Wirtschaft charakteristisch sind, zum Beispiel Anreize, das Profitmo­ tiv, ein hohes Maß an Selbständigkeit für das Management der einzel­ nen Betriebe und so weiter. Nun wurde diese wirtschaftliche Locke­ rung dazu benutzt, um entsprechend auch eine kulturelle Lockerung zu fordern, das heißt die Abschaffung der Zensur und der Vorzensur und der strengen Parteikontrolle über Schriftsteller, Philosophen, Akademiker ganz allgemein und was sonst noch. Die Bewegung rich­ tet sich hier also nicht gegen die bestehende Gesellschaft, sondern gegen die poststalinistischen Kontrollmechanismen, die man als schädlich ansieht für die sozialistische Gesellschaft selbst. [...] [Frage zum Wesen der Studentenrevolte, wenn sie keine Revolu­ tion ist] Marcuse: Was Sie den pragmatischen Charakter der Bewegung nennen, ist meiner Ansicht nach ein Aspekt des tiefsitzenden Mißtrau­ ens gegen alle traditionellen Ideologien, die sich als falsch erwiesen haben. Ein ganz entschiedener Pragmatismus. Ich würde die Bewe­ gung nicht revolutionär nennen und habe das auch nicht getan, weil ich der Meinung bin, daß wir uns weder in Frankreich und schon gar nicht hier in diesem Lande in einer revolutionären oder auch nur vor­ revolutionären Situation befinden. Unter dieser Voraussetzung bin ich der Meinung, wenn wir begreifen, was los ist, dann müssen wir han­ deln, und es ist unverantwortlich, wenn man für die Protestbewegung, die wir heute haben, mit Begriffen wie Revolution oder revolutionär um sich wirft. Die französischen Studenten tun das bestimmt nicht, und ich glaube, wir sollten es auch nicht tun. Sie betrachten ihre Bewe­ gung noch nicht als eine Revolution. Daß sie ein Glied in der Kette der inneren und äußeren Ereignisse sein könnte, das die Lage insgesamt verändern könnte, das glaube ich allerdings, und ich denke, daß die Erfahrung der letzten Monate meinen Glauben bestärkt hat. Ich glau­ be, eines können wir mit Sicherheit sagen: daß die traditionelle Revo­ lutionsidee und die traditionelle Revolutionsstrategie tot sind. Sie sind veraltet, sie sind durch die Entwicklung unserer Gesellschaft schlichtweg überholt. Ich habe schon einmal gesagt, und ich möchte es wieder­ holen, weil ich glaube, daß in der jetzigen Situation nichts so notwen­ dig ist wie klarer Verstand, daß die Vorstellung, daß eines Tages oder eines Nachts eine Massenorganisation oder Massenpartei oder irgend­ welche sonstigen Massen nach Washington marschieren und das Pen­ tagon und das Weiße Haus besetzen und eine Regierung bilden, für 98

mich ausgesprochen grotesk ist. Das entspricht einfach in keiner W ei­ se der Realität. Wenn es je solche Massen gäbe und wenn dies tatsäch­ lich passieren würde, gäbe es innerhalb von 24 Stunden ein neues W ei­ ßes Haus in Texas oder in Nord-Dakota, und der ganze Spuk wäre ganz schnell vorbei. Wir müssen uns also diese Revolutionsidee abgewöhnen, und deshalb bin ich der Meinung, daß das, was sich heute in Frankreich abspielt, so große Bedeutung hat und durchaus entschei­ dend sein kann, und genau deshalb betone ich die Spontaneität dieser Bewegung und die spontane Form ihrer Ausbreitung. Ich sagte »spon­ tan«, und ich bleibe dabei, aber ihr wißt vermutlich, daß es keine wirk­ liche Spontaneität gibt, wenn man ihr nicht ein bißchen auf die Sprün­ ge hilft, damit sie wirklich spontan wird. Und genau das war in Frankreich der Fall, und deshalb habe ich die Vorarbeit der Studenten in den Fabriken angesprochen, die mit den Arbeitern diskutiert haben und so weiter. Aber nichtsdestoweniger ist dies verglichen mit der tra­ ditionellen Organisation der Opposition eine spontane Bewegung gewesen, und es ist eine spontane Bewegung gewesen, die sich, so lan­ ge sie konnte, den Teufel um die bestehenden Organisationen geschert hat - weder um die Partei noch um die Gewerkschaften -, und die ein­ fach vorwärts marschiert ist. Mit anderen Worten, aus diesen oder jenen Gründen war die Zeit gekommen, daß hunderttausende und, wie wir jetzt sehen werden, Millionen von Menschen nicht mehr so weitermachen wollten. Sie wollten nicht mehr morgens aufstehen und zur Arbeit gehen und dieselben Handgriffe verrichten und dieselben Anweisungen hören und dieselben Arbeitsbedingungen ertragen und dieselben Leistungen erbringen. Sie hatten einfach die Nase voll, und wenn sie nicht zu Hause geblieben sind oder spazieren gegangen sind, dann haben sie etwas anderes versucht. Sie haben die Fabriken und die Betriebe besetzt und sind dort geblieben, und nicht etwa als wilde Anarchisten; erst gestern kam ein Bericht, daß sie sich beispielsweise sorgfältig um die Maschinen gekümmert haben und aufpaßten, daß nichts zerstört und nichts beschädigt wird. Sie haben niemanden von draußen hereingelassen, und so weiter. Sie haben dadurch einfach gezeigt, daß sie diesen Betrieb auf die eine oder andere Weise als ihren eigenen betrachten und zeigen werden, daß sie durchaus wissen, daß es ihr eigener ist oder ihr eigener sein sollte und daß sie ihn genau des­ halb besetzt haben. Mit anderen Worten, hier sieht man - und ich glau­ be, darin drückt sich der umfassende Charakter des Protestes aus, weil 99

die traditionelle Arbeiterklassenstrategie offiziell, wie man weiß, keine Fabrikbesetzungen billigt und das Privateigentum auch in dieser Tra­ dition in gewisser Weise sakrosankt blieb, und wenn dies passierte, dann geschah es normalerweise gegen die gewerkschaftliche Politik und in hohem Maße spontan. Also dieses Spontane, mit dem sich die Veränderung ankündigt und mit dem sich die kommende Verände­ rung ankündigt, das ist, glaube ich, das neue Element, das über jede tra­ ditionelle Organisation hinausgeht und die Bevölkerung direkt und unmittelbar erfaßt. Wenn man jetzt annimmt, daß die Lähmung in Frankreich anhält und daß sie sich weiter ausbreitet, daß sich die Regierung nicht durchsetzt - ich wiederhole, das ist eine unrealistische Annahme, denn sie wird sich durchsetzen, aber nehmen wir das ein­ fach mal versuchsweise an, daß die Lähmung anhält und sich ausbrei­ tet und daß sich die Regierung nicht durchsetzt - , dann habt ihr eine Vorstellung davon, wie ein solches System zusammenbrechen kann. Denn keine Gesellschaft kann eine solche Lähmung über längere Zeit aushalten. Der Protest gegen die bürgerlichen Werte kommt aber nicht nur in der ziemlich respektlosen Einstellung gegenüber dem Privateigentum zum Vorschein, sondern auch in der Ablehnung anderer Werte, zum Beispiel - und das ist eines von den Dingen, wo man dafür oder dage­ gen sein kann - in der Aversion gegenüber der traditionellen Form der Lehre und gegenüber der traditionellen bürgerlichen Kultur. Ich möchte euch ein ganz konkretes Beispiel geben, um euch zu zeigen, was ich damit meine, und ich möchte hinzufügen, daß ich in diesem Fall nicht auf der Seite der Studenten stand. Vor einem Jahr - aber die gleiche Situation hat sich dieses Jahr wiederholt -, wurde mein Freund Adorno nach Berlin eingeladen, um einen Vortrag über Goethes »Iphi­ genie« zu halten, ein Schauspiel über das antike Motiv der Iphigenie in Tauris. Auf Einladung des germanistischen Seminars. Also das Audito­ rium war brechend voll mit Studenten, die ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen wollten. Sie fanden es unerhört, daß in einer solchen Situation, wie sie nach der Tötung eines Studenten bei der Demonstra­ tion gegen den Schah von Persien und im aufgeheizten politischen Kli­ ma von Berlin herrschte, ein Vortrag über ein klassisches humanisti­ sches Drama stattfinden sollte. Sie konnten das einfach nicht fassen. Es gab im Hörsaal einen regelrechten Aufstand, und es hat lange gedauert, bis sie sich zumindest so weit beruhigt hatten, daß der Vor100

trag stattfinden konnte. Eine ähnliche Reaktion habe ich dieses Jahr in Berlin selbst erlebt. Es gab zum Beispiel mehrere Anlässe, wo der Vor­ trag mit dem Ausruf unterbrochen wurde: »Jetzt ist nicht die Zeit, um sich mit Begriffen zu beschäftigen, jetzt ist nicht die Zeit, um sich mit Theorie zu beschäftigen. Statt hier herumzudiskutieren sollten wir auf die Straße gehen und vor der Maison Française [Maison de France] demonstrieren.« Ich gebe euch das nur als eine Haltung, als ein Bei­ spiel, wie weit diese Opposition gehen kann, daß sie tatsächlich auf die ganze bestehende Kultur zielt, sogar in ihren sublimsten Äußerungen. Sie hat für sie nicht mehr viel Sinn. Sie mag schön sein, sie mag sehr tiefgründig sein, sie mag sehr erbaulich sein, aber irgendwie stimmt sie nicht. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem, was sich da drau­ ßen in Vietnam oder auf den Barrikaden oder in den Ghettos abspielt und diesen herrlichen Versen und großen Ideen, also vergessen wir das und sehen wir zu, was wir mit unseren Händen und auch mit unseren Köpfen in der unmittelbaren Realität ausrichten können. Das ist nun, wie ich nicht extra hinzufügen muß, eine gefährliche Haltung, aber auch wieder eine Haltung, die, wie ich meine, sehr schwer zu widerle­ gen ist. Ich habe immer die Position vertreten, daß die Universitäten in diesen Ländern immer noch Freiräume für eine relative - und nicht nur relative - Denk- und Ausdrucksfreiheit sind. Daß es immer noch massenhaft Raum und Gelegenheit gibt, Dinge zu lernen, die für das, was sich heutzutage abspielt, von Bedeutung sind. Und daß die Univer­ sität zwar eine radikale Reform braucht, daß diese radikale Reform aber in der Universität selbst durchgeführt werden sollte und nicht die Form ihrer Zerstörung annehmen sollte. Denn die Universität zu zer­ stören würde, glaube ich, tatsächlich bedeuten, daß wir gleichzeitig etwas abbauen oder beseitigen, was eine der, also, um es ganz extrem und provokativ zu sagen: Die Universität zu zerstören, bedeutet gewis­ sermaßen, daß wir uns den eigenen Ast absägen. Schließlich ist es die Universität, wo die Opposition gewachsen ist, wo sie erzogen wurde und erzogen wird, und die Universität zu zerstören, könnte uns selbst mehr schaden als denen. Und schließlich sind wir selbst - und ich zäh­ le mich, wie ihr wißt, selbst zur Opposition - wir selbst sind, glaube ich, ein lebendiges Beispiel dafür, daß die Universität nicht gar so schlecht sein muß. [...]

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[...] die pro-amerikanische Haltung ist in Europa am stärksten im Ostblock ausgeprägt. [...] Gut, wenn Sie diese persönliche Frage auf ein praktikables Niveau herunterschrauben wollen, dann kann ich nur darauf hinweisen, daß zum Beispiel bei Cohn-Bendit und in anderen Äußerungen die Anklänge an meinen Essay zur repressiven Toleranz ganz deutlich sind, so daß man das nicht weiter belegen muß. Außerdem sagen das viele Studenten auch selbst. Warum das so ist, ist eine Frage, die nicht ich beantworten sollte, sondern die Studenten. Was ich getan habe, als Philosoph und Theoretiker, das ist der Versuch, eine Kritik der beste­ henden Gesellschaft aufzuzeigen, oder anzubieten, die sich so weit wie möglich fernhält von jeder traditionellen Ideologie, sei sie marxistisch oder sonstwie sozialistisch.

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Die U nterschiede zw ischen alter und neuer Linker

Die unabhängige, linksradikale amerikanische Wochenzeitung The Guardian feierte am 4. Dezember 1968 ihr 20jähriges Bestehen. Gegründet wur­ de The Guardian 1948 vom Institute for Independent Social Journalism, das sich über eine Stiftung finanzierte. Ab der ersten Ausgabe organisierte die Redaktion Strategiedebatten innerhalb der amerikanischen Linken. Dieses Diskussionsforum nutzten Autoren aus sehr unterschiedlichen Gruppierun­ gen. Darunter befanden sich Kommunisten, Trotzkisten, Sozialisten, Bürger­ rechtler und unabhängige linksliberale Intellektuelle. Die enthusiastische Eröffnungsrede zu Marcuses Festvortrag Zur Situa­ tion der Neuen Linken hielt die SDS1-Sekretärin Bernadine Dohrn. Sie zitier­ te die New York Times, die Marcuse wenige Tage zuvor als den »ideologi­ schen Führer der Neuen Linken« bezeichnet hatte. Die 1942 geborene Bernadine Dohrn gehörte darüber hinaus zu einem Anwaltskollektiv, das sich für inhaftierte Bürgerrechtler und andere politische Aktivisten einsetzte. Im Jahr 1969 zerfiel der amerikanische SDS. Dohrn schloß sich 1969 der radi­ kalen Gruppe The Weathermen, später Weather Underground, an. Bald schon setzte das FBI sie auf die Fahndungsliste der meistgesuchten Terro­ risten. Dohrn wurde verhaftet, kam aber nach wenigen Tagen wieder frei und tauchte anschließend unter. Weiterer Redner war Carl Oglesby, der 1965 zum Präsidenten des SDS gewählt wurde und auf den beiden großen AntiVietnamkriegsdemonstrationen im März und November 1965 in Washington sprach. Oglesby appellierte eindringlich an die liberalen Amerikaner, die 68er-Bewegung zu unterstützen. Herbert Marcuse war im Jahr 1968 deshalb ein vielgefragter Interview­ partner und Redner an amerikanischen Hochschulen, weil er als authenti­ scher Augenzeuge der europäischen Bewegung galt. Es entstand eine höchst interessante Konstellation. Hielt sich Marcuse in Europa auf, wurde er aufgefordert, zur amerikanischen Studentenbewegung zu sprechen. In den 103

USA wurde er als Kenner der Bewegung in Frankreich und Deutschland ein­ geladen. Von New York aus reiste Marcuse weiter an die Universität von Yale in New Haven. Dort hielt er am 9. Dezember erneut einen langen Vortrag, der wegen seiner Kritik an dem Marxschen Revolutionsmodell und am Stalinis­ mus sowie an der These von der Integration der Arbeiterklasse vehementen Widerspruch hervorrief. In den Yale Daily News, die eine mehrseitige Debat­ te über diese Veranstaltung publizierte, erschien unter der Überschrift »Mar­ cuse Not A Marxist« eine scharfe Kritik von David Levey, Wirtschaftswissen­ schaftler in Yale, an Marcuse. Die Veranstalter merkten an, daß Marcuse ihnen die Rede nicht zum Nachdruck zur Verfügung gestellt habe. Aus den abgedruckten Reaktionen wird deutlich, daß es sich in Teilen um die gleiche Rede handelte wie in New York. Allerdings scheint Marcuse in Yale eine wei­ terreichende Kritik am Marxschen Revolutionsmodell und an der real-sozia­ listischen Ideologie kommunistischer Teilnehmer geäußert zu haben. Marcuses Rede (HMA 348.01) erschien in nicht vollständiger deutscher Übersetzung 1969 in der Reihe NOVA PRESS, die von dem Schriftsteller Jür­ gen Ploog herausgegeben wurde.2 In dieser Reihe veröffentlichte die »inter­ nationale Gruppe der cut-up Autoren« kleine literarische Texte zu politischen Themen, so Jürgen Ploogs »Coca Cola Hinterland«, Jeff Nuttalls »Bomb Culture« oder Bradley Martins »Aufruf zur Demontage der Kaufhauskultur.« Die vollständige Neuübersetzung folgt dem Redebeitrag Marcuses. Der Titel stammt vom Herausgeber.

Anmerkungen 1 Der amerikanische SDS nannte sich nicht »sozialistisch«, sondern »Students for a Democratic Society«. Der amerikanische SDS hatte zeitweise über 100.000 Mitglie­ der in 400 Ortsgruppen. 2 Die Fassung wurde mit falscher Quellenangabe erneut publiziert in: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail

1946-1995, (Hg.) Wolfgang Kraushaar, 3 Bde., Hamburg 1998, Bd. 2, S. 496.

Ich kann nichts dafür, wie mich die New York Times nennt. Ich habe mich nie als den »ideologischen Führer der Neuen Linken« bezeich­ net, und ich glaube auch nicht, daß die Linke einen ideologischen Füh104

rer braucht. Eines braucht sie bestimmt nicht, nämlich eine neue Va­ terfigur, einen neuen Daddy. Und ich will ganz bestimmt keiner sein. Ich wiederhole, was Carl [Oglesby] gerade gesagt hat: Wir können nicht warten und wir werden nicht warten. Ich selbst kann ganz bestimmt nicht warten. Nicht nur wegen meines Alters. Ich glaube nicht, daß wir abwarten müssen. Ich habe gar keine andere Wahl, weil ich es buchstäblich nicht aushalten könnte, wenn sich nichts ändert. Auch ich ersticke daran. Ich möchte heute ein - so weit mir das möglich ist - realistisches Bild von der Situation der Linken vermitteln. Das verlangt einige theo­ retische Reflexionen, für die ich mich eigentlich nicht entschuldigen möchte, denn wenn die Linke gegen theoretische Betrachtungen aller­ gisch wird, dann stimmt mit der Linken irgend etwas nicht. Zuerst werde ich zwei Widersprüche aufzeigen, mit denen unsere - und ich sage unsere - Bewegung konfrontiert ist. Einerseits wissen wir alle, wir erleben es, wir spüren es bis ins Mark, daß diese Gesell­ schaft die menschlichen und natürlichen Möglichkeiten, frei zu sein, sein Leben selbst zu bestimmen und sein Leben ohne die Ausbeutung von anderen selbst zu gestalten, immer mehr unterdrückt und zerstört. Wir - und das sollten nicht nur wir hier in diesem Raum sein: damit sind alle gemeint, die unterdrückt sind, die von ihrer Arbeit versklavt werden, von den unnötigen und immer noch so notwendigen Leistun­ gen, die ihnen abverlangt werden, von der Moral, die ihnen abverlangt wird, all diejenigen, die ausgebeutet werden von der inneren und äuße­ ren Kolonisierungspolitik dieses Landes, dieses große W ir, das eine Veränderung bitter nötig hat - andererseits müssen wir zugeben, daß ein großer Teil der Bevölkerung, wenn nicht die Mehrheit, dieses Bedürfnis nach Veränderung nicht wirklich verspürt, sich dessen nicht bewußt ist, kein politisches Bewußtsein davon hat. Das wirft, soweit ich es sehe, das erste große Problem unserer Strategie auf. Das zweite große Problem unserer Strategie ist die Frage, mit der wir ständig konfrontiert sind: »Was ist die Alternative? Könnt ihr etwas besseres anbieten?« Ich denke nicht, daß man diese Frage einfach beiseite schieben und sagen kann: »Wir müssen zuerst das Alte zerstören, dann sehen wir weiter.« W ir können das aus einem ganz einfachen Grund nicht tun: unsere Ziele, unsere W erte, unsere neue Moral, unsere eigene Moral muß sich schon in unseren Aktio­ nen zeigen. Der neue Mensch, den wir möglich machen wollen - die105

ser neue Mensch müssen wir hier und jetzt auch schon selbst sein wollen. Deshalb können wir diese Frage nicht einfach beiseite schieben. Wir müssen - und sei es nur im Kleinen - die Vorbilder für das abge­ ben können, was eines Tages ein neuer Mensch sein könnte. Die Alter­ native, die genau das zum Ausdruck bringt, das ist für mich immer noch der Sozialismus. Das ist weder der stalinistische noch der poststalinistische, sondern der libertäre Sozialismus, der immer der eigent­ liche Sozialismusbegriff war, aber nur zu leicht geknebelt und unter­ drückt wurde. Wenn das also die Alternative ist, wie vermitteln wir sie dann? Die Menschen werden sich schließlich umschauen und sagen: »Wo ist denn nun diese Form von Sozialismus? Zeigt ihn uns doch.« Wir wer­ den sagen, er wird vielleicht in Kuba aufgebaut. Er wird vielleicht in China aufgebaut. Er kämpft ganz bestimmt in Vietnam gegen das Supermonster. Aber die Leute schauen sich um und sagen: »Nein, das ist kein Sozialismus. Der Sozialismus, den wir sehen, ist das, was wir in der Sowjetunion haben. Sozialismus ist der Einmarsch in die Tsche­ choslowakei.« Mit anderen Worten: Sozialismus ist ein Verbrechen. Wie können wir diesem Widerspruch begegnen? Die zwei von mir skizzierten Widersprüche lassen sich auf einen einzigen reduzieren. Eine radikale Veränderung ohne Massenbasis scheint undenkbar. Aber eine Massenbasis zu bekommen, scheint - jedenfalls in diesem Land und auf absehbare Zeit - genauso undenkbar. Was fangen wir mit diesem Widerspruch an? Die Antwort scheint ganz einfach zu sein. Wir müssen versuchen, eine Unterstützung zu bekommen. Wir müssen versuchen, diese Mas­ senbasis zu erhalten. Aber hier stoßen wir an die Grenzen demokrati­ scher Überzeugungsarbeit, mit denen wir heute konfrontiert sind. Warum an die Grenzen? Weil ein großer, vielleicht entscheidender Teil der Mehrheit, nämlich die Arbeiterklasse, in hohem Maße in das System integriert ist - und das auf einer ziemlich soliden materiellen Basis und nicht nur oberflächlich. Sie ist natürlich nicht für immer integriert. In der Geschichte ist nichts für immer. Die Widersprüche des korporativen Kapitalismus sind tiefgreifen­ der als je zuvor. Das kann und darf allerdings nicht die Illusion in uns aufkommen lassen, daß eine solche Integration, eine zeitweilige Inte106

gration, tatsächlich stattgefunden hat, die sich nur dann auflösen könnte, wenn sich die systemimmanenten Widersprüche wieder ver­ schärfen. Das geschieht, wie wir in den letzten Jahren gesehen haben. Da eine solche Desintegration nie automatisch geschieht, ist es unsere Aufgabe, darauf hinzuarbeiten. Der zweite Punkt - warum wir hier an die Grenzen demokrati­ scher Aufklärung stoßen - ist die schlichte Tatsache, daß die Linke nicht über entsprechende Massenmedien verfügt. Die öffentliche Meinung wird heute von den Massenmedien ge­ macht. Wenn man nicht dieselbe angemessene Sendezeit erhält, wenn man nicht denselben angemessenen Platz in den Printmedien erhält, wie soll man dann die öffentliche Meinung ändern - eine öffentliche Meinung, die in dieser monopolistischen Weise gemacht wird? Die Konsequenz: Wir sind in dieser Pseudo-Demokratie mit einer Mehrheit konfrontiert, die sich scheinbar von selbst aufrechterhält, die sich scheinbar aus sich heraus als eine konservative Mehrheit reprodu­ ziert, die gegen alle radikalen Veränderungen immun ist. Die gleichen Umstände, die der demokratischen Überzeugungsarbeit entgegenwir­ ken, sprechen aber auch gegen den Aufbau einer revolutionären zen­ tralistischen Massenpartei nach traditionellem Muster. Eine solche Partei kann es heute nicht geben - nicht nur, weil der Unterdrückungs­ apparat unendlich effektiver und mächtiger ist als jemals zuvor, son­ dern hauptsächlich deshalb, weil der Zentralismus heute nicht mehr die richtige Methode ist, um auf eine Veränderung hinzuarbeiten und eine Veränderung herbeizuführen. An dieser Stelle möchte ich noch eines hinzufügen. Ich sagte be­ reits, daß die Widersprüche des korporativen Kapitalismus heute stär­ ker denn je sind, aber wir müssen gleich hinzufügen, daß seine Grund­ lagen heutzutage genauso günstig sind, und sie werden tagtäglich gestärkt durch die Zusammenarbeit - oder soll ich sagen: Komplizität - zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Was wir vor uns haben - und ich glaube, das ist einer von den altmodischen Begrif­ fen, an denen wir festhalten sollten - , ist eine vorübergehende Stabili­ sierung des kapitalistischen Systems, und in jeder Periode der vorüber­ gehenden Stabilisierung ist die Aufgabe der Linken: Aufklärung und Erziehungarbeit - die Förderung des politischen Bewußtseins. Ich möchte unter drei Stichworten kurz das Ziel der Strategie, ihre Methoden und schließlich die Organisation der Neuen Linken erör107

tern. Zuerst das Ziel: Wir sind mit einem historischen Novum konfron­ tiert, nämlich mit der Perspektive oder der Notwendigkeit einer radi­ kalen Veränderung, einer Revolution in und gegen eine hochentwikkelte, technisch fortgeschrittene Industriegesellschaft, die gleichzeitig eine gut funktionierende und integrierte Gesellschaft ist. Dieses histo­ rische Novum macht es erforderlich, daß wir einige unserer lieb gewonnenen Begriffe überprüfen. Ich kann hier nur so etwas wie einen Katalog für eine solche Überprüfung aufstellen. Erstens den Begriff der Machtübernahme. Das alte Modell ist nicht mehr zu gebrauchen. Daß beispielsweise in einem Land wie den Ver­ einigten Staaten große Massen unter der Führung einer zentralistisch­ autoritären Partei in Washington zusammenströmen, das Pentagon besetzen und eine neue Regierung einsetzen, dürfte ein etwas zu unrea­ listisches und utopisches Bild sein. Was wir anstreben müssen, ist in etwa eine diffuse und weitrei­ chende Desintegration des Systems, in dem sich das Interesse, die Schwerpunkte und die Aktivitäten auf das Lokale und Regionale ver­ lagern. Der zweite Begriff, der zu überprüfen wäre, ist die Rolle der Arbei­ terklasse. Hier möchte ich ein paar Worte zu einem der heutzutage meistgeschmähten Begriffe sagen, zu dem der Neuen Arbeiterklasse. Ich weiß, was dagegen zu sagen ist und was dagegen gesagt wurde. Mir scheint, daß der Begriff der Neuen Arbeiterklasse bestimmte Tenden­ zen erfaßt und antizipiert, die sich unmittelbar vor unseren Augen im kapitalistischen Produktionsprozeß durchsetzen. Immer mehr hochqualifizierte lohnabhängige Angestellte, Techniker, Spezialisten und so weiter haben im materiellen Produktionsprozeß eine entscheiden­ de Position inne. Genau dadurch gehören sie auch, in orthodox mar­ xistischen Begriffen gedacht, zur industriellen Arbeiterklasse. Was wir hier vor uns haben - das möchte ich zu bedenken geben - ist eine Aus­ weitung der potentiellen Massenbasis, die über die traditionelle Indu­ striearbeiterklasse hinaus geht und neue Arbeiterklassen entstehen läßt, die das Spektrum der Ausgebeuteten erweitern. Diese Ausweitung, verweist auf eine große, aber sehr diffuse und zerstreute Massenbasis und verändert die Beziehung zwischen dem, was wir als richtungsweisende Minderheiten oder Kadergruppen der Linken bezeichnen, die politisch aktiv sind, und den Massen. Was wir anstreben können, ist keine große, zentralisierte und organisierte 108

Bewegung, sondern lokales und regionales politisches Handeln gegen bestimmte Mißstände - Unruhen, Ghettoaufstände und so weiter. Zweifellos sind dies Bewegungen, die weitgehend ohne politisches Bewußtsein ablaufen und mehr denn je auf politische Führung und Anleitung durch militante Minderheiten angewiesen sind. Ein paar Worte zur Strategie der Neuen Linken. In dem Maße, wie der pseudo-demokratische Prozeß durch das Quasimonopol der kon­ servativen Massenmedien die gleiche Gesellschaft und eine größten­ teils dumpfe Mehrheit hervorbringt und beständig reproduziert, in dem Maße muß die politische Bildung und Vorbereitung über die tra­ ditionellen liberalistischen Formen hinausgehen, müssen politisches Handeln und politische Bildung über Diskutieren und Schreiben hin­ ausgehen. Die Linke muß die richtigen Mittel finden, um die konfor­ mistische und korrumpierte Welt der politischen Sprache und des poli­ tischen Verhaltens aufzubrechen. Sie muß das Bewußtsein und das Gewissen der anderen wachrütteln. Das Ausbrechen aus dem Sprachund Verhaltensmuster der korrupten politischen Welt - einem Muster, das jedem politischen Handeln aufgestülpt wird - ist eine fast über­ menschliche Aufgabe. Sie setzt eine fast übermenschliche Vorstel­ lungskraft voraus. Wir müssen uns bemühen, eine Sprache zu finden und Aktionen zu organisieren, die nicht zum gewohnten politischen Verhaltensrepertoire gehören, die vielleicht mitteilen können, daß das, was hier am Werk ist, Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielsetzungen sind, die sich noch nicht - und, wie ich hoffe, nie­ mals - vereinnahmen lassen. Für das Establishment und für die Rationalität des Establishment wird ein solches Verhalten närrisch, kindisch und irrational wirken. Aber das kann durchaus der Beweis dafür sein, daß es sich hier um den Versuch - um den zumindest zeitweise erfolgreichen Versuch - han­ delt, den repressiven Zusammenhang des bestehenden politischen Verhaltens zu überschreiten und zu durchbrechen. Nun zum Schluß zur Organisation der Neuen Linken. Ich erwähn­ te bereits, daß traditionelle Organisationsformen wie eine parlamenta­ rische Partei überholt sind. Ich sehe weit und breit keine Partei, die nicht in ganz kurzer Zeit der allgemeinen, totalitären politischen Kor­ ruption zum Opfer fiele, die die politische W elt charakterisiert. Wir wollen keine revolutionäre politische Partei, aber auch keinen revolu-

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tionären Zentralismus und keinen Untergrund - weil das leichte Opfer für den verschärften und effektivierten Repressionsapparat sind. Was sich gegen diese Formen herauszubilden scheint, ist eine ganz offene Organisation, die in kleinen Gruppen und um lokale Aktivitä­ ten herum verstreut und konzentriert ist - in kleinen, hochgradig flexi­ blen und autonomen Gruppen. Ich möchte noch etwas hinzufügen, das fast wie eine Ketzerei klingt - keine vorschnelle Vereinigung der Linken! Die Linke ist ge­ spalten! Die Linke war immer gespalten! Nur die Rechte, die nicht für irgendwelche Ideen kämpfen kann, ist geschlossen! Die Stärke der Linken kann heute genau in diesen kleinen konkur­ rierenden Protestgruppen liegen, die an vielen Stellen gleichzeitig aktiv sind, in einer Art von politischer Guerillabewegung im Frieden oder im sogenannten Frieden, aber - und das ist, glaube ich, der wich­ tigste Punkt - in kleinen Gruppen, die sich auf lokale Aktivitäten kon­ zentrieren und in denen sich das ankündigt, was aller W ahrscheinlich­ keit nach die Basisorganisation des libertären Sozialismus sein wird, nämlich kleine Räte von Hand- und Kopfarbeitern - von Sowjets, wenn man dieses Wort noch benutzen kann und nicht daran denkt, was mit den Sowjets tatsächlich passiert ist - , etwas, das ich, und das meine ich ganz ernst, als organisierte Spontaneität bezeichnen würde. Ich möchte noch ein paar Worte über das Bündnis sagen, das mei­ ner Meinung nach in der Neuen Linken diskutiert werden sollte. Ich schlage nicht vor, daß man mit dem Teufel paktieren soll, wie Lenin gesagt hat. Der ist heute viel zu stark geworden. Er wird uns fressen. Kein Bündnis mit den Liberalen, die die Arbeit des Komitees für un­ amerikanische Aktivitäten übernommen haben, indem sie die Linke denunzieren. Die das erledigen, was das Komitee noch nicht erledigt hat, ich muß hier keine Namen nennen. Aber wir können Bündnisse mit all denjenigen eingehen - seien es Bürgerliche oder nicht - , die wis­ sen, daß der Feind rechts steht und die gezeigt haben, daß sie das wis­ sen. Ich möchte noch einmal die Perspektive der Neuen Linken zusam­ menfassen. Ich glaube - und das ist kein Glaubensbekenntnis, sondern beruht in hohem Maße auf dem, was man eine Analyse der Tatsachen nennen könnte - ich glaube, die Neue Linke ist heute unsere einzige Hoffnung. Ihre Aufgabe ist es, sich und andere vorzubereiten, nicht abzuwarten, sondern sich heute und morgen im Denken und Handeln 110

moralisch und politisch auf die Zeit vorzubereiten, in der die sich ver­ schärfenden Konflikte des korporativen Kapitalismus ihren repressi­ ven Zusammenhalt verlieren und sich neue Räume öffnen, in denen die wirkliche Arbeit für den libertären Sozialismus ansetzen kann. Die Aussichten für nächstes Jahr, die Aussichten für die Neue Linke, sind gut, wenn sie nur ihre jetzige Aktivität aufrechterhält. Es wird immer Perioden mit Rückschlägen geben. Keine Bewegung kann mit gleich­ bleibendem Tempo voranschreiten; wenn wir unsere Aktivität auf­ rechterhalten, wäre das schon ein Erfolg. Noch ein Wort zu Freund oder Feind innerhalb der Linken. Die­ jenigen, die besonders die Jungen in der Neuen Linken kritisieren diejenigen, die für die große Weigerung kämpfen, die sich nicht dem Fetischismus und den fetischisierten Begriffen der Altlinken und Alt­ liberalen anpassen wollen - , diejenigen, die sie als pubertierende Radi­ kale und als versnobte Intellektuelle abstempeln wollen und dabei die berühmte Streitschrift von Lenin zitieren: ihnen muß ich sagen, daß das eine Geschichtsklitterung ist. Lenin hat auf Linksradikale einge­ schlagen, die gegen eine starke revolutionäre Massenpartei waren. Eine solche revolutionäre Massenpartei gibt es heute nicht. Die Kom­ munistische Partei ist zu einer Ordnungspartei geworden. So hat sie sich selbst genannt. Anders gesagt: Umgekehrt wird heute ein Schuh daraus. Wenn es keine revolutionäre Partei gibt, dann sind diese angeblich pubertierenden Linksradikalen zwar die schwachen und verwirrten, aber die wirklichen Erben der großen sozialistischen Tra­ dition. Ihr wißt alle, daß ihre Reihen von Agenten, Dummköpfen und Abenteurern durchsetzt sind. Aber es gibt unter ihnen auch diejenigen Menschen, die Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, die so weit­ gehend frei sind von den aggressiven und fepressiv inhumanen B e­ dürfnissen und Bestrebungen der Ausbeuter-Gesellschaft, daß sie die Möglichkeit haben, für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu arbei­ ten. Ich würde gerne weiter so lange, wie ich kann, mit ihnen Zusam­ menarbeiten.

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Die Bew egung in einer neuen Ara der Repression Eine Bestandsaufnahm e

Mit dem Wechsel Marcuses an die Universität von Kalifornien in San Diego mehrten sich auch die Besuche in Berkeley. Das hatte nicht nur mit Leo Löwenthals dortiger Anwesenheit zu tun und dem daraus resultierenden engeren Kontakt zwischen den beiden Kritischen Theoretikern. Das schlug sich auch im Austausch von Manuskripten nieder. Besonders Löwenthal las und redigierte ab 1968 immer wieder die Arbeiten von Marcuse: von Versuch über die Befreiung (1969) über Konterrevolution und Revolte (1972) bis zu Permanenz der Kunst (1977). Auch das Manuskript des folgenden Vortrags vom 3. Februar 1971 besprachen Löwenthal und Marcuse, das geht aus einem Brief Löwenthals an Marcuse vom 2. März 1971 hervor. Gelegenheiten für Marcuse und Löwenthal, sich zu treffen, boten in die­ sen Jahren einige Einladungen an die Universität von Kalifornien in Berkeley. Studentische Gruppen aus dem »Free Speech«-Movement1, das Mitte der sechziger Jahre in Berkeley seinen Höhepunkt erreichte, diskutierten mit Marcuse ihre politische Strategie und die Auswirkungen auf die Hochschu­ le. Das galt auch für die Aktivisten der »Peoples Park«-Bewegung2. Doch nicht nur studentische Gruppen luden Marcuse nach Berkeley ein. Wichtig war dem mittlerweile von höchster Stelle angegriffenen Professor3 für Philosophie die Solidarität seiner Kollegen. So lud der Fachbereich Sozio­ logie der Universität von Kalifornien in Berkeley Marcuse am 3. Februar 1971 zu einer Diskussionsveranstaltung ein, in der die Aussichten einer radikalen Oppositionsbewegung in Anbetracht ihres Niedergangs und einer »präven­ tiven konterrevolutionären« Phase erläutert werden sollten. In diesem Vortrag stand nicht das politische Tagesgeschehen im Vordergrund. Marcuse ging es hier zentral um die Erarbeitung neuer Begriffe für eine umwälzende sozia­ le Praxis und um die Rekonstruktion Marxscher Begriffe, schließlich um die Auswirkungen eines global agierenden Kapitalismus.

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Marcuses Beitrag (HMA 417.00), der Überlegungen aus seiner Arbeit Konterrevolution und Revolte fortführt, wurde von den Veranstaltern aufge­ zeichnet und sprachlich bearbeitet. Marcuse genehmigte den Abdruck der Fassung. Der Artikel erschien erstmals in Berkeley Journal of Sociology, Nr. 16, 1971-72, S. 1-14. Die deutsche Übersetzung folgt der Druckfassung. Der Titel stammt von Marcuse.

Anmerkungen 1 Die Free Speech-Bewegung, die 1964 in Berkeley entstand, war eine Reaktion auf das Verbot der Universitätsleitung, auf dem Campus Teach-Ins gegen den Vietnam-Krieg durchzuführen und Flugblätter zu verteilen. Die Bewegung erfaßte bald alle Universi­ täten von Kalifornien. Zentren waren die Universität von Kalifornien in Los Angeles und in Berkeley. 2 Als Folge der Free Speech - und Anti-Vietnam-Kriegs-Bewegung und aufgrund von Besetzungen von Universitätsgebäuden, besonders in Berkeley, verhängte Ronald Reagan im Februar 1969 über die kalifornischen Universitäten den Ausnahmezu­ stand. Auf dem Campus in Berkeley marschierte die Nationalgarde auf. Im Mai 1969 beabsichtigte die Universität von Kalifornien, in Berkeley ein Grundstück, das den Pro­ testlern als Treffpunkt für politische und kulturelle Aktivitäten diente, in einen Parkplatz umzuwandeln. Die Studenten verlangten von der Universität, dort einen öffentlichen Park einzurichten und begannen mit einer Umgestaltung. Während der Demonstra­ tion gegen die Absicht der Universitätsverwaltung kam es auf der Telegraph Avenue in Berkeley zu gewalttätigen Übergriffen der Ordnungsbehörden. Ein Student wurde getötet, mehrere Studenten wurden von der Polizei und den Nationalgardisten ange­ schossen, weit über 1.000 verhaftet. 3 Nicht nur der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan, sondern auch der damalige Vize-Präsident Spiro T. Agnew unterstützten das Anliegen, Marcuse von der Universi­ tät in San Diego zu entfernen. Agnew beschwor die Verantwortlichen der kaliforni­ schen Universitäten in einer Fernsehtalkshow, sich von dem »Verführer der Jugend« zu befreien.

Ich möchte eine theoretische Analyse der Situation zur Diskussion stellen, in der sich die radikale Bewegung heute befindet. Ich will von vornherein sagen, daß ich die radikale Studentenbewegung und die schwarzen und braunen Kämpfer für die einzige wirkliche Opposition 113

halte, die wir in diesem Land haben. Es gibt keine andere. Oder wenn es sie gibt, entzieht sie sich jedenfalls meiner Kenntnis. Ich hoffe, daß die von mir versuchte Analyse tatsächlich eine marxistische Analyse ist, wenn Marxismus mehr sein soll als das Nachbeten von Begriffen, die vor hundert Jahren entwickelt wurden. Es fällt mir schwer, mich auf eine solche theoretische Analyse ein­ zulassen, wenn alles um uns herum danach schreit, etwas zu tun - egal was - , damit wir nicht ersticken, damit wir nicht implodieren. Es ist sehr schwer, sich auf eine theoretische Analyse einzulassen, wenn die Orwellsprache das normale Medium der Kommunikation zwischen Regierung und Volk geworden ist - und sogar in hohem Maße im Vol­ ke selbst. Aber die Orwellsprache ist nicht nur ein eklatant verlogener Widerspruch, sie ist auch ein Ausdruck der Fakten. Wir beenden den Krieg in Indochina, indem wir ihn ausweiten. Wir ziehen uns zurück, während wir Vordringen. Wir lassen Anklagen gegen mutmaßliche Massaker in Vietnam »im Interesse der Gerechtigkeit« fallen. Und so weiter und so fort. Mir scheint, daß wir hier, so merkwürdig es klingt, den sprachlichen Ausdruck der realen Widersprüche des heutigen Kapitalismus vor uns haben: Es ist einfach so, daß diese Gesellschaft nur Frieden haben kann, indem sie den Krieg vorbereitet oder sogar Krieg führt. Es ist einfach so, daß sie Konflikte nur entschärfen oder vorübergehend lösen kann, indem sie andernorts Konflikte ausweitet oder schürt. Die Analyse, die ich euch vortragen will, beginnt mit zwei Thesen. Erstens: Der Ausgang des 20. Jahrhunderts könnte uns durchaus die erste welthistorische Revolution bringen. Zweitens: Der Fortgang die­ ser Revolution wird von einer präventiven Konterrevolution im globa­ len Maßstab durchkreuzt, die ihr Zentrum in den Vereinigten Staaten hat. Ich spreche von einer präventiven Konterrevolution, weil ihr kei­ ne Revolution vorausging. Die kommende Revolution (wenn sie denn kommt - und ihr werdet sehen, daß das keineswegs sicher ist) wird eine welthistorische Revolution sein, weil die Gesellschaft zum ersten Mal in der Geschichte über die Möglichkeiten verfügt, Armut und Aus­ beutung weltweit zu beseitigen. Es wird eine welthistorische Revoluti­ on sein, weil sich in der Dritten Welt das mächtige revolutionäre Potential herausbildet, das auch die Hauptbefürworter des Kapitalis­ mus in den Reihen der unterdrückten Minderheiten erfaßt. Es wird eine welthistorische Revolution sein, weil wir in China die Entwick114

lung einer neuen Form von Sozialismus haben, der nicht dem autori­ tären, bürokratischen Modell gehorcht; und es gibt immer noch die Existenz der Sowjetunion und des sowjetischen Machtbereichs, viel­ leicht als potentiell objektiv antikapitalistischen Mächten. Im Gegenzug gegen diese (für das System wahrhaft bedrohlichen) Aussichten haben wir nun auf einem nie dagewesenen Niveau die organisierte Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) im In- und Ausland. Sie dient nicht nur der Revolutionsbekämpfung, sie soll auch den verschärften Widersprüchen des heutigen kapitalistischen Sy­ stems entgegenwirken. Ganz allgemein verlangt der schreiende Kon­ flikt zwischen den gewaltigen Produktivkräften und ihrer privaten Kontrolle und Nutzung die zunehmende Restriktion, Pervertierung und Deformierung der Produktivkräfte. Er verlangt immer von neuem geplantes Veralten und Vergeudung. Ich glaube aber, wir können heu­ te schon sehen, daß auch die rigoroseste kapitalistische Einschrän­ kung und Zerstörung von Produktivkräften den Fall der Profitrate, die Inflation und die sogenannte technologische Arbeitslosigkeit auf Dau­ er nicht aufhält. Dieses von mir so kurz skizzierte Bild scheint eine der zentralen Thesen der marxistischen Theorie zu bestätigen, die durch die tatsäch­ lichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts scheinbar widerlegt war, nämlich die These, daß eine gänzlich sozialistische Gesellschaft nur weltweit möglich ist und daß eine solche Revolution im höchstentwikkelten Industrieland beginnt. Mit anderen Worten, die kapitalistische Kette muß nicht an ihrem schwächsten, sondern an ihrem stärksten Glied aufgesprengt werden. Warum das so ist? Ich glaube, die Antwort ist heute ganz klar zu sehen. Machen wir uns nur für einen Augenblick klar, was eine radikale Veränderung in der imperialistischen Metropo­ le global bewirkt. Sie würde den Zusammenbruch der Lakaienregime in der Dritten W elt - und nicht nur in der Dritten Welt - bedeuten. Sie würde ein Haupthindernis für die Entwicklung der europäischen Revolutionen beseitigen, sie würde der chinesischen und kubanischen Revolution eine unabhängige Entwicklung gestatten, und sie würde vielleicht sogar eine politische Umwälzung in der Sowjetunion bedeu­ ten. Zudem impliziert dieses ganz neue quantitative Ausmaß der potentiellen Revolution auch eine qualitative Differenz zu früheren Revolutionen. Diese Revolution, die als erste auf den Errungenschaf­ ten der Industriegesellschaft basiert, könnte von vornherein einen 115

umfassenden Charakter annehmen. Die Beseitigung der Unterord­ nung des Menschen unter die Werkzeuge seiner Arbeit und die pro­ duktive und progressive Abschaffung von entfremdeter Arbeit würde ihrerseits zu einer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Revo­ lution - alle drei Revolutionen in einer - führen und kraft dieser Dimension die bisherigen Revolutionen weit übertreffen. Sie würde zum ersten Mal in der Geschichte von vornherein den Aufbau eines integralen Sozialismus ermöglichen und ihn nicht auf unbestimmte Zeit zurückstellen für eine zweite Phase, die vielleicht nie kommt. Diese neuartige historische Situation verlangt nach einer Überprü­ fung der Voraussetzungen und der wirksamen Strategie für die radika­ le Opposition, die unter der präventiven Konterrevolution funktio­ niert. Ich möchte als Ausgangspunkt die strukturellen Veränderungen anführen, die seit dem Zweiten Weltkrieg innerhalb des kapitalisti­ schen Systems stattgefunden haben. Ich will nur die Haupttendenzen ansprechen. In dem Maße, wie die internationale Konzentration von wirtschaftlicher Macht voranschreitet, werden die Einzelkapitalisten zunehmend den Interessen des Gesamtkapitals unterworfen. Das Kapital verbindet sich immer mehr direkt und unmittelbar mit dem Staat, mit der Regierung. Die Abhängigkeit des Kapitals von der politi­ schen und militärischen Machtstruktur und das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft hat in einem solchen Maße zugenommen, daß »Ver­ staatlichung« sogar hierzulande nichts Unanständiges mehr ist; man erwägt sogar die Verstaatlichung bestimmter Großunternehmen. Wir erleben, mit anderen Worten, daß der Monopolkapitalismus zum Staatskapitalismus wird. Was bedeutet das für die soziale Schichtung? Es bedeutet, daß immer größere Teile der Mittelschicht vom Monopolkapital abhängig sind. Sie sind wenn nicht in der Schöpfung, dann in der Realisierung des Mehrwerts beschäftigt. Mit dieser Transformation des Kapitalis­ mus erleben wir also die Ausweitung der Ausbeutung über die Indu­ strie- und Landarbeiterklasse hinaus, und wir erleben die Herausbil­ dung dessen, was man als eine neue Arbeiterklasse von gebildeten Arbeitskräften bezeichnet hat, die der zunehmend wissenschaftlichtechnische Charakter des Produktionsprozesses benötigt. Gleichzeitig kann dieser Kapitalismustyp aufgrund des technischen Fortschritts in der Arbeitsproduktivität für einen Großteil der Bevölkerung einen höheren Lebensstandard mit sich bringen. Infolgedessen wird zwar die 116

große Mehrheit (einschließlich der organisierten Arbeiterschaft) in das System integriert, aber der Klassenkampf verschwindet nicht. Er kann vor der Abschaffung der Klassengesellschaft unmöglich verschwinden, vollzieht sich aber in der bekannten klassischen Form des ökonomi­ schen Kampfes im gewerkschaftlichen Rahmen. Diese Transformation bringt uns nun zur entscheidenden Frage. Ist die traditionelle Arbeiterklasse, die Fabrikarbeiterklasse, immer noch die soziale Basis einer möglichen Revolution? Oder schafft die Transformation des Kapitalismus eine neue - nicht kleinere, sondern größere - Basis? Es gibt eine verbreitete, aber unbefriedigende und unmarxistische Antwort auf diese Frage von seiten derer, die behaup­ ten, daß nach wie vor die Industriearbeit und vor allem die Fabrikar­ beit die Basis der Revolution liefert. So wird behauptet, die arbeiten­ den Massen in den fortgeschrittensten Industrieländern (ich will ein für allemal betonen, daß sich dies nur auf die fortgeschrittensten Indu­ strieländer bezieht) seien heute deshalb nicht revolutionär (und viel­ leicht sogar antirevolutionär), weil ihr Bewußtsein hinter ihrem gesell­ schaftlichen Sein zurückbleibt. Wir haben also den bekannten Konflikt von subjektiven und objektiven Faktoren. Ich halte diese Ant­ wort nicht nur für unbefriedigend, sondern für völlig unmarxistisch. Wenn wir auch nur irgend etwas von Marx kennen, dann sollten wir wissen, daß nach seiner Überzeugung das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt. Die Antwort ist deshalb im gesellschaftlichen Sein zu suchen, in den objektiven Existenzbedingungen der heutigen Arbeiterklasse, und erst in zweiter Linie in ihrem Bewußtsein. Oder, um es kürzer auszudrücken, wenn sich das Bewußtsein der Arbeiter­ klasse tatsächlich verändert hat, dann deshalb, weil sich die objektiven Existenzbedingungen der arbeitenden Klassen verändert haben. Wie ist diese Veränderung in den objektiven Existenzbedingungen der Arbeiterklasse zustande gekommen? Mir scheint, daß das, was wir erlebt haben, eine neue Stabilisierung des Kapitalismus auf zwei Ebe­ nen ist: erstens eine globale wirtschaftliche, politische und militärische Expansion nach außen, und zweitens und eng damit zusammenhän­ gend eine innere und äußere Neo-Kolonisierung. Wodurch ist diese Stabilisierung des Kapitalismus hervorgebracht worden? Fortschrei­ tende Konkurrenz und wissenschaftlich-technischer Fortschritt haben ganz neue Industriezweige geschaffen und die inneren und äußeren Märkte vergrößert, während die wachsende Arbeitsproduktivität 117

gleichzeitig dem Fall der Profitrate entgegengewirkt hat und einen relativ hohen Lebensstandard für die arbeitenden Klassen ermög­ lichte. Diese Transformation wird begleitet, und das ist, wie mir scheint, für eine marxistische Analyse entscheidend, von einem Wachstum im sogenannten tertiären Wirtschaftssektor: Reklameindustrie, Dienstlei­ stungen, Unterhaltung und so weiter. Dieses Wachstum des tertiären Sektors (in dem hauptsächlich Dienstleistungen produziert werden) bedeutet marxistisch gesprochen, daß ein zunehmender Teil der arbei­ tenden Bevölkerung mit unproduktiver Arbeit beschäftigt ist. Das heißt mit Arbeit, die keine materiellen Waren produziert, die kein Kapital produziert, wie es bei Marx heißt, und die deshalb nicht prole­ tarisch ist. Das sagt Marx (im K a p ita l, Modern Library Edition, S. 673 [vgl. Das K a p ita l, Marx-Engels Werke, Bd. 23, S. 614ff.]), nicht ich. Aber Marx sagt noch unangenehmere Dinge. Die Assimilation eines Großteils der arbeitenden Klassen an die Mittelschichten, das heißt an diejenigen Mittelschichten, die nicht zu den herrschenden Klassen gehören, ist daher weder bloß ideologisch noch ein Oberflächenphä­ nomen, sondern im Produktionsprozeß selbst begründet. Lassen Sie mich noch einmal auf Marx verweisen, auf die Theorien über den Mehrwert (deutsche Ausgabe, Bd. 1 ,324ff [bezieht sich auf die Erstaus­ gabe, Stuttgart 1905; vgl. Marx-Engels Werke, Bd. 26.1, S. 189f.]). Er sagt, und das ist eine der erstaunlichsten Vorwegnahmen, daß mit zunehmender Arbeitsproduktivität ein immer größerer Teil der Bevöl­ kerung in der immateriellen Produktion beschäftigt ist. Dieser Teil umfaßt auch geistige Produzenten. Sie bilden eine immer wichtigere Basis der kapitalistischen Reproduktion in der Realisierung, und wir können heute hinzufügen: auch in der Erzeugung des Mehrwerts. Das bedeutet zweifellos eine entscheidende Veränderung in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Heißt das, daß die Arbeiterklas­ se nicht mehr das revolutionäre Subjekt ist? Gewiß nicht. Solange Arbeit die menschliche Basis für den Produktionsprozeß bleibt, wird die Arbeiterklasse seine politische Basis bleiben. Es wird aber eine sehr veränderte und sehr erweiterte Arbeiterklasse sein. Wir haben heute furchtbare Schwierigkeiten, das revolutionäre Subjekt zu finden, weil wir es so betrachten, als ob das revolutionäre Subjekt ein Ding ist, das irgendwo fertig oder zumindest halbfertig existiert und einfach gefun­ den werden muß. Wir müssen uns von diesem Fetischismus der Arbeit 118

freimachen, und auch von dieser Mystifikation des Klassenbegriffs. Wir müssen erkennen, daß sich das revolutionäre Subjekt in den Kämpfen herausbildet. Erst in den Kämpfen wird es zum revolutionä­ ren Subjekt. Eine Klasse verändert sich mit den Veränderungen im Produkti­ onsprozeß. Diese Veränderungen bedeuten erstens, daß das revolutio­ näre Subjekt eine erweiterte und veränderte Arbeiterklasse sein wird, in der Arbeit im traditionellen Sinne, Fabrikarbeit, nur ein Element (und das zur Zeit am wenigsten aktive Element) sein wird. Diese Ver­ änderungen bedeuten zweitens, daß das Subjekt, die Motive und die Triebkräfte der Revolution in immateriellen Bedürfnissen liegen. Das ist eine qualitative Differenz zwischen dieser Revolution und der frü­ heren. Mit anderen Worten, wenn und falls die materiellen Bedürfnis­ se befriedigt werden, würde diese Revolution zum ersten Mal die Selbstbestimmung des Menschen in allen Bereichen und Dimensionen seines Lebens, und nicht nur bei der Arbeit, auf die Tagesordnung set­ zen. Im gegenwärtigen Stadium operiert der Kapitalismus auf dem Rücken der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung. Abgetrennt von der Verfügung über die Produktionsmittel, verbringt diese Mehrheit ihr Leben in entfremdeter Arbeit. Trotzdem ist sie im klassischen Sin­ ne kein Proletariat; sie lebt nicht in entsetzlicher Armut. Große Teile von ihr sind in ihrem Aussehen, in ihren W erten und in ihren Ambitio­ nen eher bürgerlich, auch wenn sie sich von der kleinen Schicht, die diese Gesellschaft beherrscht, sehr unterscheiden. Unterhalb dieser ungeheuren Mehrheit lebt die große Zahl der unterprivilegierten rassi­ schen und nationalen Minderheiten ohne Arbeit und Beschäftigungs­ möglichkeit am Rande des regulären Produktionsprozesses. Das ist, glaube ich, eine neue Technostruktur der Ausbeutung: die wachsende Produktivität der Arbeit, die den Reichtum an Waren und Dienstlei­ stungen beständig vermehrt; die zunehmend sinnlose Arbeit und Lei­ stung, die zum Produzieren, Kaufen und Verkaufen dieser Güter und Dienstleistungen benötigt wird; und die wissenschaftliche Bewußt­ seins- und Triebkontrolle, das heißt Herrschaft durch gesteuerte Befriedigung und gesteuerte Aggression. W er beherrscht diese Technostruktur der Ausbeutung? Charles Reich hat einen Bestsellerroman mit dem Titel The Greening of Ame­ rica [Deutsche Ausgabe: D ie W elt w ird jung. Der gewaltlose A u f stand der jungen Generation, Reinbek 1973] geschrieben (es ist eigentlich 119

ein Bestsellerroman, wird aber leider nicht unter Belletristik geführt), in dem er immer wieder und wortwörtlich behauptet, daß niemand herrscht. Da niemand herrscht, kann nichts leichter sein als die Revo­ lution, und damit ist klar, daß die Revolution beiderseits ohne Gewalt auskommt. Ich glaube, ihr stimmt mir alle zu, daß uns nichts lieber wäre als das. Es liegt nicht an uns, daß es nicht so ist. Und ich glaube, wer tatsächlich herrscht, ist klar. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied. Die Herrschenden, jene kleinen Gruppen von Militärs, von Politikern, von Inhabern wirtschaftlicher Macht, sind nicht mehr, und das scheint mir wichtig, eine herrschende Klasse, die die Produk­ tivkräfte entwickelt. Statt dessen tut diese herrschende Klasse genau das Gegenteil, indem sie die Produktivkräfte im Dienst eines zuneh­ mend verzweifelt aggressiven und schäbigen Systems mißbraucht und zerstört. Das System ist in einem solchen Maße aggressiv und schäbig, daß auch seine äußeren Aktivitäten nicht mehr primär ökonomisch begründet sind, sondern angetrieben werden durch den alles beherr­ schenden Kampf gegen den Kommunismus im Interesse der Erhaltung des Status quo. Solange diese Machtstruktur der Ausbeutung von einer wesentlich konservativen Mehrheit aufrechterhalten wird, verwandelt sich der politische Klassenkampf faktisch in einen internationalen Kampf mit den nationalen Befreiungsbewegungen und mit ihren Pen­ dants in den Metropolen als den objektiv antikapitalistischen Kräften. Aber das ist nicht die Grundtendenz, denn wir erinnern uns, daß sich diese äußeren Kräfte auf Dauer nicht behaupten können ohne die innere Schwächung des Kernlands des globalen Kapitalismus. Diese inneren Widersprüche des Kapitalismus erscheinen heute in einer neuen historischen Form, in der sogenannten Konsumgesellschaft als dem höchsten Stadium des Kapitalismus. Die Widersprüche erschei­ nen in der sogenannten Konsumgesellschaft zunächst in scheinbar ideologischer, ja psychologischer Form. Sie machen sich in der zuneh­ menden Dysfunktion der operativen Werte bemerkbar, die wichtig sind zur Reproduktion des Systems. Die Widersprüche manifestieren sich auch in der zunehmenden Auflösung der moralischen Festigkeit und Kohäsion der Gesellschaft, im Nachlassen von Arbeitsdisziplin, Verantwortungsgefühl und Effizienz, in der völligen Abkehr von jenem Geist der innerweltlichen Askese, der bis vor kurzem die Haupt­ triebfeder des Kapitalismus war. Die Widersprüche zeigen sich in der Form von Aussteigern, Rückzügen und Abspaltungen nicht nur in den 120

rebellierenden Mittelschichten, sondern auch in der herrschenden Klasse. Kurz, in dieser sogenannten Konsumgesellschaft erleben wir eine weithin unpolitische, diffuse, ungeregelte und dennoch tiefgehen­ de Nicht-Identifikation mit dem System. Das, würde ich sagen, ist die Kehrseite, der Bodensatz unter der lauten, hysterischen und propagan­ distisch aufbereiteten Identifikation mit dem System. Es ist ein immer noch wackeliger, immer noch schwacher Grund, der aber größer und stärker wird, denn - und das ist für mich das Entscheidende - diese Rebellion gegen die vom kapitalistischen System geforderten Verhal­ tensmuster und Werte wird vom System nicht nur hervorgebracht, sondern auch ständig vorangetrieben und weiter verschärft. Wie schafft es die Konsumgesellschaft, die inneren Widersprüche des Kapitalismus immer mehr zu verschärfen? Neben der Welt von entfremdeter Arbeit, Elend und Unterdrückung bringt der Kapitalis­ mus im gegenwärtigen Stadium eine Welt von Komfort und techni­ schen Spielereien, von Spaß und Überfluß hervor, an der die Men­ schen in zunehmender Zahl, wenn auch größtenteils prekär teilhaben. Der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften ist immer noch, wie Marx es definiert hat, eine ungeheure Warensammlung, aber diese Waren erfordern zu ihrer Produktion immer weniger Arbeitskraft. Das heißt, sie stellen eine immer kleinere Quelle von Mehrwert dar. Da der kapitalistische Reichtum durch eine zunehmende Masse von Dienst­ leistungen erzeugt wird, erleben wir die bevorstehende Austrocknung der Anlage- und Warenmärkte. Mit anderen Worten, die Konsumge­ sellschaft zeigt in ganz handgreiflicher Form die inneren Grenzen der kapitalistischen Produktion auf. Könnte die Konsumgesellschaft viel­ leicht gar der Totengräber des Kapitalismus sein? In der französischen Zeitung Le Monde hat M. Troute diese innere Entwicklung allgemeinverständlich beschrieben. Ich will seine Argu­ mentation referieren und auf unsere Überlegungen beziehen. Die Ent­ wicklung des tertiären Sektors hat sich beschleunigt. Sie absorbiert immer mehr Nachfrage und verlangt immer mehr unproduktive Inve­ stitionen, das heißt Investitionen, die nicht mehr die notwendige Profit­ rate abwerfen. Das Wachstum dieses Sektors erzeugt eine Störung des Kräftegleichgewichts, das bislang vollständig von immer mehr Gütern und profitabler Produktion abhing. Es ist keine Paradoxie, daß der Pro­ duzent immer mehr hinter dem Konsumenten zurücktritt und daß der Wille zum Produzieren hinter der Ungeduld einer Konsumtion zurück121

bleibt, der die Aneignung der produzierten Gegenstände weniger wich­ tig ist als der Genuß lebendiger Gegenstände. Der Aufstand der jungen Generation gegen die Konsumgesellschaft ist nichts anderes als eine intellektuelle Bekundung des Willens, über die industrielle (das heißt kapitalistische) Epoche hinauszugehen, nichts anderes als die Suche nach einem neuen Gesellschaftsmodell jenseits der Produzentengesell­ schaft. In diesem Sinne kann die Konsumgesellschaft durchaus zum Totengräber des Kapitalismus werden. Ihr konntet aus meinem Referat von M. Troute entnehmen, daß sich die Jugendrevolte - und zwar weit besser, als sie sich zumeist selbst begreift - als ein Ausdruck und Ausfluß von Tendenzen begreifen läßt, die sich im gesellschaftlichen Produktionssektor abspielen. Das heißt, die Jugendrevolte ist ein Ausdruck von Basistendenzen, und nicht nur von ideologischen Tendenzen, der Konsumgesellschaft. Ich will nun, wie versprochen, ganz kurz zu skizzieren versuchen, wie ich die Situation der radikalen Bewegung heute sehe. Und ich will dabei ganz offen sein. Trotz ihres scheinbar elitären Charakters bringt die Bewegung ein objektiv radikales Potential in der Gesamtgesell­ schaft zum Ausdruck, je mehr sie (wenn auch oft unbewußt) die in die­ sem historischen Stadium neuartigen inneren Widersprüche artiku­ liert. Die heute herrschende Klasse, die weit intelligenter ist, als wir ihr Zutrauen, weiß deshalb ganz genau, wo der Feind in ihrem eigenen Land steht. Die volle Wucht der Repression richtet sich gegen die schwarzen und braunen Kämpfer und gegen die Schulen, Colleges und Universitäten. Sie richtet sich nicht gegen die organisierte Arbeiter­ schaft. Sie muß sich nicht gegen die organisierte Arbeiterschaft richten. Das ist die präventive Konterrevolution - noch nicht der amerikani­ sche Faschismus. Wir sind von einer faschistischen Regierungsform noch weit entfernt, aber einige der möglichen Voraussetzungen zeich­ nen sich ab. Sie sind allgemein bekannt, und ich will sie nur auflisten: die Gerichte, die mehr und mehr als politische Tribunale benutzt wer­ den, der Bildungs- und Sozialabbau im reichsten Land der Welt, anti­ demokratische Gesetze wie Präventivhaft und No-Knock-Laws [Gesetze, nach denen sich die Polizei ohne richterlichen Durchsu­ chungsbefehl Zutritt zu Privatwohnungen verschaffen darf], wirt­ schaftliche Sanktionen, wenn man politisch oder anderweitig suspekt ist, die Einschüchterung und Selbstzensur der Massenmedien. Das sind ganz erschreckende Anzeichen. Man kann nicht sagen, daß die 122

Geschichte sich wiederholt; sie wiederholt sich nie in derselben Form. Die Tatsache, daß wir keinen charismatischen Führer haben, die Tat­ sache, daß wir hier keine SS oder SA haben, bedeutet einfach, daß sie in diesem Lande nicht nötig sind. Wenn nötig, können andere Organi­ sationen diese Arbeit vielleicht sogar besser erledigen. Ich muß euch nicht sagen, an welche Organisationen ich dabei denke. Diese Konterrevolution hat vormals wirksame Aktionsformen der Bewegung ernsthaft beschnitten. Was noch vor einem Jahr richtig war, geht heute nicht mehr. Die Bewegung ist in sich gespalten, auf der Suche nach einer neuen Strategie. Ich glaube, daß es heute um die Selbsterhaltung der Bewegung als politischer Kraft geht. Das heißt: ein Schritt zurück, um zwei Schritte voranzukommen. In diesem Sinne möchte ich ganz kurz fünf Punkte erörtern: erstens die Spaltungen innerhalb der Bewegung, zweitens die Bündnisfrage und die Auswei­ tung der Basis, drittens die Frage von Organisation versus Spontanei­ tät, viertens persönliche und gesellschaftliche Befreiung, fünftens Selbstzerstörung und Antiintellektualismus. Leider kann ich, wie schon gesagt, nur ein paar wenige Bemerkungen machen; ich würde mich freuen, wenn ihr sie als Stoff zur Diskussion nehmt.

Die Spaltung der Bewegung Laßt mich zunächst sagen, daß eine Spaltung der Bewegung nicht unbedingt verhängnisvoll sein muß. Wir haben das in Rußland gese­ hen, wo die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki die Russische Revolution durchaus nicht verhindert hat; wir haben solche Spaltungen auch in China erlebt. Die Spaltung ist sinnvoll, wenn es eine Frage der realistischen Massenstrategie ist, der Erprobung, des Bewußtseins, der Stärken, der Kampfbereitschaft und so weiter. Ideo­ logische Differenzen und Spaltungen werden ausgesprochen irrele­ vant und lächerlich, wenn eine solche Massenbasis erst noch geschaf­ fen werden muß. In solchen Fällen werden die Konflikte rein ideologisch und enden normalerweise in ritualisierten Debatten, in einer Rhetorik, die in einer Phantasiewelt lebt und webt, ohne einen Bezug zur Realität. Das ist von vornherein geeignet, mögliche Sympa­ thisanten abzuschrecken. Der Gebrauch von Ausdrücken und Begrif­ fen wie Imperialismus, Ausbeutung und Kapitalismus kann und sollte unter uns seinen guten Sinn haben, aber es hat überhaupt keinen Sinn, damit diejenigen überreden und überzeugen zu wollen, die wir als 123

Außenstehende bezeichnen können. Wenn und solange man diese Begriffe nicht in die Alltagssprache übersetzen kann - und das sollte durchaus möglich sein sollten wir sie vermeiden. Das ist einer der ganz wenigen Fälle, wo ich für die Alltagssprache bin. Alles in allem würde ich vorschlagen, alle ideologischen Differen­ zen, die es in der Bewegung gibt, sorgfältig auszuklammern - sie zurückzustellen für bessere Zeiten, wenn sie realistischer sind. Sie soll­ ten zugunsten des vereinten Handelns für gemeinsame Ziele zurück­ gestellt werden: für ein Handeln, das eben deshalb, weil es um konkre­ te und transparente Ziele organisiert ist, die Basis der Bewegung verbreitern kann. Der sogenannte Kampf um die Straße verlangt kei­ nen ideologischen Puritanismus. Ein solcher Puritanismus kann in die­ ser Situation ganz im Gegenteil fatal sein für den Fortschritt der Bewe­ gung.

Die Bündnisfrage und die Verbreiterung der Basis So leid es mir tut (und ich habe lange gebraucht, um es mir einzugeste­ hen, und ich lasse mich immer noch gern vom Gegenteil überzeugen), aber ich glaube, es gibt in Anbetracht der Konterrevolution tatsächlich so etwas wie ein kleineres Übel. Man hat einmal gesagt, daß ein wirklicher Revolutionär weiß, wann er Kompromisse machen muß und welche Kompromisse er machen muß. Wir befinden uns in einer sehr schlechten und sehr ernsten Lage, einer Situation, in der sogar sol­ che Dinge wie der Kampf für die Wiedererlangung und Wiederherstel­ lung der Bürgerrechte auf der Tagesordnung steht und stehen sollte. Die Lage ist so schlecht, daß sogar - und man wagt es kaum auszuspre­ chen - zeitweilige Bündnisse und Kompromisse mit bestimmten Libe­ ralen angebracht scheinen. Sie können für vieles gut sein. Erstens kön­ nen sie sehr gut und hilfreich sein (und seien wir ruhig einmal Vulgärmaterialisten), um eines der größten Defizite der heutigen Lin­ ken zu überwinden, nämlich die totale Mittellosigkeit. Man bekommt kein Geld, wenn man ihnen mit Ausdrücken wie »Kapitalismus«, »Imperialismus« und »Ausbeutung« kommt, aber man kann sie durch­ aus überzeugen, wenn man diese Begriffe für diejenigen aufspart, die damit etwas anfangen können. Zweitens und vor allen Dingen müssen wir sorgfältig auf das Verhältnis zwischen der Bewegung und der Arbeiterklasse achten. Ich habe schon gesagt, daß es Unsinn ist, wenn es heißt, daß eine Revolution ohne die Arbeiterklasse denkbar ist. Ich 124

habe sofort hinzugefügt, daß wir innerhalb der Arbeiterklasse mit strukturellen Veränderungen konfrontiert sind. Läßt sich also irgend etwas sagen über ein mögliches Bündnis von Studentenbewegung und Arbeiterklasse? Laßt mich gleich feststellen, daß das für mich keine Frage von Bündnissen ist, sondern die Frage einer Verbindung von zwei politischen und gesellschaftlichen Kräften. Und diese Verbin­ dung hängt vom Fortschreiten der kapitalistischen Destabilisierung ab, in der beide Kräfte, einerseits die Studentenbewegung und andererseits die Arbeiterschaft, auf ihrer eigenen Basis und in ihren eigenen Reihen operieren. Die Studenten sind heute nicht etwa, wie es in einer über­ spannten Phantasie aussehen könnte, eine leninistische Avantgarde, weil es keine Avantgarde geben kann, die keine Massenbewegung hin­ ter sich hat. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn wir die Verbindung als einen Prozeß betrachten, als einen Punkt, dem sich zwei politische und gesellschaftliche Kräfte jeweils auf ihrer eigenen Seite annähern, dann bedeutet es vor allem, daß die Parole »Geht zu den Arbeitern!« äußerst unzureichend ist, ganz abgesehen von ihrer lächerlichen Bevormundung. Diese Verbindung läßt sich nicht dadurch herstellen, daß man in die Fabrik geht oder an den Fabriktoren Flugblätter ver­ teilt. Man wird entweder zum Arbeiter und setzt die Arbeit in der Fabrik fort, oder es muß eine Funktionsteilung geben, für die ich euch ein Beispiel geben will. Dieses Beispiel wird mit Erfolg in Italien aus­ probiert, das in diesen Dingen einige Erfahrung hat. Die Proletarische Linke (so heißt die Organisation, von der ich spreche), hat beschlos­ sen, ihre Strategie zu ändern und eine vollständige Funktionsteilung anzustreben. Die Studenten stellen ihr Informations- und Propaganda­ material zusammen und übergeben es den Basiskomitees in den Fabri­ ken (die ausschließlich aus Arbeitern bestehen), um es ihrer Situation entsprechend zu verwenden. Das ist nur ein Beispiel für die Zusam­ menarbeit mit geteilten Funktionen - eine Zusammenarbeit, die nicht versucht, die offensichtliche Kluft, die heute zwischen diesen zwei Kräften besteht, zu verwischen.

Organisation versus Spontaneität: persönliche und gesellschaftli­ che Befreiung Ich habe, glaube ich, schon gesagt, daß die früheren traditionellen Massenparteien passé sind. Erstens gibt es im Augenblick keine revolutionären Massen. Es kann keine Massenpartei geben, wenn es 125

keine Massen gibt. Zweitens haben diese zentralistischen Massenpar­ teien zur parlamentarischen Demokratie gehört, und die parlamenta­ rische Demokratie ist nicht mehr das Medium einer radikalen Verän­ derung. Diese zentralistischen Massenparteien lassen sich durch Beseitigung ihrer Führung leicht ausschalten. Was sich statt dessen abzeichnet, was in Frankreich und Italien ausprobiert wurde, ist die Konzentration der Bewegung auf lokale und regionale Organisationen einer Einheitsfront mit ausgeklammerten und zurückgestellten ideolo­ gischen Differenzen: lokale und regionale Komitees, die in der Lage sind, populäre anstelle von radikalen Aktionen auf der Basis von gemeinsamen Zielen (von denen es viele gibt) zu organisieren. Das ist heute eine Frage von Organisation und Koordination. Ich möchte an dieser Stelle betonen, und es ist irgendwie schmerz­ lich zu betonen, daß die heroische Zeit der wunderbaren Spontaneität, der antiautoritären Bewegung, des Hippie-Rock-and-Shock, vorbei ist. Nicht weil die Bewegung schwächer geworden ist, sondern weil sie größer und ernsthafter wird. Die heroische Zeit ist vorbei, weil sich das Establishment der Gefährdung seiner Macht bewußt geworden ist, indem es die Konterrevolution organisiert. Das Establishment laßt sich nicht mehr schockieren, es ist völlig immun gegen Egotrips, die zu poli­ tischem Handeln hochstilisiert werden. Als Antwort auf die zunehmenden Schwierigkeiten des kapitalisti­ schen Systems ist die Bewegung nun mit der Aufgabe konfrontiert, ihre Autorität in den eigenen Reihen und unter ihren eigenen Mitgliedern herzustellen. Laßt uns keinen unreifen Anarchismus praktizieren. Anarchismus kann durchaus gut sein: Ich glaube, ich habe schon ein­ mal gesagt, daß in den Marxismus ein starkes anarchistisches Element integriert werden sollte. Dies jetzt schon zu tun, in Anbetracht eines ungeheuer mächtigen Feindes, ist unreif. Was bleibt, ist die Tatsache, daß es keine gesellschaftliche Befreiung ohne persönliche Befreiung geben kann, aber auch keine individuelle Befreiung ohne einen politi­ schen Kampf gegen die herrschende Unfreiheit auf gesellschaftlicher Ebene. Wie sehen die Handlungsbedingungen aus? W elche Strategie bleibt unter der Konterrevolution? Ich kann mir keine bessere Kenn­ zeichnung für eine Strategie vorstellen als die meines jungen Freundes Rudi Dutschke, wenn er vom langen Marsch durch die Institutionen spricht. Damit ist nicht und war nie das fatale Spiel der parlamentari126

sehen Demokratie gemeint. Jede radikale Opposition ist heute zwangs­ läufig außerparlamentarische Opposition. Ihr könnt im pseudodemo­ kratischen Prozeß nicht konkurrieren. Ihr seid keine Millionäre und könnt euch nicht die Maschinerie kaufen, um in diesem Prozeß Erfolg und Einfluß zu haben. Ich glaube aber, wir können immer noch mit einiger Sicherheit sagen, was es mit dieser Strategie auf sich hat. Zu einer solchen Strategie gehören Demonstrationen, ausgedehnte und gut organisierte Demonstrationen für klar bestimmte Ziele. Zu dieser Strategie gehört die Organisation von radikalen Konferenzen, Gegen­ veranstaltungen, Gegenassoziationen, kurz, die Entwicklung dessen, was man als Gegeninstitutionen bezeichnet hat, wie Rundfunk, Fern­ sehen, Presse, Workshops - alles und jedes, was das Informationsmo­ nopol des Establishment zu durchbrechen verspricht. Vor allem bedeutet der lange Marsch durch die Institutionen, daß man in die Institutionen geht, daß man lernt, wie man die Arbeit macht, daß man sich und die anderen bei der Arbeit erzieht und sich auf die Zeit vorbe­ reitet, wenn die Arbeiten für eine neue und freie Gesellschaft getan werden müssen. Gegen diese sicherlich nicht besonders attraktive und spektakulä­ re Strategie stellen wir selbst dem Establishment eine Gegenstrategie zur Verfügung. Sie wirkt wie eine Fünfte Kolonne des Establishments in der Neuen Linken, wie eine Pest, von der die Neue Linke infiziert ist. Was ich als Pest der Neuen Linken bezeichnen möchte, ist der ver­ breitete Anti-Intellektualismus. Wenn ihr euch wirklich hassen wollt, wenn ihr euch dessen schämt, was ihr seid, wenn ihr bis zur Selbstzer­ störung masochistisch seid - anders gesagt: wenn ihr tatsächlich rich­ tig anti-intellektuell sein wollt - , dann nehmt doch einen Job beim Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten oder beim Gouverneur von Kalifornien an, oder irgendwelche Jobs, die sie euch verpassen. Sie wis­ sen nämlich ganz bestimmt besser als ihr, wie man sich des Anti-Intel­ lektualismus bedient. Die berühmte These von Marx wird heute so interpretiert, als sei es nicht mehr nötig, die Welt zu begreifen und zu interpretieren; als könnten wir einfach losgehen und sie verändern. Das ist eine blödsinnige Interpretation, denn nie war Theorie, nie war die Anstrengung des Denkens, des Erkennens, was vor sich geht und was dagegen getan werden kann, so nötig wie heute. Heute mehr als jemals zuvor kann es keine revolutionäre Praxis geben ohne die Theo­ rie, die diese Praxis anleitet. Die Marxsche These besagt, daß wir die 127

Welt begreifen und interpretieren müssen, um sie zu verändern, aber sie bietet keine produktive Alternative zu der Notwendigkeit, sie zu begreifen und zu interpretieren. Ich möchte auf die Macht des falschen Bewußtseins eingehen. Die­ se materielle Gewalt der Ideologie erobert heute sogar die Neue Linke mit ihrer Rhetorik, mit ihrem Rückzug, mit ihrer Verwechslung von privater Befreiung mit gesellschaftlicher und politischer Befreiung und mehr noch mit ihrer Einstellung gegenüber denjenigen Institutionen, die immer noch besser genutzt werden könnten als jetzt. Ich kenne durchaus (ich war lange genug an der Universität) eure Kritik am Bil­ dungswesen; ich weiß sehr gut, wie vieles davon berechtigt ist. Aber was unter gar keinen Umständen berechtigt ist, ist die Parole: »Zerstört die Universität, weil sie ein Stützpfeiler des Establishments ist.« Die Universität ist ein Stützpfeiler des Establishments; es liegt an euch, sie zu verändern. Aber ihr dürft nicht den Ast absägen, auf dem ihr sitzt; es ist nämlich die Universität, in der ihr radikal werdet. Mit anderen Worten, radikale Rekonstruktion, nicht Destruktion der Universität sollte die Aufgabe sein. Die heutige Forderung, besonders für Linke, sollte mehr und nicht weniger Bildung sein. Wir brauchen unendlich viel mehr Bildung, als wir jetzt haben, um mit den Dingen fertig zu wer­ den, die auf uns zukommen und die schon sehr bald auf uns zukom­ men. Noch einmal, wenn ihr die Universität zerstören wollt, dann überlaßt das den Machtstrukturen. Genau das tun nämlich die M acht­ strukturen. Und ihr müßt nur auf euer eigenes Budget gucken, um zu sehen, wie gründlich sie das tun können. Konkurriert nicht mit Leuten, die das unendlich viel besser können als ihr. Manchmal habe ich den Verdacht, daß ich vielleicht nur deshalb ein Lob auf die Universität ausbringe, weil ich sie inzwischen verlassen habe. Aber ich glaube doch, daß es ein bißchen mehr als das ist. Ich kann kein Wort zurücknehmen, weil ich immer noch glaube, daß in den Hochschulen und Universitäten mehr oder weniger versteckt alle Tatsachen, alle Gebiete und alle Möglichkeiten vorhanden sind, die wir brauchen. Es liegt an uns, uns dieses Material zu beschaffen. Wenn ihr es nicht bekommt, wenn ihr Kurse und Seminare besucht, wo ihr wißt, daß etwas verkehrt ist, wo ihr wißt, daß wesentliche Fakten nicht diskutiert oder behandelt werden, dann kritisiert diesen Kurs kompro­ mißlos. Es gibt nur ein Problem dabei: Wenn ihr das tatsächlich kon­ sequent tun wollt, dann müßt ihr die Fakten besser kennen als der 128

Dozent. Ich möchte gleich hinzufügen, daß ich das durchaus für mög­ lich halte, und nicht einmal für besonders schwierig. Laßt mich nun zum Abschluß wiederholen, was für mich tatsäch­ lich einer der Hauptpunkte ist: daß weder die sexuelle Revolution, wenn es jemals so etwas gab, noch irgend eine andere persönliche, individuelle oder gruppenspezifische Befreiung ein Weg zur gesell­ schaftlichen Befreiung sein wird, wenn diese privaten und partikularen Befreiungsbewegungen nicht über individuelle und gruppenspezifi­ sche Befriedigungen hinausgehen, wenn sie nicht einer neuen Ratio­ nalität unterworfen werden und Teil der Theorie und Praxis gesell­ schaftlicher Veränderung werden. Ich habe anfangs gesagt, wie stark das Verlangen, das Bedürfnis nach Handeln ist. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Aktivismus und Handeln. Alles revolutionäre Handeln muß vom Volk getragen werden. In diesem Land zeichnet sich solch eine Unterstützung aus dem Volk in den Ghettos ab. Für die Studentenbewegung besteht sie noch nicht. Die Gewalt ist im Beste­ henden institutionalisiert. Die Bewegung kann sich gegen Gewalt nur verteidigen. Sie ist nicht in der Offensive und kann nicht offensiv wer­ den. Es hat genug Märtyrer und Opfer gegeben. Wie ich zu Anfang sag­ te, müßt ihr euch eure Stärke als politische Kraft erhalten. Ihr müßt diejenigen sein, die den Boden, den Körper und den Geist für eine neue Gesellschaft bereiten. Wenn ihr das nicht tut, wer sonst? Und ihr müßt alles das tun, solange ihr noch lebt, solange ihr noch jung seid, solange ihr noch in der Lage seid, zu denken, zu sprechen, zu lieben, zu wider­ stehen und zu kämpfen.

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Die 68er-Bew egung zehn Jahre danach

Obwohl es um Marcuse ab Mitte der siebziger Jahre ruhiger geworden war, erschienen anläßlich seines 80. Geburtstags im Juni 1978 in fast allen gro­ ßen Tageszeitungen in Europa Artikel über den einstigen »Theoretiker der Studentenbewegung« und, wie er im Nachhinein einmal genannt wurde, über den »Pop-Philosophen«. Trotz seines hohen Alters verfolgte Marcuse weiter sehr aufmerksam die Entwicklungen und Ziele politischer Gruppen in den westlichen Ländern und im lateinamerikanischen Raum. Die zunehmen­ de Bedeutung der aufkommenden Umweltschutz- und Ökologiebewegung fand sein Interesse. Nicht nur mit Rudi Dutschke sprach er darüber und über die Chancen einer neuen ökologischen Partei, die genau dieses Thema auf­ griff und darunter oppositionelle Kräfte bündeln konnte. Auch in den Ver­ einigten Staaten beteiligte sich Marcuse in den letzten vier Jahren seines Lebens an Diskussionen über die politischen Ziele der sogenannten »wilder­ ness-« und »grass-roots-movements«. Hier fand er Ansätze, die seinen Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft nahe kamen, auch wenn sich die Kritik nicht mehr auf die gesamte kapitalistische Gesellschaft bezog und sich in einer punktuellen Protesthaltung ausdrückte. Selbst zehn Jahre nach dem Zerfall der Studentenbewegung bemühte sich Marcuse immer wieder darum, die Gründe zu analysieren, die den gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne gesellschaftlicher Emanzipation blockierten. Ein halbes Jahr nach seinem 80. Geburtstag unternahm Marcuse erneut eine längere Europareise, die ihn nach Frankfurt und Starnberg führte. Es sollte seine letzte werden. Am 18. Mai 1979 hielt Marcuse während der 6. Frankfurter Römerberggespräche mit dem Thema »Die Angst des Prome­ theus« einen Vortrag. Marcuse hatte »25 Thesen zu Technik und Gesell­ schaft« vorbereitet. Während seines Aufenthalts in Frankfurt mußte er jedoch wegen akuter Herz- und Kreislaufbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden. Nach zwei Wochen hatte sich sein Zustand soweit stabilisiert, daß 130

er seine Weiterreise zu Jürgen Habermas nach Starnberg antreten konnte. Dort stand Marcuse unter ständiger ärztlicher Beobachtung und wurde wei­ ter behandelt. Seine Genesung schien Fortschritte zu machen. Am 22. Juni 1979 schrieb er an Susanne und Leo Löwenthal: »Leochen, Susanne, ich lebe noch. Der beiliegende Report von Ricky1, meisterhaft geschrieben, wird Euch sagen, was los war. Schön war es nicht. Jetzt sind wir damit beschäf­ tigt, uns hier in Starnberg zu erholen - an Besuch fehlt es nicht! Ich bin noch immer in Kontrollbehandlung: jeden zweiten Tag Blutprobe, aber wir hoffen, wie geplant nach Pontresina zu gehen. Was ist Euer Sommerprogramm? Herzlichst Herbert.«2 Die Reise nach Pontresina konnte Marcuse nicht antre­ ten. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich wieder, und er wurde am 4. Juli ins Kreiskrankenhaus in Starnberg eingeliefert, weil erneut Komplika­ tionen an seinem Herz auftraten. Dort starb Herbert Marcuse am 29. Juli 1979. Der hier erstmals veröffentlichte Vortrag stellt eine Vorarbeit zu Marcuses Frankfurter Rede dar. Die American Philosophical Association3, in der Marcuse seit den vierziger Jahren organsiert war - von 1968 bis 1969 war er Präsident der Pacific Division -, lud ihn ein, über die Bedeutung der 68erBewegung für die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu sprechen. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Marcuse diese Rede (HMA 562.00) in San Francisco oder in San Diego gehalten hat, wahrscheinlich aber in San Diego. Das in englischer Sprache geschriebene Typoskript umfaßt 12 Seiten und ist mit handschriftlichen Korrekturen Marcuses verse­ hen, die in der Übersetzung berücksichtigt sind. Der Titel wurde vom Heraus­ geber gewählt.

Anmerkungen 1 Erica Sherover (1938-1988) war Marcuses dritte Ehefrau. Dem Brief lag ein einseiti­ ges Schreiben von »Ricky« Sherover-Marcuse bei, in dem sie ausführlich über Marcu­ ses Krankheitsverlauf berichtete. 2 Unveröffentlichter Brief in deutscher Sprache, Marcuse an Löwenthal, 22. Juni 1979 (Leo Löwenthal Archiv, Stadt-und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main). 3 The American Philosophical Association wurde 1900 gegründet und zählt heute noch annähernd 10.000 Mitglieder. Sie ist unterteilt in die Eastern, Central und Pacific Divi­ sion. Regelmäßig führen die einzelnen Regionalabteilungen Tagungen zu philosophi­ schen und gesellschaftspolitischen Themen durch.

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These, daß die effektive zentralisierte Macht des Monopolkapitalismus nur von einer ebenso effektiven und zentralisierten Oppositionsmacht aufgehalten und in Frage gestellt werden kann: Richtig, wenn die Linke eine Chance hätte, eine solche Gegen­ macht aufzubauen und auszuüben. Das scheint hochgradig unwahrscheinlich und unrealistisch ange­ sichts der folgenden Tatsachen: (a) der erschreckenden Konzentration äußerst destruktiver bewaffne­ ter Macht in den Händen der herrschenden Klasse, die sogar einen Generalstreik niederschlagen (oder zumindest »eindämmen«) kann, der immer noch die einzige adäquate organisierte Massen­ aktion ist. (b) der (ganz rationalen und materiellen) Integration der Arbeiterklas­ se ins kapitalistische System und der entsprechend reformisti­ schen oder sogar kollaborationistischen Einstellung in der (natio­ nal und international) »privilegierten« Arbeiterklasse. (c) dem äußersten Mißtrauen gegenüber den etablierten zentrali­ stisch-bürokratischen Massenparteien und dem Glauben, daß ihre Politik zu keiner besseren Alternative führt. (d) jede Unterstützung von außen (UdSSR, Dritte Welt) würde von der überlegenen Militär- und Wirtschaftsmacht der USA zurück­ geschlagen. Dagegen würde eine dezentralisierte Opposition basierend auf einer bewährten lokalen und regionalen Organisation, die sich an unter­ schiedlichen und sogar weitgehend unabhängigen Stellen bemerkbar macht, an der vollständigen Mobilisierung der bewaffneten Macht hin­ dern. Die Forderungen einer solchen Opposition hätten nichts zu tun mit »Machtübernahme«, revolutionärer Enteignung usw. Forderun­ gen wie die nach Arbeiterselbstverwaltung, autogestion, nach einem Stop der Verbreitung von Atomreaktoren oder der Vergiftung der Umwelt könnten auf beträchtliche Unterstützung in der Bevölkerung zählen, es antizipiert bestimmte Aspekte des Sozialismus und wäre demokratisch und trifft gleichzeitig die mächtigsten Konzerninteres­ sen. Die Antizipation bezieht sich auf das, was Cohn-Bendit (in L in ks, 1977, Nr. 85, S. 80f.) die »Einheit von Widerstand und Leben« nennt: »Eine Organisation, die sich nur politisch definiert und die nicht zum zentralen Inhalt das Leben macht«, kann »auf den Mülleimer der 132

Geschichte wandern.« Das heißt: Organisation nicht nur am Arbeits­ platz, am W ohnort usw., sondern auch Verbindung, Vereinigung die­ ser Bereiche mit der persönlichen Sphäre, mit den persönlichen Bezie­ hungen. Anerkennung des politischen Potentials in der Emanzipation der Sinne, der Sin nlich keit... So lange aber das Leben des Individuums strikt aufgespalten ist zwischen dem Arbeitsplatz und der persönlichen Sphäre, zwischen der völlig entfremdeten, entmenschlichten Arbeit (als Beschäftigung) und dem Raum und der Zeit persönlicher Beziehungen - ein durch das Ein­ dringen von Herrschaft und Verwaltung ständig weiter reduzierter Raum - , wie kann dann die »Einheit von Widerstand und Leben« (Cohn-Bendit) erreicht werden? Selbständige Kommunen und teil­ weise selbständige Kollektive sind bestenfalls »Schutzräume« für das Experimentieren mit persönlicher Solidarität und Emanzipation; als solche sind sie heute eine notwendige Projektion (viel mehr können sie unter den herrschenden objektiven Bedingungen nicht sein). Außerdem laufen sie trotz ihres Gruppen-(oder In-Group-)Cha­ rakters Gefahr, persönliche Probleme und Neigungen zu kultivieren die Gefahr einer »Politik in der ersten Person«: die abstrakte Verallge­ meinerung des Partikularen. Ich halte es zwar für richtig, daß der politische Kampf in individu­ ellen Bedürfnissen und individueller Emanzipation begründet sein muß, das heißt sowohl in der Sinnlichkeit als auch im Verstand der Individuen. Der Begriff des Individuums impliziert aber, daß die Per­ son einen Bereich der Verwirklichung hat, der ihm oder ihr selbst gehört - nicht als Privateigentum, sondern als ein Refugium, das nicht kommunizierbar ist, nicht mit-teilbar: eine Innerlichkeit, die durch Ausdruck = Externalisierung ihren Charakter verändern würde. Dieses letzte Reservat in der persönlichen Dimension bildet die Grenzen für die Personalisierung der Politik, für die Vereinigung von Widerstand und Leben. Die Externalisierung dieses »Refugiums« wür­ de seine Substanz und Funktion verändern: Subjektivität würde »vor­ zeitig« objektiviert, »sozialisiert«, ohne daß es für diesen Prozeß eine soziale Basis gibt. Das Paradox: Der politische Befreiungsprozeß scheint eine »gut­ gemeinte« »therapeutische« Vergewaltigung der persönlichen Freiheit zu beinhalten. Diese Unterwerfung unter Kommunikation, Führung, Autorität scheint unvermeidlich angesichts der Tatsache, daß das 133

»letzte« menschliche Potential keineswegs das des letztlich Guten ist: es ist erotische und destruktive Energie (die letztere offenbar immer prekärer verdrängt und sublimiert, »sozialisiert«). Folglich kann die Integration der persönlichen Dimension (als Tiefendimension) mit politischer Erziehung, begriffen als (radikale) Therapie, nicht damit arbeiten, daß sie die methodische Freisetzung von Emotionen, Gefüh­ len und Leidenschaften fördert; sie könnte sogar auf die Verdrängung des nicht wirklich oder gar nicht Verdrängten abzielen. Die Psycho­ analyse hat dieses Problem mit dem Übertragungsbegriff erkannt: die »Verschiebung« der psychischen Konflikte des Patienten auf den Ana­ lytiker ist vorübergehend, sogar illusorisch. Der Patient oder die Patientin selbst lernt mit den Konflikten zu leben - der Analytiker macht diese Aufgabe zu einem bewußten Vorhaben. Zurück zum Verhältnis zwischen dem Persönlichen und dem Poli­ tischen. Die Unfreiheit steckt in den Wurzeln der menschlichen Frei­ heit: Das menschliche Tier ist auch ein Stück Natur, Materie, getrieben von Primärkräften, die auch auf der höchsten Vernunftebene, dem logos, noch wirksam sind. Es gibt eine wesensmäßige Verbindung zwischen dieser biologischen Unfreiheit und politischer Unfreiheit, nämlich die N atur selbst, wie sie im geschichtlichen Kontinuum wahr­ genommen, transformiert und ausgebeutet wird; die Grundlage, auf der die sozialen Kämpfe ausgefochten werden. Auch im Stadium der vollendetsten Herrschaft bleibt Natur das Ändere der Subjektivität, eine unüberwindliche Schranke - und die unüberwindliche Grenze der Freiheit. Die persönliche Sphäre hat an beiden teil, an biologischer und an gesellschaftlicher Unfreiheit: letzteres in dem Maße, wie die Gesell­ schaft die Bedürfnisse und Triebe der ersteren formt. Jede von ihnen ist aber auch offen für die Praxis der Freiheit im Rahmen der (natürlichen und gesellschaftlichen) Notwendigkeit. In dem Maße, wie Primärtriebe formbar sind, adaptierbar an vorgegebene objektive Bedingungen, sind die Menschen frei und in der Lage, ihre Primärtriebe mit dem bestehen­ den Realitätsprinzip in Einklang zu bringen - oder es zu verändern, indem sie die Gesellschaft verändern. Hier zeigt die persönliche Sphä­ re ihr inhärent »politisches« Potential in der Art und Weise, wie sie die Richtungen, das Ausmaß und die Ziele der Veränderungspraxis erfährt und beeinflußt: allgemein können wir sagen, daß radikale Veränderung als Veränderung des gesellschaftlichen Systems als ganzem eine menta134

le (Trieb-)Struktur zum Ausdruck bringt, die sich von derjenigen, die die Praxis von Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems antreibt, völlig unterscheidet. W ie? Unter Vernachlässigung der zahlreichen Zwischenformen werde ich diesen Unterschied im Verhältnis von politischer Praxis und men­ taler Struktur deutlich machen, indem ich die Extreme vergleiche: radikale Praxis als Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesell­ schaft einerseits, und reaktionäre Praxis als Etablierung eines autoritä­ ren faschistischen Systems. Der Unterschied läßt sich nicht in bezug auf die relative Destruk­ tivität machen, die in der jeweiligen Praxis zum Ausdruck kommt. Revolutionäre Praxis entwickelt ein erhebliches Maß an Gewalt, wie die Geschichte zeigt, und es spricht nichts dafür, daß sich dies ändert. Entscheidend ist auch nicht die »Qualität« der Gewalt: In den histori­ schen Revolutionen hat es genügend Grausamkeit, Brutalität und Willkür gegeben - auch wenn keine von ihnen die methodisch böse, bestialische Brutalität des Nazi-Holocaust erreichte. Unabdingbar erscheint die Unterscheidung in bezug auf die Ziele. Zerstörung, Unrecht, totale Unmenschlichkeit sind Wesenszüge einer faschisti­ schen Gesellschaft, die in ihrer Struktur liegen. Das gilt nicht für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft (die noch nicht existiert): die Struktur einer solchen Gesellschaft (Abbau von entfremdeter Arbeit, Selbstbestimmung, Assoziation freier Individuen) bedingt den Anstieg von erotischer über destruktive Energie. Damit sind wir wieder bei dem allzu einfachen und allzu abstrak­ ten Gedanken, daß sich das Ziel in den Mitteln ausdrücken muß: die Theorie in der Praxis. Die Aussage unterstellt gesellschaftliche und po­ litische Verhältnisse, unter denen sich diese Beziehung aufrechterhal­ ten läßt. Das Praktizieren solcher Qualitäten wie Liebe, Zärtlichkeit, Fairness, humanitas als Teil der politischen Anstrengung, die M acht­ struktur des multinationalen Monopolkapitalismus zu bekämpfen und umzuformen, dürfte ein bißchen zu unrealistisch einfühlsam sein! Und dennoch: wenn der Übergang zum Sozialismus auch von individuellen, subjektiven Voraussetzungen abhängt und wenn diese eine radikale Veränderung der Bedürfnisse verlangen, und die Eman­ zipation von Vernunft und Sinnlichkeit - wie läßt sich diese individu­ elle Veränderung dann begreifen?

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Als »Veränderung der Bedürfnisse«: es geht nicht um neue Bedürf­ nisse, die im Prozeß der Befreiung ans Licht treten, sondern um die Emanzipation von natürlichen und sozialen Bedürfnissen, die unter dem Einfluß von Herrschaft verdrängt und verfälscht wurden. Ihre Emanzipation ist eine qualitative Veränderung: erotische und destruk­ tive Energie verwirklicht sich in nicht-repressiver Sublimierung: Abbau von Aggressivität, wechselseitige Anerkennung, Solidarität. Diese Emanzipation bleibt aber im Rahmen der persönlichen, psy­ chologischen Erziehung, solange die bestehende gesellschaftliche Arbeitsteilung existiert. Nun geht die Grundtendenz des Monopolka­ pitalismus gerade auf die Konsolidierung und Ausweitung der kapita­ listischen Arbeitsteilung von Herrschenden und Beherrschten. Enthält dieser gleiche Prozeß die Kraft, die ihn zerstören kann? Die Verwandlung der ungeheuren Mehrheit in eine abhängige (und größtenteils willfährige) Bevölkerung und damit die Aufrechter­ haltung des Systems verlangt (unterhalb von ideologischer Führung und »legitimer« Gewalt), daß diese Bevölkerung mit einer ständig zunehmenden Quantität von Waren (und Dienstleistungen) versorgt wird. Sie werden nach den Erfordernissen der Kapitalverwertung pro­ duziert, was ihre mindere Qualität (künstlicher Verschleiß usw.) bedingt; außerdem beinhaltet diese zunehmende Warenwelt eine brei­ te Produktion und Konsumtion von Aggression und Gewalt. Nichtsdestoweniger - und das ist der entscheidende Punkt - be­ friedigen sie Bedürfnisse, die ganz gleich, in welchem Maße sie »ver­ kauft« werden, zu realen Bedürfnissen der Individuen geworden sind, die diese Güter kaufen und genießen. Folglich kann nicht die repressive Funktion des kapitalistischen Überflusses als Argument gegen das Sy­ stem dienen - noch dürfte sie die Rebellion fördern oder gar den Inte­ grationsprozeß schwächen. Auch gibt es keinen besonderen Grund zu der Erwartung, daß sich der Kapitalismus als unfähig erweist, Massen­ produktion und Massenkonsum aufrechtzuerhalten. Der hohe Lebens­ standard in den Metropolen wird gesichert durch hohe Arbeitsproduk­ tivität (= verschärfte Ausbeutung) und durch die (gerade erst sich entwickelnde) aggressive neoimperialistische Strategie. Aber vielleicht ist der Hauptgrund für die Stabilisierung des Kapita­ lismus in den entwickelten Industrieländern die »Trägheit« der Massen. Die gegenwärtige marxistische Theorie hat längst die Tatsache anerkannt, daß das Proletariat nicht mehr kraft seiner Stellung und 136

Zusammensetzung im Produktionsprozeß eine objektiv revolutionäre (oder gar antikapitalistische?) Klasse ist. Diese materielle und menta­ le Integration läßt sich nicht durch die politisch-erzieherische Führung einer (sozialistischen oder kommunistischen) Massenpartei auflösen, denn da, wo diese Parteien existieren, sind sie gründlich diskreditiert. Auch gibt es für die Bildung einer revolutionären Massenpartei keine materielle und populare Basis. Auf der Höhe seiner produktiven, kon­ trollierenden und organisierenden Macht reproduziert sich das Kapi­ tal durch die (produktive und unproduktive!) Arbeit einer ungeheuren abhängigen Bevölkerung, die in ihrer Aktivität und (in hohem Maße) in ihrem Bewußtsein systemimmanent bleibt. In dieser Situation, wo die objektiven Bedingungen für eine radi­ kale Veränderung (Entwicklungsstand der Produktivkräfte, höchste Konzentration ökonomischer und politischer Macht, Verwandlung der gesamten ausgebeuteten Bevölkerung in den Gesamtarbeiter ...) gegeben sind, während die subjektiven Faktoren fehlen, erscheint Bewußtseinsentwicklung naturgemäß als ein Ausweg aus dem Teufels­ kreis. Doch die erzieherische Praxis - als unabdingbarer Teil der Erzie­ hung zur Veränderung - ist von vornherein blockiert durch die Erfah­ rung des überwältigenden Warenreichtums, über den die privilegierten Massen verfügen. Die handfeste Tatsache des (relativen) Wohlstands der ungeheuren Mehrheit dieser abhängigen Massen scheint eine kri­ tische Theorie ad absurdum zu führen, die auf die Kontraktion des gesellschaftlichen Reichtums in den kapitalistischen Metropolen, auf die Umstellung der Produktion und auf die Aufstellung ganz anderer Prioritäten auf Kosten des kapitalistischen Überflusses und zu Gun­ sten der unterprivilegierten Bevölkerung in aller Welt zielt. Die Zu­ stimmung zu einer solchen Politik würde ein starkes nonkonformisti­ sches Bewußtsein und eine Solidarität voraussetzen, die anscheinend nicht existieren. Die Frage ist also: Enthält das herrschende Bewußtsein (oder der Mangel an radikalem Bewußtsein) in sich Elemente, die die Auflösung des bestehenden Systems der Bedürfnisse (und Befriedigungen) voran­ treiben können? Wenn es solche sprengenden Elemente gibt, dann müssen sie, um wirksam zu sein, den objektiven Verhältnissen entsprechen. Das emanzipatorische Bewußtsein ist ein affirmatives Bewußtsein: es sieht in der materiellen und geistigen Kultur des Spätkapitalismus die 137

Grundlage für den Aufbau der neuen Gesellschaft. Das bedeutet Transformation, aber nicht Zerschlagung des produktiv-technischen Apparats und seiner Errungenschaften bei der Hervorbringung der Mittel für das Wohlergehen des Individuums als eines allseitig mensch­ lichen Individuums. Innere Transformation der kapitalistischen Pro­ duktion und Konsumtion bis zu dem Punkt, wo Quantität (die produk­ tive Macht des Apparats) in Qualität umschlägt: in das befriedete Dasein von Mensch und Natur. Offenbar ist dies selbst eine radikal politische Transformation: nicht Zerschlagung des kapitalistischen Staates, sondern fortschreitende Demokratisierung, die durch Auswei­ tung der Selbstregierung, der Selbstverwaltung im Arbeitsprozeß zur schrittweisen Abschaffung der Lohnarbeit führt. Veränderung des Erziehungsprozesses: »Bewußtseinsentwick­ lung« ist im jetzigen Stadium in erster Linie Entwicklung und Aneig­ nung von Wissen. Das Know-how, das praktische Wissen, das zum Betrieb der spätkapitalistischen Gesellschaft oder ihrer größeren Ein­ heiten und zur Kontrolle ihres Funktionierens erforderlich ist, wird heute monopolisiert von einer kleinen Schicht von Technokraten und Politikern (die ihre Informationen von einer ganzen Bürokratie von Forschern, Beratern, Experten usw. erhalten). Diese Monopolisierung des Wissens war immer ein mächtiger Herrschaftsfaktor. Sie könnte durchkreuzt werden durch eine gründliche Demokratisierung der Schulen und Universitäten, zusammen mit einer Akzentverschiebung von den Naturwissenschaften zu den Sozial- und Geisteswissenschaf­ ten. Die letztgenannten Wissenschaften sind noch nicht so direkt in den Apparat integriert wie die ersteren (obwohl der Abstand zuneh­ mend kleiner wird). Sie sind oder sie können die Disziplin sein, wo sich der Student mit den Tatsachen und Ideen vertraut machen kann, die den begrifflichen und verhaltensbedingten Rahmen des Bestehenden transzendieren - das Refugium für das Bewußtsein der historischen Alternativen. Während die Demokratisierung des wissenschaftlichtechnischen Wissens für die Reproduktion des bestehenden Systems bis zu einem gewissen Punkt eine Notwendigkeit ist (Intellektualisie­ rung des Arbeitsprozesses, »nationale Sicherheit«) und seine Verbrei­ tung stark gefördert wird, gilt genau das Gegenteil in bezug auf die Erziehung für das transzendierende, kritische Potential der Sozialund Geisteswissenschaften.

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Ich halte fest, daß die von mir skizzierten Formen und Felder der Veränderung entschieden reformistischen Charakter haben und ohne Umwälzung des Systems, ohne »Machtübernahme« usw. in Angriff genommen werden können. Dieser Reformismus ist seinem Wesen nach eine historisch »notwendige« Phase, in der das emanzipatorische Bewußtsein die Kluft zwischen der Intelligenz und den Massen schritt­ weise abbauen könnte. Es ist die Phase des Monopolkapitalismus. Die objektiven Bedingungen sind nur durch eine neue Subjektivität zu ver­ ändern, und diese kann sich nur im Prozeß der reformistischen Verän­ derung selbst herausbilden. i Die Verwirklichung des gemeinsamen Befreiungsinteresses ist nicht mehr die besondere historische Aufgabe einer bestimmten Klas­ se, des Proletariats; es ist die Aufgabe von Gruppen und Individuen aus allen Schichten der abhängigen Bevölkerung.

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Israel

Israel — Palästina Bem erkungen zur K rise im Jah r 1970

Nur in wenigen, knappen und verstreuten Statements äußerte sich Herbert Marcuse zum Israel-Palästina-Konflikt, in deutschen Medien noch seltener als in amerikanischen. Einige Passagen zu dieser Problematik finden sich in dem Diskussionsprotokoll Vietnam - die Dritte Welt und die Opposition in den Metropolen. Das Protokoll dokumentiert die Podiumsveranstaltung wäh­ rend des Vietnam-Kongresses, der vom 10.-13. Juli 1967 an der Freien Uni­ versität in Berlin stattfand. Mit dem Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 hatte der Nahost-Konflikt die bis dahin höchste Eskalationsstufe erreicht. Nicht nur das, der Krieg hatte Marcuse zufolge auch die Neue Linke tief gespalten, in eine pro-israelische und in eine anti-imperialistische Fraktion, die sich aus einer reflexartigen anti-amerikanischen Haltung heraus mit dem palästinen­ sischen Kampf vorbehaltlos solidarisierte. Aus dieser reflexartigen Reaktion folgte schon bald eine annähernd kritiklose Solidarisierung mit dem palästi­ nensischen Befreiungskampf, dem sich auch der deutsche SDS in weiten Teilen anschloß. Ende Juli 1969 besuchten zum Beispiel führende SDS-Mitglieder Jordanien, um vor Ort Möglichkeiten einer Kooperation zwischen der antizionistischen Neuen Linken und den palästinensischen Freischärlern der »Fatah« auszuloten. Der SDS übersetzte Erklärungen der »Fatah«, in denen der »erfolgreiche« terroristische Kampf gegen Israel heroisch beschrieben wurde. Der »anti-imperialistische Befreiungskampf« galt nun als Legitima­ tionsfolie für den Terror gegen Israel. Wie in allen seinen Bemerkungen zum Nahost-Konflikt bekannte sich Marcuse zur historischen Notwendigkeit der Staatsgründung Israels und zur friedlichen Ko-Existenz mit dem palästinensischen Volk. »Ich kann nicht ver­ gessen, daß die Juden jahrhundertelang zu den Verfolgten und Unterdrück­ ten gehörten, daß sechs Millionen von ihnen vor nicht allzu langer Zeit ver­ nichtet worden sind. Das ist eine Tatsache. Wenn endlich für diese Menschen ein Bereich geschaffen wird, in dem sie vor Verfolgung und Unter142

drückung keine Angst mehr zu haben brauchen, so ist das ein Ziel, mit dem ich mich identisch erklären muß.« Andererseits kritisierte er die konkrete israelische Politik gegenüber den Palästinensern: »Die Behandlung der ara­ bischen Bevölkerung in Israel war zumindest verwerflich - wenn nicht mehr. Die Politik in Israel hat rassistische und nationalistische Züge gezeigt, die gerade wir als Juden verwerfen sollten und verwerfen müssen. Wir müssen uns weigern, dem zuzustimmen, daß Araber in Israel als Bürger zweiten Ran­ ges und dritten Ranges behandelt werden, selbst wenn legale Gleichheit besteht.«1 Ende 1969 wurden Der eindimensionale Mensch und Versuch über die Befreiung ins Hebräische übersetzt. Für diesen Band verfaßte Marcuse ein knappes einseitiges Vorwort (HMA 402.00), das jedoch nur wenige konkre­ te Sätze über den Israel-Palästina-Konflikt enthält. Der Titel des Vorwortes gibt allerdings Marcuses hoffnungsvolle Vision wieder: »Nur eine freie arabi­ sche Welt kann neben einem freien Israel bestehen.« Marcuse, der bis zum Dezember 1971 Israel nie besucht hatte,2 hoffte auf ein schnelles Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 sahen sich die Kontrahenten in einem »ständigen Überlebenskampf«, eine zukünftige friedfertige Lösung erschien schon damals äußerst unwahr­ scheinlich. Die Anerkennung und die Notwendigkeit eines israelischen Staa­ tes forderte er auch von palästinensischer Seite. Solange die »Zerstörung Israels« Teil palästinensischer Politik bliebe, gebe es, so seine Einschätzung, keine Basis für Verhandlungen zwischen Israel und Palästina. Andererseits dürfe Israel der Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates nicht ablehnend gegenüberstehen. Juden und Arabern müßten in diesen Gebieten die gleichen Rechte und Freiheiten garantiert werden, das bezie­ he auch die Existenz eines jeweiligen Staates ein. Die folgenden Auszüge sind einem Interview entnommen, das im April 1970 als Sondernummer des Street Journal (HMA 334.00) erschien. Sie wer­ den erstmals in deutscher Sprache publiziert. Die Fragen zum Nahen Osten stellen den letzten Teil des umfangreichen Gesprächs dar. Weitere Themen waren unter anderem die Rolle der Universitäten in der amerikanischen Gesellschaft, der subversive Charakter der »neuen« Subkulturen und die Veränderung der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Industriestaaten. Bei den hier angesprochenen Personen handelt es sich um Nachum Gold­ mann, der in den dreißiger Jahren zu den Mitbegründern des jüdischen Welt­ kongresses gehörte und dessen erster Vorsitzender war. Goldmann wurde 1962 israelischer Staatsbürger, lebte aber weiter in der Schweiz. Nach dem Sechs-Tage-Krieg kritisierte er die militärische Aufrüstung Israels und plä-

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dierte für eine versöhnliche Haltung gegenüber den Arabern. Gamal Abdul Nasser übernahm 1954 das Präsidentenamt in Ägypten. Unter seiner Regie­ rung entstanden enge Kontakte zur Sowjetunion. Er verlor seinen heroischen Nimbus innerhalb der ägyptischen Bevölkerung und der arabischen Welt, als er 1967 im Krieg gegen Israel eine bittere Niederlage einstecken mußte. Der Titel wurde vom Herausgeber gewählt.

Anmerkungen 1 Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt am Main 1980, S. 141/142, und folgende Seiten. 2 Vgl. dazu die Erläuterungen zu »Israel ist stark genug für Zugeständnisse«.

Street Journal: Was sagen Sie zu diesen arabisch-israelischen Krie­ gen? Marcuse: Bis jetzt habe ich Israel immer verteidigt, weil ich nicht ver­ gessen kann, daß sechs Millionen Juden vernichtet wurden und daß unter gar keinen Umständen Verhältnisse entstehen dürfen, in denen so etwas wieder geschehen kann. Das heißt, es muß alles Menschen­ mögliche getan werden, um die Juden vor der Wiederholung eines sol­ chen Massakers zu schützen. Mir scheint aber jetzt, daß die israelische Politik die Wiederholung solcher Verhältnisse nicht etwa verhindert, sondern durchaus ihre Wiederholung betreiben könnte, wenn sich die Politik gegenüber den Arabern nicht grundsätzlich ändert. Ich sage das jetzt ganz deutlich wegen zwei Dingen, die kürzlich passiert sind: der Bombardierung einer Schule in der Nähe von Kairo, wo 32 Kinder getötet wurden. Nach den Zeitungsberichten hat die israelische Regie­ rung dies einfach abgestritten, während ich eine Rundfunkreportage einer internationalen Gruppe von Journalisten gehört habe, die den Ort des Geschehens besucht haben und die Leichen der Kinder gese­ hen haben. Der zweite Vorfall ist ein Bericht über die Folterung von arabi­ schen Gefangenen, ein Bericht der Amnesty-Gruppe. Ich möchte noch einen dritten hinzufügen, nämlich daß die israe­ lische Regierung es abgelehnt hat oder daß sie sich geweigert hat, in 144

irgendeiner Form den Besuch von Nachum Goldman - der das Einver­ ständnis von Nasser gehabt haben soll - in Kairo zu genehmigen. Ich finde das absolut unglaublich, auch wenn Nachum Goldman nicht die offizielle israelische Politik repräsentiert. Es war eine Gelegenheit für einen Israeli, und noch dazu keinen unbedeutenden, direkt mit Nasser zu sprechen, und diese Gelegenheit hätte genutzt werden müssen. Wenn diese Berichte zutreffen, dann habe ich den Eindruck, daß ich gerade als Jude und als Angehöriger der Neuen Linken die israeli­ sche Politik nicht mehr verteidigen kann und daß ich denen zustim­ men muß, die grundsätzlich kritisch gegenüber Israel eingestellt sind. Street Journal: Nachdem bei den Bombenangriffen 32 Kinder getötet wurden, sind Sie dagegen. Aber ist nicht der Kernpunkt des israeli­ schen Problems das, was von manchen Arabern und von den palästi­ nensischen Kommandos behauptet wird, und von den Black Panthers in den USA und von anderen in aller Welt, näm lich daß die Israelis ein Werkzeug der US-Außenpolitik und der dortigen Erdölinteressen geworden sind? M arcuse: Ich sehe nicht, warum sie ein Werkzeug für die Erdölinter­ essen der USA geworden sind. Israel hat kein Öl. Saudi-Arabien und Kuwait und der Jemen haben Öl, und das sind bestimmt keine jüdi­ schen Staaten. Street Journal: Ja, aber die Analyse ist die, daß die israelische M ilitä r­ macht und die israelische Bedrohung und die israelische Vertreibung der Palästinenser aus Israel das arabische Bewußtsein auf die Ebene des Nationalism us fixiert - a u f die Frage der Bekämpfung der Israelis statt a uf die inneren Fragen wie die Organisation ihrer Gesellschaft. M arcuse: Das sehe ich nicht, und außerdem glaube ich, daß sich die US-Politik zugunsten der Araber verändert und sicherlich nicht zugunsten von Israel. Seit dem Antritt der Nixon-Administration ist das ganz deutlich. Street Journal: Sie sehen also auf die Juden ein neues Gemetzel zukommen? M arcuse: Ich würde sagen, wenn sich Israel nicht endlich darauf besinnt und darum bemüht, mit den Arabern menschliche Beziehun­ gen herzustellen und sie als Menschen zu behandeln, dann fürchte ich, daß früher oder später eine solche Situation wieder eintreten kann.

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Israel ist stark genug für Zugeständnisse

Die Van Leer Foundation, gegründet 1957, hatte Marcuse zu einigen Vorträ­ gen an die Universitäten von Jerusalem1, Haifa und Tel-Aviv eingeladen. Am 21. Dezember 1971 erreichte er Jerusalem und blieb bis zum 3. Januar in Israel. Dort traf er an verschiedenen Orten zahlreiche israelische und arabi­ sche Intellektuelle und Politiker. Mit Moshe Sneh, der einer der bedeutend­ sten Politiker der kommunistischen Partei Israels war, diskutierte er über die politischen Möglichkeiten einer palästinensisch-israelischen Ko-Existenz. Sneh war zu dieser Zeit Abgeordneter der Knesset, die Marcuse mit ihm besuchte. Im Kibbuz Hulda sprach Marcuse mit dem 1939 geborenen israe­ lischen Schriftsteller Arnos Oz, der im Sechs-Tage-Krieg als israelischer Sol­ dat gekämpft hatte und 1973 die Friedensbewegung Shalom Achschaw mit­ begründete. In Nablus begegnete Marcuse Elizier Beeri, einem Vertreter der linken zionistischen Arbeiterpartei »Mapam«. In einer öffentlichen Diskussion stritten sie über die Frage, ob Zionismus und Sozialismus vereinbar seien. Beeri, ein Kenner der palästinensischen Situation, brachte den »radikalen Philosophen« aus San Diego in Tel-Aviv und in Negev mit arabischen Politi­ kern zusammen. Auf Einladung einer arabischen Studentengruppe beteilig­ te sich Marcuse an der Universität Beer Sheba in Negev2 an einem sponta­ nen Teach-In. Dort debattierten die Teilnehmer über die politische Situation im Nahen Osten und eine mögliche Unterstützung der Palästinenser durch die internationale Protestbewegung. In Haifa standen zahlreiche Treffen mit Vertretern der Kibbuz-Bewegung auf dem Programm. Dem folgenden Artikel liegt ein Statement zugrunde, das Marcuse am 30. Dezember 1971 in Israel Journalisten in die Aufnahmegeräte gespro­ chen hat. Der Text wurde vom Autor mit schriftlichen Ergänzungen versehen und erschien erstmals am 2. Januar 1972 in der Jerusalem Post, kurz darauf in arabischer Übersetzung in Israel. Drei Wochen später erreichte Marcuse ein Brief von Hamdi T. Kanaan, der von 1963 bis 1969 Bürgermeister von 146

Nablus gewesen war. Kanaan schrieb an Marcuse: »In Ihnen sehe ich die erste jüdische Persönlichkeit, die in sehr praktischer Weise die große Unge­ rechtigkeit gegenüber den palästinensischen Arabern anerkennt als ein Ergebnis der Errichtung des Staates Israel. Auf der anderen Seite akzeptie­ ren Sie vollkommen und auch rational die gegenwärtigen und zukünftigen Umstände, unter denen Israel in dieser Region existiert und existieren wird. Für Ihre faire Art, mit der Sie das komplizierte Problem behandelt haben, möchte ich Ihnen danken. Ich hoffe, daß jeder so gewissenhaft mit diesem Problem umgeht, mit dieser Menschlichkeit und Gerechtigkeit.«3 Die deutsche Übersetzung folgt dem Nachdruck der Los Angeles Free Press vom 8. September 1972. Die Sonderausgabe »Arabs and Jews« war eine Reaktion auf die tödlichen Attentate des palästinensischen Terrorkom­ mandos »Schwarzer September« gegen die israelische Olympiamannschaft am 5. September 1972 während der Olympiade in München. Marcuses Bei­ trag (HMA 449.02) wurde auf der Titelseite mit der Überschrift »Herbert Mar­ cuse looks behind Olympic Murders« angekündigt.

Anmerkungen 1 Vgl. auch den Vortrag »In authentischer Kunst liegt die Möglichkeit der Befreiung ver­ borgen« in Band 2 der vorliegenden Ausgabe. 2 Die Universität Beer Sheba wurde 1969 gegründet und trägt seit dem Jahr 1974 den Namen Ben-Gurion Universität von Negev. 3 Unveröffentlichter Brief in amerikanischer Sprache, Kanaan an Marcuse, 23. Januar 1972. Marcuse Archiv, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

Viele meiner hiesigen Freunde, besonders unter den Studenten, haben mich gefragt, wie ich die Situation einschätze. Ich antworte ihnen mit dieser Erklärung. Es ist eine persönliche Meinungsäußerung, die auf Gesprächen mit vielen Menschen - Juden und Arabern - in verschie­ denen Teilen dieses Landes und auf gründlicher Lektüre von Doku­ menten und Sekundärliteratur beruht. Ich bin mir ihrer Grenzen voll­ auf bewußt; ich stelle sie nur zur Diskussion. Ich glaube, daß der historische Zweck der Gründung des Staates Israel darin bestand, eine Wiederholung von Konzentrationslagern, 147

Pogromen und anderen Formen der Verfolgung und Diskriminierung zu verhindern. Diesen Zweck, der für mich Teil des weltweiten Kamp­ fes für Freiheit und Gleichheit aller verfolgten rassischen und nationa­ len Minderheiten ist, unterstütze ich voll. Unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen setzt die Verfolgung dieses Zwecks die Existenz eines souveränen Staates vor­ aus, der verfolgte oder von Verfolgung bedrohte Juden aufnehmen und schützen kann. Hätte ein solcher Staat existiert, als das Naziregime an die Macht kam, dann hätte er die Vernichtung von Millionen Juden verhindern können. Hätte ein solcher Staat anderen verfolgten Min­ derheiten offengestanden, auch den Opfern politischer Verfolgung, dann hätte er noch mehr Menschenleben gerettet. In Anbetracht dieser Tatsachen kann jede weitere Diskussion nur auf der Grundlage geführt werden, daß Israel als souveräner Staat anerkannt wird und daß zugleich die Bedingungen berücksichtigt wer­ den, unter denen er gegründet wurde, nämlich das Unrecht, das dabei der arabischen Bevölkerung widerfahren ist. Die Gründung Israels war ein politischer Akt, ermöglicht von den Großmächten in Verfolgung ihrer eigenen Interessen. Die der Staats­ gründung vorhergegangene Periode der Besiedlung und die Staats­ gründung selbst erfolgten ohne Rücksicht auf die Rechte und Interes­ sen der einheimischen Bevölkerung. Die Gründung des jüdischen Staates ging von Anfang an mit der Vertreibung des palästinensischen Volkes einher, die teilweise mit Gewalt und ökonomischem oder anderweitigem Druck betrieben wur­ de, teilweise »freiwillig« erfolgte. Der in Israel verbliebene Teil der ara­ bischen Bevölkerung sah sich trotz der ihm gewährten Bürgerrechte wirtschaftlich und gesellschaftlich auf den Status von Bürgern zweiter Klasse reduziert. Aus nationalen, rassischen und religiösen Unter­ schieden wurden Klassenunterschiede: so grub sich der alte Wider­ spruch in die neue Gesellschaft ein und wurde noch verschärft durch die Verschmelzung innerer und äußerer Konflikte. In all diesen Aspekten unterscheidet sich die Gründung des jüdi­ schen Staates nicht wesentlich von den Ursprüngen praktisch aller Staaten in der Geschichte: der Gründung durch Eroberung, Besetzung und Diskriminierung. (Die Zustimmung der Vereinten Nationen ändert an dieser Situation nichts: durch sie wurde de facto eine Erobe­ rung anerkannt.) 148

Wenn man diese nun etablierte Tatsache und das grundlegende historische Ziel akzeptiert, das sich der Staat Israel gesetzt hat, dann stellt sich die Frage: - ob der Staat Israel in seiner jetzigen Form und bei seiner jetzigen Politik sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen vermag und gleichzeitig in der Lage sein kann, als eine fortschrittliche Gesellschaft auf norma­ le Weise friedlich mit seinen Nachbarn zusammenzuleben. Ich werde diese Frage in bezug auf Israels Grenzen von 1948 erör­ tern. Jede Annexion in gleich welcher Form legt meiner Meinung nach schon eine negative Antwort nahe. Sie würde bedeuten, daß sich Isra­ el nur als militärische Festung in einer riesigen feindlichen Umwelt behaupten könnte und daß seine materielle und geistige Kultur auf wachsende militärische Erfordernisse eingestellt werden müßte. Der überaus gefährliche, unsichere und vorläufige Charakter dieser Lösung ist offensichtlich. Eine Supermacht (oder ihr Satellitenstaat) kann unter solchen Bedingungen durchaus lange bestehen, aber die Kleinheit des Landes und die Rüstungspolitik der Supermächte schlie­ ßen diese Möglichkeit für Israel aus. Unter den heutigen Umständen wäre die erste Vorbedingung für eine Lösung ein Friedensvertrag mit Ägypten, der die Anerkennung des Staates Israel, den freien Zugang zum Suezkanal und zu den Meer­ engen sowie die Regelung des Flüchtlingsproblems umfaßt. Ich glaube, daß die Aushandlung eines solchen Friedensvertrags zum jetzigen Z eitpunkt möglich ist und daß die Antwort Ägyptens auf Jarring (am 15. Februar 1971) eine akzeptable Grundlage für sofortige Verhand­ lungen liefert. In der Antwort Ägyptens wird vor allem verlangt, daß sich Israel zum Abzug seiner Truppen von der Sinai-Halbinsel und aus dem Gazastreifen verpflichtet. Dem Einwand, Israel würde sich damit einem arabischen Vernichtungsschlag aussetzen, ließe sich mit der Einrichtung einer entmilitarisierten Zone unter Aufsicht einer neutra­ len UN-Schutztruppe begegnen. Die damit verbundene Gefahr scheint mir nicht größer als die anhaltende Kriegsgefahr unter den gegenwär­ tigen Bedingungen. Die stärkere Macht kann sich die größeren Zuge­ ständnisse leisten - und Israel ist immer noch die stärkere Macht. Der Status von Jerusalem könnte sich als das größte Hindernis für einen Friedensvertrag erweisen. Tiefsitzende religiöse Gefühle, von den Führern immer wieder angeheizt, machen Jerusalem als Haupt149

Stadt eines jüdischen Staates für die Araber (und für die Christen?) unannehmbar. Eine vereinigte Stadt (beide Teile) unter internationa­ ler Aufsicht und Verwaltung könnte eine Alternative sein. Die ägyptische Antwort verlangt darüber hinaus eine »befriedigen­ de Regelung des Flüchtlingsproblems im Einklang mit den UN-Resolutionen.« Der Wortlaut dieser Resolutionen (einschließlich Res. 242 des Sicherheitsrats) läßt Raum für Interpretationen und ist insofern selbst Gegenstand von Verhandlungen. Ich will nur zwei Möglichkei­ ten (oder deren Kombination) skizzieren, die in Gesprächen mit jüdi­ schen und arabischen Persönlichkeiten vorgeschlagen wurden: (1) Wiederansiedlung der vertriebenen Palästinenser, die nach Israel zurückkehren wollen. Diese Möglichkeit wird von vornherein in dem Maße eingeschränkt, wie arabisches Land zu jüdischem Land und arabischer Besitz zu jüdischem Besitz geworden ist. Auch das ist ein historisches Faktum, das man nicht einfach dadurch ungeschehen macht, daß ein Unrecht durch neues Unrecht korrigiert wird. Es ließe sich aber abmildern, indem man diese Palästinenser auf noch verfüg­ barem Land ansiedelt und/oder ihnen angemessene Vergünstigungen und Entschädigungen gewährt. Diese Lösung wird offiziell mit dem (an sich richtigen) Argument abgelehnt, daß eine solche Lösung die jüdische Mehrheit schnell zur Minderheit machen würde und damit den Zweck des jüdischen Staa­ tes zunichte macht. Ich glaube allerdings, daß sich gerade diejenige Politik selbst zunichte macht, die auf eine dauerhafte Mehrheit abzielt. Die jüdische Bevölkerung muß eine Minderheit in der riesigen Welt der arabischen Nationen bleiben. Sie kann sich nicht definitiv davon absondern, ohne zu einer Ghettoexistenz auf höherem Niveau zurück­ zukehren. Gewiß, Israel könnte eine jüdische Mehrheit aufrechterhal­ ten, indem es eine aggressive Einwanderungspolitik betreibt, die wiederum beständig den arabischen Nationalismus stärkt. Als fort­ schrittlicher Staat kann es nicht existieren, wenn es in seinen Nach­ barn weiter »den Feind« sieht, den »Erbfeind«. Und dauerhafte Sicherheit für das jüdische Volk liegt nicht in einer sich abschließen­ den, isolierten und von Angst getriebenen Mehrheit, sondern im Zusammenleben von Juden und Arabern als Bürgern mit gleichen Rechten und Freiheiten. Ein solches Zusammenleben kann nur das Ergebnis eines langen Prozesses von Versuchen und Irrtümern sein. Aber die Voraussetzungen für die ersten Schritte sind jetzt gegeben. 150

Es gibt ein palästinensisches Volk, das seit Jahrhunderten auf dem Territorium gelebt hat, das heute zum Teil von Israel besetzt wird. Und die Mehrheit dieses Volkes lebt heute unter israelischer Verwaltung. Diese Bedingungen machen Israel zu einer Besatzungsmacht (sogar in Israel selbst) und die palästinensische Befreiungsbewegung zu einer nationalen Befreiungsbewegung - mag die Besatzungsmacht auch noch so liberal sein. (2) Die nationalen Bestrebungen des palästinensischen Volkes könnten durch die Gründung eines Palästinenserstaates neben Israel befriedigt werden. Ob dieser Staat unabhängig sein soll oder ob er eine Föderation mit Israel oder mit Jordanien eingeht, bliebe der Selbstbe­ stimmung des palästinensischen Volkes in einem Referendum unter Aufsicht der Vereinten Nationen überlassen. Die beste Lösung wäre das Zusammenleben von Israelis und Palä­ stinensern, Juden und Arabern als gleichberechtigten Bürgern eines sozialistischen nahöstlichen Staatenbundes. Das ist noch Utopie. Die oben erörterten Möglichkeiten sind Zwischenlösungen, die sich hier und jetzt anbieten - ihre strikte Ablehnung könnte nicht wiedergutzu­ machenden Schaden anrichten.

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Gedanken über Judentum und Israel

Marcuse sprach so gut wie nie über seinen jüdischen Familienhintergrund und über seine eigene Haltung zum Judentum. Die Marcuses, Vater Carl, Kaufmann von Beruf, und Mutter Gertrud, geb. Kreslawsky, zählten zu den wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familien Berlins. Zwar hielt man die jüdischen Feiertage ein, aber eine Rückbesinnung auf die »mosaische Reli­ gion«, wie es noch in der Geburtsurkunde von Sohn Peter Marcuse, datiert vom 9. Oktober 1924, heißt, wurde im Elternhaus nicht praktiziert. Auch bei Marcuses Eheschließung mit der 1901 in Lille geborenen Sophie Wertheim wurde auf jedes jüdische Ritual verzichtet. Es blieb bei der standesamtlichen Trauung am 27. März 1925 vor dem Standesamt von Berlin Charlottenburg. In dem nachfolgenden, erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Interview1 finden sich die weitaus umfassendsten Äußerungen Marcuses zum Themenfeld Judentum und Israel. Die jüdische Studentenorganisation an der Universität von Kalifornien in San Diego publizierte die Vierteljahres­ zeitschrift L'Chayim2. Das Interview wurde am 10. März 1977 mit den L’Chay/m-Redaktionsmitgliedern Marty Gaynor, Ralph Grunewald und Harian Simon geführt. Obwohl die Redaktion überwiegend Artikel zu jüdischen The­ men veröffentlichte, maß sie ihrer Arbeit eine Vermittlerrolle zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Studenten in San Diego zu. Die Übersetzung folgt der gedruckten Fassung (HMA 540.01).

Anmerkungen 1 ln: L'Chayim, Vol. IV, No 2, Winter 1977, S. 1 und S. 12. 2 »L'Chayim« ist ein jüdischer Trinkspruch und meint sinngemäß »Auf das Leben«.

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1. Könnten Sie Ihre jüdische H erkunft beschreiben? Wir waren eine typische assimilierte deutschjüdische Mittelschichtfa­ milie, das heißt, wir gingen zu Rosh Hashana und Yom Kippur in die Synagoge, und ich glaube, mein Vater hat sogar gefastet. Die Speise­ vorschriften haben wir nicht eingehalten. Mein Vater war wie alle guten deutschen Juden in der B ’nai Brith. Bei meinen Großeltern gab es einen Sederabend (ein Passahmahl), sie waren aber alle assimiliert. 2. Wie würden Sie sich selbst als Juden definieren? Das ist eine Frage, die ich bis heute nicht beantworten kann. Ich pfle­ ge mich nicht zu definieren. Nach Tradition und Kultur bin ich Jude, aber wenn die Kultur Speisevorschriften einschließt und die Bibel als Heilige Schrift, kann man mich nicht dazurechnen. Ich habe mich immer dann als Juden definiert, wenn Juden ange­ griffen wurden. Jude zu sein bedeutete in Deutschland angesichts des offenen Antisemitismus, links und nicht rechts zu stehen. Gewisse Wurzeln der Linken im Judentum stammen aus der Erfahrung geschichtlicher Unterdrückung. 3. Beruhen die Ursprünge der jüdischen Linksorientierung auf Tradi­ tionen und Lehren? Ich glaube nicht, daß die Linksorientierung für Juden aus dem Talmud oder der Thora herrührte. Die Verurteilung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit stammt möglicherweise von den Propheten und ergab sich aus der Anteilnahme am Leiden der Unterdrückten. Die jüdische Linksorientierung stammt aus der Empfindlichkeit gegen Unterdrükkung und aus dem Willen und der Anstrengung, etwas dagegen zu tun. All das entspringt aus gesellschaftlichen Erfahrungen und nicht aus der religiösen Ethik. Man kann aber nicht sagen, daß die Mehrheit der Juden in Deutschland links war, das wäre einfach nicht richtig. 4. Sind Sie Z ionist? Warum oder warum nicht? Sofern der Zionismus religiös begründet ist, teile ich ihn nicht; ich glaube auch nicht, daß die Bibel eine heilige Schrift ist. Ich unterstüt­ ze aber aus ethischen und humanen Gründen die Gründung eines jüdischen Staates, der die Wiederholung eines Holocaust verhindern kann.

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5. Warum können dann nicht beispielsweise die Vereinigten Staaten als jüdische H eim statt dienen? Schließlich gibt es hier Freiheit Israel kann nicht auf eine ausländische Macht zählen. Die USA haben unter Roosevelt verdammt wenig gegen die Judenverfolgung vor und während des Zweiten Weltkriegs getan. Wir haben in Deutschland gesehen, daß die herrschende Klasse in einer wirklichen Krise nicht zögert, ihre jüdische Minderheit zu opfern. Es gibt weiter einen wirkli­ chen Antisemitismus, der in einem neofaschistischen Regime jederzeit ausbrechen könnte. Der Begriff des Sündenbocks ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Die Juden wurden als Sündenböcke benutzt. 6. Ist der Zionismus die Lösung des jüdischen Problems? Für mich ist die Lösung des jüdischen Problems ein jüdischer Staat, der sich selbst verteidigen kann und der eine sehr gute Chance hätte, die Wiederholung des Holocaust zu verhindern. Israel wird diesen Bedin­ gungen heute wegen des arabisch-israelischen Konflikts nicht gerecht. Die Zeit arbeitet für die Araber, nicht für die Juden. Für die bestehen­ den Mächte ist Erdöl wichtiger als humanitäre Belange. 7. Vertragen sich Zionismus und Sozialismus? Ein jüdischer Staat, der eine sozialistische Politik betreibt, ist bestimmt vorstellbar. Ich kann mir ein sozialistisches Israel leicht vorstellen, aber es würde bestimmt keine Waffen nach Südafrika liefern. 8. Ist Zionismus Rassismus? Wenn der Zionismus im Rahmen der Vorstellung vom auserwählten Volk definiert wird, ist er rassistisch. Jedes Volk, das sich darauf beruft, daß es Gott auf seiner Seite hat, ist rassistisch, und das gilt für alle Reli­ gionen. Der Mensch muß seine eigene Moral entwickeln, und zwar eine Moral, die nicht den einen gegen den anderen stellt. Das ist eine rein weltliche Aufgabe, bei der einem kein Gott helfen kann. Wenn der Zionismus zu einer weltlichen Bewegung wird, ist er nicht rassistisch. 9. Was war Ihre Reaktion auf die Resolution der Vereinten Nationen, die Zionismus m it Rassismus gleichsetzt? Ich stimme nicht mit jedem UN-Beschluß überein. Nur weil die UNO etwas beschließt, muß es nicht unbedingt richtig sein.

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10. Sollten die Juden als Gruppe in Z u ku n ft weiterbestehen? Politische Konflikte und Differenzen können die gemeinsame jüdische Herkunft zurückdrängen, wie es ja auch historisch der Fall war. In der jüdischen Gruppe gibt es Extreme sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten. Es gibt so etwas wie protofaschistische Juden, mit denen ich mich nicht zusammentun würde. Ich glaube, die Juden haben das Recht weiterzubestehen wie andere Gruppen auch. 11. Wie sehen Sie das jüdische Volk? Ich bin nicht jüdischer, sondern US-amerikanischer Nationalität. Würde ich in Israel leben, dann wäre ich Jude oder Israeli oder wie immer man das nennen will. Man kann nicht sagen, daß die Juden eine Nation sind, wenn sie nicht allesamt in Israel leben. Die Juden sind miteinander verbunden durch eine geschichtliche Tradition (und das Ghetto hat darin eine wichtige Rolle gespielt), die Gemeinschaft und Tradition stiftet. 12. Was ist die Lösung fü r den arabisch-israelischen K o nflikt? Vorbedingung für alles andere muß der Gedanke des Fortbestands eines israelischen Staates sein. Eine Regelung muß auf der Anerken­ nung Israels als souveränem Staat und auf der Berücksichtigung der Bedingungen beruhen, unter denen er gegründet wurde. Die erste Vorbedingung für eine Lösung ist ein Friedensvertrag mit den Arabern, der die Anerkennung des Staates Israel, den freien Zugang zum Suezkanal und zu den Meerengen und die Regelung des Flüchtlingsproblems umfaßt. Eine Lösung für das Flüchtlingsproblem, die sich aus Gesprächen mit jüdischen und arabischen Persönlichkeiten anbietet, ist die Wiederansiedlung der vertriebenen Palästinenser, die nach Israel zurück­ kehren wollen. Diese Lösung wird offiziell mit dem (an sich richtigen) Argument abgelehnt, daß eine solche Lösung die jüdische Mehrheit schnell zur Minderheit machen würde und damit den Zweck des jüdi­ schen Staates zunichte macht. Ich glaube allerdings, daß sich gerade diejenige Politik selbst zunichte macht, die auf eine dauerhafte Mehr­ heit abzielt. Die jüdische Bevölkerung wird eine Minderheit in der rie­ sigen Welt der arabischen Nationen bleiben. Sie kann sich nicht defi­ nitiv davon absondern, ohne zu einer Ghettoexistenz auf höherem Niveau zurückzukehren. Gewiß, Israel könnte eine jüdische Mehrheit 155

aufrechterhalten, indem es eine aggressive Einwanderungspolitik betreibt, die wiederum beständig den arabischen Nationalismus stärkt. Als fortschrittlicher Staat kann es nicht existieren, wenn es in seinen Nachbarn weiter »den Feind« sieht, den »Erbfeind«. Und dauerhafte Sicherheit für das jüdische Volk liegt nicht in einer sich abschließen­ den, isolierten und von Angst getriebenen Mehrheit, sondern im Zusammenleben von Juden und Arabern als Bürgern mit gleichen Rechten und Freiheiten. Ein solches Zusammenleben kann nur das Ergebnis eines langen Prozesses von Versuchen und Irrtümern sein. Der Status von Jerusalem könnte sich als das größte Hindernis für einen Friedensvertrag erweisen. Tiefsitzende religiöse Gefühle, von den Führern immer wieder angeheizt, machen Jerusalem als Haupt­ stadt eines jüdischen Staates für die Araber (und für die Christen?) unannehmbar. Eine vereinigte Stadt (beide Teile) unter internationa­ ler Aufsicht und Verwaltung könnte eine Alternative sein. Die nationalen Bestrebungen des palästinensischen Volkes könn­ ten durch die Gründung eines Palästinenserstaates neben Israel be­ friedigt werden. Ob dieser Staat unabhängig sein soll oder ob er eine Föderation mit Israel oder mit Jordanien eingeht, bliebe der Selbstbe­ stimmung des palästinensischen Volkes in einem Referendum unter Aufsicht der Vereinten Nationen überlassen. Die beste Lösung wäre das Zusammenleben von Israelis und Palä­ stinensern, Juden und Arabern als gleichberechtigten Bürgern eines sozialistischen nahöstlichen Staatenbundes. Das ist noch eine Utopie. Solange die Palästinenser die Zerstörung Israels für nötig halten, gibt es keine Grundlage für irgendwelche Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern. Auch wird aus der Genfer Nahostkon­ ferenz nichts herauskommen, solange sich die Supermächte nicht einig sein. 13. Halten Sie den Antisem itism us fü r eine reale Sorge fü r die Juden in aller Welt und insbesondere in den USA? Der Antisemitismus grassiert in allen Staaten und ist in allen Staaten immer noch vorhanden. Er kann noch weit aggressivere Formen annehmen. Das ist ein Grund zur Sorge, aber nicht, solange alles rei­ bungslos funktioniert. Wenn sich diese Situation drastisch verändert, wird der Antisemitismus ein weitaus größerer Grund zur Sorge sein.

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Angela Davis

Rede auf einer Protestveranstaltung für Angela D avis

Noch heute wird die amerikanische Bürgerrechtlerin und bedeutende Aktivi­ stin der amerikanischen Studentenbewegung, Angela Davis, als die bekann­ teste Studentin Marcuses erwähnt. Am 26. Januar 1944 wurde Angela Yvonne als erstes von vier Kindern im Süden der USA, in Birmingham, Alabama, geboren. Ihre Eltern waren Leh­ rer, und sie wuchs in einer sogenannten schwarzen Mittelklasse-Familie auf. Schon früh erfuhr die dunkelhäutige Schülerin, was es bedeutete, in einem der Südstaaten der USA zu leben: Rassismus, systematische Diskriminie­ rung, Bedrohungen durch den Ku-Kux-Klan. Als Fünfzehnjährige verließ sie Birmingham und wechselte auf eine integrative private High School in New York. Aufgrund ihres exzellenten Abschlusses war es ihr möglich, auf ein Col­ lege nach Brandeis, Massachusetts zu gehen, wo sie Französisch als erste Fremdsprache wählte. Gelegentlich besuchte die an europäischer Geistes­ geschichte interessierte College-Schülerin Seminare von Herbert Marcuse, der zu dieser Zeit an der Brandeis Universität in Waltham Politikwissenschaft lehrte. Nach ihrem ersten College-Jahr ging Davis nach Paris und knüpfte dort Kontakte zu algerischen Freiheitskämpfern. Nach ihrem einjährigen Auf­ enthalt in Paris kehrte sie nach Brandeis zurück und begann bei Marcuse das Studium der Philosophie. Auf dessen Empfehlung hin studierte sie anschlie­ ßend zwei Jahre am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main und hör­ te dort Vorlesungen bei Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Zurück in den USA, setzte Davis ihr Promotionsstudium bei Marcuse fort, der mittler­ weile an der Universität von Kalifornien in San Diego einen Lehrstuhl für Phi­ losophie inne hatte. Das Thema ihrer Doktorarbeit lautete: »Kants Analyse der Gewalt in der französischen Revolution«. Ihre öffentlichen Auftritte bei Protestveranstaltungen der Bürgerrechts- und Studentenbewegung nahmen zu, und als sie 1968 der kommunistischen Partei der USA beitrat, formierte sich der Widerstand gegen die Doktorin der Philosophie. 158

Die Universität von Kalifornien in Los Angeles bot Davis 1969 eine Stel­ le an. Dagegen opponierten nicht nur der Verwaltungsrat der Universität, sondern auch höchste politische Stellen. Der kalifornische Gouverneur Ro­ nald Reagan ließ verlauten: »Unter meiner Regierung wird die Kommunistin Angela Davis nie eine Stelle an einer Hochschule in Kalifornien erhalten.« Ihr Vertrag wurde gekündigt, was eine Welle des Protests auslöste. Die Kritiker Marcuses interpretierten das politische Engagement von Angela Davis als direkte Folge seines »zerstörerischen Denkens«. Der Pro­ fessor, der das kapitalistische System mit Hilfe der Theorie von Karl Marx kritisierte, galt schnell als Verführer der akademischen Jugend, als Stichwort­ geber der kommunistischen Partei der USA und als der Wegbereiter militan­ ter Aktionen der Black Panther. Als lebendes Beispiel dafür hatte die ameri­ kanische Öffentlichkeit seine prominenteste Studentin ausgemacht. Kein anderer Akteur, keine andere Akteurin der 68er-Bewegung vereinigte so vie­ le Feindbilder des konservativen Amerika in sich wie Angela Davis: Bürger­ rechtlerin, Anti-Vietnamkriegsaktivistin, Feministin, Mitglied der Black Pan­ ther und ab 1968 auch der kommunistischen Partei der USA (KPdUS). Dieses gebündelte Protestpotential und ihre charismatische Ausstrahlung zogen Haß auf sich und schweißten die nach der McCarthy-Ära ruhiggestellten AntiKommunisten und politischen Kräfte eines weißen, reaktionär-konservativen Lagers zusammen. Dem emotional geschürten Haßbild folgte das durch die amerikanische Justiz legitimierte Feindbild. Das FBI setzte 1970 Angela Davis’ Konterfei auf die Fahndungsliste der zehn meistgesuchten Terroristen in den Vereinigten Staaten. Sie wurde mit dem Versuch einer Gefangenenbefreiung von drei inhaftierten Mitgliedern der Black Panther, den sogenannten »Soldedad Brothers« in Zusammenhang gebracht. Jonathan Jackson, der mit Angela Davis bekannt war, versuchte seinen Bruder George aus dem Gerichtssaal von San Rafael in Kalifornien zu befreien. Bei dem Versuch der Geiselnahme wurden die drei Angeklagten, der Richter und Jonathan Jackson erschossen. Daraufhin beschuldigten die Ermittler Davis, sie habe die Waffen gekauft. Einige Wochen lebte sie im Untergrund, wurde aber am 13. Oktober 1970 in New York verhaftet und wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Die sechzehnmonatige Untersuchungshaft und der am 27. Februar 1972 begonnene Pro­ zeß wurden von der weltweiten Solidaritätsbewegung »Free Angela« beglei­ tet. Bis zu ihrer Freilassung blieb Marcuse wohl der engagierteste Sprecher der Bewegung »Free Angela«. Nach über drei Monaten Verhandlungsdauer endete der Prozeß mit einem Freispruch. Die politische Führung der ehemaligen DDR, die sich mas-

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siv für die Kommunistin Davis eingesetzt hatte, lud sie im September 1972 zu einer mehrwöchigen Rundreise durch die DDR ein.1 Davis blieb bis 1991 in der kommunistischen Partei der USA. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1980 und 1984 hatte sie sich an der Seite des kommunistischen Kandidaten Gus Hall als Vizepräsidentin aufstellen lassen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftsbereiches und mit großer Sympathie für den Reformprozeß von Michail Gorbatschow trat sie 1991 aus der Partei aus. Reagans Drohung, Davis würde niemals eine Stelle an einer kaliforni­ schen Hochschule erhalten, bewahrheitete sich nicht. Sie unterrichtete zwölf Jahre an der San Francisco State University und nahm anschließend ein Angebot der Universität von Kalifornien in Santa Cruz an, wo sie noch heute im »History of Consciousness Department« lehrt. Sie setzt sich derzeit für eine Reform des amerikanischen Strafvollzugs ein und ist in der Bewegung »Against Prison Industrial Complex« aktiv. Als der Verwaltungsrat der Universität von Los Angeles den schon unter­ schriebenen Vertrag mit Angela Davis wegen ihrer Mitgliedschaft in der kom­ munistischen Partei annullierte, war es Marcuse, der sich immer wieder öffentlich für die Aufhebung der Kündigung einsetzte, so auch an der Univer­ sität von Kalifornien in Berkeley.2 Studentische Vertreter organisierten dort am 24. Oktober 1969 eine Protest- und Solidaritätsveranstaltung für die aus­ gesperrte Lehrkraft. Hauptredner war Herbert Marcuse. Seine hier erstmals publizierte Solidaritätsrede (HMA 374.00) ist im Original in englischer Spra­ che und umfaßt sechs maschinengeschriebene Seiten. Der Titel wurde vom Herausgeber gewählt. Anmerkungen 1 Zur Osteuropareise von Angela Davis im Jahr 1972 vergleiche die Erläuterungen zum Brief Herbert Marcuses vom 24. Oktober 1972. 2 Berkeley galt als ein Zentrum der Protestbewegung und des sogenannten »Free Speech Movement«. Gerade hier wollte Ronald Reagan ein Exempel statuieren und mit Härte der Bewegung entgegentreten. Im Februar und März 1969 ließ er die Uni­ versität von eintausend Nationalgardisten besetzen. Mit brutaler Gewalt gingen sie gegen jeden vor, der sich in irgendeiner Form an Protestaktionen beteiligte. Als der Gouverneur vor einer Pressekonferenz den Einsatz rechtfertigte, ließ er verlauten: »Im regulären Guerilla-Krieg suchen und töten wir die Guerillas. Das können wir offen­ sichtlich nicht tun, aber ich sage, daß wir die Guerillas ausmerzen können, seien es nun Studenten oder Mitglieder des Lehrkörpers.« (vgl. Wolfgang Kraushaar [Hg.], a.a.O., Bd. 1,1998, S. 406).

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Dies ist keine Siegesfeier; ganz im Gegenteil, ich glaube, daß der Kampf erst angefangen hat - der Kampf gegen alle, die aus eurer Uni­ versität eine Ausbildungsstätte für die Aufrechterhaltung einer Gesell­ schaft machen wollen, deren Sicherheit und Wohlstand auf der Unter­ drückung und Versklavung anderer Völker beruht, innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen. Der Kampf gegen diese Mächte muß weitergehen, weil es ein Kampf für euch ist. Sie wollen euch den Verstand blockieren. Sie wollen euch vor kontroversen Ideen schüt­ zen, die nach ihrer Meinung die amerikanische Gesellschaft bedrohen und zerstören. Ich würde in aller Bescheidenheit sagen, daß hier ein kleines Mißverständnis vorliegt, und ein kleines bißchen Orwellsprache, denn das, was diese kontroversen Ideen tatsächlich bedrohen und zerstören könnten, ist die Herrschaft der Machthaber über diese Gesellschaft, nicht diese Gesellschaft selbst. Ein Gericht hat nun für Angela und gegen das Kuratorium ent­ schieden. Ich vermute, daß das Kuratorium seinen Irrtum längst einge­ sehen hat: es gibt andere und wirksamere Wege, um die Universität zu knebeln, nämlich über den Haushalt (ein sehr beliebtes Mittel) und durch die Vorzensur und Kontrolle der Berufungen, Promotionen und so weiter, bevor sie durchgeführt werden, damit sie nicht hinterher vor Gericht gehen müssen; ich möchte wetten, daß genau das passiert. Der Kampf für Angela ist in letzter Instanz einer für euch; es ist ein Kampf gegen den neuen McCarthyismus, gegen die neue Welle der Unter­ drückung, die sich aus diesem Land über die ganze Welt verbreitet. Und in diesem größeren Zusammenhang muß man den Fall von Ange­ la sehen. Es ist ein Kampf für euch: für uns, würde ich sagen, für uns, die wir es nicht mehr tolerieren können, denen sich der Magen umdreht, wenn wir sehen, wie das reichste Land der Welt von einer Ökonomie des Todes lebt - einer Ökonomie der Verschwendung, der künstlichen Veraltung und der Umweltverschmutzung; wir können es nicht mehr tolerieren, und diese Intoleranz, diese heilige Intoleranz, überbrückt hoffentlich den sogenannten Generationskonflikt, denn ich bin zwar ein bißchen älter als ihr, aber für mich ist es genauso into­ lerabel wie für euch. Auch damit sitzen wir im selben Boot. Die Frage, die ich heute ganz kurz aufwerfen will, ist folgende: Kann diese Gesellschaft ohne eine radikale Veränderung die Verhält­ nisse beseitigen, auf denen ihre Sicherheit und ihr Wohlstand beru­ hen? Und meine Antwort ist negativ. Die Antwort ist negativ, denn 161

und das muß ich als Marxist hier eingestehen - ich traue dem kapitali­ stischen System alles zu. Ich weiß, daß dieses System ein ganz pragma­ tisches System ist, ein ganz rationales System, und daß es Verschwen­ dung und Zerstörung nicht liebt - es sei denn, diese Verschwendung und Zerstörung wird zur Reproduktion des kapitalistischen Systems für nötig gehalten. Mir scheint, die besten Marxisten, die wir heute in diesem Land haben, sind diejenigen, die unsere Gesellschaft regieren: Es ist, als wollten sie durch ihre Taten und nicht nur durch ihre Reden beweisen, daß Marx recht hatte. Nicht nur in bezug auf die Verschmel­ zung von wirtschaftlicher und politischer Macht, sondern auch mit dem Gedanken, daß das Kapital expandieren muß, daß es immer wei­ ter expandieren muß, um existieren zu können und profitabel existie­ ren zu können. Eine solche Gesellschaft, eben eine kapitalistische Gesellschaft, gibt nicht seit 1946 eine Billion Dollar für die sogenann­ te »nationale Sicherheit« aus, wenn es gleichzeitig so aussieht, daß die­ se Sicherheit abnimmt statt zunimmt. Dazu gehören über 25 Milliar­ den für nie eingesetzte Waffen und Rüstungsgüter. Über die Hälfte ihrer Wissenschaftler arbeitet direkt oder indirekt für das Pentagon, und die Verschwendung und künstliche Veraltung in anderen W irt­ schaftszweigen muß ich nicht deutlich machen. Man würde so etwas nicht tun, wenn man es nicht für notwendig hält, und sie halten es tatsächlich für notwendig, daß ihr zukünftiger Lebensraum gesichert wird, daß er nicht in kommunistische Hände fällt. Der Feind muß deshalb weiterhin überall aufgebaut werden: in China, in Vietnam, in Kuba, in Lateinamerika - er muß weiter aufge­ baut werden, damit die Menschen weiter an diesen Wahnsinn glauben. Ich behaupte nun, daß dieser Glaube bereits erschüttert worden ist - und daß er erschüttert worden ist, das ist in hohem Maße euer Werk, das habt ih r bewirkt. Ihr wißt es vielleicht gar nicht, ihr denkt vielleicht immer noch, ihr seid bloß ein Haufen von Intellektuellen ohne Verbin­ dung zu den Massen. Die Regierung weiß das viel besser als ihr; die haben eine weitaus realistischere Einschätzung von der Macht, die ihr jetzt schon repräsentiert. Die volle Wucht der Repression richtet sich gegen die Hochschulen und Universitäten, und gegen die schwarzen Aktivisten in den Ghettos, mit denen ihr euch im Kampf verbunden habt. Die volle Härte der Repression richtet sich nicht gegen die orga­ nisierte Arbeiterschaft, sie richtet sich gegen euch, und sie wissen war­ um, sie wissen, warum sie das tun müssen. 162

Mit anderen Worten, wenn irgend jemand in der Lage ist, den tag­ täglich aufs neue reproduzierten Wahnsinn zu stoppen, dann seid ihr das. Einzig und allein ihr - ob schwarz, weiß oder braun - könnt die­ sen Wahnsinn stoppen. Und wieder kommt der erste Ratschlag vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er sagt, daß es völlig in Ordnung ist, anderer Meinung zu sein, solange man sie nicht an die große Glokke hängt - solange sie möglichst in den eigenen vier Wänden oder in der Wahlurne bleibt. Mit anderen Worten, er will nicht, daß auf der Straße demonstriert wird, und der Rat ist: Macht weiter mit euren Demonstrationen, denn er weiß - vielleicht noch besser als ihr -, daß sie gut tun, daß sie größer werden, daß sie das Bewußtsein derer ent­ wickeln, die noch nicht gesehen haben, die noch nicht gehört haben, was um sie herum vorgeht. Macht weiter und versucht, größere Demonstrationen zu machen, und was die Universität angeht, paßt weiter auf, was passiert. Verlangt den Rücktritt der Kuratoriumsmit­ glieder, die gegen die Gesetze des Landes verstoßen haben, die unge­ heuren Wert darauf legen, daß ihr die Gesetze befolgt, die aber viel weniger Respekt vor dem Gesetz haben, wenn sich das Gesetz gegen sie richtet. Oder wenn ihr nicht erreichen könnt, daß sie zurücktreten - und ihr wißt genauso gut wie ich, daß ihr das nicht erreichen könnt, denn wenn es je eine Willkürherrschaft gab, dann die des Kuratoriums - , wenn ihr das nicht erreicht, dann seht zu, daß sie wenigstens die Zuständigkeit für Berufungen und Promotionen an die Hochschulleh­ rer und Studenten zurückgeben und nicht sich selbst Vorbehalten. Ich gebe zu, daß sich all diese Ratschläge auf die Universität und den Campus konzentrieren. Es gibt größere Aufgaben, besonders die Herstellung von Bündnissen mit den großen unterdrückten Gruppen in diesem Land, ob schwarz oder braun, in allen Bereichen des Bil­ dungswesens. Aber unterschätzt nicht die Universität als eure eigene Basis. Noch einmal, die Funktion der Hochschulen und Universitäten im System hat sich verändert. Die Veränderung im Produktionsprozeß des entwickelten Kapitalismus macht diesen Prozeß kontinuierlich und zunehmend abhängig von hochqualifiziertem, intelligentem Per­ sonal: seinen Wissenschaftlern, Technikern, Ingenieuren, Psycholo­ gen und sogar Soziologen, ohne die das Ganze nicht mehr funktio­ niert. In den Universitäten und Hochschulen bildet das System seine neuen Kader aus, die es zu seiner Reproduktion benötigt; und das seid ihr. Ihr seid alles andere als ein Haufen von Intellektuellen, ihr seid 163

eine der wichtigsten Truppen - wichtig für die Reproduktion des Systems. Ihr müßt zeigen, daß ihr Widerstand leisten könnt, daß ihr euch weigern könnt, bloße Diener des Systems zu werden. Auch das liegt wieder bei euch. Ihr kämpft für euch selbst, ihr kämpft für all die­ jenigen, die das Leben, das ihnen diese Gesellschaft bietet, satt haben, die endlich ihr eigenes Leben führen wollen und ihr eigenes Leben genießen wollen, und zwar mit gutem Gewissen und ohne Schuldge­ fühl. Vielen Dank. Darf ich nun zu meiner erfreulichsten Aufgabe kommen: Ich habe euch noch nicht erzählt, warum Angela Davis das ideale Opfer dieser Repression war. Es gibt viele Gründe dafür: Sie ist schwarz, sie ist poli­ tisch aktiv, sie ist Kommunistin, sie ist hochintelligent und sie sieht gut aus - und das alles zusammen ist mehr, als das System tolerieren kann! Ich möchte euch jetzt nicht meine Studentin, sondern meine Kollegin im Lehrkörper der University of California vorstellen: Angela Davis.

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Offener Brief an Angela D avis Brief an Franklin Alexander vom 10. Januar 1971

Das Lehrverbot gegen Angela Davis führte innerhalb der Universität von Los Angeles zu heftigen Auseinandersetzungen. Der Fachbereich Philosophie stell­ te sich hinter Davis, ließ sie lehren und zahlte ihr für Oktober gegen den Willen der Universitätsspitze ihr Gehalt aus. In den beiden Vorlesungen, die sie am 6. und 8. Oktober 1969 - noch vor der einseitigen Auflösung ihres Lehrvertrages durch den Verwaltungsrat - halten konnte, sprach sie über den ersten bedeu­ tenden Sprecher der Schwarzen Frederick Douglass (1818-1895). Im Auftrag der »American Anti-Slavery Society« hatte der 1838 aus der Sklaverei in Mary­ land nach New York geflohene Douglass die amerikanischen Bundesstaaten bereist und Vorträge gegen die Unterdrückung der Schwarzen gehalten. Er gründete 1847 die Zeitung North Star, die ausschließlich Artikel zur Situation der Schwarzen in den USA und über die politischen Debatten um die Beendi­ gung der Sklaverei veröffentlichte. Während des Bürgerkrieges beriet Douglass Präsident Abraham Lincoln. Franklin Alexander (1940-1993), ein langjähriger Wegbegleiter von Ange­ la Davis und ebenfalls Mitglied des Zentralkommitees der kommunistischen Partei der USA, fragte Flerbert Marcuse im Brief vom 6. November 1970, ob er bereit sei, ein Vorwort für eine Broschüre zu schreiben, die Angela Davis’ Vorle­ sungen über Douglass beinhalten sollte. Alexander, der in seiner Eigenschaft als hoher kommunistischer Funktionär Angela Davis 1972 in die DDR begleite­ te, stand dem »National Committee to free Angela Davis« (Los Angeles) nahe und organisierte in dieser Eigenschaft den amerikanischen Protest gegen die staatliche Verfolgung von Angela Davis. Marcuse erklärte sich bereit, das Vorwort zu schreiben, bestand aber in sei­ nem Antwortbrief vom 20. November 1970 darauf, daß es ungekürzt und ohne jede Änderung erscheinen sollte. Weiter schrieb er: »Es ist selbstverständlich, daß die Veröffentlichung in keinem Zusammenhang mit irgendeiner politischen

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Gruppe oder Partei stehen darf.«1 Er verlangte eine wissenschaftliche und kei­ ne parteipolitisch orientierte Publikation. Nach einigen Unstimmigkeiten über Marcuses Beitrag, die er im Brief an Franklin Alexander anspricht, erschien die Originalfassung schließlich in der den Black Panther nahestehenden Zeitschrift Ramparts.2 Der deutschen Erstübersetzung liegt das vier Seiten umfassende Typo­ skript zugrunde (HMA 408.00). Der Titel stammt vom Herausgeber.

Anmerkungen 1 Unveröffentlichter Brief, Marcuse an Alexander, 20. November 1970 (Marcuse Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.) 2 Ramparts erschien von 1962 bis 1975 in Berkeley. Veröffentlicht in: No. 9, Februar 1971, S. 22 ff.

Liebe Angela, mir war unwohl, als ich gebeten wurde, die Veröffentlichung der beiden ersten Vorlesungen über Frederick Douglass einzuleiten, die Du im Oktober 1969 an der UCLA [University of California, Los Ange­ les] gehalten hast. Ich weiß, daß Du ihre Veröffentlichung in der Form, in der sie gehalten wurden, »unter normalen Umständen« nicht geneh­ migt hättest. Außerdem beschäftigen sie sich mit einer Welt, für die ich immer noch ein Außenstehender bin - kann ich dazu etwas Authenti­ sches sagen? Und schließlich, Du hast bei mir Philosophie studiert, und ich habe Philosophie gelehrt; Deine Dissertation hat sich mit einem Problem bei Kant beschäftigt: Was hat Dein Leben für die Befreiung der Schwarzen, was hat Deine augenblickliche Situation mit der Philosophie des Deutschen Idealismus zu tun? Aber dann habe ich den Arbeitsplan hervorgeholt, den Du zu Dei­ ner Dissertation verfaßt hast, und ich las den folgenden Satz: »Der Gedanke (von Kant), daß die Gewalt den Zusammenhang zwischen der Theorie und der Praxis der Freiheit herstellt, geht auf Rousseau zurück ...« Es gibt also einen Zusammenhang, einen inneren Zusam­ menhang zwischen der Theorie und der Praxis, zwischen dem Begriff und der Realität (oder besser: Realisierung) der Freiheit? Und ich erin166

nere mich, daß ich Sartres Begriff von einer Freiheit kritisiert habe, die wahrhaft unveräußerlich ist und die sich sogar im Gefängnis, im Kon­ zentrationslager praktizieren läßt, nämlich die Freiheit, jede Unterord­ nung zu verweigern, die Freiheit, die falsche Identität abzulehnen, die die Herren ihren Sklaven aufzwingen. Ich habe diesen Begriff kriti­ siert, weil es mir schien, daß die freie Wahl zwischen Sklaverei und Tod oder lebenslangem Gefängnis keine Freiheit ist, daß sie ein Hohn auf die menschliche Freiheit ist. Und nun lese ich in Deiner Vorlesung, wie Frederick Douglass eines Tages »den Mut faßt, sich gegen den Sklavenbrecher zu wehren, zu dem er geschickt wird, um ihn zu dome­ stizieren, zu zähmen, gegen diesen Sklavenbrecher, der unendlich bru­ taler ist als alle seine früheren Herren ...« Frederick Douglass schlägt eines Tages zurück, er kämpft gegen den Sklavenbrecher mit all seiner Kraft, und - der Sklavenbrecher schlägt nicht zurück, er zittert; er ruft andere Sklaven zu Hilfe, und sie weigern sich. Der abstrakte philoso­ phische Begriff von einer Freiheit, die einem nie genommen werden kann, wird plötzlich lebendig und enthüllt seine ganz konkrete W ahr­ heit: Freiheit ist nicht nur das Ziel der Befreiung, sie beginnt mit der Befreiung; sie muß »praktiziert« werden. Das habe ich, wie ich geste­ he, von Dir gelernt. Seltsam? Ich glaube nicht. Es steckt mehr darin. Vor Jahren hatten wir ein Hegel-Seminar. Wir lasen unter anderem das berühmte Kapitel über die Dialektik von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes. Es endet mit der Anerkennung der Abhängigkeit des Herrn vom Knecht, die über die Abhängigkeit des Knechts vom Herrn hinausgeht. Du gehst in Deiner Vorlesung auf die Phänomenologie ein, und die philosophische Ana­ lyse Hegels wird in dem Kampf lebendig, in dem der schwarze Sklave seine eigene Identität herstellt und dadurch die gewalttätige Macht des Herrn zunichte macht. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich erklären kann, wie Du, eine hochintelligente und sensible junge Frau, eine ausgezeichnete Studentin und Lehrerin, in die gewalttätigen Vorgänge in San Rafael verwickelt wurdest. Ich weiß nicht, ob Du überhaupt in diese tragi­ schen Vorgänge verwickelt warst, aber ich weiß, daß Du zutiefst in den Kampf für die Schwarzen, für die allenthalben Unterdrückten, verwikkelt warst und daß Du dich nicht darauf beschränken konntest, nur im Hörsaal und auf dem Papier für sie zu arbeiten. Und ich glaube, es gibt eine innere Logik in Deiner Entwicklung und in der Art und Weise, wie 167

sich die Dinge entwickelt haben - eine Logik, die nicht so schwer zu verstehen ist. Die Welt, in der Du aufgewachsen bist, Deine Welt (die nicht meine ist), war eine Welt der Gewalt, des Elends und der Verfol­ gung. Diese Tatsachen zu erkennen, verlangte weder besondere Intel­ ligenz noch besonderen Scharfsinn. Aber die Einsicht, daß sie verän­ dert werden können und verändert werden müssen, verlangte Denken, kritisches Denken: die Erkenntnis, wie diese Verhältnisse entstanden sind, welche Kräfte sie aufrechterhalten und wie Freiheit und Gerech­ tigkeit möglich sind. Das hast Du, glaube ich, in Deiner Studienzeit gelernt. Und Du hast noch etwas gelernt, nämlich daß fast alle berühm­ ten Gestalten der westlichen Zivilisation - derselben Zivilisation, die Dein Volk versklavte - letzten Endes nur eine Sache beschäftigt hat: die menschliche Freiheit. Wie jede gute Studentin hast Du ernst genommen, was sie gesagt haben, und Du hast ernsthaft darüber nach­ gedacht - und darüber, warum dies alles für die ungeheure Mehrheit der Männer und Frauen bloßes Gerede geblieben war. Du hast also erkannt, daß der philosophische Gedanke, wenn er keine Lüge ist, in die Wirklichkeit übersetzt werden muß: daß es ein moralischer Impe­ rativ war, den Hörsaal und den Campus zu verlassen und hinauszuge­ hen und den anderen zu helfen, deinem eigenen Volk, dem Du immer noch angehörst - trotz (oder vielleicht wegen) Deinem Erfolg im wei­ ßen Establishment. Aber Du hast auch für uns gekämpft, die wir Freiheit brauchen und Freiheit für alle wollen, die immer noch unfrei sind. In diesem Sinne ist Deine Sache unsere Sache. In solidarischer Verbundenheit Herbert Marcuse

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Lieber Mr. Alexander, Danke für Ihre Kommentare zu meinem Vorwort für Angelas Vor­ lesungen. Es tut mir leid, aber ich verstehe Ihre Lesart meines Textes nicht. (1) Sie zitieren Angela mit dem Satz, daß die von Douglass getrof­ fene Wahl nicht frei war, weil sie »durch die Widersprüche seiner Exi­ stenz determiniert« war. Aber genau diese Determination ließ ihm die Wahl zwischen Unterordnung und Widerstand (Verweigerung). Er konnte seine Wahl treffen und hat sie getroffen: er war frei, die Verwei­ gerung zu wählen. Und diese seine Wahl war der Beginn seiner Befrei­ ung - es war nicht eine »statische und abstrakte Form innerer Frei­ heit.« Genau das sage ich in dem betreffenden Absatz, und das hat Angela in ihrer Vorlesung gesagt. (2) Nirgendwo »unterstelle« ich, daß Angela »in die Zusammen­ hänge in San Rafael verwickelt war.« Tatsächlich sage ich: »Ich weiß nicht, ob Du überhaupt in diese tragischen Vorgänge verwickelt warst.« Die einzige Verwicklung, die ich tatsächlich unterstelle, ist die, daß sie »in den Kampf für die Schwarzen verwickelt war.« Soviel ich weiß, hat Angela diese Verwicklung nie bestritten. Und wenn ich von einer »inneren Logik« in ihrer Entwicklung spreche (ein Ausdruck, den jeder Marxist versteht), dann beziehe ich mich ausdrücklich auf die von Ihnen erwähnten »objektiven Umstände«: Elend, Gewalt und Verfolgung. Ein kleiner Punkt: Sie zitieren aus Walter Benjamins Geschichts­ philosophische Thesen etwas, das gar kein Zitat ist, nämlich: »The history of the oppressed teaches us that the political prisoner is not the exception but the rule.« Ich weiß nicht, wo Sie diesen englischen Text gefunden haben - es ist jedenfalls keine Übersetzung. Benjamin sagt zu Beginn der VIII. These (ich übersetze): »The tradition of the oppressed teaches us that the state of emergency in which we live is /not the exception but/ the rule.«1 Aber das ist unwichtig. Der einzige Zweck meines Vorworts be­ stand darin, die Verteidigung von Angela zu unterstützen. Alle Unter­ schiede der »Philosophie« und der Interpretation müssen diesem Ziel 1 »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezu­ stands in dem wir leben, die Regel ist.« (Walter Benjamin, G e s a m m e lt e S ch riften Bd. 1.2, S. 697)

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untergeordnet werden. Wir hätten uns sicherlich auf Änderungen in meinem Text einigen können - leider ist es jetzt zu spät. Ich habe Ihnen mein Vorwort am 20. November 1970 zugeschickt, ich erhielt Ihre Kommentare am 7. Januar 1971. Mein Brief an Angela soll nächste W oche in Ramparts erscheinen. Ich denke, Angela sollte selbst entscheiden, ob mein Text auch zusammen mit ihren Vorlesungen abgedruckt wird. Aber wenn das National United Committee oder Sie selbst die Entscheidung treffen wollen, steht es Ihnen frei, das Vorwort nicht zu veröffentlichen. Mit besten Grüßen Herbert Marcuse

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Brief an Neues Forum

Schon bald nach der Verhaftung von Angela Davis am 13. Oktober 1970 in New York kam es an zahlreichen Universitäten zu Solidaritätsveranstaltun­ gen. Marcuse setzte verstärkt seine Popularität in Europa ein, um seine Stu­ dentin zu unterstützen. Seine langjährigen Kontakte zum Neuen Forum, das von 1966-1979 in Wien erschien und von Günter Nenning herausgegeben wurde, nutzte Marcuse ebenfalls für eine Solidaritätserklärung.1 Der hier abgedruckte Brief Marcuses war gleichzeitig der Beginn einer Vielzahl von Stellungnahmen zu den Repressionen, die Angela Davis in die­ sen Jahren von den amerikanischen Behörden widerfuhren. Es folgten Ver­ öffentlichungen, unter anderem im Spiegel, in der Zeit2, in links3 und in kon­ kret Marcuse, der als sogenannter »Charakterzeuge« die Gelegenheit hatte, Davis im Gefängnis in San Rafael zu besuchen, antwortete auf die Frage, ob sich im Fall Angela Davis denn eine faschistische Tendenz der USA zeige: »Wissen Sie, es ist schwer, dies im Fall von Angela Davis zu sehen. Angela Davis ist von Anfang an ein internationaler Fall gewesen. Man muß den Ein­ zelfall im Zusammenhang des Ganzen sehen: der zunehmenden Brutalisie­ rung der Gesellschaft. Sehen Sie sich Attica, San Quentin, Soledad an!« Nach dem Ausgang des Prozesses gefragt, sagte er: »Man hat mir gesagt, sie habe zwei Chancen: einmal, daß der internationale Druck so groß sei, daß selbst die Richter hier und die Jury das berücksichtigen. Das glaube ich nicht. Zweitens: daß Angela die Jury durch ihre Persönlichkeit, ihre Menschlichkeit beeindruckt, das ist ihre einzige Chance. Das wiederum würde bedeuten, daß sie in ihrer Verteidigung die politischen Motive der Anklage enthüllt, ohne sich in politischen Attacken zu erschöpfen. Das sind die Chancen.«4 Doch längst ging es nicht mehr alleine um den Fall Angela Davis, son­ dern generell um die Frage militanter Auseinandersetzungen und terroristi­ scher Gewalt, die mit den Bombenanschlägen der Baader-Meinhof-Gruppe auf amerikanische Einrichtungen und dem Bombenterror der RAF in 171

Deutschland eine neue Eskalationsstufe erreicht hatte. Seit Beginn der sieb­ ziger Jahre versuchten weite Teile der Öffentlichkeit, Marcuses Denken auch als Wegbereiter der Gewalt und des Terrors zu interpretieren. Immer wieder mußte Marcuse dazu Stellung beziehen. Die konkref-Redaktion resümierte ein Interview Marcuses zu dieser Frage in der Überschrift: »Dieser Terror ist konterrevolutionär.«5 In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung unterscheidet Marcuse zwischen »revolutionärer Gewalt« und »politisch sinnloser Gewalt«. Erstere zeichne sich dadurch aus, daß sie von revolutio­ nären Massen in einer ganz bestimmten revolutionären Situation gegen eine repressive Herrschaftsclique ausgeübt wird. Aber, so argumentiert Marcuse weiter, »die existiert heute weder in der Bundesrepublik, noch in den Verei­ nigten Staaten. Individuelle Terrorakte, selbst wenn sie politische Akte wären - was das Vorgehen der Baader-Meinhof-Leute keineswegs ist können keine revolutionäre Funktion erfüllen.«6 Marcuse lehnte Terror als politisches Mittel stets ab. Der hier wieder zugänglich gemachte Solidaritätsbrief Helft Angela von Herbert Marcuse erschien erstmals in: Neues Forum, 17. Jg. 1970, H. 203, S. 1020.

Anmerkungen 1 In den siebziger Jahren veröffentlichte Marcuse dort zahlreiche Artikel, unter anderem Nicht einfach zerstören. Über die Strategie der Linken, Neues Forum, 16. Jg., 1969, H. 188-189, S. 485-486 und S. 488 und Für eine Einheitsfront der Unken, Gespräch mit Rolf Gössner und Paul Hasse in Freiburg, Neues Forum, 19. Jg., 1972, H. 225, S. 19-23. 2 Vgl. Herbert Marcuse, Mord darf keine Waffe der Politik sein, Die Zeit, 16. September 1977, Nr. 39, S. 41-42 3 Links. Sozialistische Zeitung war von 1969 bis 1997 das publizistische Publikations­ forum des Sozialistischen Büros (SB) in Offenbach. Das SB und die links veranstalten am 3. und 4. Juni 1972 den Solidaritätskongreß Am Beispiel Angela Davis. Hauptred­ ner waren Marcuse, Oskar Negt und Wolfgang Abendroth. Alle drei Redner standen den Terroraktionen der RAF ablehnend gegenüber. 4 Vgl. Herbert Marcuse, Sie hat sich nicht verändert, Interview im Spiegel, 8. November 1971,25. Jg., Nr. 46, S. 148-150. 5 Vgl. ders., Dieser Terror ist konterrevolutionär, Interview, Konkret, 15, Juni 1972, 18. Jg., Nr. 13, S. 15. 6 Vgl. ders., Die Verlegenheit des revolutionären Geistes, Interview, Süddeutsche Zei­ tung, 15. Juni 1972.

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Die Geschichte der Angela Davis ist die Geschichte einer dreifachen politischen Repression: gegen eine Frau, gegen eine militante Negerin, gegen eine linke Rebellin. Sie wurde von der Leitung der Universität von Kalifornien aus politischen Motiven entlassen, ohne jegliche Berücksichtigung ihrer hervorragenden Erfolge als Studentin und Pro­ fessorin an der Universität. Erfolge, die von niemandem, nicht einmal von ihren Feinden, bestritten werden. Ihre Beteiligung (wenn über­ haupt eine vorliegt) an der Schießerei und der Entführung von San Rafael ist nicht bewiesen worden. Dennoch wurde sie auf die Liste der zehn dringendst gesuchten Personen des FBI gesetzt. Sie wurde des Mordes und der Entführung beschuldigt, im Namen eines kaliforni­ schen Gesetzes, dessen Verfassungsmäßigkeit zweifelhaft ist. Ihr droht die Todesstrafe. Die Massenmedien haben der Affäre Davis denkbar große Publizi­ tät gegeben. Der Präsident der USA zeigte sich vor den Kameras des amerikanischen Fernsehens, um persönlich dem Chef des FBI, Edgar Hoover, für die Gefangennahme dieser »gefährlichen Person« zu gra­ tulieren. Was von seiner Seite ein eindeutiges Mittel darstellte, ihre Schuld außer Streit zu stellen. Die Affäre Davis hat dazu geführt, daß Haß und Feindseligkeit gegenüber der Protestbewegung in den USA in bisher noch nicht erreichtem Maß angewachsen sind. Kann Angela Davis unter diesen Umständen mit einem gerechten Prozeß rechnen? Sie hat ihr Leben für den Kampf gegen Unterdrückung und Unge­ rechtigkeit eingesetzt, für den Kampf zugunsten der schwarzen Bevöl­ kerung und der Unterdrückten in aller Welt. Heute sitzt sie in einem der schrecklichsten Gefängnisse des Landes. Ihr Prozeß kann Jahre dauern. Gleichgültig, ob Angela unschuldig oder schuldig ist, ihr Pro­ zeß wird der Prozeß einer Gesellschaft der Gewalt und der Ungerech­ tigkeit sein, einer Gesellschaft, die verantwortlich ist für die Situation, in der sich Angela heute befindet, einer Gesellschaft, die sich anschickt, eine ihrer heftigsten Anklägerinnen zu zerstören. Angela Davis kämpft um ihr Leben. Nur ein mächtiger Protest, ein Protest, der sich überall in allen Ländern erhebt, ein Protest, der über­ all gegenwärtig ist und nicht erstickt werden kann, kann ihr Leben ret­ ten. Herbert Marcuse

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Angela Davis war m eine beste Studentin

Nach ihrer Festnahme am 13. Oktober 1970 wurde Angela Davis in das New Yorker Frauengefängnis gebracht. Mit einem Hungerstreik protestierte sie gegen ihre Einzelhaft, die aufgrund einer bundesrichterlichen Entscheidung am 4. November 1970 aufgehoben wurde. Nach der Anklageerhebung wegen »Verschwörung, Entführung und Mord« gründeten sich in den gesamten USA Solidaritätskomitees, die fast täglich Kundgebungen für Davis durchführten. Marcuse setzte sich auch in den USA bei vielen Gelegenheiten für die Freilassung von Angela Davis ein. Allerdings war ihm hier bei zahlreichen Veranstaltungen die Nähe zur kommunistischen Partei der USA suspekt. Deren großangelegte Solidaritätskampagnen waren nicht selten mit politi­ scher Propaganda für die Ideologie der amerikanischen Kommunisten über­ frachtet, die sich stark an der Moskauer Führung orientierte. Er beteiligte sich an keiner Kundgebung für Angela Davis, die von der kommunistischen Par­ tei organisiert war. Marcuse beschränkte sich mit öffentlichen Stellungnah­ men auf Zeitungsartikel und auf die Teilnahme an universitär organisierten kleineren Veranstaltungen. Die hier abgedruckte, in englischer Sprache verfaßte Rede (HMA 408.04) ist vom 31. Januar 1971 datiert. Es war nicht genau zu ermitteln, in welchem Zusammenhang diese gehalten wurde. Neben dem Datum hat Marcuse handschriftlich den Vermerk »NBC« hinzugefügt. Es könnte sich daher um eine Rede halten, die ein Radiosender der National Broadcasting Company (NBC) ausgestrahlt hat. Dafür sprechen auch die handschriftlichen Ergänzungen, Absatzeinfügungen und eventuell für die Betonung eingesetz­ te Unterstreichungen in dem vier Seiten umfassenden Typoskript. Allerdings gibt es für eine Radiorede keine bestätigenden Hinweise. Die Rede erscheint hier in gedruckter Fassung als Erstveröffentlichung. Der Titel stammt vom Herausgeber.

Ich werde nicht über die Anklage gegen Angela Davis und über ihre unsicheren Chancen auf einen fairen Prozeß sprechen - ich werde über einen Menschen sprechen, den ich seit über sechs Jahren kenne und über das, was diesem Menschen in unserer Gesellschaft widerfah­ ren ist. Sie hat bei mir Philosophie und politische Theorie studiert. In Vor­ lesungen und Seminaren haben wir die großen Texte diskutiert, die die Geschichte der westlichen Zivilisation geprägt haben: von den griechi­ schen Philosophen bis hin zu Hegel und Nietzsche, von den politi­ schen Theoretikern der griechischen Antike bis hin zu Marx. Ich habe gesagt (und wiederhole es, weil es eine Tatsache ist und weil es dazu beitragen kann, ihre Entwicklung, ihr Leben zu erklären), daß sie in den mehr als dreißig Jahren, die ich in diesem Lande gelehrt habe, die beste oder eine meiner weitaus besten Studentinnen war. Eine außer­ gewöhnliche Studentin nicht nur durch ihre Intelligenz und durch ihr Verlangen, zu lernen und zu wissen, sondern auch deshalb, weil sie jene Sensibilität, jene menschliche Wärme besaß, ohne die alles Ler­ nen und Wissen »abstrakt«, rein »akademisch« und letztlich bedeu­ tungslos bleibt. Angela lernte, wovon die großen Philosophen ständig gesprochen haben: von menschlicher Freiheit, menschlicher Würde, Gleichheit und Gerechtigkeit - und daß die menschlichen Beziehun­ gen und die menschliche Gesellschaft auf diesen Ideen beruhen sollte. Sie hat begriffen, was jeder gute Student sehr schnell begreift: daß die­ se großen Ideen null und nichtig sind, wenn sie nicht mehr sind als blo­ ße »Ideen«, bloße »Werte«, die im Hörsaal, auf den Kanzeln oder von den Politikern verkündet werden, daß sie falsch und bedeutungslos sind, wenn sie nicht in die W irklichkeit übertragen werden - für alle Menschen. Und Angela hatte einen Blick für die Welt, in der sie aufge­ wachsen war und von der sie überall umgeben war: für das Schicksal ihres schwarzen Volkes, für die Unterdrückung, die Ungerechtigkeit und das Elend, gegen die die Menschen jahrhundertelang gekämpft und protestiert hatten und die immer noch da waren - und faktisch noch schlimmer wurden, während diese Gesellschaft inzwischen über alle nötigen Mittel verfügt, um Armut, Ungerechtigkeit und Elend welt­ weit zu beseitigen. Und eben diese Gesellschaft unterdrückt immer systematischer den militanten Protest gegen ihre Schandtaten in Indochina, in ihren Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten - den Protest gegen die 175

Vergeudung und Zerstörung, die der dunkle Abgrund unter dem hohen Lebensstandard sind. Die schwarzen und braunen Führer wer­ den verfolgt, die Campusse erstickt, die Berrigans sind im Gefängnis, Angela ist im Gefängnis. Angela war eine ausgezeichnete Lehrerin; selbst ihre Kritiker haben anerkannt, daß sie den Hörsaal nicht für Propaganda und Indoktrination benutzte. Das mußte sie nicht! Die Fakten zu präsen­ tieren und die bestehenden Verhältnisse zu analysieren, war schon genug. Sie lehnte es ab, die befreienden Ideen der westlichen Zivilisa­ tion als bloßen Lehrstoff zu behandeln, als Stoff für Prüfungen und akademische Grade - sie waren für sie lebendig und mußten Wirklich­ keit werden, hier und jetzt, nicht eines fernen Tages, nicht als ewige Verheißungen und Erwartungen. Sie konnte sich also nicht auf den Hörsaal beschränken, auf die relativ sichere Sphäre und Isolation des Campus: Sie trug die Wahrheit (ihre Wahrheit, unsere Wahrheit) nach außen: sie protestierte, sie demonstrierte, sie organisierte, und sie hat keinen Hehl aus ihrer politischen Zugehörigkeit gemacht. Und verlor ihre Stellung - aus politischen Gründen. Ich möchte mit einer noch persönlicheren Bemerkung schließen. Angela ist eine der gewaltlosesten Personen, die ich kenne (ich glaube, man muß ihr nur ins Gesicht sehen, um das zu erkennen!). Die Gewalt hat sie umgeben (sie steckt in dieser Gesellschaft), ihr Leben war in Gefahr, das Leben ihrer schwarzen Brüder und Schwestern war in Gefahr. Und trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie an Gewalt konspirativ oder aktiv beteiligt war. Und ich müßte sehr starke Bewei­ se haben, um es zu glauben.

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Brief vom 24. Oktober 1972

Zwei Tage nach dem Freispruch von Angela Davis am 4. Juni 1972 erreich­ te Herbert Marcuse ein Brief von Antonin Liehm1. Im Mai 1968 hatten sich Marcuse und der aus Prag stammende Liehm in Paris kennengelernt, wo er als emigrierter tschechischer Dissident lebte. Nach einer vierjährigen Lehr­ tätigkeit am Richmond College der Universität von New York kehrte er wie­ der nach Paris zurück und nahm dort eine Professur an. Der Mitbegründer von Lettre International lebt heute in der französischen Metropole. Liehm fragte Marcuse nach der Adresse von Angela Davis, die in einem Interview nach ihrer Freilassung öffentlich betont hatte, daß sie sich bei einer Reise durch Osteuropa persönlich bei den Menschen und Regierungen bedanken wolle, die sich für sie eingesetzt hätten. Hoffnungsvoll nahm Liehm ihre kämpferische Aussage auf, sie werde in Zukunft noch intensiver für Gerechtigkeit und für die Freilassung aller politischer Gefangenen in der ganzen Welt kämpfen. Dies deutete er als eine mögliche öffentliche Stel­ lungnahme gegen die in Prag stattfindenden Prozesse gegen die Aktivisten des Prager Frühlings aus dem Jahr 1968. Neben Liehm setzte auch Ivan Svitäk große Hoffnungen in die Reise der schwarzen Bürgerrechtlerin und Kom­ munistin. Svitäk versuchte, in einem Brief direkt Kontakt mit Davis aufzuneh­ men. Darin bat er sie, bei ihrem Treffen mit der tschechischen Regierung ihre »ganze Autorität« für die in Prag unter Anklage stehenden sogenannten »anti-kommunistischen und von außen gesteuerten Kräfte« einzusetzen.2 Eine Antwort erhielt er nicht. Stattdessen druckte The Times am 28. Juli 1972 einen Brief von Ange­ la Davis ab, aus dem hervorging, daß sie sich nicht auf eine Kritik an den Regierungen der kommunistischen Staaten einlassen werde. Darauf reagier­ te Jiri Pelikan3 zwei Tage später in einem kritischen Artikel in Le Monde. »Der Unterschied zwischen uns besteht nur darin, daß ich nach 30 Jahren aktiver Mitgliedschaft von der Partei zurückgewiesen worden bin, zusammen mit 177

einer halben Million tschechischer und slowakischer Kommunisten und ein­ fach deshalb, weil wir uns weigerten, die Okkupation unseres kleinen sozia­ listischen Landes durch eine ausländische Macht als sozialistisch zu betrachten, als einen Akt brüderlicher Hilfe.« Glücklich habe er zur Kenntnis genommen, daß sich Angela Davis nun für alle politischen Gefangenen in der Welt einsetzen wolle. Das ehemalige Mitglied des Zentralkomitees nennt Namen einiger Gefangener, für die es sich zu kämpfen lohne, weil sie in der Haft unter schwerer Krankheit leiden müssten. »Aber«, so schreibt Pelikan weiter, »das Gefängnis ist nicht die einzige und auch nicht die hauptsäch­ liche Form der Repression in der Tschechoslowakei. Zehntausende von Bür­ gern haben nichts zum Leben: Wegen ihrer politischen Überzeugungen sind sie ihrer Arbeit beraubt.« Der Brief von Angela Davis und weitere öffentliche Statements während ihrer Reise in den Herbstmonaten führten in der westlichen Presse und bei zahlreichen osteuropäischen Exilanten zu Irritationen. So auch bei Ivan Svitäk. Er schreibt an Marcuse: »Miss Davis’ indirekte Antwort besagt, daß eine Verurteilung der Kommunisten in Osteuropa ok ist, weil sie die gegenwärti­ ge Regierung unterlaufen.« Weiter erwähnt er ein Zitat von Angela Davis aus der Prawda. Die Frage, ob sie denn Marcuses Kritik an der sowjetischen Regierung kenne4, habe sie dort verneint. »Ihre Argumente wurden von der tschechischen Presse wiedergegeben, mit einem triumphalen Kommentar derverdorbensten Kollaborateure. Sietrauten sich sogar, einen »Schulspre­ chers Milan Hübl5, für sechs Jahre ins Gefängnis zu stecken, weil er Flug­ blätter verteilt hatte, in denen er die Menschen auf ihre verfassungsmäßigen Rechte hinwies.« Schließlich stellt Svitäk verbittert die rhetorische Frage, ob Angela Davis sich überhaupt klar darüber sei, was sie dort tue und welchen Dienst sie damit den »verabscheuungswürdigsten Bürokraten und Feinden des Sozialismus« erweise. Der Verfasser bittet Marcuse, er möge sich für die in Prag vor Gericht Stehenden öffentlich verwenden. Marcuse hatte bereits eine internationale Protesterklärung gegen die Prozesse in Prag unterschrie­ ben. Svitäk schließt mit der sarkastischen Bemerkung: »Die Entspannung scheint perfekt zu arbeiten: Mit dem Bezug auf ihre verfassungsmäßigen Rechte kommen amerikanische Revolutionäre aus dem Gefängnis und erklären, daß die östlichen Revolutionäre ins Gefängnis gesteckt werden sol­ len, weil sie ihre verfassungsmäßigen Rechte verteidigen. Bittere Dialektik.« Am 13. September beantwortete Marcuse diesen Brief6 und bat Svitäk mit dem Hinweis, daß die Zeitungsberichte nicht immer korrekt seien, um das exakte Statement von Angela Davis. Schon zwei Tage später konnte Marcuse in der Los Angeles Free Press eine Äußerung von Angela Davis 178

lesen, die sie angeblich gegenüber der Prawda gemacht haben soll. Sie habe gesagt, so zitiert Marcuse in einem Brief, verteidige man diese Gefan­ genen, so bedeute dies, »sich in eine Allianz mit Anti-Kommunisten zu bege­ ben, um den Anti-Kommunismus zu verteidigen.«7 Ausschlaggebend für den hier erstmals abgedruckten Brief Marcuses an Davis war neben dessen Gesprächen mit tschechischen Dissidenten ein Artikel in der Los Angeles Times vom 13. Oktober 1972.8 Der Journalist des London Observer Neal Ascherson schrieb in seinem Gastkommentar: »Nun kam Angela. Aus dem Gefängnis befreit, besuchte sie die Sowjetunion, OstDeutschland, Bulgarien und die Tschechoslowakei - Staaten in denen der bürokratische Sozialismus orthodox und repressiv ist - und sie achtete genau darauf, das zu sagen, was die Regierungen am meisten erfreut. In Ost-Berlin lobte sie die Mauer. In der Sowjetunion das Parteileben und die Organisation. In der Tschechoslowakei die Verbundenheit mit der Sowjetunion und das internationale Proletariat, und sie weigerte sich, auf die Einsprüche der Kommunisten und Sozialisten zu antworten, die in diesem Sommer dafür verhaftet wurden, daß sie ihre Ansichten auf Flugblättern kundtaten.« Bei einer Pressekonferenz habe sie auf die Frage eines westli­ chen Journalisten, warum sie nicht direkt auf die Prozesse gegen die inhaf­ tierten tschechischen Sozialisten eingehen wolle, geantwortet: »Diese Reise ist hauptsächlich ein Dank an die sozialistischen Völker, die sich mit intensi­ ven Kampagnen für mein Schicksal eingesetzt haben.« Letztlich läßt der Autor offen, ob Angela Davis’ Reaktion »naiv« oder »zynisch« zu werten sei. In der DDR hielt sich Angela Davis vom 10. bis 17. September auf. Ihr wurde ein enthusiastischer Empfang bereitet9. Schon am Ost-Berliner Flug­ platz Schönefeld jubelten ihr über 50.000 Menschen zu, später in Leipzig gar 200.000. Im Friedrichstadt-Palast in Berlin dankte sie den 3.000 meist jun­ gen DDR-Bürgern für deren Unterstützung während ihrer Haft. »Die Völker der Sowjetunion, das Volk der Deutschen Demokratischen Republik und die Völker der anderen sozialistischen Staaten wiesen der großen progressiven und weltweiten Bewegung den Weg, der zu meiner Entlassung führte. Der Sieg, der durch meine Freilassung erreicht wurde, ist nicht nur mein Sieg, und der Zweck war nicht nur, eine Inhaftierte der politischen Unterdrückun der USA zu entreißen. Dieser Sieg ist eine Lehrstunde für jeden in der Welt. Zu allererst lehrt er uns, daß wir in einer Position sind, den Völkermord in Indochina zu beenden!« Besonders beeindruckt hätten sie die Taten des sowjetischen Volkes. Es habe »die Welt vom Hitler-Faschismus befreit ... Wenn wir das Leben in den sozialistischen Ländern mit dem in den Vereinig­ ten Staaten vergleichen, finden wir uns hier tatsächlich in einer neuen histo179

rischen Ära wieder. Wie sehen, was es bedeutet, wenn die Arbeiterklasse die Macht hat.« Selten nur sprachen die DDR-Offiziellen von der Bürgerrechtle­ rin Davis. Sie wurde dort als Kommunistin gefeiert. Das betonte auch Erich Honecker, der sie am zweiten Tag empfing. In seiner Rede lobte er die engen und brüderlichen Verbindungen zwischen den deutschen und amerikani­ schen Kommunisten. »Alle unsere Sympathien gehören den tapferen Bür­ gern der USA, die in ihrem eigenen Land mit Entschlossenheit gegen die imperialistische Aggression in Vietnam kämpfen«, so Honecker. Schließlich lud der Staatsratsvorsitzende Angela Davis als Ehrengast der X. Weltjugend­ festspiele für das nächste Jahr nach Ost-Berlin ein.10 Annähernd zwei Monate überlegte Marcuse, der sich immer solidarisch zu Angela Davis verhalten hatte, ob er ihr den hier erstmals veröffentlichten Brief (HMA 408.06) schreiben sollte. Nachdem aber tschechische Freunde Marcuses und Unterstützer des »Komitees zur Bildung einer Jury gegen poli­ tische Prozesse«11 in der Tschechoslowakei ihn immer wieder darum baten, mit Angela Davis über diese Angelegenheit zu sprechen, entschied er sich, diesen Brief zu schreiben. Eine Antwort von Angela Davis befindet sich nicht im Marcuse Archiv.

Anmerkungen 1 Unveröffentlichter Brief in englischer Sprache von Liehm an Marcuse, 5. Juni 1972, Marcuse Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek, Frankfurt am Main. 2 Das geht aus einem Brief hervor, den Ivan Svitäk am 2. September 1972 an Herbert Marcuse schrieb. Auch die nachfolgenden Zitate stammen aus diesem Brief. Unveröffentlicher Brief in englischer Sprache, Svitäk an Marcuse, ebda. 3 Jiri Pelikan war während des Prager Frühlings Direktor des tschechischen Fernsehens. In: Le Monde vom 30./31. Juli 1972. 4 Anspielung auf Marcuses 1958 in den USA erschienenes Buch Soviet Marxism. A Cri­ tical Analysis. (dt. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied/Berlin 1964; wieder abgedruckt in: Schriften Bd. 6, Frankfurt am Main 1989) 5 Milan Hübl war während des Aufstands Rektor der Universität von Prag und Mitglied des Zentralkomitees der tschechischen KP. 6 Vgl. unveröffentlichter Brief in englischer Sprache, Marcuse an Svitäk, 13. September 1972, ebda. 7 Das Zitat im Brief ist aus der Los Angeles Free Press. 8 Neal Ascherson, A European View of Angela Davis, Los Angeles Times, 13. Oktober 1972.

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9 Die Führung der DDR veröffentlichte nach dem Besuch die in englischer Sprache ver­ faßte Broschüre Peace-Friendship-Solidarity. Angela Davis in the GDR, Dresden 1973. Die folgenden Zitate von Davis und Honecker sind Übersetzungen aus dieser Bro­ schüre. 10 Die X. Weltjugendfestspiele fanden vom 28. Juli bis 5. August 1973 in der DDR statt. Angela Davis nahm die Einladung an und eröffnete die Spiele. 11 Dazu zählten unter anderem Tamara Deutscher, Jean Paul Sartre, Mikis Theodorakis.

Liebe Angela, ich habe Dich nie mit Briefen behelligt, um Dir meine Meinung mitzu­ teilen, und ich hätte auch weiterhin davon Abstand genommen, wenn mich nicht meine Freunde hier und in Europa (und ich spreche von Freunden) drängen würden, Dir zu schreiben. Vielleicht kann es hel­ fen, den Schaden wiedergutzumachen, den die Sache genommen hat, für die Du gekämpft hast (und die auch unsere Sache ist). Ich beziehe mich natürlich auf Deine Haltung zu den Prozessen in der Tschecho­ slowakei. Nach Berichten, die ich in europäischen Zeitungen gelesen habe, und nach der Prawda vom 14. August, zitiert in der L. A. Free Press (14. September), hast Du es abgelehnt, die politischen Gefangenen in der Tschechoslowakei zu verteidigen, weil es von Dir verlangen wür­ de, »ein Bündnis mit Antikommunisten zur Verteidigung von Anti­ kommunisten einzugehen.« Aber auch wenn Du eine solche Äußerung nicht getan hättest, diskreditiert Dein Schweigen und Dein Staats­ besuch in der Tschechoslowakei Dein oft wiederholtes Eintreten für die Befreiung aller politischen Gefangenen. Du weißt, daß mir der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus und zwischen der Opposition in kapitalistischen und derjenigen in kommunistischen Ländern bekannt ist. Die tschechi­ schen Genossen (ich habe einige von ihnen persönlich gekannt) sind politische Gefangene; sie sind Kommunisten und Marxisten; daß man sie nicht zu verteidigen braucht, weil sie Antikommunisten sind, ist so eindeutig falsch, daß es keiner Widerlegung bedarf. Dieses Argument wurde sogar von den westeuropäischen Kommunistischen Parteien in ihrer öffentlichen Kritik an den Prozessen zurückgewiesen. 181

Ich war entsetzt über die Wirkung, die Deine Ablehnung auf mili­ tante Marxisten hierzulande und in Europa hatte. Sie kennen die Gründe für Deine Haltung so gut wie ich. Sie lehnen sie nicht nur ab, weil diese Gründe nicht den Tatsachen entsprechen, sondern auch deshalb, weil sie dem Kampf für den Sozialismus ernsten Schaden zufügen können und den Antikommunisten in die Hände spielen. Der Kampf, für den Du zu einem Symbol geworden bist, ist wichtiger als jede persönliche Dankbarkeit und persönliche Bindung. Immer wieder werde ich gefragt: Bist Du naiv oder bist Du zynisch? Ich halte die Frage für uninteressant: Du bist weder das eine noch das andere. Aber Du glaubst immer noch, daß in der heutigen Zeit der Kampf für den Sozialismus von den Kommunistischen Partei­ en durchgeführt werden muß, die die einzige wirkliche Organisation der Arbeiterklasse sind. W o? In Frankreich und Italien, wo Du nicht warst (ebensowenig hast Du auf Deinen Reisen Deine Freunde in Westdeutschland besucht, die Dir so sehr geholfen haben). Die Partei­ en in den osteuropäischen Ländern kämpfen nicht unbedingt für den Sozialismus oder Kommunismus, sondern für das bestehende System - ein System, das an der Spitze immer enger mit dem kapitalistischen Establishment zusammenarbeitet (und das sich mit Recht die neue Popularität von Nixon zugute hält). Aber was sollen wir jetzt tun? Natürlich läßt sich das, was gesche­ hen ist, nicht ungeschehen machen. Ich würde Dir folgendes Vorschlä­ gen: Wenn Du in den USA wieder eine öffentliche Ansprache hältst, dann sage offen und erkläre, was Du zu sagen hast und was Du getan hast und beantworte die Kritik an Deiner »Linie« vom marxistischen Standpunkt. Noch besser: Arrangiere kleinere Treffen für eine solche freie Diskussion unter Marxisten. Natürlich mußt Du Dich nicht ver­ teidigen, aber noch einmal: Es geht nicht nur um Deine Person, son­ dern um die Sache, für die Du gekämpft hast. Es ist keine Frage der »Verteidigung«, sondern es geht darum, in concreto, vom Standpunkt der konkreten Situation, einige der Grundbedingungen und Perspek­ tiven für den Übergang zum Sozialismus in Theorie und Praxis zu dis­ kutieren. Das läßt sich machen, offen, öffentlich; nur so kann die Diskussi­ on die Menschen außerhalb und über kleine Gruppen oder Cliquen hinaus erreichen. Es wurde immer so gemacht - außer unter den Bedingungen von offenem Krieg und Illegalität (Bedingungen, die in 182

diesem Land noch nicht herrschen). Eine marxistische Partei sollte keinen Grund haben, eine solche Diskussion zu vermeiden, und Du bist mehr als nur ein Mitglied des Zentralkomitees der amerikanischen Kommunistischen Partei.

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Briefw echsel mit Rudi Dutschke

Zum ersten Mal begegneten sich Rudi Dutschke und Herbert Marcuse im Juli 1967 in Berlin. Der Berliner SDS, den Dutschke im Jahr 1964 mit gegründet hat­ te, lud Marcuse zu einem Kongreß vom 10.-13. Juli an der Freien Universität ein, der dann unter dem Titel von Marcuses Eröffnungsreferat Das Ende der Utopie bekannt geworden ist. Im Anschluß an Marcuses zweiten Vortrag über Das Problem der Gewalt in der Opposition diskutierten Dutschke, Marcuse und andere über Moral und Politik in der Überflußgesellschaft. Auch an der Podi­ umsveranstaltung einen Tag später Vietnam - Die Dritte Welt und die Opposi­ tion, die von Klaus Meschkat geleitet wurde, waren beide beteiligt.1 Aus den Diskutanten wurden schnell Freunde. Marcuse war mehr als überrascht von der enormen Beteiligung an dem Kongreß und von der Atmosphäre der Veranstaltung. An seinen »weisen« Freund Leo Löwenthal schrieb der »greise Herbert«2 von den Ereignissen in Berlin: »Lieber Leo, es gibt so viel zu erzählen - zu viel, um es Dir zu schreiben! Eine sehr aufregende Woche in Berlin, wo ich wie ein Messias empfangen wur­ de, sprach zu 5000 Studenten. Dann ein komplett verrückter, teilweise psyche­ delischer Kongress über die >Dialektik der Befreiung< in London.«3 Auch die Differenzen zwischen Marcuse einerseits und Horkheimer und Adorno anderer­ seits, die aus der unterschiedlichen politischen Einschätzung der Studenten­ bewegung entstanden waren, spricht Marcuse kurz an. »Max und Teddie wegen ihrer politischen (oder vielmehr unpolitischen) Haltung von den aufge­ regten Studenten ausgepfiffen - Flugblätter gegen Teddie! Versuche jetzt mich mit Ihnen in der Schweiz zwecks politischer Auseinandersetzung zu treffen aber Max scheint nicht sehr bereit.« Marcuse schließt mit der Bemerkung: »Im alten Europa ist doch noch viel lebendig!«4 Im Antwortbrief von Löwenthal, der Marcuse in Zermatt in der Schweiz erreichte, nimmt dieser Bezug auf den bekannt gewordenen Slogan, Marcuse werde in einem Atemzug mit Marx und Mao genannt. »Lieber Herbert, die

Bezeichnung >Messias< in Deinem lieben Brief vom 10. August fügt Dir nun ein weiteres >M< hinzu. In einer deutschen Zeitung sah ich einen Artikel, der über die neue >MRepressive Toleranz< ] Marcuses Text Die repressive Toleranz erschien 1965 in der Sammlung Kritik der reinen Toleranz. Hg. Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse. Der Band stellt eine politisch-philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Toleranz« dar. Marcuse geht hier von den Erfahrungen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aus und legitimiert die Gewaltanwendung seitens unterdrückter Minderheiten als Naturrecht auf Widerstand und als Versuch, die bestehende Gewaltspi­ rale der Herrschenden zu durchbrechen. bolivischen Guerillas ] Seit November 1966 hielt sich Che Guevara mit einer Gruppe von Partisanen in Bolivien auf, um dort durch einen Guerillakrieg das Barrientos-System zu stürzen. Damit verbunden war auch das Kalkül, die USA zu einem Eingreifen in diesem Konflikt zu verleiten und so ein »zweites Vietnam« zu schaffen. antikapitalistischen Strukturreformen à la Mandel ] Ernest Mandel (1923-1995), belgi­ scher Wirtschaftswissenschaftler. 1962 erschien sein zweibändiges Werk Traité d ’Economie Marxiste (dt. Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970). Internationale Jugendkonferenz ] Am 17. und 18. Februar 1968 fand im Auditorium maxi­ mum der Technischen Universität Berlin der vom Berliner SDS organisierte »Internationa­ le Vietnam-Kongreß« statt, an dem etwa 5000 Menschen teilnahmen. Die Veranstaltung ist dokumentiert in: Sibylle Plogstedt (Red.), Der Kampf des vietnamesischen Volkes und

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die Globalstrategie des Imperialismus - Internationaler Vietnamkongreß 17./18. Februar 1968. Hrsg, vom SDS Westberlin und vom INFI = Internationales Nachrichten- und For­ schungsinstitut. West-Berlin 1968. Republikanischer Club ] gegründet April 1967 in Berlin unter anderem von Hans Magnus Enzensberger, Ekkehart Krippendorf, Klaus Meschkat und Wolfgang Neuss, um einen Raum zur politischen Kommunikation und Diskussion zu schaffen. Die Gründungsbe­ kanntmachung wurde veröffentlicht in: berliner manuskripte 1 (Mai 1967), online unter: http://www.glasnost.de/hist/apo/rd.html Herrn Hacker ] Der aus Wien stammende Psychiater Friedrich Hacker (1914-1989) emi­ grierte 1938 in die USA und wurde dort Professor an der Universität von Südkalifornien. Er veröffentlichte mehrere Schriften über das Thema Gewalt und Massengesellschaft und hatte 1950 in Beverly Hills die Hacker Psychiatric Foundation gegründet, an der Adorno 1953 für ein Jahr die Aufgabe eines Forschungsdirektors wahrgenommen hatte (vgl. Kraushaar I, S. 96). Ihnen, Frau Inge] Inge Neumann (1913-1972), Übersetzerin, unterrichte von 1960-1972 Französisch und Deutsch an der Universität von Kalifornien in San Diego. Sie war bis 1954 mit Franz L. Neumann verheiratet, der 1954 durch einen Autounfall in der Schweiz töd­ lich verunglückte. Im Jahr 1956 heiratete Inge Neumann Herbert Marcuse.

Herbert Marcuse an Rudi Dutschke [La Jolla, Kalifornien] 8831 Cliffridge Ave. La Jolla, Cal. 92037 12. Januar 1968 Lieber Herr Dutschke, Dieser Brief geht an Ihre Adresse, weil ich erst einmal eine persön­ liche Angelegenheit aufklären möchte. Wie Sie wohl wissen, hat man in Berlin verbreitet, dass ich Sie einen »sweet demagogue« genannt hätte. Nun kann ich mich beim besten Willen (und wohl bewusst, was die Verdrängung leisten kann) nicht erinnern, eine solche Bemerkung 192

gemacht zu haben, habe aber der Sicherheit wegen darüber an Taubes geschrieben. Hier aus seiner Antwort: »Sie haben (das Wort) mal so vor sich hingesagt, als wir in einem kleinen Kreis stehend das Audito­ rium Maximum verließen: nach der Diskussion mit den Professoren. Und ich erinnere mich genau, dass dies W ort höchst freundlich gemeint war, weil Sie großen Spaß daran hatten, wie Dutschke dem Löwenthal aus seinen Frühwerken ganze Paragraphen vorlas ... Das Wort war im Spaß gemeint und, soweit ich mich erinnere, drückte Ihre Reverenz vor der eleganten, treffsicheren Weise aus, die Dutschke eig­ net bei öffentlicher Diskussion«. Ich erwähne die ganze Sache nur, weil ich nicht will, dass maliziöse Gerüchte über Differenzen zwischen uns im Umlauf bleiben. Lassen Sie mich deshalb ganz klar sagen, dass ich mich mit Ihrer Arbeit in rebus politicis identifiziere und das was Sie tun für ungeheuer ernst und wichtig halte. Amen. Ich habe gegen die fremdsprachlichen Ausgaben des »Ende der Utopie« keine Einwendungen, vorausgesetzt dass der Aufsatz »Das Problem der Gewalt in der Opposition« ungekürzt erscheint. Ausge­ nommen von der Autorisierung sind die englischen und amerikani­ schen Ausgaben: ich kann die englischen und amerikanischen Rechte nicht vergeben ohne vorher das Einverständnis der Beacon Press ein­ geholt zu haben. Bitte schreiben Sie Herrn Dieter La(i)ttmann, dass er sich mit mir in Verbindung setzt. Hier sieht es böse aus. Es scheint, dass die Studentenopposition in zunehmenden Maße von falsch-radikalen (hier sagt man: Trotzkistischen) Gruppen übernommen wird und sich in sinnlosen Aktionen an falscher Stelle verspielt. - Wir haben heute Abend eine Diskussion mit Lettau: vielleicht kann ich Ihnen danach mehr berichten. Was machen eigentlich Ihre Pläne hierher zu kommen? Dr. F. Hackers Adresse: 160 Lasky Drive, Beverly Hills, California Mit den besten Wünschen Herrn Kurnitzky und Ihnen, auch von Inge,

Taubes ] Der Religionssoziologe Jacob Taubes (1923-1987), ein gemeinsamer Freund von Horkheimer und Marcuse, war 1954 Professor an der Havard Universität in Cam­ bridge, Massachusetts, 1967 Professor am Institut für Hermeneutik an der FU Berlin.

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dem Löwenthal ] Richard Löwenthal (1908-1991) war 1926 Mitglied im Kommunisti­ schen Studentenverband, später gehörte er zur »KPD-Opposition«. Er mußte 1935 nach England emigrieren. Löwenthal wurde 1961 Prof, für Politologie an der FU Berlin. Haupt­ werke: Der geborstene Monolith. Von Stalins Weltpartei zum kommunistischen Pluralis­ mus, 1967 und Vom kalten Krieg zur Ostpolitik, 1974. Dieter Lattmann ] gemeint ist möglicherweise der gelernte Verlagsbuchhändler und Schriftsteller Dieter Lattmann (*1926), Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), von 1972-1980 SPD-Bundestagsabgeordneter. Ob Lattmann damals beruflich mit den Rechten an Marcuses Texten in einem Zusammenhang steht, war nicht zu ermitteln. Im Marcuse Archiv befindet sich kein Hin­ weis darauf. Lettau ] Reinhard Lettau (1929-1996), Schriftsteller, studierte in Heidelberg und an der Havard-Universität Literaturwissenschaft. 1965 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin, wo er in engem Kontakt mit der Oppositionsbewegung stand. Ab 1967 lehrte er als Pro­ fessor für deutsche Literatur an der Universität von Kalifornien in San Diego, wo er die stu­ dentische Opposition und die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg unterstützte. 1991 kehrte er nach Deutschland zurück. Lettau war in den sechziger und siebziger Jah­ ren mit Herbert Marcuse eng befreundet.

Herbert Marcuse an Rudi Dutschke [Cabris, Frankreich] Cabris/France, 31. Juli 1969 Lieber Rudi, eben lese ich im »Spiegel« den offenen Brief, den Sie und die anderen geschrieben haben. Sie glauben nicht, wie glücklich er mich gemacht hat. Wieder hat es sich gezeigt, daß die Jungen heute unendlich mehr politischen Verstand und politische Mentalität haben als die Bankrot­ teure der Alten Linken, die Argumenten nur noch durch lumpige Ver­ leumdungen begegnen können. 194

Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen die Kopie eines Briefes an Ernst Fischer schicken, aus dem Sie sehen werden, daß ich Ihres Ver­ trauens nicht unwürdig bin. Vor allem aber: wie geht es Ihnen? Ich wäre dankbar, wenn Sie mir ein par Zeilen schreiben würden. Wir sind bis zum 13. August hier. Können Sie unseren Freunden, die den offenen Brief unterzeich­ net haben, meinen Dank mitteilen? Mit den besten Wünschen Ihnen und Gretchen auch von Inge, Ihr Herbert Marcuse C/c Mme. Turenne 06 Cabris, France

eben lese ich im Spiegel den offenen Brief ] Bei einer Vortragsveranstaltung am 17. Juni 1969 in Rom kam das Gerücht auf, Daniel Cohn-Bendit habe Marcuse dort öffentlich vor­ geworfen, ein Agent des CIA zu sein. Cohn-Bendit, der von Marcuse dazu angesprochen wurde, stellte klar, daß er diesen Vorwurf nie erhoben habe. Hintergrund war eine weitge­ hende Verleumdungskampagne gegen Marcuse, die von einem Prof. L.L. Matthias und in zahlreichen Publikationen wie der Progressive Labor, Organ einer amerikanischen trotzkistischen Gruppe, die den amerikanischen SDS bekämpfte, und der Weltbühne, geschürt wurde. Dort wurde Marcuses Tätigkeit für das amerikanische Office of Strategie Services (OSS) in den frühen 40er Jahren und Marcuses weiterer Beschäftigung beim State Departement nach dem zweiten Weltkrieg als »amerikanische Spitzeltätigkeit« ver­ unglimpft. Auch der SPIEGEL beteiligte sich mit dem Artikel Obszöne Welt (30. Juni 1969) an der Verbreitung dieser Behauptungen. Gegenüber der SP/EGEL-Redaktion bezog Marcuse schon am 5. Juli in einem ausführlichen Brief Stellung. Im SPIEGEL Nr. 31 (28. Juli 1969) veröffentlichten Rudi Dutschke, Elmar Altvater, Erich Fried, Lothar Menne, Klaus Meschkat, Oskar Negt, Alfred Schmidt und andere einen Leserbrief gegen diesen Vor­ wurf. Vgl. dazu Peter-Erwin Jansen Deutsche Emigranten In amerikanischen Regierungs­ institutionen, Herbert Marcuse, Franz Neumann, Leo Löwenthal und andere. In: Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse. Hrsg, von Peter-Erwin Jansen und Redaktion Perspektiven. Frankfurt am Main 1999, S. 39-58; dort sind die hier erwähnten Dokumente reproduziert. (S. 56 ff). Zu den Analysen Marcuses, die er beim OSS von 1939-1947 anfertigte, vgl. Herbert Marcuse, Feindanalysen. Über die Deut­ schen, herausgegeben von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998. Ernst Fischer ] (1899-1972) österreichischer Politiker, Schriftsteller und Journalist, von 1927-1934 Redakteur der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung, seit 1934 Mitglied der

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KPÖ. Fischer emigrierte 1934 zunächst nach Prag, 1939 nach Moskau. Nach seiner Rückkehr nach Wien wurde er Staatssekretär für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultur. 1969 kritisierte er die Niederschlagung des »Prager Frühlings« und wurde aus der KPÖ ausgeschlossen. Fischer war in den 1920er Jahren mit Georg Lukäcs be­ freundet. Kopie eines Briefes an Ernst Fischer ] Es handelt sich um ein Antwortschreiben Marcuses an Ernst Fischer vom 1. August 1969. Damit reagierte Marcuse auf einen Brief von Ernst Fischer, der sich auf Äußerungen von Ernst Bloch und ihm selbst in der Zeit bezog und auf einen Brief von Güther Anders an Marcuse vom 24. Juli 1969. Die Zeit berichte­ te, Bloch habe das angebliche Schweigen Marcuses zu den CIA-Vorwürfen mit dem Schweigen Heinrich Lübkes verglichen. Fischer zitiert in seinem Brief an Marcuse aus der Zeit: »Doch Fischer habe wohl recht, dass Marcuse ein schlechter Realpolitiker sei, der in der CIA-Affäre subjektiv sich noch immer im Kampf gegen den Facismus [im Original, PE. J ] wähnte, als er objektiv, nämlich nach Deutschlands Kapitulation, längst in den Kal­ ten Krieg eingespannt war.« In diese Richtung, so der Rat Fischers an Marcuse, solle er sich doch gegen die Verleumdungen zur Wehr setzen. »Ich will Ihnen nichts suggerieren - aber wäre es nicht doch zweckmäßig, eine Erklärung abzugeben, ungefähr: ich habe selbstverständlich diese und diese Arbeit im Kampfe gegen Hitler-Deutschland geleistet, und möglicherweise den Augenblick versäumt, mich auf meine rein wissenschaftliche Arbeit zurückzuziehen.« (Fischer an Marcuse, 27. Juli 1969, unveröffentlicht, Marcuse Archiv, Frankfurt/M.) Marcuse antwortet darauf ausführlich. »Ihr Brief vom 27. Juli hat mich sehr traurig gestimmt - eine Traurigkeit, die allerdings schnell in eine tiefe Enttäuschung umgeschla­ gen ist [...] ich hätte den Augenblick nicht erkannt, in dem der Krieg gegen Hitler Deutsch­ land in den Kalten Krieg umschlug. Wenn diese Hypothese nur eine Beleidigung meiner Intelligenz wäre - gut, sie ist aber außerdem grundfalsch. [...] Meine Tätigkeit [nach 1947, P.-E. J] bestand in der wirklich unbeirrbaren Anstrengung, immer wieder auf die globalen Folgen der Truman-Achenson Politik hinzuweisen, gegen die Remilitarisierung Deutsch­ lands, die Renazifizierung, gegen den blinden Antikommunismus vorstellig zu werden. Nur eine völlige Unkenntnis der damaligen amerikanischen Verhältnisse kann zu der Ansicht verleiten, daß eine solche Arbeit damals im State Department nicht möglich war, folglich meine Tätigkeit mit der Unterstützung der offiziellen Politik zu identifizieren. Aber man braucht nun wirklich kein Experte der amerikanischen Politik zu sein, um zu wissen, daß die McCarthy Periode mit dem systematischen Angriff auf - das State Department begann, d.h. gegen die »Kommunisten« im Department. Ich bin noch 1950 von meinen sehr linken (und auch heute noch nicht verdächtigen) Freunden dringend gebeten wor­ den, das State Department nicht zu verlassen, weil meine Arbeit dort für die Sache äußerst wichtig sei«. Zu der Aufforderung von Fischer und Günther Anders, sich öffentlich zu ver­ teidigen, schreibt Marcuse weiter: »Nicht ich stehe als Angeklagter vor Gericht, sondern jene, die die Verleumdungen des Herrn Matthias glauben - auch wenn sie sie nur (wie

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Herr Anders) >ein bißchen< glauben. Dieser schreibt, >1can't help feelingin die Gegend der Wahrheit hineinreichteneue Jahrzehntneuen Generation< kommen, treten sofort gegen die verschiedensten Hexenjagd-Formen auf, darin liegt wohl tatsächlich unsere >neue Qualität^ Dennoch sehe ich mit wach­ sender Beunruhigung die Sektiererei der sich einander bekäm pfen­ dem >Gruppenobjektive Notwendigkeit dieser Erscheinung ist nicht zu sehen. Vielleicht ist mein Blick at the moment beschränkt, dennoch glaube ich, die Nebelerscheinungen in der BRD und W B »von hier aus« sehr deutlich >sehen< zu können. Die universitäre, städ­ tische, lokale und nationale Beschränktheit des jetzigen falschen Stroms sehe ich besonders deutlich, wenn mich hier frühere, neue, bekannte und unbekannte Freunde und Genossen besuchen. Von den lokalen Besonderheiten ist >viel< zu hören, der Blick, die Erkenntnis etc. erreicht allerdings kaum die 50km entfernte Stadt, ganz zu schwei­ gen von der Totalität der gesellschaftlichen Formation und der in ihr sich bewegenden Tendenzen. Die Zerschlagung der Substanz, des subversiven Denkens, wie es leider gerade in der >Anti-Marcuse-Welle Wahl< in der BRD hat den wesentlichen Cha­ rakter der sozialen Struktur der Repression menschlichen Daseins 198

nicht verändert, die >Regierungsveränderung< drückt allerdings doch eine sekundäre Differenz aus, die von der praktischen Theorie subver­ siven Denkens richtig gehandhabt werden muss. Die ersten wichtigen Streiks in Deutschland, die Niederlage der >Arbeiteraristokratie< etc., zeigen zwar dennoch das äußerst niedrige Niveau des Klassenbewusstseins der BRD->Arbeiterklasseneue< und nicht zu übersehende Erschei­ nung zu >empfindenbeobachten< etc. Ich habe diesbezüglich kei­ ne Illusion, die jetzigen linken Spekulanten aus dem »lokalkommunistischen< Nest W B: gehen meiner Ansicht nach wirklich einen zu bekämpfenden Weg; dennoch ist die sorgfältigste Analyse der Arbeits­ teilung innerhalb der Entwicklung der Produktiv- und Destruktivkräf­ te wichtiger denn je zuvor geworden, ohne eine solche wird sogar ein sich entfaltender >Klassenkampf< die >alte Schneise< stehen lassen. Ihre so wesentlichen Hinweise auf die meue ArbeiterklasseMarcusianer von heute auf morgenFührerneue Erscheinung der illegalen Streiks der ArbeiterBasis< her die Fortsetzung des Lehrvertrags zu >erzwingen